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German Pages 317 Year 1983
WOLFGANG GAST
Rechtsverständnis - Nachdenken über das Recht
Rechtsverständnis Nachdenken über das Recht Ein Lehrbuch
Von
Wolfgang Gast Dr. jnr. utr. Professor an der Un!versltlt Mannheim
DUNCKER & HUMBLOT / BERLIN
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Gast, Wolfgang: Rechtsverständnis - Nachdenken über das Recht: e. Lehrbuch / von Wolfgang Gast.Berlin: Duncker und Humblot, 1983. ISBN 3-428-05451-2
Alle Rechte vorbehalten
© 1983 Duncker & Humblot, Berlin 41
Gedruckt 1983 bel Buchdruckerei Bruno Luck, Berlin 65 Printed in Germany ISBN 3 428 05451 2
TH APKTD
Vorwort Dieses Buch soll helfen, das Recht zu verstehen. Rechtsverständnis ist mehr als nur Kenntnis der Gesetze; mehr auch als einiges Geschick in der Gesetzesanwendung. Wer "etwas von einer Sache versteht", weiß Fragen zu beantworten nach dem Warum, Wozu, Cui bono (oder Cui malo). Der Sach-verständige wird Ereignisse und Handlungen durchschauen, das eigene professionelle Handeln eingeschlossen. Auch der Jurist hat seine berufsnotwendigen Techniken, seine "Griffe", und der Rechtsstudent muß sie erwerben. Aber er darf sich nicht darauf beschränken; dies um so weniger, als das Rechtsverständnis eine besondere Funktion hat: es stellt den Gegenstand Recht überhaupt erst richtig her. Denn mit Gesetzen und Rechtsbegriffen kann man, wie jeder weiß, vieles machen. Wann aber wird Recht daraus, das seinen Namen verdient? Verständnis läßt sich nicht auswendig lernen wie ein Textstück und nicht antrainieren wie eine technische Fertigkeit. Es bildet sich in der Reflexion: im Bedenken des Gegenstandes aus möglichst vielen Perspektiven. Zu solcher Beschäftigung mit dem Recht soll das Buch anregen und anleiten. Eine Beschäftigung, mit welcher der Jurastudent nicht früh genug anfangen kann! Er muß nicht schon im Detail Fachmann sein, um sich legitimiert zu fühlen für "Wesensfragen" des Faches. Und noch den Examenskandidaten sollte kein "Leistungsdruck" ablenken, kein Repetitorium abhalten davon; man ist noch lange kein guter Jurist, nur weil man seine Schulfälle lösen kann. Was der Repetitor beibringt, ist notwendige Grundlage für das Examen, aber nie zureichende Grundlage der Jurisprudenz (und nicht einmal der "Juristerei"). An Jurastudenten, gleichgültig welchen Semesters, ist das Buch zu allererst gerichtet. Aber natürlich ist dies kein numerus clausus; Anregung und Anleitung kann hier finden, wer immer das Recht zu verstehen sucht. Im Unterricht über Rechtsphilosophie, Rechtssoziologie und Juristische Methodenlehre ist das Buch verwendbar, ebenso aber schon zur Einführung in die Rechtswissenschaft. Wem die Zumutung zu groß erscheint, so viel Text "systematisch" durchzulesen: der Einstieg ist überall möglich, auch im Lehrbuch läßt sich gut schmökern. Einer weiß nicht recht, blättert, liest an, liest sich fest: dies wäre nicht die schlechteste Art, der Sache auf die Spur zu kommen. Ein Verfahren, das sich
Vorwort
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ohnehin öfter empfiehlt - zu viele Jurastudenten büffeln zu viel und lesen zu wenig. Im Nachdenken will jeder, der es betreibt, auch weiterkommen. Dem Autor werden dabei alle Leser helfen, die ihn ihre Kritik wissen lassen. Mannheim, Mai 1983
W.G.
Inhaltsverzeichnis Anstöße I. Anfänglich
13 13
11. Recht ist ... ......................................................
14
111. Ent-täuschungen ..................................................
16
IV. Ein Denkweg ......................................................
18
1. Anhaltspunkte
18
2. Ideales oder erreichbares Recht? .................. , .............
20
V. Erstes Nachdenken................................................
23
Erstes Kapitel
Rechtsbedürfnis und Rechtserwartungen
25
I. Nicht immerwährende Idylle ......................................
25
11. Skandale ..........................................................
28
1. Geliebte Oldtimer. Die späte Leidenschaft der Gebrüder Schlumpf 28
2. Risse im Gebälk der Gesellschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
30
3. Der Fall Michael K. ............................................
30
111. Die Fruchtbarkeit der Konflikte. . . ... . . .. . . . .. . ... .. .. .... ... . .....
31
1. Zur Affaire Schlumpf..........................................
a) Akute Fassung des Streits? .................................. b) Der Rumpf eines Eisbergs .................................. c) Allzu gemäßigtes Erwarten? ................................
31 31 37 39
2. Zum KKW-Fall ................................................ a) Mißlingende Reduktion ...................................... b) Alle Wege nach Gordion? ....................................
41 42 44
3. Zu Michael K. ..................................................
51
IV. Leitfaden des Weiterdenkens: Die Große Alternative ..............
56
V. Einerseits: Das Recht des Stärkeren .................... " . .. .. . ....
58
1. Vorbild Herakles ..............................................
58
10
Inhaltsverzeichnis 2. Moderneres Lob der Gewalt: v. Iherings darwinistische Weltgeschichte ...................................................... a) Gewaltkultur ............................................. ... b) Zum Beispiel Dienstmiete .................. , . .. . .. . .. . .. .. ... c) Ihering und das KKW ......................................
61 62 66 69
3. Dasselbe bei Marx? ............................................
71
4. Die Kategorien Gewalt, Macht, Herrschaft ...................... a) Gewalt ...................................................... b) Macht ...................................................... c) Herrschaft ..................................................
74 75 79 79
VI. Andererseits: Das gleiche Recht ....................................
80
1. Am Steg von Masirah ..........................................
80
2. Thomas Hobbes' Wegweisung aus der Gewalt .................. a) Vertragskultur .............................................. b) Rettung bei Masirah ........................................ c) Verlust des Vertragsprinzips bei Hobbes; Wiederauffindung ..
81 82 85 86
3. Die Kategorien Positivität, Gleichheit, Freiheit .................. a) Positivität - also doch Gewalt? ............................ b) Gleichheit .................................................. c) Freiheit contra Gleichheit? ..................................
90 90 92 99
Zweites Kapitel De lege lata (nadl geltendem Gesetz). Zum Beispiel das Arbeitsremt I. Die gesetzlich vorbereitete Lösung der Affaire S. H. Merkmale der Gesetzlichkeit
101 101
111
1. Affirmation durch Gesetz
112
2. Allgemeinheit des Gesetzes .................................... a) Generalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Abstraktheit ................................................ c) Auslegung und Subsumtion .................................. d) Das Generelle als Gleichheit e) Die Abstraktheit als Freiheit ................................
121 122 123 125 130 132
3. Verwirklichung der Gesetzlichkeit .............................. a) Private Auslegung .......................................... b) Auslegungsmittler .......................................... c) Das Gericht
135 136 137 139
Inhaltsverzeichnis d) e) f) g)
11
Notwendige Zwischenbemerkung über: Richtigkeit und Freiheit Instanzenzug ................................................ Vollstreckung .............................................. Rechtsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
142 146 150 152
4. Reglement und Regulierung .................................... 155 5. Gesetzlichkeit und Herrschaft .................................. a) Herrschaft an der Rechtsquelle b) Die Zumutung, sich zu wehren .............................. c) Herrscherliches am Richter .................................. d) Herrschaft über den Richter ................................ e) Hinter Konsensfassaden
157 158 160 164 169
171
111. Rechtsregeln für die "kapitalistische" ("marktwirtschaftliche") Arbeitswelt .......................................................... 176 IV. Schlußbemerkung zur Universalität des Vertrags .................. 186 Drittes Kapitel Recht auf Unrecht hin (Strafrecht) I. In Aporien
190 191
1. Anstoß wozu? .................................................. 191
2. Vernünftige Antworten? ........................................ 192
3. Heißes Recht? .................................................. 196 4. Noch mehr Fragen .............................................. 197
11. Recherche du temps perdu ........................................ 199 1. Wiedergewinnung des Friedens ................................ 199
2. Wiedergewinnung des Wirklichen .............................. 202
3. Wiedergewinnung des Rechts .................................. 205 4. Rechtsphilosophische Wegweisung .............................. 207 5. Wiederum: Rechtssuche als Gesetzesanwendung
................ 209
111. Rächendes Recht .................................................. 210 1. Natürliche Neigung zur Rache?
................................ 211
2. Zur Kulturgeschichte des Rächens .............................. 214 a) Lamechs Erben .............................................. 215 b) Das Paradigma Kain ........................................ 225
3. Angeblich logischer Zwang zur Rache: das ius talionis .......... 232 IV. Bessere Gründe? .................................................. 241
12
Inhaltsverzeichnis 1. Schuld und Sühne
242
2. Prävention .................................................... a) Die "negative oder spezielle Generalprävention" .............. b) Die "positive oder allgemeine Generalprävention" ............ c) Die "negative Spezialprävention" d) Die "positive Spezialprävention" ............................
244 245 249 251 253
3. Resozialisierung ................................................ 254 V. Keine Lösung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 255 Viertes Kapitel
L'Etat, c'est nous (Öffentliches Recht)
257
I. Der rechtsstaatliche Aspekt: Zum KKW durch Gesetzesanwendung .. 257 1. Die Prozedur .................................................. 258
2. Radikaler gesehen .............................................. 263 11. Der demokratische Zusammenhang ................................ 265 1. Der Souverän .................................................. 266
a) b) c) d)
Vorbemerkung gegen falsche Bescheidenheit ................ Direkte Demokratie ........................................ Mediatisierung .............................................. Von falschem Verrichterbewußtsein ..........................
267 268 275 284
2. Das politische Meinen .......................................... a) Rechtgemäßes Meinen ...................................... b) Verfassungswidriges Meinen; "Radikalenfrage" .............. c) Der Protest. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
286 286 291 296
3. Der Gesellschaftsvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 298 4. Resümee: Ein KKW im demokratischen Rechtsstaat ............ 304 111. An der Staatsgrenze
Namenverzeichnis
306
.................................................... 311
Sachverzeichnis . ....................................................... 313
Anstöße I. Anfänglich "Anfänglich wohnten die Menschen zerstreut, Städte gab es nicht. Daher wurden sie von den wilden Tieren ausgerottet, weil sie in jeder Art schwächer waren als diese ... Sie (die Menschen) versuchten also, sich zu sammeln und zu erretten durch Erbauung der Städte; wenn sie sich aber gesammelt hatten, so beleidigten sie einander ... , so daß sie wiederum sich zerstreuend auch bald wieder aufgerieben wurden. Zeus jedoch, um unser Geschlecht besorgt, daß es nicht etwa gar untergehen möchte, schickte den Hermes ab, um den Menschen Scham und Recht (aidos kai dike) zu bringen, damit diese der Städte Ordnungen und Bande würden, der Zuneigung Vermittler." Protagoras aus Abdera, der sich selbst "Sophist" nannte, "Lehrer der Weisheit", und als erster aus seiner Zunft für seinen Unterricht Stundenlohn verlangte: er fand diese Erklärung für die Herkunft und den Zweck des Rechts (nachzulesen bei Platon, Protagoras 322). An der Rechtsquelle: Zeus, vertreten durch Hermes, begann der Lehrer bald selbst zu zweifeln. "Von den Göttern vermag ich nichts festzustellen, weder, daß es sie gibt, noch daß es sie nicht gibt. , ,"1 Die altgläubigen (orthodoxen) Kreise Athens machten dem Ketzer daraufhin den Prozeß; Protagoras wurde zum Tode verurteilt, seine Schriften wurden den Besitzern abgenommen und auf dem Markt verbrannt, Der Verurteilte starb auf der Flucht nach Sizilien, 70jährig, im Jahr 411 v. u. Z. "Der Städte Ordnungen und Bande": Zensur, Bücherverbrennung, Berufsverbot oder, wirkungsvoller, Liquidation, im Glücksfall Flucht und Exil ... ??? (Und um der Theorie willen hätte den flüchtigen Schamlosen ein wildes Tier zerreißen müssen.) 1 Fragment 4. Die Werke des Protagoras, überhaupt der griechischen Philosophen vor Platon (der sogenannten Vorsokratiker, die zwischen 600 und 400 v. u. Z. ein die Mythologie sprengendes Weltverständnis begründeten) sind nicht überliefert. Nur Bruchstücke dieser frühen Lehren sind, zitiert und erörtert in Schriften der Späteren, erhalten geblieben: die Fragmente der Vorsokratiker. Dabei stellen Platons Diskurse eine wichtige Quelle dar. Sie fingieren oder rekonstruieren etliche Streitgespräche, die Sokrates mit den jüngsten "Vorsokratikern" geführt habe, desgleichen Gespräche über ältere Vorläufer. Im Buch "Protagoras" berichtet Sokrates einem Freund von einem Besuch in der Schule des Sophisten und von der Auseinandersetzung mit diesem über den Ursprung der Tugenden. Im Lauf des
14
Anstöße
ll. Recht ist . .. · .. Not von Menschen, auf kalte Formeln gebracht. · .. Dogma; und Dogmen dürfen nicht bezweifelt, sie müssen hingenommen, befolgt, vollstreckt werden. · .. Gerechtigkeit in ihrem Abstieg zu Gesetz und Justiz. · .. Ideologie, die das wirkliche Gesicht einer Gesellschaft beschönigend zudeckt. · .. die marktgerechte Art der Gewalt. · .. die Banalität des Bösen, zum System erhoben. · .. Konservierung des Schreckens in der Gesellschaft, der jederzeit belebt werden kann mit Hilfe der zitierbaren Vorschrift . ... in Wahrheit das Naturrecht, das, weder verwirklicht noch verjährt, die Unwahrheit der Gesetze bezeugt ... Urteile über Recht, die verurteilen: nicht das Recht überhaupt, "nur" das sogenannte positive Recht, jenes der geltenden Gesetze, also immerhin die erfahrbare, reale Seite des Rechts. Sie sind aus Theodor Adornos "Negativer Dialektik" teils entnommen, teils legt die dort umrissene Rechtslehre sie als Schlüsse nahe2 • Unter den Verdikten, zu denen der Zweifel am Recht fand - oder zu denen Verzweiflung am Recht Zuflucht nahm? - sind sie nicht einmal die heftigsten. Für die Klassiker des Anarchismus bedeuten Recht und Staat totale Gewalt gegen die menschliche Natur; eine Vergewaltigung, die nur durch Zerstörung der Institutionen überwunden werden könne 3 • Läßt dieser wildeste Angriff auf das Recht sich noch (in der Theorie) abtun durch Hinweis auf den illusionären Charakter seiner Grundlagen: daß die befreite Menschheit dank ihrer "guten Natur" sogleich friedlich und solidarisch leben werde, ist allzu unwahrscheinlich - Kritik wie in Adornos Rechtsbeschreibungen wiegt schwerer. Sie rügt Mängel, die das Recht Gesprächs habe Protagoras den (eingangs zitierten) Mythos von der Herkunft des Rechts verkündet. Aus der damit unvereinbaren Schrift "Von den Göttern" stammt das skeptizistische Fragment 4. Die noch erhaltenen Ansätze, Meinungen, Gedankensplitter der Vorsokratiker - Sokrates seinerseits fand in Platon einen Berichterstatter - wurden gesammelt von Hennann Diels / Walter Kranz, Fragmente der Vorsokratiker, 6. Aufl. 1972 und Nachdrucke. Eine deutschsprachige Ausgabe erarbeitete Wilhelm Capelle, Die Vorsokratiker, 4. Aufl. 1953 (Kröners Taschenausgabe Band 119). 2 Negative Dialektik, 1970, S. 301 - 304. 3 Daniel GueTin, Anarchismus, 2. Aufl. 1968 (edition suhrkamp 240), S. 14 ff.; James JaZZ, Die Anarchisten, 1969 (Ullstein Taschenbuch 4024), S. 17 ff., 54 f. Exemplarisch dazu die Texte von Bakunin und Kropotkin in: Anarchismus, Grundtexte zur Theorie und Praxis der Gewalt, ed. Otthein Rammstedt, 1968, S. 44 ff., 59 ff. und 74 ff.
11. Recht ist ...
15
"eigentlich" nicht aufweisen müßte. Gesetze könnten "gut" sein; schlecht seien sie geraten, weil sie als Machtworte gegen die Ideale der Gerechtigkeit aufgeboten würden. Das positive Recht: ein Sündenfall; ein verkommenes Ideal, gebrochenes Versprechen ... Offenbar ist es so erlebbar, sind dort Belege für all die herben Sätze zu finden. Jeder Beleg wird den Verriß erhärten, und daß es schlimme Wahrheiten wären, genügt nicht schon zum Gegenbeweis. (Gemäß der beliebten "Beweis"führung, daß nicht ist, was nicht sein darf.) Dennoch: Auch wenn Recht sich so darstellt, so erlebt werden kann, die Sicht könnte verkehrt - der Standpunkt falsch gewählt, die Perspektive unzulässig verengt - sein. Recht könnte zwar ein Übel sein, doch immerhin ein notwendiges, weil es das Leben schützt, Gesellschaft erst ermöglicht. Oder nur bei verkürzter Sicht ein Übel, in Wahrheit ein nützlicher modus vivendi (und daß friedliches Handeln dem Recht zu verdanken ist, ging in Verkennungen der "menschlichen Natur" bloß unter). Recht könnte ... - aber so beginnen Gegenthesen, zu denen das negative Bild provoziert. Erfahrungen aus anderer Sichtweise machen sich geltend; vielleicht auch nur Erwartungen, Ansprüche ans Recht, die ihrerseits überzogen sein mögen oder im Gegenteil unbedingt einzulösen sind. Kritik belebt das Gespräch, vielmehr: sie sollte so wirken; und Kritik, die an die Wurzel geht, wirft die Sinnfrage auf: Was ist Recht? Wozu eigentlich Recht? Wo immer es Anstoß zu diesen Fragen gibt - und Steine dazu legt das Recht dauernd - wären Ausflüchte verkehrt. Recht ist zu teuer (die Kosten des Staatsapparats, der Recht setzt und durchsetzt), als daß es etwas Selbstverständliches sein könnte. Es ist auch zu lästig dafür; es durchkreuzt Pläne, fordert Verzicht, droht mit Übeln, schickt der Übertretung Sanktionen nach. Und - vielleicht - ist Recht doch zu lebensnotwendig, als daß es dem Zweifel überantwortet bleiben dürfte; (vielleicht) ist es alle Anstrengung wert, die den Verruf zu widerlegen und es, das Recht, zu rechtfertigen sucht. Wobei Recht-fertigung nicht mit bornierter Verteidigung (Apologie) zu verwechseln ist; auch die Korrektur des zutreffend Kritisierten geschähe für das Recht. Gegen Angriffe sich auf die Positivität des Rechts zurückzuziehen: darauf, daß seine Durchsetzung gesichert ist, der rechtliche Hebel der längere sei dies wäre reine Arroganz der Macht. Wenn Zweifel am Recht nicht doch recht behalten soll, gibt es gegen ihn keinen Rechtsweg, nur Denkwege. Sie zu begehen, scheint zu allererst Aufgabe des Juristen. Da er das Recht verwaltet, es betreibt, trifft ihn besondere Verantwortung für die verrechtlichte Wirklichkeit ...
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Anstöße
m.
Ent-täuschungen
Kant meinte, die Frage "Was ist Recht?" bringe den Juristen in arge Verlegenheit4 • Unterstellt, diese Verlegenheit wäre verbreitet, dann könnte sie von Pragmatismus zeugen: Es genügt, wenn der Jurist funktioniert, er muß nicht auch weise sein (das heißt philosophieren). Er wäre überfordert, wenn er sein Handwerk: Recht als Beruf ist zwangsläufig (auch) Technik, Routine, Verfertigung, Apparatur ... sein Handwerk nicht nur ausüben, sondern ständig auf Sinn und Zweck prüfen müßte. (Und vermag der Berufsphilosoph die tückische Frage eher zu beantworten ?) Anstößig wirkt die technische Seite freilich oft und schnell. "Es war juristisch korrekt, aber politisch falsch ..." "Juristisch korrekt; aber menschlich gesehen ... " "Rechtens wohl, aber auch gerecht ...?" Das Juristische - mithin: das Recht? - muß als Alibi für das politisch Falsche, das "menschlich" Unzulängliche dienen. Die Gerechtigkeit wird als Zeuge gegen vollzogenes Recht angerufen. Die Gleichung "summum ius, summa iniuria", höchstes Recht sei oder kippe leicht um in höchstes Unrecht, entstammt demselben Zwiespalt. Als wären Recht, politische Klugheit, Menschliches, Gerechtigkeit nicht auf einen gemeinsamen Nenner und zu einem gemeinsamen Resultat zu bringen!? Und warum erweist das sonst (angeblich) brauchbare Recht sich in der prekären Lage als der Störfaktor? Allerdings könnte es vorher an seine Grenzen stoßen; dann aber sollte die Grenze markiert, bekannt, eingestanden sein, sollten keine zu hohen Ansprüche an das Recht gestellt, keine falsche Hoffnung auf das Recht gehegt werden. Nur die Täuschung darüber, was Recht vermag - man darf gleichermaßen sagen: was der Rechtsstaat wert ist - zieht Enttäuschung nach sich. "Was ist (= leistet) Recht?" - die Sinnfrage ist das Mittel für den Fragenden, sich selbst rechtzeitig, das heißt aufklärerisch zu ent-täuschen. Zu entschuldigen wäre die Verlegenheit, die Kant rügte, nicht; sie würde auch keinesfalls Bescheidung zum Handwerk bezeugen, sondern unzureichende Qualifikation. Denn juristische Technik, vordergründig gesehen: die Auslegung und Anwendung von Gesetzen, für welche eine andere, politische Instanz (Legislative) verantwortlich zeichnet - diese Technik regiert sich und ihre Resultate nur bedingt. Sie ist nicht so stringent (beweiskräftig) von sich aus, daß sie "rein logisch" ausgeübt werden könnte: eine Operation, und das rechte Ergebnis fiele zwangsläufig an. Rechtsanwendung ist offen - offen für Interessen, Absichten, für gewünschte Ergebnisse. Zwar nicht für jedes gewünschte Ergebnis, doch immerhin gibt es Spielräume: Gelegenheiten für "Ermessen" oder den "Auslegungsspielraum" in Gesetzestexten. In solche 4
Die Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, B 31.
IH. Ent-täuschungen
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freien Stellen zieht zwangsläufig ein, was ein Rechtsanwender jeweils vom Recht hält. Etwa, daß es streng auf "Ruhe und Ordnung" dringen müsse oder im Gegenteil den Menschen viel Freiheit lassen sollte! Wie sehr es den "Tüchtigen" fördern oder den "Schwachen" vor fremder "Tüchtigkeit" schützen sollte! Und so weiter. Die Grundauffassung prägt die Entscheidung des Einzelfalls mit. - In der jüngsten Geschichte wird Offenheit des juristischen Instrumentariums augenfällig. Mancher Jurist verstand es, zuerst das Recht der Weimarer Republik, dann das neue ... Recht (?) des nationalsozialistischen Staates, schließlich die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik in "handwerklich sauberer" Weise zu traktieren. Und die Gesetze der ersten deutschen Republik konnten loyal republikanisch angewendet werden oder (was nicht selten vorkam) unter Ressentiments gegen diesen Staat, zum Vorteil seiner rechtsradikalen Feindes. Nazistische Gesetze ließen sich rigoros, aus treuer Anhängerschaft vollziehen oder abwiegelnd, mit dem Ziel, das Übel gering zu halten 6 • Die juristischen Werkzeuge sind gefügig, diese Gefügigkeit ist offenbar eine unvermeidliche Dimension des praktizierten Rechts. Damit sie nicht jedem höheren Anspruch an das Recht, nicht allem Vertrauen auf Recht zuwiderläuft, kommt es wesentlich darauf an, welches Rechtsverständnis die Instrumente fügt. Der pure Techniker des Rechts ist eine fiktive Figur. Wozu er seine Fertigkeiten anwendet, steht ihm in bestimmten Grenzen frei. In die offene Situation tritt diese oder jene Vorstellung von Recht, Einstellung zum Recht. Hier ist Raum für mehr oder weniger private Weltanschauung, für eingestandenes wie für getarntes Engagement, für Opportunismus auch; Raum für Vorurteile, die wirksam werden, mögen sie bewußt gemacht sein oder nicht. Wenn jedoch in der Rechtsanwendung: bei der Entscheidung des konkreten Rechtsfalls wie bei abstrakter (rechtswissenschaftlicher) Problemlösung "Vorverständnis" mitwirkt, dann ist das angemessenste ein rational erarbeitetes Sinnverständnis von Recht überhaupt. 5 über die antirepublikanische Justiz der "Weimarer Zeit" vgl. Heinrich und Elisabeth Hannover, Politische Justiz 1918 - 1933, 1966 (Fischer Bücher des Wissens 770). Zur Erklärung des Tatbestands: Hans Hattenhauer, Die
geistesgeschichtlichen Grundlagen des deutschen Rechts, 3. Aufl. 1983 (UTB 1042), Rz. 590 - 597. - Umfassend zu Geschichte und Methoden politischer Justiz, das heißt politisch-opportunistischer Nutzung juristischer Instrumente: Qtto Kirchheimer, Politische Justiz, 1965. 8 Beispiele für beide Tendenzen bietet das Material bei Ilse Staft, Justiz im Dritten Reich, 2. Aufl. 1978 (Fischer Taschenbuch 3409), S. 59 - 115. - Allgemein zum Einfluß politischer Einstellungen auf die Gesetzesanwendung: Ekkehard Klausa, Deutsche und amerikanische Rechtslehrer, 1981, S. 103 ff. und 165 - 238. 2 Gast
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Anstöße
Wie weit Nachdenken über das Recht nun ausholen sollte? Am weitesten: Es geht nicht darum, nur ein fertiges Verständnis zu zitieren, vielmehr einen Weg zu entwerfen, auf dem die Sinnfrage rational = erkennend beantwortet werden kann. IV. Ein Denkweg Nicht von dem Weg, von einem Weg des Nachdenkens ist die Rede; denn warum sollten nicht auch andere Methoden (met-hodos: was vom Weg handelt) der Sache Recht nahebringen. Die Schwierigkeit für jede Methode ist, daß sie nicht voraussetzungslos sein kann; man muß sie dem Gegenstand anpassen. Einem Gegenstand, der erst ent-deckt, aufgedeckt werden soll ... Methodenlehre steht immer vor der Aufgabe, den ihr bekannten Weg zur noch unbekannten Sache zu weisen. Inmitten einer tabula rasa kann sie also nicht beginnen. Wer etwas sucht, muß wissen, was er sucht und wo zu suchen ist; ohne erste Vorstellungen über das Ziel gibt es keinen aussichtsreichen Aufbruch. In diesen Vorstellungen aber ist das Ziel festgelegt, und zwar nicht inhaltsleer, bloß dem Wort nach - was ist ,Recht'? -, sondern bereits in Grundzügen. Etwa: Um Sinn und Zweck des Rechts zu finden, halte man sich an die geltenden Gesetze; oder: ohne Rücksicht auf geltende Gesetze an die menschliche Natur; oder: an göttliche Offenbarung; oder ... Der Suchende muß sich von vornherein entscheiden, und die Entscheidung schließt eine Sachmeinung ein, die im weiteren Verlauf nur noch zu explizieren ist. Gründe, die den einen Weg rechtfertigen, alle übrigen Ansätze verbieten, fehlen zunächst; denn sonst hätte der Fragende das Gesuchte schon gefunden. Aus dem erkenntnistheoretischen Dilemma hilft die folgende Konzeption: Einige Sachansichten muß der Fragende zwar immer schon hinnehmen (für wahr oder richtig nehmen); sie sind seine Prämissen (= das zur Sache Vorausgeschickte). Rational werden die unvermeidlichen Vor-Urteile aber nur eingesetzt, wenn drei Erkenntnisbedingungen erfüllt sind: Alle Prämissen sind aufzudecken; von den fraglichen Resultaten sollen sie möglichst wenig vorwegnehmen; keine Prämisse ist tabu wie ein Dogma, der Fragende darf klüger werden, als sie zuläßt, er darf aus der besseren Einsicht seine früheren Denkhilfen verwerfen. Soviel an allgemeinster Orientierung; sie wiederum soll helfen, einen Denkweg zum Recht anzulegen. 1. Anhaltspunkte
Für ein Nachdenken, das nicht schon weithin besetzt wurde mit Vorurteilen zur Sache, ist - hoffentlich - das folgende 4-Punkte-Programm hilfreich:
IV. Ein Denkweg
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1. Es gibt ... das Recht? Jedenfalls ereignet sich vielerlei in der Gesellschaft, das den Namen ,Recht' erhält. Wenn aber (sogenanntes) "Recht" geschieht7, dann hat dies auch Ursachen. Der Versuch, sie zu ermitteln, hilft das als rechtens Geltende - das geltende Recht - zu erklären. 2. Recht fällt - vermutlich - nicht automatisch an: als Folge baus einer Ursache a, wie auf einer Wasserfläche Kreise entstehen, wenn man einen Stein hineingeworfen hat. Jedenfalls ist ein solcher Zusammenhang nicht evident; er müßte sich erweisen. Was rechtens sei, danach muß gefragt, gesucht werden. (Indizien: Ein Gesetzgeber beschreibt Rechtslagen, über die zunächst gestritten wurde. Die Existenz des Gesetzes schließt nicht jeden weiteren Streit aus, er wird nun um die richtige Auslegung geführt.) Bemerkbar machen die Ursachen des Rechts sich zuerst als Anstöße zur Rechtssuche. Ein Bedürfnis nach Recht erwacht: derart, daß Lebenslagen als mangelhaft empfunden werden und das Verlangen aufkommt, den Mangel zu beheben. Zur Erklärung des (geltenden) Rechts trägt es einiges bei, daß man die Anstöße kennt. Sie lehren, wobei und wogegen Recht helfen soll. Die Struktur Anstoß - Suche ist dieselbe, ob es nun um die Sinnfrage für Recht überhaupt geht oder um das konkrete Bedürfnis nach einer Rechtslage. Im ersten Fall provozieren die schlechten Bewertungen, die das geltende Recht erhalten hat; im zweiten Fall treiben Mängel der Wirklichkeit zur Rechtssuche an. 3. Suchen hat nicht nur seinen Anstoß, sondern auch sein Ziel - es ist Suchen nach etwas. Es ist woraufhin ausgerichtet. In der Suche sind Vorstellungen vom Ziel, Erwartungen an das Ziel wirksam. (Wie oben: Suchen = Fragen hat, gleichgültig was gesucht ist, jeweils dieselbe Struktur.) Rechtssuche hegt also Rechtserwartungen; in ihnen drückt sie aus, wozu Recht dienen soll. Im abstrakt ausgerichteten Fragen interessiert das Wozu seinen Grundzügen (seinem "Wesen") nach. Das Bedürfnis in einer konkreten Mangellage läßt eine konkrete Lösung formulieren; es läßt "wissen" - vielmehr: meinen -, was ihm jeweils das Rechte wäre. Gelingt es, Rechtserwartungen zu erfassen, zweck7 Warum die verschiedenen Anführungszeichen? ,...' stellt klar: Es geht um ein Wort, den Gebrauch eines Wortes, hier des Wortes ,Recht'. Dagegen "...": Es geht um die so bezeichnete Sache (um das Recht also), freilich mit einem Vorbehalt: um die Sache, wie "man" sie üblicherweise sieht, nicht, wie sie an sich (in Wahrheit) ist. Oder kurz: Es geht ums Sogenannte. - Die Semiotik (Lehre von den Zeichen) legt großen Wert auf exakte Unterscheidung bei der Wortverwendung; vgl. dazu I. M. Bocheitski, Die zeitgenössischen Denkmethoden, 6. Auf!. 1973 (Dalp Taschenbuch 304), S. 60 ff. Tatsächlich können aus Ungenauigkeiten Mißverständnisse und Scheinprobleme entstehen: dann nämlich, wenn man den Namen (, .. .'), die Meinung (" ...") und die Sache selbst miteinander verwechselt, obwohl man doch drei unterschiedliche Momente vor sich hat.
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Anstöße
mäßigerweise in ihren verschiedenen, miteinander verschränkten Abstraktionsgraden, dann ist Einsicht in "das Recht" nähergerückt. Sie ist bei Vorentwürfen für Recht angekommen. 4. Erwartung eines Ergebnisses ist noch nicht das Ergebnis selbst. Zwischen beiden steht ein Kriterium, das entweder der Erwartung beipflichtet, ihr recht gibt, oder ihr widerspricht, sie enttäuscht. Der Maßstab, der berechtigte von irrigen Rechtserwartungen scheidet, ist das letzte, wichtigste Glied in der Erklärungskette; er ist zugleich das problematischste. Denn woher ist er zu beziehen? Er sollte nicht verhängt werden: weder der Problemlage von einer "höheren Warte" aus auferlegt, noch willkürlich gesetzt, eine Entscheidung per Machtwort, Gefühl oder Zufall. Vermieden wird der Oktroi letztlich nur auf eine Weise: man versuche zu erkennen, wieweit ein Maßstab in Rechtsbedürfnis und Rechtserwartungen schon vorbereitet ist; welchen Maßstab diese Gründe selbst anregen, welches Maß ihnen am angemessensten ist. Ein circulus vitiosus: Selbst"begründung" einer Rechtserwartung, tatsächlich Scheinbegründung, darf daraus natürlich nicht werden. Ohnehin geht es nicht um - möglichst strikte - Ableitungen aus der Problemlage. (Wie kann ein Maßstab durch eine Rechtserwartung angeregt sein, die er dann verwerfen wird? Wie können kontroverse Rechtserwartungen den Maßstab vermitteln? Die Fragen lassen keine logische Antwort zu. Dennoch gibt es im Fundus juristischer Arbeitsweisen eine hilfreiche "Argumentation aus dem Fall selbst"8.) Nur ein sehr ungefähres Maß fürs Rechte läßt der Rechtsstreit ahnen, es macht sich noch am ersten bemerkbar, wenn es verfehlt wurde. Unangemessen (maßlos) wäre zum Beispiel: eine mehrjährige Freiheitsstrafe für den Diebstahl einer Flasche Bier aus dem Supermarkt; ein bürokratisch-umständliches Prozedieren, wo das Vertrauen ins Recht schnelle Entscheidung verlangt; der "kurze Prozeß", wo Abkühlung und Bedacht dem Recht besser anstünden, das kühle Recht erhitzte Bürger eines Besseren zu belehren hätte. Nicht zuletzt spricht für die Mühe um das Angemessene, daß andernfalls das Recht leicht in den Verruf geriete, sich aufzuzwingen. Ein Ruf, der, einmal gefestigt, auch in Legitimation für Zwang umschlagen kann: Das "Wesen" des Rechts sei leider so. 2. Ideales oder erreichbares Recht?
Das skizzierte Verfahren ist noch formal genug, um entgegengesetzte Absichten zu tragen: die Suche nach dem denkbar besten ("idealen") Recht ebenso wie die Mühe um ein realistisches Rechtsverständnis. Zwischen beiden Ausrichtungen zu wählen, ist nun unvermeidbar.
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Hans-Martin PawZowski, Methodenlehre für Juristen, 1981, S. 225 ff.
IV. Ein Denkweg
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(1) Als spekulativ oder abstrakt darf man die erste Orientierung kennzeichnen. Sie sieht vom geltenden Recht ab, es liefert keinen Stoff, den die Sinnermittlung auswerten dürfte, gar aufarbeiten müßte. Rechtslagen de lege lata helfen allenfalls, nachdem Sinn und Zweck des Rechts erdacht sind, das Ergebnis zu illustrieren. Die Spekulation aber braucht weder bei ihrem Wesensbefund (ihrem allgemeinsten Begriff des Rechts) zu enden, noch ist sie, um anschaulicher zu werden, auf geltendes Recht angewiesen. Sie kann von sich aus das gen aue Bild einer idealen Ordnung entwickeln: eigentliches, "wahres" Recht. Dergleichen Entwürfe gibt es freilich viele; unter dem Namen ,Utopien' oder ,Staatsromane' sind sie zur literarischen Gattung erklärt. Das Kennwort ist bei Thomas Morus entlehnt, dessen 1516 veröffentlichtes Buch das glückliche Leben in Utopia beschreibt (ou topos = kein Ort). Die Verhältnisse sind dort so "günstig" verfaßt, daß sie kaum einen Anlaß zu Streit und Unrecht geben; die Verfassung wird mit Selbstverständlichkeit praktiziert, wenige Gesetze reichen zu ihrer Sicherung aus. Sagen die Utopisten9 • Schon Platon hatte in "Politeia" die nach seiner Meinung vollkommene Gemeinschaft beschrieben. Im Alterswerk "Nomoi" ("Gesetze") ließ er eine Gegendarstellung folgen; ein Bild, das er für realistischer, doch noch immer für ideal hielt. Die große Zeit der Staatsromane - der Erfindung bester Ordnungen, gekleidet in einen Reisebericht oder, romanhafter, in eine Abenteuergeschichte - fing mit Morus an. "De optimo reipublicae statu ..." nannte er sein Werk, den "besten Zustand der Republik" wollte er darstellen. Korrekturen und Überbietungen folgten: die streng protestantische "Christianopolis" des schwäbischen Theologen Johann Valentin Andreae (1619); die neuheidnische, radikal kommunistische "Civitas solis" des Dominikanermönchs Tommaso Campanella (1623); als Kontrastprogramm die idyllischpatriarchalische "Insel Felsenburg" im gleichnamigen Roman von Johann Gottfried Schnabel (1731). Die Literaturgattung hatte solche Konjunktur, daß Jonathan Swift sie bis ins Groteske karikieren konnte: in "Gullivers Reisen" (1726).
Nicht romanförmig, sondern theoriehaft streng präsentiert das Utopische sich in Werken wie dem "Geschloßnen Handelsstaat" Fichtes (1800). Und es reicht so bis hin zu jenem "volkstümlichen Arbeitsstaat" , den der BGB-Kritiker und "Kathedersozialist" Anton Menger in seiner "Neuen Staatslehre" (1903) empfiehlt. Gemeinsam ist den "klassischen" Utopien der Hang zum Totalitären: die jeweils beste Gesellschaft, die sie anpreisen, achtet unbezweifelbare Werte und wird vollkommen verwaltet. Wohlfahrt, Friede und Glück scheinen notwendig auf diesen zwei Säulen, Dogma und Administra9 Zur Einführung ins Utopische: Klaus J. Heiniseh, Der utopische Staat (Rowohlts Klassiker 68), eine Ausgabe der prominenten Utopien von Morus, Campanella und Bacon. Als kritisch-ablehnende Aufarbeitung des utopischen Materials: Henner Löffler, Macht und Konsens in den klassischen Staatsutopien, 1972 (Reihe Demokratie und Frieden Bd. 13).
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Anstöße
tion, zu ruhen. Erst anarchistische Theoretiker des 19. Jahrhunderts (Fourier, Proudhon, Kropotkin und andere) entwarfen Formen des zwangfreien Zusammenlebens, das zwar nicht ohne Organisation, wohl aber ohne Befehl und Gehorsam gelingen sollte10 • In neueren, nicht mehr belehrend angelegten Staatsromanen hat das Bild sich dann äußerst verdüstert. Die totale Verwaltung der Welt scheint unabwendbar, in ihr jedoch Menschlichkeit Uede Chance zu sinnvoller Existenz) elend zu ersticken. Dabei ist sekundär geworden, wie der mörderische Apparat aussieht: die perfekte Glücksindustrie der "Brave New World" (Aldous Huxley) wirkt ebenso ruinös wie Big Brother's Brüderlichkeit, die darin besteht, daß eine spartanisch gehaltene Elite die in Dummheit und Kriegsangst verfangene Plebs regiert (George Orwell, ,,1984"). Sinnbestimmungen für Recht sind dies durchaus, auch wenn der verrufene Name ,Recht' für die neue Ordnung gemieden wird, wie bei den Anarchisten, oder von der Sache Recht nur noch ein Reglement der verwalteten Welt übrigbleibt. Doch weder in ihren Optimismus noch in ihre (zu Ende gedachte) Verzweiflung bringen die Utopisten Substanz - eine gewisse Versicherung die einen, Widerstand und praktische Veränderung die anderen. Beide hätten gestaltend anzuknüpfen bei den aktuellen Lebensverhältnissen, so wie diese durch geltendes Recht (mit)geprägt sind, und also auch beim Recht. Indessen wählt Spekulation den einfacheren Weg, Wirklichkeit durchzustreichen um der - schönen oder schlimmen - Imagination willen. (2) Anders die zweite Orientierung, die das Nachdenken auch nehmen kann, nehmen sollte und im folgenden haben wird. Sie lenkt die Sinnfrage aufs geltende Recht; denn seine Lösungen sollen aktuelle Bedürfnisse befriedigen, und völlige Inkongruenz beider, des Rechtsbedürfnisses und der Gesetze, ist nicht von vornherein anzunehmen. Besseres ging aus der Summe der Rechtserwartungen bisher nicht hervor; es war vielleicht vorstellbar, aber nicht zu verwirklichen. Ein positivistischer Ansatz also, der das geltende Recht blind hinnimmt, es sogar als befriedigend auszeichnet? Passend zu Kants Bemerkung, der positivistische Kopf sei "ein Kopf, der schön sein mag, nur schade!, daß er kein Gehirn hat"!? Mit solcher Gedankenlosigkeit, nämlich jedem Verzicht auf kritische Prüfung und Wertung, darf Wirklichkeitsbezug nicht verwechselt werden. Er bedeutet nicht, wegzusehen, sobald Widersprüche zwischen Rechtsbedürfnissen und Lösungen de lege lata auftreten. Andererseits bleibt Kritik am status quo hilflos, wenn sie vergißt, daß die in Frage gestellte Wirklichkeit selbst der 10 Guerin (Fn. 3), S. 38 - 44; JoZZ (Fn. 3), z. B. S. 34 - 36 (Fourier betreffend), S. 55 f. (zu Proudhon), S. 121 (zu Kropotkin).
v. Erstes Nachdenken
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Stoff für Veränderung ist und daher die Möglichkeiten und Wege des Veränderns einschließt - oder verwehrt. Erst der Bezug zu dem, was ist, findet auch Hebel zugunsten des anderen, das sein sollte. "Konkrete Utopie" hat Ernst Bloch diese Art, realistisch zu sein, genannt: im Positiven, wo immer es fragwürdig geworden ist, das Noch-nicht des fälligen Besseren zu erkennen, dann aber auch auf Besserung - auf Fortschritt - zu insistierenl l . Entsprechend muß eine Suche nach besserem Recht (eine bessere Befriedigung der Rechtsbedürfnisse) von gegebenem Recht ausgehen; darin sind die Werkzeuge der Veränderung und die Horizonte der Veränderbarkeit vorbereitet. Kein logisch oder dinglich (= ontologisch) zwingendes "muß" ist gemeint, "nur" eines der praktischen Vernunft. Denn radikaleres Verändern, dem der rechtliche Horizont nicht genügt, weicht zwangsläufig auf revolutionäre Wege aus; doch Revolution bedeutet: Recht außer Kraft zu setzen, ohne daß absehbar wäre, wann eine Rückkehr zu Rechtlichkeit stattfindet und wie hoch der Preis (in der Regel ein Blutzoll) für das neue Recht ausfallen wird.
v.
Erstes Nachdenken
Wer hier angeregt und angeleitet werden soll? Der Autor denkt sich seinen Leser, vielmehr: jemanden, den er ansprechen möchte, zunächst in Not und Frustration. "Das also ... das soll Recht sein?" - diese Frage, im Tonfall herber Enttäuschung gestellt, läßt den Anstoß offenbar werden. Eine der vielen Gelegenheiten dazu ist ein erwartungsvoll begonnenes Jurastudium - gerade das nicht gleichgültig oder verlegen vom Zaun gebrochene Studium. Unvermeidlich kommt Ernüchterung: Von der Rechtswissenschaft hatte man anderes erwartet. Mehr Recht: Auskünfte über das allein und unbedingt Gerechte; einige Dramatik (Fernsehgericht), nicht die kleine Münze der Alltäglichkeit, wie im Bürgerlichen Recht; Gutes, das über Machenschaften siegt ... Und mehr Wissenschaft: striktes Erkennen, so daß mit dem Recht zu rechnen wäre. Stattdessen umständliche Konstruktionen, Differenzierungen, die nicht einleuchten, Argumentation im Alltagsstil; Vernachlässigung der ökonomischen und soziologischen Aspekte, dafür naiv-antiquierte Distinktionen oder einfach die gekaufte Gutachtermeinung ... (Es gibt wohl keine schlechte Erfahrung, die man in und mit der Juristenausbildung nicht machen kann12 .) Eine Situation jedenfalls, in welcher ein Ent-täuschungstraining fällig ist. Es ist jedem Rückzug vorzuziehen: der Abkehr vom Studium, vor allem der Flucht ins Technokratenturn. Das Prinzip Hoffnung (Gesamtausgabe Bd. 5), S. 8 ff., 674 ff. Dies scheint sich sogar so zu gehören; vgl. Walter O. Weyrauch, Zum Gesellschaftsbild des Juristen, 1970, S. 122 ff. Dagegen ein Idealentwurf von Hans Erich Troje, Juristenausbildung heute, 1979 (Reihe Demokratie und Rechtsstaat 46). 11
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Anstöße
Erstes Nachdenken wird hier unternommen. Die Absicht ist also nicht, sich en detail durch die Geschichte der Rechtsphilosophie zu mühen oder (noch) ein rechtsphilosophisches System zu zimmern. Es geht um Annäherung an das Recht. Hilfsmittel dazu werden Rechtstheorien und historische Fragmente sein, die modellhaft verwendet werden: Sinn- und Zweckentwürfe, die dem geltenden Recht (manche vielleicht jedem Recht) naheliegen. Indem Rechtssuche (auf der Ebene der Prinzipien) die Wirklichkeit des Rechts und das, was deren Sinn sein könnte, immer wieder einander gegenüberstellt, einander aussetzt, kommt sie "zur Sache" voran. Eine Beschäftigung, die der juristische Alltagsbetrieb nicht gerade fördert: seine Stärke ist nicht das Fragen, sondern die "vorgegebene" Antwort. Das Lapidare, Apodiktische (das Felsenfeste, unbedingt Gültige) hat im juristischen Denken einen hohen Rang; es soll die Rechtsverbindlichkeit ausdrücken. Aber Positivismus kann auch eine bloß funktionierende, um Aufgaben und Sinn betrogene Praxis sein. Eines wird die Rechtssuche, sofern sie truglos arbeitet, nie herbeischaffen: den Fundus ewiger rechtlicher Wahrheiten. Einmal aufgeklärt, kann sie jedoch froh werden darüber, daß ein solcher Fundus nicht existiert. Nicht, daß das Recht "bodenlos" wäre; und das Rechtsbedürfnis täuscht sich auch nicht, wenn es "Sicherheiten" verlangt. Aber Rechtsgewißheit ist keine "letzte Gewißheit" bei den Inhalten. Das Gewisse, das eine Rechtsordnung zu bieten hat, ist ihre Organisation. Das Lernziel des Juristen ist, daß er darin sinnvoll zu agieren weiß.
Erstes Kapitel
Rechtsbedürfnis und Rechtserwartungen Dieses Kapitel handelt noch nirgendwo gezielt das geltende Recht ab. Es entfaltet nur erst einen Horizont, ein Feld möglicher Rechtlichkeiten, worin auch das geltende Recht zu finden sein wird. Hier geht es um Rechtsgrunde überhaupt: um den Anstoß zur Rechtssuche ("Rechtsbedürfnis") und darum, was das Bedürfnis für sich selbst an Befriedigung entwirft ("Rechtserwartungen"). (Entsprechend der Wegskizze oben IV 1.)
I. Nicht immerwährende Idylle (1) Robinson baute eine Hütte, jagte und besorgte den Acker, glaubte an Gott - Recht hatte er keines nötig. Also fand es nicht statt. (Und hätte es dem Einsamen gegen wilde Tiere denn geholfen? Vgl. Protagoras, op. cit. bei "Anstöße", 1.)
Recht blieb undenkbar, solange Robinson allein auf der Insel lebte. Auf seiner Insel, ist man zu sagen versucht; doch weil niemand zugegen war, der den Besitz streitig gemacht hätte, ist die Besitzanzeige entbehrlich. Sie ist nicht einmal sinnvoll, das Fürwort besagt nichts: es gehört schon der Sprache einer anderen, späteren Situation an. Als dann Freitag, der Wilde, hinzukam (und mit ihm die Chance, die Grammatik zu erweitern), ergab sich - im Roman - eine Ordnung wie von selbst. Hier der Besitzer und Herr, dort der Diener; Befehl und Gehorsam prägten die Beziehung. Eine Rechtslage endlich? Da keiner der Beteiligten an den Verhältnissen rüttelte, war über deren Rechtlichkeit kein Wort zu verlieren. Daß anderswo Defoes Geschichte als Beleg für "Naturrecht" gelesen wurde: seht, in einer noch ursprünglichen Welt ordnen die Dinge sich so, dieses Verständnis hatte Gründe. Es galt, eine Herrenrolle zu rechtfertigen, die ins Gerede gekommen war. In der Geschichte jedoch, auf Robinsons Insel, gab es dergleichen Streitigkeiten nicht. Sollte dennoch die Lage Recht gewesen sein, so bestand dieses Recht "nur an sich und (als) etwas Unmittelbares" (HegeI); es ereignete sich unreflektiert (unerkannt)13. 13 Recht werde erst durch den "Prozeß seiner Vermittlung" zu etwas "Geltendem"; die Vermittlung besorge "Wirklichkeit" des Rechts, welches "zuerst nur an sich und etwas Unmittelbares war". Hegel, Rechtsphilosophie, § 82.
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1. Kap.:
Rechtsbedürfnis und Rechtserwartungen
Die Episode taugt zur Verallgemeinerung. Solange Lebensverhältnisse außer Frage stehen, kommt auch keine Rechtsfrage auf. Was jeweils geschieht, mag sich hinterher als rechtens erweisen, aber dieses Recht findet zunächst, bis es fraglich wird, blind ("an sich") statt. Erlebt wird die fraglose Wirklichkeit als sie selbst, sie ist Tatsache, doch weder richtig noch verkehrt, weder rechtens noch unrecht. Sie muß zum Skandal werden (skandalon = Anstoß, Ärgernis), zugleich aber Anhänger behalten, die sie verfechten: beides ist Voraussetzung, damit ihre Rechtlichkeit ein Thema wird. So erst eröffnet sich eine Alternative: Recht sei, was bisher ohnehin üblich war, oder im Gegenteil etwas bestimmtes anderes, das von jetzt an zu geschehen habe. Zweifel und Anders-wollen provozieren, daß eine übliche Sachlage - vielleicht zur Rechtslage aufsteigt; zur Wirklichkeit, die als das Rechte erkannt ist und gegen Zweifler gesichert sein wird. Der Aufstieg vollzieht sich nicht automatisch, er wird durch Wort oder Tat, vernünftig oder handgreiflich (oder in einer Verbindung beider Weisen) betrieben. Zwingend vorgegeben ist jedoch nicht, daß die Rechtssuche beim eingewöhnten Lebensmuster enden müßte. Die logische Chance ist für beide Seiten der Alternative gleich groß: für das anstößige Bestehende die Chance, daß der Anstoß widerlegt wird (er ist unvernünftig) oder unterdrückt wird (er ist aussichtslos); für den Gegenentwurf die Aussicht, rechtmäßige Wirklichkeit zu werden. Die praktischen Gewichte freilich können anders verteilt sein, es gibt eine Art Schwerkraft des überkommenden. (Daher wurde Veränderung einst, in überbietung des Positiven, als Re-formation ausgegeben: Rückkehr zum "guten alten Recht"14. Das Wort ,Reform' ist geblieben, um das Gegenteil zu bezeichnen.) (2) Daß Zweifel am Bestehenden die Rechtssuche auslöst: dieser Anstoß kann wiederum als beispielhaft betrachtet werden, Anwendungsfall eines noch allgemeineren Prinzips. Es genügt, wenn irgendein Streit über richtiges Verhal~en aufkommt; Streit um eine fällige Entscheidung; Streit um Dinge, die zur Verfügung stehen ... und so weiter. Der Einfall, Recht könne sich solchen Gelegenheiten verdanken, ist keineswegs neu. Erstmals formulierte ihn Herakleitos von Ephesos, der um 500 v. u. Z. lebte und als bedeutendster der Vorsokratiker (vgl. Fn. 1) gilt. Von ihm stammt der oft mißverstandene Satz, der "Kampf" sei "Vater aller Dinge" (Fragment 53); gemeint ist das dialektische Grundmuster, wonach Gegensätze "die Sache" (einen Sachverhalt; eine Erkenntnis) konstituieren. Wie alles in der Welt, so gehe das Recht aus Bedürfnissen der Menschen und aus dem Streit darüber hervor (Fragment 80). Bedürfnisse, zu denen gehöre, den Streit zu beenden, ihn auf14 Dazu Jürgen Habermas, Theorie und Praxis, Neuausgabe 1971 (suhrkamp taschenbuch 9), S. 89 f.
I. Nicht immerwährende Idylle
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zulösen in "schönste Harmonie" (Fragmente 8, 10). Ein skandalon hat zwar den Einklang (die Eintracht) gestört, kehrt sich aber sogleich um zur Bedingung, Einklang wieder zu erreichen. Das Ziel ist, so gesehen, Rückkehr zum (vorübergehend) verlorenen Zustand. (Was nicht heißt: zum status quo ante; zu dem, was vorher galt oder war. Zum Selben führt ohnehin kein Weg zurück, denn: Alles fließt.) - Die zum Frieden: zum Nicht-mehr-Streit führende Einrichtung sei das Recht! Es ist mithin ein Gang aus dem Streit, das Zu-Ende-Betreiben der Auseinandersetzung; schließlich, im Resultat, ist es beendeter Streit (die "Rechtslage" im juristisch üblichen Sinn). Recht ist Weg und Ziel; streitlösende Prozedur und dann die wieder streitlose Wirklichkeit. Der glücklich erreichten Rechtslage sieht man den Weg zu ihr nicht mehr an, und auch ihre Rechtlichkeit wird wieder gleichgültig, verschwindet in den Tatsachen. Nebenbei: Die Kategorie Recht hat - nach herakleitischer Vorstellung eine der Kategorie Erkenntnis vergleichbare Struktur. Der Ausdruck ,Erkenntnis' meint ja auch ein Verfahren und das Ergebnis daraus. Erkenntnis ist zunächst ein Prozedieren, und zwar kein beliebiges, sondern ein methodisch gebändigtes. Die Ergebnisse ("Erkenntnisse") sodann sind etwas, worein das Erkennen (= Verfahren) mündet, wozu es "untergeht". Und das Ergebnis interessiert nur noch als Tatsache, die so und so ist, nicht mehr als Ertrag des vorgängigen Mühens. Erkenntnistheorie beschäftigt sich demgemäß mit diesem Mühen allein, das Ergebnis bedeutet ihr nur: Verfahrens schluß. (3) Den Zusammenhang, den Herakleitos (Heraklit) andeutet, sah Thomas Hobbes bestätigt durch leidvolle Bürgerkriegserfahrung. Man brauche nur das Recht wegzudenken (real: Recht ist nicht mehr durchsetzbar), schon versinke die Gesellschaft im bellum omnium contra omnes, dem Krieg jedermanns gegen alle. Konflikte würden nun urwüchsig, also gewaltsam ausgetragen. Verödung des Lebens, Verelendung aller sei die Folge; im rohen Kampf der Interessen bleibe schließlich jedes Interesse unbefriedigt. Allein das Recht schaffe Abhilfe, indem es friedliche Konfliktlösung vermittelt; sie zu garantieren, sei die wesentliche Aufgabe des Staates. Der Konflikt weckt hiernach das Bedürfnis nach Recht, sobald man weiß, wie eine rechtlose Welt ihn zu bewältigen versuchte. Der herakl(e)itische Schluß vom Konflikt auf das Recht stellt offenbar noch immer den besten Erklärungsansatz dar. Deshalb hält die Konfliktsoziologie als Sparte der Rechtssoziologie an ihm fest 15 ; desgleichen die juristische Methodenlehre, die weithin "Interessenjurisprudenz" 15 Als Zugang: Volkmar Gessner, Recht und Konflikt, 1976 (eine gründliche Theorie der Konfliktformen und Lösungswege, erarbeitet am Beispiel der Abwicklung von Alltagskonflikten in Mexiko). Außerdem: Gerd SpittZer, Streitregelung im Schatten des Leviathan, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 1980, S. 4 ff.; Klaus F. Rähl, Der Gebrauch von Recht zur Änderung des status quo, ebenda 1981, S. 7 ff.
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1.
Kap.: Rechtsbedürfnis und Rechtserwartungen
verficht und den Interessengegensatz als Anstoß zu Rechtsfragen, das Recht als "Resultante" (Philipp Heck) aus dem Konflikt begreift16 • Zweifel äußern die Soziologen hingegen, ob die rechtliche Lösung so notwendig sei, wie Hobbes meinte: als gäbe es nur die Alternative aus Recht und freier Gewalt. Indessen: Wo immer die friedliche, aber außerrechtliche Lösung gefordert, sogar in der Wirklichkeit festgestellt wird, ist Skepsis angebracht. Wenn Streitende, statt Gesetz und staatliche Justiz in Anspruch zu nehmen, auf "privat" organisierte Schiedsverfahren ausweichen: handelt es sich dann um eine vom Recht befreite Art der Konfliktlösung oder um eine Spielart des Rechts? Das erste anzunehmen, könnte ein Trugschluß sein; man vergesse nicht den Kontext "öffentlicher" Bedingungen, dank welchen die "private" friedliche Lösung erst funktioniert. (Das Strafrecht ist ein solches Moment im Kontext, da es das "private" Verfahren auf "öffentliche" Weise zur Friedlichkeit anhält und ihm etliche denkbare Resultate verwehrt.) über all dies aber ist nicht bloß abstrakt nachzudenken. Der konkrete Fall bietet reichlich Material: Konstellationen des Konflikts, Lösungserwartungen, Erwartungen an die Rechtlichkeit der Lösung.
n. Skandale Drei Fälle, ohne viel Vorüberlegung aus dem Meer der Konflikte gegriffen, müssen genügen. Daß sie gleichwohl in exemplarischer Absicht analysiert werden, mithin Verallgemeinerung tragen sollen: mit dieser Methode, die dem Verlangen nach Gewißheit ganz unzulänglich scheint, muß man sich abfinden. ("Die Wahrheit ist das Ganze", schrieb Hege!. Auf die Frage, wer "das Ganze" bewältigen könne, gibt es nur eine Antwort: Gott. Ein Vorbild, an dem keine Erkenntnistheorie sich ausrichten kann.) 1. Geliebte Oldtimer. Die späte Leidenschaft der Gebrüder Schlumpf
Zwei Jahrzehnte lang hatten die Brüder Fritz und Hans Schlumpf als "ordentliche" Unternehmer ihre Textilfabriken betrieben, ein kleines, aber wachsendes Imperium, in dem schließlich rund 6 000 Arbeitnehmer beschäftigt waren. Da kam Unternehmer Fritz S. um das Jahr 1956 auf den Gedanken, schöne alte Autos zu sammeln, museums reife Stücke, "Bugattis" vor allem. Aus dem Einfall wurde ein Programm: alle erreichbaren Fahrzeuge aus der Werkstatt des Ettore Bugatti sollten ins Elsaß zurückkehren. Denn hier waren sie, Renn- oder Luxuswagen in kleinsten Auflagen, gebaut worden, und hier lebten die Brüder S. 18 Dazu die übersicht bei Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 4. Aufl. 1979, S. 53 - 64 und 128 - 138; Pawlowski (Fn. 8), S. 57 f. - Unter dem neueren Namen ,Wertungsjurisprudenz' wird die ältere "Interessenjurisprudenz" im Kern fortgeführt: Das Recht bewerte Interessen, zeichne das eine Interesse als rechtens aus, versage dem anderen den Erfolg.
11. Skandale
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Bald war Fritz S. weltweit gefürchtet unter "Bugatti"-Sammlern, weil er keine Kosten scheute, alle Konkurrenten überbot, die Preise rücksichtslos in die Höhe trieb und sogar komplette Autosammlungen zum Höchstpreis kaufte, wenn nur ein "Bugatti" dabei war. 427 Oldtimer kamen so innerhalb der nächsten 20 Jahre ins Elsaß, 122 wertvolle "Bugattis" unter ihnen ... Finanziert wurden die Käufe - Bruder Hans stimmte zu und half mit aus allen erreichbaren Geldquellen: aus dem Gewinn der Textilfabriken und aus Krediten. Die neue Geschäftspolitik aber blieb nicht ohne Folgen: die Schulden der Unternehmer stiegen, Investitionen fielen aus, die Produktionsanlagen veralteten, Kunden wandten sich ab, der Umsatz sank bei steigenden Kosten. Das Ergebnis waren 100 Millionen Francs Schulden, denen die Oldtimersammlung im Schätzwert von 80 Millionen Francs gegenüberstand. Die Gebrüder S. meldeten Konkurs an, die Fabriken wurden geschlossen. 6 000 arbeitslos gewordene "Mitarbeiter" (ein gängig gewordener Ausdruck für eine vielleicht doch anders geartete Rolle, wie das Beispiel zeigt) behaupteten: Die Autos, auf Kosten unserer Arbeitsplätze angeschafft, gehören uns. Ein zu abseitiger Vorfall 17 , als daß allgemeiner Verbindliches über die Struktur von Konflikten und über Rechtserwartungen hieraus zu entnehmen wäre? Die Exzentrik der Herren S. darf nicht darüber hinwegtäuschen, wie gewöhnlich und immer reproduzierbar das Fallmuster tatsächlich ist. Ein Unternehmer zieht Gewinn aus dem Unternehmen ab für seinen "persönlichen Bedarf"; dies führt zum Ruin des Unternehmens, Arbeitsplätze gehen verloren. Wie groß das Unternehmen ist, um welche Art Bedarf es sich handelt ("nur" ein paar Rennpferde; die Jagd; der "gehobene Lebensstil" der Familie), ist gleichgültig. Auch an seinen historischen Ort, das Elsaß der siebziger Jahre, ist der Fall nicht gebunden; diesseits des Rheins konnte er sich ebenso ereignen. (Womit ein Vorurteil über das hier geltende Recht gefällt ist, genau: über die rechtliche Ordnung des Produktionsprozesses. Sie sei nicht so geartet, daß sie Affairen nach dem Vorbild S. ausschließen würde.) - Nur eine Variante des "im Kern" gleichen Konflikts könnte es zudem bedeuten, wenn "nicht so unvernünftige" Entscheidungen des Unternehmers das gleiche Ende herbeiführen. Etwa: Der Gewinn des einen Unternehmens wird in anderen, riskanteren Geschäften vergeudet (- der Eisenhändler, der endlich auch Reeder werden möchte und daraufhin mit beiden Unternehmungen scheitert). Oder, noch "vernünftiger", aber für Betroffene gleich hart: Gewinn wird für Investitionen ins Ausland verlagert, woraufhin die inländische Unternehmung schrumpft, zuletzt auf eine bescheidene "Hauptverwaltung". Konfliktstoff genug für eine Gesellschaft, in welcher 86 Prozent des Produktivvermögens bei 20 Prozent der Haushalte allociert sind, oder krasser: 1,7 Prozent der Haushalte über rund 55 Prozent des Produktivvermögens gebieten. Diese Zahlen wurden für die Bundesrepublik 17 Quellen: Halwart Schrader, Die Automobile der Gebrüder Schlumpf, 1977, sowie Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL, Nr. 44/1977, S. 270 ff.
1. Kap.: Rechtsbedürfnis und Rechtserwartungen
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für 1973 ermittelt; die Relationen haben sich gegenüber den beiden vorherigen Jahrzehnten nicht nennenswert verändert18• Sie dokumentieren die Verfügungsrnacht weniger über Lebensbedingungen vieler - ein Potential für Konflikte jedenfalls dann, wenn Arbeitslose, als Opfer der Dispositionen eines Unternehmers, keinen sie befriedigenden Ersatz finden: einen anderen Arbeitsplatz oder ein arbeitsloses Einkommen. 2. Risse im Gebilk der Gesellsdlaft
Sie wurden an anderer Stelle augenfällig: nicht an der Arbeitswelt oder am Sozialstaat Bundesrepublik (der seit 1974 einen hohen Grad an Arbeitslosigkeit zu bewältigen hat), sondern in der politischen Sphäre und am Rechtsstaat. Ein Unternehmen der Energiewirtschaft will ein Kernkraftwerk (KKW) errichten. Die zuständige Behörde (Landesregierung oder einer ihrer Minister) hat die Genehmigung zum Bau der Anlage erteilt, die Bauarbeiten werden vorbereitet. Eine Bürgerinitiative hat sich konstituiert, um mit Unterschriftensammlung und Demonstrationen gegen das Vorhaben zu protestieren. Die Proteste bleiben ohne Einfluß auf den Gang der Dinge, die Bürgerinitiative und einzelne Bürger erheben Klage beim Verwaltungsgericht. Nach einer Demonstration besetzen Demonstranten das Baugelände; die Polizei räumt es einige Tage später im überraschungsangriff um 4 Uhr früh, es gibt Verletzte auf beiden Seiten. Das Gelände wird befestigt und bewacht, die Sicherungseinrichtungen werden nachts wiederholt beschädigt. Die Bauarbeiten haben begonnen, da verhängt das Verwaltungsgericht einen vorläufigen Baustopp; die Baufirma entläßt daraufhin viele ihrer Arbeiter. Dies scheint mehr, als das Recht bewältigen kann ... 3. Der Fall Midlael K.
Michael K. hat dem Junker Wenzel von Tronka zwei Pferde zum Pfand gelassen, zwei kräftige und gepflegte Rappen. Als K. das Pfand zurückfordert, werden seinem Knecht Herse die Tiere in elendem Zustand übergeben; sie waren - abredewidrig - zur Feldarbeit eingesetzt und ungenügend ernährt worden. K. verlangt von Tronka die Wiederauffütterung der Rappen. Ein Streit, leicht altertümlich dem Gegenstand nach, doch beruhigend banal; ohne Schwierigkeit lösbar anhand einiger Paragraphen des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Und auch ohne Rückfrage beim Gesetz scheint der Ersatzanspruch des K. unabweislich. Hätte K. doch das erwartete und naheliegende Recht bekommen! Tatsächlich wurde die Klage des K. abgewiesen; womit ein Gericht ihm offenbar mehr an Enttäuschung zumutete, als das Recht einem Verlie18 Quellen: Horst Mierheim / Lutz Wicke, Die personelle Vermögensverteilung in der Bundesrepublik Deutschland, 1978, sowie DIE ZEIT, Nr. 45/1978,
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IH. Die Fruchtbarkeit der Konflikte
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rer auferlegen darf. Denn nach verlorenem Prozeß zog K. aus, "sein Recht", das ihm verweigert worden war, zu nehmen. Der Raubzug des Michael Kohlhaas nach dem Recht begann. Ein möglicher Notweg zum Recht? HI. Die Fruchtbarkeit der Konflikte Was geben die drei Fälle dem Recht auf, was muten sie ihm zu? 1. Zur Affaire Schlumpf
Der Streit, so wie er schließlich ausbricht, geht um 427 alte Autos, die dank der Sammelleidenschaft einiger Leute einen hohen Geldwert verkörpern. Die Zuteilung einer Vermögensmasse ist das Streitthema. Ob es denn so weit kommen mußte, die Unternehmer S. nicht früher zu einer "vernünftigeren" Geschäftspolitik gezwungen werden konnten, ist eine andere Frage. In der späteren Situation ist die frühere allerdings "aufgehoben": einerseits hat sie sich darin erledigt, andererseits ist sie darin als Ursache aufbewahrt, ein Stoff für das Nachdenken hinter die späte, letzte Gestalt des Konflikts zurück. a) Akute Fassung des Streits
An ihr sind generelle Merkmale von Konflikten ablesbar. Zugleich bietet sie Gelegenheit für fundamentale Rechtserwartungen. (Gerade das Generelle, Fundamentale interessiert bei der Sinnfrage. Sie verlangt, das Allgemeine am konkreten Rechtsfall zu benennen, das dann an unzähligen Fällen wieder nachzuweisen sein wird.) (1) Die Gläubiger verlangen den Autopark, die Arbeitnehmer ebenso; und als dritte Partei des Konflikts werden die Brüder S. auftreten, die ihr "Lebenswerk" retten möchten, nicht unbedingt für sich privat, vielmehr "für die Allgemeinheit": ein Museum vielleicht, gestiftet von ... Jede Partei fordert dasselbe Gut, fordert es ganz. Die Struktur dieses Konflikts (eine der möglichen Strukturen von Konflikten überhaupt) besteht darin, daß mehrere etwas begehren, was in der begehrten Weise nur einer von ihnen erhalten kann. Allgemeiner gesprochen: Konflikt ist (im Fall S. und wohl immer) ein Zusammentreffen von Begehren, die einander ausschließen. Seine Verfassung ist der Widerspruch: a und Nicht-a; doch beides: etwas Bestimmtes und sein Gegenteil, kann nicht zugleich gelten. Die Elemente jedes Konflikts sind Begehren (Interessen). In ihnen kommt zum Ausdruck, was Konfliktparteien anstreben, fordern; und sie zeigen, daß etwas nicht bloß als möglich oder wünschenswert angesehen wird, sondern als zu erstrebendes Ziel. Interessen sind weder
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1. Kap.: Rechtsbedürfnis und Rechtserwartungen
unverbindlich noch statisch, für sie ist vielmehr das Insistieren auf Erfüllung wesentlich. (Das "Interesse am Interesse" ist, es durchzuset~ zen.) Dadurch ist der Konflikt seinerseits ein dynamischer Vorgang: der Widerspruch (Interessengegensatz) besteht nicht nur, er wird vor~ angetrieben, um gelöst zu werden. Das Ziel des Konflikts ist, struktu~ rell gesehen, den Widerspruch abzulösen durch ein bestimmtes Ergebnis. Im Blickwinkel der einzelnen Konfliktpartei verkürzt dieser objek~ tive Tatbestand sich zur subjektiven Erwartung, das je eigene Interesse möge siegen. (2) Da ein Ziel definiert ist, stellt sich die Frage nach den Mitteln, es zu erreichen. Endlich ist damit der Anknüpfungspunkt für Rechtserwartungen gefunden. Den Beteiligten Gewalt anheim zu geben, bis eine Seite den umkämpften Besitz davonträgt (oder 427 Oldtimer zu Schrott zerschlagen sind), wäre der urwüchsige, vorrechtliche Weg. Das Minimum einer Rechtserwartung hiergegen (und der Kern jeder Rechtserwartung) heißt, daß freie, aber riskante Gewalttätigkeit zu ersetzen sei durch einen Modus, der die umstrittene Zuordnung besorgt. Am nächsten liegt der Ruf nach einem Entscheider: Er habe auszusprechen, wem die Schlumpf'schen Autos von nun an gehören (allgemein: welches Interesse obsiegt). Hilfreich ist die fällige Entscheidung indessen nur, wenn zugleich erwartet werden darf, daß sie befolgt wird. (Wie leicht sind schöne Sätze des Völker"rechts" Lügen zu strafen, wenn nur die Macht zum Verstoß ausreicht.) Die Anforderung an das Recht ist also komplexer und höher: der klärende Spruch allein genügt nicht, erst die Gewähr für seine Verwirklichung erhebt ihn zum Recht. Der Entscheider sei nicht bloß Schiedsmann, der eine Lösung vorschlägt, sondern Richter, der sie auferlegt. Für das Richterturn ist notwendig, daß Verlierer sich fügen. Daher spricht der Rechtsbegriff auch schon die Gründe dieser Gefügigkeit mit an: Was bewegt zum Gehorsam? Die fraglichen Gründe sind, bei noch immer minimaler Rechtserwartung, in die Richterrolle projizierbar. Der Richter besitze die "Autorität" - ungeschminkt: die Macht; das Gewaltpotential - zur Durchsetzung seines Entscheids; sei es, daß der Spruch akzeptiert wird aus Einsicht in die Erfolglosigkeit jedes Widerstands, sei es, daß der Spruch gegen Widerstand exekutiert werden muß ... Eine überraschende (?) Rückkehr. Zur Rechtssuche war man aufgebrochen, um drohender Gewalt zu entkommen, und man findet sich am Fluchtpunkt wieder. Auf Gewalt zu bauen, sei leider unvermeidlich, doch sie diene einzig noch dem Zweck, im Verhältnis der Konfliktparteien Frieden zu stiften. Dank dieser Aufgabe habe Gewalt eine andere Qualität, als wenn sie jedermann freigestellt wäre: sie sei nun auf Negation ihrer selbst angelegt. - Von sich aus kommt solche
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Minderung und Veredelung (Dienst am Recht!) nicht zustande, sie muß organisiert werden. Folgerichtig ist deshalb, ein Gewaltmonopol zu fordern. An dieser Stelle spätestens zieht öffentliche Gewalt in das Rechtsdenken ein: hilfreiche, rettende Staatsgewalt. Der erwartete Staat selbst kann zugleich die Rechtsprechung übernehmen; er kann sich ebenso gut begnügen, Erfüllungsgehilfe eines Richters zu sein. Die AufgabensteIlung jedenfalls zeigt den Staat als uneigennützigen Makler des Rechts, der den befriedenden Vorrat an Schrecknis hütet, ihn einzig zur Rechtsverwirklichung und dann auf das Behutsamste einsetzt. (Ein dem Recht gemäßes Bild; gegen anders lautende Erfahrung stünde es als Postulat.) (3) Ein Gericht und die Garantie für den Vollzug seiner Entscheide: dies könnte an Recht ausreichen. Eine so bescheidene Rechtserwartung aber ist (oder scheint) doch zu "primitiv"; historisch unter Niveau. Bereits aus frühen Hochkulturen, Gesellschaften mit komplexen Lebensverhältnissen, sind Gesetzestexte überliefert: der Codex Hammurabi, im 18. Jahrhundert v. u. Z. teils aus älteren Quellen zusammengestellt; die einige Jahrhunderte jüngeren Mosaischen Gesetze. - Gesetze also! Vor-schriften (Vorbeschreibungen) darüber, wie der Konflikt zu lösen sein werde. Sie lassen sich als Produkte der Erwartung begreifen, daß der Streitausgang absehbar, einschätzbar sein müsse. So absehbar wenigstens, wie abstrakte Texte (dies sind Gesetze unvermeidlich) es erlauben. Lieber den vagen Anhaltspunkt als gar keinen! Allein auf die Meinung (Willkür) eines Richters sind entwickelte re Lebensverhältnisse möglicherweise schlecht zu gründen. Die Hoffnung, Sieger zu werden mit Hilfe des Richters, kann zum Streit anreizen, der (vielleicht) bei vorhersehbarem Ausgang unterbliebe. Weil (oder: sofern) Gesetze die Konfliktmenge verringern, stabilisieren sie eine Gesellschaft. Wird nicht nur die richtende Instanz erwartet, sondern zugleich Gesetzlichkeit, dann könnte als Gesetz ein vorab publiziertes Machtwort (ein Wort der richtenden Instanz selbst oder sonst eines Gesetzgebers) genügen. Die Rechtssuche hätte Hobbes' Devise: auctoritas, non veritas facit legem - auf die Durchsetzung der Vorschrift komme es an, nicht auf ihre "Wahrheit"19. Egal, was ein Gesetz sage und wie der Richter es verstehe (für welche Bedeutung einer mehrdeutigen Vorschrift er sich entscheide), der Spruch habe Geltung. - Was Hobbes hier beiseite schiebt, ist eine Rechtserwartung höherer Stufe. Nicht bloß Entscheidung überhaupt, die richtige Entscheidung sei fällig! Die rechtliche Lösung müsse "einleuchten"; mehr noch, sie müsse Widerlegungsversuchen der Verlierer standhalten. Oder mit höchstem Anspruch versehen: sie müsse "wahr" sein. Erst die Unwiderlegbarkeit rechtfertige 18 Thomas Hobbes, Leviathan, cap. XXVI (ed. P. C. Mayer-Tasch, Rowohlts Klassiker 187 - 189, S. 204 ff.). 3 Gast
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Rechtsbedürfnis und Rechtserwartungen
Unterdrückung des dennoch versuchten Protests; denn er wäre ja falsch, unvernünftig. (4) Sind die Anforderungen an das Recht so weit entwickelt, dann werden die Interesseninhalte wichtig. Bei bloß formaler Rechtserwartung - nötig seien Gesetz, Richterspruch und Vollzugsgarantie waren die streitenden Interessen gleichgültig: jedes Interesse paßt gleichermaßen in den Konfliktlösungsapparat. Dem Apparat ist es dasselbe, 427 Autos den Gläubigern der Brüder S. oder den Arbeitnehmern zuzuweisen, oder im Gegenteil das Eigentum der Brüder S. zu bestätigen. Nun aber nimmt das Begehren der Gläubiger - der Arbeitnehmer; der Brüder S. - eine zusätzliche Dimension an: es will als "das Richtige" bestätigt werden. Im Streben nach dieser Auszeichnung steigt es zum Inhalt einer Rechtserwartung auf, während formale Rechtserwartungen nur Wege der Interessendurchsetzung entwarfen. Richtig = rechtens kann von den kontroversen Begehren nur eines sein; es hat den Apparat gerechterweise hinter sich. Zunächst freilich, auf der Stufe der Erwartungen, waltet noch nicht das Recht, sondern Meinung und Meinungsstreit. In den Anspruch, Recht zu sein, schlüpft jedes der Begehren, und der Konflikt kommt dadurch nicht von der Stelle. Ihn treibt eine inhaltliche Rechtserwartung erst voran, indem sie sich als bestätigenswert darbietet, das heißt um die Anerkennung als rechtens wirbt. Die Werbung muß Gründe (Argumente) dafür anbieten, weshalb das eine Interesse das rechte sei, die Gegeninteressen ihm zu weichen hätten. Auf diese Weise steigert die schlichte Erwartung des Rechts sich zur Recht-fertigung. Der Vorgang hat zwei Aspekte: zum einen wird gesagt, aus welchem Grund ein Interesse, gerade es, rechtens sei, zum zweiten wird jene Bestätigung gesucht, die von mehreren Rechtsansichten (nunmehr: Begründungsversuchen) nur eine erringen kann. In den Gesetzen müßte die Bestätigung vorbereitet sein. Eine Vorstellung von Recht, die dem Gesetzgeber viel abverlangt: Gesetzgebung mußte den Streit - eine Auseinandersetzung der Begründungsversuche - schon vorwegnehmen. Bei hohem Vertrauen in die Begründung: in ihren Wert als Instrument der Rechtsgewinnung, wird jedoch auch eine Rechtserwartung sinnvoll, die statt auf Gesetze auf die Vernunft des Richters baut. Ein Gesetzgeber muß den Widerstreit der Gründe nicht klären, wenn jederzeit der Richter das Richtige vom Falschen, das überzeugende vom weniger Plausiblen zu scheiden vermag. Je mehr die Rechtserwartung auf die Zugkraft des Arguments vertraut, um so weniger muß sie zum Gesetz führen. Ihr genügt der richterlich entschiedene Präzedenzfall oder überhaupt nur eine bestimmte Entscheidungsrationalität (Vernünftigkeit des Entscheidens),
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die sich methodologisch, in Verfahrensregeln, ausdrückt und darstellt. Der Richter muß dann angeben, wie und woran er die eine oder andere (versuchte) Begründung als die rechte identifiziert, an welchen Fehlern hingegen der konkurrierende Versuch scheitert. (5) Die Parteien der Affaire S. hätten für das je eigene Interesse zu plädieren; jedes Plädoyer hätte die Gründe anzuführen, von denen der Plädierende erwartet, sie seien die gesetzlich anerkannten oder jedenfalls für den Richter akzeptabel. - Ein denkbarer Vortrag der Gläubiger: Wir haben den Unternehmern S. Geld geliehen, sie sind zur Rückzahlung nicht imstande. Darum haften sie uns mit den Sachen, die ihnen gehören. Die Autos sind das Eigentum unserer Schuldner; wir dürfen uns hieran schadlos halten. - Die Arbeitnehmer der S.-Werke: Durch unsere Arbeit wurde Gewinn erwirtschaftet, der unsere Arbeitsplätze sichern sollte. Stattdessen wurde das Unternehmen ausgebeutet, der Gewinn für die Autosammlung verschwendet. Beweis: Bevor die Sammelwut der Arbeitgeber S. begann, blühte das Unternehmen auf; danach. lebte es noch, solange von der Substanz zu zehren war. Wider Treu und Glauben wurde das Kapital zu alten Autos statt zu neuer Gelegenheit für Arbeit. Wir haben unsere Arbeitsplätze verloren, der Erlös für die Oldtimer steht zum Ausgleich uns zu. Er bietet ohnehin keinen Ersatz, allenfalls eine Art "Schmerzensgeld". (Und auf Vorhalt der Gläubiger, daß die Sammlung mit den Krediten finanziert worden sei:) Die Kredite wurden für das Unternehmen gewährt, das andernfalls noch früher zusammengebrochen wäre. An die Relikte des Unternehmens können die Gläubiger sich halten. Schließlich die Brüder S.: Den Arbeitnehmern schulden wir nichts. Wir haben jahrzehntelang ihre Arbeit entlohnt; etwas anderes konnten sie nie fordern. über den Gewinn, den Lohn für unternehmerische Tätigkeit, durften wir frei verfügen. Wir haben ihn eingesetzt, um ein einmaliges Werk zu schaffen. Dieses Werk - unsere Sammlung - ist zu kostbar, als daß es für die Schuldentilgung zerstört werden dürfte. Die Kredite wurden in der Tat stets für das Unternehmen gewährt, nicht für die Sammlung. Sie muß unantastbar bleiben, notfalls als "Stiftung Gebrüder S.". (6) Bei inhaltlicher Rechtserwartung bildet das Interesse mit allem, was zu seiner Begründung gesagt werden kann, eine Einheit. Darin ist ein nächster Aspekt angelegt, eine Wechselbeziehung. Einerseits regt das Interesse die Suche nach Gründen (Argumenten) an; andererseits wird Begründbarkeit zur Grenze rechtlich verfolgbarer Interessen. Die Versuche, den Anspruch auf das Ganze zu rechtfertigen, lehren möglicherweise, daß solches Begehren "unhaltbar" ist (keine Bestätigung finden wird). Zur Rechtserwartung gehört deshalb, ein Interesse den Gründen, die ihm Rechtlichkeit vermitteln sollen, anzupassen. Das Interesse wird beweglich, der Konflikt dadurch freilich nicht schon "geringer". Allenfalls sinkt die Wahrscheinlichkeit von Konflikten um einen Zufallsfaktor; denn Streit findet nicht statt, wenn - zufällig jede Konfliktpartei so viel fordert, wie die anderen Parteien ihr zubilligen. - Bricht der Konflikt als Streit um Anteile auf, so kann eine Typologie der Konfliktlagen immerhin die zweite spezielle Struktur festhalten: zuvor Streit um ein Ganzes, das nur einer Seite gehören 3·
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kann, jetzt Streit um den Anteil, den jede Partei für sich maximieren, für die anderen geringhalten will. Der allgemeineren Struktur nach ist der Konflikt wiederum Kontradiktion. Veränderte Interessen (Teilung statt Anspruch aufs Ganze) könnten die Rechtssuche insgesamt neu ausrichten. Doch die schon angesprochenen Muster taugen auch hier. Sinnvoll ist die Erwartung des Richters, der die Anteile festlegt; des Gesetzes, das eine Teilungsregel enthält. Sinnvoll ist auch die Erwartung der "richtigen" Lösung, demgemäß das Werben für die Richtigkeit des je eigenen Anspruchs, die ein Gesetz - ein Richter - zu bestätigen hätte. Darüber hinaus gibt es noch einen Modus, der wohl auch beim Streit um das ungeteilte Gut anwendbar ist, dort aber ferner liegt: Zuteilung durch die Beteiligten selbst, die sich einigen (offener: eine Lösung beschließen) müssen. Das Rechte wäre dann jenes Verfahren, das die Parteien hin zu ihrem Resultat, einem Verteilungsplan, führt. Eine formale Rechtserwartung wiederum; der begehrte rechtliche Apparat würde jedes Ergebnis tragen, das aus ihm hervorgeht. (7) Ein - Spektrum der Möglichkeiten einige miteinander verknüpfbar, andere alternativ - ist in der Affaire S. angelegt: womit die Frage nach der Lösung nur noch dringender wird. Abstrakt geurteilt, ohne Rücksicht auf den konkreten Konflikt, scheinen die Möglichkeiten gleichwertig; jede taugt von sich aus zur Befriedung der Lage. Eine andere Wertung könnte im Konflikt selbst, im Bedürfnis nach Recht vorbereitet sein (Punkt 4 des Nachdenkprogramms, oben bei "Anstöße", IV 1). Es geht um die "Angemessenheit" der Lösung; der Konflikt weist das Unangemessene ab, auch die unangemessene Rechtsform. ("Justiz - nein danke." Also freier "Konkurs": ein Zusammenkommen aller, die es angeht, damit sie einen Komprorniß aushandeln?) Welche Art und Weise, sich auseinanderzusetzen, werden 6000 Arbeitnehmer, etliche Gläubiger und die Brüder S., die Akteure des Konflikts, als angemessen erkennen, wenigstens hinnehmen? über den rechtlichen Weg müssen sie sich einig sein, wenn sie ihren (Teilungs-)Streit rechtlich = friedlich zu Ende bringen wollen. Geriete ihnen ihr Konflikt total, so würde er auch den Lösungsweg betreffen. Er würde haltlos und bliebe trotzdem rechtlich?
Die Aussicht ist paradox: ein Streit, der zunächst nur um alte Autos ging, hat sich um den Streit über das Recht vermehrt. Mehr Streit, damit weniger schlimm gestritten werde, friedlich und mit Argumenten statt rabiat? Die Rechtlichkeit scheint dies mit sich zu bringen, während zugleich doch jeder Zuwachs an Streitstoff dem Recht zuwiderläuft; es soll helfen, Konflikte zu bewältigen, nicht sie ausdehnen. Deshalb kann von Recht nur die Rede sein, soweit der Lösungsweg tat-
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sächlich in der einen oder anderen Weise eröffnet ist. Recht ist ein
fertiger Weg; oder vorsichtiger: daß es ihn fertig anbiete, gehört nach
jeder Rechtserwartung zum "Wesen" des Rechts. Mit (irgend)einer gültigen, eingerichteten Prozedur rechnet die Rechtssuche, mag auch der Konflikt sich auf Rechtsquellen und Verfahrensweisen erstrecken. Hinter einem Streit um das fällige Verfahren muß die Maß-gabe bereitstehen, wie er zu lösen sei. Der sichere Ort schwebt der Rechtssuche immer vor, sogar, wenn sie ihn nicht genau kennt und nicht zu benennen weiß. b) Der Rumpf eines Eisbergs
(1) Zur Affaire S. wurde der Fall, er kam an die große Glocke, als das Unternehmerpaar die Fabriken schloß, die Arbeitnehmer entließ und sich für zahlungsunfähig erklärte. Zumindest bei oberflächlicher Sicht (einem Blick nur auf die Oberfläche der Lebensverhältnisse) war dies die schlagartige Geburt des Konflikts. Und genügt der Blick auf die Oberfläche nicht, wenn es um Recht geht? Die Verhältnisse waren ja friedlich bis zu jenem Tag - die Arbeitnehmer hatten Beschäftigung und Einkommen, die Gläubiger einen nicht bezweifelten und durchaus realisierbaren Rückzahlungsanspruch, die Brüder S. ihr "Lebenswerk". Rechtsfragen hätten da nur gestört. Friedlicher Umgang zwischen Menschen ist für sich genommen ein hoher Wert (eine Einschätzung, die erst der friedlose Zustand: der Streit, die Gewalttat, lehrt); für das Recht ist es Arbeit genug, verlorenen Frieden zurückzuschaffen. (Aller Erfahrung nach ohnehin mehr Arbeit, als es zu leisten vermag!) An Ruhelagen also sollte man nicht rechten . .. Auch nicht an einer Ruhelage, die bloß Ruhe vor einem Sturm war? Freilich: Stoff für Konflikte bietet das ganze Leben, sie brauchen nicht aufzubrechen; daher könnte es besser sein, mit dem Recht zu warten. Wenn indessen der offene Streit als Spitze eines Eisbergs erscheint, wird der Blick unter die Oberfläche - ein Blick in die Vorgeschichte des Streits - unvermeidbar. Inhaltliche Rechtserwartungen sind bei ihrem Mühen um Anerkennung zum Rückblick sogar gezwungen. Ansprüche wie jene der entlassenen Arbeitnehmer auf Unternehmervermögen sind kaum begründbar, wenn nicht in der Vergangenheit, vor der Affaire, Gründe schon gelegt wurden: durch eigene "gute" Taten, durch Fehler der anderen Seite. In der Werbung für Rechtserwartungen werden Interessengegensätze aufgedeckt, die längst vorhanden waren. Etwa: Das Interesse der Arbeitnehmer an Investitionen, durch welche die Arbeitsplätze erhalten werden, contra Verfügungsfreiheit der Brüder S. über "ihren" Gewinn. Oder das Interesse der Gläubiger an "solidem" Unternehmertum, welches Rückzahlung garantiert, contra Sammlerinteressen, denen das Unternehmen nur als Geldquelle dient.
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"In der Welt" war der spätere Streitstoff vom Tag an, da die Sammelwut des Fritz S. begann und Gewinne hierfür dem Unternehmen entzogen wurden. Ein "stiller" Konflikt zwar, der nicht aufbrach, auch wenn gelegentlich mancher Gläubiger oder Arbeitnehmer bei sich überlegen mochte, ob Einfluß auf die Schlumpf'sche Geschäftspolitik zu gewinnen sei. Ein unscheinbarer Konflikt auch, verdeckt dadurch, daß gegenläufige Interessen noch gleichermaßen befriedigt wurden (befriedigt schienen): noch gab es die Arbeitsplätze und Geld genug für die Sammlung. Augenfällig und laut wird durch den offenen Streit am Ende der ganze Konflikt; der Streit blendet zurück, hellt Vorheriges auf, macht es bewußt. Das Vorfeld war eben doch nicht nur von der allgemeinen Konfliktträchtigkeit "des Lebens überhaupt" , es war fertiger Konflikt; lediglich ein schwelender, vielleicht unentdeckt schwelender Konflikt. Der grelle Ausbruch aber war programmiert. Also wäre Recht "eigentlich" schon früher fällig gewesen; eine rechtliche Lösung des noch geringeren übels, damit es nicht zum Schlimmeren ausartet. In der letzten ("heißen") Phase des Streits wären Rechtserwartungen sinnlos, die für früher, rückwirkend, "eigentlich" etwas anderes wollten als das, was geschah. Die Erwartung ist immer auf die Zukunft gerichtet. Nur in der Werbung für eine Rechtsansicht wird die Vorgeschichte - die Genesis des akuten Falls - bedeutsam. Jetzt ist entweder, um der Folge willen, das Unrechte an ihr zu entdecken, oder im Gegenteil zu erkennen, daß weithin doch Recht geschah (beispielsweise die Brüder S. gegenüber den Arbeitnehmern im Recht waren, daher noch immer im Recht sind: sie schulden den Arbeitnehmern nichts). Aus der Vorgeschichte, die im Fall S. (und immer) unveränderlich ist, können jedoch andere lernen: Unser Konflikt ist noch nicht so weit zugespitzt, aber wir begreifen ihn nun, wollen eine frühere, bessere Lösung. In solcher Einsicht wird der zuvor unauffällige Interessengegensatz zum Anstoß für Rechtssuche. - Ein Fazit: Der Konflikt kann ebenso "an sich und etwas Unmittelbares" sein wie das Recht (vgl. Fn. 13). Bloßes Faktum, das erkannt werden (ins Bewußtsein dringen) muß, um Rechtssuche zu entzünden. Bis dahin sind die einander entgegengesetzten Interessen erst objektiv vorbereitet. (Aber ist das eine sinnvolle Kategorie: ein "objektives" Interesse = Begehren?) Sie sind strukturell begründet, in den Lebensverhältnissen angelegt, und sie sind wirksam: als blinde Wirkkräfte, die in den Streit führen. (Objektive Begehrenslage also; eine sinnvolle Denkform.) Die Interessen und ihre Unverträglichkeit sind jederzeit schon reflektierbar (spiegelbar) im Bewußtsein; sie müssen "nur" bewußt werden. (2) Welche Rechtserwartungen passen im Fall S. zur früheren Fassung des Konflikts? Er hat anderen Zuschnitt als der spätere Streit um
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die Zuordnung oder Aufteilung eines verbliebenen Vermögens. Es geht um Gewinnverwendung, Kreditaufnahme, Investitionen, kurz: um Unternehmenspolitik. Entscheidungen hierzu sind fällig, nicht als einmalige Entschlüsse, sondern in permanenten Entscheidungsprozessen. Die angefangene Typologie der Konflikte läßt sich um dieses dritte Muster vermehren: Dispositionen sind zu treffen, aber sie sind zwischen Beteiligten/Betroffenen umstritten; die Lage ist hierdurch kontradiktorisch (- die generelle Konfliktstruktur). Etwa: Gegen herkömmlich unbeschränkte Verfügungsmacht der Unternehmer über den Gewinn setzen Arbeitnehmer die Erwartung, ein Gesetz müsse die Quote des Unternehmerlohns festlegen, der Restertrag gehöre ins Unternehmen. Eine Rechtserwartung, die das Interesse direkt angibt und es auf kurzem Weg, mit einer klaren Teilungsregel, verwirklicht sehen möchte, dem Unternehmer jedoch Entscheidungsfreiheit innerhalb der Zweckbindung beläßt. Anders die zweite mögliche Erwartung, die auf umfassende Mitsprache bei der Gewinnverwertung zielt: Die Arbeitnehmer wollen über den Unternehmerlohn so mitbestimmen wie der Unternehmer über das Arbeitsentgelt, und auch über den Restertrag dürfe der Unternehmer nicht einseitig, allein nach seinen Vorstellungen disponieren. Rechtserwartungen, gegen welche stets das Interesse der Unternehmer an Alleinzuständigkeit antreten wird. Aber auch die Kreditgeber sind als Konfliktpartei nicht zu übersehen. Sie können an Rechtserwartungen anmelden: ein Vetorecht gegen Entscheidungen der Unternehmer beziehungsweise, wenn es Mitsprache der Arbeitnehmer geben sollte, gegen gemeinsame Entscheidungen beider. Oder: die Forderung, "drittelparitätisch" an den Entscheidungsprozessen beteiligt zu sein ... Interessen, wenn sie nicht wie von selbst - widerstandslos - Befriedigung finden, sind offenbar der Motor aller praktischen Phantasie. c) Allzu gemäßigtes Erwarten?
Zum Höhenflug hat der Skandal die Phantasie bisher aber nicht bewogen. An die Grenze des Vorstellbaren ist die Rechtssuche (hier als Versuch betrieben, mögliches Recht zu entwerfen) tatsächlich nicht gestoßen. Im Gegenteil, sie zieht den Einwand leicht auf sich, zaghaft zu sein, mutlos und "angepaßt". Dabei könnte gerade der Fall S. anstoßen zu Gedanken über seine Um-stände hinaus; zur Rechtssuche gegen Verhältnisse, die ihn ermöglichten. Fabrik und Oldtimer, alles müsse an die Arbeitenden fallen, die als neue "Herren" die weiland Schlumpf'schen Unternehmen weiterführen, die "Bugattis" verkaufen, den Wert in die Produktion zurückführen ... : denkbar ist diese Rechtserwartung sehr
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wohl. Sie schließt jedoch, angesichts des kapitalistischen Kontextes am Ort der Handlung, einen Umsturz mit ein, die "proletarische" Revolution. Die Rechtssuche denkt neue Umstände, einen anderen Bezugspunkt für ihr Recht; und sie denkt zugleich einen Weg dahin, der auf revolutionären Austausch der Rechtsordnungen hinausführt. (Enteignung ohne Entschädigung etwa ist, bei kapitalistischer Ausgangslage, ein Indiz für den revolutionären Weg.) Das erwartete Recht setzt den revolutionären Akt voraus, den in aller Regel der Protagonist ebenso als Nicht-Recht, als Negation von Recht begreift wie die Verteidiger des rechtlichen status quo (- ein Grundkonsens in der Einschätzung von Revolutionen also). Rechtlosigkeit ist die Brücke oder Krücke in eine "andere Welt". Rechtssuche unter dieser Prämisse ist, ehe sie Recht betrifft, zu allererst Revolutionserwartung. Freilich könnte auch eine radikale Erwartung dem Recht treu bleiben. Sie müßte einen rechtlichen, keinen revolutionären Weg hin zur nicht-kapitalistischen Textilfabrik S. entwerfen: Enteignung und Entschädigung. Der Staat solle die Schulden der Unternehmer S. tilgen, das Unternehmen quasi kaufen und den Arbeitnehmern übergeben, es mit Subventionen sanieren! Ein Konzept immerhin, das den Boden der Rechtlichkeit für keinen Augenblick, für kein revolutionäres Intermezzo verlassen will. Zweifel werden dennoch schnell aufkommen (gedacht vor dem Hintergrund Bundesrepublik im Jahre 1983; man darf nicht vergessen, daß jedes Für und Wider, jedes Argumentieren seinen Ort und Zeitpunkt hat, Koordinaten, denen es verhaftet ist). Die hier geforderte Lösung sei so schnell und untrainiert nicht erreichbar, daß sie im anstehenden Konflikt noch helfen könnte. Für künftige Fälle trifft dieser Vorbehalt zwar nicht zu; aber leicht ist ein anderes Bedenken zur Hand: Die radikale Erwartung sei "unangemessen", verfehle die Befriedungsfunktion des Rechts; denn auf absehbare Zeit werde sie "in der Gesellschaft" weitaus mehr Widerstand hervorrufen als Zustimmung finden ... Zweierlei enthält dieser Einwand: eine empirische Behauptung, die auf Wahrheit überprüft werden müßte, und einen theoretischen Gedanken, der (abstrakt genommen) sicherlich richtig ist. Die fragliche Behauptung nachzuprüfen, wäre einfach: aus einer der "gesellschaftlich relevanten" Organisationen (einer Gewerkschaft oder politischen Partei) müßte der Vorschlag kommen, Arbeitsplätze zu retten durch die "Sozialisierung" maroder Unternehmen; das Echo gäbe Aufschluß. Der andere, rechtstheoretische Gedanke geht aus der allgemeinsten Zweckbestimmung des Rechts hervor. Wie rechtlich wäre ein Vorhaben noch, wenn es, obgleich nach Form und Erscheinung rechtsimmanent, mehr Unfrieden zu stiften droht als es heilt; wenn es zudem in der Praxis so wenig Aussicht auf Verwirklichung hat wie der außerrechtliche Weg zum selben Ziel?
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Andererseits: Dadurch, daß im Gefolge eines Konflikts eine Lösungsidee an die Wurzel des status quo geht und den heftigsten Widerspruch provoziert - allein dadurch kann sie nicht rechtlos sein. Das Recht muß es vertragen, daß solcher Streit ausgetragen wird; mehr noch: es muß ihn auffangen, kanalisieren (- zu diesem Aspekt mehr im KKW-Fall). Fragwürdig werden radikale Rechtserwartungen jedoch meistens aus einem anderen Grund: sie entfernen sich zu weit vom akuten Rechtsbedürfnis. Nicht die Grenze zwischen Recht und zu wildem Streit, vielmehr jene zwischen Recht und Utopia ist angesprochen. Der Einfall, kapitalistisch gescheiterte Unternehmen zu sozialisieren, bei Wahrung aller ökonomischen Interessen der Eigentümer und Gläubiger, zielt auf (legal zu betreibenden) Austausch sozialer Welten; er ist, als sozialphilosophische Utopie, der pragmatischen Frage nach dem Recht schon oder noch allzu fern. Sogar wenn dies die beste Antwort auf den Konflikt wäre, nötig ist die fällige Antwort, die man erwarten darf. Rechtserwartungen mit Bezug zur Wirklichkeit sind vor allem und zumeist Vermutungen über geltendes Recht. Noch keine verbindlichen Rechtsauskünfte, doch immerhin Annahmen dessen, was rechtens sein könnte; sie streben ins geltende Recht, weil sie daraus die Lösung fordern. Im Konflikt, der rechtlich gelöst werden soll, und zwar diesseits des geltenden Rechts, wären andere, radikalere Erwartungen nicht hilfreich. Demgemäß hegt jeder rechtlich denkende Beteiligte Ansprüche so, wie er dem geltenden Recht Einlösung zutraut. Entsprechend "gebändigt" sind schließlich Rechtserwartungen, wenn sie bewußt gegen die Gesetze tendieren: sie bestehen auf Rechtsfortbildung, bemühen sich um Kontinuität des Rechts. Auch darin bleiben sie pragmatisch nur, solange sie den nächstliegenden Schritt, die rechtzeitig erreichbare Rechtsänderung anstreben. Für die (angeblich) besseren, doch ferneren Entwürfe mag man friedlich (= rechtmäßig) werben, um ihre Aussicht auf Verwirklichung zu steigern; so könnte der eine oder andere irgendwann fällig werden. 2. Zum KKW-FaU
Ein Konflikt von eher schlichter Struktur: die Errichtung des Kraftwerks ist zu genehmigen oder zu verbieten, ein Drittes gibt es nicht. Zu einer klaren Alternative ist eine einmalige Entscheidung fällig. Vom Recht wird erwartet, daß es zu dieser Entscheidung verhilft. (Und natürlich muß es ihre Verwirklichung garantieren.) Die Streitenden ergreifen Partei für die eine oder andere Lösung; alles weitere läuft darauf hinaus, den Sieger und den Verlierer zu ermitteln. übernimmt das Recht diese Aufgabe - wie auch sollte es sich ihr entziehen? -, so muß es "nur" zwei Fragen beantworten: Wer entscheidet? Wie ist das Entscheiden verfaßt?
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Bei hinreichend abstrakter Sicht werden viele Probleme einfacher. Ein Abbau, der im schlechten Sinn "theoretisch" gerät, wenn die vermeintlich auf den Begriff gebrachte Wirklichkeit unbändig bleibt, sich dem begriffsgemäßen Handlungsschema immer mehr entzieht ...
a) Mißlingende Reduktion (1) Im Streit um das KKW hieße das einfachste ("reduzierteste") Schema der Konfliktlösung (mithin die einfachste Rechtserwartung): Das zuständige Staatsorgan entscheidet, seine Entscheidung wird auch von der Verliererseite akzeptiert. Der Grund für die Hinnahme - der vernünftige Grund, denn sie soll keine Kapitulation Machtloser vor der übermacht sein - wäre Einigkeit bei den Spielregeln. Hinter dem Streit läge, unberührt von ihm, die Legitimation der Entscheider. Und warum sollte im KKW-Fall hierzu nicht der demokratische Zusammenhang ausreichen: die entscheidende Stelle, eine Regierung (ein Minister), wird von einem Parlament "getragen", das Parlament wurde von den Bürgern gewählt - und der "gute Demokrat" fügt sich den Maßnahmen jener Instanzen, die "er selbst" zur Entscheidung berufen hat. Protest gegen die Entscheidung muß eigentlich als venire contra factum proprium erscheinen, ein unerlaubter Widerspruch gegen Selbstgetanes. Denn zuerst hat "man" (gemeinsam mit den anderen) dafür gesorgt, daß ministri ("Diener") für fällige Entscheidungsarbeit bereitstehen, und nun soll ein Ergebnis, weil es unerwünscht ausfiel, doch nicht gelten. Im übrigen kennt das demokratische Muster einen systemgerechten Tag der Abrechnung, von dem an "alles anders werden kann": den Wahltag. (Ein dies irae? Zorn wäre dann oftmals lange zu konservieren. Daß er sich selten so weit vertagen läßt, trägt zur Kontinuität bei.) Insgesamt ein modus vivendi, der offenbar in vielen Fällen genügt, die Verliererseite eines Streits friedfertig zu halten. Mißlungen ist ihm dies im KKW-Fall. Die Baugenehmigung hat den Protest erst aktiviert. Die Ablehnung äußert sich krasser als noch im Vorfeld der Entscheidung: dort fanden Anhörungen statt, kamen Für und Wider zur Sprache - nur erst zur Sprache, noch nicht zur Tat. Jetzt aber hat die Ablehnung sich organisiert (Bürgerinitiative), sie sucht nach kräftigeren Mitteln, sich durchzusetzen. Die Meinungen treffen nicht mehr bloß wörtlich aufeinander, sie haben sich verhärtet: zur Härte von Steinen und Schlagstöcken. Meinungsstreit ist 'zur Feindschaft und zur Gewalttat fortgeschritten. Dahin hat die sonst gängige Entscheidungsweise den Konflikt, den sie erledigen sollte, schließlich geführt. (2) Der Konflikt wird allerdings auf verschiedenen Ebenen betrieben: nicht nur gewaltsam auf dem Baugelände, sondern auch rechtsför-
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mig vor dem Verwaltungsgericht. Auf das einfache Muster: eine demokratisch legitimierte Behörde erteilt verbindlichen Bescheid, ist der rechtliche Horizont des KKW-Falls gar nicht reduzierbar. Die Suche nach dem definitiven Ergebnis - darf gebaut werden oder nicht? setzt sich im Rechtsweg gegen die Baugenehmigung fort. Die (formale) Rechtserwartung zielt nun auf den Spruch der Richter, und daß vor Gericht jede Partei für ihre Anschauung wirbt, ist selbstverständlich gewordenes Niveau des rechtlichen Prozedierens. Andererseits zeigt gerade die Fallgeschichte, daß diese Verfahrensweise nicht jeden Konflikt mit Selbstverständlichkeit aufzufangen vermag. Der Kampf um das Baugelände fand nach Klageerhebung statt - es war nicht gelungen, den Protest ganz in die Bahnen gerichtlicher Auseinandersetzung zu fassen, ihn auf diese Art friedlich zu halten (ihn zu kultivieren). Für Beruhigung sorgte offenbar das Gericht durch Verhängung des Baustopps (den nach bisheriger Erfahrung in der Bundesrepublik dem Ort des KKW-Falls - die Befürworterseite hinzunehmen pflegt). Der Konflikt ist damit vorläufig abgewiegelt, ohne daß man indessen hoffen dürfte, beide Parteien hätten sich nun ohne Vorbehalt auf den Prozeß eingelassen, ihre Rechtssuche also auf diesen einen Weg beschränkt. Die Furcht, ein endgültiges Urteil zu Lasten der Kernkraftgegner könne Protestaktionen auf der Straße und Gewalttätigkeit wieder aufleben lassen, ist nicht grundlos. (Als das Verwaltungsgericht Schleswig im Dezember 1979 die Klagen gegen Errichtung des KKW Brokdorf zurückgewiesen hatte, äußerte der Bürgermeister einer klagenden und unterlegenen Gemeinde in einem Fernsehinterview: Es sei wohl doch ein Fehler gewesen, auf das Gericht zu vertrauen. Freilich war der Rechtsweg in dieser Angelegenheit nicht erschöpft; darum (??) bestand die Chance zum friedlichen Fortgang des Konflikts.) Doch auch Befürworter reagieren vielleicht nur gelassen, solange sie ihres Sieges sicher sind. Befriedung, die von Zufällen abhängt, impliziert das Gerichtsverfahren ebenfalls. Eine vage Hoffnung auf Friedlichkeit hält sich an seine lange Dauer. Der Protest könnte bis zum endgültigen Urteil erschöpft, das Interesse abgelenkt sein; Gegnerschaft könnte nunmehr zu inopportun sein, um noch genug Anhänger mit dem Mut zur Aktion zu finden. Vielleicht auch haben noch unabsehbare Gründe - Katastrophen anderwärts - das Bauprojekt inzwischen erledigt. - Was aber, wenn nach dem Ende des Rechtswegs, präziser: des Justizwegs, der Streit erst voll ausbricht, angeheizt durch Enttäuschungen über erfolglos aufgewandte Warte- und Redezeit? (3) "An sich richtig" ist das Fazit, nach dem Spruch letzter Instanz sei weiterer Protest - jeder Versuch, den Konflikt noch am Leben zu halten - rechtswidrig. Die "Logik" des Rechts gestattet nur noch Fra-
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gen zur Vollstreckung: Welche Mittel sind zulässig, das rechtlich gefundene Ergebnis gegen Widerstand durchzusetzen? Da die Ernsthaftigkeit, die Zuverlässigkeit des Rechts auf dem Spiel steht, könnte jedes erfolgversprechende Mittel recht sein; kapitulierendes Recht wäre unglaubwürdig, würde zum Unrecht ermutigen. Das Überleben des Konflikts, zuvor das Agieren außerhalb des Rechtswegs ist jedoch auch von Grund auf anders interpretierbar: als ein Indiz dafür, daß der angebotene und begangene Weg ungenügend ist. Er gewährleistet nicht, was bereits Protagoras (op. cit. bei "Anstöße", I) vom Recht gefordert hatte: zu verhindern, daß eine Gesellschaft über ihren Konflikten zerbreche. Und wäre rigide Vollstreckung: die Zusammenfügung per Staatsgewalt, wirklich ein dauerhaftes Band? Sie scheint die dauernde Zerreißprobe zu wagen. Gegen ihre Risiken wendet sich die Erwartung, ein dem Recht gemäßer Entscheidungsprozeß müsse auch Konflikte wie den Streit um Kernkraftwerke aufsaugen. Das Recht schuldet ein Verfahren, das zum alleinigen Schauplatz der Konfliktaustragung wird, zumindest für erhebliche (die Gesellschaft erschütternde) Aktionen daneben keinen Raum läßt.
b) Alle Wege nach Gordion? Das Ideal also ist: ein Procedere, das beide Konfliktparteien anerkennen, weil es jeder genug Aussicht auf Erfolg eröffnet. Die Interessen und alle Argumente für und wider würden in eine, die rechtliche Arena gebracht, der Konflikt würde dort befriedet, und zwar - die Hauptleistung des Rechts! - bei jedem Ergebnis. Ist das abstrakt begehrte Verfahren, das zu fordern so lobenswert wie einfach ist, überhaupt zu verwirklichen? Die als "beste" ausgegebene Erwartung muß sich zur Nachprüfung präzisieren. Auskünfte über sie finden sich im realen Kontext des KKW-Falls, dem Streit um Kernenergie in der Bundesrepublik seit den frühen siebziger Jahren20 • Die Auseinandersetzung ist reich an Vorschlägen, wie die ungenügende Prozedur - Behördenentscheid und auf ihn reagierende Anfechtungs!O Als Leitfaden durch die juristische Diskussion: Rüdiger Breuer, Die Entwicklung des Atomrechts 1974 bis 1976, in: Neue Juristische Wochenschrift 1977, S. 1121 ff.; Rudolf Lukes, Das Atomrecht im Spannungsfeld zwischen Technik und Recht, ebenda 1978, S. 241 ff.; Fritz Ossenbühl, Die gerichtliche überprüfung der Beurteilung technischer und wirtschaftlicher Fragen in Genehmigungen des Baus von Kernkraftwerken, in: Deutsches Verwaltungsblatt 1978, S. 1 ff.; Herbert Kitschelt, Justizapparate als Konfliktlösungsinstanz? Das Beispiel Kernenergie, in: Demokratie und Recht 1979, S. 3 ff.; Hartmut Albers, Gerichtsentscheidungen zu Kernkraftwerken, 1980; Hasso Hofmann, Rechtsfragen der atomaren Entsorgung, 1981. Umfassendes Tatsachenmaterial bei: Dieter Rucht, Von Wyhl nach Gorleben, 1980 (Beck'sche Schwarze Reihe 222); Holger Strohm, Friedlich in die Katastrophe. Eine Dokumentation über Atomkraftwerke, 1981.
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klage - abzulösen sei. Zugleich zeigt sie, daß hinter dem Votum pro oder contra jeweils sehr verschiedenartige Vorstellungen und Motive zusammenfließen; besondere Interessen, Bedingungen der Parteinahme, schaffen eine komplexere Lage, als die Grobstruktur des Konflikts darstellt. (1) Zunächst zur sehr heterogenen Koalition der Kernkraftgegner (denen als Unterlegene erster Entscheidungsprozesse die Last weiterer Rechtssuche zufällt, doch auch die negative Rolle des Störers: hier wohnt der Protest, den es rechtlich zu absorbieren, jedenfalls zu entschärfen gilt). Eine erste Gruppe in ihr bilden Anrainer, die sich vom künftigen Kraftwerk bedroht fühlen, ihre Landwirtschaft gefährdet sehen durch Abwärme und Radioaktivität, ihren Lebensraum verändert durch das Eindringen titanischer Apparatur. Eine Gruppe, deren Protest entfiele, wenn ein anderer Standort gewählt würde, die dort freilich Nachfolger fände. (Denkbar ist, diese erste Schar der Gegner klein zu halten durch die Wahl des Standorts; eine Geografie des geringsten Widerstands, für welche in der Bundesrepublik der reale Spielraum wohl minimal ist.) Kein Ausweichen gibt es vor der zweiten Gruppe, den Verteidigern übrig gebliebener Natur, die zu erhalten sei; Verteidigern einer naturbezogenen Lebensweise, die nicht in Industrie und Technik untergehen dürfe. ("Wenn die Natur verödet, veröden die Menschen.") Auf Probleme der technischen Sicherheit beschränkt sich demgegenüber ein dritter Kreis; seine Mitglieder wären deshalb durch technische Lösungen zufrieden zu stellen (- der besondere "Berstschutz" gegen den nuklearen Unfall; die sichere "Entsorgung" vom strahlenden Müll). Zur Koalition der Protestierenden gesellen sich Anwälte einer freiheitlichen Ordnung, die bedroht werde durch den "Atomstaat" (Robert Jungk): die extrem gefährliche Technologie bedinge den extrem sichernden Staatsapparat einen Polizeistaat. Schließlich hängen sich dem Protest die Verkünder einer künftigen Gesellschaftsordnung (der "Diktatur des Proletariats") an; für sie ist Kernkraft nur in den Händen der Kapitalisten gefährlich, nicht dagegen in den Händen "des Volkes". - Ist Recht vorstellbar, in dem alle diese Teilinteressen sich treffen: Recht, das sich gerade darin zu bewähren hätte, daß unterlegene Kernkraftgegner mit ihrer Niederlage friedlich weiterleben?! Gewiß wäre in diesem Recht niemand zu domestizieren, der sich zur revolutionären "Avantgarde des Proletariats" (Lenin) zählt. Für Revolutionäre ist die Einlassung auf geltendes Recht immer nur ein taktischer oder strategischer Behelf, wo die illegale, gewaltsame Aktion aussichtslos, nutzlos erscheint (nach Friedrich Engels eine Regel jeder Revolution; MEW Bd. 21, S. 493). - Bei den anderen, "systemimmanent" interessierten Gegnern gibt es Fälle bedingter Gegnerschaft; in
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der Bedingung liegt jeweils ein Schlüssel zur Lösung. Der Gedanke etwa, daß Anrainern der Protest abzukaufen wäre, ist keineswegs "bösartig"; im Gegenteil, systemimmanenter geht es nicht. Wenn "die Gesellschaft" Kernenergie "will", soll sie sich ihren Sieg etwas kosten lassen; die Kosten für den Abzug der Gegner und deren Ansiedlung in einer "sauberen" Zone, beispielsweise. Groß ist der Spielraum für ein Ausweichen jedoch nicht; dem Schicksal zu entkommen, das wenige oder die Mehrheit - allen auferlegen, erweist sich zunehmend als illusionärer Gedanke. Doch weil für fundamentale Entscheidungen im ökonomischen und ökologischen Bereich im Ergebnis alle haften, sind Angst und Protest gerechtfertigt und wird das Ansinnen, man habe hinzunehmen, Disziplin zu halten, Sachzwänge und Fachleute zu akzeptieren, immer unerträglicher ... Dagegen ist das bloß technologische Bedenken "seinem Wesen gemäß" zu zerstreuen: durch verbesserte Technologie und durch hinlängliche Information hierüber. (2) Das Sinnen auf Notwege hilft nicht weiter, wenn unbedingte Gegnerschaft zur Kernkraft (oder Gegnerschaft bei nicht erfüllbarer Bedingung) Forderungen an das Recht anmeldet. Das ideale Programm heißt: Recht gewinnt die Protestierenden für seinen Weg, indem es ihnen eine Chance zum Erfolg anbietet, sich ihnen sogar als das allein taugliche Instrument darstellt. Es muß jedermann die Erkenntnis vermitteln, daß so der eigenen Sache am besten gedient ist. Der Prozeß um die Rechtmäßigkeit einer bürokratisch erteilten Baugenehmigung: er genügt offenbar nicht. Daß alle Anstrengung nur darauf hinauslaufen könne, einige Richter zu überzeugen; daß mit dem Spruch dieser wenigen die Angelegenheit erledigt und besiegelt sein soll, jedenfalls nach der dritten Instanz - dies mag zu sehr als Mißverhältnis zwischen Problem und Lösungsweg, zwischen eigenem Engagement und gegebener Wirkmöglichkeit erscheinen, um noch akzeptabel zu sein. Ein zu beengender Weg, um als Recht, befriedend nämlich, zu wirken; vor allem dann als Recht zu wirken, wenn die Anstrengung vergeblich war, die Gegenposition obsiegt, das KKW gebaut werden darf. Denn nun verlangt das Recht notwendigerweise, nach jeder sinnvollen Rechtserwartung - dem Verlierer Duldung ab. Er dürfe kein Feind des Rechts werden, zumal kein Rebell, der sein vermeintlich besseres "Recht" gewaltsam gegen die Gewinner durchzusetzen versucht. Recht verbietet den Weg des Kohlhaasen: weshalb man verlangen darf, daß es nicht seinerseits den Rebellen Kohlhaas produziert. Es muß für den Verlierer glaubwürdig bleiben, auch ihm ein modus vivendi. Deshalb darf nicht das Recht als "schuld" an der Niederlage erscheinen; als parteiisch mithin, ein Instrument apriori im Dienst der Befürworter. Es darf Erfolg und Mißerfolg nicht präjudizieren: weder einen Vorsprung für die Befürworterseite anlegen noch für diese Partei, wenn sie die
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real mächtigere ist, leichter erreichbar, wohlfeiler sein. Und das Recht muß Hoffnung anbieten im Hinblick auf später mögliche Konfliktfälle (die Entscheidung über ein anderes KKW): die Gegner des Kraftwerks dürfen einer neuen Chance zum erfolgreichen Auftritt gewiß sein. Einer wiederum fairen Chance, mit prinzipiell gleicher Erfolgsaussicht wie die Befürworter. (Wobei zum fairen Verfahren wohl gehört, daß die Rollenverteilung in Sieger einer Vorentscheidung und Protestierende, die hiergegen den Rechtsweg beschreiten, entfällt. Ein einheitliches, bis zum definitiven Ergebnis offenes Verfahren würde die Aktions- und Argumentationslast für beide Seiten gleich verteilen.) Wie wären alle diese Anforderungen in konkrete Organisation zu fassen? Letztlich zielen sie auf Ablösung der bürokratisch-justiziellen Synthese; Ablösung eines Verfahrens, das zwar seine demokratische Komponente hat (die entscheidenden Minister hängen vom gewählten Parlament ab), aber nicht "demokratisch genug" zu sein scheint, um die Aktivitäten aller Interessierten aufzufangen. Eine evidenter und unmittelbarer demokratische Prozedur scheint erforderlich. Hierfür bieten sich einige Varianten von Demokratie an: die Volksabstimmung über Einführung (Fortführung) oder Verbot der Kernenergie; die "fallgerechtere" Volksabstimmung über jedes einzelne KKW; statt dieser Formen direkter Demokratie jedenfalls die alleinige Entscheidungszuständigkeit der Parlamente, also der gewählten Volksvertreter. Oder: Nicht die allgemeinen Parlamente seien zuständig, sondern Unterparlamente mit spezieller Kompetenz. Dem besonderen Entscheidungsthema entsprechend könnte es sinnvoll sein, eine "interessenrepräsentative" Zusammensetzung (R. Lukes; Fn. 20) vorzusehen: Vertreter der Industrie, der Arbeitnehmerschaft (Gewerkschaft), der Naturschutzverbände, der Landwirtschaft ... differenziert nach Repräsentanten der jeweils betroffenen Region und Vertretern überregionaler Interessen ... (3) Aber sind dies noch Rechtserwartungen? Weicht die "Rechts"suche damit nicht auf politische Formen aus? Ein Rechtsverständnis, das sich an der Idee strikter Gesetzesanwendung orientiert: das rechtliche Ergebnis werde im Gesetz bereitgehalten, sei daraus zu entnehmen ein solches Verständnis verschließt sich allerdings den angesprochenen Lösungswegen. Es ist auf die Alternative zwischen politischer Entscheidung und rechtlicher Ableitung festgelegt; einen Gegensatz, den jedoch der Rechtsstaatsgedanke längst aufgebrochen hat. Im Rechtsstaat (wie das Grundgesetz ihn konzipiert) ist das politische Handeln zweifach rechtlich eingebunden: es ist auf rechtlich vorgezeichnete Verfahren verwiesen und darf vorgegebene rechtliche Inhalte nicht negieren. Poli;.. tik ist, so gesehen, ein belassener Entscheidungsspielraum innerhalb
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des Rechts (- ein Versuch, zu verhindern, daß die Gesellschaft zur Beute politischer Willkür, des "freien" Machtworts wird). Ist auf diese Weise einerseits die Demokratie verrechtlicht, warum sollte die korrespondierende Sicht unzulässig sein, die das Recht für demokratisch oder demokratisierbar hält. Ohnehin ist das ergebnisoffene Entscheidungsverfahren (dessen Ausgang also nicht an einer Norm abgelesen werden kann) eine zwar neuere, doch akzeptierte rechtliche Kategorie; zumal im öffentlichen Planungsrecht ist sie anzutreffen. Wenn eine Rechtserwartung die eher bürokratische Ausstattung solcher Verfahren durch eine demokratische Ausstattung zu ersetzen trachtet, gerade um besserer Rechtswirkung willen, ist der Zweifel an ihrem Rechtsbezug unsachlich. (4) Rechtserwartungen also sind vermerkt; jedoch Erwartungen einer Konfliktpartei erst, von ihr angemeldet oder aus Rücksicht auf ihre Interessen erdacht. Zu fragen bleibt, ob die Gegenseite, die Koalition der Befürworter, sich darauf einlassen will. Unmöglich scheint der Grundkonsens über einen der erwähnten Wege nicht, da - oder sofern - sie Chancengleichheit für beide Seiten anbieten. Diese abstrakt gehegte Hoffnung zerbricht indessen schnell, denkt man an vorhandene Rechtserwartungen von Befürwortern (Material Fn. 20). Auch sie lehnen die bisherige Verfahrensweise ab, nicht aber, weil der Protest darin eine unangemessen geringe Erfolgsaussicht hätte, sondern weil er schon jetzt zur unangemessenen Störung ausarte. Von diesem Standpunkt muß jede Veränderung als rechtswidrig erscheinen, die den Einfluß der Gegner auf Entscheidungsprozesse und Ergebnisse noch zu vergrößern droht. Interessiert daran, daß eine gewünschte Baugenehmigung schnell erteilt wird und Bestand hat, sind aus der Koalition der Befürworter zu allererst die Unternehmer der Energiewirtschaft. Sie erwarten gesicherte Bedingungen für Gewinne. Verbündete finden sie (seltsamerweise?) beim "sozialen Gegenspieler": bei Gewerkschaftern, die Arbeitsplätze sichern wollen ... Eine keineswegs verwunderliche Einigkeit, bedenkt man, daß in einer Wirtschaftsordnung mit exklusivem Unternehmertum die Nichtuntemehmer abhängig sind von fremder Investition; von fremder Bereitschaft, den industriellen Produktionsprozeß zu veranstalten und Gelegenheit zur Arbeit anzubieten. Wie konflikthaft diese Abhängigkeit auch im Innenverhältnis sein mag, sie kann gemeinsame "Feinde" machen. So legt sie Verbündung gegen jedermann nahe, der Arbeitplätze zu gefährden scheint: Arbeitsplätze in der Energiewirtschaft, in der Zulieferindustrie, überhaupt in "der Wirtschaft". Der gemeinsame Gegner - der Protest - eint. Denn der Arbeitsplatz hat so ltohen Wert, daß gleichgültig geworden ist, woher er stammt, wie er beschaffen ist, wozu er dient. Eine plausible, wenn nicht gar zwingende Einschätzung angesichts der weitreichenden Proletarisierung der Gesellschaft: der "Arbeitsplatz" ist für die meisten materielle Grundlage der Existenz. Sie sind
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weder vermögend noch geschult für ein "eigenes" Leben, abgekoppelt von vorbestimmter industrieller Verwertung ihrer Arbeitskraft. Massenhafte Armut an materieller Lebenssubstanz herrscht vor, in den "Konsumgesellschaften" lediglich überdeckt vom scheinbaren Reichtum im "Verbrauch". Ein hohes Niveau der Vergeudung macht vergessen, daß die solide individuelle Lebensgrundlage fehlt. Erst "Arbeitslosigkeit" bringt den schlimmen Tatbestand ins Bewußtsein, meist als Erfahrung persönlicher Hilf- und Wehrlosigkeit. . . . Die Interessengemeinschaft aus "Kapital" und "Arbeit" kann auch in der Rechtserwartung gegen den Protest mühelos einig werden. Ihm sei die Chance zu nehmen, die Genehmigung geplanter und den Bau genehmigter Kraftwerke zu verzögern, womöglich gar ein Projekt zu Fall zu bringen. Eine Restriktion gegenüber jener Rechtslage also, die dem KKW-Fall zugrunde liegt! Von der rechtstechnischen Seite her gäbe es kaum Schwierigkeiten. Die Verwaltungsgerichte, von klagenden Gegnern der Kernenergie angerufen, müßten dazu nur die eigene Kompetenz schmäler interpretieren: Es sei nicht Aufgabe eines Gerich ts, als "technisch-physikalisch-biologisch-ökonomische Superinstanz" aufzutreten, die Sachentscheidung der Genehmigungsbehörde zu überprüfen und so letztlich an sich zu ziehen. Die Behörde befinde mit Sachverstand über eine Frage, die kein Rechtsproblem sei, sondern Tatsachenproblem! Unverblümter noch wird dasselbe Interesse mit der Forderung an den Gesetzgeber verfolgt, er solle eine Energiebehörde einrichten, die abschließend entscheide; Rechtsmittel seien ausgeschlossen. Die Erwiderung auf solche Rechtserwartungen: Wenn allein der technische und ökonomische "Sachverstand" entscheide, werde die Gesellschaft den Technokraten ausgeliefert. Auf die Betroffenheit vieler oder aller komme es nicht mehr an, nur auf das Gut- und Richtigdünken einer Elite. Eine Elite zudem, deren Denken auf einige materielle Aspekte der Existenz verkürzt sei. Sie verhänge ihr reduziertes Weltbild über alle, einzig legitimiert durch Fachwissen, also in Wahrheit illegitim. Technokratie verdränge und ersetze Demokratie; dem Bürger werde Selbstbestimmung geraubt, Vormundschaft bestellt. In der Tat: Technokratie ist säkularisierte Priesterherrschaft. Und Priesterherrschaft bedeutet, daß Besserwissende "das Richtige" für alle vorgeben. Doch auch wenn die Replik falsch wäre, zumindest "ungerecht", weil überzogen, sie setzt die Lehren über Lösungswege fort. An ihr wird deutlich, wie eine formale Rechtserwartung wirkt, die offenkundig und allzu eng am ·Sachinteresse angelehnt ist: Widerstand wird noch provoziert, die Schere des Konflikts öffnet sich weiter. "Kurzen Prozeß" zu fordern, dessen Resultat nur illegal bekämpft werden könnte und allen Schutz seitens der Staatsgewalt hätte - diese Strategie scheint dem Rechtsbedürfnis im KKW-Fall ganz unangemessen. Es • Gast
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sei denn, das "Wesen" des Rechts wäre doch die zügige Lösung von Konflikten, die schnelle Entscheidung, und eine "logische" Folge die Gewalt, die jeden Widerstand bricht. (5) Aber die Koalition der Befürworter ist nicht schon vollständig inspiziert, ihr Rechtsverständnis daher nicht sicher festgestellt. Ihr schließen Politiker und politische Parteien sich an; vor allem wird die genehmigende Behörde (Regierung/Minister: Politiker in Staatsfunktionen) selbst zum Beteiligten im Konflikt. Scheinbar gerät die Behörde in diese Rolle erst, sobald gegen ihre Entscheidung Klage erhoben wird; denn nun muß das eine Staatssegment sein Resultat gegen ein anderes Staatssegment - gegen jenes mit dem letzten Wort in der Rechtsanwendung - verteidigen. Der Genehmiger tritt vor den Richter, und die noch immer bedrohte Genehmigung zu retten, ist zu seinem Interesse geworden. (Der Richter darf im Unterschied dazu an nichts interessiert sein als am Recht; so gesehen, bleibt er stets außerhalb des Konflikts, wird nicht zum Parteigänger, auch wenn er das Interesse einer Partei als das rechtgemäße identifiziert hat.) Neutralität = Uninteressiertheit, wie sie für Richterschaft Bedingung ist, hat jedoch für den Genehmiger ohnehin nicht bestanden, durfte von vornherein nicht sein Standpunkt sein. Regierungen und Minister sind vom politischen System her nicht dazu bestellt, Konflikte gesellschaftlicher Gruppen als je deren Angelegenheit zu entscheiden, vielmehr müssen sie ihrerseits interessiert tätig werden - im "Gemeininteresse" . (Hier haben sie sich festgelegt auf ein Interesse aller an der Energieversorgung.) Nicht erst die Anfechtung, die den Genehmiger vor Gericht bringt, stellt ihn parteiisch; er ist apriori Sprachrohr und Medium von Interessen, nimmt darum jeweils "seinem" Interesse gemäß in schon angelegten Konflikten Platz. So auch beim Konflikt um die Baugenehmigung; wobei das amtliche Interesse, wenngleich zum Gemeininteresse deklariert, von einem Teil der Allgemeinheit gerade nicht geteilt wird. Diese Diskrepanz rührt nicht etwa an staatlichen Funktionen: die Staatsstelle ist für die Definition "wahrer" Gemeininteressen zuständig. Der reale Widerspruch macht jedoch das amtlich definierte Interesse "aller" zur Konfliktposition, und der Streit geht, um diesen Aspekt bereichert, weiter. Welcher zivile Konfliktionär dabei auch immer die Behörde auf seiner Seite findet, er hat einen starken Verbündeten: ein Stück Staatsapparat. Einen Verbündeten unter Vorbehalt und auf Widerruf freilich, bis rechtskräftig über die Angelegenheit geurteilt ist. Was aber, wenn es den Klageweg nicht gäbe? Das Streitgespräch für und wider, als welches der Konflikt sich auffassen läßt, würde nun allenfalls bis zur Genehmigung geführt. Von Staats wegen wäre mit der Genehmigung das letzte Wort gesagt, das Gemeininteresse unumstöß-
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lich festgestellt; der Konflikt in seinem ersten, "eigentlichen" und legalen Zuschnitt wäre beendet. Jedes weitere Wort jedoch ... Es könnte nicht mehr eingebracht werden in eine Auseinandersetzung um offene, dispositive Wirklichkeit, alles Reden, erst recht das handfestere Agieren wäre ein Anrennen gegen beschlossene, geschlossene Wirklichkeit. Ein neuer Konflikt also, den keine Rechtsform mehr aufnehmen würde, der vielmehr zur Störung des Rechtsfriedens abgestempelt wäre. Es käme die Stunde des Stärksten auf der Siegerseite, des Staates (wenn man Stärke an offen benutzbaren Macht- oder Gewaltwerkzeugen mißt) er würde die Verwirklichung des Beschlossenen sichern, seine Werkzeuge gegen den Protest aufbieten. Unterdrückung statt Kontroverse fände nun statt, wiederum (und folgerichtig) unter dem Namen ,Recht'. Zum Zweifel an diesem Recht geriete das Interesse der Kernkraftgegner automatisch, ihr fortgesetzter Protest wäre Opposition contra legem. Soll nicht in dieser Weise die eine Seite des ursprünglichen Konflikts kurzerhand rechtlos gestellt werden, dann ergibt sich für den Mitbefürworter Staat, daß er radikaler Verfahrenskürzung nicht zustimmen darf. Ohnehin ist der Staat "als solcher" - als gedachte Einheit - in ein Dilemma geraten, da er im Gemeininteresse nicht nur eine fällige energiepolitische Entscheidung zu treffen hat(te), sondern zugleich als Rechtsstaat den Konflikt um diese Entscheidung bändigen soll. Erweisen Rechtserwartungen der eigenen Seite sich als Öl ins Feuer, dann bleibt womöglich nur das Einschwenken auf Verfahrensideale der Gegenpartei - mit allen Risiken für das Sachinteresse, das nach staatlicher Ansicht "das Richtige" wäre. (6) Das Konfliktpensum des KKW-Falls verschränkt sich - wie es scheint unvermeidlich - zum Gordischen Knoten. Den Knoten würde auf Gordische Art ein (angeblich "großer") Alexander entwirren, der ohne Zagen zum Schwert greift. Der Lösungsmodus des "starken Mannes" ist die Gewalt, und zwar Gewalt als rein politische, befreit von der Bindung ans Recht. Was bedeuten könnte: Es gibt Fälle, in denen Rechtserwartungen den nicht mehr rechtlich lösbaren Knoten knüpfen. In ihm erledigen sie sich dann alle. (Aber es muß nicht so weit kommen; und der Ausweg de lege lata ist so schlecht nicht. Dazu im 4. Kapitel.) 3. Zu Michael K.
Kohlhaas auf Rechtssuche: daraus wurde Krieg. (1) Der erste Anstoß war, wenngleich nicht geringfügig, so doch alltäglich. Tronka nutzte die Pfänder - aus der Sicht des K.: er mißbrauchte sie - und gab sie beschädigt zurück. K. hatte anderes erwartet: die Rückgabe der Tiere im vorherigen Zustand. Aber durfte K. dies 4·
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Rechtsbedürfnis und Rechtserwartungen
erwarten, war sein Vertrauen berechtigt? Oder hatte Tronka nur getan, was ihm zustand? Das Vertrauen des K. und das Verhalten des Tronka widersprechen einander, schließen einander aus; nur eines von beiden kann daher rechtens sein. Entweder tat Tronka, was er durfte, und K. muß sich abfinden, muß mit dieser ihm schmerzlichen Tatsache leben. Oder Tronka handelte unzulässig, verletzte berechtigtes Vertrauen; dann stellt sich die Frage, wie K. zu seinem Recht kommt: wie jene Wirklichkeit hergestellt wird, mit welcher K. rechnen durfte. Daß K. nicht still hält, sondern vor Gericht zieht, mithin erwartet, auf diesem Weg Recht zu bekommen, ist der problemlose Teil des Falls. Niemand muß sich apriori mit der Wirklichkeit abfinden, die andere ihm auferlegen wollen; zu streiten, ist ein Recht für sich, war es auch zu Ks. Zeiten schon. Ein Recht allerdings, das doch von vornherein relativiert ist: gebunden an den jeweils eröffneten Rechtsweg. Ihn hielt K. zunächst ein. Jeder Rechtsweg aber endet mit einem nicht mehr anfechtbaren Resultat. K., auf dem Rechtsweg besiegt, setzt die Rechtssuche dennoch fort - vielmehr: er versucht durchzusetzen, was er für Recht hält. Ein Unterfangen, zu dessen Rechtfertigung einige Fragen beantwortet werden müßten, die eher unlösbar scheinen. 1. Woher weiß K., daß er recht hat? Er hegt ein Interesse, steigert es zur Rechtserwartung - die Identifizierung mit dem Recht steht zunächst aus. Daß Tronka ihr widerspricht, besagt noch nichts, denn er ist gegenteilig interessiert. Aber auch auf dem Rechtsweg hat K. niemanden gefunden, der seine Rechtserwartung teilte. Nun ist niemand mehr zuständig für das begehrte Urteil. Nur die enttäuschte Rechtserw~rtung, die K. selbst für Recht ausgibt (mit Recht verwechselt?) lebt fort ... Auf "eigene Rechtskenntnis" beruft K. sich, doch dieser Befund des Unzuständigen wird von der Rechtsordnung, auf die K. sich (zunächst) bezieht und beruft, nicht anerkannt. Von ihr - von ihrem autorisierten Sprecher, der Justiz - erhielt K. negativen Bescheid. So bleibt ihm nur, wenn er an der eigenen Ansicht festhält, seinerseits die Nichtanerkennung zu erwidern. Was ihm als Rechtslage zugemutet werde, sei Unrecht, sei illegal - oder wenn es legal sei, weil eine verkürzende Sicht Recht mit dem Richterspruch blind gleichsetze, so sei das Zugemutete illegitim. Eine "höhere" Ebene der Kritik am geltenden Recht - Legitimität - scheint gefunden; doch wer darf von ihr aus unter welchen Bedingungen zu Recht, gegen "Recht", agieren? 2. Unterstellt, es gäbe das "eigentliche" Recht, auf welches K. seinen Widerspruch gegen ein Justizergebnis gründen könnte - wie soll dieses Recht verwirklicht werden? Es hat die Staatsgewalt gegen sich, die für Rechtsdurchsetzung zuständig ist; denn dieser Garant einmal fixierter Rechtslagen ist an den Richterspruch gebunden. Legale Hilfe kann K.
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nicht finden. Mit jedem Versuch, dennoch das "eigentliche" Recht durchzusetzen, zieht K. die üblichen Sanktionen für Unrecht auf sich. Wer hilft? 3. Aber wird in diesen überlegungen die Rechtssuche des K nicht in geradezu frivoler Weise abgewertet? Richter hatten zum Vorteil des Tronka das Recht ersichtlich gebeugt! - Ersichtlich für wen? Für K; doch in seiner Lage kann das Nicht-recht-bekommen leicht als Beugung des Rechts erscheinen. Ersichtlich auch für andere? Wer ist zu diesem Verdikt über ein Gerichtsurteil zuständig? Ein anderes Gericht. Irgendwann freilich endet jeder Instanzenweg (de lege lata beim Bundesverfassungsgericht oder beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg) - das verbindliche Urteil darüber, ob ein Richterspruch Recht angewendet oder gebeugt hat, ist dann nicht mehr möglich. Allenfalls noch die private Meinung: ein geduldetes Vorurteil, solange es in Stille gehegt wird, den Rechtsfrieden nicht stört. Alle Fragen - noch ein Gordischer Knoten - löste Kauf "einfache" Art: äußerst gewaltsam. Im historischen Fall K, dem Vorbild für Kleists Erzählung "Michael Kohlhaas", geschah dies: Dem Hans Kohlhasen, Kaufmann zu Cölln an der Spree, wurden am 1. Oktober 1532 auf Anordnung eines Junkers von Zaschwitz zwischen Wittenberg und Leipzig zwei Pferde gestohlen. Nach langem erfolglosem Rechtsstreit veröffentlichte Kohlhase 1534 einen Fehdebrief, organisierte eine Truppe und zog gegen ... modern gesprochen: gegen "den Staat". Er steckte Wittenberg in Brand und ließ sich auch durch einen Appell Luthers nicht von seinem Feldzug abbringen. Schließlich wurde Kohlhase nach Berlin gelockt, gefangen und dort am 22. März 1540 hingerichtet. Seine Pferde hatte man ihm vorher zurückgegeben2!. - Bei Kleist wurde aus dem Diebstahl die oben beschriebene Verpfändung der Pferde an Tronka. Der Pfandnehmer läßt die Tiere verkommen. K, von parteiischen Richtern ("Richtern"!) enttäuscht, sucht "sein Recht" auf eigene Faust. Er überfällt und zerstört mit seinen Knechten zunächst die Tronkenburg, den Wohnsitz des Gegners, und da der Junker Tronka angeblich nach Wittenberg entflohen ist, überfällt K die Stadt. Sein Kriegshaufe wächst ständig und ist eine Zeitlang erfolgreich; Desperados ("Hoffnungslose") finden sich immer ein, sie haben ihre Gründe zur Täterschaft. Zuletzt aber wird K ergriffen und für seinen Feldzug - für Landfriedensbruch, Brandstiftung, Totschlag - zum Tode verurteilt. Zu einer späten Erkenntnis findet die Justiz, als sie sich mit K erneut beschäftigt: ihm steht von Rechts wegen die Auffütterung der Rappen zu. Das Rechte geschieht; die geheilten Tiere werden ihrem Eigentümer vor seiner Hinrichtung vorgeführt. 21 Kindlers Literatur Lexikon, S. 6279. Lesenswert ist die Neuverarbeitung des Stoffes: Elisabeth Plessen, Kohlhaas, Roman, 1979.
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1. Kap.: Rechtsbedürfnis und Rechtserwartungen
K. bekommt sein Recht also doch; und er stirbt dafür, daß er es unerschütterlich gefordert, unnachsichtig angestrebt hat. Die Suche nach dem Recht wird am Ziel extrem bestraft wegen der Mittel, deren sie sich bediente, aber sie wäre erfolglos geblieben, hätte K. schonender, bescheidener gehandelt. Wenn K. gleichwohl für Unrecht büßen soll: konnte sein Fall noch zynischer ausgehen? K. bezahlt mit seinem Leben, und ließ zuvor auch die schuldlosen Opfer seiner überfälle zahlen, um die Verleugnung des Rechts durch feige und bestechliche Richter rückgängig zu machen. Daher die These: Der scheinbare Raubzug, als Unrecht angelastet, sei in Wahrheit Notwehr gewesen, Tat für das Recht überhaupt - und, wie der Ausgang auch zeige, erfolgreiche Tat, die dem vorher beleidigten, unterdrückten Recht "zum Sieg" verhalf. Wie könne Recht-fertigung Unrecht sein?! Welche Verkehrung der Verhältnisse! (2) Der Fall K. lehrt aber auch dies: Rechtssuche wird bedenklich, wenn ihr Aufwand maßlos wird. Ein Aufstand, "nur" damit zwei Rappen wieder aufgefüttert werden (zugegeben: die Schädigung war unrecht): da geraten Mittel und Zweck außer Verhältnis. Der Preis des Rechts wird unerträglich hoch. - Replik: Derart materialistisch dürfe man die Angelegenheit nicht sehen. Es sei schließlich um das Recht gegangen; nicht mehr nur um zwei Pferde, sondern um die "Integrität" (Glaubwürdigkeit; Wahrhaftigkeit) der ganzen Rechtsordnung, die ein Schandfleck von Justiz bedrohte. - Eine denkbare Entgegnung hierauf wäre, daß erst die gewaltsame "Rechtssuche" des K. den Schandfleck publik gemacht habe, der wahre Freund des Rechts eher stille gehalten hätte. So spräche der pure Opportunist. Die Rechtsordnung darf und kann - nicht dadurch "integer" gehalten werden, daß man ihre Fehlleistungen verschweigt, Kritik an ihr unterdrückt. Doch es gibt auf die vorherige Replik ohnehin etwas anderes zu erwidern: Der Satz, K. habe um das Recht gekämpft, tritt abstrakt für einen Wert ein ohne Rücksicht auf praktische Verluste. Der abstrakte Wert Recht wird so gegen den praktischen Wert ausgespielt; gegen den Rechtszweck nämlich, daß Friedlichkeit in der Gesellschaft zu verbürgen sei. Dieses Gut hat K. preisgegeben um eines reineren (schon sinnleeren?) Rechtsbegriffs willen, dessen "Anwendung" zur Landplage wurde. Ein anderer, immerhin denkbarer Rechtfertigungsversuch: der Gewaltzug sei notwendig gewesen, um den praktischen Wert (die Funktionsfähigkeit des Rechts) zu retten - diese Möglichkeit liegt für K. allzu fern. Ihm ging es auch gar nicht um die profane Seite des Rechts, sondern ums "Wesentliche" . (3) Eine letzte, sehr wichtige Lehre schließlich, die der Fall K. enthält: Recht "funktioniert" nur als System, Rechtssuche ist nur innerhalb je dieses Systems möglich - anders kann man nicht im Recht bleiben.
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Agieren außerhalb ist Nicht-Recht und, wenn es gegen Verbote des Systems verstößt, sogar Unrecht, welch "edlen" Motive auch immer der Antrieb sein mochten. Recht als erwarteter Modus der Konfliktlösung bindet an sich, er stellt, im Gegenzug für seine Leistung, unumgängliche Bedingungen. Soll ein friedlicher Weg aus dem Streit vorbereitet sein - so die fundamentale Zweckbestimmung für Recht - , dann ist hierauf jedermann in jedem subsumierbaren Fall verwiesen (wozu sonst den Aufwand?). Problematisch wird die Einbindung wohl erst bei Fehlleistungen des Systems. (Ein Nachahmer des Kohlhaas, der mit seiner Rechtserwartung kraß irrte, würde nicht zum "Wesensproblem" für das Recht, sondern wäre bloß "Terrorist".) Gegen die Gefahr falscher Rechtsanwendung - sie droht immer und überall steht folgerichtig wieder eine Rechtserwartung: Zum rechtlichen Weg gehöre die Chance, daß Fehler systemimmanent korrigiert werden. Auf diese Weise erübrige sich der Vorwurf von außen her, sei die Aktion außerhalb des Rechts immer wahrhaft unbegründet (illegitim). Eben darum sind Rechtswege üblicherweise lang angelegt: der Gang durch die Instanzen (Berufungs- und Revisionsgericht) bietet Korrekturmöglichkeit. Der längste Weg freilich geht zu Ende - was dann? Der Verlierer steht vor der Wahl, die Kröte der Enttäuschung zu schlucken oder als outlaw den Kampf gegen das System aufzunehmen. Eine Entscheidung, die das Recht unvermeidlich auferlegt; ein Zwiespalt, der schlechthin unheilbar ist. Eine Rechtsordnung kann lediglich die Grenze zum Aufstand gegen sie weit hinausschieben, indem sie vielfältige Gelegenheiten zur Korrektur (Wiederaufnahmeverfahren; Petitionsrecht) anbietet. Die Fehlerrüge hat dann gute Erfolgsaussicht oder läuft sich zu Tode: angesichts der Befriedungsfunktion des Rechts ein gleich günstiger Ausgang! "Edleres" vom Recht zu erhoffen, wäre pure Illusion, wider alle Folgerichtigkeit gedacht. Die systemimmanente Korrektur ist nicht nur für die Rechtsanwendung wichtig, sondern ebenso beim Streit um den Bestand einer anzuwendenden Norm. Mit dem Vorwurf, eine Norm sei "falsch", stellt der Kritiker sich sogleich außerhalb des Rechts, es sei denn, das System enthält Wege der überprüfung und Verbesserung auch hierfür. (Wege, an welche Kritik, da sie doch das Rechte will, konsequenterweise sich selbst bindet.) Was jedoch, wenn ein System sich gegen Belehrung sträubt? Der Schluß, es gebe zur Durchsetzung des "richtigen Rechts" legitime Mittel außerhalb des Systems, führt wieder auf den Kohlhaasweg. Mag eine Revolte zuletzt das Recht auch belehren, sie hat es gleichzeitig gebrochen und wird von den Sanktionen zu Recht getroffen. Um ihnen zu entgehen, muß der gewalttätige Lehrer des Systems erfolgreicher sein als Kohlhaas - und zwar erfolgreicher in der Gewalt.
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1. Kap.:
Rechtsbedürfnis und Rechtserwartungen
Ihm muß die Revolution gelingen, deren Sieger Bestrafung aus der alten Ordnung nicht befürchten müssen, da sie die neue Ordnung, ein anderes System, setzen. Ein Kraftakt, der seine zwei Seiten hat: er befreit (möglicherweise; dem eigenen Anspruch nach) eine Rechtsordnung von schlechten Inhalten, macht sie (vielleicht) glaubwürdiger. Und er zeigt, wie eine Rechtsordnung erschütterbar, negierbar ist durch Gewalt, deckt also die tönernen Füße der Rechtlichkeit auf. Gegen solche Bloßstellung ist das Recht nur wieder absicherbar dadurch, daß es die eigene Lernfähigkeit einplant, also Lernprozesse im System organisiert. Kritik, die dennoch außerhalb des Systems bleibt, ist falsch, wird mit diesem Attribut abgewiesen; sie wird mit um so mehr Grund (Legitimität) abgewiesen, je offener das System für Neuerungen oder Differenzierung ist. Und wenn wider alle praktische Vernunft ein System gleichwohl die Kritik verwehrt, die sich hinterher als berechtigt erweist dank der Härte des Kritikers, der Kohlhaasens Unbeugsamkeit teilt? Dann wird das System, wie der Fall K. zeigt, klüger und besser auf Kosten dieses Menschen. Die doch mehr vom Recht wußten als das System selbst, zahlen als "tragische Helden" den Preis. Ihn zu fordern, ist unüberschreitbare Logik von Systemen. (Ein Beispiel noch: Streik war im 19. Jahrhundert strafbares Unrecht; heute schmücken freiheitliche Rechtsordnungen sich damit, das Streikrecht zu gewährleisten. Für die Verbesserung des Rechts, das systemimmanent nicht - oder zunächst nicht - zu bessern war, büßten Generationen von Rechtsbrechern.) Das Unvernünftigste wäre: nun vom Recht enttäuscht zu sein, weil es nicht anders sein kann. IV. Leitfaden des Weiterdenkens: Die Große Alternative Die Fülle der Rechtserwartungen bedeutet ein Meer an Möglichkeiten: Es könnte sein ... Angemessen wäre ... Den festesten Grund darin bietet noch die allgemeinste Zweckbestimmung, Recht solle Konflikte befrieden: zur Sanierung einer Gesellschaft, die im urwüchsigen Kampf der Interessen - jedermann agiert nach Willkür und Vermögen - sich aufreiben würde. Die friedliche, Bestand stiftende Lösung also sei die rechte; womit immerhin alle hierfür untauglichen Vorschläge abgewiesen sind. (Eine grobe Maxime nur; der Teufel wird, wie immer, im Detail sitzen.) Eine stärkere Fixierung, noch auf der Ebene der Erwartungen, wäre hilfreich. Man findet sie ohne viel Mühe. Von den rechtsphilosophischen Lehren der Vorsokratiker (Fn. 1) an durchzieht das Gerüst einer Alternative das Nachdenken über das Recht. Ein Grundmuster, dessen einer
IV. Leitfaden des Weiterdenkens: Die Große Alternative
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oder anderen Seite vielleicht jede Rechtslage zugeordnet werden kann ... "Doch jene, die die Gesetze geben, sind ja die Schwachen und die große Masse. Daher geben sie Gesetze mit Rücksicht auf ihre eigene Person und ihren eigenen Vorteil ... Sie versuchen, die Stärkeren, die in sich die Kraft fühlen, mehr zu haben als die anderen, einzuschüchtern, damit diese Stärkeren nicht mehr begehren. Zu diesem Zweck behaupten die Schwachen, daß ,mehr haben wollen' schändlich und ungerecht sei ... Sie selbst sind schon froh, wenn sie das gleiche haben, nachdem sie doch die Geringerwertigen sind." Die beiden Prinzipien, einander unversöhnlich konfrontiert, sind: das "Recht des Stärkeren" und das "gleiche Recht". Der Sophist Kallikles stellt in Platons Diskurs "Gorgias" (483 a - d) die Auffassungen vor; er selbst - vielleicht keine historische Person, jedenfalls aber Sprachrohr einer sophistischen Schule - ergreift eindeutig Partei. Wenn nun alles denkbare Recht dem einen oder anderen Maßstab folgen würde, so bliebe zwar der härteste Konflikt um das "Wesen" des Rechts auszutragen, die Masse der Erwartungen aber wäre gut zu sortieren. Man prüfe bei jeder Rechtserwartung, nach welcher Seite sie neigt; die verbindliche der beiden Prämissen hält dann Anerkennung oder Verdikt schon bereit. Noch zu offen für sofortige Einordnung sind die formalen Rechtserwartungen in ihrer jeweils allgemeinsten Fassung (sie sind ambivalent). Der Ruf allein nach dem Richter deutet nicht an, nach welchem Grundsatz der Richter entscheiden wird. Erst der Kontext des Richtertums könnte Aufschlüsse geben: Von wem ist dieser Richter abhängig? Welcher Person, Institution, Weltanschauung "fühlt" er sich verpflichtet? Soll Gesetzlichkeit herrschen - das Gericht sei an Gesetze gebunden -, dann ist die Frage nach der prinzipiellen Ausrichtung an die Gesetze zu stellen: Erkennen sie die Interessen der "Stärkeren" an oder fördern sie das Gegeninteresse, um "Gleichheit" zu schaffen? Entscheidungsmethode, die den Richter bindet, ist in derselben Weise problematisierbar. Erwartetes Recht schließlich, das statt fremder Entscheidung ein befriedendes Agieren zwischen den Konfliktparteien zustande bringen soll, wird allein durch diesen Zweck - allein dadurch, daß es die Beteiligten ins Gespräch und zum Sich-vertragen führt nicht schon "gleiches Recht": Verfassung des Ausgleichs. Hinter der Fassade der Gleichberechtigung und des Kompromisses kann das Diktat des überlegenen, Mächtigeren wohnen. Von vornherein festgelegt ist die inhaltliche Rechtserwartung. Sie steigert ein Interesse zum (angeblichen) Rechtstitel, wirbt dafür, sucht die Rechtlichkeit zu begründen. Alle Argumente stehen jeweils im Dienst eines Interesses (ob sie immer gute Dienste leisten, ist eine an-
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Rechtsbedürfnis und Rechtserwartungen
dere Frage). Bei dieser Dienstbarkeit vermögen sie, nach Kallikles' Alternative, letztlich nur eines: entweder zu rechtfertigen, daß dem "Stärkeren" mehr gebühre, oder in Abwehr eines "Stärkeren" zu belegen, "daß ,mehr haben wollen' schändlich und ungerecht sei". Suche nach dem Rechtsinhalt, in einer dieser zwei Weisen ausgerichtet, ist darum ein Beitrag zum Grundlagenstreit, auch wenn sie ihn nicht offen und ausdrücklich anspricht. Sogleich in diesen Streit einzugreifen, wäre nach dem Gang des Nachdenkens hier zu früh. Notwendig ist zunächst, die Standpunkte zu entfalten.
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Einerseits: Das Recht des Stärkeren
Also doch: Recht konserviert den Schrecken in der Gesellschaft? (Entsprechend dem Katalog der Vorwürfe oben bei "Anstöße", 11.) 1. Vorbild Berakles (1) Es sei "gerecht, daß der tüchtigere Mann mehr hat als der weniger tüchtige und der stärkere mehr als der schwächere" (Gorgias 483 d). Zur Erläuterung und zugleich zum Beweis dieses Satzes erinnert Kallikles an Herakles, der die Rinder des Geryoneus forttrieb, ohne sie "durch Kauf oder Geschenk" erworben zu haben. Denn: "Das ist ja das Recht der Natur, daß Rinder und alle Habe der Schlechteren und Schwächeren dem Besseren und Stärkeren gehören." (Gorgias 484 c.) Beute zu machen, scheint hiernach höchstes Lebensziel; ein Ziel allerdings, das zu verfolgen einigen Auserwählten vorbehalten sei. (Ohne den Vorbehalt wäre man beim Krieg aller gegen alle, dem rechtlosen Zustand!) Reserviert sei der Beutezug zumal für Menschen - ein "gewöhnlicher" Mensch war Herakles aber nicht, sondern den Göttern ähnlicher als den Irdischen ... also: für "Menschen", denen es gelingt, den Staat an sich zu reißen. In Platons "Politeia" (343 b, d) lehrt ein Thrasymachos, daß Gerechtigkeit der Nutzen des Stärkeren und Herrschenden, der Schaden des Gehorchenden und Dienenden sei; demgemäß hätten die "wahren Herrscher" im Staat Tag und Nacht nichts anderes im Sinn als ihren eigenen Vorteil. Das Prinzip hinter diesen Gedanken ist die Gleichsetzung von Recht und überlegener Gewalt, Recht und Macht. Herakles erschlägt die Wächter der Rinderherde, den Knecht Eurytion und den Hund Orthos, und als der Eigentümer Geryoneus sich ihm in den Weg stellt, wird auch er durch einen Pfeilschuß getötet. Nun aber drängt sich die Frage auf, wozu ein Herakles noch das Recht braucht, wenn er dank seiner Kräfte und Waffen ohnehin alles erreicht, was er will. Ist vielleicht ein sich regendes Gewissen zu beruhigen? Der Gewissenbiß quält den Ty-
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pus Herakles kaum, andererseits ist Recht als Vorrecht des Stärkeren keineswegs praktisch bedeutungslos. Die Bedrohten, Unterdrückten, die Hinterbliebenen der Opfer auch, sie gemeinsam könnten in ihrer Not ein Recht erfinden, das gegen die herakle'ische Plage gerichtet ist. Wie Kallikles zutreffend sagte: die Mehrheit der Schwachen trachte danach, mit Gesetzen die Lage zu ihren Gunsten zu verändern. Hätte Herakles nicht das Recht auf seiner Seite, es würde gegen ihn aufgeboten. Das Recht würde die Perspektive verändern: der Held und Liebling der Götter, der am Ende im Olymp Aufnahme findet, würde zum Raubmörder abgestempelt. Zum Desperado, den die Rachegöttinnen verfolgen müßten, sollte er der irdischen Rechtspflege entkommen sein. Sobald Recht aufkommt, muß die bis dahin frei ausgeübte Gewalt versuchen, dieses Recht für sich einzunehmen; es würde ihr sonst gefährlich. Hat der Stärkere das Recht gewonnen, hat die Gewalttat den Rechtstitel für sich, dann aber bedeutet ein solcher Ausweis nicht bloß, daß Gewalt wie zuvor ihre freie Bahn behält; vielmehr stärkt das Recht ihre Stellung noch. Es läßt Proteste und Versuche zur Gegengewalt rechtswidrig werden, und der Kampf gegen Unrecht, Kampf der Polizei und Justiz, erhält sein Ziel. Ein Herakles, der zugleich "im Recht ist", hat Anspruch auf Rechtsschutz für seine Abenteuer. Auch wenn er Hilfe eigentlich nicht nötig hat, hält die Rechtspflege ihm lästige Kritiker und Feinde vom Leibe: der Held hat freie Hand für neue Taten. (2) Was aber sieht das Recht vor, wenn ein noch Stärkerer auftritt? Auch Herakles findet seinen Meister, zwar nicht in der Brachialgewalt, in der niemand ihm überlegen ist, jedoch in feiner gesponnenen Formen der Durchsetzung: in der List und Tücke. Der sterbende Nessos, von Herakles erschossen, bietet Deianeira sein Blut als Liebeselexier an. Deianeira bereitet daraus eine Salbe, mit der sie das Festgewand des verehrten Helden bestreicht. Das Elexier wirkt unerwartet, es fügt Herakles schreckliche Wunden zu, die ihn, den erstmals Besiegten, zum Selbstmord treiben. Tat Nessos, der schlauer war, als Herakles durchschauen konnte, Unrecht? Gewiß nicht, wenn die Maxime vom Recht des Stärkeren dahin auszulegen wäre, daß der jeweils Stärkere, von Fall zu Fall überlegene Recht habe; mithin jener, der den letzten erfolgreichen Streich führt. Verwehrt ist dieses Verständnis offenkundig, sobald es die Maxime "demokratisieren" wollte: es würde dann das bellum omnium lehren, Rechtlosigkeit. Recht nach dem Vorbild Herakles setzt voraus, daß die Klasse der Stärkeren eingegrenzt (definiert) ist. Zu ihr gehört, wer ... (es folgen die den Status begründenden Merkmale). Für den Umgang zwischen "Stärkeren" jedoch - im Inneren der Klasse - scheint die
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"freiere" Auslegung, ein Bezug auf die jeweilige Situation, durchaus vertretbar. Die Masse der Schwächeren bliebe ja verfügbar und durch Recht am Widerstand gehindert (also befriedet) ... Nessos hätte hiernach Recht oder Unrecht getan, je nachdem, ob er den Stärkeren angehörte oder nicht. Seine Tat war entweder erlaubte Rache, oder sie war ein Verbrechen, das womöglich nicht auf sich beruhen muß, auch wenn Nessos selbst nicht mehr zu büßen brauchte, zum Leid des Rechts. Auf Herakles gesehen: Ihn hat vielleicht endlich die Gerechtigkeit ereilt; oder er ist Opfer eines heimtückischen Anschlags (Mord in mittelbarer Täterschaft) geworden. Eines Verbrechens, das dem absolut (= ex definitione) Schwächeren der Norm zuwider, gegen seine "Natur" gewissermaßen, doch noch gelang. Dem Recht obläge, die Haftung der Tätersippe zu regeln. - Zu noch einer überlegung stößt das Ende der Geschichte an: Womöglich verfiel Nessos auf den Racheakt so leicht, weil auch er zu den Stärkeren gehörte (ein Kentauer immerhin, keiner aus der Klasse der Heloten, Rinderzüchter oder kleinen Leute). Die Barriere vor der Tat ist vermutlich geringer, wenn Angehörige der Stärkerenklasse einander in freier Gewalttätigkeit begegnen dürfen, als wenn ein Schwächerer sich zum Unrecht entschließen müßte. Hält das relativierende Verständnis des Stärkerenrechts die Schwelle vor der Tat niedrig, dann besteht die Gefahr, daß die Stärkeren einander ausrotten. Letztlich verlangt das Recht des Stärkeren also doch, dauerhaft bei seinem Inhaber angesiedelt zu sein. Die Hierarchie ("Hackordnung") wäre von Rechts wegen vollständig anzulegen. (3) Sind dies nicht bloß Gedankenspielereien um einen längst verjährten Stoff? Recht nach dem Vorbild des Herakles: weniger zeitgemäß könne eine Rechtserwartung nicht ausfallen. Der Eindruck des Unzeitgemäßen entsteht am ehesten wegen der Mittel, die Herakles anwendet. Gewalt, die brachial, mit Pfeil und Bogen, Feuer und Schwert zugeht, zieht den Verdacht der Rechtswidrigkeit leicht auf sich. Doch es gibt feinere Methoden, einen Geryoneus zu enteignen. Ein moderner Herakles könnte das Abenteuer so bestehen: Er würde ein Tief der Rinderpreise abwarten (oder, als sehr mächtiger Mann, es sogar inszenieren), Kredit aufnehmen, die Herde samt dem Hund Orthos zum Baissepreis kaufen, den Hüter Eurytion und vielleicht auch den Geryoneus selbst als Knechte ("Arbeitnehmer") einstellen, sie mit einem Teil der Erträge entlohnen, vom Rest seine Schulden bezahlen und noch Gewinn für sich behalten. Auch dieser Herakles hätte, nach der Lehre vom Vorrecht des "Stärkeren" (hier: des Geschäftstüchtigeren) das Recht zur Seite, er müßte sich nur an gewisse Formen des Geschäftsverkehrs halten. Unrecht wäre es, Herrn Herakles als "Ausbeuter" zu beleidigen. Unrecht täten die Knechte, wenn sie - "um der Gerechtigkeit willen"; doch sie verwechseln Gerechtigkeit mit ihrem illegalen Interesse - dem Herrn etwas wegnähmen. Desgleichen, wenn sie die versprochenen Dienste verweigern wollten, um einen höheren Anteil am Gewinn zu erpressen, als ihnen zugestanden wurde.
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Die "Gewalt" des neuen Herakles (paßt das Wort noch?) ist sehr subtil: er erwirbt die Herde auf Kosten fremder Arbeit. Die für ihn arbeiten, befähigen ihn, seine Schulden zu zahlen und eigenes Vermögen zu bilden. Gewiß, die Knechte werden entlohnt, aber nur mit einem Teil dessen, was sie erwirtschaften. Die Heraklesarbeit hingegen sieht so aus: Der Held hat ein Schuldenrisiko auf sich genommen, das, wenn seine Spekulation verunglückt, ihn um die Herde bringt, für die er das geborgte Geld einsetzte. Verluste, die dann noch auftreten würden und einen bankrotten Herakles mit Schulden belegen, gingen de facto, bis zur nicht absehbaren neuen Liquidität des Schuldners, zu Lasten der Geldgeber. Zugegeben: Bei alldem wirken nicht Körperkräfte oder die wundersame Schußwaffe, sondern "Umstände", die Herakles klug nutzt; optisch gewaltfreie Machtgründe wie die Marktlage, die den günstigen Erwerb der Herde ermöglicht; das (geborgte) Kapital; die wodurch auch immer bedingte Resignation des Geryoneus; die Abhängigkeit des Eurytion, der darauf angewiesen ist, seinen Lebensunterhalt als Rinderhirt zu verdienen. Und im Unterschied zum archaischen Vorfall überleben die Betroffenen, behält Geryoneus sogar den Zeitwert der Herde als Kaufpreis. (Sein Pech, wenn die Preise später wieder steigen.) ... Friedlicher ist in der hier versuchten Version das Recht des Stärkeren durchaus geworden (die Rechtlichkeit des Prinzips also ist besser eingelöst). Recht des Stärkeren ist es gleichwohl geblieben, ganz nach des Kallikles' Worten: Einer, der "die Kraft in sich fühlt, mehr zu haben als die anderen", wurde so legal wie erfolgreich tätig. Und daß zu derart verfeinerten Formen das Vorbild Herakles sich in der Geschichte fortentwickelt habe: dazu wußte ("wußte"?) Herr von Ihering Näheres. 2. Moderneres Lob der Gewalt: v.Iherings darwinistische Weltgeschichte
Rudolf v. Ihering, prominenter deutscher Jurist aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Autor rechtstheoretischer Bestseller, juristischer Satiriker ("Scherz und Ernst in der Jurisprudenz"), vorzüglicher Stilist, Historiker, Kulturphilosoph - erstaunlich, aber dergleichen gab es in der Juristenzunft durchaus: Ihering sah Recht und Gewalt in unentflechtbarer Verbindung. Ein Zusammenhang indessen, den es nicht zu bedauern gelte; in Wahrheit sei er eine Symbiose, die Kultur gestiftet habe. Kultur auf der notwendigen Grundlage Gewalt. Iherings Lob der Gewalt findet sich zumal in dem Buch "Der Zweck im Recht" 22. Ihering sucht darin nach einer Erklärung für das Recht, der Zweck (= die Aufgabe) des Rechts ist also sein Thema. Er identifiziert das Recht als ein Instrument, Zwecke = Interessen durchzusetzen; nach dem Zweck im Recht zu fragen, ist daraufhin der nächste Schritt. Die angefallene Frage will Ihering nicht bloß dogmatisch klären, bezogen auf den Normenvorrat seiner Zeit, sondern fundamental. Den Schlüssel zur Lösung liefert ihm eine Prämisse, die bei Kallikles entlehnt werden konnte, ebenso und seinerzeit aktueller bei dem Biologen 22 Zitiert ist im folgenden aus Band 1 des Werkes, 3. Aufl. 1893. (Die erste Auflage war 1877 erschienen.)
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Charles Darwin: "In der ganzen Schöpfung lebt der Stärkere auf Kosten des Schwächeren" (S. 239). Sobald der Starke und der Schwache aufeinandertreffen - sobald "ihre beiderseitigen Lebensbedingungen miteinander collidiren" - ergebe sich "ein Anlaß zur Anwendung der Gewalt". Die "Collision" (der Konflikt) werde brachial gelöst, es sei denn, der Schwächere ziehe es vor, seine Lebensbedingungen denen des Mächtigeren unterzuordnen. Nachgeben oder untergehen: vor diese Wahl habe die Natur jedes ihrer Geschöpfe bei der Begegnung mit einem Stärkeren gestellt. Bei dieser Situation knüpft Iherings Rechtslehre an. a) GewaltkultuT
Zwei Formen der Gewalt bieten sich an. Dem Schwachen, der sich einbildet, er müsse Widerstand leisten, widerfahre "mechanischer (physischer) Zwang". Vis absoluta: "ein rein äusserlicher Vorgang, ganz derselben Art, wie wenn der Mensch einen leblosen Gegenstand, der ihm im Wege steht, aus dem Wege räumt" (aaO., S. 235). Hiervon (von der Gewalt im eigentlichen Wortsinn) sei der "psychologische Zwang" zu unterscheiden, die vis compulsiva; sie bestehe darin, daß der Wille zum Widerstand "von innen heraus in ihm selber überwunden wird". Der Schwache verzichtet auf Widerstand, den er für aussichtslos hält; dem überlegenen erwächst daraus die Chance, ohne evidente Gewalttat seine Interessen durchzusetzen. Gewalt (vis) ist das zweite Muster gleichfalls, Gewalt hat ein Spektrum: beginnend bei der "Willensnegirung" von außen, hin zur "Willensbeschränkung" , die unmittelbar "von innen" erfolgt, freilich von außen her vermittelt ist. In dieser "logischen" Breite der Gewalt sah Ihering zugleich einen historischen Zug: der übergang von der ersten zur zweiten Zwangsform sei der eigentliche Fortschritt in der Geschichte. Ihm verdanke sich das Recht, und ihn halte das Recht fest (S. 241 ff.). (1) Im Anfang dieses Prozesses habe der Mensch, und zwar der Stärkere, die Vorteile der vis compulsiva entdeckt. Er habe erkannt, "wie er die Gewalt zu benutzen hat, um die fremde Kraft nicht bloss unschädlich, sondern sich nutzbar zu machen" (S. 242). Solche Einsicht war in Ur-Herakles allerdings noch nicht gereift, sie gehört bereits einer "höheren" Epoche an. Vom neuen Standpunkt aus muß die Tötung des Geryoneus, mehr noch des Knechtes und des Hundes als unvernünftig erscheinen, wenn auch Drohung und Einschüchterung den Eigentumswechsel erreicht hätten. Gar noch unvernünftiger war die Verwertung der Beute: die Herde wurde nicht bewirtschaftet, sondern der Göttin Hera geopfert - welche Verschwendung! Das spontane, zügellose, beschönigend: das heroische Zeitalter also verfiel, Ihering zufolge, dem Tartaros der Geschichte, als vis compulsiva den Fortschritt ins
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ökonomische Zeitalter eröffnete. Das Vorbild Herakles empfiehlt sich nicht mehr zur Nachahmung, bleibt dennoch als Metapher bestehen, um das Grundmuster auch der neuen Verhältnisse - das Bleibende im Wandel - auszudrücken. Nur mehr metaphorisch hatte demnach Kallikles gesprochen, denn zu seiner Zeit stand die Sklaverei (Sklavenhalterwirtschaft) seit langem in Blüte, hatte sich durchgesetzt, "dass ein lebender Sklav werthvoller ist als ein todter Feind" (S. 242). Geschont wird um der Ausnutzung, Verwertung willen. Zu rügen sei dieses Motiv dennoch nicht, denn es habe die Humanität begründet: "Erkenntniss des ökonomischen Werthes des Menschenlebens ist der erste Ansatz zur Menschlichkeit in der Geschichte gewesen" (S. 243). (Woraufhin Menschlichkeit und Ökonomie seither Hand in Hand gehen?) Als Tendenz der so konstituierten Geschichte stellt sich für Ihering heraus, daß die Starken immer klüger werden, soweit es um die Durchsetzung ihrer Interessen mit Hilfe der Schwachen geht. Aus diesem Grund aber werde das Dasein der Schwachen auch immer "menschlicher": "Im Laufe der Zeit findet sie (lies: Gewalt, oder synonym: Menschlichkeit) mildere Formen - das Loos des Schwachen dem Mächtigen gegenüber wird im Fortschritt der geschichtlichen Entwicklung ein immer milderes. Das besiegte Volk wird nicht (mehr) in die Sklaverei geführt, es zahlt Tribut, es kauft sich los, es wird dem siegenden Volk mit niederem und schließlich mit gleichem Recht einverleibt, kurz der Kampf endet mit einem Vertrage, welcher das Verhältniss beider Theile regelt und den Schwächeren als Freien bestehen lässt: (der Kampf endet mit) dem Frieden" (S. 243). Ein Friede dank Unterordnung und Gefügigkeit zwar, doch was ist gegen ihn einzuwenden, wenn zur Alternative einzig die Ausrottung anstünde. Und Freiheit, die "nur" besteht, solange der frei Belassene nicht an der Kette zerrt, hat gleichwohl ihr Feld. (2) Daß vis compulsiva immer dezenter, auch weniger als Gewalt erkennbar werde, diesen Zug der Geschichte sieht Ihering verschränkt mit Ursprung und Entfaltung des Rechts. Entstanden sei Recht "aus der Gewalt auf dem Wege der Selbstbeschränkung" (S. 246). Die früheste Rechtsbeziehung des Mächtigen zum Schwachen sei die Sklaverei gewesen: noch kein Verhältnis zwischen Rechtssubjekten, sondern zwischen einem Rechtssubjekt und einer Sache, nämlich einem Arbeitstier (S. 243). Im Fortschritt des Rechts habe der Starke (um des eigenen Vorteils willen) den Unterlegenen auf das Niveau des Rechtssubjekts emporgehoben. Dank dieser Gleichstellung kann der Schwache nunmehr Vertragspartner des Starken werden, und jeder Vertragsabschluß trägt seinerseits bei zu einem "modus vivendi, den beide Theile als für sich verbindlich anerkennen" (S. 245). Mit gleichem Recht sollte jedoch niemand diese Gleichstellung verwechseln. Sie ändert nichts am
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1. Kap.: Rechtsbedürfnis und Rechtserwartungen
Prinzip: der eine Vertrags"partner" diktiert, der andere stimmt zu, weil er keine Chance hat, etwas anderes als das ihm Gewährte durchzusetzen. Denn: "Die Gewalt setzt sich damit ein Maass, das sie beachten, sie erkennt eine Norm an, der sie sich unterordnen will, und diese von ihr selbst genehmigte Norm ist das Recht." Was geschieht, wenn der Stärkere sein Versprechen, das gewährte Recht, bricht? Er hat sich ja nicht seiner Machtmittel begeben, nur die Nichtanwendung gelobt. Ihering weist wiederum auf Fortschritte in der Geschichte hin. Daß die Gewalt Maßstäbe setze, deren sie sich wieder frei entledigen könne, bedeute nicht den Endpunkt der Geschichte, noch nicht einmal ihren aktuellen Stand. Gewiß, zunächst sei das Recht "Politik der Gewalt" gewesen: die Gewalt "fügt das Recht nur als ein accessorisches Moment ihrer selbst sich bei" (S. 249 f.). Anders gesprochen: Ein Gewalthaber befolgt die selbstgesetzten Normen so lange, wie er danach seine Ziele erreicht, und er bricht die Regel, sobald seine Interessen andere Wege erfordern. Doch sei dies noch "das entgegengesetzte Verhältniss von dem heutigen, das wir als die Herrschaft des Rechts bezeichnen; hier bildet die Gewalt das accessorische Moment des Rechts" (S. 250). Die Geschichte ist also, nach Ihering, bereits da angekommen, daß die Gewalt auf den Weg des Rechts verwiesen und angewiesen ist. Es sei gelungen, "das Uebergewicht der Gewalt auf Seiten des Rechts zu bringen" (S. 292). Trete nun die mächtige Seite wortbrüchig "ihr selbstgeschaffenes Werk mit Füssen, so ist es nicht mehr die Gewalt, die dies thut, sondern die Willkür, d. i. die Gewalt, die sich gegen das Recht auflehnt" (S. 245). "Willkür" ist riskant: wer das Recht verletzt, hat die überwiegende Gewalt gegen sich und muß die Sanktionen befürchten, die gegen Rechtsbrüche angedroht sind. Dennoch, diese Bindung muß man ebenso relativ einschätzen wie die formale Gleichstellung des real Schwächeren als Vertrags "partner" . Denn die "Gewalt" behält die Verfügungsmacht über das Recht. Ohne weiteres leuchtet ein, daß Recht sich der großen Machtansammlung fügt, über die ein Gesetzgeber gebietet - oder umgekehrt: jener Macht, die einen Gesetzgeber für sich arbeiten läßt. Wer die überwiegende Gewalt in einer Gesellschaft (also: Gewalt über eine Gesellschaft) hat, braucht das Recht nicht zu brechen, kann es vielmehr, da er es garantiert, auch in seinem Sinn, nach seinen Bedürfnissen verändern; allenfalls ist Rechtsänderung ihrerseits an einen rechtlich normierten Weg gebunden. Aber sogar noch für die mittelmäßig Mächtigen in der Gesellschaft, Einäugigen unter Blinden, kann Recht gefügig sein, wie das Beispiel des Vertrags zeigt. Jeder Stärkere kann die Rechtsform nutzen, um in ihr sein Interesse zum Recht aufzuwerten; indem er diesen Weg wählt, gewährleistet er (dennoch) Rechtlichkeit. Er tut dies,
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solange er an der konkreten Vertragsbeziehung interessiert ist, aber nicht nur so lange; denn für den Fall, daß sein Interesse sich wandelt, hat das VertragspTinzip bereits vorgebeugt. Der Machthaber darf, seinem neuen Interesse und der Vertrags form gemäß, dem "Partner" eine Vertragsänderung abverlangen, im Grenzfall den Konsens über die Auflösung des Vertrags. Und auch die andere Vorsorge konnte der Machthaber treffen, daß er sich ein Recht zur Kündigung vorbehielt. Keinesfalls also muß er sich die Willkür des Vertragsbruchs leisten, er braucht nur die Gewaltform = Rechtsform des Vertrags oder der Kündigung einzuhalten. (3) Mit Namen wie ,Gewalt', ,Stärkerer', ,Macht' sind die geschichtsmächtigen Kräfte abstrakt benannt, nämlich gelöst von den realen Trägern, in denen sie sich verwirklichen. Nach historisch verjährten Gestalten der Gewalt sei hier nicht weiter gefragt; von Interesse ist jedoch, wo zuletzt und aktuell das "übergewicht der Gewalt" siedelt, wie es organisiert ist. Nach Ihering ist dieser Herr über das Recht der Staat; er sei "die endgültige Form der Verwendung der Gewalt für die menschlichen Zwecke" (S. 307). In seiner Geschichte habe er eine Organisation entwickelt, die sich allmählich von herrschenden Gruppen (Schichten, Klassen), zuletzt von der Gesellschaft insgesamt "abgelöst" habe. Diese Ablösung bedeute freilich nicht, daß der Staat nun gegen die Gesellschaft trete, sich ihr gegenüber in eigene Machtpositionen setze; sondern: "Der Staat ist die Gesellschaft als Inhaberin der geregelten und disciplinirten Zwangsgewalt" (S. 308). Die "Gestaltung und Sicherung des Rechts" für die Gesellschaft sei seine "vitale Lebensfunction" (S. 309). Gemeint ist offenbar dies: Der Staat habe sich von der Gesellschaft, von Einflüssen und Einflüsterungen aus ihr, von Zugriffsversuchen zumal befreit, um sich ganz ihrem allgemeinsten Interesse - dem Grundinteresse aller - zu widmen. Das Interesse, das er nun zu verfolgen habe, sei jenes an verbürgter Ordnung überhaupt. Darin, daß der Staat für Ordnung sorgt, scheint seine friedensstiftende Gewalt ihren Auftrag zu erfüllen. Zum Inhalt dieser Ordnung erfährt man bei Ihering nichts weiter als das seinerzeit geltende ("positive") Recht. Was jedoch ist aus dem Grundsatz geworden, daß "in der ganzen Schöpfung ... der Stärkere auf Kosten des Schwächeren" lebt? Für das Verhältnis zwischen Staat und Bürger scheint diese Maxime nicht zu gelten, da Staatsgewalt nicht die Ausnutzung des Bürgers im Sinn habe, sondern seine Befriedung. Im Staat kulminiere Gewalt als domestizierende, pädagogische Kraft, zu ihrem Zweck gehöre, "die Unbändigkeit des individuellen Willens zu brechen und ihn zu erziehen für das Leben in der Gemeinschaft" (S. 256). Im Verhältnis der Bürger untereinander aber kann der Staat das Vorrecht des Stärkeren wohl 5 Gast
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nur mit Vorbehalt dulden: weder der Frieden noch der staatliche Gewaltvorrang dürfen hierdurch bedroht werden. Gleichwohl legt Ihering nicht die Annahme nahe, der Staat habe, im Kontrast zur eigenen Gewaltnatur, im Recht gewaltfreie Verhältnisse - Beziehungen unter gleich Mächtigen - hergestellt oder auch nur die Tendenz und Aufgabe, gesellschaftliche Wirklichkeit ohne Gewaltmerkmale, ohne vis compulsiva einzurichten. Im Gegenteil; folgerichtig zu Iherings Weltbild (zum vorangestellten Gesetz der Natur) muß es bei den Machtgefällen und dem Sichausleben der Macht im kleinen bleiben; wobei der privat Stärkere an die Einhaltung rechtlicher Formen gebunden ist und Unrecht begeht, indern er sie überschreitet. In den Rechtsformen, im Vertrag etwa, kann die zum Recht hin gebändigte individuelle Gewalt - die soziale übermacht des einzelnen oder einer Gruppe - sich vollziehen. Der Staat, der seine Normen nicht danach richten, vielmehr die private Macht abschaffen und Lebensverhältnisse in realer Gleichheit verordnen wollte, verstieße gegen die "Schöpfung". Im Recht seiner Zeit - in der Gesetzeslage wie in der Rechtswirklichkeit des Hochkapitalismus - sah Ihering das "Gesetz" der darwinistisch gedeuteten "Natur" gewahrt.
b) Zum Beispiel Dienstmiete Der Hinweis auf das seinerzeit geltende Recht, das Iherings Lehre entsprochen habe, soll hier nicht wie eine pure Behauptung stehen. Zum Beleg eignet sich ein Rechtsgebiet, dem zugleich einer der Anstoß-Fälle (oben, Abschnitt "Skandale"), der Fall Schlumpf zufällt. Am Arbeitsrecht von damals (der rechtlichen Ordnung des Produktionsprozesses) ist Gewaltkultur, wie Ihering sie darstellte, vorzüglich ablesbar. Dieses Recht folgt getreulich einem Machtgefälle, das der Staat als Herr des Rechts der Gesellschaft beließ. Es demonstriert, daß es Menschen gleichzeitig als seine "Subjekte" aufnehmen kann und dennoch zwischen herrschenden und beherrschten Rechtssubjekten zu unterscheiden weiß. Das Wesen des Rechts, Verfassung nützlicher Gewalt (Verfassung der Herrschaft) zu sein, erweist sich als vollkommen eingelöst. (1) Die Rechtsform, die den Produktionsprozeß in Gang zu halten hatte, war die Dienstmiete (locatio conductio operarum; im Zivilrecht des 19. Jahrhunderts, letzter Renaissance des römischen Rechts, herrscht noch Latein). Der Unternehmer, der für seine Produktionsveranstaltung Arbeiter, Gehilfen brauchte, schloß Verträge mit Menschen, die ihre eigene Arbeitskraft vermieteten. Mieter und Vermieter begegneten einander als Rechtssubjekte, die durch Konsens eine Rechtsbeziehung begründen. Dabei scheint die Stärke auf den ersten Blick ganz uner-
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wartet plaziert: der Dienstmieter ist abhängig von der Bereitschaft des Vermieters zum Vertragsabschluß, kann ohne sie nichts unternehmen. Entsprechend führt die Rechtsform Souveränität des Vermieters vor: er überläßt dem anderen eine Ware gegen Entgelt. Dem Mieter wird erlaubt, diese Ware zeitweilig, für die Dauer des Mietverhältnisses, zu nutzen. Die überlassene Ware ist die Arbeitskraft des Vermieters: was den Vermieter, rechtlich gesehen, so wenig "beeinträchtigt", als wenn er irgend ein Ding miethalber weggäbe. Zwar hängt unvermeidbar an der gemieteten Arbeitskaft immer ein Mensch; doch von diesem Zusammenhang sieht das Recht ab - man könnte meinen: um den Vermieter in seiner Subjektrolle zu belassen. Er wird nicht, wie weiland der Sklave, seinerseits zur Sache. Die Arbeitskraft freilich steht, wie sonst ein gemietetes Ding auch, zur Verfügung des Mieters. - Dem Schein zuwider, den ein dogmatisches Verständnis der Rechtslage entwickelt, liegt im "modus vivendi, den beide Teile als für sich verbindlich anerkennen" (Ihering), Lohnsklaverei. Der Fortschritt führte vom Menschenhandel zur Selbstvermietung; noch immer eine "Verdingung" (ein doppeldeutiges Wort für das Sich-Verpflichten zu Diensten). Den Gedanken, daß ein Arbeitskraftgeber (der Vermieter) einem Arbeitskraftnehmer (dem Unternehmer) etwas gewähre, mochten die wirklich Mächtigen im Produktionsprozeß dann auch nicht hinnehmen. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts kam eine neue Terminologie auf, die den Dienstmieter als "Arbeitgeber" kennzeichnete - als jemanden, der die Gelegenheit zur Arbeit spendet - und den Dienstvermieter als "Arbeitnehmer", als Empfänger einer Vergünstigung. Die tatsächliche Machtlage war damit eher getroffen, im Widerspruch zum rechtlichen Anschein, der jedoch auch seine Aufgabe hatte und behielt: Proteste des Vermieters abzuschneiden. Dieser habe seine Arbeitskraft freiwillig weggegeben, rechtlich gesehen; die Zurückbehaltung im Streik und jede andere Störung des Mieters wäre deshalb illegal, würde zu Recht von Sanktionen getroffen. (2) Welche Macht kommt in der locatio conductio rechtlich zum Zug? (Wodurch ist der Dienstmieter im Regelfall der Stärkere?) Sie zeigt sich beim Blick auf die Bedingungen, die Dienstrniete erst zu einer zweckvollen Rechtsfigur machen. Nachfrage nach Arbeitskraft entsteht, wenn ein Inhaber von Produktionsmitteln nicht mehr eigenhändig seine produktive Apparatur bewältigen kann, und sie wird zur Stärke (zur Machtposition) dadurch, daß nach jeder Gelegenheit zur Arbeit sich mehrere Besitzlose (Arbeitslose, Produktionsmittellose) drängen. Die Verteilung der Produktionsgelegenheiten in einer Gesellschaft also gibt den Ausschlag. Bei den wenigen Inhabern müssen die unbegüterten Vielen um Beschäftigung und, worauf es ankommt, um Erwerb des Lebensunterhalts nachsuchen; die Inhaber gewähren oder verwei-
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gern die Anstellung ganz nach ihren Interessen. Im Vorfeld zur Dienstmiete ist die Abhängigkeit der Vermieter ökonomisch entschieden. Der Vermieter ist vor die Wahl gestellt, Arbeit im fremden Unternehmen zu suchen und anzunehmen, oder zu verhungern: eine ganz abstrakte, hypothetische Alternative, in Wirklichkeit ein "klassischer" Fall von vis compulsiva. Immerhin: Niemanden treibt ein direkter Gewaltakt in die Produktionsanstalt. Das Recht des Dienstmieters an Produktionsmitteln und am Unternehmen (das "Privateigentum" hieran) ist weit entfernt von vis absoluta, die auf zwangsweise Rekrutierung benötigter Arbeitskraft hinausliefe. Der Rechtstitel Eigentum gestattet nur mehr Sachherrschaft, direkte "Gewalt" über Dinge. Vorbei ist im Produktionsprozeß die Zeit feudaler Zugriffs rechte auf den Untertan, der als Bestandteil zum Acker, zum Gehöft gehörte, vererbt oder mit der Liegenschaft veräußert wurde. Von der verbliebenen Gewaltform spricht das Recht nicht ausdrücklich, sie ergibt sich daraus, wie Eigentum und Dienstmiete in der Praxis wirken. Explizit hat das Recht, statt von Gewalt zu künden, einen neuartigen Freiheitsraum eröffnet, indem es die Forderung nach Gewerbefreiheit erfüllte. Jedermann sei gestattet, eine eigene Produktionsveranstaltung aufzuziehen und Unternehmer statt Dienstvermieter zu werden. Das neue Freiheitsrecht allerdings hat (ähnlich der Rechtsfigur Dienstmiete) zu den Realitäten doch ein gebrochenes Verhältnis. Es sieht ab von den Voraussetzungen für Unternehmertum: davon, wo die Voraussetzungen vorkommen. Man trifft sie bei den Vermögenden an - "Vermögen" in jedem Sinn ist gemeint: Kapital, Geschäftsv(;!rstand, Ausbildung, beziehungsweise die Chance, dies alles zu erwerben. Die Starken sind durch diese Merkmale definiert (HerakIes, oben im modernisierten Fall Geryoneus); ihr Kreis ist dank des Freiheitsrechts offen für Neuzugänge, gleichwohl exklusiv. In der rechtlichen Wahlfreiheit aber ist bereits Nachdruck für die einmal getroffene "Entscheidung" vorbereitet. Der Dienstvermieter habe seinen Lebensweg frei gewählt, er müsse nun die Konsequenzen hinnehmen, auch wenn sie ihm nicht behagten. Kompulsive Gewalt, die schon zur Selbstvermietung anhielt, wirkt gegen den Vermieter fort, wenn es an die Abrede der Mietkonditionen geht. Der Mieter vermag üblicherweise den Preis für die Ware Arbeitskraft zu diktieren, entgegen dem Anschein, den der Vertragsabschluß (also Konsens) erzeugt. Während des Mietverhältnisses wird Gewalt dann sogar unmittelbar (absolut): der Unternehmer hat Verfügungsmacht über das gemietete Gut. Die Rechtsfigur Dienstmiete gesteht eine Art direkter Gewalt offen zu, hat sie aber gleichzeitig zur Gewalt über einen Gegenstand, über Dinghaftes verniedlicht. Für den gehorchenden
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Dienstvermieter bedeutet die Verfügung des Mieters jedoch Willens"negierung", (nicht bloß Willens"beschränkung"). Ganz unverhüllt wird schließlich das verrechtlichte Gewaltmittel gezeigt, das den Vermieter disziplinieren, der Verfügungsrnacht über gemietete Arbeitskraft freie Bahn halten soll: die Kündigung. Mit ihr darf der Mieter seinem Vertrags"partner" die Existenzgrundlage Arbeitsverhältnis entziehen. (Aber das Kündigungsrecht des Dienstvermieters, die rechtlich gleichförmige Befugnis, also Bedrohung von der Vermieterseite her? Eine Scheingefahr; denn was nützt dem Arbeitnehmer ein Kündigungsrecht, wenn er auf die Leistungen des Arbeitgebers angewiesen, vom Arbeitgeber wirtschaftlich abhängig ist!?) Für den Dienstvermieter insgesamt eine inferiore Angelegenheit, dieses Arbeitsrecht (oder eine Rechtserwartung) auf dem Niveau des 19. Jahrhunderts23 • Das geltende Recht hingegen ... ; aber dazu später. c) Ihering und das KKW Ein Rechtsverständnis im Gefolge Iherings wird zum KKW-Fall (oben, Abschnitt "Skandale") zwei so einfache wie strenge Erwartungen an den Staat ausbilden. Der Staat schulde die verbindliche Antwort auf die Frage, ob ein Kernkraftwerk errichtet werde oder nicht. Und: Nach der Antwort sei das einmal Entschiedene zu gewährleisten. Wird die Baugenehmigung erteilt, dann also hat der Staat die Arbeit am Bau zu schützen, Widerstand gegen die Bauausführung zu brechen. Lediglich darf die Staatsgewalt (im wörtlichen Sinn) nicht maßlos, ungehemmt zu Werke gehen; sie agiere nach den Regeln, die der Staat sich in Selbstbindung auferlegt hat! (Aufgabe des Rechts sei es, den Gewaltgebrauch zu kanalisieren und zu ritualisieren.) Etwa: Zur Räumung des besetzten Baugeländes darf Brachialgewalt erst eingesetzt werden, wenn die mündliche Aufforderung zum Abzug nicht befolgt wurde. Oder man denke an den polizeirechtIichen Grundsatz von der Verhältnismäßigkeit der Mittel: Solange der Wasserwerfer zur Zerstreuung von Demonstranten (Liquidation, wörtlich genommen: Verflüssigung) genügt, dürfen noch keine Gasgranaten geworfen werden. Ein vertrautes, wenn nicht gar selbstverständliches Verfahren, und dabei nichts speziell Ihering'sches, sondern, wie es scheint, das unver23 Einblicke in die Arbeitswelt von damals eröffnet Friedrich Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Nach eigener Anschauung und authentischen Quellen, 1845 (MEW Bd. 2, S. 237 ff.). Für Deutschland: Dirk Langenwiesche / Klaus Schönhoven (ed.), Arbeiter in Deutschland. Studien zur Lebensweise der Arbeiterschaft im Zeitalter der Industrialisierung, 1981. - Zur politischen und rechtlichen Reaktion auf das massenhafte Elend: Hedwig Wachenheim, Die deutsche Arbeiterbewegung 1844 bis 1914, 1967, und Wol/gang Abendroth, Sozialgeschichte der europäischen Arbeiterbewegung, 5. Aufl. 1969 (edition suhrkamp 106).
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meidliche "Wesen" des Rechts. Aber noch sind erst einige Grundzüge einer Rechtserwartung entworfen; das Nächste, die Vertiefung, ist so selbstverständlich nicht. Für Ihering ist nämlich stets und notwendig der Sieg der Polizei mit dem Sieg des Rechts identisch. Regelverstöße im Polizeieinsatz seien eher verzeihlich, als wenn die Staatsgewalt zurückschrecken und deswegen eine Auseinandersetzung verlieren würde. Denn: "Machtlosigkeit, Ohnmacht der Staatsgewalt ist die Todsünde des Staates, von der es für ihn keine Absolution gibt" (Der Zweck im Recht, S. 312). Weiche der Staat zurück, dann stelle Anarchie sich ein, "ein absolut antisocialer Zustand, die Zersetzung, die Auflösung der Gesellschaft" (S. 313). Ein Zustand, den nur der "Terrorismus" von oben wieder heilen könne, in "Orgien der ihre Heimkehr feiernden Staatsgewalt, (im) bluttriefenden Beweis, dass sie wiederum zu Kräften gekommen sei und keine Macht auf Erden mehr zu fürchten habe" (S. 314). Erst wenn dieser Beweis erbracht sei, trete "das Maass" wieder ein. Radikalen Vollzug der Entscheidung verlangte Ihering, um der Seriosität des Rechtes willen; doch genauso radikal hat er das Vorausliegende, die Entscheidungsfindung, dem Staat anvertraut. Undenkbar, daß in anderer Weise entschieden werde als durch staatliches Machtwort: durch autonomen (selbst-gesetzlichen) Spruch der Staatsgewalt (der Exekutive). Erinnert man sich nun daran, daß die überlegenheit des Staates eigentlich der Gesellschaft dienen sollte, so bleibt allerdings - und wenigstens - die Frage nach berechtigten Protesten. Nicht jede Abweichung von amtlicher Meinung dürfte hiernach schon Widerstand gegen die Staatsgewalt sein; der Protest sehr vieler, spätestens der Mehrheit könnte bedeuten, daß der Staat bei seiner Festlegung eines Gemeininteresses geirrt hat und sich korrigieren muß. Ihering hat dieses Problem gesehen; sein Lösungsvorschlag ist etatistisch. Leiste die Mehrheit Widerstand, "dann würde, wenn die -Machtfrage beim Staat in der bIossen Zahl beschlossen läge, das Uebergewicht der Macht sich nothwendig auf ihre Seite wenden, die Staatsgewalt würde demnach der jederzeitigen Majorität gegenüber machtlos sein" (S. 315). Diese Aussicht weckt Iherings Unbehagen: "Die Staatsgewalt würde sich im ewigen Zustande des Schwankens und SchaukeIns befinden." Zum Glück habe die Erfahrung aller Zeiten bewiesen, daß eine Staatsgewalt fast "ihr" ganzes Volk gegen sich haben und doch sich durchsetzen könne. Denn: "Die Festigkeit des Staatswesens beruht darauf, dass der Einfluss jenes numerischen Moments für die Machtfrage durch zwei andere Factoren überwunden wird: (durch) die Organisation der Macht in den Händen der Staatsgewalt und die moralische Macht des Staatsgedankens" (S. 315 f.).
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Wenn Staatsmoral und Organisation, als theoretischer und praktischer Baustein des Staates, derart für selbständig erklärt werden, dann jedoch ist der Staat absolut gesetzt. Er erscheint als Selbstzweck. Daß er um seiner "Lebensfunction" willen - die Gesellschaft sei zu befrieden, der einzelne zur Friedlichkeit zu erziehen - autokratisch, selbstherrlich verfahren müßte, ohne Rücksicht sogar auf die Mehrheit: dieser nun denkbare Rechtfertigungsversuch ist nicht plausibel. In ihm riskiert der Staat, die mißachtete Mehrheit gegen sich aufzubringen; und um die Todsünde Ohnmacht zu meiden, muß der Staatsapparat sich (auf Kosten der Gesellschaft natürlich) vorsorglich fürs Äußerste rüsten. Als Stärkster, der seine Interessen verfolgt - aber welches Interesse außer jenem an der Machtausübung bliebe für den Apparat übrig? - als prädestinierter Gewinner also hat auch der Staat, anderem ersten Anschein zuwider, seine ihm dienende Beute: die Gesellschaft. Ganz in diesem Sinn wägt Ihering die Potentiale bei der Seiten gegeneinander ab. Die Gesellschaft, das Volk sei quantitativ, der Staatsapparat jedoch qualitativ überlegen: mit dem "Uebergewicht des Mannes, der zwar nur ein Schwert besitzt, aber ein scharfgeschliffenes und jeder Zeit bereites, über denjenigen, der deren mehrere besitzt, aber stumpfe, und die er erst suchen muss, wenn er sie nöthig hat, und die er nicht zu führen versteht" (S. 316). Der Staat müsse lediglich auf zweierlei achten: auf "möglichste Vollendung der Organisation seiner eigenen Machtmittel" und auf "Verhinderung der ihm bedrohlich werdenden Organisation der Machtmittel des Volkes". Ein staatliches Gegenmittel bestehe, "da die Organisation in Form der Vereine erfolgt, in der richtigen legislativen Gestaltung und der sorgsamen administrativen Ueberwachung des Vereinswesens" (S. 317). Es war eine ganz und gar antidemokratische Rechtslehre, in deren Dienst Ihering Geist und Sprachgewalt (Rhetorik als Gewaltmodus?) stellte. Die Reflexion eines Obrigkeitsstaats, die zudem sich hütet, die Nutznießer der so rücksichtslos gesicherten Ordnung genau, konkret zu benennen. Dank solcher Unbestimmtheit ist Iherings Lehre andererseits neu auflegbar, wo immer eine gleichartige Rechtserwartung nach der ihr hilfreichen Theorie fahndet. 3. Dasselbe bel Marx?
Gelegentlich findet man in der rechtsphilosophischen Literatur den Hinweis auf gemeinsame Grundgedanken bei Ihering und Marx. Nicht, daß Ihering in die Nähe des Sozialismus gerückt werden könnte; ihm lag nichts ferner, als für die Revolution der "besitzlosen Klassen" und für die "klassenlose" Gesellschaft zu werben. Der Vergleich meint vielmehr, beide Autoren hätten dieselben Annahmen (gar Erkenntnisse?) benutzt, um darauf ihre konträren Rechts- und Weltanschauungen zu
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stützen. Könnte es also sein, daß der Theoretiker des "Proletariats", Karl Marx, ein Pendant gefunden hat im Theoretiker der "Bourgeoisie", v. Ihering; und beide waren befangen in einer Ansicht vom gemeinsamen Zeitalter, haben dieselben Prämissen je nach Standpunkt nur unterschiedlich verarbeitet? Eine Aufarbeitung des Zeitalters je nach Interessen, denen der Weltanschauer beipflichtete, nach (Rechts-) Erwartungen, die er teilte, nach seinen Vorstellungen vom Angemessenen und Richtigen? (Wer von beiden recht hat? Eine Frage aus gängiger übereile; doch der eilige Frager kann kein wohlfeiles Resultat erwarten. Er ist auf die Denkschritte - die Methode - zu verweisen, die einer Antwort vorhergehen müssen. Zu untersuchen wäre: Welches sind die gemeinsamen Prämissen beider Autoren? Wie nimmt jeder die Ableitung vor? Ist eine Ableitung - oder sind beide - fehlerhaft? Sind die Prämissen verkehrt, so daß sie beide Ableitungen zulassen, weil ex falso quodlibet sequitur: aus dem Falschen alles Beliebige folgt? - Fragen dieser Art sind die nötige Vorkehrung gegen den zu schnellen Schluß, das zu hastige Vorurteil.) (1) Gemeinsames in den beiden Denkansätzen läßt sich tatsächlich ermitteln (genauso wie eine etwas schärfere Sicht sie wieder von Grund auf zu differenzieren vermag). Die wesentliche Übereinstimmung ist, daß beide Theoretiker das Recht als Produkt der Gewalt begreifen, und zwar als gemäßigte Form, in welcher Gewalthaberschaft ausgeübt wird. Recht sei modus vivendi zugunsten des Stärkeren, Methode der Macht: in diesem kallikle'ischen Theorem (Einfall) besteht Konsens. Unstreitig auch hat der historische Prozeß die Gewaltformen verändert; Inhaberschaft wechselte. Der Grundkonflikt der Theoretiker aber beginnt, wenn nun jeder den "wahren" Machthaber der gemeinsamen Epoche identifiziert. Ihering benennt für diese Rolle den Staatsapparat, der selbstherrlich und unbeeindruckt von gesellschaftlichen Kräften die Gesellschaft befriede. Wie vollkommen anders sieht Marx die Lage: Machtinhaber sei eine "Klasse" (ein Segment) der Gesellschaft, die Bourgeoisie; sie herrsche aufgrund ihres Eigentums an den Produktionsmitteln. Der Staat diene der "herrschenden Klasse" als Werkzeug, das die Durchsetzung ihrer Interessen gegenüber den unterdrückten Klassen garantiere. Demselben Zweck füge sich das Recht; es bringe den Willen der herrschenden Klasse zum Ausdruck, sei wesentliches Medium seiner Verwirklichung. In diesem letzten Punkt nähern die Theorien sich sogar einander: Ihering läßt den "Stärkeren" in der Gesellschaft gewähren, sofern er das Recht einhält (und vor dem Staat schwach bleibt), läßt ihn durch das Recht über andere, "Schwächere" herrschen. Nur vermeidet Ihering, die Parteien gesellschaftlicher (= privatrechtlicher) Machtgefälle zu klassifizieren, überhaupt ihre Namen zu nennen. Auch die konkreten Quellen von Macht scheinen ihm gleichgültig, weil verschiedenartig oder austauschbar.
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Einen allgemeinsten Grund dafür, weshalb das Recht Herrschaftsform sein müsse, die Rechtsbeziehungen herrschaftlich verfaßt seien, führt allerdings auch Ihering an. Das Stück Einigkeit mit Marx: beide Theoretiker verweisen auf objektive Bedingungen, denen das Recht seinen Charakter verdanke, vielmehr: die den herrschaftlichen Charakter des Rechts unvermeidbar machten. Bei der Angabe des Grundes gehen die Meinungen dann wieder auseinander; Iherings Rechtssuche greift auf den Bios zurück, Marx leitet Recht aus der Ökonomie ab. Der Stärkere, der einem Naturprinzip zufolge sich immer durchsetzt, ist von Natur aus für seine Rolle begabt; er versteht es, sich irgendwelche in der Gesellschaft erheblichen Machtmittel zu verschaffen. (Durch seine natürliche Fähigkeit ist er zugleich legitimiert - der Erfolg gibt dem Erfolg recht.) Umgekehrt Marx: Die herrschende Klasse sei kein Naturereignis, ihr wachse ein Potential erst aus den geschichtlichgesellschaftlichen Lebensbedingungen an. Letzter Machtgrund sei der Entwicklungsstand der Produktivkräfte. Die Bourgeoisie kam an die Macht, als der technische Fortschritt nach dem Kapitalisten rief, der ihn finanziere und organisiere (mithin besitze); eine den neuen Herren zweifach günstige Situation, da gleichzeitig die zunehmende Arbeitsteilung Massen von "Teilarbeitern" unter jeweils einen "kommandierenden Willen" zwang. - Die verschiedenen Rechtsgründe erzeugen unterschiedliche Perspektiven, wenn die Geschichte des Rechts, zumal die künftige Rechtsentwicklung angesprochen wird. Recht, das ein (angebliches) Grundgesetz der "Schöpfung" wiederholt und ausgestaltet, bleibt "im Wesen" immer unverändert, welch äußere Lebensformen es auch erfinden oder akzeptieren mag. Bei einem Fluchtversuch aus der Natur würde es zum Irrtum, müßte wohl scheitern. Recht auf ökonomischer Basis hingegen ist so verfügbar und wandelbar wie seine Grundlagen selbst; und wenn es der Menschheit gelingen könnte, ihre Ökonomie herrschaftsfrei zu gestalten, so würde auch das Recht, das man bisher kennt, sich erledigen. Eben diese Veränderbarkeit der ökonomischen Verhältnisse stellt Marx in Aussicht, er sieht sogar die Tendenz der Geschichte dahin. (2) Der Dissens über die objektive Grundlage scheidet beide Theoretiker zu jener Unversöhnlichkeit, die - nach Marx - dem "Klassenkampf" anhaftet. Im Kampf auf theoretischer Ebene verfügt Marx über einen Schlüssel, mit dessen Hilfe er das "bourgeoise Recht" seiner Zeit nicht bloß zu erklären versteht; der ökonomische Ansatz gestattet auch, dieses Recht zu kritisieren, zu verwerfen, Besseres zu versprechen. (Ein Versprechen, das weit hinausweist in die Zukunft und der Menschheit noch einen Läuterungsberg zu durchsteigen aufgibt: die "Diktatur des Proletariats". Und womöglich kommen die Seelen aus Dantes Purgatorio eher ins himmlische Paradies als der Mensch ins kommu-
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nistische irdische ...) Ihering kann demgegenüber keinen Blick in die Zukunft anbieten. Vielleicht vermeint er ohnehin, das Recht habe, wie die Welt überhaupt, die beste Verfassung erreicht, sei nur mehr gegen Veränderungen zum Schlechteren zu verteidigen - bourgeoise Weltsicht der "Gründerzeit". Auch Ihering erklärt das Recht seiner Epoche, einen Ansatz zur Kritik hat er nicht; seine ontologische (auf unübersteigbare Seinsgrenzen verweisende) Erklärung ist zugleich Apologie des damaligen status quo. Bloß Momentaufnahme eines flüchtigen historischen Augenblicks ist sie deshalb aber keineswegs. Ihering hat das "Wesen" seiner Zeit auf einen Begriff gebracht, hat sie zugleich mit einer Genesis versorgt und sein theoretisches Gebäude blieb "in Kraft", wenn es auch nicht (im Unterschied zu Marx) über die bürgerliche Welt hinaus, auf Vollendung zustrebte. Es wurde nicht kanonisiert, kein Iheringismus hat sich jemals auf diese Stiftung berufen. Dennoch fand Iherings Ideologie später eine radikale Einlösung, wurde sie vollkommenere Wirklichkeit als zu Iherings eigenen Tagen: im Faschismus24 • 4. Die Kategorien Gewalt, Macht, Herrschaft
Die kallikleische Tradition möglichst vollständig zu rekonstruieren, nicht nur Ihering als einen ihrer Hohenpriester herauszustellen: mag sein, daß eine "Kulturgeschichte der Menschheit" sich aus diesem Blickwinkel schreiben läßt. Dem ersten Nachdenken geht es um ein Prinzip, weniger um dessen Variationen. Hilfreicher ist deshalb, einige Grundbegriffe zu analysieren, die in jeder Variante des Stärkerenrechts vorkQmmen müssen. Sie sind zugleich Prüfsteine, mit deren Hilfe in der Abwandlung das Leitmotiv aufgedeckt wird. (Ein Motiv, das ideologisch getarnt und geschönt sein kann, da das offene Vorbild Herakles doch für viele anrüchig geworden ist.) Die nun fraglichen Kategorien haben keine Bedeutung für sich (kein Begriff, keine Definition kommt jeweils um seiner/ihrer selbst willen zustande, "zweckfrei und voraussetzungslos"), sondern für den Kontext, in dem sie stehen. Ihr Bezugspunkt ist, daß Interessengegensätze aufzulösen sind, und zwar auf rechtlichem Weg, den eine Rechtserwartung als freie Bahn für den "Tüchtigen" auffaßt. Die Ausgangslage ist ein Konflikt; was aber heißt es, daß er gewaltsam, machtmäßig, herrschaftlich gelöst werde?
24
über Ihering als einen der Wegbereiter dahin: Hattenhauer (Fn. 5),
Rz. 434 - 441 und 632.
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a) Gewalt
(1) Den gewohnten Wortsinn stellt Brachialgewalt (bracchium = Unterarm), vis absoluta, ehestens dar. Das brachial Vollbrachte wiederum erhält bei schlichtester Rechtserwartung den Namen ,Recht'. Wer gewaltsam zu nehmen vermochte, dürfe behalten: eine Maxime, die, nebenbei bemerkt, im Völkerrecht durchaus ihre Geltung hat. Im Gewaltakt können Staaten erzeugt werden, Regierungen können aus der Gewalttat hervorgehen; das völkerrechtliche Rechtssubjekt und sein Aller Ehren Werter Repräsentant sind damit existent, dem einen gebührt Aufnahme in die Völkergemeinschaft, dem anderen diplomatische Anerkennung. Das Völkerrecht, als modus vivendi zwischen den Staaten, leistet der Gewalt mindestens ebenso sehr Gefolgschaft, wie es sie zu reglementieren versucht. Im entwickelte ren Innern der Staaten hingegen läuft Recht wohl nirgendwo dem Gewaltstreich hinterher; derart, daß die erfolgreiche Gewalttat durch ihr Gelingen legal würde. Direkte Gewalt springt offenbar "nur" der rechtlichen Regelung bei, wo diese nicht befolgt wird. Was rechtens sei, ist dann jeweils schon vor der Gewaltaktion festgelegt, regelmäßig durch staatliches Machtwort ("Dezision"). Da der Staat das Gewaltmonopol beansprucht und darum mit Brachialgerät vorzüglich bestückt ist, kommt gerade er als Verwirklicher der Primärform des Stärkerenrechts in Frage. Als schlichter Gehilfe des Rechts wird er zwar auch dann auftreten. Tatsächlich aber kündet sein Machtwort nur an, was er, der Mächtige, sich selbst erlaubt, erlauben kann und also darf. Künftige rechtliche vis absoluta konstituiert (begründet und verfaßt) Stärkerenrecht als "theoretischen" Vorgriff, verbal wirft sie ihren Schatten voraus; sie wird später und dadurch evident, daß sie die selbstdefinierte Rechtslage exekutiert. Recht und Gewalt sind hier zwei Erscheinungsweisen desselben Vermögens - Iherings Staat, getarnt als Diener des Rechts, welchem die vis (absoluta) bloß "akzessorisch" sei. Anzusagen, was die Gewalt vermag, um es sogleich zu tun: dies wäre der kürzeste Weg zwischen Konstituierung des Rechts und der Aufdeckung seines eigentlichen Grundes (Recht als Vorausbeschreibung des Brachialen unter "besserem" Namen). Der Abstand zum Rechtsgrund Gewalt wird größer bei der vis compulsiva. Für sie ist kennzeichnend, daß bereits die Möglichkeit brachialen Vollzugs zum Erfolg führt. Die Gewaltwerkzeuge treten nicht in Aktion, sie sind nur vorhanden, stehen bereit, werden vielleicht auch gezeigt, um nicht in Vergessenheit zu geraten. Der Herr über die Werkzeuge aber behält, dank seiner Ausstattung, in Konflikten immer recht. Der Konfliktgegner steht vor der Wahl, sich dem fremden Interesse zu fügen oder es zu erleiden. Die Drohung ist (da die Bedrohten einsichtsvolle Menschen sind) am Ende, im Ausgang des Konflikts, der Gewaltanwendung gleichwertig.
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Rechtsbedürfnis und Rechtserwartungen
(2) Daß der Zwang gerade von Brachialgerät ausgehen müßte, auch stets nur das kurzerhand Vollstreckbare erwirken könnte: auf dieses enge Muster ist Gewalt nicht beschränkt. Sie läßt sich als UnteTwOTfenheit schlechthin begreifen. Unterworfenheit ist das Verwiesensein an ein Resultat ohne sinnvolle (erstrebenswerte, durchsetzbare, anerkannte) zweite Möglichkeit. Wie weit vis compulsiva sich von ihren einfachsten Erscheinungsbildern entfernen kann - vom "Geld her oder ich schieße"-Fall -, erweist sich an Fällen der Abhängigkeit. Exemplarisch: Gewalt besteht gegen einen Menschen, der keine andere Chance zum Erwerb des Lebensunterhalts hat, als daß er seine Arbeitskraft an einen Unternehmer vermietet; genau: sie besteht, solange nicht die Angewiesenheit des Unternehmers auf fremde Arbeitskraft für Gegendruck nutzbar ist (genutzt werden darf). Abhängigkeit von jemandem, der die Existenzgrundlage Arbeitsplatz gewährt oder versagt, taugt zur Verhaltensbestimmung so gut wie ein Brachialwerkzeug. Bezwingender Grund in dieser Gewaltvariante ist die Verteilung der Lebensgrundlagen in der Gesellschaft. Ein Inhaber, der solche Grundlagen vergibt (hierdurch der Stärkere ist), vermag die Bedingungen der Vergabe - eigene Leistung, Gegenleistung - vorzuschreiben. Die Zustimmung des Abhängigen, bei vertraglich verfaßtem Geschäftsverkehr erforderlich, ist durch die Verhältnisse erzwungen; der Anschein von Mitentscheidung oder zumindest von freiwilliger Unterwerfung, der im Vertrag liegt, trügt. Abhängigkeit instrumentalisiert Existenzmittel (hier: Produktionsmittel) zu Gewaltmitteln, steigert den Besitz daran zur Gewaltherrschaft. (Wobei gleichgültig ist, ob der Gewalthaber Privatunternehmer ist oder der Staat als Alleineigentümer der Produktionsmittel. Desgleichen, ob der Arbeitnehmer den Arbeitsplatz "frei wählen" darf; selbst dann, wenn reale Auswahl eröffnet ist, bleibt die Abhängigkeit von fremder Gewährung überhaupt.) Vom Recht aber wird der Gewalthaber erwarten, es möge ihm die Ursachen und den Vollzug der Gewaltform garantieren. Wie komplex Unterworfenheit sein kann (hier: die Abhängigkeit von einem Unternehmertum, das keine rechtlichen Fesseln bändigen), entdeckt das Nachdenken vornehmlich aus der Froschperspektive: sobald es auf den Standpunkt des Betroffenen einschwenkt und schrittweise dessen mögliche Erlebnisse nachvollzieht. Für ihn, den Abhängigen (den Adressaten = das Objekt der Gewalt), hat die Gewalt viele Gesichter; sie erzwingt sehr unterschiedliches Verhalten. Zuerst treibt sie zur Nachfrage nach dem Arbeitsplatz; treibt hierzu noch durch die denkbare Alternative, die Schlimmes in Aussicht stellt für den Fall, daß die Arbeitssuche unterlassen wird oder fehlschlägt. Wenn im Sozialstaat dann auch kein Hungertod mehr droht, so droht doch immerhin das soziale Absterben, nämlich der Abstieg vom "üblichen" Lebens-
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standard (- die Freiheit zum Clochard ist so lockend nicht). Krasser noch führt Gewalt sich vor, indem der Gewalthaber, seinem Interesse entsprechend, den Nachfrager nach Arbeit abweist. Der negative Bescheid ist nicht bloß kompulsiver, sondern direkter Gewaltakt, er stößt den Betroffenen dorthin, wovon er fliehen wollte: auf den Weg ins Abseits, ins materielle Nichts. Wie dezent, gar unmerklich ist demgegenüber die Gewalt geworden, wenn der Arbeitnehmer den gesuchten Arbeitsplatz findet und erhält; "nur" als Diktat der Arbeitsbedingungen, in denen das Interesse des Gebenden sich manifestiert, trifft sie ihn noch. Gewalt zeigt sich von einer Seite, die diesen Namen nicht zu verdienen scheint, da sie Interessen des Nachfragers befriedigt; doch sie bleibt ihrem Wesen treu, ihr Opfer zu bezwingen, denn befriedigt wird dessen Interesse nach einem Maß, das der Gewalthaber gibt. Dem Unterworfenen kommt per Reflex zugute, was dem Gewalthaber nützt, und solange es diesem nützt ... Und so weiter; das ganze Modell der Dienstrniete (oben als Exempel aus Iherings Welt eingeführt) ist ein Modell der Unterworfenheit. Für den Gewaltbegriff erweist sich, wie weit das Feld der Schattierungen, auch Verkleidungen der vis reichen kann. Brachialgerät kommt darin nicht mehr vor, oder vorsichtiger gesprochen: es ist unsichtbar geworden. Es kann wieder wichtig und sichtbar werden, um bedrohte Gründe der Abhängigkeit (Gründe der Gefügigkeit) zu schützen, die Verteilung der Lebensgrundlagen nämlich. So bleibt es letzter Grund in einer vielgestaltigen Anlage der Gewalt. (3) Noch eine Lehre ist der Lebensform Unterworfenheit zu entnehmen: Zur Gewalt gehört nicht notwendigerweise, daß Gewalthaber sie aktiv ausüben. Gewalt kann Verfassung des ohnehin Geschehenden sein, sich darin wie von selbst ("automatisch") ereignen; Existenzmuster, Verkehrsformen lösen sie ein. Sie waltet dann als Prinzip in den Strukturen der Wirklichkeit, sie ist strukturelle Gewalt. Die Alltäglichkeit der Vorgänge läßt sie selbstverständlich werden, die Gängigkeit ist ihr Versteck; dadurch wird es schwierig, Gewalt zu identifizieren. "Wenn ich mir von meiner Nahrung oder meiner Kleidung etwas abspare, so kann das von jemandem benützt werden, dessen Not größer ist als meine. Da meine Selbstsucht ihn daran hindert, diese Dinge zu gebrauchen, bedeutet mein physischer Genuß Gewalttat gegenüber meinem ärmeren Nachbarn." (Mahatma Gandhi) Verschwendung - oder gar schon der Besitz des Unnötigen - als direkter Gewaltakt gegen den Bedürftigen: ein naheliegendes Verständnis von Gewalt ist dies sicherlich nicht. Andererseits: Der Gewaltbegriff nimmt überraschend viele Sachlagen in sich auf, wenn er nicht allein von den Mitteln (Brachialwerkzeugen) her definiert wird, sondern mit Blick auf die Wirkung. Zwischen brachialer Wegnahme,
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die einem Schwächeren widerfährt, und der gedankenlosen Vorenthaltung eines Gutes, die der Wohlhabende sich gegen den Bedürftigen zuschulden kommen läßt, besteht dann kein wesentlicher Unterschied. Die Nivellierung ist plausibel, zumal beide Sachverhalte gleichermaßen als Vorrecht des Stärkeren gedeutet werden können. Die Ausweitung des Gewaltbegriffs wirft jedoch auch die Frage nach einer sinnvollen Begriffsgrenze auf. Die Notwendigkeit, den Lebensunterhalt durch Vermietung der Arbeitskraft (durch Arbeit im fremden Unternehmen) zu verdienen, ist der vis compulsiva noch "zwanglos" subsumierbar. Wie aber verhält es sich um die Notwendigkeit, überhaupt für den Lebensunterhalt zu arbeiten, Lebensmittel zu produzieren? Ein Zwang, dem einzelne auszuweichen verstehen auf Kosten der Produktion anderer; als existentieller Grundtatbestand ist er unüberwindbar. Wie vernünftig wäre daher noch ein Gewaltbegriff (welchen Erkenntniswert hätte er), wenn er alle Fälle von Unausweichlichkeit über einen Leisten schlagen würde: Gewalt sei auch die Notwendigkeit des Essens; der Regen, der die Kleidung durchnäßt; der Tod ... Je weniger Differenzierung ein Begriff leistet, um so geringer ist sein Beitrag zur Aufklärung einer Sachlage. (Der Satz: "Dies ist die Welt" erfaßt alles. Aber was ist damit genau erfaßt oder gar erklärt?) (4) Die Grenze für einen Gewaltbegriff, der das Stärkerenrecht erklären soll, kann durch das Merkmal" Verjügbarkeit" gezogen werden. Was sich menschlicher Verfügung überhaupt entzieht - Notwendigkeit der Ernährung, um nicht zu verhungern; Notwendigkeit der Nahrungsproduktion, damit Ernährung stattfinden kann - gehört nicht in den (rechtsphilosophisch gebrauchten) Begriff. Anders die Abhängigkeit von fremdem Unternehmertum, gegen die als konkurrierende Möglichkeit eigenes Unternehmertum zu setzen ist (eine Möglichkeit nicht für den jeweils Gewaltunterworfenen, doch dem Prinzip nach). Gewaltmittel stehen ihrem Inhaber zu Diensten, natürliche Notwendigkeit hingegen ist für ihn nicht verfügbar. Wer Gewalt anwendet oder strukturelle Gewalt nutzt, ist nicht von ihr betroffen; natürliche Notwendigkeit aber trifft jedermann und trifft gleich. - Was aber, wenn Gewaltstrukturen natürliche Geltung haben; vgl. Ihering? Dann ist womöglich der Gewalttatbestand unablösbar, der Gegenentwurf zu ihm ein Irrtum, die Suche nach der Alternative ein Gang auf dem Holzweg; im Tatbestand jedoch hat Gewalt ihr Subjekt und ihr Objekt, ihren Verfügungsrnächtigen und ihren Verfügten. Die Lage ist gestaltbar für den Gewalthaber, sie könnte nur eines "richtigerweise" nicht sein: gewaltlos. (Noch eine Frage nebenbei: Wenn das Vorrecht eines Menschen, einer Institution auf Gewalt beruht: zeigt mithin die geschehende Gewalt auch immer an, daß Recht dieses Charakters vorliegt? Der Rückschluß ist unzulässig. Man erinnere sich nur an Iherings Unterscheidung zwi-
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schen "Gewalt", die dem Recht "akzessorisch" sei, freilich auch das Recht konstituiert, und der "Willkür", das heißt der rechtswidrigen Gewalt. So einfach, daß man der Gewalt ihre Rechtlichkeit oder Rechtswidrigkeit ansehen könnte, sind die Verhältnisse nicht. Dagegen ist am Recht, wenn die kallikleische Tradition Richtiges lehrt, die Gewalt immer ermittelbar, sei es auch mit Mühe.) b) Macht
Der Gewaltbegriff ist schillernd dank der Vielfalt seiner Sachverhalte. Gibt es für das Stärkerenrecht kein einfacheres, klareres Wesensmerkmal? Tatsächlich ist Macht die klarer bestimmbare Kategorie und als Strukturmerkmal für Rechtslagen vorzüglich geeignet. Definierbar ist sie als: die Chance eines Subjekts (eines Menschen, einer Institution), das eigene Interesse ohne Rücksicht auf Gegeninteressen durchzusetzen25 • Macht ist hiernach die "Prämisse", die einen Widerspruch zwischen Interessen auflöst. Sie ist das bei einer Konfliktpartei angesiedelte Potential, das dem Interesse dieser Partei zum Sieg verhilft. Gleichgültig ist für den Machtbegriff das Machtmittel: der reale Grund für den Sieg. Verfügung über Gewaltwerkzeuge, deren direkter oder mittelbarer Einsatz kann die Basis der Macht sein; sie ist eine Möglichkeit unter vielen. Entscheidend ist die Bestimmungschance, die der Machtinhaber woraus auch immer bezieht. Machtgrund kann der gesellschaftliche "Anstand" sein: "So etwas tut man nichti" Oder ein Aberglaube: "Der Teufel wird dich holen, wenn du ..." Oder "Liebe": "Wenn du mich magst, dann ..." Aussicht auf Strafe oder Belohnung kann Menschen zu erwartetem Verhalten bestimmen und ist daher zur Macht nutzbar. Ist Recht Macht, so ist Macht deswegen nicht schon Recht. Macht als Recht hat zweckmäßigerweise ihren eigenen Namen: ,Herrschaft'. c) Herrschaft
Darunter also sollte man die zum Rechtstitel erhobene Machtposition verstehen. Wer herrscht, tut dies vielleicht mit Grund und stets mit Recht. "Natürliche" Grundlage der Herrschaft ist ein Machtpotential; durch Verrechtlichung gewinnt es die Sanktionen aus dem Apparat hinzu, der Recht garantiert. Die Kumulation kann sich freilich verlieren, mit Glück im Unglück für den zuvor Mächtigen. Ein Mächtiger kann zwar reale Machtgründe einbüßen (- bei knapper Arbeitskraft wird der Unternehmer abhängig von den Dienstvermietern, die ihm verblieben sind). Dennoch: Ist Macht einmal mit dem Recht verbün25 KarZ Otto HandTich, Theorie der Herrschaft, 1973 (edition suhrkamp
599), S. 36 f., 46 ff.
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det, so steht es dem Berechtigten auch noch bei, wenn er "eigentlich" ohnmächtig geworden ist. Es wirkt im Interesse des real Machtlosen nach, rüstet ihn mit geborgter Macht aus. (Den abhängig gewordenen Dienstmieter schützt das Recht davor, daß die Vermieter ihre Interessen mit dem Nachdruck der neuen Machtlage verfolgen: das Verbot kollektiver Rechtsbehauptung, zum al ein Streikverbot rettet an der Chance des Mieters, die Arbeitsbedingungen zu diktieren, so viel wie möglich.) Wenn Recht in dieser Weise Herrschaft absichern muß, dann allerdings braucht es auf seiner Seite das "Übergewicht der Gewalt" (Ihering): den gerüsteten Staat. Einen Staat, den Machtverschiebungen nicht berühren; darum hat Ihering ihm empfohlen, jeder privaten Machtverschiebung vorzubeugen, die ihn gefährden könnte. Marx hingegen bestreitet, daß der Staat sich derart freischwebend halten könne. Habe die zunächst beherrschte Klasse ihre Macht organisiert, die reale Übermacht gewonnen, so werde sie sich auch den Staatsapparat aneignen: Recht und Macht würden wieder zur Einheit.
VI. Andererseits: Das gleiche Recht Wenn Herrschaft anstößig wird, löst sie neue Rechtssuche aus. (Rechtssuche contra legem, gegen die herrschaftlichen Rechtstitel gerichtet; mit allen Problemen des Falles Kohlhaas.) Wie sinnvoll ist freilich die Suche nach dem gegenteiligen Modus, da entmutigenderweise Antagonisten wie Ihering und Marx in der Charakterisierung des Rechts einig sind: Ob bürgerlicher Rechtsstaat oder Diktatur des Proletariats, Besseres als die geregelte, verwaltete Gewalt sei (auf absehbare Zeit) nicht zu erwarten ... 1. Am Steg von Masirah
Der Fall könnte eintreten, daß gar nichts anderes übrigbleibt als den "unmöglichen" Weg zu finden. Denn gegen das Lob der hilfreichen Gewalt, gegen Resignation vor unvermeidlicher Gewalt, Vertrauen in die Gewalt: gegen all dies läßt sich die Einsicht in die Reillosigkeit der Gewalt setzen. Vom Zwang zum besseren Einfall soll fürs erste durch eine Parabel die Rede sein. Sie ist dem Roman "Heliopolis" von Ernst Jünger entnommen. Ort der Handlung ist ein alter Handelspfad in Mauretanien, der durch Wüsten, dann wieder an der Küste entlang über Dünen und Klippen führt. Dort aber: "Bei einem Platz, der Masirah heißt, springt das Gebirge halbmondförmig in die See hinaus. An seinem Fuße bricht sich die Brandung, während der Gipfel in die Wolken ragt. Der Stein ist eisenfarben und äußerst glatt. Hier führt der Pfad in halber Höhe die steile Wand entlang - als kaum zwei
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Handbreit starker Saum, der eben für einen Menschenfuß, für einen Maultierhuf genügt, doch nur bei sicherem und schwindelfreiem Schritt. Das Auge darf sich auf diesem Gange weder abwärts senken, zum weißen Kranz der Brecher, von dem es furchtbar angezogen wird, noch darf es sich aufwärts heben zu den Höhen, die der Albatros umkreist. Es muß sich zu der glatten Felswand wenden, an der die Hand sich tastend hält. Derart, in schauerlicher Höhe, spinnt sich der Steg am Klippenrand entlang, in starkem Bogen, dessen Wölbung seewärts gerichtet ist. Er ist nur halb zu sehen, wenn man ihn betritt. Aus diesem Grunde pflegt man dort, wo beim Bogen die Sehne angeheftet wird, zu rasten, um sich zu vergewissern, daß der Steg nicht von der Gegenseite betreten wird. Das nun geschieht in der Weise, daß man von der Felsenkanzel nach Art der Muezzine einen starken Ruf erschallen läßt. Wenn keine Antwort kommt, darf man die Bahn als frei betrachten und sich auf sie hinauswagen." Soviel zum Schauplatz. Was sich ereignen wird, liegt nahe: "Es kamen zwei Karawanen ... auf diesen Abgrund zu. Und beide verabsäumten den Wamungsruf. Sie trafen sich an dem Punkte, an dem der Bogen die höchste Spannung hat." Die Karawane, die von Süden kommt, untersteht dem Goldhändler Abd-al-Salam, dessen Schätze sie befördert. Die Karawane aus Norden, geführt von dem Kaufmann Tryphon, hat Salz geladen für eine Stadt im Innern der Wüste. Dieser Sachverhalt - so läßt Ernst Jünger den Lehrer einer Kadettenschule sprechen, der ihn als Aufgabe stellte - sei das "Modell für eine jener scheinbar aussichtslosen Lagen, aus denen der Mensch für sich das Recht ableitet, durch den anderen hindurchzugehen" . Durch den anderen hindurch zum eigenen Ziel ... Aber der Pfad ist sehr schmal, und bewaffnet sind beide Parteien. Wohl kann man sagen, daß "mathematisch gesehen, die Möglichkeit zur gütlichen übereinkunft nicht gegeben ist". Folgert man hieraus jedoch, es müsse gewaltsam "Raum geschaffen werden", dann wird die Begegnung mit Gewißheit jenen Verlauf nehmen, den ein Kapitän James Riley, ein früherer Erzähler der Geschichte, mitgeteilt hatte: "Die Führer verhandelten bis zum Beginn der Nacht, zunächst im Guten, sodann mit Drohungen. Dann kam es zum Kampfe; sie stürzten sich aufeinander und rissen sich, ineinander verbissen und verschlungen in den Tod hinab. Es wird berichtet, daß keiner entkommen ist." Der unvermeidliche Ausgang? 2. Thomas Bobbes' Wegweisung aus der Gewalt
Daß Herakles kein Ideal abgeben könne aus der Sicht der Opfer (und dies seien die meisten), hat bereits Kallikles eingestanden (oben im Abschnitt "Große Alternative"). So ist nicht verwunderlich, wenn so6 Gast
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1. Kap.:
Rechtsbedürfnis und Rechtserwartungen
phistischen Verfechtern einer "Herrenmoral" sophistische Kritiker hart entgegentraten. "Wenn jemand seine Stärke zu unrechten und ungesetzlichen Zwecken benützt, so ist dies das Schlimmste von allem, und es wäre besser, er besäße sie gar nicht." Aber nicht nur Gewalt außerhalb des Rechts, gar entgegen dem Recht sei von übel, sondern ebenso das Recht des Stärkeren: Man dürfe "nicht danach trachten, mehr als die anderen zu haben, noch gar die Macht, die auf solches Mehrhaben gründet, für Tugend halten". Sätze eines Sophisten, dessen Name nicht mehr überliefert ist; vermutlich lebte er im 5. Jahrhundert v. u. Z., ein Zeitgenosse des Protagoras also (vgl. Fn. 1). Da seine Lehre sich einer Schrift des Neuplatonikers Iamblichos (um 300) entnehmen ließ, wird der Unbekannte in den Fragmenten der Vorsokratiker als Anonymus Iamblichi geführt. Die Kritik des Anonymus an Gewalt, Macht, Herrschaft blieb nicht auf abstrakter Ebene stehen, bei Verdikten und Postulaten. An Sachverhalten wie der Kreditvergabe oder der Berufsarbeit sucht sie den Nachweis zu führen, wie sehr die gewaltlosen Lebensverhältnisse gewalterfüllten vorzuziehen seien. überlegungen, sogar Formulierungen finden sich bei dem Weisheitslehrer aus der Frühzeit der Rechtsphilosophie, die an einen Autor erinnern, der gut 2000 Jahre später das Problem heilloser Gewalt gründlich und umfassend durchdachte: an Thomas Hobbes. Nun ist gerade er, dessen Buch "Leviathan" im Jahr 1651 erschien, als der Apologet rigoroser Staatsmacht verrufen. Doch auf diesen einen Aspekt darf man Hobbes' vielschichtiges Werk keineswegs reduzieren. Zu allererst handelt es von Bedingungen und Wirkungen der Gewalt, und vom rettenden Ausweg. Diese Lehren interessieren vorab. (Einige entsprechende Gedanken des anonymen Sophisten sollen daneben gestellt werden. Erstes Nachdenken, im historischen Sinn, gibt bisweilen schon vor, was sich nur noch vertiefen und zu Ende führen läßt.) Hat Hobbes das Prinzip gewaltloser Gesellschaft verdeutlicht, so wird er freilich die anschließende Frage, wie es zu verwirklichen sei, für heutige Rechtserwartung nicht mehr befriedigend lösen. a) Vertragskultur
In vier überlegungen entwirft Hobbes die Gegenposition zum Stärkerenrecht: (1) Die Aufteilung der Menschheit in Starke und Schwache, angeblich von Natur aus festgelegt, sei kein zwingendes Faktum (kein Fatum), im Gegenteil. Mit mehr Grund dürfe man sagen, die Menschen seien von Natur aus gleich: nicht bloß einem abstrakten Werturteil nach, sondern auch tatsächlich in ihren körperlichen und geistigen Anlagen. Die gleiche Veranlagung offenbare sich, wo immer der einzelne für sich
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etwas erhoffe, was auch viele andere anstreben. Unterschiede an Körperkraft aber, die unleugbar bestehen, seien ausgleichbar, denn der Schwächste könne durch List oder durch Vereinigung mit anderen dem Stärksten gleich werden (Leviathan, S. 96 f.26). Solche Gleichheit, nämlich Gleichmächtigkeit, die sich jederzeit herstellen lasse, entzieht dem Sozial darwinismus Iherings den gedanklichen Boden. Hobbes hingegen darf folgern: Kein Unterschied zwischen den Menschen ist "so erheblich, daß irgend jemand Veranlassung hätte, sich einen Anspruch daraus herzuleiten, den ein anderer nicht mit dem gleichen Recht geltend machen könnte". Oder kurz: Jeder hat ein "natürliches Recht" auf alles. Jeder möge den Zugriff wagen, niemandem gebühre der Vorzug; Unterlassung habe keiner zu fordern, er wehre sich! Von der Ausgleichbarkeit naturgegebener Schwächen wußte bereits der Anonymus: Wenn auch "ein Mann erstände, ... der unverwundbar und gegen Krankheit und jede Art von Verletzung gefeit wäre, ein Mann von übermenschlicher Kraft ... , so würde es ausreichen, wenn alle Menschen einem solchen Manne gegenüber als Feinde auftreten, und die Menge würde ihn entweder durch List oder durch Gewalt überwältigen und sein Herr werden". Der Stärkste, dem Herakles noch überlegen, könnte sich doch nur retten, indem er "sich auf die Seite der Gesetze und der Gerechtigkeit stellte" oder, so ergänze man: indem er Zulauf und Hilfe fände, die in der Gewalt wenigstens ein Patt herstellt. Flüchtig und unzuverlässig erscheint Stärke wegen ihrer Verfügbarkeit jedenfalls. Die Rettung durch Eintritt in das Recht aber darf, nach allem was vom Anonymus schon zitiert wurde, nicht zur Rettung der "natürlichen" übermacht geschehen. Sie sei der Verzicht darauf. Im Ansatz war Ihering widerlegt, längst ehe er ihn dachte. (2) Ihering lobte Gewalt als das pädagogische Prinzip; sie habe die Menschen zu gesellschaftlichen Wesen erzogen. Mehr noch, sie sei Beweger der Geschichte und habe in weiser Selbstbeschränkung den Lauf der Dinge zum Guten: zu Ökonomie und Menschlichkeit gewendet. Von Grund auf anders schätzt Hobbes die Gewalt ein: nicht als ein schöpferisches, den Fortschritt betreibendes Prinzip, sondern als Hindernis gegen jeden Fortschritt. Die Gleichheit der Menschen (was Interessen, Hoffnungen und die Fähigkeit zur Durchsetzung der Interessen angeht) führe zum Krieg aller gegen alle: einem heillosen Zustand, in dem die Kräfte einander paralysieren. "In einem solchen Zustand gibt es keinen Fleiß, denn seine Früchte werden ungewiß sein, keine Bebauung des Bodens, keine Schiffahrt, keinerlei Einfuhr von überseeischen Gütern, kein behagliches Heim, keine Fahrzeuge zur Beförderung von schweren Lasten ..." (S. 99). Es gibt keine Gesellschaft und keine Kultur, "statt dessen: ständige Furcht und die drohende Gefahr eines gewaltsamen Todes. Das Leben der Menschen: einsam, arm, kümmerlich, roh und kurz". Welch krasser Pessimismus zu den Leistungen der Gewalt! 21
6'
Durchwegs zitiert aus der oben in Fn. 19 genannten Ausgabe.
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1. Kap.: Rechtsbedürfnis und Rechtserwartungen
Entsprechend der Anonymus, der Rechtlichkeit (bei gleichem Recht) als Ursprung sinnvollen Lebens pries: "Die erste Folge gesetzlicher Verhältnisse ist der Kredit, der den Menschen großen Nutzen bringt. Denn durch ihn wird das Geld gemeinnützig, und dann reicht es, wenn es auch wenig ist, doch aus, weil es in Umlauf gesetzt wird; ohne Kredit aber reicht sogar viel Geld nicht aus ... Ferner wird infolge gesetzlicher Verhältnisse die Zeit der Menschen nicht für Parteikämpfe vergeudet, sondern für die nützlichen Arbeiten des Lebens verwendet." Bei gesetzlosen = gewaltvollen Zuständen fänden die Menschen keine Ruhe zur Arbeit. Sie würden in drückendster Sorge um ihre Güter leben und "das Geld zu Hause ansammeln, aus Mißtrauen und weil der Verkehr ohnehin stockt, und so wird das Geld knapp, auch wenn es reichlich vorhanden ist". Die "Parteikämpfe" (politischer oder sozialer Art) würden Feindschaften nähren, "so daß die Bürger dauernd auf der Hut sein müssen und einander gegenseitig auflauern". (3) Sinnvolles Leben also siedle jenseits der Gewalt. Zwar sah auch Ihering die Einschränkung der Gewalt als eine Bedingung menschlichen Fortschritts an; doch sei es die Gewalt selbst gewesen, die sich rationalisiert habe. Sie sei rational = vernünftig und im selben Zug rationell = nützlich geworden. Nach Hobbes' umgekehrter Auffassung kann Gewalt sich nicht immanent zum Guten wenden. Sie veranstaltet das bellum omnium bis zu ihrer Abschaffung (exakt: bis zu ihrer Abschaffung aus den gesellschaftlichen Beziehungen). Undenkbar ist innerhalb der Prämissen Hobbes' der einseitige Gewaltverzicht, den Ihering (in Grenzen) lobte. Er geschähe unmotiviert, eher im Widerspruch gegen die menschliche "Natur", wäre zudem wegen seiner Auswirkungen praktisch unwahrscheinlich. Denn würde von zwei Parteien die eine verzichten, so behielte die andere noch immer ihr ursprüngliches "Recht" auf alles, ihre Hoffnung auf alles und auch ihre Mittel, alles Gewollte anzustreben. Geändert hätte sich die Lage zwar wesentlich; der Verzichtende wäre zum Schwachen geworden; der Begünstigte, der seine "natürliche" Berechtigung, Neigung und Ausstattung zum "Krieg" behalten hat, vermöchte seine Interessen unbehindert durchzusetzen. Diese Lage, laut Ihering die natürlichste, wäre nach Hobbes einem naturwidrigen Opfer zu verdanken - wer wird schon so selbstlos handeln? Das exzentrische Verhalten eines Außenseiters aber kann man nicht zum Ausgangspunkt eines Gesellschaftsmodells nehmen. Theoretisch folgerichtig (und auch der Erfahrung gemäß) läßt Hobbes den Verzichtenden die Gegenleistung fordern: Gewaltverzicht. Nur der zweiseitige, gegenseitige Verzicht führe aus dem Hexenkessel alles zerstörender Gewalt. Jede der beiden Parteien verspreche (durch Schaden klug geworden), ihr "natürliches" Recht nicht geltend zu machen, ihre GewaItpotenz nicht für ihre Interessen aufzubieten, zugleich den Ansprüchen der anderen Seite keine Gewalt entgegenzusetzen (S. 104): woraufhin der eine nur fordern und erwirken kann, was der andere ihm zugesteht. Dieses "sich gegenseitig Rechte übertragen nennt man
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einen Vertrag schließen" (S. 105). Der Vertrag löst das "natürliche" Recht ab, das ins bellum omnium mündet; indem die Menschen sich jedoch vertragen, begründen sie ihr besseres Dasein und im selben Zug das Recht. (4) Zum "Wesen" des Vertrags entwickelte Hobbes ein Verständnis, das sich in Iherings Tagen wieder verloren hatte. Iherings Vertragsbegriff ist rein formal, ihm genügt die Äußerlichkeit des Vertragsabschlusses, das Erscheinungsbild des Konsenses; gleichgültig ist, daß hinter der Vertragsfassade Gewalt am Werk bleibt, der Vertrag nur dem Vollzug gebändigter und geordneter Gewalt dient. Hobbes hingegen zeigt auf, daß der Vertrag - statt Maskerade für einen andersartigen Modus (für Herrschaft) zu sein - eigener, zur Herrschaft alternativer modus vivendi sein kann. Voraussetzung hierfür sei die tatsächliche Gleichheit der Vertragspartner; Gleichheit derart, daß kein Vertragspartner Gelegenheit habe, auf Kosten des anderen die eigenen Ziele zu erreichen, eigene Interessen zu befriedigen. Mit anderen Worten: Die Situation, in welcher Vertraglichkeit beginnt, ist Gleichmächtigkeit, Machtsymmetrie. Die Situation ist herrschaftsfrei, und zwar wegen der gleichen Chancen zur Gewalttätigkeit, die jeder Beteiligte hat. (Eine Lage von derselben Qualität, als würde gleiche Machtlosigkeit, das Fehlen jedes Machtmittels, ein Sich-Vertragen erzwingen.) Und wie in der Bedingung, so offenbart das Vertragsprinzip eigenen Charakter auch in der Konsequenz: Vertragspartner sind abhängig voneinander, jeder vom Willen des gleich starken anderen - darum werden im Konsens die Interessen ausgeglichen. Interesse um Interesse: dies ist, nach Hobbes, die Lösungsmaxime. (Zugegeben: Es ist noch eine ganz abstrakt abgeleitete Maxime; was sie im Einzelfall bedeutet, wird sich erweisen müssen.) b) Rettung bei Masirah Kein Verfechter des Stärkerenrechts, sondern Hobbes weist den Weg, auf dem bei Masirah Unglück vermieden werden kann. Im Roman entdeckte diese Lösung (zum Mißvergnügen des inspizierenden Generals) der Kadett von Winterfeld, "ein junger Mann mit blassem, zerstreutem Gesicht und blondem Haarschopf ... der Typus des Einzelgängers mit besonderen Träumen und Neigungen". Abd-al-Salam ("Vater des Friedens") nimmt, nachdem er überlegt hat, ob Menschen mit äußerster Vorsicht auf dem Pfad wenden können, mit dem Salzhändler Tryphon (dem "Weichlichen, üppigen, Stolzen"?; der Name ist unklar) Verhandlungen auf: "Er fragt ihn nach dem Werte der Bespannung und nach dem Gewinne, den er aus seiner Ladung zu ziehen hofft. Der Preis ist hoch, doch er stellt nur
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1. Kap.:
Rechtsbedürfnis und Rechtserwartungen
einen Bruchteil des Goldes dar, das Abd-al-Salam mit sich führt. Abd-alSalam kauft Tryphon Tiere und Lasten ab und schwört ihm, daß er die Summe jenseits des Steges entrichten wird. Dann gibt er Befehl, den Tieren die Augen zu verbinden und läßt sie in den Abgrund hinabstürzen. Das Manöver gelingt. Tryphon und seine Leute können nun wenden und an den Ausgangspunkt zurückkehren. Auf diese Weise wird der Weg für Abd-alSalams Karawane frei. Sie überschreitet glücklich die Todesbahn. Am Ziel zahlt Abd-al-Salam an Tryphon seine Schuld." Ein Einwand ist denkbar: Abd-al-Salam sei von vornherein der "Stärkere" gewesen, weil er das Gold besaß; seine auf Reichtum gegründete überlegenheit habe er ausgenützt. - Was hätte indessen alles Gold des Arabers geholfen, hätte der Salzhändler mit Pfeil und Bogen eine doch naheliegende (Schein-)Lösung versucht? Und was hätte das Gold genützt, wenn Salam nicht einen Teil davon geopfert hätte? Was war dieser Verzicht des einen wert, wäre der andere nicht zur Aufgabe seines Unternehmens bereitgewesen? (Wie sind Tryphon und seine Leute wieder heimgereist? Mußte er bei Abd-al-Salam Reittiere kau':' fen, zum Preis für Mangelware? Oder wenigstens Trinkwasser, Nahrung? Kam er, unklug, gierig, beladen mit gutem Gold, das doch niemanden atzt, in der Wüste um?) Keiner der beiden Händler hatte eine Chance, sein Ziel auf Kosten des anderen und ohne eigenes Opfer zu erreichen. Entweder wurden die Interessen beider zureichend befriedigt, oder die Interessen keines von ihnen. Der Handel der beiden Karawanenführer war vernünftiger Umgang zwischen Gleichen: wobei nicht Gleichheit im Reichtum (gleiches Haben) den Ausschlag gab, sondern Gleichheit in der Macht oder, was dasselbe bedeutete, Gleichheit in der Ohnmacht (gleiches Sein). (Gleich Gerüstete sind voreinander gleich schwach.) Verwirklicht wurde das Vertragsprinzip, entsprechend der Situation, aufs Vollkommenste. c) Verlust des Vertragsprinzips bei Hobbes; Wiederauffindung
Hobbes hat die Vertraglichkeit als das Muster gewaltloser (herrschaftsfreier) Beziehungen, die Vertragsform als Instrument hierzu verdeutlicht. Erst indem sie sich vertragen, gelingt es den Gleichen, die im bellum omnium verschütteten Bedürfnisse zu befriedigen. Aber wie weit reicht diese "Herrschaft" des Vertrags, die der Herrschaft im eigentlichen Sinn keinen Raum läßt? Denkbar ist der Versuch, sämtliche Lebensverhältnisse auf das Vertragsprinzip festzulegen: die allgemeineren Beziehungen in der Gesellschaft (Beziehungen zwischen allen oder vielen) ebenso wie die besonderen Zweierkontakte. So weit ist Hobbes nicht gegangen, und seine kurzatmige Verwendung des Prinzips führt zu Konsequenzen, die den schlechten Ruf eines Verfechters des omnipotenten Staates begründeten.
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(1) Zum Vertragsmuster greift Hobbes, um den Staat zu erklären und die Allmacht der Staatsspitze (des "Souverän" im vordemokratischen Sinn) gegenüber den "Untertanen" zu rechtfertigen. Ursache des Staates sei das Verlangen nach gesichertem Leben: "der Wunsch, jenem elenden Zustand des Krieges aller gegen alle zu entrinnen" (op. cit., S. 133). Um dieses Ziel zu erreichen, haben die Staatsbürger einen Vertrag über gegenseitigen Gewaltverzicht geschlossen. Jedoch: "Verträge sind ohne das Schwert leere Worte und vermögen in keiner Weise dem Menschen Sicherheit zu geben." Den Gewaltverzicht der Bürger voreinander begleitet deshalb eine zweite Absprache, die Bestellung und Ermächtigung des Herrschers. Im Gesellschaftsvertrag habe jeder einzelne allen anderen erklärt: "Ich gebe mein Recht, über mich selbst zu bestimmen, auf und übertrage es diesem anderen Menschen oder dieser Versammlung (lies: dem Monarchen oder den Oligarchen) unter der alleinigen Bedingung, daß auch du ihm deine Rechte überantwortest und ihn ebenfalls zu seinen Handlungen ermächtigst" (S. 137). Diese Einigung bedeute "die Geburt des großen Leviathan ... , des sterblichen Gottes". Wie Leviathan, der Drache aus der babylonischen Mythologie, das Chaos zu Anfang der Welt geschluckt hat, so soll der Staat das bellum omnium absorbieren. Hierzu erhält er freie Hand solange er seinen Auftrag, die Gesellschaft zu befrieden, erfüllt. Hobbes' Souverän gebietet über die drei Staatsgewalten. Als Gesetzgeber reglementiert er die Lebensverhältnisse in der Absicht, Konflikte von vornherein auszuschließen oder jedenfalls die Lösung vorzuschreiben. Da die Lösung vorgegeben ist, hat Gewaltfähigkeit im Konflikt keinen Sinn mehr. Für das Erreichbare, das rechtliche Ergebnis, braucht kein Beteiligter selbst Hand anzulegen, es ist staatlich verbürgt; Abweichungen aber läßt Leviathan ohnehin nicht zu. Streiten können die Kontrahenten nun zwar um die richtige Auslegung des Gesetzes, das ihren Konflikt entscheidet (vielmehr: apriori entschieden hat). Diesen Streit jedoch klärt der Souverän (selbst oder durch Beauftragte) in seiner zweiten Rolle, als Richter; wobei das Ergebnis als richtig gilt, weil es vom Herrscher kommt (auctoritas, non veritas facit legern). Als Exekutive schließlich wendet der Souverän (durch seine Handlanger) jede ihm gutdünkende Gewalt an, wenn der Friede in der Gesellschaft wieder herzustellen ist, den Gesetzesbrecher durch ihre Taten, ihren Rückfall ins Kriegerische störten. - Das bürgerliche Leben ist auf den Vollzug von Gesetzen reduziert (dahin zurückgeführt und darauf eingeschränkt: der Doppelsinn von ,reducere'). Dagegen steht der Souverän außerhalb des Gesetzes, er verfügt nach seinem Ermessen über die Lebensverhältnisse der Untertanen und über die Mittel, das Verfügte zu gewährleisten. (Er ist freier gestellt als der Staat in Iherings Lehre, der sich immerhin an die selbstgewählten Spiel-
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Rechtsbedürfnis und Rechtserwartungen
regeln der Rechtssetzung und -durchsetzung gebunden hat.) Einzig die Pflicht, die Gesellschaft zu pazifieren, bindet den Herrscher nach Hobbes; dem Erfolglosen also darf die Gemeinschaft kündigen, ihn darf sie ersetzen. Gegen den Staatsapparat, der den Frieden herstellt, kann es jedoch keinen zulässigen Protest geben. Ein folgerichtiges Verbot bei aller Härte; denn auf der Grundlage des Gesellschaftsvertrags sind die staatlichen Maßnahmen als jeweils eigene des betroffenen Bürgers anzusehen (S. 138). Der Bürger läßt um des Friedens willen tür sich entscheiden, Leviathans Wille ist, da vom einzelnen gewollt, letztlich dessen eigener. (2) Verwundern muß (aus jüngerer Sicht allerdings), wie radikal Hobbes das Vertragsprinzip verkürzt hat. Vertraglich könnten Gleiche ihre Beziehungen - dem Prinzip nach: alle ihre Beziehungen - friedlich und befriedigend gestalten. Diese Möglichkeit hat Hobbes nicht theoretisch ausgemünzt (aber dazu bot ihm sein Zeitalter auch nicht die Umstände). Vielmehr setzt er den Vertrag nur dazu ein, in einem einzigen Zug das Grundproblem zu lösen, die überwindung der allgemeinen Gewalttätigkeit. Der Gesellschaftsvertrag, in dem alle sich entmündigen zugunsten hoheitlicher Regelung des Lebens, hat letztlich den Vertragsgedanken erledigt. Gewiß, Leviathan seinerseits wird Verträge erlauben, den Kaufvertrag etwa als Form des Warenverkehrs; doch der Gesetzgeber dürfte auch ein anderes Verfahren wählen: Güterzuweisung durch eine Verteilungsbehörde. Was die erlaubten Verträge angeht, so kommt es unter Leviathan nicht mehr darauf an, ob die Vertragsparteien gleichmächtig sind, wie sie bei Abschluß des Gesellschaftsvertrags noch chancengleich in der Gewalt waren. Für die befriedete Gesellschaft genügt, daß Vertragsabschlüsse statt Raub und Diebstahl den Verkehr prägen, und daß die Verträge erfüllt werden. Der formale, äußerliche Vertrag, das Sich-Vertragen als Maske der Herrschaft, von Ihering her bekannt, ist auch in Leviathans Reich möglich und zugelassen, solange dieser Modus friedlich funktioniert. Wenn materiale Vertraglichkeit nur eine einzige Gelegenheit für sich hatte, den Gesellschaftsvertrag - wie verhält es sich dann um ihn? Gibt es ihn wenigstens? Ein realer Vertragsabschluß zwischen allen derzeitigen Mitgliedern einer Gesellschaft ist nicht vorstellbar; also hat Hobbes nur eine abstrakte Erklärung für den Bestand und die Omnipotenz des Staates angeboten? Als reales Ereignis könnte die allgemeine übereinkunft allenfalls weit in der Geschichte zurückliegen, in einer Zeit, da überschaubare Gemeinschaften unter einer Führung entstanden. Daß in einem einzigen Akt mit Wirkung für alle Zukunft ein sterblicher Allmächtiger inthronisiert werden sollte, dies wiederum genügt heutigen Ansprüchen an eine Legitimation nicht mehr. Aktuell sinnvoll scheint aber die Lesart, der Gesellschaftsvertrag sei eigentlich
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ein dauernder Prozeß: die immer erneute Zustimmung aller - oder der meisten - zu ihrer Gemeinschaft und zum gemeinsamen Staat. Ob solcher Grundkonsens dann auf die Berufung Leviathans hinauslaufen müßte, ist zweifelhaft. (3) Versuche, Hobbes' Staatslehre akzeptierbar auszulegen (letztlich: aufzuweichen), sind weniger ergiebig als das Weiterdenken des Vertragsprinzips. Vertraglichkeit könnte womöglich das universelle Gestaltungsprinzip der Gesellschaft sein: Alternative zur Gewaltkultur Iherings ebenso wie zum Leviathan (älterer Fassung), der Gewalt aus der Gesellschaft nur abzieht um den Preis ungebändigter Staatsgewalt. Als umfassender modus vivendi angesetzt, wäre der Vertrag selbst Leviathan neuer Prägung, der "wahre" Chaos- und Gewaltverschlucker. In ihm wäre Gewaltanwendung überwunden - und nicht nur sie, sondern dank der Gleichmächtigkeit der Vertragspartner Herrschaft überhaupt. In solchem Vertrauen auf den Vertrag kehrt die Lehre von der Vertragsfreiheit jedermanns wieder, die im bürgerlichen Recht des 19. Jahrhunderts dominierte (und seither viel Kritik und angebliche Einschränkungen erfuhr). Das traditionelle bürgerlichrechtliche Verständnis würde in einer von Hobbes inspirierten Vertragstheorie jedoch zweifach überschritten. Zum einen hielte sie die wesentliche Funktionsvoraussetzung des Vertrags fest (des Vertrags als Form herrschafts freier Beziehungen und nicht-herrschaftlicher Konfliktlösung): nämlich die Machtgleichheit der Vertragspartner, die Chancengleichheit eines jeden bei der Verfolgung seiner Interessen. Diese Bedingung fehlte in der Vertragspraxis des 19. Jahrhunderts weithin (man denke an die oben skizzierte Dienstrniete), und bei diesem Mangel knüpften Verdikte gegen das Vertragsprinzip an27 • Zum anderen regt Hobbes dazu an, Vertraglichkeit auch für allgemeinere Beziehungen in der Gesellschaft, für Kontakte und Konflikte mit vielen Beteiligten bis hin zu den staatsbegründenden Beziehungen aller vorzusehen.
Zur ernsthaften Rechtserwartung kann das Vertragsprinzip nur werden, wenn auf das abstrakte Ideal Vorstellungen zur praktischen Einlösung folgen. Vom Recht würde als erstes verlangt, daß es für Konfliktlagen Begegnungen zwischen Vertragspartnern vororganisiert; dabei hält die Vielfalt der Situationen für die juristische Phantasie wie 27 Kritik "von rechts" plädierte für die Re-feudalisierung der Arbeitsverhältnisse; so Dtto v. Gierke, zuletzt in der Festschrift für Heinrich Brunner, 1914, S. 37 ff. Zur "linken", aber nicht revolutionären (nichtmarxistischen) Kritik vgl. den "Kathedersozialisten" Anton MengeT, Das bürgerliche Recht und die besitzlosen Volksklassen, 4. Aufl. 1908 (Neudruck 1974), S. 150 ff., 160 ff. Zu Menger: Hattenhauer (Fn. 5), Rz. 446 - 450. Für Marx war der "freie Lohnarbeiter" ein Mensch, "der seine eigne Haut zu Markt getragen und nun nichts andres zu erwarten hat als die - Gerberei"; Kapital Bd. 1 (MEW Bd. 23), S. 191.
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für die Rechtserfahrung (Erfahrung von den Wirkungen des Rechts) eine Flut von Aufgaben bereit. Da der Vertrag nicht bloß Fassade für das Diktat des Stärkeren sein soll, mithin Gleichmächtigkeit der Kontrahenten, Chancengleichheit bei der Geltendmachung des je eigenen Interesses voraussetzt, müßte das Recht in jedem Fall diese Gleichheit verbürgen, sie also auch herstellen, wo sie nicht von selbst besteht. Problematisch ist sodann, wie im Streit vieler das vertragsgemäße Entscheidungsverfahren auszusehen habe. Vertraglichkeit schließt sicherlich das Teilnahmerecht jedes Betroffenen (Interessierten) ein, und sie verlangt offenbar die Einigung zwischen allen Beteiligten. Sogleich aber liegt der Gedanke nahe, um der Realisierbarkeit willen die Zuständigkeit vieler umzuformen: es könnte genügen, die Entscheidungsfindung einigen Repräsentanten zu übertragen. Und weil der Konsens um so unwahrscheinlicher wird, je mehr Beteiligte ein Verfahren hat, andererseits Entscheidungen fällig und nötig sind, könnte das Konsenserfordernis durch ein geringeres Quorum zu ersetzen sein. Der Vertrag wäre seiner Erscheinung nach dann preisgegeben; doch vielleicht ist dies notwendig, damit der Zweck von Vertraglichkeit sich verwirklichen läßt: die herrschaftsfreie Konfliktlösung. Der Sache nach kommt es bei ihr darauf an, alle jeweils betroffenen Interessen in ein Entscheidungsverfahren einzuführen und darin den chancengleichen Konfliktparteien ihren Kompromiß zu vermitteln. Das so pauschale Nachdenken führt nicht weiter. Gelegenheit zur sinnvollen Vertiefung wird die Lösung der Anstoß-Fälle nach geltendem Recht ergeben. 3. Die Kategorien Positivitlt, Gleichheit, Freiheit
Eine hilfreiche Arbeit im Abstrakten aber ist noch zu tun: die Grundbegriffe, wie zuvor für das Stärkerenrecht, nun für das alternative Rechtsprinzip zu ermitteln. Begriffe, die den Gegenentwurf zu Gewalt, Macht, Herrschaft kennzeichnen sollen. a) Positivität -
also doch Gewalt?
Verträge seien leere Worte ohne das Schwert; so Hobbes. Der Aufklärer des Vertragsprinzips verknüpft letztlich· sogar das Handlungsmuster Vertrag mit der Gewalt. Getreu der eigenen Maxime, daß das Gesetz auf Autorität gründe, nicht auf Wahrheit. Doch man achte auf den Anknüpfungspunkt! Gewalt ist nicht beteiligt, solange über den Vertrag verhandelt, die Einigung ausgebildet wird; im Gegenteil, sie ist, als mögliche Prämisse der Konfliktlösung, durch das Sich-Vertragen abgeschafft. Erst für die Zeit nach Vertragsschluß führt Hobbes Gewalt ein: damit das vertraglich gefundene Er-
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gebnis kein leeres Versprechen werde. Nicht der Konflikt selbst wird mit Hilfe des "Schwertes" gelöst, sondern ein Folgeproblem: Wie kann das Recht garantieren, daß verbale Vertragsergebnisse soziale Wirklichkeit werden? Hobbes bezweifelt, daß es genüge, stets auf freiwillige Erfüllung der Verträge zu vertrauen; ein nach aller Erfahrung richtiges Bedenken. Deshalb läßt Hobbes dem Vertrag das "Schwert" folgen, das den Vertragsbrüchigen zur Raison bringen, den Schwankenden zur Vertragstreue anregen soll. Mit dem Recht verbunden ist Gewalt allerdings, aber nicht als Wesensmerkmal, sondern als Anhang an die Rechtslage - ein Appendix, der nicht zu unterschätzen ist: er verbürgt die Wirklichkeit des Rechts. Die Methoden der Rechtsverwirklichung sind herkömmlich ihrerseits in Gesetzen erfaßt, unter dem Namen "Vollstreckung" . Gibt es also zweierlei Gewalt? Gewalt in zwei Funktionen durchaus, mit fundamentalem Unterschied. Gewalt kann einerseits das Mittel sein, mit dem ein Stärkerer seine Interessen durchsetzt, Herrschaft über andere ausübt, denen die Chance fehlt, ihr Gegeninteresse geltend zu machen. Sie kann andererseits das Mittel sein, einen Menschen bei einem Resultat festzuhalten, über das er, der nun Vertragsbrüchige, gleichmächtig mitentschieden hatte und dem er sich nachträglich wieder entziehen möchte (- entziehen durch einen Wortbruch, der Gewalt gegen den Vertragspartner wäre). Am Erscheinungsbild eines Gewaltakts läßt der Zweck von Gewalt sich freilich nicht ablesen. Vier Männer in Polizeiuniform halten einen Menschen fest, der sich sträubt und um Hilfe ruft, während ein Zivilist die Wohnung des mühsam Gebändigten durchsucht, endlich die gesuchten Wertgegenstände findet, an sich nimmt, sie fortschafft - aber was bedeutet diese Situation? Sie ist mehrdeutig. Um einen Raubüberfall mit Maskerade kann es sich handeln oder um eine Maßnahme der Zwangsvollstreckung (tim "Willkür" oder um rechtliche Gewalt). Ist der Vollstreckungsakt identifiziert, so sieht man ihm noch immer nicht an, welche Art Recht er verwirklicht. Vielleicht wird ein Herrschaftstitel vollstreckt und dem Betroffenen weggenommen, was er als Objekt fremder Macht unausweichlich, in vorgängiger vis compulsiva versprochen hatte. Stärkerenrecht fände in einer enthüllenden Selbstdarstellung seinen konsequenten Abschluß. Vielleicht aber ist die rüde Vollstreckung der letzte Weg, um das in Worten schon gefundene Recht Gleicher - einen Vertrag zwischen Machtgleichen - Wirklichkeit werden zu lassen. Zwischen Konstituierung der Rechtslage und ihrer Verwirklichung liegt dann ein Bruch, ein Wechsel der Prinzipien. Der konsequente Ausgang wäre, daß jeder Beteiligte freiwillig leistet, was er versprach. Statt dieser immanenten Verwirklichung des Rechten kommt Gewalt ins Spiel, weil ein Beteiligter aus der andersartig begründeten Rechtslage auszusteigen ver-
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Kap.: Rechtsbedürfnis und Rechtserwartungen
suchte. Der Wortbrüchige wird durch ein Mittel, das seinem Wortbruch verwandt ist, ins anders geartete Recht zurückgeschafft. Im Gegensatz dazu wäre Stärkerenrecht bruchlos geblieben. Sogar der Fluchtversuch durch Vertragsverletzung hätte zu ihm gepaßt, und natürlich mußte er scheitern. Unter konträren Vorzeichen dieselbe Gewalt: hiervon kann offenbar keine Rechtserwartung abrücken. Doch der Befund "Gewalt" bleibt, dies darf man nicht vergessen, nur bei beschränktem Blickwinkel gleich; beim Blick auf Vollstreckungsaktionen. Er bezeichnet einen angeschauten Vorfall, der keinen Rückschluß auf das "Wesen" des Rechts zuläßt. Vom Recht her gesehen, ist deshalb eine differenzierende Kennzeichnung angemessener: der Ausdruck ,Gewalt' bleibe reserviert für Instrumente der Herrschaft, im Recht zwischen Gleichen geht es einzig um PositivUät, um Wirklichkeit. Keineswegs soll brachiale Vollstreckung durch die Wortwahl beschönigt oder zugedeckt werden; der andere Ausdruck zeigt jedoch die Funktion und den Wert der Vollstreckungsaktion an. Er beugt außerdem dem irrigen Versuch vor, auch den zweiten Modus des Rechts, "gleiches Recht", als Variante ein und desselben Übels zu denunzieren. Daß in mancher Hinsicht Ihering doch recht hatte, eine sinnvolle Rechtserwartung manche seiner Aussagen nicht überschreiten könne: dies scheint sich zu bestätigen. Gewalt sei nun einmal dem Recht "akzessorisch" ... So mag man den Zusammenhang nennen, und die Gefolgschaft der "Gewalt" läßt sich mit gutem Grund zur unverzichtbaren Bedingung für positives (wirkliches) Recht erheben. Recht, dessen Verwirklichung nicht ständig garantiert ist, gibt ein leeres Versprechen ab, steht den Konflikten gerade dann hilflos gegenüber, wenn es am dringendsten benötigt würde. Es wird zum Gespött des Rechtsbrechers: desjenigen, der Ginen anderen Lösungsweg vorzieht. Was aber Ihering betrifft: Die Erwartung, Recht müsse die eigen~ Wirklichkeit garantieren, darf mit dem Vorrecht des Stärkeren - dessen, der die Garantie zu geben und zu erfüllen vermag - eben nicht verwechselt werden. Zwar ist die Rechtserwartung, wonach jener Garant der Staat sein müsse, vermutlich unüberschreitbar; Vollstreckung per privater Gewalt würde private Gewaltpotentiale verlangen, deren Rechtstreue der Gegengewalt oder dem Zufall überantwortet bliebe. Der Staat Iherings jedoch hat die Gehilfenschaft bei der Rechtsverwirklichung weit überschritten (Hobbes' Leviathan noch mehr); die "Lebensfunction" für die Gesellschaft ist ihm zum Vorwand für Selbstherrlichkeit geworden. b) Gleichheit
Das Nachdenken hierüber muß sich stets um einen Grund-Satz bewegen: um eine Angabe, worin Menschen gleich seien. Ohne diese Eingrenzung ist sinnvolle Diskussion über Gleichheit unmöglich: zu unterschiedlich sind die Bezugspunkte, die in der Geschichte der Gleichheitslehren schon zur Sprache kamen.
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(1) Die vor rechtliche ("natürliche") Gleichheit, von der Hobbes ausgeht, ist die gleiche Chance jedermanns zur Gewalttat. Nicht, daß jeder im Verhältnis zu den anderen ständig gleich mächtig wäre; ein aktuell Stärkerer kann die momentane Blöße eines Schwächeren nützen. Nur ist kein Täter vor dem Gegenschlag oder Racheakt sicher, die Chancen zur Gewalt sind, in größerem Rahmen gesehen, letztlich doch gleichmäßig verteilt. Die aktuell unterlegene Konfliktpartei (oder ihr Rächer) kann in der Gewalt gleichziehen, den vorherigen Sieger darin auch übertreffen, woraufhin dessen Gegenschlag droht ... Diese Gleichheit werde, so lehrt Hobbes, im Gesellschaftsvertrag preisgegeben. Sie wird nicht zur Rechtsposition umgestaltet: derart, daß von Rechts wegen jedermann im nunmehr friedlichen Umgang gleiche Chancen bei seiner Interessenverfolgung behalte oder erhalte. Die Rechtserwartung, die der Gesellschaftsvertrag (nach Hobbes) ausdrückt, ist bescheidener; ihr genügt der überhaupt friedliche Verkehr zwischen den Bürgern, vorgeschrieben und durchgesetzt vom starken Staat. Gleichheit ist darin zwar noch immer angelegt, doch erheblich verändert - man darf werten: vermindert - gegenüber den Verhältnissen vor der Rechtlichkeit. Friedfertigkeit ist die höchste Tugend, die alle versprechen; durch den Vertrag wird sie zur Rechtspflicht eines jeden, zur gleichen Pflicht. Und gleich sind alle Bürger vor dem "sterblichen Gott" Staat, dem sie sich unterworfen haben; sie sind gleich darin, daß Leviathan ihre Lebensverhältnisse regelt, gleich in dieser Betroffenheit, gleich in der Pflicht zum Gehorsam. Immerhin scheint auf diese Weise die Gleichheit aller vor dem Gesetz erreicht - eine formale, pauschale Gleichheit, denn "Befehle" des Gesetzgebers (nichts anderes sei das geltende Recht) dürfen ohne Rücksicht darauf ergehen, ob sie verschiedene Menschen unterschiedlich belasten, dem einen große Opfer abverlangen, während ein zweiter mit wenig Mühe dem Befehl folgt. Indessen schließt die Unterwerfung aller gar nicht notwendig ein, daß Gesetze formal gleich, das heißt ausnahmslos, vorbehaltlos, ohne Ansehen der Person gelten müßten. Der allmächtige Herrscher ist auch befugt, Vorrechte ("herrscherliche Schenkungen") zu gewähren, sei es, daß er einzelne von gesetzlicher Last befreit oder ihnen besondere Vergünstigungen zugesteht (Leviathan, S. 224 f.). (2) Aus der "natürlichen" Gleichheit hatte Hobbes das "natürliche Recht" eines jeden auf alle Güter dieser Welt abgeleitet: womit kein sanktionierter Anspruch gemeint war, sondern die Ungebundenheit der gleich Starken; wenn man so will: eine natur"rechtliche" Lage, bevor menschliches Recht, eine dem Zusammenleben gemäße Ordnung, einsetzt. Nach Bekehrung der Gesellschaft zu ihrer Rechtlichkeit ist von solch freiem Zugriff nicht mehr die Rede. Die Überwindung der Prä-
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misse ("natürliche Gleichheit") hat offenbar die Konsequenz ("freier Zugriff") mit erledigt. Ein gleiches Recht auf alles: auf jeden Gegenstand, um den ein Streit ausbricht, und stets auf den ganzen Gegenstand - ein gleiches Recht dieses Inhalts ist allerdings unter der neuen Prämisse, dem Gewaltverzicht, nicht länger folgerichtig denkbar. Dennoch, vermindert an Quantität und Qualität könnte die gleiche Berechtigung, bezogen auf Güter, durchaus fortbestehen. Sie wäre dann zur Teilungsregel geworden: zur Gleichheit im Haben, die Kallikles verworfen, Anonymus Iamblichi gelobt hatte. Bei Hobbes gerät sie, wie die Rechtsinhalte überhaupt, ins Ermessen Leviathans. Unter allen Gleichheitslehren ist jene, die auf Gleichheit im Haben (im Besitz) abstellt, wohl die älteste. Aristoteles nennt als ihren Begründer den Vorsokratiker Phaleas von Chalkedon (Politik 1266). Nach der Darstellung, die Aristoteles gibt, hat Phaleas damit keinem abstrakten Ideal nachgehangen: er nahm an, den Schlüssel zur Friedlichkeit zu liefern. Aller Streit werde um den Besitz geführt, deshalb habe bei gleichem Besitz kein Mensch länger Grund zum Streiten. Konflikte aus der Welt zu schaffen scheint also möglich durch gleichmäßige Aufteilung der Welt. Phaleas nannte sogar einen friedlichen Weg, wie die noch ungleiche Gesellschaft die fällige Umverteilung in kurzer Zeit durchführen könnte: Die reichen Bürger sollen ihren Töchtern eine Aussteuer geben, aber selbst keine empfangen, die Armen hingegen ihre Töchter nicht ausstatten, jedoch Aussteuer erhalten ... - AristoteIes hielt diesen Austausch allein für nutzlos. "Denn wichtiger ist es, die Begierden der Menschen untereinander auszugleichen als ihren Besitz." In der Tat: Die Gleichheit im Besitz befriedet die Lebensverhältnisse nicht, wenn manche Menschen mehr haben wollen als andere. Der Ausgleich der Begierden muß hinzukommen, und hierzu müßten die Menschen, so Aristoteles, "durch die Gesetze erzogen werden". Jedem seine Hütte, den Garten, eine Ziege und eine Kuh (die männlichen Zuchttiere fielen zweckmäßigerweise ins Gemeineigentum, womit freilich der Streit um Deckungstermine vorbereitet wäre) - bukolische Verhältnisse aus des Phaleas Tagen lassen sich (derzeit) nicht nachvollziehen. Die Maxime vom gleichen Besitz ist dennoch nicht durch die Geschichte überrollt und erledigt; abstrakte Lebensmuster wie sie sind immer erneut anrufbar. Nur würden gehorsame Tatsachen verschiedener Zeiten das Muster mit unterschiedlichsten Erscheinungen konkret ausfüllen. Bei industriell-arbeitsteiliger Produktionsweise kann Gleichheit im Haben so aussehen: Jeder Mensch hat gleichen Anteil am Produktivvermögen - drei oder vielleicht sieben "Volksaktien" für jeden - und gleichen Anteil an den erzeugten Konsumgütern, vermittelt durch gleich hohes Arbeitsentgelt. Auf dem harmlosen Weg
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über Heiraten (Phaleas) wäre diese Neuordnung leider nicht zu erreichen. Außerdem müßten Erziehung und Gesetz (Erziehung durch Gesetz) zur Ausgleichung der Begierden viel aufwenden; denn die herkömmliche Erwartung, daß Leistung belohnt werde, größere Leistung höheren Lohn verdiene, und demgemäß die Regel, daß erst der Lohn zur Leistung stimuliere, dies alles wäre den Menschen noch abzugewöhnen. Bedenkt man vom status quo aus, wieviel an Umverteilung und Erziehung zu leisten wäre, bis die arithmetisch gleiche Aufteilung der Güter verwirklicht ist und als friedlicher modus vivendi auch funktioniert, dann erweist dieses Verständnis von Gleichheit sich als extreme Utopie. (3) Ein Prinzip für die Wirklichkeit zu retten durch Abstriche von der Idealform, ist eine eher übliche Strategie. (Es gab Zeiten, da die weise Suche nach der Mitte als "Wesen" der Erkenntnis galt - "die Mitte ist die Wahrheit" 28 .) Gleichheit, gerichtet auf Güter, könnte leichter zu Recht werden, wenn ihr Begriff bei schon weithin akzeptierten Regeln anknüpft. Einzurichten wäre gleiche Teilhabe wohl auch in der Weise, daß nicht die Zahl der Güter und Köpfe entscheidet, sondern die Leistung pro Kopf, der Beitrag eines jeden zur Güterwelt. "Gleichen Lohn für gleiche Arbeit", oder kürzer: "Jedem nach seiner Leistung" diese synonymen Formeln lehren noch immer gleiche Verteilung, jedoch bei modifiziertem Gleichheitsgrund. Nicht die Arithmetik allein, als einfaches Raster über die Welt gespannt, gibt nun den Sinn für "Gleichheit" ab, den Divisor bestimmt ein unmathematischer Gedanke, eine menschliche Wertung. Die Regel zur Verteilung der Welt ist komplexer geworden, auch kaum noch als Gleichheit im Haben zu verstehen, doch immerhin als Gleichheit im Erwerb. Der Wechsel im Bezugspunkt bedeutet mehr als bloß einen pragmatischen Versuch, die Kategorie für das Recht zu retten. Er verweist auf die Struktur von Gleichheit überhaupt - pur rechnerische Aufteilung ist nicht "das Wesen" der Gleichheit, sondern eine von vielen Anwendungen. Eine eher falsche Anwendung zudem, meinte Platon, als er das logische Muster im Gleichheitsbegriff aufdeckte: "Wird doch für Ungleiche das Gleiche, wenn es das Maß nicht trifft, zum Ungleichen ... " (Nomoi 757 a). Gleichheit besage, daß die Gleichen ein tertium comparationis, ein verbindendes Drittes, gemeinsam haben; es sei das Gleichheit begründende Moment und also, wenn Gleichheit zur Maxime der Konfliktlösung werden soll, auch das Maß der Lösung. Ist beispielsweise "Leistung" (was immer darunter zu verstehen sein mag: Leistung zu definieren und zu bemessen ist ein eigenes Problem) - ist also !8 Ernst Bloch. Zwischenwelten in der Philosophiegeschichte (Gesamtausgabe Bd. 12), S. 60 f.
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Leistung zum tertium erklärt, so sind Menschen durch gleiche Leistung gleich, und gleiches Bekommen ist Zuteilung exakt der Leistung gemäß. Solche Maß-gabe bringt Gruppen von jeweils Gleichen hervor; Gruppen, die arithmetisch unterschiedlich begütert werden, doch nach dem entscheidenden Kriterium in ihrer Summe Gleichheit verkörpern. Das arithmetisch gleiche Haben oder Bekommen hingegen wäre, nach demselben Kriterium beurteilt, ein Fall von Ungleichheit. (4) Platon und die Tradition des Gleichheitsgedankens seither haben Gleichheit durch das konstituierende "Maß" stark relativiert. Denn es schien (und scheint) weniger darauf anzukommen, bei allen Menschen gleichermaßen vorhandene Merkmale aufzudecken und anzuwenden, als vielmehr die "gerechten" Unterschiede herauszuarbeiten. Ohnehin ist das Gleichheit definierende "Maß" aus der Struktur von Gleichheit nicht zu entnehmen, im Gegenteil, von ihr aus gesehen erweist es sich als prinzipiell beliebig. Gleiche Zuteilung an der Leistung des einzelnen auszurichten, ist genauso möglich wie die Orientierung etwa an Bedürfnissen des einzelnen: Jeder bekomme, was er braucht. (Eine realisierbare Maxime?) Oder am sozialen Status (Familienstand, Kinderzahl, Beruf). Am Alter. An der "Tugend" (Platon). An der "Würdigkeit" (Aristoteles) ... Während aber die Wahl des Kriteriums dem Gleichheitsbegriff dienen soll: ein schwieriges Geschäft, denn in der Vielzahl der Maße liegt Stoff für Rechtserwartungen und für Konflikte, die aus anderen Überlegungen entschieden werden müssen - während diese Probleme der Präzisierung immerhin mit Gleichheit zu tun haben, ist im seI ben Zug die Gleichheitsidee in Frage gestellt. Platon hatte sie mit der gegenteiligen Kategorie verknüpft: mit der Unterschiedenheit; und in den "Nomoi" jedenfalls läuft diese Verknüpfung eher auf Kallikles als auf Phaleas, auf Stärkerenrecht statt auf gleiches Recht hinaus. "Dem Überlegenen nämlich teilt sie (die Gleichheit) mehr, dem Schwächeren weniger zu und gibt so jedem der beiden Angemessenes im Verhältnis zu ihrer Natur" (Nomoi 757 cl. Der Gleichheitssatz als Versteck für Herrschaft (nicht anders als der Vertrag bei formalistischem Verständnis)!? Wenn Gleichheit als Einheit aus Gleichsetzung und Differenzierung aufzufassen ist, so läßt der Akzent sich eher auf das eine oder das andere Element verschieben. Ihn bringt die Maß-gebung an, die je nachdem die Menschen stärker voneinander scheidet (auf ermittelbare oder denkbare Unterschiede eingeht, diese Unterschiede hervorhebt) oder vielmehr Gemeinsamkeit betont. Dabei besagt das jeweilige Maß noch wenig, solange man es abstrakt definiert, losgelöst von der Wirklichkeit, an der es mitwirken soll. "Leistung" beispielsweise (als Maß der Gleichheit und des Erwerbs) dient der Gleichsetzung, wenn im gesellschaftlichen Kontext die Chancen zur Leistung ohnehin ziemlich
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gleichmäßig verteilt sind, die individuellen Leistungen auch nicht allzu unterschiedlich wertvoll ausfallen. Dasselbe Maß jedoch bestätigt Differenzierung, es führt sie fort, wenn die Leistungschancen und Leistungswerte von vornherein sehr ungleich sind. Gleichheit, nicht ihr Gegenteil wird dennoch im zweiten Fall aus der vorgegebenen Lage abgeleitet - strukturell gesehen. Die (platonische) Struktur von Gleichheit ist noch immer gewahrt, wenn auch das tertium comparationis eine Hierarchie des Habens oder Bekommens herstellt. Das Gleichheitsideal (der Sinn von Gleichheit) als Gegenpol zur Unterschiedenheit geht in einem solchen tertium allerdings verloren. Deshalb ist zwar nicht die Struktur, wohl aber die inhaltliche Seite der Gleichheit für jeden Streit um rechte Maße doch bedeutsam. Es gibt eine Grenze, die in der ansonsten freigestellten Suche und Wahl nicht überschritten werden darf. Wo diese Grenze verläuft? Ein sicherer Anhalt dafür - ein Anhaltspunkt von der Bestimmtheit der Logik, des Strukturellen - fehlt gerade. Die rechte Lösung könnte daher zum guten Teil ein Problem jener "Angemessenheit" sein, die sich weniger durch handfeste Methode darstellt, eher sich negativ durch Vorwürfe und Unbefriedigtsein meldet, wenn sie verfehlt wurde. (5) Vorsokratische Philosophen wollten noch andere Probleme, nicht nur die befriedende Aufteilung der materiellen Güter, durch das Prinzip Gleichheit lösen. Wie etwa verhält es sich um die "bürgerlichen Tugenden": um die Teilhabe am Recht (die Rechtsfähigkeit); um die Befähigung, Recht von Unrecht zu scheiden? Protagoras zufolge hat Hermes das Recht allen Menschen gebracht, "und alle sollen teil daran haben" (Platon, Protagoras 322 d). Der Sophist Hippias von Elis stimmte zu: "Ich denke, ... daß wir Verwandte und Freunde und Mitbürger von Natur sind, nicht durch das Gesetz. Denn das Ähnliche (Gleiche) ist dem Ähnlichen (Gleichen) von Natur verwandt, das Gesetz aber, welches ein Tyrann der Menschen ist, erzwingt vieles. gegen die Natur." (Ebenda 337 c, d. Ein problematischer Text: Natur wird gegen Gesetz ausgespielt, auf den ersten Blick ein Affront gegen die Rechtlichkeit, die der Anonymus Iamblichi noch so gelobt hatte.) Als Beitrag zur Gleichheitslehre gelesen, handeln die Sätze des Hippias vom Status des einzelnen in persönlichen (informellen) Beziehungen, jedoch auch vom rechtlichen Status (von der Mitbürgerschaft). Das Maß, nach welchem Menschen zu Mitbürgern (zu Rechtssubjekten) werden, sei ihre gemeinsame menschliche Natur. Menschsein überhaupt ist das tertium comparationis, das Hippias anwendet. Die Gleichsetzung ist durch die Wahl dieses tertium vollkommen. Differenzierungen, die demgegenüber das positive Recht jener Tage vornahm - die Trennung in Bürger und Sklaven zumal findet man hier mit Hilfe des Gleichheitsgedankens kritisiert. (Sophistischen Apologeten der Sklaverei traten sophistische Kritiker entgegen. 7 Gast
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Als dann die Struktur der Gleichheit transparenter wurde, standen auch bald Maße zur Diskussion, speziellere menschliche Eigenschaften als noch bei Hippias, die den "Sklaven von Natur" identifizieren mußten.) Von der Gleichheit im Sein handelt der Gleichheitssatz in seiner zuletzt angesprochenen Fassung. Dem entsprechen die Konflikte, die mit seiner Hilfe entschieden werden sollen. Es geht um den Platz des einzelnen in der Gesellschaft, in der Rechtsordnung: darum, ob er überhaupt Rechte hat oder nicht, sodann, welche Rechte ihm zustehen, welche ihm vorenthalten sind. Wer beispielsweise beruft die Funktionäre eines Staates? Sie alle sollten "vom Volk gewählt werden", verlangte Hippodamos von Milet (zitiert bei Aristoteles, Politik 1267 b). Ein gleiches Berechtigtsein, das übrigens der Staatsentwurf des Hippodamos von den Besitzverhältnissen losgelöst sah. Die drei Stände, die darin "das Volk" bilden: Handwerker, Bauern, Krieger, sind sehr unterschiedlich begütert (die eigentumslosen Krieger etwa werden "vom Staat" alimentiert); ihr anders zugemessenes Wahlrecht bleibt logischerweise unberührt. Der umgekehrte Weg, Gleichheit im Haben und im Sein miteinander zu verknüpfen, das Sein nach dem Haben zu richten, ist jedoch ebenso denkbar. Das Dreiklassenwahlrecht, nach welchem in Preußen von 1849 -1918 die Zweite Kammer (der Landtag) gewählt wurde, folgte einem "subtileren", differenzierenden Gleichheitsverständnis. Zur preußischen Gleichheit: Die Wahlberechtigten eines Wahlbezirks "werden nach Maassgabe der von ihnen zu entrichtenden direkten Staatssteuem in drei Abtheilungen getheilt"; jede Abteilung wählt ein Drittel der zu wählenden Wahlmänner; das so konstituierte Wahlmännergremium wählt seinerseits den Abgeordneten des Wahlbezirks. (Einzelheiten in Art. 70 -74 der Preußischen Verfassung vom 31. Januar 1850.) So ergab sich, daß die exklusive erste Klasse der Schwerreichen, meist rund 5% der Bevölkerung, genauso viel Einfluß auf die Wahl der Abgeordneten besaß wie die große Mehrheit der Habenichtse in der dritten Abteilung. Adel und Besitzbürgertum, in den beiden höheren Abteilungen angesiedelt, konnten der Mehrheit allemal "ihren Mann" oktroyieren. (6) Wenn es doch gelänge, dieses Dilemma zu lösen: Gleichheit so zu definieren, daß "sachgerechte" Differenzierung zum Zug kommt, der Akzent jedoch zwangsläufig an der richtigen Stelle, bei der Gleichsetzung liegt! - Dieses ideale Verständnis ist durchaus zu finden, anknüpfend bei der Verfassung jeder Rechtssuche. Zur Rechtssuche treibt der Konflikt, ein Widerspruch zwischen Interessen. Gleichheit der Konfliktparteien dahingehend, daß jedes Interesse voll befriedigt würde, ist logisch unmöglich. Gleichheit derart, daß jedes Interesse gleich befriedigt würde, zu einem bestimmten Anteil nämlich, wirft Probleme des Maßes auf und ist abgesehen davon nicht für jede Konfliktlage vor-
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stellbar (KKW-Fall?). Gleichheit bei der Interessenverjolgung jedoch: Gleichheit in der Chance, das je eigene Interesse zur Geltung zu bringen, in einem Kompromiß die bestmögliche Befriedigung zu erreichen oder, wo Kompromisse nicht gestaltbar sind, das Interesse mit Rechtes Hilfe durchzusetzen - diese Art von Gleichheit ist ihrem Begriff nach problemlos und auch realmöglich. Sie ist das rechtliche Pendant zur "natürlichen" Gleichheit im Sinne Hobbes; andeutungsweise war von ihr die Rede (oben (1)). Sie bedeutet gleiches Dürfen, materiell unterfüttert durch gleiches Können ("Vermögen", nicht in bloß pekuniärem Sinn). Da Gleichheitssubstanz nicht auf vorrechtliche Art hergestellt werden darf, durch Selbstorganisation von Gewalt, muß sie rechtlich organisiert sein. Einzelheiten richten sich nach dem Zuschnitt des Konflikts. Konflikte mit kompromißfähigen Interessen haben die Masirah-Metapher zum Vorbild. Das Recht sorgt für Machtsymmetrie, kein Beteiligter kann den Verkehr diktieren. Bei Streit ohne Kompromißspielraum (bei striktem entweder-oder) heißt Gleichheit: die Streitenden treten in ein Verfahren, in dem anfänglich jeder die Chance hat, zu obsiegen; entscheidend wird sein, welche Rechtserwartung sich überzeugender zu begründen versteht. Eine "realistische" Rechtserwartung angesichts des geltenden Rechts? c) Freiheit contra Gleichheit?
"Wer CDU wählt, wählt die Freiheit, auch um den Preis von weniger Gleichheit - und wer mehr Gleichheit haben will, muß wissen, daß er als Preis weniger Freiheit in Kauf nehmen muß." (Helmut Kohl, Rede in Witten, zitiert nach: Die Welt, 8. 12. 1975.) Also nicht mehr "Liberte, Egalite, Fraternite"? Die Dreieinigkeit der Grundwerte aus der bürgerlichen Revolution von 1789: ist sie dem aktuellen Vorbehalt zu revolutionär oder zu bürgerlich oder ist sie tatsächlich falsch, jedenfalls was Freiheit und Gleichheit betrifft? Auf der Ebene politischer Auseinandersetzung werden Freiheit und Gleichheit gegeneinander ausgespielt; aus der einstigen Konjunktion ist eine Alternative geworden. Mit philosophenhaftem Dünkel (aber kann ein Philosoph = Freund der Weisheit dünkelhaft sein? Dünkel und Denken sind sicherlich unverträglich) - mit Dünkel ist auf die nach revolutionäre Umdeutung keineswegs herabzuschauen, sie ist eine sozialphilosophische These. Und wenn sie in Wahlkämpfe gerät, dort bis zur Parole vom Zuschnitt "Freiheit statt Sozialismus" zurechtgemacht wird, nun, so ist dies eben eine Art, sozialphilosophische Grundpositionen "griffig", eingängig zu präsentieren. Nachdenken darf sich dadurch nicht abgeschreckt fühlen, es ist erst recht provoziert (provocare = herbeirufen). 7·
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Daß Gleichmacherei die Freiheit des Stärkeren beschneide, hatte bereits Kallikles beklagt. Die Schwächeren versuchten, "die Stärkeren, die in sich die Kraft fühlen, mehr zu haben als die anderen, einzuschüchtern, damit diese Stärkeren nicht mehr begehren" (oben, Abschnitt "Große Alternative"). Zur Strategie der Schwächeren gehöre der Gleichheitssatz: die Behauptung, "daß ,mehr haben wollen' schändlich und ungerecht sei". Der überlegene, der "gleichgemacht" werden soll, muß wahrhaftig diese Zumutung als Beschränkung seiner Freiheit empfinden. Und jeder Apologet des Stärkerenrechts - herrschaftlicher Struktur der Rechtsverhältnisse - muß ihm beipflichten. Freiheit übrigens ist dabei ganz herkömmlich verstanden: als Abwesenheit von Zwang. (Freiheit sei "Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür"; Kant.) Frei will der Stärkere auch in Konfliktlagen bleiben; gerade dort wird seine Freiheit praktisch erheblich. Nun aber hängt sie davon ab, daß ein anderer sie vermittelt: der Unterlegene, der seine Interessen nicht zur Geltung bringen darf, um das Gegeninteresse des Freien nicht zwanghaft zu stören (den Freien nicht mit Zwang zu überziehen). Mit der Eingängigkeit politischer Darstellung gesprochen: Freiheit funktioniert nur für maximal 50 Prozent der Gesellschaft. Wenn jedoch auch das 51ste Prozent - oder die andere Hälfte insgesamt - von fremdem Zwang freibleiben will? Wenn Recht gar die Freiheit jedermann verspricht (vgl. Art. 2 Grundgesetz)?! Dann gibt es wohl keine Freiheit mehr; jeder ist in seinen Interessen durch andere gestört, gehemmt, eingeengt ... Es sei denn, der Freiheitsbegriff kehrt mit leicht veränderter, aber realistischer Bedeutung in die Gesellschaft zurück. Zwar vermag er nicht die "reine Freiheit" eines autonomen von fremdem Willen unberührten - Individuums anzubieten, auch nicht die Freiheit eines herrschenden Individuums. Doch immerhin lehrt der Begriff die Freiheit jedermanns, in den Begegnungen mit anderen, in der Gesellschaft überhaupt das eigene Interesse gleichberechtigt, chancengleich zu verfolgen. Frei von den Gegeninteressen der anderen ist keiner, frei vom Preis für die Befriedigung eigener Interessen; frei von Herrschaft wäre, bei diesem Verständnis, dennoch jeder. Allerdings: Gleichheit erweist sich dann als unverzichtbare Bedingung für Freiheit2D • Der Streit aus des Kallikles Tagen also dauert an. 2D Christian Graf von Krockow, Freiheit oder Gleichheit? überlegungen zu einer falschen Alternative, in: Vorgänge - Zeitschrift für Gesellschaftspolitik, Heft 20/1976, S. 45 ff. Außerdem mein Beitrag: Die Konstituierung der Freiheit im Recht, in: RECHTSTHEORIE 1978, S. 451 ff. Aber auch Gerd Roellecke, Gleich und Ungleich, in: Der Mensch als Orientierungswaise? (ed. Hermann Lübbe u. a.), 1982, S. 217 ff.
Zweites Kapitel
De lege lata (nach geltendem Gesetz). Zum Beispiel das Arbeitsrecht Weiterzudenken ist am Problemstoff aus der (importierten) Affaire Schlumpf (1. Kapitel, "Skandale"). Die Rechtserwartungen sind entwickelt. Sie sind in die grundlegende Alternative zwischen Recht des Stärkeren und gleichem Recht gestellt. Nunmehr geht es um die Lösung, die das geltende Recht - das Arbeitsrecht der Bundesrepublik Deutschland - der Rechtssuche anbietet ("vorschreibt"). Diese Lösung wird zunächst erarbeitet, dann vor dem Hintergrund der bekannten Rechtserwartungen analysiert: Welche formalen Erwartungen sind am geltenden Recht wiederzuerkennen, welchen inhaltlichen Erwartungen (welchen Interessen) folgt es? Wo siedelt es in der Großen Alternative: näher am Vorbild Herakles oder am Gleichheitsgedanken? Gibt es, sofern das erste zutrifft, einen systemimmanenten Weg in den zweiten Modus? I. Die gesetzlich vorbereitete Lösung der Affaire S. Unterstellt also, die Affaire S. ereignet sich in der Bundesrepublik: Wie ist die Rechtslage? Vorkommen kann "so etwas" alle Tage - es muß nicht immer um Bugattis gehen und um viele Millionen, aber das Konfliktmuster ist gängig. Die folgende Lösungsskizze wird alle Aspekte des Konflikts ansprechen. Nicht nur der Verteilungsstreit (Streitstoff, der am Ende übrigblieb) provoziert zur Rechtssuche, der Stein des Anstoßes liegt weit voraus. Er wurde gelegt, als die Unternehmer S. anfingen, Gewinne für ihre Sammlung zu verwenden oder dafür Kredit aufzunehmen, beides zu Lasten der Textilfabriken. Die Antwort des geltenden Arbeitsrechts auf alldies ist vielschichtig. (1) Sie beginnt mit dem Arbeitsvertrag. Die Einigung zwischen einem Arbeitnehmer und "seinem" Arbeitgeber ist notwendig, damit ein Arbeitsverhältnis entsteht. (Die Arbeitgeberrolle spielt bei Vertragsschluß und dann im Vollzug des Arbeitsverhältnisses oft ein Vertreter des Unternehmers; zunächst ein "leitender Angestellter", später ein Meister oder Vorarbeiter. Den Vertrag schließt für den Unternehmer = Arbeitgeber beispielsweise der Personalchef.) Die Beziehung zwischen den Vertragsparteien, ihre Pflichten voreinander und mithin, korre-
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2. Kap.: De lege lata (nach geltendem Gesetz)
spondierend gesehen, ihre Ansprüche gegeneinander nennt das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) in § 611: Der Arbeitnehmer, das heißt "derjenige, welcher Dienste zusagt", ist "zur Leistung der versprochenen Dienste, der andere Teil zur Gewährung der vereinbarten Vergütung verpflichtet". An die Dienstmiete kann der Gesetzestext erinnern, ein Eindruck, dem die herrschende Terminologie ("Arbeitnehmer" ...) kontert (vgl. oben 1. Kap. Abschnitt V 2 b). über die verabredeten Leistungen oder Pflichten sagt die Redeweise von den Gebern und Nehmern der Arbeit = des Arbeitsplatzes jedoch nichts aus. Sie beschreibt die Verfassung des Produktionsprozesses überhaupt, gesehen im Blickwinkel des wohltätigen Kapitalisten. (Nur als Kennzeichen ohne eigene Bedeutung sind die gewohnten termini erträglich.) Ein Austausch von Arbeit gegen Geld: dem Gesetz zufolge ist dies das "Wesen" des Arbeitsverhältnisses. Solange der Arbeitsvertrag besteht, hat der Arbeitnehmer Anspruch auf Entlohnung - mehr Befugnis sieht die Rechtsgrundlage (nach herrschendem Verständnis) nicht vor. Der Arbeitgeber zieht die vereinbarten "Dienste" ein; mit der vorherrschenden Auslegung gesprochen: er "verfügt" über die erworbene Arbeitskraft. Der Arbeitsvertrag habe diese "Verfügungsmacht" begründet, der Arbeitnehmer sich den Planungen und Direktionsentscheidungen seines Vertragspartners (?) "unterworfen"30. Ein Arbeitsverhältnis endet durch Zeitablauf oder, wenn es für unbestimmte Dauer eingegangen wurde, auf Kündigung hin (§ 620 BGB). Es erledigt sich nicht von selbst, auch nicht bei Unternehmensschließung und Konkurs. Der Konkurs macht alle Arbeitsverhältnisse kündbar, doch sind Kündigungsfristen einzuhalten. Die Arbeitgeber S., die ihr Unternehmen aufgeben wollen (oder müssen), bleiben daher bis auf weiteres vertraglich gebunden; sie müssen die "vereinbarte Vergütung" zahlen und können sich nicht darauf berufen, daß sie "Dienste" nicht mehr benötigen würden. (2) Die Arbeitnehmer beanspruchen mehr als den noch fälligen Lohn. Sie fordern, was an Verwertbarem blieb: die Oldtimer-Sammlung. Kommt diesem Interesse, das ganz außerhalb des Arbeitsvertrags liegt (dem der Arbeitsvertrag nicht recht gibt), eine andere Rechtsgrundlage zu Hilfe? Das Eigentum an den Oldtimern haben unbezweifelbar die Käufer: die Brüder S. erlangt (§§ 433, 929 BGB). Eine Rechtserwartung auf Arbeitnehmerseite kann allenfalls in Frage stellen, ob das Vermögen, aus dem die Käufer S. ihre Schulden beglichen, ihnen gehörte. Die 30 Darstellung und Kritik dieser Meinung in meinem Buch: Arbeitsvertrag und Direktion, 1978, S. 302 - 310.
I. Die gesetzlich vorbereitete Lösung der Affaire S.
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Käufer verwendeten Erträge des Unternehmens; womöglich haben sie sich am Gut der Arbeitnehmer vergriffen. § 950 BGB, eine Vorschrift des Sachenrechts, hält (so könnte es scheinen) eine passende Regel bereit:
"Wer durch Verarbeitung oder Umbildung eines oder mehrerer Stoffe eine neue bewegliche Sache herstellt, erwirbt das Eigentum an der neuen Sache, sofern nicht der Wert der Verarbeitung oder der Umbildung erheblich geringer ist als der Wert des Stoffes." Verarbeitung von "Stoffen" zu einer neuen Sache geschieht in einer Textilfabrik gewiß. Das Eigentum an der Sache erwirbt, wer sie "herstellt", vorausgesetzt, die "Verarbeitung" = die produktive Tätigkeit ist nicht geringerwertig als das verarbeitete Material. Man rechne also: Wert des Produkts minus Stoffwert; das Ergebnis darf nicht "erheblich" unter dem Stoffwert liegen. Das Gesetz schätzt die Arbeit, wenn sie einen achtbaren ökonomischen Wert hat, höher ein als das Eigentum am Rohstoff; der Stoffeigentümer verliert sein Eigentum und kann vom Hersteller Entschädigung für den Verlust fordern (§ 951 BGB). "Hersteller" schließlich: sieht man die Arbeitsvorgänge an, so könnten die Arbeiterinnen an der Strickmaschine, an der Nähmaschine gemeint sein, oder die Arbeitnehmer der Produktionsstätte gemeinsam, da sie für die Produkte, die auslieferbaren Textilien, vielfältig zusammenarbeiten. Womit der Wertzuwachs aber wohl bei den Lagerarbeitern enden würde. Und die Lieferfahrer, die Buchhalter? ... Genug die herrschende Rechtsauffassung versteht den Gesetzestext anders, für sie ist Hersteller der Inhaber (Eigentümer) des Unternehmens. Ein Wortverständnis, das den § 950 und die darin festgelegte Bewertung der Arbeit vom Arbeitsrecht fernhält: Die Vorschrift betreffe das Rechtsverhältnis zwischen Fabrikanten und Lieferanten, bei Lieferung unter Eigentumsvorbehalt31 • Als Alleinhersteller erscheint der Unternehmer freilich erst, wenn man "sein Personal" den Maschinen und Werkzeugen im Betrieb gleichstellt, die "lebendige Arbeit" also verdinglicht und entrechtet. Aussicht, die BGB-Interpreten kurzfristig von ihrer Meinung abzubringen, besteht nicht. So bleibt das pragmatische Ergebnis: Die S.-Werke gehören seit jeher und noch bei der Schließung den Gebrüdern S. Nach herrschender Meinung sind niemals die Arbeitnehmer, stets die Herren S. Eigentümer der Produktion geworden. Das geltende Sachenrecht deckt keinen Zugriff der Arbeitnehmer auf die Autosammlung. 31 Zur herrschenden Meinung vgl. statt vieler: Othmar Jauernig, Bürgerliches Gesetzbuch, 2. Auf!. 1981, § 950 Anm. 1 und 3 d. Rechtspolitische Erklärung und Kritik dieses Verständnisses bei Fritz Fabricius, Marktwirtschaft und Mitbestimmung, 1977, S. 63 f., 68 ff.
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2. Kap.: De lege lata (nach geltendem Gesetz)
(3) Der Streit wäre rechtlich entschieden, jedes Interesse der Arbeitnehmer über den Lohnanspruch hinaus wäre zurückgewiesen, wenn einzig das BGB die Rechtslage bestimmen würde. Doch das bürgerlichrechtliche Modell für den Produktionsprozeß ist überlagert durch ein anderes Ordnungsgebilde: durch die Betriebsverfassung. Die ursprüngliche Regelung, die das BGB jedem Arbeitsverhältnis gegeben hat, ist modifiziert durch das jüngere Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG). Begreifen läßt die Betriebsverfassung sich als ein Instrument gegen die traditionelle Herrschaft des Arbeitgebers über den Betrieb (Herrschaft im Betrieb); ein Werkzeug gegen jene weitgefaßte Verfügungsmacht über erworbene Arbeitskraft, die man aus dem Arbeitsvertrag abzuleiten pflegt. Statt Objekte fremder Entscheidung zu sein, sollen die Arbeitnehmer eines Betriebs - nicht unmittelbar, sondern vertreten durch ihren Betriebsrat - an fälligen Entscheidungen mitwirken. Die Arbeitnehmer wählen aus ihrer Mitte den Betriebsrat für eine Amtszeit von drei Jahren; dieser, ihr Repräsentant, bringt gegenüber dem Arbeitgeber ihre Interessen zur Sprache - und auch zur Geltung (??). Zwingend vorgeschrieben ist die Betriebsratswahl jedoch nicht; sie durchzuführen, ist den Arbeitnehmern anheimgestellt. Manche Betriebe, zum al Kleinbetriebe sind nicht betriebsratsfähig (§§ 1, 118 BetrVG). Im betriebsratslosen Betrieb bleibt dem Arbeitgeber die arbeitsvertraglich vermittelte Macht unverkürzt. Unterstellt, in den Fabriken der Gebrüder S. gab es einen Betriebsrat: konnte er den Gang in die Pleite verhindern? Das BetrVG sieht für den Betriebsrat mancherlei Mitbestimmungsrechte vor, insbesondere wenn es um Reglementierung des Verhaltens im Betrieb geht 32 • Soweit die Mitbestimmung reicht, darf in aller Regel der Arbeitgeber nicht allein entscheiden, ist vielmehr Konsens zwischen beiden "Betriebspartnern" erforderlich. Hätte der Betriebsrat über die Gewinnverwendung mitzubestimmen, so wäre eine Barriere gegen beliebige "Privatisierung" des Gewinns errichtet. Diese Befugnis jedoch - ein Mitbestimmungsrecht in dieser Frage - versagt das BetrVG. über die finanzielle Lage des Unternehmens und über Investitionsvorhaben muß (in Unternehmen mit mehr als 100 Arbeitnehmern) der Unternehmer seinen "Betriebspartner" zwar unterrichten, beide Seiten müssen die Angelegenheit miteinander "beraten" (§§ 106, 107 BetrVG). Die fälligen Entscheidungen aber trifft der Unternehmer unabhängig hiervon. Gegen die Mitteilung der Brüder S., man werde das Bugatti-Museum 32 Hierauf war die Perspektive der Betriebsverfassung von Anbeginn an zugeschnitten; vgl. zur Genesis z. B. die Skizze von Wolfgang Däubler, Das Arbeitsrecht (rororo aktuell 4057), Kap. 6.1. Ausführlicher Hans Jürgen Teuteberg, Geschichte der industriellen Mitbestimmung in Deutschland, 1961; Walfgang Hramadka, Die Arbeitsordnung im Wandel der Zeit, 1979.
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vorantreiben, Investitionen seien nicht geplant: gegen diese Geschäftspolitik wäre ein Betriebsrat machtlos gewesen. (Der Vorbehalt, den das Anführungszeichen um den gängigen Ausdruck "Betriebspartner" anbringt, ist also berechtigt. Die Partnerschaft stößt bald an ihre Grenze, sie reicht nicht weiter als das Konsensprinzip. Jenseits davon beginnt Herrschaft - wenn sie nicht gar in den Konsens sich einschleicht, weil die Gleichmächtigkeit der "Betriebspartner" fehlt.) (4) Nicht ganz so wehrlos sind die Arbeitnehmer dem Bescheid ausgeliefert, daß das Unternehmen stillgelegt werde. Verhindern kann der Betriebsrat die Stillegung freilich nicht. Immerhin aber kann er über den Preis mitbestimmen, den der Unternehmer für die Liquidation der Arbeitsplätze zahlen soll. Der Betriebsrat darf Entschädigungen (Abfindungen) für die betroffenen Arbeitnehmer verlangen; hierüber muß der Unternehmer verhandeln, die "Betriebspartner" müssen sich einigen. Für den Fall, daß die gütliche Einigung mißlingt, sieht das Gesetz ein besonderes Schlichtungsverfahren vor (§ 112 BetrVG). Die rechtlich verbürgte Chance des Betriebsrats, eine Entschädigung durchzusetzen, ist Indiz für die Anerkennung von Arbeitnehmerinteressen am Gewinn. Das Recht fügt sich auf diese Weise der Einsicht, daß der Ertrag eines Unternehmens nicht bloß als Frucht des Kapitals anfällt, der "Faktor Arbeit" gleichermaßen Bedingung des Produktionserfolgs ist. Im selben Zug wird der Arbeitslohn zur Minimalbefriedigung erklärt: auf ihn ist das Interesse der Arbeitnehmer nicht reduziert, es ruht auch auf dem Gewinn (auf einem Gewinnanteil) als der Basis künftiger Produktion. Zum naheliegenden Schluß, dem Interesse selbst einen Weg zu eröffnen, den Weg der Mitbestimmung nämlich, ist das Betriebsverfassungsrecht nicht gelangt. Es läßt dem Unternehmer die Alleinentscheidung - wohl aber darf man sagen: der Gewinn(anteil) ist dem Unternehmer anvertraut. Wer das Interesse der Arbeitnehmer an "sinnvoller" Gewinnverwendung enttäuscht, wird mit Haftung bestraft. Im Fall S. wird daher letztlich ein Zugriff auf die "Bugattis" denkbar; dieser Fundus verbliebenen Unternehmervermögens kann zu Geld für die Entschädigungen werden. (übrigens: Bekämen die 6000 Arbeitnehmer wenigstens den Wert der halben Sammlung, in einem deutschen Fall S. schätzungsweise 15 Millionen Mark, so ergäbe sich bei gleicher Portionierung die Rate 15 000 000 DM : 6000 = 2500 DM. Ein bescheidener Erlös für den einzelnen, und eine Zerstörung der produktiven Potenz, die gebündeltes Kapital darstellt. Die Atomisierung von Produktivkraft zu Trostpreisen ist der unangemessenste Versuch, auf Arbeitnehmerinteressen einzugehen.) Bei der Teilung dessen, was vom Ertrag blieb, müssen die "Betriebspartner" noch einmal zusammenwirken ("vertrauensvolle" Zusammen-
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arbeit schreibt § 2 BetrVG ihnen vor: ein eher suspektes Attribut33). Das Teilungsverfahren gelingt nur, wenn in kritischer Zeit der Betriebsrat funktionsfähig bleibt. Resignation, überstürztes Ausscheiden aus dem Betrieb ... : vielerlei Ursachen, gesetzt durch ein vielleicht jähes Ende (eines Morgens sind die Fabriktore versperrt), bedrohen die Interessenverfolgung. Weil hieraus kein Rechtsverlust resultieren soll, bietet das Gesetz dem einzelnen Arbeitnehmer eine Notlösung an. Er darf beim Arbeitsgericht klagen und für sich eine Abfindung fordern (§ 113 BetrVG). Last und Risiken des Rechtswegs trägt dann jeder selbst. (5) Ein Verlangen nach Mitbestimmung, dem das Betriebsverfassungsgesetz nicht recht gibt, ist dennoch nicht endgültig abgewiesen. Die Rechtserwartung ist weiterzuleiten an andere Rechtsgrundlagen, die ihrem Namen zufolge Mitbestimmung vermitteln: an die Mitbestimmungsgesetze. Ihnen stellt der Fall S. die Frage, ob die Arbeitnehmer eine Gewinnverschwendung verhindern, Investitionen durchsetzen können (so daß manches Unternehmen nur zusammenbrach, weil die mögliche Rechtsausübung versäumt wurde?). Die Mitbestimmungsgesetze betreffen Unternehmen, die als Kapitalgesellschaften (insbesondere: Aktiengesellschaft, Gesellschaft mit beschränkter Haftung) organisiert sind. Andere Formen des Unternehmertums - den Einzelunternehmer, die Personengesellschaft - hat das geltende Recht bisher nicht an Einrichtungen zur Mitbestimmung gebunden, sieht man von der Betriebsverfassung ab. Eine Schlumpf-AG oder Schlumpf-GmbH immerhin wäre mitbestimmungspflichtig gewesen. In dieser Gesellschaft hätte ein Aufsichtsrat die Unternehmensleitung: die Tätigkeit des Vorstandes oder Geschäftsführers überwacht. Die Mitglieder des Aufsichtsrats wären teils von den Kapitaleignern (den Brüdern S.) gewählt worden, teils von den Arbeitnehmern der S.-Werke; Aufteilung des Kontrollorgans ist für die meisten Kapitalgesellschaften obligatorisch. Teilhabe an der Kontrolle ist der Weg, den die Mitbestimmungsgesetze für Arbeitnehmerinteressen eröffnen; Mitbestimmung ist hier anders angelegt als im Betriebsverfassungsrecht, das bei mitbestimmten Angelegenheiten Konsens zwischen den "Betriebspartnern" fordert. Doch auch die Mitüberwachung könnte genügen, um Interessen zur Geltung zu bringen. Die Tauglichkeit hierzu hängt von zwei Bedingungen ab: von der Zusammensetzung des Aufsichtsrats und von seinen Befugnissen. Das Unternehmen der Gebrüder S. war schon ruiniert, als das Mitbestimmungsgesetz von 1976 in Kraft trat. Nach vorherigem Recht stand den 33 Skeptisch-ironisch zu diesem Stückchen "politischer Rhetorik" Wilhelm Scheuerle, Befohlenes Vertrauen, in: Rechtsgeschichte und Rechtsdogmatik, Festschrift für Hermann Eichler (ed. Ursula Floßmann) 1977, S. 565 ff.
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Arbeitnehmern einer S.-Gesellschaft ein Drittel der Aufsichtsratssitze zu. Entscheidungen im Aufsichtsrat werden nach altem und neuem Recht als Mehrheitsbeschlüsse gefällt, auf Konsens kommt es nicht an. Gegen die Zwei-Drittel-Mehrheit der Eigner ist bei diesem Entscheidungsmodus die Arbeitnehmerseite apriori machtlos. Der Zufall müßte ihr Renegaten von der Gegenseite zuführen, damit sie ihre Interessen durchsetzen kann. Im Aufsichtsrat einer S.-Gesellschaft also hätten die Arbeitnehmer den Zusammenbruch sicherlich nicht verhindert. - Seit dem Jahr 1976 sind bei Unternehmen mit mehr als 2000 Arbeitnehmern die Sitze im Aufsichtsrat anders aufgeteilt, beide Fraktionen entsenden nunmehr gleich viele Vertreter. (Für Kapitalgesellschaften mit geringerer Arbeitnehmerzahl gilt die frühere Regelung weiter.) Wenigstens von der Zahl her scheinen die Arbeitnehmer dank neuem Recht in der Lage, Kontrolle wirksamer als bisher zu üben. Der Schluß von gleicher Zahl auf gleiche Chancen im Entscheidungsprozeß wäre indessen voreilig und verkehrt. Ihn widerlegt die Art, wie nach einer Abstimmung ein Patt - also die Konfrontation gerade bei harten, weil wesentlichen Konflikten - aufgelöst wird. In der zweiten Abstimmung zählt die Stimme des Aufsichtsratsvorsitzenden doppelt; und der Vorsitz fällt, dafür sorgt eine Vorschrift über Wahlmodalitäten (§ 27 Mitbestimmungsgesetz), in aller Regel den Anteilseignern der Gesellschaft zu. Auf diese Weise beherrscht die Eignerseite letztlich doch das Kontrollorgan. Wirkliche Parität, das heißt eine der Sitzverteilung entsprechende Gleichheit an Einfluß gibt es nur in Unternehmen der Montanindustrie; hierfür gelten besondere Gesetze. Auch bei unverkürzter Parität reicht die Mitbestimmung nicht weiter als die Zuständigkeit des Aufsichtsrats. Was nützt den Arbeitnehmern das gleiche Kontrollrecht, wenn wesentliche Entscheidungen an unkontrollierter Stelle getroffen werden?! über die Verwendung des Gewinns, den das Unternehmen erwirtschaftet hat, entscheiden die Eigner der Gesellschaft. Die Alleinaktionäre S. durften sich jede ihnen gutdünkende Dividende zusprechen. Allerdings ist der Aufsichtsrat auch "Personalchef" für die Unternehmensleitung; er bestellt und entläßt die top manager (die Vorstandsmitglieder oder Geschäftsführer). Die Unternehmensleiter sind in den Investitionsentscheidungen weithin frei, können hierdurch den Gewinn kurzhalten. Sie sind andererseits von der Mehrheit im Aufsichtsrat abhängig, außerhalb des Montanbereichs also von den Eignervertretern. Das Ergebnis: Mitbestimmung im Aufsichtsrat, so wie sie de lege lata besteht, hätte die Affaire S. kaum verhindert. Keinesfalls hätte sie den Arbeitnehmern garantiert, ihre Arbeitsplätze erfolgreich gegen die Oldtimer zu verteidigen.
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(6) Was Betriebsräten und Arbeitnehmervertretern im Aufsichtsrat versagt bleibt, die Mitentscheidung über den "Lohn" der Unternehmer (über Aufteilung des Gewinns in Unternehmereinkommen und Investitionsrate): an einer anderen Stelle im Rechtssystem ist dieses Ziel möglicherweise erreichbar. Es gibt ja auch die Gewerkschaften: Vereinigungen von Arbeitnehmern zur kollektiven Interessenverfolgung. Konnte eine Gewerkschaft, da sie die Arbeitsplätze durch die Sammelwut der Gebrüder S. gefährdet sah, nicht einen Kurswechsel fordern, ihn notfalls mit Streik erzwingen? Die Gewerkschaften haben das Recht, mit Unternehmern oder Unternehmerverbänden Tarifverträge abzuschließen. Vertragsthemen sind herkömmlicherweise die Arbeitsbedingungen: Lohnhöhe, Dauer der Arbeitszeit und des Urlaubs, Kündigungsfristen, Akkordnormen ... und so weiter. Die Regelungen aus dem Tarifvertrag gelten in den "tarifgebundenen" Arbeitsverhältnissen. Dem einzelnen Arbeitnehmer kommen sie gegen den - typischerweise mächtigeren - Arbeitgeber zur Hilfe: Kollektivmacht hat versucht, das Machtgefälle in der individuellen Beziehung auszugleichen. (Eine Macht, die nicht allein auf dem Zusammenschluß von Arbeitnehmern beruht, sondern vor allem auf dem Recht zum Streik.) Der Vorrang des Tarifvertrags vor individuellen Absprachen beugt der Chance des Arbeitgebers vor, den Inhalt des Arbeitsvertrags (Lohnhöhe, Arbeitszeit) zu diktieren. Zugleich verkürzt der Tarifvertrag das Feld für einseitige "Verfügungen" im Betrieb, denen laut herrschender Meinung der Arbeitnehmer sich vertraglich unterworfen habe (zum Beispiel Entscheidungen über das Arbeitstempo). - Ein Tarifvertrag, der einen Schritt weiter ginge, würde Gelegenheiten zur Arbeit nicht nur gestalten, er würde zu allererst solche Gelegenheiten sicherstellen. Zu diesem Zweck müßte der Unternehmer Investitionen (anstelle privater Gewinnentnahme) versprechen. Ein Streik, der angesichts legitimer Interessen der Arbeitnehmer am Gewinn seinerseits legitimierbar scheint, könnte dem Versprechen nachhelfen. Nun aber kommt es auf die Zuständigkeit der Gewerkschaften für Tarifabschlüsse an. Allein innerhalb der sogenannten Tarifautonomie darf eine Gewerkschaft den Tarifvertrag verlangen und erkämpfen. Je enger man dort die Grenzen faßt, um so mehr Spielraum bleibt dem Unternehmer für einseitige Entscheidungen; eine Freiheit, die ohnehin schon gegen Betriebsräte und gegen Arbeitnehmervertreter im unparitätischen Aufsichtsrat abgesichert ist. Die Lösung, nach welcher die Rechtssuche an dieser Stelle fahndet, liegt bereit, wenn auch nicht offenkundig und ausdrücklich; zu entnehmen ist sie dem Art. 9 Absatz 3 Grundgesetz:
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"Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet ..." Vereinigungen zu diesem Zweck sind Gewerkschaften wie Unternehmerverbände zweifellos. Die verbürgte Existenz, von der allein der Verfassungstext spricht, wäre sinnlos, wenn nicht zugleich die zweckgemäße Betätigung garantiert würde; diese Folgerung aus dem Text ist allgemein anerkannt. Das verfassungsrechtlich gesicherte Betätigungsfeld ist im Normtext genannt: die "Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen" . Eine hochabstrakte Formulierung, deren Auslegung Schwierigkeiten bereitet; vor dem Ergebnis liegt deshalb ein Auslegungsstreit, dokumentiert in verfassungsrechtlichen und arbeitsrechtlichen Schriften34 • In der Rechtswirklichkeit fehlen bisher Versuche, bis an die Grenze des Verfassungswortlauts zu gehen - was im Fall S. bedeuten würde: "Wirtschaftsbedingungen" durch einen Streik für Investitionen zu "fördern". Zwar haben die Gewerkschaften der Bundesrepublik Tarifverträge über "Rationalisierungsschutz" durchgesetzt. Geregelt sind darin jedoch immer nur Folgen einer Verschlechterung oder Vernichtung von Arbeitsplätzen, zum Beispiel Abfindungen für entlassene Arbeitnehmer (entsprechend § 112 BetrVG also). Kein derzeit gültiger Tarifvertrag aber legt die Verpflichtung auf, durch Investitionen Arbeitsplätze zu sichern; keine deutsche Gewerkschaft hat bisher für dieses Ziel einen Streik veranstaltet. Der Versuch würde zum Rechtsstreit führen, den schließlich das Bundesarbeitsgericht oder das Bundesverfassungsgericht zu entscheiden hätte. Das Unterfangen wäre riskant, bedenkt man, daß in der juristischen Literatur die Tendenz vorherrscht, die Gewerkschaften von einem "Kernbereich" der Unternehmerentscheidungen fernzuhalten. Das restriktive Verständnis zu Art. 9 Absatz 3 GG ist verbreiteter, wohl auch gründlicher theoretisch vorbereitet als die Gegenmeinung. So hätte denn im (importierten) Fall S. ein Streik für Arbeitsplätze, gegen "Bugattis", das bittere Ende kaum abgewendet, allenfalls die Gewerkschaftskasse mit Schadenersatz an die Unternehmer S. belastet. (Noch eine Geldquelle für die Sammlung ... ) (7) Das bisher skizzierte Recht erfaßt erst einen Ausschnitt aus dem Konflikt: die gestörten Arbeitsverhältnisse. Es zeigt die Arbeitnehmer der S.-Werke als Gläubiger; Löhne und Abfindungen sind zu begleichen. Mit ihren Forderungen treten die Arbeitnehmer jedoch in Konkurrenz zu anderen Gläubigern der Gebrüder S.: zu Darlehensgebern, 34 Den Meinungsstreit um die Grenzen der Tarifautonomie dokumentieren z. B. Herbert Wiedemann / Hermann StumPf, Tarifvertragsgesetz, Kommentar, 5. Aufl. 1977, Einleitung Rz. 159 ff.
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Warenlieferanten. Die Schuldner S. waren nicht mehr imstande, fällige Schulden zu tilgen; sie haben deshalb Konkurs angemeldet. Der Konkurs ist ein rechtliches Verfahren, in welchem nahezu das gesamte Vermögen eines Schuldners verwertet wird (nur wenige vollstreckungsfreie Gegenstände sind ausgenommen), um die Gläubigerschar zu befriedigen. Ein Konkursverwalter, vom Amtsgericht ernannt, übernimmt die Verwertung; der "Gemeinschuldner" (Schuldner einer Gläubigergemeinde) findet sich partiell entmündigt. Dies widerfährt auch den Gebrüdern S.; über ihr Vermögen verfügt von der Konkurseröffnung an der Verwalter. Er wird die Arbeitsverhältnisse in den S.-Werken kündigen. (Stattdessen dürfte er das Unternehmen weiterführen, wenn es "zu retten", das heißt rentabel zu machen wäre und genug Kreditgeber zustimmten. Ein im Fall S. nicht erreichbarer Ausgang.) Als neuer "Partner" des Betriebsrats wird der Konkursverwalter über Abfindungen nach § 112 BetrVG verhandeln; ihn müssen interessierte Arbeitnehmer verklagen, wenn die betriebsverfassungsrechtliche Auseinandersetzung scheitert (§ 113 BetrVG). Das Interesse der Kreditgeber, das der Verwalter ebenso wahren soll wie jenes der Arbeitsverhältnis-Gläubiger, dringt von vornherein auf geringe Abfindungsbeträge. Unterstellt, die Einigung über Abfindungen kam zustande: die darin vereinbarten Summen sind den Arbeitnehmern noch keineswegs sicher. Die Arbeitnehmer sind mit ihren Forderungen nur Gläubiger unter anderen. Der Erlös aus dem Schuldnervermögen, Erlös aus dem Verkauf der "Bugattis" zumal, wird möglichst an alle Gläubiger verteilt. Problemlos ist die Teilung nur, wo ausnahmsweise das vorhandene Vermögen sämtliche Schulden deckt. Für den umgekehrten Regelfall sieht das geltende Recht (die Konkursordnung) eine Hierarchie der Gläubiger vor. Je nach Art des Anspruchs werden Klassen von Gläubigern gebildet, und die nachrangige Klasse kommt erst zum Zug, wenn die Forderungen der vorherigen befriedigt sind. Auf dem letzten noch erfolgreichen Rang bringt ein ungenügender Vermögens rest nur anteilige Befriedigung. - Noch gut plaziert ist die Lohnfortzahlung für auslaufende Arbeitsverhältnisse; ihr folgen mit einiger Distanz die rückständigen Lohnforderungen aus den letzten sechs Monaten vor Konkurseröffnung (§ 59 Absatz 1 Nr. 2 und 3 mit § 60 Konkursordnung). Abfindungen hingegen haben einen kaum mittelmäßigen Rang (die Rechtsprechung stellt sie an den Anfang des § 61 Konkursordnung). Doch allen voran rangieren, als Spitzenreiter, die Gläubiger dinglich gesicherter Kredite; und mancher "Bugatti", den die Sammler S. noch besaßen, war gewiß längst zur Sicherheit an eine Kreditanstalt übereignet ... Die Arbeitnehmer müssen jedenfalls damit rechnen, daß ihr - ohnehin auf die Abfindung reduziertes - Interesse am Unterneh-
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mensgewinn auf einen bescheidenen Betrag schrumpft, vielleicht sogar bloß auf dem Papier existiert. (8) Warum nicht dieses happyend (?): ..Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel (1) können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden."
Das sozialisierte Unternehmen, vormals Eigentum der Gebrüder S., nunmehr von seinen Arbeitnehmern (vielmehr: seinen ..Werktätigen")gemeinsam geführt und betrieben: Art. 15 Grundgesetz erlaubt diese Lösung ausdrücklich. Die kühneren Rechtserwartungen hätten also doch Bestätigung gefunden, die pragmatische Mäßigung (oben 1. Kap. 111 1 c) traute dem geltenden Recht weniger zu, als es bietet ... Dem geltenden Recht?? Art. 15 Grundgesetz ist ein Satz, der schön sein mag - schade nur für seine (wenigen, jedenfalls einflußlosen) Anhänger, daß er keine Aussicht auf Wirklichkeit hat.
11. Merkmale der Gesetzlichkeit Zwei Dimensionen lassen sich an jedem Gesetz unterscheiden: die Wirkungsweise der Gesetzes/orm, und der Gesetzesinhalt (die gesetzliche Aussage). Was bedeutet und bewirkt eine Aussage, weil sie Gesetz ist? - diese Frage zielt auf die formale Seite. Angesprochen ist Gesetzlichkeit: ein Moment menschlicher Existenz, nämlich ein Auffangen der Lebensform Konflikt. Zur Gesetzesform hinzu kommt die Mitteilung, die ein Gesetz gibt; das erlösende Wort, nach welchem die Rechtssuche ausging. Die Unterscheidung in Form und Inhalt ist eine Abstraktion: sie trennt nicht real, hebt nur jeweils den einen oder anderen Aspekt hervor, erhebt ihn zum Thema gesonderten Nachdenkens. Pure Form ohne irgendeinen Sinn, ohne Sinneffekt besteht nicht; und jeder Inhalt ist von vornherein in eine formale Position gebracht: Norm zu sein oder Beschreibung oder Frage ... Der Zusammenhang macht sich immer wieder bemerkbar, zum Beispiel bei Auslegungsproblemen. (Der Ausdruck ,sollen' hat in gesetzlichen Anweisungen einen anderen Sinn als in der alltäglichen Überlegung, man "sollte" wieder einmal ein Buch lesen.) Im folgenden (unter dem Stichwort ,Gesetzlichkeit') wird das Formale der Gesetze näher betrachtet. Von einem aspektereichen Gefüge wird die Rede sein, und auch davon, wie die Gesetzesform sich in der Großen Alternative (1. Kap. Abschnitt IV) ausnimmt. Erste Vorstellungen vom Gesetz, in den Rechtserwartungen angedeutet, werden sich präzisieren. Stoff für die genauere Erkundung gibt die Lösung des Falles S. ab: Wie stellt Gesetzlichkeit
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sich in ihr dar? Diese Frage, auf Grundlagen zielend, führt nicht nur tiefer in den Fall, sondern ebenso schnell über ihn hinaus, zu einem allgemeineren
Muster, das in ihm (ausschnittweise) Anwendung findet. Da der Fall S. exemplarisch bleiben soll, schränkt er das Nachdenken über Gesetzlichkeit jedoch auch ein: der zivile Konflikt und das Zivilrecht als Instrument, ihn zu lösen, bestimmen die Betrachtungsweise. Es gibt auch Rechtslagen anderen Zuschnitts: den Streit zwischen Bürger und Staats"gewalt", zu bewältigen anhand des öffentlichen Rechts (KKW-Fall), und das Rechtsbedürfnis auf Unrecht hin, zu befriedigen (Tl) durch das Strafrecht. Wieweit der Gesetzesbegriff, reflektiert in zivilrechtlicher Perspektive, allgemeinste Merkmale der "Gesetzlichkeit überhaupt" mit abhandelt, sei hier dahingestellt. 1. Affirmation durch Gesetz
Ein fertiger Weg aus dem Konflikt wird vom Recht erwartet: der Weg sei vorgegeben, gesichert, verbürgt. Gegen die Unsicherheit des Konflikts setze das Recht etwas Festes! (Gegen ein Chaos der Möglichkeiten die Ordnung. Gegen den Streit die Entscheidung.) Tatsächlich sind es die Gesetze, an die eine Rechtssuche sich halten kann (bei denen sie Halt findet). Es gibt diese Quelle oder Grundlage der gesuchten Antwort, und die Antwort liegt darin (zumeist) bereit. Enttäuscht wird die Anfrage naturgemäß, wenn sie sich verirrt und ein verkehrtes (nicht "einschlägiges") Gesetz anspricht, sonst aber nur, wenn das einzig befragbare Gesetz (ausnahmsweise) lückenhaft ist. Meistens ist die Antwort vorhanden - ein garantieartiger Zug am Gesetz, der mehrerlei bedeutet: (1) Im Gesetz ist Recht affirmiert (affirmare = befestigen, bekräftigen, bestätigen). Gesetz ist das Rechtliche in seinem manifesten = greifbar-en, handhabbaren Zustand: man braucht nur ein Gesetzbuch aufzuschlagen (und als Verständnishilfe einen Kommentar oder ein Lehrbuch). Das Gegenteil zum festgelegten Recht wäre ein Recht im Ungefähren. Beispielsweise Recht aus dem Gefühl heraus: die spontane Reaktion auf einen Vorfall. Empörung über die Unternehmer Schlumpf, die so verantwortungslos handelten. Recht könnte zum Ausdruck, vielmehr zum Ausbruch kommen als antikapitalistische Wut (- die leicht umschlägt in antisozialistische Wut, wenn man aus der Zeitung erfährt, auf welch rüde, "frühkapitalistische" Art die Reichsbahndirektion der DDR ihre "Werktätigen" in Westberlin entläßt, kurzfristig und unversorgt auf die Straße setzt, und das zu Weihnachten; so geschehen Ende 1979). Affekt gegen die Arroganz der Macht, Mitleid mit Wehrlosen und Betrogenen: vielerlei Gestalt hat das gefühlte Recht. Es kann leicht reizbar sein bei dieser und jener Gelegenheit, wenn man es auch nicht im voraus absehen kann - rührt ein Vorfall das Rechtsgefühl an oder nicht? Auf wessen Seite wird es sich stellen, das Gefühl des unbeteiligten, aber Anteil nehmenden Mitbürgers? Ob es freilich präzisere Aus-
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kunft geben wird als den vagen Appell, den "Opfern" müsse geholfen werden? Und schließlich: Ist jede Emotion sogleich Rechtsgefühl; wodurch unterscheidet die rechtliche Emotion sich von "blindem" Haß, von "falschem" Mitleid? Offene Fragen! Im Gesetz hingegen sind die Lösungen bereitgestellt. Sie sind auf den Begriff gebracht, jedermann mag sie zur Kenntnis nehmen, gleichgültig ob ein aktueller Anlaß besteht. Sie sind unumstößlich; kein schwankendes Sentiment, sondern schwarz auf weiß nach Hause zu tragen. - Warum aber konnte die Lösungsskizze zum Fall S. dann nicht sicher angeben, ob Arbeitnehmer für Investitionen, gegen Gewinnverschwendung streiken dürfen? Wo ist die vorbereitete Antwort? Sie liegt tatsächlich fest, Art. 9 Absatz 3 Grundgesetz enthält sie. Man braucht - "nur" - den Gesetzestext auszulegen. Daß man den Text nicht ohne weiteres versteht, ist eine andere Sache, darf mit der sicheren Existenz des Gesetzes, das er mitteilt, nicht verwechselt werden. Und: Mehr, als Sprache zu leisten vermag, kann vom Gesetzestext vernünftigerweise niemand fordern. Es kann vorkommen, daß ein Gesetz keine Antwort auf eine Rechtsfrage (auf einen Streitfall) anbietet, wie sehr die Auslegung sich um den Gesetzestext auch bemüht. Dann ist eine Lücke ermittelt: eine Lücke im Gesetz, die nicht zwangsläufig Lücke in der Rechtsordnung ist. Eine Rechtserwartung, der es auf rechtliche statt der unfriedlichen Konfliktlösung unbedingt ankommt, muß in dieser Lage Rechtsquellen außerhalb des Gesetzes akzeptieren. Die Lücke im Gesetz zu schließen, muß (solange der Gesetzgeber tatenlos zusieht) zum Geschäft für den Richter werden, der den Streitfall zu entscheiden hat. Diesen Ausweg weist das Grundgesetz in Art. 20 Absatz 3: Die Rechtsprechung ist "an Gesetz und Recht gebunden". Der Verfassungstext setzt offenbar die Existenz von Recht voraus, auch wenn das affirmative Gesetz fehlt. Dieses Recht muß der Richter finden - oder erfinden? Bei akutem Konflikt in der Gesetzeslücke hilft weiter, daß ein Gericht am Werk ist und daß es die Aufgabe wahrnimmt, einen befriedenden Spruch zu verkünden. Allein die Funktion könnte dann als Grundlage für die Richterarbeit schon genügen, und vielleicht hat Art. 20 Absatz 3 Grundgesetz gar nichts "Höheres" im Sinn als den vorausgesetzten Befriedungsauftrag. (Also keine Verweisung an "Naturrecht" oder an "ewige Werte", die der Richter im gesetzesfreien Raum zu erkunden habe.) Nebenbei: Wie verhält es sich unter dem Aspekt Affirmation um das angloamerikanische Case law (Fallrecht)? Soweit es gilt, fehlt Gesetzesrecht. Andererseits ist Case law weder seiner Genesis noch seiner aktuellen Aufgabe nach ein Füller in einer weithin gesetzlich abgefaßten Rechtsordnung; im Gegenteil, es entstammt einem Rechtsdenken, das von vornherein auf richter8 Gast
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liche "Rechtsentdeckung" , nicht auf Legislative hin orientiert war. Deshalb ist es als eigene Form der Festlegung anstelle des Gesetzes zu verstehen. In einem Fallrecht-System bedeutet die Fallentscheidung zu allererst, daß eine andere Instanz als der Gesetzgeber, eben der Richter die Rechtsnorm gleichwohl "gibt". Gesetzlichkeit ist dadurch intendiert, auch wenn Gesetzesform - einiges Äußere der Form: der allgemein formulierte Satz, abgedruckt in einem Gesetzblatt - fehlt. Sodann: Im richterlichen Urteil ist die Norm mehr oder weniger deutlich, mehr oder weniger vollständig zum Ausdruck gekommen - jedenfalls hinreichend, um für einen anderen Streitfall als Präjudiz zu dienen. Diese hohe Einschätzung des Richterspruchs ist für eine gesetzte Rechtsordnung nicht systemimmanent, daher auch nicht geboten gegenüber Entscheidungen, die eine Gesetzeslücke schließen. Der nächste Richter mag die Lücke anders ausfüllen, wenn nur sein Andersentscheiden nicht selbst zum skandalon wird. (2) Da Recht festgelegt ist, legt es seinerseits fest. Das Gesetz wiTkt affirmativ auf die Lebensverhältnisse, die es betrifft. Jeder Konflikt entfaltet ein Reich der Möglichkeiten. Er lehrt, wie ein Lebensverhältnis gestaltet sein könnte. In jeder der kontroversen Rechtserwartungen zum Fall S. liegt ein eigenes Modell für den Produktionsprozeß: insgesamt ein Spektrum, das von der Unternehmerherrschaft über gemietete Arbeitskraft bis zur umfassenden Mitbestimmung der Arbeitnehmer (zu ihrer gleichberechtigten Mitwirkung an den Entscheidungen) reicht, dabei auch alle Mischformen aus partieller Herrschaft und partieller Mitbestimmung einschließt - auf eine der vielen denkbaren Synthesen ist offenbar das geltende Recht eingeschwenkt. Und das Spektrum wäre noch weiter gefaßt, von der Dienstmiete bis zum arbeitgeberlosen, selbstverwalteten ("sozialistischen") Betrieb, wenn die Rechtssuche radikaler angelegt worden wäre, ohne pragmatische Zweifel an Enteignung und Neuverteilung. Doch wie großzügig das Feld des Denkbaren und das schmälere Feld des Realmöglichen auch sein mochte, das Gesetz hat sich der Möglichkeiten bemächtigt; es verwehrt sie fast alle um der einen Wirklichkeit willen. Das Gesetz veTengt; metaphorisch gesprochen: es führt vom Horizont der Möglichkeiten zum Punkt der Realität. Die Verengung läßt sich noch als relativ begreifen, ein Rest an Gestaltungsfreiheit bleibt immerhin, wenn von Gesetzes wegen ein bestimmtes VeTfahTen einzuhalten ist. Soweit die Tarifautonomie gilt, behalten Konfliktparteien die Chance, den ihnen jeweils erträglichsten Kompromiß zu finden. (Der Fall S. bietet dazu kaum Anschauung; man denke jedoch an die alljährliche "Lohnrunde" der Tarifpartner.) Auf das einzige, allein rechte Resultat legen demgegenüber inhaltlich regelnde Vorschriften fest. Sie erfüllen von den denkbaren Rechtserwartungen eine einzige. (§ 950 BGB weist die Produkte dem HeTstelleT, niemandem sonst zu.) Verlust des Möglichen ist ein unumgänglicher Preis für Gesetzlichkeit.
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(3) Zudem: Gesetze haben das Reich der Möglichkeiten, an dessen Stelle sie gesetzt sind, apriori (von vornherein) beseitigt. Es zu denken, scheint daher überflüssig, jede vom Gesetz abweichende Erwartung ein Trugbild. Eine andere Lösung als die vorgeschriebene läßt sich nicht verwirklichen, jedenfalls nicht mit Hilfe des staatlichen Apparats, der im Konflikt auf seiten des Berechtigten steht (stehen soll, der Idee des Rechts zufolge). Der Versuch, das Nicht-Gesetzliche dennoch durchzusetzen, wird schnell zum Unrecht, Sanktionen drohen ihm ... Bei dieser Einengung ist es vielleicht gar nicht mehr sinnvoll, die Kategorie "Konflikt" immer wieder auf jeden einzelnen Rechtsfall anzuwenden. Denn ist im Gesetz nicht alles schon festgelegt, sobald in der Gesellschaft Widerspruch anhebt, dargestellt durch vermeintliche "Rechts"erwartungen? Wenn "eigentlich" der Streit beginnen würde (um ausgetragen und schließlich entschieden zu werden): im Auftakt zum Konflikt genügt es offenbar, das zuständige Gesetz abzurufen. Auf eine bloß mehr "rhetorische" Frage, so könnte man meinen, halte das Gesetz die Antwort längst bereit. Allenfalls werde die Illusion eines Konflikts gepflegt - oder die Erinnerung an den einstmals "wirklichen" Konflikt -, während objektiv das Gesetzliche, diese eine, verbürgte Wirklichkeit eintrete. Ein Rest von Konflikt sei nur dort erlebbar, wo das Gesetz auf inhaltlich definitive Lösung verzichtet hat und sich mit der Vorgabe eines Lösungsverfahrens begnügt. Oder ist, bei definitiver Regelung, die gesetzliche Reduktion nicht sogar noch strenger? Das erfolgreiche Gesetz greife nach dem Konflikt nicht erst, sobald er auszubrechen drohe, es h"abe schon dem drohenden Ausbruch vorgebeugt! Anstelle des Konflikts (der Gelegenheit, zu streiten) habe es Normalität errichtet: so, wie vorgeschrieben, laufe die Wirklichkeit friedlich und unbezweifelt ab. Am Beispiel des § 950 BGB erläutert: Diese Vorschrift habe ihr Ziel erreicht, wo immer ein Streit um das Produkt und um die Verfügungsrnacht des Unternehmers nicht aufkommt. - Das Gesetz hätte hiernach den Auftrag, Konfliktlagen eine möglichst kurze Lebensdauer zu bereiten. Im Idealfall käme ein Konflikt nur ein einziges Mal auf, er würde kurzerhand durch ein Gesetz gelöst und zugleich aus der Welt geschafft. "Wiederholen" könnte er sich von da an lediglich aus Irrtum: weil das fällige Normale unbekannt ist oder bezweifelt wird, ein Zweifler den Rechtsgang (wider alle Vernunft?) riskiert. (Sinnvoller neuer Streit beträfe nicht das Recht, sondern die Tatsachen: Was geschah in diesem und jenem Fall, welche Ereignisse sind anzunehmen, damit die rechtlichen Konsequenzen eintreten können?) Die scheinbare Neuauflage des Konflikts als Streit ums Recht jedoch: wie könne man bei ihr von einer "wahrhaftigen" Auseinandersetzung um Möglichkeiten sprechen, da es im Rechts"streit" nur darum gehe, einen irrenden Zweifler zu belehren. Bei voll-
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kommen wirksamem Gesetz schließlich entfielen derartige "Störungen", nichts stieße noch einmal zur gleichen Rechtssuche an, das Leben verliefe in den Bahnen des vermiedenen Konflikts. Die als selbstverständlich gelebte Norm hätte freilich den ursprünglichen Rechtszweck schon wieder verloren, Antwort auf dringliches Fragen zu geben. Alltag würde Recht ersetzen. Wenn man so will: Recht kehrt zurück ins "An sich", in die "Unmittelbarkeit" (Fn. 13), in der es als Recht vergessen wird; nur noch seine Tatsachen bleiben. (4) Der norwegische Soziologe Nils Christie beklagte vor einigen Jahren35 , daß Konflikte per Gesetz "enteignet" würden. Sie würden den Beteiligten weggenommen, verschwänden entweder völlig oder gingen über in das "Eigentum" anderer Leute, der Juristen zumal. In der modernen Gesellschaft habe der einzelne nicht zu viele Konflikte auszutragen, sondern zu wenige. Konflikte seien ein wesentliches Medium der EXistenz, durch sie nehme der Mensch an der Gesellschaft teil. Für viele jedoch werde die Teilnahmechance immer geringer, die Gelegenheit zur Selbstverwirklichung im Konflikt immer spärlicher. Gewiß, Konflikte könnten tödlich enden; ein Defizit an Konflikten aber paralysiere, der Mangel lege das Leben lahm. Ein Kritiker wandte gegen Christies Vorstellungen ein, es wäre unsinnig, Konflikte zwischen Autofahrern "auf der persönlichen Ebene" lösen zu wollen. Tatsächlich läßt das Straßenverkehrsrecht sich als Beleg dafür nennen, wie weitgehend bereits die Gelegenheit zu Konflikten gesetzlich abgeschafft ist. An einer Straßenkreuzung wird üblicherweise nicht um die Vorfahrt gestritten, es waltet ein modus vivendi: eine Reihenfolge, nach welcher der Verkehr wie selbstverständlich fließt. Gelegenheit zum Konflikt verschafft sich und den betroffenen anderen erst der Gesetzesbrecher. Wie die so gewonnene Entfaltungschance zu nutzen sei, lehrte Christie anhand einer Episode aus der chinesischen Kulturrevolution: Ein Passant habe die Straße bei roter Ampel überquert und einen Bus zum scharfen Bremsen gezwungen. Die erschreckten und verärgerten Fahrgäste hätten mit dem Täter diskutiert, bis er zugab, "bourgeois" gehandelt zu haben ... - Solche Erlebnisse haben Gesetzgeber weltweit zu zerstören versucht; vermutlich auch der chinesische Gesetzgeber, indem er der Verkehrsampel mit Bußandrohung Respekt zu verschaffen trachtet. Das gesetzliche Lösungsmuster wäre gewesen: die Fahrgäste halten den Täter fest, rufen nach der Polizei, einige Paragraphen und ihre professionellen Vollstrecker sorgen für die Rechtsfolgen. Erst als diese Prozedur "revolutionär überwunden" war, keine Vorschrift die Konfliktlage einengte - da erst brachte die Situation dem Täter Selbsterkenntnis, den Opfern eine Genugtuung, die sie sich erarbeiten, verdienen mußten. Welch ein Aufwand an Staatsapparat wurde zudem vermieden; wie maßlos wäre er gewesen, da er doch nur eine kurze (1) Diskussion am Straßenrand verhindert und ersetzt hätte I Keiner Gewalt galt es vorzubeugen, keinem Fall von Lynchjustiz. Allerdings war der gesetzesfreie Lauf der Dinge - dies, daß alles so gut gehen würde - vorher nicht absehbar. Ein schmales Feld für legal erlebbaren Konflikt (con-flictus, wörtlich: Zusammen-geraten; die Etymologie könnte für Christie sprechen) bietet immer35 In einem Vortrag auf dem 18. Deutschen Soziologentag im September 1976; veröffentlicht im hektographierten "Informationsbrief der Sektion Rechtssoziologie" Nr. 12/1976.
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hin der Fall S.: den Streit um die Abfindung. Nun freilich könnte Christie die Enteignung ursprünglicher Konfliktteilnehmer (vielmehr Teilhaber) durch das geltende Recht rügen. Den Arbeitnehmern ist zunächst der Konflikt weggenommen, an ihrer Stelle darf der Betriebsrat ihn austragen. Mißlingt die Stellvertretung, nach Christie eine Stellvertretung in der Existenz, dann fällt zwar die Initiative an den einzelnen Arbeitnehmer zurück. Doch bleibt ihm wenig zu tun, er darf lediglich auf Abfindung klagen; und schon ist sein Streit ihm wieder entzogen, drei Arbeitsrichter (das zuständige, mit drei Personen besetzte Gericht) bekommen den Konflikt übereignet, leben ihn aus. Radikaler noch sind bankrotte Unternehmer ausgeschaltet, ent-gesellschaftet, nahezu totgestellt; fast ihre ganze Existenz ..gehört" bis auf weiteres dem Konkursverwalter ...
Sympathie müßte Christie hingegen für einige .. rechtsfreie" Ereignisse empfinden, die zur ..historischen" Affaire Schlumpf gehören. Arbeiter der S.Werke, empört über die Pleite, belagerten die Brüder S. in deren Villa. Nach einigen Tagen Belagerung gelang es den Brüdern, nachts und unter Polizeischutz ihr Haus zu verlassen; sie zogen sich auf ihr günstig plaziertes Altenteil in die Schweiz zurück. Daraufhin besetzten die Arbeiter das Schlumpf'sche Automuseum in Muhlhouse und eröffneten es für den Publikumsverkehr. Die Besetzung dauerte 744 Tage; allein im Jahr 1977 erwirtschafteten die Besetzer 1,3 Millionen Francs Eintrittsgeld. (Der Erlös wurde vermutlich für unterstützungsbedürftige Kollegen verwendet.) Nachdem die letzten Besetzer wieder einen Arbeitsplatz gefunden hatten, gaben sie den Museumsbetrieb auf und überreichten die Schlüssel dem Konkursverwalter. - Ein in die .. deutsche Gesetzlichkeit" nicht übertragbarer Gang der EreignisseI Stünde nicht schon die Disziplin deutscher Arbeiter dagegen, so hätte gewiß ein Großeinsatz der Polizei die .. Ausschreitung" frühzeitig (und unter fast allgemeinem Beifall) beendet. Statt Eintrittsgeld hätten die Täter Strafverfahren und Verurteilung .. verdient", für Landfriedensbruch, Hausfriedensbruch, Freiheitsberaubung, Nötigung, Sachbeschädigung ... Straferschwerend: die Überflüssigkeit der Aktion, da doch jeder arbeitslos gewordene ..Mitarbeiter" des S.-Unternehmens Anspruch auf staatliche Unterstützung hatte. (Solche Wucht entwickeln die Gesetze, nur um eine so friedlich wie befriedigend verlaufene Selbsthilfe Betrogener zu verhindern? Wo bleibt das Maß?) Zum Einwand gegen Gesetzlichkeit taugt das Exempel geglückter Selbsthilfe indessen nicht. Den glücklichen Verlauf im .. rechts freien Raum" konnte niemand gewährleisten, das Gelingen war auch im Elsaß purer Zufall. Spontaneität ist ..ihrem Wesen nach" immer riskant, ihr fehlt die hemmende Schwelle, die das Gesetz vor Exzesse legt. Sie wirkt ansteckend und müßte, würde sie zum allgemeinen Prinzip, aller Voraussicht nach in Hobbes' ..bellum omnium" enden. Ohne Verallgemeinerung jedoch wäre sie keine Alternative zum Recht und in den Ausnahmefällen, die man ihr zubilligen wollte, kaum zu legitimieren. Und Christies kleines Lehrstück aus China? Wem es gefällt, der denke sich in den Bus, unterwegs zu einem ersehnten Ziel - und an der fünften gesetzesfreien Kreuzung wäre, mit Freundlichkeit und Geduld, der fünfte Mitbürger zur Einsicht zu bewegen, er habe .. asozial" gehandelt ...
Gegen ausgeprägte Lust auf Konflikte ist an den Steg von Masirah oder an Hobbes zu erinnern. nie Vorstellung andererseits, Gesetze hätten Konflikte aus der Welt geschafft, hätten nur Mechanik übrig-
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gelassen, als ultima ratio bürokratische Mechanismen gegen Gesetzesbrecher: diese Sicht traut oder mutet dem Gesetz womöglich allzuviel zu. Gewiß darf man (im Postulat wie empirisch) von den Gesetzen sagen, sie versuchten, an die Stelle möglicher Konflikte Normalität zu setzen. Wieweit dieser Versuch - ein "Selbstmordversuch" des Rechts - gelingt (gelingen kann), ist eine andere Frage. (5) Das Straßenverkehrsrecht, nach Christie ein Alp von Unfreiheit (rote Ampel für Fußgänger, das nächste Fahrzeug in "sicherer" Ferne: wie tief wäre der Mensch in den Automatismus abgesunken, wenn er auf das Lichtzeichen hin stehenbliebe!?) - dieses dichte Netzwerk aus Gesetzen ist doch kein totaler (totalitärer) Erfolg. Mit Blick: auf realmögliche Konflikte erdacht, hat es, statt die konfliktträchtige Praxis sich selbst zu überlassen, ihr ein Vorbild ungestörten ("normalen") Ablaufs gegeben. Vorbilder aber sind verletzbar: sie liegen nicht in den Verhältnissen gleich Naturgesetzen, intendieren vielmehr, sich ordnend über sie zu legen. Daß das Leben sich nach dem Gesetz richte, ist die gewohnte Vermutung. Dennoch - ob wohl jemals ein einziger Konflikt mehr zustande käme, wenn alle Verkehrszeichen und Vorschriften entfielen, nie gesetzt worden wären; ob nicht das faktische System Straßenverkehr "sich selbst" genauso (un)sicher betreiben und erhalten könnte und dieselben Unfälle produzieren würde? Zweifel an der vorbeugenden Kraft des Rechts ist so abwegig nicht, er kann Gründe anführen. Normalität (Konfliktlosigkeit) dem Gesetz als Leistung anzurechnen, weil es das Normale beschreibe: dagegen zeugt jeder Verkehrsstrom, der um 20 Stundenkilometer zu schnell, mithin illegal fließt und dennoch konfliktfrei bleibt. Während also der Wert des (Straßenverkehrs-)Rechts für den Normalfall ein Thema ist, über das man streiten kann (oder auch nicht zu streiten braucht, weil Anstoß und klärender Anhaltspunkt fehlen), spielen dieselben Gesetze ihre nachprüfbare Rolle im angerichteten Konflikt. Er ist die Stunde des Gesetzes, am Konflikt muß das Gesetz sich erweisen; es entfaltet nun seine genuine Wirklichkeit, die sich empirisch beschreiben läßt (auch bald ausführlich beschrieben werden soll). Und auch zu den logischen Bedingungen der Konfliktlösung gehört der Bezug aufs Normale. Man denke an den Haftungsprozeß: für ihn stellt ein Gesetz dar, wie konfliktlos zu handeln gewesen wäre; dieses Gesetz gibt den Maßstab, den Störer (den "Schuldigen") zu ermitteln, ihm Verantwortung anzulasten. Das Vorbild für konfliktloses Handeln ist Teil der Rechtsgrundlage, sobald man über die Abweichung rechtet. - Affirmation als Merkmal von Gesetzen bedeutet jedenfalls eines nicht: Konfliktersetzung. (Womit noch nicht die Meinung widerlegt ist, Gesetze hielten aber den Konfliktausgang schon immer besetzt.)
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Recht, das durch Bilder des Normalen den Konflikt zunächst vergessen läßt (bis er eintritt und nach Recht ruft), ist ein vorhandener Normentypus. Das Straßenverkehrsrecht ist dafür exemplarisch. Andere Rechtsmaterien sind dem Konflikt von vornherein näher, nämlich deutlich auf ihn ausgerichtet. So das Recht der unerlaubten Handlungen, das mit der Darstellung von Konfliktstoff beginnt ("Wer ... das Eigentum ... eines anderen widerrechtlich verletzt, ...") und den rechtlichen Weg daraus weist (" ... , ist dem anderen zum Ersatze des daraus entstehenden Schadens verpflichtet"). Vorschriften dieses Typs behandeln offen Konflikte und deren Lösungen, das Normale führen sie nur implizit mit. (Hier ist es: Respekt vor fremdem Eigentum.) Der Zuschnitt des Gesetzes zeigt so das Wesentliche des Rechts an: das Gesetz wäre überflüssig, gäbe es den Konflikt nicht; es kommt zum Zug, wo der Konflikt waltet, und es erledigt sich jeweils wieder in den konfliktlösenden Tatsachen. Eine Wirkung, die nun allerdings zu dem Befund zwingt: Affirmation heißt, daß der Konfliktausgang von vornherein rechtlich besetzt ist. (Woraufhin noch immer eine andere Frage bleibt: Wie strikt ist der Ausgang festgelegt?) Unter dem Gesichtspunkt "affirmierende Wirkung" muß schließlich ein dritter Gesetzestyp erwähnt werden. Bei dieser Rechtslage (der Fall S. gehört dorthin) ist der Konflikt gesetzlich konserviert. Er bildet den Grundzug (die Struktur) rechtlich erfaßter Wirklichkeit. Der Fall S. beruht auf einem fundamentalen Gegensatz von Interessen: die Gewinn- und Machtinteressen der Unternehmer stehen den Interessen der Arbeitnehmer an sicherem, maximalem Lohn und an selbstbestimmter Produktivität (Arbeit als eine Gelegenheit zur "Selbstverwirklichung") gegenüber. Das geltende (Arbeits-)Recht spiegelt diesen Gegensatz, legalisiert ihn, bemüht sich aber zugleich, ihn still zu halten (da es ihn nicht stillegen = abschaffen soll oder kann). § 611 BGB führt wichtige Momente des so wirkenden Rechts vor. Im Arbeitsvertrag, den die Vorschrift als Austausch von Diensten gegen Entgelt definiert, ist die kapitalistische Produktionsweise mit ihrer typischen Konfliktstruktur zu allererst bestätigt. Zugleich ist der Vertrag als Lösungsmodus vorgeschrieben - für eine Lösung, die nicht Auflösung ist (kein Gang in eine konfliktlose Zukunft), sondern dauerndes friedliches Betreiben. Das Vertragsrecht strebt nach einer Normalität, die den Grundkonflikt überspielt, überdeckt, es richtet sie mit den Arbeitsverhältnissen ein. Darin wird der Konflikt permanent ausgetragen, er ist der zugrundeliegende Zustand. Jede Sekunde Vertragserfüllung aber bedeutet auch Erledigung: einen Punkt nur auf der Konfliktlinie, doch einen Ruhepunkt immerhin; friedlich durchlebten Konflikt. Ein Stück des "eigentlich" ungelösten Zustands ist friedlich überstanden. - Von der Relation, nach welcher die widerstreitenden Interessen für den Augen-
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blick befriedigt (?) - eher beruhigt - werden sollen, spricht § 611 BGB ebenfalls, zumindest andeutungsweise. Daß ein Vertrag den Konflikt aufzufangen habe, läßt an Ausgleich denken. Das rechtsdogmatisch übliche Verständnis hingegen nimmt gekaufte Herrschaft des Unternehmers an; einen Modus, der durchaus friedfertig funktionieren kann. Jedoch haben Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats und das Tarifvertragsrecht ihn vielfältig durchbrochen; wie man annehmen darf, um der befriedenden Wirkung willen. Im Unternehmen der Gebrüder S. wurde das Rechtsziel, friedliches überstehen des Grundkonflikts, eine Zeitlang erreicht. Dann aber wurden die Arbeitnehmer (eher: die Unternommenen) Opfer herrschaftlicher Entscheidungen und begehrten auf. Die Normalität an de~ Oberfläche erwies sich als zerbrechlich, der Konflikt darunter wurde augenfällig. Recht war daraufhin über das Maß "normaler" Beruhigung hinaus gefordert. In solcher Lage kommt die Gefahr auf, daß Konfliktteilnehmer aus dem Recht fallen; im Elsaß war dies mit der Belagerung der Unternehmer S., der Besetzung ihrer Sammlung geschehen. Das vorbereitete Gesetz hätte den Abfall vom Recht, den Wild wuchs des Konflikts verhindern müssen; nun wenigstens muß es die zur Krise gesteigerte Situation wieder einfangen, den friedlichen Betrieb wieder herstellen (in diesem Sinn den Konflikt "absorbieren"). Affirmation heißt dann: den Grundkonflikt durch Kurieren am Symptom wieder zuzudecken, ihm die Fassung eines friedlichen Lebensmodus zurückzugeben. (Oder weniger euphemistisch: ihn in diese Fassung wieder einzuzwängen.) (6) Der gesetzlich gefaßte Konflikt wird, wenn alles legal abläuft, getreu einem Muster durchlebt: einer Voraus-Beschreibung, die das Rechte allgemein, für viele Fälle, ansagt. Das Muster gilt, es ist "in Kraft": mit allem Nachdruck, den staatliche "Rechtspflege" (Justiz, zur Not auch Polizei) ihm leiht. Darüber jedoch darf man nicht vergessen, daß zunächst nur das Muster affirmiert ist, die Rechtslage seiner Allgemeinheit entsprechend feststeht. Zwischen dem Gesetz, das allgemein (vergröbernd, schematisch) ausfällt, und dem jeweils fälligen Resultat, das konkret (scharf und eng ge faßt) sein wird, liegt eine zu überbrückende Strecke. Daß auch sie ganz affirmiert wäre, die einzige Spur zum einzig annehmbaren Ergebnis, ist keineswegs gewiß. Vom allgemeinen Gesetz aus gelangt die Rechtssuche (nun schon Gesetzesanwendung) oft erst mit Anstrengung zur konkreten Rechtslage. Zwei überlegungen sprechen dafür, daß sie hierbei einigen Spielraum - die Last der Offenheit, Freiheit - haben könnte. Zum einen: Das Gesetz ist durch den amtlichen Text vorhanden, der es mitteilt; es ist deshalb allen Tücken der Sprache ausgeliefert. Das Ideal einer Ter-
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minologie, die nur eindeutige Ausdrücke verwendet und zwingend das eine, richtige Verständnis hervorruft, ist nicht einlösbar. Der Text verlangt nach Auslegung und bietet Varianten, Verständnismöglichkeiten zur Wahl an. (Daß sie in der Lösungsskizze zum Fall S. nicht mit angeführt sind, die Darstellung außer zu Art. 9 Absatz 3 Grundgesetz eher Gewißheit vorführt, darf nicht überschätzt werden. Es ist ja nicht gesagt, daß die Ergebnisse dem zwingenden Gesetzeswortlaut zu verdanken und unumstößlich seien.) Zum anderen: Das Gesetz steht als allgemeines Lösungsmuster konkreteren Umständen gegenüber: der immer konkreten Wirklichkeit des Konflikts und den konkret formulierten Lösungserwartungen. Allgemeines und Konkretes unterscheiden sich voneinander, die Aufgabe heißt, beides einander zuzuordnen. Diese Arbeit (die Subsumtion) ist so wenig ein Automatismus wie die Auslegung; dadurch wiederum sind der Affirmation Grenzen gezogen. Konfliktlösung "durch das Gesetz" wird sich eher als ein Lösungsverfahren mit Hilfe des Gesetzes erweisen. Der rechtliche Rahmen für eine Lösung ist allerdings vorgegeben; und der Aufenthalt in ihm ist affirmiert, teils durch die Sanktionierung des Rechtsbruchs, teils durch Justiz, die zur Hilfe kommt, wo den Konfliktparteien nicht schon "im Leben" eine gemeinsame Auslegung und Subsumtion gelingt. Gesetzesanwendung als Bewegung in einem allgemeinen Satz, von seinen möglichen Aussagen auf eine fällige Lösungswirklichkeit zu: dieser Gedanke nimmt von der Affirmation etlichen affirmativen Charakter. Nicht nur, daß Recht die Konflikte nicht ersetzt, nicht ausgerottet hat; sogar die bereitgestellte Lösung ist immer nur "relativ definitiv". Zwar definitiv: Produkte gehören dem Hersteller; Tarifverträge sind rechtens, wenn sie von Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen handeln. Gleichwohl bleibt die Festlegung ungefähr: Wer Hersteller ist und ob ein Vertrag über Investitionsquoten Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen (im Sinn des Art. 9 Grundgesetz) betrifft - darüber kann man streiten. Gewiß, die Rechtsanwender finden, sobald es darauf ankommt, zu dem konkreten Ergebnis. Nur: Kein logischer noch ontologischer (seinsmäßiger) Grund zwingt dazu oder garantiert dafür, daß im nächsten Konfliktfall wieder derselbe konkrete Schluß aus dem (definitiven) Gesetz gezogen wird wie im Fall zuvor. Ein Schluß, der auch da schon anders hätte ausfallen können. 2. Allgemeinheit des Gesetzes
Hierauf kam die Rede, als zuletzt die Affirmation subtiler angesprochen (und dadurch relativiert) wurde. Gesetze sind "Rahmen": diese Kennzeichnung besagt, daß sie zwar festlegen; zugleich aber ist die Beziehung zwischen Gesetz und Einzelfall als Spannung zwischen
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Allgemeinem und Konkretem erklärt. Das Gesetz und der Fall, für den es gilt, sind Antipoden. Das Gesetz ist mehr als der einzelne Fall: es gilt für viele Fälle. Und es ist weniger, in dem Sinn, daß es unbestimmter, unpräziser gerät, nicht so handgreiflich ("manifest") existiert. Abstraktheit heißt diese zweite Eigenschaft; die erste ist der generelle Zug jeder Regel (jeder Norm); beides trifft im Formaspekt Allgemeinheit zusammen. Von ihm hängt letztlich ab, welchen Grad der Festlegung das geltende Recht überhaupt bieten kann. a) Generalisierung
"Jenes Kleid, das die Näherin Marie Bonnard am 14. Juli 1973 nachmittags 14.37 MEZ im Werk A, Halle 3, Platz 92 fertig genäht in den Transportkorb legte, gehört(e) den Unternehmern Gebrüder Schlumpf." Zugegeben, der Sachverhalt ließe sich präziser darstellen: Welches war "jenes Kleid", wie sah es aus, hatte es eine Fabrikationsnummer ...? Wo auf der Welt lag "Werk A"? Der relativ genaue (oder ungenaue) Satz genügt jedoch für die hier beabsichtigte Demonstration. Er zeigt hinreichend deutlich, was ein "Einzelfall" ist. Ein Stück Wirklichkeit ist beschrieben - Marie B. legt das Kleid, das sie genäht hat, in einen Korb -, und zugleich ist eine Bedeutung des Vorgangs mitgeteilt: das Kleid gehört den Unternehmern S.; die latente Frage nach dem Eigentum ist zugunsten von S., gegen B. entschieden. Eine Entscheidung teilt der Satz mit, keine Norm oder Regel; denn er betrifft einzig den geschilderten Vorgang, klärt die Zuordnungsfrage nur für dies eine Kleid. Soll die Entscheidung zur Regel aufsteigen, so muß sie sich an mehreren Fällen wiederholen - sie muß allgemein = generell werden. Etwa: "Alle Kleider, die Marie Bonnard näht, gehören ..." Oder, wenn es nicht um die Produkte eines bestimmten Menschen geht: "Alle Kleider, die in den S.-Werken hergestellt werden, gehören den Unternehmern S." Weil aber nicht nur Kleider produziert werden (produziert wurden), sondern verschiedenartige Textilien: "Alle Erzeugnisse, die in den S.-Werken ... " - Die S.-Werke sind (waren) keine einmalige Einrichtung im Lande, es gibt viele Produktionsstätten. Wird für sie alle die Zuordnungsfrage einheitlich entschieden, dann ist endlich die Allgemeinheit des § 950 BGB erreicht: "Wer ... eine neue bewegliche Sache herstellt, erwirbt das Eigentum an der neuen Sache ..." Bis zu diesem Grad generalisieren die Gesetze üblicherweise. Sie sprechen eine nicht abschätzbare Zahl von Fällen an. Adressat ist keine individuelle Person in einer konkreten Lebenslage, sondern jedermann, der in die gesetzlich umrissenen Verhältnisse gerät, die gesetzten Merkmale erfüllt. So genau, wie ein Mensch in seinen realen Um-ständen sich darstellt, kann der generalisierte Text den Sachverhalt allerdings
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nie bezeichnen. Deshalb stoßen immer wieder Situationen zu der Frage an, ob gerade sie gemeint seien. Dem Prinzip nach ist jeder Rechtsstreit Gelegenheit für solchen Zweifel; die Allgemeinheit des Gesetzes fordert Zweifel überhaupt erst heraus. Ein Generelles läßt nicht sogleich wissen, ob das aktuelle Besondere ihm - oder vielleicht einem ganz anderen Generellen - zugehört. (Hat Marie Bonnard die Kleider "hergestellt", oder war sie vom Gesetz gar nicht gemeint?) Unwissenheit freilich ist ein subjektiver Mangel: einige Individuen wissen nicht, was in ihrer Lage rechtens ist. Objektiv ist es möglich, aus der Norm die Antwort abzuleiten. Gegeben ist die Antwort, wenn auch nicht als konkrete; sie ist nicht aufbereitet, wie die Nachfrage sie braucht. Dieser zweite Mangel indessen ist objektiver Art - und bei ihm beginnt die produktive Seite der Rechtserkenntnis. Das Produktive am Re-produzieren des gesetzlichen Musters.
b) Abstraktheit Wie der Geltungsbereich einer Entscheidung schrittweise anwächst, die Entscheidung zur Regel wird, haben die Sätze über Marie B. soeben gezeigt. An ihnen ist auch abzulesen, daß mit jedem Schritt die Mitteilung abstrakter gerät - und das bedeutet: die klare Aussage zu einem Stück Wirklichkeit sich verliert. Die Entscheidung über das eine, ganz bestimmte Kleid, das Marie B. in den Korb legte, läßt sich bestimmt (konkret) in Worte fassen. Den Vorgang gibt ein Satz oder Text wieder, der das Einmalige benennt und erfaßt und hierdurch selbst einmalig wird. Der Ausdruck ,Kleid' (beispielsweise) ist zwar ein Massenartikel, oftmals und vielfältig benutzbar. Doch zusammen mit allen Attributen, die dieses eine Kleid identifizieren (Angaben über Ort und Zeitpunkt der Herstellung, Herstellungsnummer und so weiter), wird ,Kleid' zum Namen der konkreten Sache; zur Kennzeichnung, die auf keine zweite Sache jemals zuträfe. Diese Bestimmtheit, die Verknüpfung mit dem einzelnen = konkreten Ding, zerbricht bei der ersten Generalisierung: "Alle Kleider, die Marie B. näht ... " Die Entscheidung, die das eine Kleid betraf, ist nun multipliziert: insoweit scheint allein ein quantitatives Moment verändert. Ausgedruckt wird die Veränderung dadurch, daß die einengenden Attribute zu ,Kleid' wegfallen; der Name fürs Einmalige wächst aus zum allgemeinen Namen für viele und vielerlei Dinge. Mit der Quantifizierung geht deshalb eine Veränderung im Sinn und Zweck (in der Qualität) des Ausdrucks einher: er wird abstrakt. Der abstrakte Ausdruck bezeichnet ungezählt viele Gegenstände, nimmt ihre Vielfalt, ihre unterschiedlichsten Erscheinungen in sich auf; er bedeutet dies alles, solange man überhaupt noch von einem Kleid sprechen kann:
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solange das Gemeinsame aller Kleider, das der Ausdruck meint, von Fall zu Fall feststellbar ist. Was der abstrakte Ausdruck "meint", sagen Definitionen aus, die ihm zugeordnet sind; sie zusammen bilden und nähren einen Begriff. Weil der Begriff, präsentiert durch den Ausdruck und präzisiert durch die Definitionen, vielerlei erfaßt, erfaßt und vermittelt (beschreibt) er das Einzelne nur ungefähr. Je reichhaltiger das Programm eines Begriffs ist - je mehr verschiedene Gegenstände er anspricht -, um so abstrakter, also ungefährer wird seine Auskunft. Die erste Abstraktion weg vom Namen dieses einen Kleides, hin zum Begriff "Kleid", scheint noch unproblematisch, die abstrakt gewordene Stelle noch immer eindeutig. Freilich, wenn Marie B. einen Rock näht: ist auch er Kleid im Sinn der Zuordnungs regel? Denn nur "alle Kleider, die Marie B. näht, gehören ... " Die Regel, so gefaßt, ist durch ihren Text und auf ihn affirmiert. Zweifel daran, was der Text "wirklich" sagt, wie weit er "tatsächlich" reicht, kommt dennoch leicht und früh (bei geringster Abstraktion) auf, angestoßen vom ungewohnten Lauf der Dinge. Diesen Verlauf aufzufangen, wenn er konflikthaft wird, ist allgemeinster Gesetzeszweck; der Gesetzeswortlaut aber leistet keineswegs prompten Dienst. Vielleicht ist ein Rock Kleid im Sinn der Regel, da der Text "Kleidungsstück" bedeuten, die Entscheidung für alle Kleidungsstücke dieselbe sein soll - oder man wird doch die Konsequenz ziehen müssen, daß der Rock Marie B. gehört ... ?! Statt wohlfeiler Antwort die Mühe der Auslegung: schon geringste Abstraktion kann dahin führen. Nun hat die Zuordnungsregel, die allein für (vielmehr gegen) Marie
B. -formuliert wurde, nicht das bei Gesetzen übliche Abstraktions-
niveau, die Distanz zur Fassung des § 950 BGB ist noch weit ...
Der Grad an Allgemeinheit, den Gesetze erreichen, ist historisch bedingt. Archaisches Recht kam meistens nur dazu, eng gefaßte Tatbestände zu regeln. "Gesetzt, ein Arzt hat jemandem . . . eine Fistel am Auge mittels des bronzenen Operationsmessers geöffnet und dadurch das Auge zerstört, so wird man ihm die Hand abschneiden." Eine für frühe Verallgemeinerung typische Vorschrift aus dem Codex Hammurabi. Andere Kunstfehler und Mißerfolge des Arztes sind bei diesem Abstraktionsgrad entweder in eigenen Vorschriften zu regeln; oder die gesetzliche Regelung fehlt, Lückenschließung durch Analogie oder Umkehrschluß steht zur Diskussion. . . . Die sehr exklusive Regel, Marie B. betreffend, taugt noch nicht zum Gesetz; zumindest auch die Adressaten einer Vorschrift werden abstrakt bestimmt ("Wer eine Sache herstellt ..."). Die generelle Anrede der Personen, ebenso der Gegenstände ("Sache" statt "Kleid"), diese Ausweitung der Quantität nach ergreift dann den ganzen Satz, mehrere oder alle seiner Wörter. Noch der grammatikalisch so genannte "bestimmte Artikel" wird dabei unbestimmt, weil er nicht
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mehr auf je die eine bestimmte Sache hinzeigt. Vor die Weite des Wortes findet die Rechtssuche sich gestellt, vor Probleme mithin: Was meint das Wort in diesem Satz, wie weit reichen Wort- und Satzinhalt, ist diese und jene konkrete Sachlage noch gemeint, erfaßt, mitgeregelt? In mancher Hinsicht bringt höhere Abstraktheit zwar auch Erleichterung: Die vorherige (durch geringere Abstraktheit bedingte) Frage, ob ein Rock "Kleid" sei, stellt sich nicht, wenn der Gesetzestext wie § 950 BGB von "Sachen" spricht; der weitere Begriff umfaßt alle Sachen. Das Problem jedoch, den gesetzlichen Begriff einzugrenzen das Ausmaß der Abstraktion zu ermitteln -, existiert im Kern unverändert, lediglich auf anderer Ebene. Etwa: Wie verhält es sich um die Zuordnung, wenn die "neue Sache" ein Kunstwerk oder eine patentfähige Erfindung verkörpert, daher mehr ist als nur "Sache" = Ding? Oder: Der Ausdruck "Stoff" in § 950 besagt von sich aus nicht, ob der Paragraph nur für die Textilindustrie gelte oder ob man "Grundstoff" mit Bezug auf jede Art Produktion lesen dürfe. Und wenn jeder Grundstoff gemeint ist: Sind die fertigen Fernsehröhren, die ein Gerätehersteller kaufte (ohne zu bezahlen; das Eigentum blieb beim Lieferanten) - sind diese Röhren, die in der Gerätefabrik X. in Geräte eingebaut werden, dann bloß "Stof!"? - Schließlich der "Hersteller": "Wer eine neue bewegliche Sache herstellt ...", lautet der Text in § 950. Kann Abstraktion so weit gehen, daß aller Erfahrung zuwider der Unternehmer S., der nie eine Maschine bediente, nie ein Stück Stoff zuschnitt und nähte, täglich viele hundert Kleidungsstücke "hergestellt" hat?? Fragen, die hier helfen sollen, das Prinzip "Loslösung" zu verdeutlichen! Von den konkreten Dingen und Ereignissen - der Szenerie einer Entscheidung - führt die Generalisierung hinweg, in den (immer abstrakten) Begriff. Die Anschauung, die der Fall gewährt, verliert sich, stattdessen dominiert das Medium: ein Text, der als Vermittler der Begriffe und Regeln übrig bleibt. Rechtssuche schließlich trifft nur noch den (Gesetzes-)Text an. Sogar wenn ein Gesetzgeber die Regel aus eigenen Erfahrungen abgeleitet hätte, diese Sachverhalte sind nicht mehr selbst, als Anhaltspunkte, gegenwärtig. An den Text muß die Rechtssuche sich halten. (Der "Wille des Gesetzgebers" sei zu erforschen: so lautet herkömmlich die AufgabensteIlung. Für diesen "Willen" jedoch gibt es nur einen wirklichen, autorisierten Anhalt: den Gesetzestext!) c) Auslegung und Subsumtion
Gesetzgebung macht sich die Mühe, eine Entscheidung, die zu Recht werden soll, ins Generelle und Abstrakte zu erheben. Der aktuelle Konflikt, das Bedürfnis nach Recht, stößt zur Umkehrung der Prozedur an: man möchte vom allgemein gehaltenen Text aus zur Entscheidung (zu-
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rück)finden. So gesehen, ist das Gesetz Transportmittel der vorbereiteten Lösung. Gesetzlichkeit drückt die Sorge aus, daß eine (als richtig gedachte) Entscheidung jederzeit wiederhol bar sein müsse. Gewähr für die Wiederholung schafft ein Gesetzgeber, indem er sie vorschreibt. Das Vor-schreiben ist eine komplexe Leistung. Die Entscheidung wird aufbereitet zum Weitersagen, sie wird also zum Inhalt eines Satzes; und der Satzinhalt wird so gefaßt, daß er generell zutrifft (das heißt alle Fälle, für welche die Wiederholung angebracht schien, erfassen wird). Der Rechts-Satz, vom entschiedenen Fall losgelöst = abstrahiert, ist zum Aufbewahrungsort der Entscheidung und ihrer Wiederholbarkeit geworden; aus ihm muß die Antwort entnommen werden, wann immer ein "passender" Konflikt zu Rechtsfragen anstößt. Die Wiederholung ist formalisiert zur Gesetzesanwendung: "Das Gesetz" (richtig: der Gesetzestext) sei auszulegen, der Einzelfall dem so entfalteten Gesetz zu subsumieren, das Streitige am Fall werde dadurch entschieden. Eine offenbar einfache Technik; doch man täusche sich nicht über die Untiefen in der Gesetze tradierenden Sprache ... (1) Rechtssuche läßt sich als Anfrage bei einem Gesetzestext begreifen, ob er für den zu entscheidenden Konflikt die Entscheidung bereithalte. Die Antwort fällt nicht von selbst an, die gesetzliche Entscheidung ist im Gesetzestext verborgen: in seiner Abstraktheit. Die Mühe, im abstrakten Text die Antwort auf den Fall zu entdecken, heißt Auslegung. Sie ist der Versuch, den Text in Richtung Streitfall "zum Reden zu bringen"; ein Versuch, unternommen in der Erwartung, das konkrete Herausgelegte werde den Fall betreffen. Auslegung als Gang vom Abstrakten zum Konkreten braucht ihre Methode. Sie darzustellen, ist Aufgabe der juristischen Methodenlehre (die hier nur kurz angesprochen, nicht vertieft werden so1l36). Auslegung ist letztlich immer Rechtfertigung des Ergebnisses: Rechtfertigung einer bestimmten Lesart. Kein Text ist so deutlich von sich aus, so bestimmt und bestimmend, daß er das resultierende Verständnis allein durch seinen "Wortsinn" tragen würde. Jedes Auslegungsergebnis, auch das vermeintlich wörtliche, verdankt sich zusätzlichen Gründen; sie erst verknüpfen ein geschriebenes Wort und dasselbe verstandene Wort miteinander. In der juristischen Begründung werden die Gründe expliziert: als Angaben, weshalb ein Satz dies und nichts anderes aussage. Die methodologisch einfachste Grundlage eines Resultats ist der Konsens der Beteiligten, die sich auf "ihren" Textinhalt geeinigt haben; die Einigung bindet Wortverständnis und Wortzeichen aneinander. Das andere Verfahren ist die Begründung durch Argumente, mit denen der zur Entscheidung bestellte Richter das amtliche Resultat bekräftigt. 38 Vorzüglich als übersicht über die juristischen Instrumente und als Gebrauchsanleitung: Friedrich Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976.
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(2) Wie wenig selbst auf den scheinbar klarsten, eindeutigen Wortlaut zu bauen ist, soll ein Beispiel zeigen. Das Betriebsverfassungsrecht schreibt vor, daß "Arbeitgeber und Betriebsrat ... jede parteipolitische Betätigung im Betrieb zu unterlassen" haben (§ 74 Absatz 2 BetrVG). Die Orts angabe "im Betrieb" scheint jeden Zweifel abzuwehren: deutlicher sei die politikfreie Zone nicht zu benennen ... B., Mitglied des Betriebsrats, möchte für "seine" politische Partei bei den Arbeitskollegen werben. B. kennt den Text des Betriebsverfassungsgesetzes; deshalb verteilt er seine Handzettel nach Arbeitsschluß zwei Meter vor dem Werkstor, auf öffentlichem Gehweg. Der Arbeitgeber ist hierüber verärgert, nimmt aber nach einem Blick ins Gesetz den Vorgang hin. Die Sache sei klar, man müsse eben mit solchen Ereignissen leben. - Der Konflikt, gelegt durch die Aktion des B. und den Widerwillen des Arbeitgebers, dauert nur kurz und bleibt unauffällig; er erledigt sich, nachdem der Arbeitgeber aus dem Gesetzestext gefolgert hat, daß Widerstand zwecklos sei, man miteinander auskommen müsse, als ob nichts geschehen wäre. Gesicherter Friede also für eine Marginalie am Rande des permanenten Grundkonflikts; Friede, der ohne das Gesetz nicht so schnell wiederhergestellt worden wäre. Letzter Grund hierfür war der Gesetzestext unbestreitbar; doch wie zwingend erwirkte er diesen Ausgang? Unterstellt, der Arbeitgeber hätte die Ortsangabe "im Betrieb" anders ausgelegt, die Bannmeile weiter gezogen: bis vor den Betrieb, nahe dem Betrieb. (Wie nahe jedoch? 20 oder 200 Meter?) Auf dieses Verständnis hin würde er den (vermeintlichen) Störer abmahnen, Unterlassung verlangen, mit Kündigung drohen. Hält B. an seiner Auslegung fest, so wird der - öffentlich und lauter gewordene - Streit vermutlich vor das Arbeitsgericht getragen. (Für die alltäglich anfallenden Konflikte zwischen den "Betriebspartnern" ist ein leicht begehbarer Rechtsweg eröffnet.) Dort hat der Arbeitgeber gute Aussichten, Recht zu bekommen; eine verbreitete Rechtsauffassung folgt ihm37 • Aber verläpt diese Auffassung denn nicht das Gesetz, hat sie nicht das klare ,im' mißachtet? Ein Versuch immerhin ist denkbar, auch für sie "Wörtlichkeit" zu reklamieren: ,im' sei nicht lokal, sondern funktional zu verstehen, wie bei der Formel "im Dienst". Doch abgesehen davon, daß dieser Rettungsversuch Mehrdeutigkeit eingesteht, auf das Wort allein also nicht bauen kann - er mißlingt im Beispielsfall. Denn der "Dienst" endet mit dem Ende der täglichen Arbeitszeit und erst danach verläßt B. das Betriebsgelände, um vor dem Betrieb politisch zu agieren. Die dem Arbeitgeber günstige Auslegung rechtfertigt sich darum nicht aus dem Wort, vielmehr aus dem Gesetzeszweck: Politik nahe dem Betrieb sei verboten, weil (oder insofern) sie in den Betrieb hineinwirke, daher der Politik auf dem Betriebsgelände gleichkomme. Eine Auslegung, die das Dativwort ,im' zum Akkusativ umdeutet: in den Betrieb ... Auslegung gibt das Äußere eines Wortes preis, um den gesetzlich gemeinten (?) - den argumentativ vermittelten (I!) - "Wortsinn" festzuhalten. (Ein Beispiel überraschender Auslegung angesichts des - scheinbar - so klaren Wortlauts findet sich noch im strafrechtlichen Zusammenhang unten, 3. Kap. III 3 (5): die talmudische Interpretation zu "Auge um Auge ......) 37
Peter G. Meisel, Politik im Betrieb, in: Recht der Arbeit 1976, S. 38
(40,42).
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2. Kap.: De lege lata (nach geltendem Gesetz)
(3) Die Konkurrenz der Lesarten - jener "privaten", die einen Konflikt kurzerhand befriedete, und der "herrschenden" Meinung, die per Judikatur "amtlich" werden könnte -: diese Konkurrenz ist noch ein Problem für sich. Die eine Auslegung hielt den Konflikt minimal, sorgte in geradezu idealer Weise für Frieden: der wesentliche Zweck des Rechts war erreicht. (Wenn aber B. Unruhe in den Betrieb trug? In aller Regel - "typischerweise" ist das gerichtlich verhängte Politikverbot nicht weniger unruheträchtig; Stoff für Strohfeuer in Pausengesprächen.) Doch wie günstig das erste Verständnis des Arbeitgebers auch wirken mochte, es weckt Kritik: Die Rechtslage stehe mit ihrem Geltungsanspruch dagegen, erheische "eigentlich" Vorrangl Verschiedene Mittel sind denkbar, um sie durchzusetzen: Korrektur der Wirklichkeit, sofern dies noch möglich ist (B. verteilt noch oder wiederum Flugblätter); ansonsten amtliche Belehrung für die Zukunft; dazu Bestrafung des vorherigen Irrtums (die "Betriebspartner" hätten aus der arbeitsrechtlichen Literatur "das Richtige" lernen können). Ob freilich solcher Nachdruck für die eine Auslegung angemessen wäre, da das andere Verständnis ebenso "sinnvoll" blieb: es hielt sich an den Text und wirkte auf rechtliche Art? Nur wer Richtigkeit absolut setzt, höher auch als die leicht erreichte Friedlichkeit, muß extremen Aufwand verlangen: Man dürfe das Falsche nicht auf sich beruhen lassen ... Das geltende (Arbeits-)Recht ist so eifrig nicht, es sieht weder Zwangsbelehrung vor noch Bestrafung für Fehlinterpretation des Betriebsverfassungsgesetzes. Es läßt mit divergierenden Auslegungen leben - ein vernünftiger Zug, solange die Unterschiedlichkeit der Praxis nicht selbst zum skändalon wird. Und sollte denn das Recht auf jeden Anstoß hin die Verhältnisse pur schematisch einebnen? Der hierfür nötige Aufwand kann mehr und schlimmere Unruhe provozieren, als wenn nur Divergenz zugemutet wird. Gewiß, die Gleichheit der Rechtslagen ist durch das Generelle des Gesetzes versprochen. Doch ebenso eröffnet das Gesetz durch seine Abstraktheit Möglichkeiten! Daher kann (darf) nicht jede Anwendung, die vom Präjudiz oder von "herrschender" Meinung abweicht, schon "falsch" - oder noch strenger geurteilt: Unrecht sein. Die Schwelle zum Unrecht, das Korrektur von Amts wegen und/Oder Sanktionen verdient, muß höher liegen. Sie bedarf zudem der eigenen Begründung, "Abweichung" allein rechtfertigt den Unrechtsvorwurf nicht. (4) Gesetzesauslegung bedeutet, die Konfliktlösung vom Gesetz(estext) aus zu betreiben. Der Gang zum Resultat ist Entfaltung und Präzisierung des Gesetzes (seines textlich vermittelten Inhalts). Aber nicht nur in dieser einen Richtung vollzieht sich die Entscheidungsarbeit, auch von einem konkreten Punkt her wird das Ergebnis gesucht: vom Konflikt aus. Allein als Auslegung wäre das Fallösen sogar nur unvollständig beschrieben, wie die Gegenprobe zeigen wird. Der Konflikt gibt den Anstoß zur Auslegung. Konflikthafte Wirklichkeit ist eine Verknüpfung aus zweifelsfreien und strittigen Elementen. Einerseits steht eine Situation fest, sind Tatsachen definitiv, hat etwas sich ereignet, woran es nichts zu deuten gibt. (Marie B., Arbeiterin in den S.-Werken, hat ein Kleid genäht ...) Andererseits sind aus Ereignissen Konsequenzen zu ziehen: Was soll werden? (Wem gehört
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das Kleid?) Der Konflikt ist Wirklichkeit mit offenen (unentschiedenen) Stellen, gesucht ist Fixierung. Vom Gesetz wird erwartet, daß es sie bereithält - also braucht man "nur" den Konflikt unter das Gesetz zu bringen. Fällig ist die Subsumtion. Subsumieren heißt: ein Besonderes als Anwendungsfall eines Allgemeinen zu erkennen. Das Besondere wird an gehöriger Stelle eingeordnet, im zuständigen Muster oder Prinzip untergebracht. Bei der Rechtsanwendung steht zudem mehr auf dem Spiel als nur das richtige Zusammenfügen; die Subsumtion geschieht, damit eine Frage beantwortet, ein Streit entschieden werde. Das unfertige Besondere (der "Fall") soll aus dem fertigen, entschiedenen Allgemeinen - nach Maßgabe des Allgemeinen - zu Ende gefertigt werden. Eine Prozedur, die in vereinfachter Darstellung so aussieht, als würde dem schon verstandenen Gesetz einiges Fallmaterial schlicht zugeführt und dann auf ein gesetzliches Echo gewartet. Aufgeschlüsselt betrachtet, zeigt sich eine dialektische (aus zwei Quellen gespeiste) Bewegung zwischen Streitfall und Gesetz. Ein Pendeln, auf den einen Pol zu, den anderen als Hintergedanken mit Leitfunktion im Kopf. Der Streitfall, sein Problem, lenkt die Suche nach Paragraphen und Rechtsgrundsätzen und die Auslegung der Texte; zugleich aber lenken Auslegung und vorgefaßte Rechtsgrundsätze die Formulierung des Problems. Die Grobstruktur der Subsumtion ist: Wenn a, dann b. 1. Obersatz = Norm: 2. Ansatz für den Fall x: x ist a. 3. Die Folgerung: Also trifft auf x auch b zu. Die Hauptarbeit des Subsumierens kommt in der naiv-logischen Darstellung nicht vor: zu identifizieren, daß bei x dasselbe a gilt wie im angewendeten Gesetz. Zum Beispiel: 1. Über Wirtschaftsbedingungen entscheiden die Koalitionen. 2. Investitionen sind Wirtschaftsbedingungen. 3. Also ... Aber sind die Investitionen des einzelnen Unternehmens denn Wirtschaftsbedingungen, wie der Obers atz sie meint? Von dem Punkt an, da das anzuwendende Gesetz gefunden ist, läßt ein Idealbild der Subsumtion sich so fassen: Die Rechtserwartungen paradieren, eine begehrte Entscheidung aussprechend, vor dem Gesetz; das Gesetz schlägt zu (als "einschlägiges" Gesetz), sobald die passende Erwartung vorkommt. Die Hypothesen über die Entscheidung erledigen sich demnach bis auf eine einzige - sie wurde im Gesetz wiedererkannt, sie allein findet sich als rechte Erwartung ausgezeichnet. Bei dieser Prozedur des Vergleichens muß man jedoch mit der Abstraktheit rechnen, in welcher die Gesetze existieren. Die abstrakte Regel ist 9 Gast
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meist offen genug, um kontroverse Rechtserwartungen aufzunehmen. Die Kontrahenten berufen sich auf denselben Gesetzestext, und keiner der verschiedenen Ansprüche liegt von vornherein evident neben der Rechtsquelle. Der Konflikt dauert fort angesichts des Gesetzes, er spiegelt sich darin. Zur Lösung ist abermals, wie zuvor bei der Gesetzesauslegung, Begründung nötig. Sie rechtfertigt die Wahl aus all den Rechtsmeinungen, die sich "eigentlich" (vom "Wortlaut" her) dem Gesetz zuordnen ließen. Im Akt des Begründens - das heißt durch Konsens oder Argumentation - wird die "wahre", gültige Zuordnung besorgt. Die Wahl hätte anders ausfallen können, hätte man andere Gründe zur Hand gehabt. (Gründe, auf die vielleicht bei nächster Gelegenheit ein Rechtssucher stoßen wird.) (5) Freilich gibt es einen Ort, von dem aus all dies anders erscheint: das Resultat. Jetzt ist der Wortlaut des Gesetzes fixiert, die Subsumtion ein leicht wiederholbarer Mechanismus. Das Ergebnis sieht aus, als ob es so ausfallen mußte. Das "menschliche Streben" nach Gewißheit hätte die objektive Versicherung gern. Dieses Ergebnis allein halte der Text bereit, ihn durfte man nicht anders verstehen, man hätte sonst geirrt! Die Eule der Minerva galt für allwissend. In Hegels "Rechtsphilosophie" findet sich die lapidare Erklärung, der kluge Vogel beginne seinen Flug ja "erst mit der einbrechenden Dämmerung" (Vorrede, am Ende). Der vergangene Tag breitet sich in der Rückschau aus - so fällt es tatsächlich nicht schwer, zu sagen, was alles wie und warum kommen mußte. d) Das Generelle als Gleichheit
Ein Gesetz ist bereit, jede Gelegenheit zu verfassen, die sich in ihm reflektieren (ihm subsumieren) läßt. Durch diesen Grundzug veranstalten die Gesetze Gleichheit. Sie entsprechen dem formalen Gleichheitssatz, der vorschreibt, Gleiches gleich, Ungleiches ungleich zu behandeln. Was jeweils gleich sein soll - wie weit eine Vorschrift auszugreifen habe, um Ereignisse unter sich zu bringen, sie derselben Entscheidung zu unterwerfen -: das für materiale Gleichheit so wichtige Maß ist durch die Generalität der Gesetze nicht näher bestimmt. Vom Aspekt genereller Entscheidung her ist freigestellt, wie sehr ein Gesetz differenziert und in welche Bereiche; ob es eher Gleichheit im Haben, im Bekommen, im Sein anordnet oder Herrschaftstatbestände. Ort formaler Gleichheit zu sein, ist für das Gesetz wesentlich; ein nicht abziehbares Strukturmoment. Die Konsequenz daraus ist Gleichheit von Menschen durch das Gesetz: Gleichstellung all jener, an die ein Gesetz adressiert ist. In jeder Gesetzesanwendung manifestiert sie sich.
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Spiegelbildlich gesehen, besteht Gleichheit von Menschen vor dem Gesetz. Nicht zwangsläufig ist dies Gleichheit aller Menschen; über den Grad an Generalisierung, die ein Gesetz erbringt, verfügt der Gesetzgeber. Den Endpunkt einer geschichtlichen Entwicklung, die mit der Trennung in Rechtsinhaber und Sklaven begann, drückt der generellste Gesetzestext aus: "Jeder hat das Recht ..." Die Gleichheit aller bedeutet dann, daß vom Maß je dieses Gesetzes niemand ausgenommen ist; das Maß selbst (das angleichende oder differenzierende tertium) ist dabei nicht mitenthalten. Es tritt als materiale Komponente zur formalen hinzu, ein zweiter Spielraum der Gesetzgebung. Beide Aspekte aber, Gleichheit in formalem und materialem Sinn, können leicht in Widerspruch zueinander geraten. Die vollkommene Generalisierung erscheint als Gleichheit ohne Vorbehalte; dennoch ist sie als leeres Versprechen, als Maske der Herrschaft (der Ungleichheit) erlebbar. Ein gleiches Recht auf die Güter XX trügt, wenn das allseits Begehrte dank den realen Bedingungen, den Machtmitteln weniger, doch nur diesen Privilegierten erreichbar ist. Daß im Vorfeld des Rechts die Chancen, ein Gut zu erreichen, ungleich verteilt sind, schlägt gegen die Gleichheitsform durch; das Gesetz ist blamiert, zieht den Vorwurf ideologischer Schönfärberei auf sich. Als ehrliche Vorschrift müßte es das Wenn und Aber mitnennen, hätte dann das Bild der Gleichheit jedoch getrübt. Umgekehrt: War das gleiche Versprechen an jedermann ernst gemeint, so durfte die Rechtsordnung sich nicht mit schönen Worten begnügen; auch die realen Bedingungen dafür, daß jeder Interessierte zu seinem Recht kommt, wären mitzuliefern. (Exemplarisch: Ein Rechtssatz kann die Gleichheit aller im Berufsleben - im Produktionsprozeß - zuerkennen. Dann aber muß der rechtliche Kontext die gleiche Chance für jedermann hinzuvermitteln, je eigene Interessen im Produktionsprozeß zu verwirklichen, und zwar durch Mitbestimmungsrechte.) Der Gedanke, daß Form und Inhalt des Gesetzes in Einklang stehen müssen, leuchtet ein: er fordert Angemessenheit (vgl. oben "Anstöße", IV 1, Punkt 4). Die Gesetzesform selbst regt an, Gleichheit als das "Wesen" des Rechts überhaupt zu begreifen. Nur logisch zwingend fällt der Schluß von der Form auf den Inhalt nicht an; Inhalte sind nie so unentziehbar im Gesetz angesiedelt wie das formale Element. Legitimiert sind Gleichheitsverlangen aus der Form immerhin. Und noch etwas ist in dieser Ableitung enthalten: Da Gleichheit aus dem Gesetz folgt, ist sie stets auch gesetzmäßig zu verwirklichen. Um bisher verwehrte Gleichheitsideale durchzusetzen, ist konsequenterweise allein der Rechtsweg eröffnet, nie der Kohlhaasweg. (Formale) Gleichheit läßt sich auch noch anders theoretisieren: in der Rechtsstaatsidee. Eingelöst wird sie dadurch, daß jede Entscheidung Abkömmling eines Gesetzes ist. Dieser Zusammenhang gilt im Rechtsstaat zugleich als
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Umkehrschluß: Entscheidungen sind nur rechtens, wenn ein Rechtsgrund sie trägt. Wer einen Anspruch erhebt, Leistungen von einem anderen begehrt, hat legalen Erfolg lediglich dank der Anspruchsgrundlage und soweit diese reicht. Den Arbeitnehmern der S.-Werke steht die gesetzlich vermittelte Abfindung zu; erfolglos jedoch würden sie Herausgabe der Oldtimer fordern, um ein Museum zu betreiben und aus den Eintrittsgeldern einen Hilfsfonds zu finanzieren. - Das Gesetz als Schutzwall gegen Anforderungen und Zugriffe: die traditionelle Rechtsstaatslehre meint zu allererst den Schutz gegen Ansinnen, die vom Staatsapparat ausgehen. Eine Entscheidung mag für "den Staat" noch so nützlich und bequem, sie mag opportun sein, des Beifalls vieler sicher - fehlt das Gesetz, das sie decken würde, dann muß sie unterbleiben. Dies freilich ist erst eine Seite der Rechtsstaatlichkeit. Die andere Konsequenz ist, daß "der Staat" die Rechtsgrundlage, die ihm (= den zuständigen Funktionären) unverzichtbar scheint, "so gut es geht" herstellt. Ist die Angelegenheit eilig, sollen extreme Antworten auf eine extreme Sachlage fallen, so gewinnt auch das Exzeptionelle die Allgemeinheit des Gesetzes für sich. Es wird hastig aufbereitet für den akuten Fall, doch der rechtsstaatliche Zwang zum Gesetz sichert Wiederholbarkeit. Das Extreme ist zum Muster für andere Fälle geworden, und dank der Verallgemeinerung kann unter weniger extremen Bedingungen der Eingriff noch extremer ausfallen. Exemplarisch dafür sind die sogenannten Anti-Terror-Gesetze der siebziger Jahre. Die "Reform" des Strafprozeßrechts in der Bundesrepublik seit 1974 hat ein bestimmtes Leitbild vom Verdächtigen: er ist "Terrorist". Es darf nicht verwundern, wenn polizeiliches Agieren (Fahndungsarbeit, Schußwaffengebrauch) sich weithin auf diesen "typischen Feind" einstellt, er zum Maß vieler polizeilicher Dinge wird. e) Die Abstraktheit als Freiheit Vom Konflikt als einem Reich der Möglichkeiten war die Rede, und davon, daß Gesetze dieses Reich per Affirmation beseitigen. Wo Möglichkeiten sind, da ist Raum für Freiheit vorbereitet (für "UnabhängigkeIt von eines anderen nötigender Willkür"). Raum, der offenbar in der Gesetzlichkeit untergeht ... Die Metapher "Raum" zeigt an, daß zunächst Freiheit nur als Merkmal einer Situation, als Strukturmoment angesprochen ist (abstrahiert von Akteuren der Situation, die frei sind und ihre Freiheit ausüben). Gemeint ist, daß Möglichkeiten "von sich aus" zur Wahl stehen. (Ein anderes Problem ist, bei wem die Freiheit siedelt: wer in einer offenen Situation die Chance hat, ungenötigt durch fremden Willen eine Entscheidung zu treffen.) Ursprüngliche Freiheit, worin ein Spektrum der Möglichkeiten entfaltet war und sich zur Auswahl anbot: Freiheit in diesem vor-rechtlichen Sinn scheint beseitigt. Denn die gültige, verbindliche der Möglichkeiten ist im Gesetz vorgeschrieben. Und wenn ein Gesetz nicht die definitive Lösung des Konflikts vorgibt, sondern nur ein Verfahren zur Konfliktlösung, dann hat es jedenfalls diesen Weg affirmiert, zu Lasten aller sonst vorstellbaren Wege. Was bleibt, ist tatsächlich die Abhängigkeit von etwas "nötigendem anderen": Abhän-
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gigkeit vom Gesetz; oder wenn man die dahinterstehende "Willkür" personifiziert: vom Gesetzgeber. Womit Gesetzlichkeit ex definitione Unfreiheit wäre! Dennoch, das Gesetz hat Freiheit, statt sie nur wegzunehmen, auch aufbewahrt. In seiner Abstraktheit sind wiederum Möglichkeiten angelegt. Zwar enthält es nicht alle vorstellbaren Lösungen eines Konflikts, und auch die pragmatischen Erwartungen (Entwürfe dessen, was eine Rechtssuche dem geltenden Recht zutraut) können nur zufällig denselben Gesetzestext in Anspruch nehmen. Auf die subsumierbaren Möglichkeiten hat das Gesetz die aktuelle Freiheit eingeengt. Die Struktur von Freiheit (die Wahl aus Möglichkeiten) aber blieb dadurch erhalten, wenn auch mit verringertem Programm ... Eine Struktur indessen, die nur andauert, bis die Auslegung beginnt, also nur im unausgelegten Gesetz existiert. Denn die Auslegung führt zum einzigen gültigen Ergebnis: so stellt sie die Abhängigkeit vom "nötigenden" Gesetz her. Als ein dem Gesetz zuwiderlaufendes Prinzip erscheint Freiheit letzten Endes doch. Oder vorsichtiger gesprochen: Sie erscheint so, wenn sie ausschließlich negativ begriffen wird, als Abwesenheit bestimmender Umstände. Wenn Freiheit jedoch nicht so eindimensional verfaßt wäre, ihr Begriff mehrere Momente zu erfassen hätte? Der negativ gestimmte Freiheitsbegriff läßt sich präzisieren zu einer Aufzählung all der Bedingungen, die in einer Lebenslage nicht wirksam werden. Der Freie ist frei von ... (man setze das jeweils NichtWirkende ein). Was aber wird daraus, daß Festlegung, Bestimmung, Zwang fehlt? Welche Praxis ist das: die Nicht-Bestimmtheit, NichtGezwungenheit? Wollte man im Negativen stehenbleiben, bei Freiheit als einem Fehlen, dann würde sie Dispens von etwas Wirkendem, zu Ende gedacht: Dispens von aller Wirklichkeit bedeuten, nie aber selbst Wirklichkeit werden. Freiheit wäre vorüber, wo das Wirkende (die Wirklichkeit) anfängt; sie selbst könnte sich nirgend worin darstellen. Der "wahrhaft" Freie würde schweben zwischen Ursachen (Anstößen, Bedingungen, Determinanten), die ihn nicht mehr erreichen, und einem Ziel (einem fälligen Lebenstatbestand), bei dem er nie ankommen darf. Weil diese "Lage" sich nur abstrakt denken, nicht aber sich leben läßt, ist Freiheit letztlich imaginär; oder sie ist die Freiheit von Buridans Esel, der zwischen zwei gleichgroßen Heuhaufen verhungert, weil er sich nicht zu entscheiden vermag, welchen er verzehren soll. - Von der Imagination zur Realität gelangt der Freiheitsbegriff, sobald er die Wendung ins Positive mit in sich aufnimmt. Zur Freiheit gehöre der Obergang vom Reich der Möglichkeiten zur bestimmten, positiven Sachlage; Affirmation also, die zunächst ein Prozeß, nämlich Vollzug der Verengung ist und dann, am Ende dieses Prozesses, im Resultat
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liegt. Freiheit-wovon muß, damit Freiheit überhaupt praktikabel sein kann, zur Freiheit-wozu fortschreiten, die schließlich in der einen Wirklichkeit des jeweils Gegenwärtigen auslaufen wird. Freiheit ist dann im Ergebnis "aufgehoben": darin untergegangen (es gibt keine Wahlmöglichkeit mehr), zugleich aber dahin vollbracht.
Und der Zusammenhang mit dem Gesetz? Es dient der Freiheit als Medium! In ihm ist alles vorbereitet: der Horizont diskutabler (im Gesetzestext reflektierbarer) Möglichkeiten; die Anwendung als der Weg zum Resultat; schließlich, vermittelt durch die Anwendungsarbeit, das Resultat selbst. Das Gesetz ist mithin Ort der Freiheit. Vor allem ist es ihr einziger verbürgter Ort. Wer das Gesetz auf seiner Seite hat, darf der eigenen Freiheit gewiß sein; ihm kommt der staatliche Apparat der Rechtsverwirklichung (der Richter, der Gerichtsvollzieher) zur Hilfe. In einer herrschaftlichen Rechtsordnung ist Freiheit bei einer der Konfliktparteien fest angesiedelt. Doch ist das Gesetz nicht notwendig parteiisch, es kann den Auslegungsspielraum, den es umschließt, auch als Gelegenheit zum Konsens und Komprorniß anbieten. Neu sind diese Einsichten keineswegs; man findet sie zum Beispiel bei Rousseau oder in Hegels Rechtsphilosophies8 • Sie stehen gegen ein geläufigeres Vorurteil: Das "Wesen" der Gesetze sei Zwang. Von der Beziehung aber, in welche die Elemente Gesetz und Freiheit projiziert werden, kann viel abhängen. Jenes Verständnis, das eine Alternative ansetzt, das strikte entweder-oder, ist gefährlich und zwiespältig. Einerseits taugt es zur Denunziation der Gesetzlichkeit, es animiert zum Protest gegen Gesetze und zum Rechtsbruch im Namen der Freiheit. Die gesetzlich gebändigte, vielmehr "belästigte" Willkür findet eine Ideologie für einen Ausbruchsversuch. Dabei würden nicht immer nur und zwangsläufig die, mit Gesetzes Hilfe, Unterdrückten aufbegehren. Auch ein Versuch, die real Mächtigen durch Gesetze zu entmachten - Grundlagen der Macht gesetzlich abzubauen oder Gegenrnacht zu organisieren -, läßt sich mit der Parole "Freiheit!!" bekämpfen (Kallikles). Doch die Alternative aus Freiheit und Gesetz bietet sich gleich gut auch für die umgekehrte Option an, also gegen Freiheit, für das Gesetz. Sie nützt, wo Gesetze Herrschaft einräumen und absegnen; wiederum hilft sie ideologisch aus. Das Gesetz sei, man möge dies bedauern, "seinem Wesen nach" das Gegenteil von Freiheit; wer nicht das vernichtende bellum omnium wolle, müsse die Herrschaftlichkeit der Rechtsverhältnisse hinnehmen. - Das andere Urteil, Identifikation von Freiheit und Gesetz, darf den affirmativen Charakter der Gesetze natürlich nicht "vergessen". Auch es verkäme sonst zum ideologischen 38
Die Konstituierung der Freiheit im Recht (Fn. 29), S. 451 (459 f.).
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Schachzug, sobald von der hochwertigen Kategorie Freiheit her einem Gesetz Kritik droht: Zu kritisieren gebe es nichts, das Gesetz sei schon die Freiheit selbst. Widersteht man dem apologetischen Fehlschluß, dann jedoch verhilft die Gleichsetzung, nur sie, zum richtigen Verständnis von den Gesetzen. Sie stellt weder das Gesetz in Frage, sobald es lästig, ungefällig, ungefügig ist; noch neigt sie zur Untertänigkeit gegenüber dem Gesetz, regt sie zur Resignation an, wird ihr die Autorität des Gesetzes autoritär. Vielmehr bringt sie Phantasie und Mut in die Gesetzesanwendung ein (mögen beide Eigenschaften für den "typischen" Juristen auch so typisch nicht sein); sie regt an zu probieren, was Gesetze aushalten. Daß ein freiheitliches Verhältnis zum Gesetz dem Rechtszweck schlecht bekommen müßte, ist keineswegs ausgemacht. 3. Verwirklichung der Gesetzlichkeit
Zuerst sind (Rechts-)Gesetze "etwas Gedankliches" - Ordnungsaussagen, abgefaßt in Sätzen, die gedruckt in Büchern vorliegen. Urheber: Herr der Sätze, die auch anders hätten ausfallen können, war ein Gesetzgeber (üblicherweise ein Parlament). Hinter den Büchern, durch das Medium Buch erreichbar, fristen Gesetze ihre "ideale" Existenz. (Im Unterschied zur "realen" Existenz des Erfahrbaren: etwa der Zeichen in Druckerschwärze auf dem Papier.) Doch derart "für sich" zu sein, ist nicht der Zweck der Gesetze; ihn löst erst die Anwendung ein. Der übergang vom "law in the book" zum "law in action" bringt die Gesetze in einen sinnvollen Aggregatzustand, sie erreichen so ihre eigentliche Wirklichkeit (Wirk-lichkeit). In welcher Weise aber sind sie dann da; ·welche Erscheinung bietet, welche Gestalt hat das reale
Gesetz? Im gängigen Verständnis ist Rechtswirklichkeit die übereinstimmung zwischen den Lebensverhältnissen und dem Gesetzesinhalt. Die Gesetze geben eine Beschreibung dessen, was ohnehin geschieht. Eine Beschreibung freilich, die in aller Regel ein mittelmäßiger Schriftsteller besser (anschaulicher, anregender, spannender, stilistisch anspruchsvoller) zu fertigen vermöchte. Gesetzestexte sind durchwegs miserable Literatur; ein Mangel an "Kultur", den man mit ihrer Aufgabe zu entschuldigen pflegt. Tatsächlich kommt es nicht darauf an, daß Gesetze gesellschaftliche Wirklichkeit kunstvoll wiedergeben, sondern daß sie Wirklichkeit herstellen; genauer: daß sie strittige Wirklichkeit herzustellen helfen. Solange ein Sachverhalt nicht anstößt, etwas anderes zu fordern als ihn selbst und den in ihm angelegten Lauf der Welt: so lange ist gleichgültig, wie er sich zum Gesetz verhält. Er mag mit den Vorschriften übereinstimmen; doch die Bestätigung aus dem Recht braucht er nicht, braucht kein Beteiligter. Oder er kann dem Gesetz widersprechen, "eigentlich rechtswidrig" sein: dann gibt es eine (viel-
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leicht) glücklichere, aber leider bloß gedachte Welt im Buch, und eine schlimmere Welt der Tatsachen, beide ohne Beziehung zueinander. Erst ein Aufbruch zur Rechtssuche stellt die Beziehung her, er macht das Gesetz erheblich. Dieser Aufbruch ist das erste Moment realer Gesetzlichkeit; sie beginnt mit ihm. (Exemplarisch: Das römische Zivilrecht war identisch mit den actiones, den Klagen, die der praetor jeweils zu Beginn seiner Amtszeit für zulässig erklärte.) Der Verlauf der Rechtssuche - sofern diese sich dem Gesetz unterstellt - ist das Wirkliche am Gesetz. Wo "Rechts"suche sich den Gesetzen entziehen will, werden die Gesetze wirklich in Gestalt von Sanktionen und Vollstreckung. Im Resultat: in den Tatsachen, die das Gesetz bestätigt oder zu denen es führt, erledigt das Gesetz sich jeweils wieder. Es wird zu ihnen; zu dem, was von Rechts wegen geschieht. Wie das Gesetz - unterwegs zwischen Anstoß und Ergebnis - sich ereignen kann, ist vorbestimmt in den formalen Aspekten der Gesetzlichkeit (in Affirmation und Allgemeinheit also). Sie geben auf, für Konkretisierung der abstrakten Regel zu sorgen. Der Vollzug - die Gesetzesanwendung - bleibt nicht dem Zufall überlassen; zusammen mit Gesetzen ist seit jeher auch die Anwendung "gegeben". Organisiert ist sie zumal als Justiz, die zur Hilfe kommt, wenn der private Anwendungsversuch mißlingt. Justiz ist ein amtlicher Apparat zur Konkretisierung des Gesetzes, dem Recht im Buch hinzugefügt, damit die Rechtssuche trotz aller Kontroversen um Auslegung und Subsumtion bei der Lösung ankommen wird. Wirklich sein (= wirken) . kann das Gesetz aber auch ohne amtliche Hilfe. a) Private Auslegung
Gelungene Anwendung allein durch die Beteiligten eines Konflikts zeigt der Fall des politisch aktiven Betriebsratsmitglieds (oben bei "Auslegung und Subsumtion" als Auslegungsbeispiel eingeführt). Um möglichem Streit vorzubeugen, klärt Betriebsrat B. für sich die Rechtslage durch Nachschau im Gesetzbuch. Als dann B. seine Handzettel vor dem Werkstor verteilt und der Arbeitgeber Anstoß hieran nimmt, ist der Konflikt fertig angelegt. Doch ihn löst sogleich "das Gesetz". Vielmehr: Ihn lösen die beiden Umstände, daß der Arbeitgeber seinerseits zum Betriebsverfassungsgesetz greift und daß er die Rechtsquelle, die auf seine Frage eine Antwort bereithält, genauso wie B. interpretiert. Dieser Konsens, vermittelt durch den Gesetzestext, überwindet den kaum geborenen Konflikt sogleich wieder; er läßt die Tatsachen auf sich beruhen. Daß die Einigkeit sich stillschweigend ergab, ohne Verhandlung und Absprache, ist für ihren Charakter bedeutungslos; was zählt und wirkt, ist die Konsensstruktur. Allerdings war es ein "falscher" Konsens, gemessen an vorhandener professioneller Ausle-
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gung. Da aber (vernünftigerweise) niemand an der Lage Anstoß nimmt, hat sie als Resultat des Gesetzes Bestand. Das Gesetz ist wiederum auf seine Buchform zurückgefallen und die Tatsachen erzeugen bei niemandem ein Rechtsbedürfnis.
b) Auslegungsmittler So ohne Mühe werden Konflikte nicht immer gelöst. Kann jede Seite die eigene Rechtserwartung im Gesetzestext reflektieren, dann dauert der Konflikt an; er ist zum Streit um die richtige Auslegung geraten. (Eine sehr kultivierte Fassung für Konflikte, und ein enormer Fortschritt, bedenkt man den "natürlichen" Austragungsweg, wie Hobbes ihn naheliegend beschrieb.) Aus dem Dissens finden die Streitenden nun kaum ohne fremde Hilfe heraus. Das Gesetz allein leistet diese Hilfe nicht; im Gegenteil, da jedes der widerstreitenden Interessen sich gesetzlich bestätigt sieht, hat das Gesetz den Streit noch zementiert. Ein hilfreicher Dritter muß sich erbieten, die Konfliktionäre aus einer ihnen selbst weglos gewordenen Situation herauszuführen; er wird das Gesetz, das zum Dickicht wurde, wieder zum Lösungsweg klären. Entsprechend müssen die Streitenden um diese Hilfe wissen und auch bereit sein, sie anzunehmen (und fähig, sie zu bezahlen). Wirklich ist das Gesetz nun also durch diese Momente: Gesetzestext hat den Interessengegensatz auf sich gezogen, ein Lösungsgehilfe bietet öffentlich seine Dienste an, die Streitenden sind imstande, die Hilfe in Anspruch zunehmen. Rettender Dritter ist der Richter, sofern eine Konfliktpartei die fertige Entscheidung will. Der Rechtsweg in diesem, dem üblichen Sinn ist jedoch nicht die einzige Art, gesetzlich zu verfahren. Es kann genügen, einen Berater und Schlichter einzuschalten; jemanden, der das Resultat nicht feststellt und verkündet, sondern vermittelt. Der nicht-richtende Helfer kann versuchen, doch noch Einigkeit in der Gesetzesauslegung zu stimulieren. Sein geringster Aufwand: Er zeigt den streitenden Parteien (oder einer von ihnen), welche Rechtsansichten zur Streitfrage in der juristischen Literatur vorherrschen, auf welche Ergebnisse die Rechtsprechung sich bisher festgelegt hat; das Material wendet er zur Prognose über den Spruch, der bei gerichtlicher Austragung vermutlich zu erwarten wäre. In dieser Beratung liegt die Chance, daß die Parteien auf die ihnen angebotene (eher schon; ihnen drohende) Auslegung einlenken. (Ein Beteiligter gibt ein Interesse preis, das ihm nun nicht mehr durchsetzbar scheint.) Den Konflikt löst wiederum das Gesetz, in Verbindung mit einem Makler des gemeinsamen Verständnisses. Soviel zur Möglichkeit schlichtender Beratung; nach geltendem Recht steht die Maklerrolle dem Rechtsanwalt zu. Sie gehört zu seinem Beruf
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und ist nahezu ihm vorbehalten. (Das Monopol des Anwalts in der Rechtsberatung kommt zwar von Zeit zu Zeit ins Gerede, doch ist es bisher kaum durchbrochen. Eine nennenswerte Ausnahme bildet die Beratung und Betreuung von Arbeitnehmern durch "Rechtsschutzsekretäre" der Gewerkschaften.) - In aller Regel betreut ein Anwalt nur eine Seite im Konflikt. Darum findet er sich den Interessen seines Mandanten verpflichtet, zugleich jedoch auf das Gesetz, den gesetzten Spielraum für Interessenverfolgung, festgelegt. Lösen kann er diese Spannung durch den Versuch, der Gegenseite eine ihr ungünstige Rechtsauffassung zu oktroyieren. Gibt der andere nach (sei es aus Einsicht, Resignation oder Hilflosigkeit), dann ist Konsens unter dem Gesetz mit legaler Nachhilfe hergestellt und der Rechtszweck erfüllt. Ein Verfahren, das man "unfair" nennen könnte; die Gesetzlichkeit deckt es mit ihrer Struktur - notwendig ist Konkretisierung - gleichwohl. Die einseitige Vermittlung genügt der Gesetzesform, sofern sie eine subsumierbare Lösung zustandebringt. Der Einwand, daß Chancengleichheit bestehen müsse, also zweiseitige Beratung und Lösungshilfe, kann sich zwar ebenfalls auf die Form berufen: auf das Generelle des Gesetzes; nur ist dieser Schluß leider nicht zwingend. Die Rechtsordnung könnte (sollte) einseitige Betreuung verwehren und dem anderen Konfliktionär, der keinen Anwalt seiner Wahl konsultiert, einen "Pflichtanwalt" stellen. Der Gesetzesform angemessen wäre diese Einrichtung, dem geltenden Recht jedoch ist (abgesehen vom Strafverfahren) der obligatorische Rechtsbetreuer unbekannt. Jeder kümmere sich selbst um seine Versorgung mit Recht, die Anwaltsbüros stehen allen Rechtssuchenden offen. (Fällt der Eintritt dort jedermann gleich leicht? Von Gräben und Steinen im Rechtsweg wird unter dem Aspekt "Gesetzlichkeit und Herrschaft" zu handeln sein.) - Haben die Konfliktionäre Betreuung bestellt, so führen die Anwälte den Konflikt stellvertretend weiter; ihre Rechtskenntnis befähigt sie zugleich (und trotz der Parteinahme), Einigung herzustellen. Aus dem rechtlichen Material (aus Handbüchern, Gesetzeskommentaren, publizierten Gerichtsentscheiden) vermag jeder Anwalt lege artis, nach den Regeln des Handwerks, ein Resultat des möglichen Gerichtsverfahrens abzuleiten; kongruente Vorhersagen sind nicht unwahrscheinlich, und die übereinstimmung in der Prognose hält dazu an, das Erwartete kurzerhand zu verwirklichen. Antizipation eines Richterspruchs beugt (vernünftigerweise) dem Gang zum Gericht vor. (Ob ein Prozeß tatsächlich so ausgegangen wäre, wie vorhergesagt? Die Frage ist so unbeantwortbar wie gleichgültig.) Den Anwalt als parteiischen Dritten im fremden Streit legitimiert die Gesetzesform: er erhöht die Chance, daß Konkretisierung des Gesetzes gelingt. Auf der Rechtssuche alleingelassen, könnten die Kon-
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fliktparteien leicht vom rechten (= friedlichen) Weg abkommen. Zudem scheint der Rechtskundige, der den Prozeß überzeugend vorwegnimmt, auch zur Prozeßvermeidung besonders fähig. Hier jedoch liegt neuer Konfliktstoff: das EigeninteTesse des Anwalts, um welches die Situation komplexer wird, kann anders tendieren. Wenigstens zwei (typische) Motive sind angebbar, die den Anwalt eher zum Mentor eines Prozesses als einer privaten Einigung werden lassen (- ein latenter Subkonflikt zwischen Anwalt und Klient, mit guter Durchsetzungschance auf seiten des ersten). Ein Anwalt, der den Erfolg einer Klage voraussagt, braucht den Richterspruch zum Beweis für seine Prognose. Erfolgserlebnis und Reputation sind auf diese Weise zu holen. Zum anderen belohnt das geltende Gebührenrecht die Prozeßführung; die Prozeßvermeidung "bestraft" es durch geringere Einnahmen. Der ideelle und ökonomische Vorteil des Anwalts belastet (möglicherweise) den Klienten: mit psychischen Strapazen, die der Gang zum Gericht bereitet; mit Vertagung der Interessenbefriedigung um die Dauer des Prozesses; mit dem Kostenrisiko für einen wider Erwarten doch verlorenen Prozeß. Der professionelle, aber "selbstlose" Rechtsvermittler wäre ein eigener Beruf39 • c) Das Gericht (1) Kein Mittler und keine Prozedur können garantieTen, daß Konfliktparteien sich über die Auslegung eines Gesetzes einigen. Ein Dissens aber, gegen den Anwälte machtlos bleiben (den sie womöglich, wie das Gesetz auch, zu verfestigen helfen) ist nicht mehr "immanent" auflösbar: so daß doch noch Einigkeit, gleiches Verständnis des Gesetzes, zu stiften wäre. Erst ein Wechsel in der Methode wird die Lösung bringen: ein Konkretisierer übernimmt die fällige Arbeit, er leitet ein verbindliches Ergebnis aus dem Gesetz ab. Die Lösung gerät nun zum Schicksal, das ein Dritter den Streitenden auferlegt; sie ist RichteTWerk.
Ein "logischer" Zug zum Richter und zum Richterspruch liegt in der Gesetzesform selbst. Richtertum ist die letzte Chance zur Konkretisierung, wenn die Streitenden und ebenso die Konsensmittler versagt 38
Es gibt Plädoyers für die Errichtung staatlicher Schlichtungsstellen
(Dieter Hendel, in: Recht und Politik 13/1977, S. 9 - 17) und tatsächliche
Schlichtungsangebote von Schiedsstellen zumal im Handwerksbereich. Schlichtung gehört auch zu den Aufgaben der Rechtshilfe, die das "Gesetz über Rechtsberatung und Vertretung für Bürger mit geringem Einkommen" vom 18. Juni 1980 nunmehr anbietet; dazu Erich Klinge, Das Beratungshilfegesetz, Kommentar, 1980. Diese Rechtshilfe liegt wiederum in den Händen von Anwälten. Zu Diskussionen und Versuchen, die dem Gesetz vorausgingen: Theo Rasehorn (ed.), Rechtsberatung als Lebenshilfe, 1979 (Demokratie und Rechtsstaat 43). Keine Rechtsvermittlung, sondern Konfliktlösung ohne Rücksicht auf die Gesetze ist beispielsweise die Schlichtung durch Geistliche; beschrieben bei Gessner (Fn. 15), S. 137.
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haben. In der Abfolge der Möglichkeiten, ein Gesetz anzuwenden, steht das Gericht als ultima ratio. Aus beiden Momenten, der Abstraktheit des Gesetzes und dem Scheitern der Streitenden am Gesetz, bezieht es Legitimation. In ein "ideales" (rundum folgerichtiges) System der Gesetzeswirklichkeit wäre die Institution Gericht deshalb so eingefügt: Der Richter dürfte erst tätig werden, nachdem der Schlichter die Konsenssuche für gescheitert erklärt hat; dann aber müßte der Richter "von Amts wegen" (Offizialmaxime) den Fall aufgreifen und den Spruch fällen. - Dieser Idee entspricht das geltende Recht in keinem Punkt (ohne daß es deswegen "verkehrt" wäre; der Gesetzlichkeit genügt, daß überhaupt die Gesetzesanwendung, der gesetzliche Gang aus dem Konflikt, real verbürgt ist). Wo kein Kläger ist, da ist auch kein Richter die Gerichte sind nicht berechtigt, ihre Dienste aufzudrängen. Nur wenn eine Konfliktpartei Klage erhebt, wird aus dem zivilen Rechtsstreit ein "Prozeß". (Dagegen herrscht im strafrechtlichen Feld zwar der amtliche Zugriff vor; Polizei und Staatsanwaltschaft, Funktionäre des Staates also unternehmen von sich aus Entdeckung und Aufklärung strafbaren Unrechts. Doch auch die Strafsache kommt nur vor den Richter, wenn der öffentliche Ankläger sie dorthin bringt.) Sodann: Dem Prozeß muß kein Schlichtungsversuch vorausgehen, und kein Kläger braucht zu warten, bis ein Schlichtungsbemühen seines Anwalts gescheitert ist. Vom Beginn des Konflikts an steht der Weg zum Gericht offen. (2) An diesen Weg hätten die Arbeitnehmer der S.-Werke sich halten müssen, als sie ihr Interesse an der Oldtimer-Sammlung verfolgten. Stattdessen die Sammlung zu erstürmen und zu besetzen, war ein gesetzloses Verfahren, das einzig aus korrespondierender Gesetzlosigkeit auf seiten der Betroffenen gelingen konnte: Gegner des so durchgesetzten Interesses, die Staatsorgane eingeschlossen, nahmen offenbar den Fehdehandschuh nicht auf, sie ließen den Konflikt und den Rechtsbruch ruhen. Die Situation entwickelte sich, als ob sie normal verliefe; und der Vorbehalt des "als ob" wird in solchen Lagen nach einiger Zeit leicht vergessen. Gewiß, den eingeschlafenen Konflikt konnte jeder Interessierte jederzeit wieder beleben, der Konkursverwalter beispielsweise, indem er Freigabe der Sammlung verlangte. Ein Rückruf des Rechts gegen das factum brutum, das die Arbeitnehmer geschaffen hatten; doch ohne einen Betreiber ist das Recht, wie der Fall zeigt, ohnmächtig ... Dies eher nebenbei; es geht um die Realisierung der Gesetzlichkeit durch Gerichte. Den Arbeitnehmern der S.-Werke hätte der Gang zum Gericht freigestanden. (Ein mühsames Unterfangen, da 6 000 Kläger den Anspruch auf die "Bugattis" gemeinschaftlich hätten verfolgen müssen.) Anknüpfungspunkt für jeden Prozeß ist die Rechtsgrundlage (das Gesetz), worin die gehegte Rechtserwartung reflektiert werden kann. Das geltende Prozeßrecht verlangt vom Kläger aber nicht, daß er Gesetzesparagraphen, die er durch seine Rechtserwartung meint (voraussetzt), auch ausdrücklich anführt. Sogar der Rechtsanwalt, als Vertreter des Klägers, ist von jeder Zitierung befreit; der Richter muß von sich aus alle Vorschriften prüfen, die den Fall möglicherweise betreffen. Ein Gesetz, das die Herausgabe der Sammlung an die Arbeit-
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nehmer vorschreibt, hätte sicherlich kein Richter entdeckt. Eine (rechts-) grundlose Klage ist stets abzuweisen. Erfolgreicher konnte das Verlangen nach Abfindung (2. Kap. I (4» betrieben werden. Der Grundsatz, wonach ein Konfliktteilnehmer seine Rechtserwartung dem Richter vorträgt und Konkretisierung des Gesetzes in seinem Sinn begehrt: dieses übliche Muster der Rechtsverfolgung ist im Abfindungsfall allerdings modifiziert. Zunächst ist die Suche nach einer Lösung den "Betriebspartnern" vorbehalten, der einzelne Arbeitnehmer durch die Aktivität des Betriebsrats zwar entlastet, jedoch auch gebunden. Vermag man sich auf der kollektiven Ebene nicht zu einigen, dann hat nicht etwa der Betriebsrat das Recht, Zahlungen an die Arbeitnehmer einzuklagen. Das Betriebsverfassungsgesetz sieht einen anderen rechtlichen Weg vor: die Bildung einer Einigungsstelle, deren unparteiischer Vorsitzender letztlich entscheiden wird, es sei denn, die "Betriebspartner" finden während dieses Ersatz-Gerichtsverfahrens doch noch zu ihrem eigenen Resultat. An den einzelnen Arbeitnehmer geht die Initiative nur über, wo die betriebsverfassungsrechtliche Lösung unterblieb (die Unternehmer S. erklärten von einem Tag zum anderen die Fabriken für geschlossen). Nun endlich klage jeder auf je seinen Anteil, der nicht gesetzlich beziffert ist; der Richter wird das insoweit offene Gesetz zu einer Zahl konkretisieren. Ohne Klage aber bliebe der Anspruch: ein abstrakter Satz im Gesetzbuch; ein Aufbegehren, das vielleicht lautstark auf einer Protestversammlung sich artikulierte, um dennoch folgenlos zu verhallen; enttäuschtes Vertrauen in "das Recht" - Vertrauen, das fälschlich Fürsorge erwartete, wo Energie, Streitlust, Ausfechten der Angelegenheit verlangt wird. Unterlassene Klagen sind Ruinen des Rechts, über die neue Tatsachen wachsen. Der Konkursverwalter hat das Vermögen der Unternehmer S. verteilt, womöglich wären Abfindungsansprüche im Konkurs noch erfolgreich gewesen - zu spät. (3) Gesetzesform und akutes Bedürfnis nach Konkretisierung vereinen sich zum zureichenden Grund dafür, daß ein Gericht die Entscheidung fällt (vielmehr: die Entscheidung aus dem Gesetz ableitet). Gedeckt ist zuerst der Richterspruch als Ereignis (der Spruch "als solcher"). Zugleich aber liegt im Prinzip der Konkretisierung, daß das Allgemeine (das Gesetz) und das Besondere (der Spruch) Konnex halten - und zwar Zusammenhang in der Sache, nicht bloß vermittelt über Person und Amt des Konkretisierers. Eine Verknüpfung, die der Konkretisierer durch "Ableitung" = Begründung des Resultats herstellt. (Weshalb schließlich, obwohl auctoritas das Recht fertige, Hobbes selbst zwei Tugenden des Richters betonte, die sich im Richterspruch zu offenbaren hätten: Gesetzestreue und Beachtung der Billigkeit; Leviathan, cap. XXV!.) Streng genommen, sollte ein Urteil ohne ein Wort der Begründung nichtig, unbeachtlich sein. So weit geht das geltende Prozeßrecht aber doch nicht, es enthält ein Zugeständnis an die Autorität des Richters und an die Notwendigkeit, daß entschieden werde: Ein Urteil ohne ein Wort der Begründung kann "rechtskräftig" werden, jedoch ist stets die Revision - die rechtliche Nachprüfung auf Antrag des Verlierers - zulässig40 • Sie wiederum bestätigt den Grund40
Es liegt dann ein "absoluter Revisionsgrund" nach § 551 Ziff. 7 ZPO vor.
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satz: Nicht die Entscheidung allein, die begründete Entscheidung wird dem Richter abverlangt. Dabei bedeutet "Begründung": das Ergebnis mit Argumenten versehen, die es (möglichst) untrennbar mit dem Gesetz verknüpfen. Die zureichende Begründung errichtet eine Gedankenbrücke zwischen Allgemeinem und Besonderem, zwischen Gesetz und Spruch, eine Kette aus Argumenten für dieses Derivat, und sie klärt darüber auf, weswegen die gewählte Auslegung anderen Möglichkeiten vorzuziehen sei. Erst dadurch, daß es die "besten" Gründe für sich hat, ist das verkündete Ergebnis richtig. Der Richter schuldet die Anstrengung um zureichende Begründung mehrfach. Zum einen ist er "dem Gesetz unterworfen", das heißt für fällige Konkretisierungsarbeit bestellt; er muß daher ständig die höchste Gesetzestreue nachweisen. Zum anderen bindet ihn Rücksicht auf die Prozeßparteien. In der Gesetzesform liegt primär die Zuständigkeit jedes Bürgers, bei Konflikten Einigung mit dem Kontrahenten anhand des Gesetzes zu suchen. Das Gesetz wendet sich an verständig handelnde Menschen, es ist eine ihnen angemessene Lebensform (überlebensform bei Konflikten), die nicht sogleich in eine Form der Bevormundung umschlagen darf, nur weil der private Konsens unter dem Gesetz nicht gelang. Die Maxime Verständigkeit fordert nun vielmehr, daß der Richter den Streitenden verständige (verstehbare und auf überzeugung angelegte) Begründung liefert. (Eine Funktionsbeschreibung, anhand welcher ein in der Praxis antreffbarer falscher Stil und Tonfall zu kritisieren und zu korrigieren wären.) Drittens schließlich dient die Begründung dem allgemeinsten Rechtszweck, Frieden zu stiften. Die richterliche Argumentation muß deshalb Widerspruch gegen das Ergebnis erschweren oder ausschließen, indem sie ihn vorbeugend zu widerlegen trachtet. Eine Begründung hat ihr Ziel erreicht, wenn kein plausibler Einwand mehr gelingt. Der dennoch erhobene Einwand diskreditiert sich dann selbst als borniert; als nicht zur Gefolgschaft geeignet. Auch sind gegen den Uneinsichtigen Machtmittel, die ihn zur Raison bringen sollen ("Zwangsvollstreckung"), leichter zu legitimieren. d) Notwendige Zwischenbemerkung über: Richtigkeit und Freiheit
(1) Vom "richtigen" Ergebnis, das die "besten Gründe" für sich habe, war soeben die Rede. Wie aber verträgt die Forderung nach Richtigkeit sich mit der zuvor gelobten Freiheitlichkeit des Gesetzes? Abstraktheit verfaßt das Gesetz zu einem Ort von Freiheit: für strikte Maße, die bedingungslos Richtiges vom Falschen trennen, scheint da nicht mehr viel Platz. Freiheit besteht "im Rahmen" des Gesetzes. Also muß sie ihren Bezug zum Gesetz wahren und (vielleicht auch) dokumentieren. Lösen
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die Streitenden ihren Konflikt unter Rückgriff auf das Gesetz für sich selbst, dann allerdings schulden sie keinen besonderen Aufwand, um den rechten Gebrauch ihrer Freiheit zu beweisen. Sie legen sich auf ein Verständnis fest, das der Gesetzestext ihnen anbietet; dabei finden sie entweder stillschweigend zum Konsens, oder sie halten nach einigen überlegungen und Verhandlungen explizit ein Ergebnis fest, das sie gemeinsam im Gesetz zu spiegeln vermögen. Freiheit der Streitenden ist es, aus dem Abstraktum den ihnen plausiblen Schluß zu ziehen. Eine Freiheit mit Rechtsfunktion: denn die Chance zur Einigung steigt, wenn man sich auf diese oder jene Möglichkeit verständigen darf, nicht lediglich das allein Rechte zu treffen hat41 • An "Begründung": an Brückenschlag zwischen Gesetz und Resultat muß den Streitenden nicht mehr gelingen als ihr Konsens; er steIlt diese Beziehung her und stellt sie zugleich dar. Durch ihn ist das Ergebnis (grundsätzlich) richtig. Wenn aber ein Resultat, entgegen dem Grundsatz, den vorgeschriebenen Rahmen verläßt (das Verständnis der Konfliktionäre auch bei freizügigster Auslegung nicht mehr mit dem Gesetzestext in Verbindung gebracht werden kann), so ist doch immerhin der Konflikt erledigt, das Gesetz hat den Rechtszweck, Frieden zu stiften, außerhalb seiner selbst erreicht. Das Ergebnis ist zwar falsch, es gründet nicht auf dem Gesetz, die (bisher) Streitenden verlassen das System des geltenden Rechts. (Was auch Michael K. tat; oben 1. Kap. III 3). Aber die Unrichtigkeit bleibt (wiederum grundsätzlich) gleichgültig: Unrichtigkeit in einem Niemandsland, ungerügt und ungeahndet. Mit dem gemeinsamen Auszug aus dem System erstarb der Konflikt, um dessenwillen das System existiert und angerufen wurde; im Frieden ist das System gleichgültig. Erst ein falsches Resultat, das zugleich Unrecht erzeugt, nämlich gegen gesetzlich sanktionierte Gebote oder Verbote verstößt, bringt keine Ruhe. Es wird zum Anstoß für Rechtssuche anderer Art, als sie im privaten Konflikt geschieht: von Staats wegen wird der rechtswidrige Sachverhalt aufgeklärt, wird eine Sanktion (Buße, Strafe) verhängt. Unrichtigkeit hat dann ihre üblen Folgen - aber nicht, weil ein Gesetz A falsch ausgelegt wurde, sondern weil die Fehlinterpretation (vielmehr das Verhalten in ihrem Gefolge) gegen ein Gesetz B verstieß. Bis an die Grenze ordnungswidrigen oder kriminellen HandeIns sind die Konfliktparteien als private Gesetzesanwender frei: frei zum Konsens und auch frei zum Irrtum. Den Frieden im Irrtum hat noch immer das Gesetz vermittelt, wenn er auch nicht der gesetzmäßige Friede ist. 41 Von der Unbrauchbarkeit eindeutiger Rechtssätze unterstellt, es gäbe sie Überhaupt - handelt Klaus Adomeit, Rechtsquellenfragen im Arbeitsrecht, 1969, S. 25 ff., 68 f., mit vielen Nachweisen.
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Daß dem Richter gleiche Freiheit zustehe, ist durchaus denkbar. Mittler zwischen dem Gesetz und dem Spruch könnte die "Einigkeit" des Richters mit sich selbst sein, also der Wille des Richters. In der "Begründung" würde der Wille sich artikulieren; Argumente blieben dabei sekundär, weil auch der abwegige - das Gesetz verfehlende Gedankengang "Gesetzesanwendung" wäre. Eben dies ist das Konzept des Dezisionismus. Es läßt den Richterspruch aus Autorität gelten, nicht aus Richtigkeit; das richtige Ergebnis bedeutet zufälligen Erfolg (wenn auch pragmatisch hilfreichen). Für Gesetzlichkeit würde genügen, daß der Richter sich auf ein Gesetz beruft. Das Gesetz mag ihm Anregung geben; jedenfalls aber gäbe es dem richterlichen Machtwort das rechte Alibi. - Nach heutigem Verständnis ist Gesetzlichkeit auf (nur) dezisionistische Weise nicht angemessen eingelöst (also nicht verwirklicht). Rechtsstaatsgedanke und juristische Auslegungslehre verlangen höhere Anstrengung. In rechtsstaatlicher Perspektive ist der Richter Diener, nicht Benutzer des Gesetzes; "Organ" (Arm ebenso wie Sprecher) des Gesetzes, wenn auch der abstrakte Gesetzestext keine fertige Entscheidung einfach souffliert. Freiheit, die das Gesetz den Bürgern für die Bewältigung ihrer Konflikte vermittelt, steht dem Richter nicht zu; er ist nicht Adressat dieses Aspekts des Gesetzes. Ihm ist das Gesetz kein eigener modus vivendi, sondern Arbeitsgegenstand. Für die Bearbeitung: die Ableitung einer Entscheidung aus dem Gesetz, gibt die Methodenlehre Werkzeuge an die Hand und stellt sie Richtigkeitsbedingungen auf. Erkenntnistheoretisch (methodologisch) gesehen, löst der Richter Gesetzlichkeit ein durch Rationalität: durch ein nachvollziehbares Argumentieren, das logisch korrekt und inhaltlich überzeugend ausfällt. (2) Mindeste Forderung der Richtigkeit ist, daß eine richterliche Begründung (eine Argumentation) die "Denkgesetze" wahrt. Ein Begründungsversuch etwa, der einen Widerspruch enthält, führt nicht von seiner Prämisse (= vom Gesetz) zum Resultat. Die inhaltliche Seite der Gesetzesanwendung hingegen ist nicht logisch streng gebunden die Logikregeln geben kein bestimmtes Verständnis vor, sie sind offen für verschiedene Lesarten, reglementieren nur das Weitersprechen mit einmal fixierten Bedeutungen; zum al auf Folgerichtigkeit legen sie es fest 42 • Inhaltliche Bestimmtheit wird diskursiv gewonnen. Der Diskurs beginnt als Streit der Hypothesen, als das Pro und Contra zwischen Verständnissen, die im Gesetzestext reflektierbar sind. Bei der Kontroverse hält er, richtig geführt, sich nicht auf, sein Ziel ist die Beendigung 42 Den notwendigen, gleichwohl bescheidenen Beitrag der Logik zur Rechtsfindung habe ich skizziert in meinem Aufsatz: Recht als ius argumentandi, in: Dttmar Ballweg / Thomas M. Seibert (ed.), Rhetorische Rechtstheorie, 1982, S. 297 (315 ff.).
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des Streits. Gleichbedeutend: Das Ziel heißt, zu erkennen, welche Rechtserwartung die "gewichtigsten" Argumente für sich hat. Das richtige Ergebnis ist plausibel (plausus = Beifall; also: des Beifalls fähig) auf grund der Argumente: aber nicht allein dadurch, daß die Argumente "an sich gut" sind, sondern ebenso durch die Art, wie sie "einleuchtend" dargebracht werden.
Einleuchtend für wen? Plausibilität (ein Pfeiler der Richtigkeit) hat ihren okkasionellen Zug: sie ist abhängig von einer Situation, von den Beteiligten. Der Richterspruch muß den Parteien je dieses Prozesses plausibel sein, denn ihren Konflikt gilt es zu beenden. Andererseits wird dem Verlierer auch eine Begründung zugemutet, die ihm eigentlich plausibel sein müßte (gegen die er sich "vernünftigerweise" nicht sperren darf). Die juristische Einkreisung des Rechtssuchenden mit Postulaten: ein Mensch wird auf sein wahres Interesse verwiesen, auf die Rolle des verständigen Beteiligten festgelegt ... Was ihm dazu fehlt, muß er wohl oder übel aus dem Prozeß lernen, er verließe sonst den Weg des Rechts. Das Entscheidungsspiel hat diese objektive Komponente unvermeidlich, es käme ohne sie selten zum Schluß. Die (gegenüber den Streitenden) objektive Seite vermittelt der Richter - weshalb er den plausus auch bei jenen suchen muß, die das objektive Recht darstellen, verwalten, veranstalten. Jenen, die von Berufs wegen die Gesetze verwirklichen, das heißt ihrerseits das Geschäft betreiben, den Abstand zwischen Rechtserwartungen und Gesetz argumentierend zu schließen. Auf den eingerichteten Apparat der Rechtsanwendung nimmt der Richter Bezug, dort fügt er sich ein. Die Objektivität der Veranstaltung Justiz leitet er auf jeweils seinen Spruch. Die Integration erreicht der Richter, indem er der juristischen Zunft plausibel ist (- zumal den Richterkollegen von der höheren Instanz). Zu diesem Zweck baut er seine Begründung aus Argumenten auf, die nicht bloß "seine eigenen" sind; Rechtsprechung und juristische Literatur haben sie vorgefertigt. Die beiden Quellen liefern zwar kaum je die vollständige Begründung zu gerade diesem Rechtsfall. (Solche Vorleistung würde kongruente Ereignisse voraussetzen: dann bräuchte der spätere Entscheider beim früheren nur abzuschreiben.) Doch immerhin bekommt der Richter Anhaltspunkte: Entscheidungsgründe, die gleichzeitig als Präjudizien ihn festlegen und als Stoff für seine Argumentation ihm zur Verfügung stehen. Freie Verfügung hat der Richter aber erst (und nur), wenn die rationale Vorarbeit zu einem Grenzfall gelangt ist: Zwei Möglichkeiten, gleich folgerichtig aus dem Gesetz abgeleitet und (nach Einsicht des Entscheiders) gleichgewichtig im Für und Wider, stehen zur Wahl. Diese Wahl unterliegt keinem Maß für Richtigkeit: ein Hauch von Dezision bleibt also. 10 Gast
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Die Gerichte stellen in der Anwendungsgeschichte eines Gesetzes das richtige - oder vielmehr: das amtliche, justizielle - Verständnis des Gesetzestextes her. Dadurch ist ein Präjudiz auch für private Anwendung geschaffen, die Auslegungsfreiheit der Privaten scheint verbraucht. (Eine "Enteignung" der Konfliktionäre, wie Christie rügte!?) Dennoch: Die amtliche Lesart ist unerheblich für jene, die unter dem Gesetz zu ihrem eigenen gemeinsamen Verständnis finden. Herrschende Auslegung mag die abweichende erschweren, man muß sich erst lösen vom wohlfeilen und einseitig durchsetzbaren Rechtsinhalt - oder sie kann das Abweichen erleichtern, da sie den Streitenden für ihren Fall allzu unangemessen erscheint. Das Präjudiz ist ambivalent. Es drängt sich nicht auf, bietet sich bloß an. "Nur" im nicht anders lösungsfähigen Konflikt leistet es, was notwendig ist: es löst.
e) Instanzenzug (1) Ein Idealbild zeigt den Richterspruch, der unkritisierbar begründet ist und den der Verlierer widerstandslos akzeptiert. Das geltende Recht unterstellt den idealen Erfolg nicht, entstammt im Gegenteil der Skepsis und gibt ihr auch einigen Raum: es eröffnet ihr einen Instanzenzug. Die etablierte Gerichtsbarkeit, beschrieben im Gerichtsverfassungsgesetz und in den Prozeßordnungen, läßt bei vielen Prozessen legalen Protest gegen den ersten Richterspruch zu. Unter gesetzlich geregelten Bedingungen darf der unzufriedene Verlierer erneute Entscheidung in zweiter Instanz verlangen; oft ist danach noch der Weg in die dritte Instanz eröffnet, die den zweiten Spruch überprüft. Ein langer Weg des Rechts, den der Rechtszweck überhaupt, die Gesetzesform insbesondere legitimiert. Rechtsmittel gegen den einmal gefällten Spruch verlängern den Konflikt: dies jedoch um der Befriedung willen. Die Unzufriedenheit mit der Entscheidung erhält ihr rechtliches Ventil, die Rechtsordnung fängt den noch immer nicht beigelegten Streit weiterhin auf. Dem Wechsel hinüber auf den Kohlhaasweg sucht der lange Rechtsweg vorzubeugen. Staatsgewalt gegen die Kohlhaaserei darf sich gerechtfertigt sehen, da doch der Rechtsweg eröffnet ist, womöglich begangen worden war. Der Richterspruch wäre eine schwache Streithilfe ohne die Zumutung, daß er zu befolgen sei; seinem Geltungsanspruch kommt die Länge des Rechtswegs zugute: Gelegenheit, ein anderes Ergebnis zu erwirken, sofern etwas anderes rechtens sein könnte, sei zur Genüge vorhanden gewesen. - Nicht zuletzt ist der Gang durch die Instanzen als eine List des Rechts interpretierbar, die Streitenden zu erschöpfen. Man findet sich ab, nimmt den Spruch hin - oder weicht gemeinsam aus, bevorzugt künftig die private Gesetzesanwendung. (Auch die allzu lange Verfahrensdauer in erster Instanz regt hierzu an.) Und wenn stattdes-
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sen der scheuere, weniger durchsetzungsfähige Beteiligte vor dem Rechtsapparat resigniert, sein Interesse und damit den Konflikt begräbt, dann ist auch diese Lösung dem Befriedungszweck recht. Unannehmbar wird sie erst, wenn nicht Befriedung allein den ersten Rang in einer Werteskala erhält, sondern mit gleicher Wertigkeit jeder Mensch die Chance haben soll, seine Interessen rechtlich zur Geltung zu bringen. (Aus dem Grundgesetz ist diese Position zugunsten jedermanns ableitbar. Ob der Rechtsweg tatsächlich ihr gemäß ausgebaut ist, beschäftigt Justizkritiker43 .) Soviel an eher pragmatischer Erklärung; Schlüsse aus der Gesetzesform werden sie stützen. - Um das Gesetz zu konkretisieren, genügt dem Prinzip nach eine Instanz. Was aber, wenn die Konkretisierung falsch ist? Da der Richter den Spruch schriftlich begründen muß, werden Fehler seiner Argumentation sichtbar. Der fehlerhaft gebildete Spruch gründet nicht auf dem Gesetz, die Argumentebrücke zwischen Gesetz und Ergebnis existiert nicht, jedenfalls nicht vollständig (und wozu ist ein Brückentorso gut?). Das Richterwort schwebt frei im Raum. Zum Ergebnis würde es durch Autorität statt durch Rationalität, wenn keine Gelegenheit zur Korrektur bestünde. Weil der Richter die richtige Auslegung und Subsumtion zwar schuldet, aber nicht garantiert, verlangt Gesetzlichkeit auch noch den Richter-Richter (den richterlichen Korrektor). Unnötig ist der Korrektor nur, wenn die (vordem) Streitenden das falsche Ergebnis hinnehmen. Ihren Konflikt hat dann ... dieser Spruch? - der spät noch vermittelte Konsens (!) behoben. (2) Korrektur - von der Gesetzlichkeit geboten - setzt voraus, daß der Fehler gefunden und gerügt wird. Sie braucht ihren Verfechter, der das nächste Gericht anruft: eine Aufgabe für den Verlierer, sofern er sein Interesse weiter zu verfolgen gedenkt. Einen unbefangenen Anwalt, der sich allein der Richtigkeit verpflichtet fühlte, hat das Gesetz in ihm naturgemäß nicht. Die andere Möglichkeit jedoch, nach dem Vorbild der Staatsanwaltschaft öffentliche Kontrolleure zu bestellen, liegt weitab vom geltenden Zivilrecht; sie würde Richtigkeit zum höchsten Rechtswert erheben, höher als die Befriedungsfunktion, und das derart unbedingte Gesetz würde keine abweichende Anwendung (auch keine private) vertragen. Die Folge wäre Zwangsfortsetzung des Konflikts, bis das Richtige gefunden ist, das ja wegen unleugbarer Abstraktheit der Gesetze "leider" nicht apriori für jeden Einzelfall zweifelsfrei feststeht. - Erster Wärter der Richtigkeit ist also doch der Verlierer, indem er sein Interesse weiter verfolgt. Da ihm nicht zu 43 Ein Kompendium ihrer Zweifel bietet Rudolf Wassermann (ed.), Menschen vor Gericht, 1979 (Demokratie und Rechtsstaat 41).
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unterstellen ist, er würde nur bei fehlerhafter Entscheidung den Streit fortführen, obliegt alle Arbeit dem Richter der nächsten Instanz: Oberprüfung der Entscheidung und Korrektur, sofern ein Fehler zu finden ist. Schon aber steht der Richtigkeitsgedanke vor einer nächsten Klippe. Denn wie ist zu garantieren, daß der prüfende Richter es bei Verbesserung beläßt? Wie ist die größere Klugheit der zweiten Instanz organisierbar, wie die erneute Überlegenheit der dritten Instanz? Allenfalls könnte die Justiz der Maxime folgen, ausgewiesen schärfere Denker an die Obergerichte zu versetzen. (Ob dies Realität ist, bedürfte der empirischen Erkundung; die geltenden Organisationsgesetze regeln eine solche Auslese nicht. Und sollten im Gegenteil nicht die Besten in der ersten Instanz arbeiten, damit von vornherein die gesetzeswidrige Unrichtigkeit ausgeschlossen ist?) Daß sie ihren Korrekturzweck erfülle, sei der Praxis unterstellt; doch logisch gesehen ist ihr Tun, was die Richtigkeit angeht, eher zweckwidrig. In zweiter Instanz sind vier Varianten eröffnet: eine richtige Vorentscheidung wird bestätigt; eine falsche Vorentscheidung wird bestätigt; eine richtige Vorentscheidung wird falsch; eine falsche Vorentscheidung wird berichtigt. Um der vierten Möglichkeit willen sind die anderen drei in Kauf genommen; und die Chance für das richtige Ergebnis beträgt, numerisch gesehen, fünfzig Prozent (gerade wie bei Prozeßbeginn). Grund genug also, den Instanzenzug um besser verbürgter Richtigkeit (= Gesetzlichkeit) willen über die zweite Instanz hinaus fortzusetzen!? Wie lange aber? ... Ein mathematisch günstigstes Ende des Rechtswegs gibt es nicht (die Chancenverteilung bleibt gleich), wohl aber praktische Notwendigkeit für das Ende. Eine Instanz jedenfalls wird "Recht behalten", wird das im Fall Rechte unwiderleglich aussprechen - nicht, weil sie die klügste ist, sondern weil sie die letzte ist. Daß sie als erste im Instanzenzug den Fall falsch entscheidet und die Gesetzlichkeit zerstört, gegen diesen Ausgang gibt es keine Versicherung. Als Folge der Abstraktheit betrachtet, hat der Instanzenzug seine kaum auflösbare Problematik. (3) Verbindlicher dient er anderen Momenten der Gesetzlichkeit: der Generalität (Gleichheit) und der Affirmation (Festlegung). Die höhere Instanz beherrscht die Gesetzesanwendung aller Richter, deren Entscheidungen sie kontrolliert: das nach "höherer" Ansicht falsche Ergebnis hat keinen Bestand. Die Pyramidenform des Instanzenzugs - je ein Obergericht überprüft die Arbeiten mehrerer Untergerichte - verschafft der Korrektur Breitenwirkung. Der Nachdruck "von oben" gleicht die Verständnisse an und sorgt für Wiederholung des gemeinsam gewordenen Verständnisses. Eine so protegierte Ausle-
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gung des Gesetzes verfestigt sich, sie wird zur herrschenden Praxis. (Sogar zur herrschenden Meinung, wenn sie auch in der rechts dogmatischen Literatur weithin Anhang findet.) Da die Praxis an das Gesetz geknüpft werden muß und geknüpft wurde, entsteht der definitive Inhalt des Gesetzes. Die Wörter im Gesetzestext haben ihren klaren Wortsinn bekommen. Die höhere Instanz übt sogenannte Definitionsmacht aus, freilich nicht dezisionistisch, sondern unter Anstrengung der Begriffe (= argumentativ) und gemessen am Ideal Richtigkeit. Dabei hat eine der Richtigkeitsbedingungen, das Verbot des Widerspruchs, noch mehr als logische Bedeutung erhalten: bezogen auf die Zeit, weitet es sich zum Gebot der Kontinuität aus. In den Ergebnissen, die der Gesetzestext auffing und festhält, sind reflexiv die amtlichen Ausleger aller Instanzen verfangen; ihre Verfügungsmacht über den Text - eine rationale, keine freie Verfügung von vornherein - verengt sich in der Anwendungsgeschichte eines Gesetzes zusehends. Oder vielmehr: Die dauernde Anwendung hat eine Tendenz zur Verengung. Denn kein "Wortlaut" eines Gesetzes kann so erstarren, daß Richter nicht klüger werden, nicht denselben Text anders interpretieren könnten, angestoßen durch neue Konflikte und veränderte außer-justizielle Anschauungen. Auch der obergerichtlich wohlgehütete Gesetzessinn ist ständig im Fluß - Affirmation und Abstraktheit im Widerstreit. (Und nicht zu vergessen: Ein Federstrich der Konfliktionäre, und Bibliotheken voll Dogmatik werden an diesem Fall zur Makulatur44 .) (4) Einige Bemerkungen noch zum etablierten Instanzenzug. Er nimmt nicht gleichmäßig jeden Prozeß auf. Das geltende Verfahrensrecht wählt aus, obwohl doch die theoretisch bedachten Aspekte des Rechtswegs für jeden Fall zutreffen. Bei geringwertigen Streitgegenständen (laut Wertung der Verfahrens gesetze) muß der Verlierer die Entscheidung erster Instanz meistens hinnehmen. Nur ausnahmsweise wird auch ihm der Rechtsweg geöffnet: dem Verlierer vor dem Arbeitsgericht beispielsweise, wenn das Urteil in seiner Angelegenheit von der bisherigen Rechtsansicht der nächsten Instanz abweicht. - Unterschiedlich sind die Wirkungen der Rechtsmittel. Die Berufung, der übliche Behelf gegen das Urteil erster Instanz, führt zur Neuverhandlung der Sache: der Prozeß wird wiederholt. Anders die Revision gegen das Urteil zweiter Instanz (oder als Sprungrevision gegen das erste Urteil geführt): das Revisionsgericht legt den Prozeß nicht abermals auf, es überprüft die Vorentscheidung nur auf gerügte Rechtsfehler hin. (Vergleichbare, wenn auch anders benannte Stationen hat der Rechtsweg für die "Betriebspartner" bei Streitigkeiten aus dem Betriebsverfas44 Variation des berühmten Satzes von Julius v. Kirchmann: "Drei berichtigende Worte des Gesetzgebers und ganze Bibliotheken werden zu Makulatur." - Zur Affaire Kirchmann: Hattenhauer (Fn. 5), Rz. 412 - 418.
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sungsrecht.) Als Super-Revision ist schließlich die Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht möglich; mit ihr kann der Verlierer des Revisionsverfahrens geltend machen, die Revisionsentscheidung habe seine Grundrechte verletzt. In solchen Ausdifferenzierungen treffen Konsequenzen der Gesetzlichkeit, Traditionen und pragmatische "Zwänge" der Organisation bunt zusammen. f) Vollstreckung
Der Richterspruch bringt die Rechtslage zur Sprache. Der nicht mehr anfechtbare ("rechtskräftige") Spruch hält sie endgültig fest. ,Rechtslage' meint: die Lösung des einzelnen Konflikts; des Konflikts, der offen ausgebrochen war und justizförmig ausgetragen wurde, ein Streit dieser Menschen um diese Sache oder dieses Interesse. Der Kläger, dessen Klage abgewiesen ist, weiß nunmehr um die "Sinnlosigkeit" seines Begehrens. Der erfolgreiche Kläger weiß, was er verlangen darf (das Geforderte oder, bei Teilerfolg, den im Richterspruch festgelegten Teil); der unterlegene Beklagte kennt seine entsprechende Verpflichtung. Der Streit ist geklärt, entschieden - doch nur auf dem Papier. Das abstrakte law in the books wurde zum konkreten Ausspruch des Rechten, der nächste und letzte Schritt aber steht noch aus: die Verwirklichung, der praktische Vollzug. Nach außen hin aufs einfachste "vollzieht" der unterlegene Kläger den Spruch: er tut - nichts. (Exakt: Er beschränkt sich darauf, die Prozeßkosten zu bezahlen.) Die Untätigkeit in der vormaligen Streitsache zeigt das Einverständnis mit dem Spruch an, oder weniger euphemistisch: das Sichfügen ins Unabänderbare; aber beides läuft aufs Selbe und rechtlich Wesentliche hinaus: auf Friedfertigkeit; auf befriedetes Weiterleben. - Wenn der Verlierer jedoch gegen den Spruch agiert? Der Versuch, den Konflikt weiter zu betreiben, gerade als sei die Lösung noch nicht gefunden: dieser Versuch folgt Kohlhaasens Spuren. (Womöglich nur eine leere Imitation, die ihr Vorbild nicht erreicht, denn K. brach nicht nur das Recht, er behielt auch Recht.) Auf dem Irrweg fände verbotene "Selbsthilfe" statt. (Etwa: Arbeitnehmer der S.-Werke okkupieren die Oldtimer-Sammlung, nachdem die Herausgabeklage abgewiesen wurde.) Die noch immer konfliktmäßige Aktion führt aus dem System Recht hinaus. Sie führt nUn sogar mit Sicherheit ins Unrecht. Denn das gerichtlich verworfene Interesse läßt sich nur mehr mit Gewalt oder Täuschung durchsetzen, also in einer Straftat. Vermeintlich durchsetzen, da der Gegenschlag droht, der den rechtswidrigen Erfolg zunichte macht. (Den Arbeitnehmern würde, zur Herstellung der Rechtslage, die Beute gewaltsam weggenommen:
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die Hausfriedensbrecher würden aus den Abstellräumen der Autos geführt. Und die Bestrafung des Rechtsbruchs würde folgen.) Das Strafrecht also sorgt mit seinen Sanktionsandrohungen für "Befolgung" des klageabweisenden Urteils; ein Zwang (vis compulsiva), der allerdings immer besteht, auch schon vor dem Prozeß dazu "anregte", den Rechtsweg zu wählen. Auf eine ganz andere Weise garantiert das Recht dem erfolgreichen Kläger Verwirklichung: Dazu, der Anschauung wegen, ein Anhängsel zum Fall S. Unterstellt, einige Zeit vor dem Konkurs hatten die Arbeitgeber S. mehreren Arbeitnehmern gekündigt. Die Arbeitnehmer klagten beim Arbeitsgericht auf Feststellung, daß die Kündigungen rechtswidrig und darum unwirksam seien. Das Gericht teilte diese Rechtsansicht (gleichbedeutend: es erkannte die Interessen der Arbeitnehmer als rechtens an), erklärte jedoch auf Antrag der Verlierer die Arbeitsverhältnisse gegen Abfindung für beendigt. (Ein eher üblicher Ausgang "erfolgreicher" Kündigungsschutzprozesse.) Die Verlierer S. also wurden zur Zahlung von Abfindungen verurteilt, wollten aber nicht zahlen oder waren momentan nicht "liquide". Aber es gab ja noch "Bugattis" ... Der ordentliche Verlierer tut, was der Richterspruch ihm vor-schreibt. Ein Schuldner, zur Zahlung eines bestimmten Betrags an den Sieger verurteilt, realisiert das Rechte endlich, indem er zahlt. Zahlt er nicht, so wird die erst wörtlich existente Rechtslage mit staatlicher Hilfe auch dinglich hergestellt. Der siegreiche Gläubiger beantragt Vollstreckung; ein Gerichtsvollzieher erscheint beim Schuldner, pfändet Sachen aus dessen Habe (einen "Bugatti"), läßt das gepfändete Gut abholen, versteigert es öffentlich, zahlt vom Erlös den Gläubiger aus - das richterliche Wort ist Wirklichkeit geworden. Das Rechte ist nun so konkret wie die Dinge, so positiv wie jede Tatsache (eine Positivität, die nach Gewalt aussehen kann; dazu 1. Kap. VI 3 a). Vollstreckung darf man nicht mit Sanktion verwechseln. Schulden nicht zu zahlen, obwohl ein Urteil die Verpflichtung ausspricht, ist für sich genommen kein Unrecht. Ein Schritt aus dem Rechtssystem zwar; doch dem Unwilligen zum Trotz stellt das Rechte sich, dank einiger Nachhilfe, bald ein. Nur ausnahmsweise ist Nichtzahlung zugleich strafbar (Nichtzahlung von Unterhalt). Die Strafe aber stellt dann weder die Rechtslage her noch befreit sie von der Vollstreckung. Den Schuldner, der zugleich die Positivierung des Rechts verweigert und Unrecht begeht, trifft die Rechtsordnung im Gegenzug zweifach und verschiedenartig. (Einen logischen Schluß von Nicht-Recht auf Unrecht gibt es nicht.) Allenfalls ein Hauch von Sanktion haftet der Vollstreckung als Nebenwirkung an: der Schuldner büßt Sachen ein und muß für die Kosten des Verfahrens aufkommen. Die Aussicht auf dieses übel kann zu freiwilliger Rechtsverwirklichung anhalten (mit der vis compulsiva einer Sanktionsandrohung): so hätte das Vollstreckungsrecht immerhin
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sich selbst seinen "wesens gemäßen" Einsatz erspart, zugunsten ruhigerer Gesetzlichkeit. g) Rechtsdogmatik (1) Verwirklichung des Gesetzes ist, der allgemeinsten Methode nach, Konkretisierung eines Abstraktums. An ihr arbeitet eine noch zu nennende Sektion der Juristenzunft mit: die Gruppe der Rechtsdogmatiker. Die Jura-Professoren - wörtlich: Bekenner des Rechts -, ihre Assistenten und Doktoranden gehören dazu, ebenso die juristisch schriftstellernden Richter und Anwälte in dieser Autorenrolle. Der Rechtsdogmatiker ist weder RechtsmittIer im realen Konflikt noch gar amtlicher Entscheider (er wäre es nur zufällig nebenher); er fungiert als Hüter der juristischen Argumentation. Sein Arbeitsbereich ist nicht je dieser Konflikt, den es zu lösen gilt, sondern der Freiraum im Gesetz: das Reich der möglichen Bedeutungen eines Gesetzestextes. Das gesetzliche (= abstrakt gezogene) Feld mit Argumentationen konkretisierend auszufüllen, ist Dogmatik. Sie geschieht jedoch unverbindlich, der Dogmatiker bietet Entwürfe des Richtigen den Rechtsmaklern und Entscheidern bloß an. Hierfür simuliert er Gesetzesanwendung, sein Spielfeld sind abgelebte, drohende oder ausgedachte Konflikte, für welche er die ideale Lösung zu konstruieren sucht. So entstehen Modelle an Begründung und Resultat; Auslegungshilfen oder gar Vorlagen für den Ernstfall, in Muße durchdacht und abstrakt studierbar. Vor allem entstehen divergierende Entwürfe, je nach Interessenrichtung des Verfassers; nach Neigung eher zur einen oder anderen (inhaltlichen) Rechtserwartung aus Konflikten. Man braucht nur die Lehrbücher und Gesetzeskommentare zu vergleichen, ihre Vielfalt an Argumentation und ihre verschiedenen Ergebnisse zum selben Modellfall: sie zeigen, daß Entgegengesetztes mit gleicher Folgerichtigkeit begründet werden kann. Dogmatik in ihrer Gesamtheit spiegelt Toleranz, wie sie aus der Abstraktheit geboren wird: Toleranz nicht nur infolge der Abstraktheit des Gesetzes(textes), dem vielerlei subsumierbar ist, sondern auch die Toleranz der Unverbindlichkeit; der unbedrängten Situation, in welcher der Dogmatiker denkt. (Eine Abstraktheit aus Verschonung von Realitätsdruck.) Unter der Last des realen Einzelfalls (unter seinen Bedürfnissen, Besonderheiten, Plausibilitätsgrenzen) wird die Vielfalt der "Theorie" schnell eng, zeigt sich ein praktisch "Richtigstes"; das Nächstliegende zum Beispiel. Zur Affirmation des Gesetzes trägt Dogmatik trotz ihrer Vielfalt bei. Das Gesetz, "an sich" oftmals fast eine tabula rasa, vielerlei okkasionellen Deutungen, gar nur Assoziationen offen, ist ins Gerüst dogmatischer Konstruktionen, exemplarisch gemeinter Auslegungen, sinnbestimmender Zusammenhänge und Prämissen gefaßt. Verengung der Verständ-
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nisse ist aber nur eine Seite dogmatischer Konzeptionierung (conceptio: Abfassung juristischer Formeln). Rechtsdogmatik ist auch der systemimmanente Ort des Widerstands gegen verfestigte Inhalte; die Gelegenheit, das ganz selbstverständlich gewordene Verständnis überraschend mit einer Gegenthese zu bedrohen, es aufzubrechen, das Gesetz wieder in Fluß zu bringen ... (2) Bewegung sogar in ein so fixiertes Verständnis, wie etwa die herrschende Auslegung des § 950 BGB eines ist? Produkte würden vom Unternehmer "hergestellt", das Gesetz weise ihm das Eigentum zu und enteigne den Stofflieferanten (Punkt 2 der Lösungsskizze ,zum Fall S.). - Der dogmatische Gegenentwurf müßte zweierlei versuchen: das Verb ,herstellen' realistischer auszulegen und den so ausgelegten Satz ins Arbeitsrecht einzuführen. Das Ergebnis wäre der Eigentumserwerb der unmittelbaren Produzenten: der Arbeitnehmer. Doch das Unterfangen scheint aussichtslos, schon aus einem pragmatischen Grund: zu lange gilt eine solche Ansicht als unvernünftig, weil dem gesamten rechtlichen Kontext zuwider. Nun aber hat der Bochumer Arbeitsrechtler Fritz Fabricius auf das "unmögliche" Verständnis eine vollständige Theorie des Mitbestimmungsrechts gegründet45 • Er hat das Mitbestimmungsrecht dadurch erklärt und legitimiert, daß er einen dogmatisch abgedrängten Satz zurückrief: "Arbeit führt zum Eigentum des Arbeiters am Produkt seiner Arbeit." Dieses Prinzip - ein Menschenrecht ordne, strikt angewendet, den Arbeitnehmern eines Betriebs das Arbeitsergebnis zur gesamten Hand zu ... Unterstellt, es sei so - aber was dann? Die dogmatische Fortsetzung, angelegt in § 951 BGB, sieht nicht gerade verheißungsvoll aus. Die "Arbeitnehmer", nun Wareneigentümer, müßten dem Unternehmer für das genutzte Produktivvermögen pine Entschädigung zahlen. Fabricius erkennt diesen Weg als dysfunktional - der "Markt" zwischen Unternehmer und Arbeitern, der ökonomisch vermittelte Sozialkontakt zwischen beiden Parteien des Produktionsprozesses, sei nicht dahin reduzierbar. Wesentliche Vorgänge wie die Planung und Leitung (Direktion) des Unternehmens blieben außer Betracht. Einer pekuniären Lösung (Ausgleichszahlung für unternehmerische Vorgaben) zieht Fabricius daher die mitbestimmungsrechtliche vor. Und tatsächlich: Die Mitbestimmung knüpft sachgerecht an bei der Produktionsveranstaltung als einem "Markt" für die beiderseitigen Interessen und verfaßt den Interessenausgleich zweckmäßig. Oder vielmehr: Der Interessenausgleich wäre angelegt, wäre rechtlich garantiert, wenn das geltende Recht paritätische Mitbestimmung umfassend für alle Angelegenheiten in Betrieb und Unternehmen vorsehen würde ... Zurück zu § 950 BGB. Es ist dogmatisch sinnvoll, für das von Fabricius wiederentdeckte "Menschenrecht" eine Einbruchstelle ins geltende Recht zu finden. Ohne sie wäre dogmatisch von vornherein nichts auszurichten. § 950 BGB also? Immerhin: Das Verb ,herstellen' verträgt eine Definition, die sich an äußerer Anschauung (an der Handarbeit) orientiert. Eine nächste Hürde 45 Fabricius (Fn. 31), insbes. ab S. 106. Fabricius hat allerdings nicht bei § 950 BGB angeknüpft, um eine Neuauslegung dieser Vorschrift zu versuchen, sondern den Sinn, den sie bei "unbefangener" Lektüre haben könnte, aus den Grundrechten abgeleitet. Vgl. dazu nunmehr auch seine Schrift: Unternehmensrechtsreform und Mitbestimmung in einer sozialen Marktwirtschaft, 1982, S. 34 ff.
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im Gesetzestext ist problematischer: das Wertverhältnis zwischen Arbeit und verarbeiteter Materie, das über die Zueignung entscheiden soll. Der Text verlangt konkrete Abrechnung; auf die Unterschiedlichkeiten und Zufälle, die dabei zu erwarten sind, kann man eine sinnvolle Ordnung des Produktionsprozesses kaum gründen. Hilfe bietet sich indessen aus dem Argumentevorrat der Mitbestimmungsdiskussion an: Kapital und Arbeit seien äquivalente Bedingungen des Produktionserfolgs; man sehe daher von den quantitativen Zufälligkeiten ab und halte sich an dieses typische, qualitative Moment. Die so angesetzte Wertrelation würde noch immer für den Eigentumserwerb nach § 950 BGB genügen. Freilich: Da man die Äquivalenz (Gleichwertigkeit) der Beiträge betont hat, wird die gesetzliche Folge, das Eigentum eines Beiträgers am Produkt, im selben Zug auch zweifelhaft. Der Ansatz weist vielmehr schon über § 950 BGB hinaus: auf die mitbestimmungsrechtliche Lösung, die auch Fabricius anstrebt. Die sachenrechtliche Vorschrift wird letztlich nur en passant (methodologisch gesprochen: in rechtsanaloger Weise) herangezogen, um dem Mitbestimmungsverlangen (= einer Rechtserwartung) eine gesetzliche Grundlage zu geben: "Eigentlich" stünde das Eigentum an den Produkten den Arbeitnehmern zu. Sträuben sich gegen dieses "Eigentliche" nicht doch wesentliche Teile des Zivilrechts.? Der Unternehmer veräußert die Produkte, sie sind in seine Haftung einbezogen, fallen wie die Produktionsmittel (die "Stoffe") in die Konkursmasse bei Unternehmerkonkurs ... Dennoch: das "eigentliche" Eigentum der Arbeitnehmer verträgt sich dogmatisch durchaus mit formalem Eigentum des Unternehmers. Dieses formale Eigentum wäre nämlich treuhänderisch zu binden. Oder noch besser: Es wäre Funktionseigentum, aus Gründen des einfacheren Verfahrens dem Unternehmer zugeordnet, der Sache nach jedoch in die Mitbestimmung eingebunden. Die sachliche Berechtigung des Unternehmers wäre demgemäß die Mitbestimmung über einen Inbegriff von Gütern, die er allein, durch eigene Leistung (Kapitaleingabe, unternehmerische Einfälle), niemals hervorzubringen vermöchte4S ; und dieselbe mitbestimmungsrechtliche Gestalt nähme das "eigentliche Eigentum" der Arbeitnehmer an. - Aber die Mitbestimmung würde sich nicht auf die Verwertung der Produkte beschränken; sie ist schon nach bisher geltendem Recht gerade für andere Angelegenheiten eröffnet! - Erwiderung: So ist es, und um so mehr stellt sich die mitbestimmungsrechtliche Lösung als angemessen heraus. Denn man muß eine weitere Konsequenz des sachenrechtlichen Ausgangspunktes bedenken: Vom Erlös für die Produkte wird auch investiert, und im Investitionsaufwand fließen typischerweise "Entschädigungen" des Unternehmers (§ 951 BGB) und überschüsse der Arbeitnehmer (aus § 950 BGB) zusammen. Also baut sich im Lauf der Zeit "eigentlich" ein (Mit-)Eigentum der Arbeitnehmer an Produktionsmitteln auf. Das Fazit: Der Brückenschlag vom Sachenrecht zum Mitbestimmungsrecht ist "vernünftig" und verträgt sich mit dem schuldrechtlichen, sachenrechtlichen, insolvenzrechtlichen Kontext. Eine letzte Frage aber heißt: Paßt auch der mitbestimmungsrechtliche Kontext? Brauchbar ist ein dogmatischer Entwurf schließlich nur, wenn er sich in den vorhandenen Rechtsformen verwirklichen läßt. Eine Mitbestimmungslehre bliebe Postulat außerhalb des Rechts - ein Stück Prinzip Hoffnung, kein Modell der Rechtsanwendung -, wenn die rechtlich etablierten Entscheidungsprozesse Mitbestimmung verwehren würden, die geltenden Gesetze wenigstens partielle Herrschaft des 4S
Arbeitsvertrag und Direktion (Fn. 30), S. 263 ff.
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Unternehmers bestätigten. Die Lösungsskizze zum Fall S. hat Lücken, gemessen am Ideal umfassender Mitbestimmung, aufgezeigt; weder der Betriebsrat noch der Aufsichtsrat hätte die Gewinnvergeudung verhindern können. Angesprochen wurde aber noch ein anderer Weg des zweiseitigen (mitbestimmten) Entscheidens: der Tarifvertrag. Er ist ein taugliches Mittel, Lücken des übrigen Mitbestimmungsrechts zu schließen. So wie das Entgelt der Arbeitnehmer, könnte ein Unternehmerlohn (die "Entnahme" aus dem Betriebsvermögen) vertraglich festgelegt werden - die Investitionsquote wäre sichergestellt. Die fälligen Investitionen wären damit freilich noch nicht disponiert, und daß sie zwischen Unternehmer und Gewerkschaft ausgehandelt wiirden, mag als unangemessen erscheinen. De lege lata lösbar ist auch dieses Problem: Tarifverträge könnten, statt selbst Entscheidungen zu treffen, den Entscheidungsapparat im Unternehmen verbessern, zumal das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats auf alle Angelegenheiten ausdehnen. Insgesamt ein Stück Praxis, das sich unter Art. 9 Absatz 3 Grundgesetz subsumieren ließe; der umstrittene Verfassungssatz müßte "nur" weit genug ausgelegt werden. Zum selben Ergebnis haben auch andere rechtsdogmatische Konstruktionen schon geführt47 • An ihnen allen wird die abstrakte Natur von Dogmatik besonders augenfällig: den Rest an Konkretisierung hätten Akteure des Rechtssystems zu wagen. 4. Reglement und Regulierung
Zwei Arten von Gesetzen, bisher beiläufig voneinander geschieden, sollen hier ihre Namen bekommen, der Unterschied soll klarer erarbeitet werden. Der Ausdruck ,Reglement' kann das (mehrmals so genannte) definitiv regelnde Gesetz bezeichnen und charakterisieren. Regulierung ist demgegenüber ein Verfahren ohne vorgegebenen Ausgang; sie ist Reglement allein für den Weg des Konflikts, nicht für das Ergebnis. Wodurch ein Reglement seinen Charakter des Endgültigen, Unbedingten hat, wurde aufgeklärt: nicht der Gesetzestext, nicht das Gesetz als textlich vermittelter Sinn ist von sich aus definitiv ("beendend"), erst der zugehörige Apparat der Rechtsverwirklichung stellt dieses Definitive von Fall zu Fall her. Reglementiert wird der Konflikt im Richterspruch, der das "einschlägige" Gesetz anwendet (das Gesetz zur verbindlichen Lösung wendet). Vom Ende der Gesetzesanwendung aus gesehen, sind Ergebnis und Gesetz identisch: der Gesetzestext wird zuletzt so verstanden, daß er das Resultat darstellt. Dennoch, die problemreiche Distanz zwischen Abstraktem und Konkretem ist für den gelösten Fall nur vergessen; wie ein Erfolg die Mühen des Weges verges47 Walfgang Däubler hat das Prinzip umfassender paritätischer Mitbestimmung als Verfassungsgebot aus den Grundrechten abgeleitet; Das Grundrecht auf Mitbestimmung, 1973. Und schließlich läßt dieses Ergebnis sich gewinnen, wenn man das Vertragsprinzip ernst nimmt, es als die Grundnorm des Arbeitsrechts akzeptiert und Mitbestimmung als den Modus seiner Einlösung erkennt; Arbeitsvertrag und Direktion (Fn. 30), S. 24 ff., 343 passim.
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sen macht. Bis zu diesem Schlußpunkt war ein Gesetz, das zum Reglement bereitstand, seinerseits ein Feld der Möglichkeiten, ähnlich der Regulierung. Nur ist das eine Feld "logisch" enger als das andere, der Unterschied ist trotz des Teilchens übereinstimmung wesentlich (er ist qualitativer Art). Das Definitive des Reglements aber bringt sich keineswegs nur durch den Richter zur Geltung, auch die private Rechtsanwendung bekommt es zu spüren. Auch dort heftet die Rechtssuche sich ans gesetzliche Wort, sie hat das Ziel, dieses Wort zu treffen; und daß man sich über den Wortsinn zu verständigen weiß, löst den Konflikt. Im regulierten Konflikt hingegen fehlt dieser Anhalt, die Lösung ist freier; kein Gesetz hält sie abstrakt bereit, kein Richter kann sie von Gesetzes wegen auferlegen. An jeder Regulierung läßt sich aber auch Reglement erkennen: reglementierende Gesetze haben sie vorgeschrieben. - Ein Beispiel zur Verdeutlichung: Den alljährlich neu auflebenden Lohnkonflikt zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern regulieren Tarifverträge; das Sich-Einigen ist konflikt-lösendes Verfahren und schließlich förmlicher Grund des Resultats. Zu welchen Themen eine Tarifpartei Verhandlungen fordern kann, sogar durch Arbeitskampf erzwingen darf, ist gesetzlich reglementiert. Streit über die Tarifzuständigkeit - darf die Gewerkschaft Investitionen erstreiken? - ist aus Art. 9 Absatz 3 Grundgesetz zu entscheiden. Auf die Frage hingegen, ob ein umstrittener Lohnzuwachs 6,5 oder 7,0 Prozent betragen soll, gibt es keine gesetzliche Antwort (kein Reglement). Gelegenheiten für Regulierung de lege lata enthält der Fall S. (2. Kap. 1(3)). Regulierbar ist der Konflikt um die Stillegung des Unternehmens. Unternehmer und Betriebsrat sollen hierüber verhandeln (womöglich kommt der Betriebsrat auf den rettenden Einfal1?). Mitbestimmen darf der Betriebsrat in diesem Punkt jedoch nicht, das Mitbestimmungsrecht beginnt einen Schritt später: beim Streit um Konsequenzen. über die Stillegung entscheidet (vor Konkurseröffnung) der Unternehmer. Er entscheidet "frei": unabhängig von einem Gesetz, das (unter Angabe von Bedingungen) diesen Entschluß fordern würde. Einseitige Entscheidung ("Befehl") ist eine Regulierungsform; das private Machtwort erklärt den Streit darüber, ob das Unternehmen sterben soll, für erledigt, es schränkt den legalen Konflikt auf die Folgen ein. (Arbeitnehmer, die dem Teilresultat widerstehen, den Streitpunkt fortsetzen wollten, müßten zu rechtswidrigen und strafbedrohten Methoden greifen: Besetzung der Fabrik, Aneignung der fremden Produktionsmittel ...) Im Gefolge der Stillegung Abfindungsansprüche zu vereinbaren, ist der nächste konfliktregulierende Vorgang. Die Regulierung geschieht nun durch Vertrag zwischen den "Betriebspartnern" oder, wenn man nicht einig wird, durch den Spruch der Einigungsstelle. Erst für den Fall, daß die betriebsverfassungsrechtliche Regulierung
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entfiel, begründet ein reglementierendes Gesetz (§ 113 BetrVG) Ansprüche der einzelnen Arbeitnehmer. Nun erst ist das Arbeitnehmerinteresse selbst einem Gesetz subsumierbar. - Reguliert werden Konflikte auch im Aufsichtsrat des "mitbestimmten" Unternehmens. Interessen, für welche Arbeitnehmervertreter dort eintreten, stehen zur Abstimmung, die Mehrheit hat recht (sie setzt das Rechte fest). Reguliert wird also durch Beschluß. Wieder ein anderes Regulierungsverfahren ist der Konkurs. Den Streit um das Schuldnervermögen entscheiden Konkursverwalter, Gläubigerversammlung und Konkursrichter in komplexer Zusammenarbeit; dabei sind manche Streitpunkte aber schon reglementiert (die Rangfolge der Gläubiger zum Beispiel). Regulierung und Reglement zu unterscheiden, ist nicht bloß Formsache: kein Gedanke allein zur Gesetzesform. Zu welcher der beiden Klassen ein Gesetz gehört, ergibt sich aus seinem Inhalt. Das Gesetz spricht entweder aus, wie die Rechtslage sein soll, es beschreibt das Rechte abstrakt; oder es spricht lediglich vom Verfahren: von der Entscheidungs befugnis eines Menschen oder von der Möglichkeit, einen Vertrag zu schließen, einen Beschluß zu fassen. Dagegen nennt kein Gesetzessatz die eigene Abstraktheit beim Namen, sie läßt sich nur zeigen; in der Auslegung wird sie vorgeführt. Vergleichbar stumm offenbart sich auch die reglementierende Absicht des Reglements: sie ergibt sich daraus, daß ein Satz das Rechte ausdrücklich festlegt. Insofern ist auch sie ein formales Moment am Satz, im Unterschied zur regulierenden Vorschrift, die aussagt, was und wie reguliert wird (und nur das Wort ,regulieren' vermeidet). Unterschiedlich angesiedelte Freiräume sind sichtbar geworden, teils als unabziehbare Qualität jedes Gesetzes, teils als gesetzlich anlegbarer Weg der Konfliktlösung. Im Anschluß an diese Aufklärung der Strukturen heißt die wichtigste Frage: Wer verbraucht, zum Vorteil dieses oder jenes Interesses, die nachgewiesene Freiheit? überlegungen zum Verbrauch der Abstraktheit werden das Kapitel ,Gesetzlichkeit' abschließen. Von den Regulierungsweisen ist später zu sprechen, in einer kurzen Inhaltsanalyse des geltenden Arbeitsrechts. 5. Gesetzlichkeit und Herrschaft
Vorab sei an die Definitionen erinnert - sie geben das Gerüst, ohne welches das Nachdenken seinen Gegenstand suchen würde wie mit Stangen im Nebel. Herrschaft ist verrechtlichte Macht; Macht ist die Chance, ein Interesse zu Lasten des Gegeninteresses durchzusetzen. Wer Herrschaft erdulden muß, ist unfrei: er ist abhängig von "eines anderen nötigender Willkür". Der Herrschende braucht die Freiheit, die in einer Lebenslage enthalten ist, für sich auf (für das eigene Interesse oder für ein Interesse, dem er dient) ... Die Kategorien stimmen zusammen, sinnvoll ist die Frage nach herrschaftlicher Nutzung der gesetzesimmanenten Abstraktheit. Ist das Gesetz eine Herrschaftsform?
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2. Kap.: De lege lata (nach geltendem Gesetz)
Es ist ambivalent (wie jede Formalie): ein Angebot zur Herrschaft ebenso wie eine Chance, gleiche Freiheit der Konfliktionäre zu verwirklichen. Nach welcher Richtung das jeweils geltende Recht neigt, ist aber nicht dem Zufall überlassen. Die soziale Wirklichkeit, in welche ein Gesetz fällt, und die ihrerseits verrechtlichten Bedingungen der Rechtsverwirklichung (die etablierten Rechtswege) legen die Tendenz fest. Von typischen Ausrichtungen soll (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) die folgende übersicht handeln; der Tendenzbefund wird teils realmögliche Momente, teils die Situation de lege lata darstellen. a) Herrschaft an der Rechtsquelle In den Freiraum, den ein Gesetz unvermeidlich festhält, ist nur ein Rest der denkbaren Lösungen gerettet. Welcher Rest aber? Ein Gesetzgeber, befugt zur Wortwahl für den Gesetzestext, entscheidet diese Frage - soweit Abstraktheit die künftige Auslegung steuerbar macht. Immerhin kann der Text nicht alles Beliebige bedeuten, er affirmiert auch, und Gesetzgebung kann daher als Herrschaft über das Gesetz erscheinen. Eine Herrschaft, die (ex definitione) im Innern von Gesetzen ausgeübt würde: Art. 1 - 20 Grundgesetz geben der Legislative ein Reglement vor, wenn auch auf sehr hoher Abstraktionsebene. Der Gesetzgeber nutzt die Formalseite der Verfassungsgesetze auf extreme Art: generalisierend statt bloß fallweise. Er bereitet zahllosen künftigen Konflikten ihre rechtliche Falle. Mit Definitionen greift er nach der Gesellschaft, und müßte man dieses Tun als herrschaftlich begreifen, so wäre es Herrschaft mittels der Gesetze. Aber vielleicht herrscht ein demokratischer Gesetzgeber gar nicht? Vielleicht ist Gesetzgebung im demokratischen Zusammenhang ganz anders aufzufassen?! Herrschaftlich scheint die Lage, wenn man allein den Ablauf der Gesetzgebung betrachtet. Denn darin wählt der Gesetzgeber aus einer Summe verfassungsgemäßer Rechtserwartungen die ihm opportune, ihm vernünftig scheinende Möglichkeit: ein Votum für das eine, gegen das andere Interesse, gefällt von der allein zuständigen und insoweit "selbstherrlichen" Instanz. Um herrscherliche Unabhängigkeit steht es dagegen schlecht, sobald man den demokratischen Kontext hinzudenkt. Hiernach geht alle Staatstätigkeit vom Volke aus, und das Gesetz, das aufs Volk zurückfällt, hatte das Volk "in Wahrheit" selbst über sich verhängt, unter Einschaltung des Mediums Parlament. Wenn freilich dem Arbeiter N. gekündigt wird, er den Arbeitsplatz und den Kündigungsschutzprozeß verliert - widerfährt ihm dann bloß sein eigener "Wille"? Eine Konsequenz, die N. in Selbstbestimmung über sich gebracht hat, weil er "seinen" Willy, Helmut, Franz Josef (oder wen immer er zum politischen über-Ich erkor) regelmäßig alle vier Jahre in den Bundestag wählt?? Zwischen dem
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Kreuzchen auf einem Stimmzettel und dem hart treffenden Gesetz und Richterspruch liegt eine Kluft, die keine Gedankenbrücke so leicht überspannt. Gleichwohl bedeutet Demokratie den Versuch, diese Brücke herzustellen, sogar realiter. (Ausführlich zum demokratischen Nexus: 4. Kap. Abschnitt 11.) Angenommen, im theoretischen Entwurf sei es gelungen, die Selbstherrschaft "des Volkes" über sich - eine Selbstbeherrschung mittels Gesetz - plausibel darzustellen: das schöne Bild kann schnell zweifelhaft werden. Es lehrt die Abhängigkeit des Gesetzgebers vom Volk, aber längst existieren Machtgebilde, die in Konkurrenz zum Volk und mit größerem Nachdruck? - die Gesetzgebung beeinflussen. Segmente der Gesellschaft, jedes durch gemeinsame Interessen gebildet, haben ihre Interessenverfolgung organisiert und treten als pressure groups gegen den Gesetzgeber an. Verbände der Ärzte, Unternehmer, Grund- und Hauseigentümer ... ; jedoch auch Organisationen des Gegeninteresses: Verbraucherverbände, Gewerkschaften, Mieterbund ... Sie alle versuchen, den Gesetzgeber für das je eigene Interesse anzuwerben, ihm den gewünschten Gesetzestext zu soufflieren und so mit Hilfe des Gesetzes die Herrschaft ihrer Klientel in den anfallenden Konflikten zu sichern. Ein Zugriff, den das üblich gewordene "hearing" (die Anhörung im frühen Stadium des Gesetzgebungsverfahrens) bereits zur Institution werden ließ48. Ob dieser "Lobbyismus" die Volkssouveränität untergräbt, "Klassenherrschaft" unter dem Deckmantel Demokratie begründet, ist jedoch durchaus fraglich. Okkupation des Gesetzes durch eine (womöglich immer durch dieselbe) "Lobby" ist zwar möglich, folgt aber nicht zwingend aus dem Verbändewesen. Das "pressure" der Verbände auf den Gesetzgeber kann ein Stück demokratisches Verfahren sein, sofern konkurrierende Verbände von einigermaßen gleicher Macht um den Einfluß werben. Machtsymmetrie zwischen Kontrahenten ist die sicherste Bedingung für Kompromisse: für ein Resultat, das kein Interesse obsiegen läßt und dennoch jedem so viel (oder wenig) Befriedigung bringt, daß es (fürs erste) befriedet. Dem Gesetzgeber sind die - einander komplementären - Verbände nützlich: er lernt präzis die Interessen jeder Seite kennen und erfährt auch, mit welchen Entscheidungen er beide Seiten friedlich halten könnte. Zugleich hat die Mitwirkung legitimierende Kraft. Denn einem Ergebnis, das man selbst mit zustande brachte, kann man sich nicht so leicht entziehen. An der Rechtsquelle direkt wird die Herrschaftsfrage nicht endgültig entschieden. Wie herrschaftlich (= parteiisch zugunsten eines Interesses) 48 Zu Theorie, Praxis und Problematik der Verbände in der Demokratie: einführend Friedrich Kübler, Gesellschaftsrecht, 1981, S. 393 fi. mit vielen, wichtigen Literaturhinweisen.
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oder im Gegenteil kompromißhaft ein Gesetz auch immer ausfallen mag, die in ihm angelegte (eher nur: die intendierte) Richtung setzt sich in der Gesetzesanwendung nicht zwangsläufig fort. Herren (?) der einmal legalisierten Abstraktheit sind andere: von Profession wegen die Dogmatiker und zumal die Richter. Ihre Argumentationen können eine herrschaftliche Tendenz mildern oder abwenden, mit derselben logischen Wahrscheinlichkeit allerdings den Kompromiß zum Herrschaftstitel verbiegen. Vor allem aber ist das Gesetz den Konfliktionären selbst ausgeliefert, ihrer Macht oder Ohnmacht im Einzelfall. b) Die Zumutung, sich zu wehren
(1) In einem Sinn ist wohl jedes Gesetz gegen reale Macht gerichtet: es soll Interessendurchsetzung abwehren, die nicht unter seinen Text paßt. Insofern ergreift im faktischen Machtgefälle das Gesetz immer Partei für den Schwächeren. Der (ökonomisch oder intellektuell) Unterlegene kann mit Hilfe des Gesetzes seine (außerrechtliche) Schwäche verringern, vielleicht sogar ausgleichen, das Gesetz neutralisiert im Anwendungsfall die vorhandenen Machtgründe. Voraussetzung ist "nur", daß der Schwächere seinen Freund und Helfer, das Gesetz, aktiviert. Eine Frau ohne Berufsausbildung, aus "einfachen Verhältnissen" (aus der "Unterschicht"), findet endlich einen Arbeitsplatz: Hilfsarbeiterin. Der Betrieb (typischerweise: ein Unternehmen des Handwerks oder Handels) hat keinen Betriebsrat. Die Hilfsarbeiterin wird unter Tarif bezahlt. (Tariflohn oder mehr bekommen nur die männlichen Fachkräfte.) Der Arbeitgeber verlangt von ihr "Überstunden" nach seinem Belieben, bezahlt dafür den sonstigen Stundenlohn. Die Frau bricht auf dem Weg zur Arbeit den rechten Arm, wirafür einige Wochen arbeitsunfähig - der Arbeitgeber kündigt fristlos. In Gesetzestexten, Kommentaren, Gerichtsurteilen sieht die Arbeitswelt nicht so "unsozial" aus. Der Arbeitgeber darf einzelne Arbeitnehmer(innen) nicht unter die Lohnmaximen des Betriebs drücken. Überstunden darf er nur im Ausnahmefall anordnen, und selbst die freiwillige Mehrarbeit ist nur zeitlich beschränkt zulässig. Vor allem ist Mehrarbeit höher zu vergüten (Einzelheiten regelt die Arbeitszeitordnung). Die fristlose Kündigung ist aus "wichtigem Grund" zulässig (§ 626 BGB); eine Erkrankung genügt dafür nach herrschender Auslegung nur, wenn sie den Arbeitsvertrag für nicht absehbare Zeit unerfüllbar macht, ihm die "Geschäftsgrundlage" nimmt. Das bessere Recht im Buche wäre nun aufzubieten gegen die schlechtere Wirklichkeit. Wer das Gesetz zur Hilfe ruft, hat schon intellektuelle und psychische Vorarbeit geleistet. Ein Interesse mußte bewußt werden: ein Mensch mußte erkennen, was ihm fehlt und wie dem Mangel tatsächlich abzuhelfen wäre. (Pure Unzufriedenheit ist ein heilloser Zustand, der Mensch ist darin eingesperrt, wird aggressiv, bis eine Abreaktion ihn vorübergehend entlastet; ein Ausbruch, der in der Regel ein unschuldi-
II. Merkmale der Gesetzlichkeit
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ges Opfer, nicht den Verursacher - den Interessengegner - trifft. Der (die) Unzufriedene müßte, statt ein Kind zu schlagen, sein (ihr) Interesse zur Sprache bringen.) Notwendig ist sodann, das begriffene Interesse mit dem Recht in Beziehung zu setzen; nicht mit bestimmten Paragraphen, doch immerhin mit der Rechtlichkeit überhaupt: Von Rechts wegen sei die Sache so! Erst wenn eine Rechtserwartung aufgebaut ist, kann Rechtssuche beginnen. Sie kann beginnen: aber dafür genügt nicht, daß Erwartungen still gehegt werden. Den Einsichten und Wertungen - der gedanklichen Bewältigung des Konflikts - muß der Mut zum Konflikt folgen; die Courage, den (vermuteten) Rechtsanspruch geltend zu machen. Dazu wiederum ist nur fähig, wer Vertrauen in die Rechtsordnung hat. Die Einlassung auf den Konflikt kann bedeuten, daß ein Mensch in inferiorer (abhängiger) Lebenslage seine Existenz dem Recht anvertraut. Beides, Mut und Vertrauen, erweist sich nun durch Praxis (pragma = Tat, Geschäft, Mühsal). Sie beginnt als persönlicher, "privater" Versuch, sich mit dem Gegner auseinanderzusetzen. Geht dieser Versuch erfolglos aus (oder kommt er gar nicht zustande), dann verlangt Gesetzlichkeit den Gang in die Institutionen. Niemand braucht Rechtssuche allein und ohne Hilfe zu praktizieren. Arbeitnehmer etwa finden leicht Beistand beim Rechtsschutzsekretär der Gewerkschaft: einem Kollegen, der dieselbe Sprache spricht, die Verhältnisse kennt. Vor der AnwaItskanzlei hingegen liegt auch für Überwinder der psychischen Hemmnisse noch die finanzielle Barriere: Rechtsrat ist teuer - für alle gleich teuer, also tatsächlich ungleich erschwinglich. Im Prozeß vor dem Arbeitsgericht (erster Instanz) braucht man allerdings keinen Anwalt, und die Klage ist nicht schriftlich einzureichen, es genügt, sie auf der Geschäftsstelle des Gerichts vorzutragen. Doch ob ein Arbeitnehmer mit oder ohne Rechtsbeistand klagt, eine Situation wird er allein ertragen müssen: die Rückkehr in den Betrieb, die alltägliche Zusammenarbeit mit dem verklagten (dem vormals verklagten und unterlegenen) Chef ... (2) Die herrschende Lehre definiert das Arbeitsrecht als "Schutzrecht" zugunsten der Arbeitnehmer. Ein dem Normenbestand angemesseneres Verständnis erkennt in ihm die Absicht und Tendenz, das überlieferte Machtgefälle zwischen den Parteien des Produktionsprozesses fortschreitend auszubalancieren49 • Wenn freilich Gesetze und der Mensch, den sie vor der Macht eines anderen schützen sollen (dem sie Gegenrnacht vermitteln sollen), nur schwer zueinander finden 50 ••• ? Daß Arbeitsvertrag und Direktion (Fn. 30), S. 98 - 106. Dazu Udo Reijner, Erfolgs- und Zugangsbarrieren in der Justiz. Eine kritische Bestandsaufnahme der empirischen Forschung, in: Demokratie und Recht 1981, S. 143 - 154 und 396 - 413. - Die bisher umfassendste empirische Untersuchung zur Chancen-(un)gleichheit im Zivilprozeß stammt von Roll 49
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Konflikte an der Hilflosigkeit des Unterlegenen ersterben, kann sogar rechtliche Absicht sein: Das Recht halte die Gesellschaft ruhig, es hüte sich, blinde Bedürfnisse sehend zu machen, Menschen zum Konflikt ZU ermutigen. Solche List der Rechtsordnung wäre jedoch unvereinbar mit fundamentalen gesetzlichen Versprechungen von der Würde, Freiheit und Gleichheit jedermanns (Art. 1 - 3 Grundgesetz). Grundrechte würden ebenso Lügen gestraft wie das arbeitsrechtliche Bild einer "gerechten" Arbeitswelt. Und welchen Frieden das trügerische Gesetz wirklich stiften würde, wäre erst noch zu erkunden. Der fortwährend enttäuschte und unterdrückte Mensch kann nicht nur resignieren, sondern stattdessenebenso gut Widerstand üben, außerhalb des Rechts und gegen dessen Fassade. Oder er kann Ersatzbefriedigung für verweigerte Lebensmöglichkeit suchen: kriminellen Ersatz. Zum Fall der Hilfsarbeiterin: Gäbe es einen Betriebsrat, der Arbeitgeber könnte seine Interessen nicht so unbehindert durchsetzen. Die Arbeitnehmervertreter könnten Einsicht in die Lohnunterlagen und Gleichbehandlung fordern. überstunden wären nur mit Zustimmung des Betriebsrats zulässig. Der Arbeitgeber müßte die Kündigung vor dem Betriebsrat rechtfertigen, andernfalls wäre sie nichtig. Von der unvermeidlichen Klage gegen die Kündigung würde der Betriebsrat allerdings nicht entlasten. Einige Hilfe für die benachteiligte Arbeiterin käme gleichwohl zustande (- sofern der Arbeitgeber angesichts des kontrollierenden und fordernden "Betriebspartners" die Benachteiligung überhaupt riskieren wollte). Leider gilt die Betriebsverfassung nicht obligat. Den Arbeitnehmern jedes Betriebs obliegt es, sie einzuführen. Erkenntnis der Interessen- und Machtverhältnisse und den Mut zur Rechtsverfolgung setzt auch das Betriebsverfassungsgesetz voraus. Aber verlangt es damit zuviel? Schuldet das Recht etwa die "totale" BetreUung der Machtlosen? Ein nicht seltener Vorbehalt gegen das kollektive Arbeitsrecht heißt, daß es "Mündigkeit" und "Selbstbestimmung" des einzelnen Arbeitnehmers mißachte, Privatautonomie durch "KollektivgewaU" verdränge. Ein diskutabler Einwand sicherlich, wenn der Kritiker Bedingungen der Mündigkeit mitdenkt und auf ihre Verwirklichung insistiert. Gegen unrechte Zumutungen kann sich wehren, wer Selbstbewußtsein ausbilden konnte: ein nicht selbstverständlicher Lernprozeß. Und das Selbstbewußtsein braucht seine praktische Chance, es ist angewiesen auf Verständnis und Toleranz des "eigentlich" (ökonomisch oder intellektuell) Überlegenen. Dieser müßte seinerseits zu mündig sein, um nach Herrschaft zu streben, er müßte Kompromisse der ebenso möglichen Machtausübung vorziehen. Verruf der Herrschaftlichkeit; ein schlechtes Gewissen wegen der kapitalvermittelten Macht; Scheu, sie egoistisch statt "sozial" zu nutzen; Scham beim Gedanken an die hochbourgeoise Maxime des ,Enrichez-vous': dies wären machthemmende Gründe informeller, subjektiver Art. Ob alles zusammen jedoch ausreichen würde, organisierte Gegenmacht (zu welcher die Betriebsverfassung beitragen soll) zu ersetzen? Bender / Ralf Schumacher, Erfolgsbarrieren vor Gericht, 1980; hierzu ein Rezensionsdialog in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 1980, S. 259 ff.
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(3) Macht hat nicht immer bloß contra legern Erfolg. Der Mächtige, der sich zur Gesetzlichkeit bescheidet - sei es, weil er das Prozeßrisiko scheut, oder weil er Rechtlichkeit doch höher einschätzt als den eigenen Erfolg um jeden Preis - büßt seine überlegenheit dadurch keineswegs ein. Die Macht zieht sich zurück in den Auslegungsspielraum der Gesetze, auf eine solidere Grundlage also; von dort aus ist gut herrschen. Im Machtgefälle, das die sozialen Tatsachen begründet haben, versucht der Herrschende nun, sein Verständnis des Gesetzes, die ihm günstigste Auslegung durchzusetzen. Eine Herrschaft durch Definition; dem real unterlegenen "Partner" wird ein Gesetzessinn oktroyiert, das herrschende Interesse tritt als das Gesetzliche auf. Der Betroffene mag sich wehren - sofern er wagt, gegen die "Rechtslage" (gegen das, was ihm als Gesetz angesonnen wird!) vor Gericht zu opponieren. Gegen Herrschaft anzugehen, ist schwieriger als die Abwehr illegaler Zumutungen. Die zuvor beschriebenen Hemmnisse für den "Schwächeren" bestehen auch hier, und zwei neue Momente erhöhen die Barriere vor dem Rechtsweg noch. Das Selbstbewußtsein des Klägers muß so weit reichen, daß er die bessere, die "wahre" Auslegung des Gesetzes auf seiner Seite "weiß"; er muß den herrschaftlichen Anspruch als eine These über das Rechte erkennen und diese These als falsch beurteilen. Zum anderen wächst für den Sich-Wehrenden das Risiko der Niederlage: der Gegner könnte Recht behalten. Die Aussicht, durch private, einseitige Konkretisierung der Gesetze zu herrschen, ist für den ohnehin Mächtigen günstig. Das Risiko der Niederlage: Aber was hat der Sich-Wehrende schon zu verlieren? Womöglich wird seine Rechtserwartung verworfen, das Interesse des Gegners bestätigt, und Schlimmeres konnte ihm ohnehin nicht widerfahren! - "Theoretisch" ist dieser Einwand richtig; leider vergißt er einiges Praktische. Herkömmlich und verbreitet gilt Verklagtwerden als ein Tort ("Unrecht, Kränkung, Verdruß"), belasten Prozesse Sozialbeziehungen; und wenn nun beispielsweise im Kleinbetrieb der Arbeitnehmer auch noch "grundlos" das übel vom Zaune brach ... ?! Zum anderen kostet Rechtssuche Geld; die Gerichte, sogar das sehr preisgünstige Arbeitsgericht verlangen grundsätzlich " Gebühr" . Zu zahlen hat der Verlierer; zur Mutprobe und zur Enttäuschung addieren sich die Kosten. (Erst die "ganz Armen" erhielten bis Ende 1980 "Armenrecht", bekommen heutzutage "Prozeßkostenhilfe" vom Staat.) Die ökonomische Barriere vor den Gerichten ist während der letzten Jahre offenbar niedriger geworden mit Hilfe der Rechtsschutzversicherungen61 • Das 61 Dazu die sehr differenzierende Untersuchung von Erhard Blankenburg / Jann Fiedler, Die Rechtsschutzversicherungen und der steigende Geschäfts-
anfall der Gerichte, 1981. 11*
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Prämienaufkommen in diesem Versicherungszweig wuchs von 80 Millionen im Jahr 1960 auf 1,05 Milliarden im Jahr 1976, die Tendenz ist weiterhin steigend. Für eine Jahresprämie zwischen 80 und 200 Mark (je nach Anzahl der erfaßten Risiken) sind inzwischen rund ein Drittel der Haushalte in der Bundesrepublik rechtsschutzversichert. Zugleich steigt seit Jahren der Arbeitsanfall bei den Gerichten in einer Weise, die auf einen Zusammenhang zwischen Versicherung und dem Mut zum Rechtsweg schließen läßt; die psychologischen Hemmnisse scheinen in korrespondierender Entwicklung zu schwinden. Schnelle und pauschale Folgerungen aus den Versicherungs- und Justizstatistiken, zumal Schlüsse in Richtung auf allgemein leichteren Rechtsgang wären indessen verfehlt. Die Versicherungen dürften vor allem Strafsachen, Straßenverkehrssachen und Risiken der Bauherren abdecken. Über verbreiteten Mut zur Gesetzlichkeit sagt es noch wenig, wenn vor Zivilgerichten die "sozial Schwächeren" vor allem als Beklagte in Abzahlungsstreitigkeiten in Erscheinung treten. Vor den Arbeitsgerichten dominieren drei Arten von Streitigkeiten: die Konflikte der "Betriebspartner" um die Auslegung des Betriebsverfassungsgesetzes; Klagen der Arbeiter und Angestellten des öffentlichen Dienstes um ihre tarifliche Eingruppierung (- das Betriebsklima in Behörden ist offenbar "neutral" genug, Sanktionen im Arbeitsverhältnis sind dort kaum zu befürchten, so daß die Arbeitnehmer auf ihren Rechten zu bestehen wagen); allem voran aber Kündigungsschutzprozesse. Konflikte aus ungekündigten Arbeitsverhältnissen der Privatwirtschaft kommen selten vor Gericht - wohl nicht, weil es sie dort nicht gäbe, sondern aus einer Konfliktscheu heraus, die noch in der Praxis des Kündigungsschutzes triumphiert: die obsiegenden Arbeitnehmer werden (mit Zustimmung der Gerichte) oft abgefunden, selten weiterbeschäftigt. Die "Vertrauensbasis" für weitere "Zusammenarbeit" sei zerstört. c) Herrscherliches am Richter
(1) Angenommen, der "Schwächere" wehrt sich gegen die Rechtsan",e!ldung, die der "Partner" ihm zumutet: er klagt bei Gericht. Die Klage, selbst wenn sie es nicht ausspricht, demonstriert jedenfalls, daß der Kläger ein Gesetz anders auslegt als sein Prozeßgegner. (Der Arbeitnehmer, der gegen die fristlose Kündigung klagt, versteht die Textstelle "wichtiger Grund" in § 626 BGB anders als der Arbeitgeber.) Der Beklagte hatte sein Interesse (den Wunsch, ein Arbeitsverhältnis abzubrechen) mit dem Gesetz identifiziert; das Textverständnis des Klägers (die vorhandenen Kündigungsgründe seien nicht "wichtig") stellt die einseitige Definition in Frage. Was wird aus dem Definitionsversuch, der zugleich Herrschaftsversuch war? Die Klage ließ den Gesetzestext in eine andere Hand geraten: ihn wendet nun das zuständige Gericht an. Der Beklagte (der kündigende Arbeitgeber) hat seine Definitionsmacht für diesen Konflikt verloren, Der Kläger (der gekündigte Arbeitnehmer) war selbst zwar nie mächtig, sein Verständnis des Gesetzes dem Gegner zu oktroyieren; immerhin aber konnte er den Gegner - zunächst - entmachten. Die Streitenden sind nun als gleichermaßen Machtlose dem Richterspruch aus-
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geliefert, spätestens dem Spruch der letzten Instanz. Beide tragen das logisch gleiche Risiko, zu verlieren, haben die logisch gleiche Chance, recht zu bekommen (gemessen an der Abstraktheit des Gesetzes; um die "reine" Form geht es im Augenblick, nicht um die faktische Siegeschance). Teilt das Gericht die Auslegung, die der verklagte Mächtigere gewählt hatte, so ist am Ende dessen Definitionsversuch freilich geglückt, die Herrschaft des Siegers scheint ungebrochen. Solche Sicht vom Ergebnis (vom Gesetzesinhalt) her fällt jedoch zu grob aus, sie hat die Abläufe in der Gesetzlichkeit (in der Form) mißachtet. Die scheinbar fortdauernde Herrschaft des Siegers ist tatsächlich geborgte Herrschaft, von anderer Stelle (vom Richter) überbracht, im Gegensatz zum eigenen Herrschaftsakt, wie er gegen einen zur Klage unvermögenden Menschen gelingt. Es gibt keinen Schluß von der (privaten) Definitionsmacht, die in der Abstraktheit des Gesetzes sich ausherrscht, auf das Recht-behalten: eine Lücke, die zum legalen Widerstand gegen herrschaftliches Definieren anregt. Sie ist sogar notwendige Bedingung dafür, daß dieser Widerstand überhaupt Sinn hat und herrschaftlichem Definieren der Boden entzogen werden kann. Für den "Schwächeren", der den Mut zum Widerstand aufbrachte, liegt im Gesetz prinzipiell die Chance, als David über Goliath zu triumphieren. Von einer Herrschaft Davids kann dennoch nicht die Rede sein; nicht er, sondern der Richter hat die gesetzliche Macht, Davids Interesse unter Negierung des Gegeninteresses durchzusetzen. Der Richter herrscht, David ist Destinatär (Empfänger einer Wohltat), seine "Macht" beschränkte sich auf das Gesuch. Nebenbei: Enthält der Kündigungsstreit auch Raum für Kompromisse? Der "wichtige Grund" für die Kündigung kann vorliegen oder nicht vorliegen, die Kündigung demgemäß wirksam oder nichtig sein, ein drittes Resultat gibt es nicht. Doch kann der Richter in seiner Begründung Akzente setzen; etwa: Der "wichtige Grund" sei beinahe erreicht worden; noch ein "geringes Fehlverhalten" des Klägers in der Zukunft, und das Maß sei voll, die Kündigung rechtlich unbedenklich. - Der Arbeitgeber hat zwar sein Ziel (noch) nicht erreicht, das Arbeitsverhältnis unverzüglich zu beenden, doch er darf nun mit einem besonders gefügigen Vertragspartner rechnen. (2) Die Annahme, daß der Richter im Rechtsstreit herrsche (den Streit beherrsche), ist noch sehr oberflächlich. (Und war im bisherigen Nachdenken der Richter nicht als Funktionär - wörtlich: Verrichter des Rechts erschienen, keineswegs als Verfügungsberechtigter? Das Gesetz sei für ihn Arbeitsgegenstand, kein Machtmittel, hieß es.) Eine genauere Sicht wird die Relationen zurechtrücken: Es kommt immer darauf an, in welchem Zusammenhang von Herrschaft die Rede ist. Herrschaftlich ist (scheint?) das Richtertum insofern, als auf dem Prozeßweg einzig der Richter den Konflikt entscheiden kann. Wie auch immer die gesetzliche Lösung ausfällt, der Richter hat das Monopol, sie
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über die Prozeßparteien zu verhängen. Beide Seiten sind auf den Spruch verwiesen. (Die Feststellung, eine Kündigung sei nichtig, ruft die Streitenden ins fortdauernde Vertragsverhältnis zurück.) Der Richter hat die Chance, Kompromisse zu diktieren, die keiner Seite gefallen, kein Interesse befriedigen; seine Machtposition wird darin besonders augenfällig. Eine Macht zwar, die letzten Endes von der Parteien Gnaden lebt: die Konfliktionäre brauchen "nur" den Prozeß zurückzunehmen, sich privat zu einigen. Solange Richtertum jedoch gefragt ist, sind die Streitenden dem Richter unterworfen; das Muster "Spruch/Hinnahme" ist für die Institution wesentlich. Die Einrichtung Gericht ist nicht anders denkbar; unverbindlichen Vorschlag unterbreitet der Schlichter. Alternativ zur Schlichtung gesehen, ist das Richtertum als Herrschaft zutreffend charakterisiert. Anders hingegen, wenn die un-herrschaftliche Weise gar nicht zur Wahl und Debatte steht, weil es gerade auf die definitive, verbindliche Lösung ankommt: auf die letzte Möglichkeit, ein Gesetz zu verwirklichen. Allein der Richter garantiert die Gesetzesanwendung. Erst dadurch, daß es Richter gibt, ist der gesetzliche modus vivendi in Kraft, ist er verbürgte Praxis, gegen Abweichungen durchsetzbar. Richtertum ist hiernach ein SichPositivieren der Gesetze, Medium ihrer Wirklichkeit, und unter diesem Blickwinkel von "Herrschaft" zu sprechen, wäre irrig (so wie Wirklichkeit, die nicht anders ausfallen kann, nicht mehr sinnvoll als Gewalt begreifbar ist). Die falsche Bezeichnung würde von einer Verwechslung der Wirklichkeit mit Willkür zeugen. Zu entdecken sind Gelegenheiten zur Herrschaft jedoch auch am Richtertum, sobald man es erkenntnistheoretisch ausleuchtet. Der Richter entscheidet. Zwar ist er auf Richtigkeit verpflichtet, ihm ist Willkür untersagt, wo immer man argumentieren kann. Aber die Zwangsläufigkeit, mit welcher Logik zu nur einem Resultat führt, andere Schlüsse sich verwehren, prägt nur ein kleines Stück der richterlichen Argumentation. Das Entscheiden hat Spielraum: Was ein Richter für richtig hält, darf er verkünden, sofern er genug bekräftigende Argumente zur Hand hat. Ihm muß "nur" gelingen, "seinen" Spruch als die beste Lösung dieses Falles, verglichen mit anderen Vorschlägen aus der Dogmatik, zu präsentieren. Von sich aus ist das Resultat kaum jemals alternativlos, der Richter macht es dazu. Daß ein anderer Entscheider imstande gewesen wäre, einem anderen Spruch zur Richtigkeit zu verhelfen, ist niemals auszuschließen; die Offenheit der Rhetorik (des Argumentierens) führt dahin, im Gegensatz zur Geschlossenheit von Logik 52 • Gewiß, das Entscheiden stellt sich ganz un-herrschaftlich dar, wenn man bedenkt, daß es Regeln des Argumentierens - die Bedingungen der GI Vgl. Chaim Perelman, Das Reich der Rhetorik, 1980 (Beck'sche Schwarze Reihe 212), insbes. Kap. 1 und 2.
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Richtigkeit - vollzieht. Methoden, die vorgegeben sind, werden angewendet, Kanones werden befolgt; der Entscheider hat sich der Erkenntnislehre unterworfen. Von "Herrschaft" zu sprechen, wo korrekter Methodengebrauch vorliegt, wäre abermals eine falsa demonstratio. Erst ein Richter, der die Methodik vernachlässigt zugunsten eines von ihm bevorzugten Spruchs, handelt demnach herrschaftlich (Herrschaft = Falschheit). Indessen bleibt das methodologische Bild unvollständig, solange man einzig an den Gehorsam gegenüber Methoden, an Einbindung in die Methode denkt. Das komplette Bild zeigt den Argumentierenden nicht allein beim Methodenvollzug, sondern schon im Vorfeld, bei der Methodenwahl. Dem Richter steht ein reichhaltiges Arsenal der Denkformen zur Verfügung, wohl niemand vermöchte es in einer einzigen Argumentation auszuschöpfen; aus diesem Vorrat legt der Richter den Weg je seines Argurnentierens an53 • Methodenstücke, die sich unterwegs als "ungeeignet" (unerwünscht) herausstellen, lassen sich austauschen; dem fertigen Text, dem Gefüge "Begründung" sieht man solche Schachzüge nicht mehr an. Entscheidend ist, daß am Ende die Begründung in sich stimmig (folgerichtig) ist; daß sie naheliegende Einwände widerlegt, Gründe für ihr Ergebnis anführt, dem intellektualen Anspruch genügt, eben: rational dasteht. Die richtige Begründung trägt sich selbst, und an nicht verwendete Methoden erinnert nichts. Indem ein Richter also das Instrumentarium des Begründens beherrscht, beherrscht er den Weg zum Resultat und, dadurch vermittelt, das Resultat selbst. Nur den Weg, so wie er ihn anlegt, muß er begehen. (3) Noch eine andersartige Herrschaft verschränkt sich mit dem Richtertum; von ihr berichten Rechtssoziologen, seit sie den "subjektiven Faktor" im Recht - die Persönlichkeitsausstattung des Richters untersuchen54 • Es geht um sachjremde Herrschaft, gemessen an der Funktion des Richters als Streitentscheider, gleichwohl um entschei58 Es gibt Richter, die eingestehen, daß sie die juristischen Arbeitsmittel zur Einkleidung ihrer zuvor gefundenen Entscheidung benutzen, die ihnen recht und billig scheint; Weyrauch (Fn. 12), S. 207 ff. Grundlegend zu diesem Vorgang: Josej Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1972, z. B. S. 46 ff. U Neben dem sehr lesenswerten Buch von Weyrauch (Fn. 12) vgl. dazu Woljgang Kaupen, Die Hüter von Recht und Ordnung. Die soziale Herkunft, Erziehung und Ausbildung der deutschen Juristen, 2. Auf!. 1971 sowie Hubert Rottleuthner, Richterliches Handeln, 1973. Wichtige methodologische Hinweise bei Klausa (Fn. 6), S. 103 - 109. Zusammenfassend Rottleuthner, Abschied von der Justizforschung?, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 1982, S. 82 ff. Einblicke, die ein Justizsoziologe mit seinen Methoden kaum bekommen und vermitteln könnte, eröffnet der milieukundige Schriftsteller Herbert Rosendorjer in seinem Roman: Ballmanns Leiden oder Lehrbuch für Konlrursrecht, 1981. Ein Buch reich an Charakterbildern und Szenen aus dem Genre Zivilgerichtsbarkeit.
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dungserhebliche Macht. Prozesse, in denen ein Eigeninteresse des Richters nie auf dem Spiel steht (niemand darf Richter in eigener Sache sein), können zu Objekten persönlicher Interessen und Neigungen des Entscheiders geraten. Mehr noch: Sie haben typischerweise diese zweite Dimension neben ihrer rechtlichen Aufgabe. Wie jedoch dürfte dies verwundern, da der Prozeßbetrieb für den Richter Beruf ist. Folglich verknüpft ein Richter mit "seinen" Prozessen alles, was zur beruflichen Existenz eines Menschen gehört. Sie haben für ihn den Wert (oder Unwert), den Teilnahme an der Arbeitswelt auch sonst für "angestellte" Menschen hat. Der Prozeß ist Steinchen im Mosaik einer Karriere. Der Richter steht unter Produktionsdruck, den die berufliche Ambition noch steigert, während sie zugleich anfällig machen kann für Opportunismus: Es komme darauf an, Vorgesetzte, zuständig für Beurteilungen und Beförderung, nicht zu enttäuschen. Sodann: Ein Richter arbeitet, wie menschlich, an seinem "Profil" im Kollegenkreis, erscheint gern als "prinzipienfest" oder "liberal" oder als "wehrhafter Demokrat" (nach einer Formel des Bundesverfassungsgerichts) ... "Seine" Prozesse sind ihm Stoff und Gelegenheiten zur Selbstdarstellung, Mittel für Erfolgserlebnisse (wie dem Anwalt auch). Zu solchen ganz üblichen Interessen und Chancen des Berufslebens tritt noch eine Besonderheit: Richterturn vermittelt die Chance, je eigene Wertvorstellungen im Gesetz zu spiegeln; eigene Interessen jener Art, um welche die Parteien streiten, im Spruch zu manifestieren. (Thema für einen Rechtssoziologen: Urteilen in vergleichbaren Fällen Mietrichter verschieden, je nachdem, ob sie selbst Mieter oder Hauseigentümer sind?) Das eigene Weltbild läßt sich beiläufig ins Verbindliche heben (- ein Bild, das so .,eigen" freilich nicht ist; in relativ wenige Weltanschauungen teilen sich viele Menschen). Insgesamt verwandelt der Richterberuf die Konflikte anderer Menschen in ein (materielles und ideelles) Lebensmittel für den Richter. (Keine Enteignung, wie Nils Christie meinte, eher ein Nießbrauch.) Gerade weil Gesetze ebenso wie die Methoden der Gesetzesanwendung offene Stellen haben, ist auch Herrschaft eröffnet, die sich als Rechtsprechung verkleidet. Eine Herrschaft zudem, die nicht bloß individuelle Willkür des einzelnen Richters ist; er paßt sich ja seinerseits den Standards der Organisation, den Vor-Urteilen der höheren Instanz, den "Zwängen" der Beruflichkeit an55 • Er herrscht als Beherrschter, durch Weitergabe von Nötigung, die so sehr zu einer Sozialstruktur verfestigt ist, daß "Sachzwang" vorliegt: ein sich selbstbetreibender Mechanismus (auch Leerlauf) von Herrschaft. 55 Nicht anders ergeht es übrigens dem Rechtsdogmatiker; auch seine Erkenntnisse gelten nicht von selbst, sie hängen ab vom Urteil der Fachgemeinschaft ("Zunft"). Nach dem Motto: Dogmatisch richtig ist, was die Zunft als dogmatisch richtig anerkennt. Die schönste "Wahrheit" bleibt Makulatur, wenn die Fachkollegen über sie hinweg zu ihrer eigenen, ganz anderen Tagesordnung schreiten. Hierzu Klausa (Fn. 6), S. 26 - 34 und 44 - 48.
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(4) Das Fazit zu einer vermutlich noch sehr lückenhaften Übersicht über "Richterherrschaft": Im komplexen Vorgang Gesetzesanwendung hat die Chance des Richters, "eigene" (= den Konfliktionären fremde) Interessen durchzusetzen, ihre Nische. Richtertum hierauf zu reduzieren, wäre unsinnig; die Schwachstelle zu verschweigen, unehrlich; Versuche, sie zu beseitigen, wären erkenntnistheoretische Quijoterie. Über die "Sozialisation" des Richters und die Organisation der Justiz läßt sich von Staats wegen allerdings steuern, woran der Richter stärker interessiert ist: an Rationalität, Unabhängigkeit, Selbstkritik, Sozialarbeit im Konflikt, oder an Dogmatismus (den man von der Dogmatik als Denkform zu unterscheiden hat) und an Reputation im Apparat. d) Herrschaft über den Richter
Den Richter einzig als Vermittler (auch "Beherrscher") des Gesetzlichen zu sehen, wäre eine fragmentarische Betrachtung. Er ist zugleich Medium des obsiegenden Interesses. In der "Natur" eines Mediums liegt, daß es dem zu vermittelnden Gut (oder Übel) dient, ihm zur Verfügung steht. Deshalb ist nach der Herrschaft des Richters nun Herrschaft mittels des Richters anzusprechen, und der erste Tatbestand kann sich teils als Maske des zweiten erweisen. In die Konkretisierung des Gesetzes bringt der Richter (Rechts-) Gedanken ein, für die es etliche Quellen gibt. Er tradiert vorgängige Rechtsprechung; dies um so müheloser, je mehr Zustimmung sie in der Dogmatik erhalten hat. (Eine Veranstaltung auf Gegenseitigkeit: der Dogmatiker, der den Richter lobte, findet sich in Entscheidungen wiederum zitiert und bestätigt.) Lücken in der Tradition, dabei die Notwendigkeit, immer neue Varianten der Wirklichkeit zu bewältigen, neue Resultate aus den Rechtssätzen abzuleiten: die Fülle an Aufgaben eröffnet den Dogmatikern auch originäre Chancen. Der Entscheider unter Produktions- und Entscheidungsdruck greift Vorgedachtes auf, das sich ihm griffig darbietet. (Welch unsinnige Forderung wäre es, daß jeder Mensch bei jeder Gelegenheit erneut und eigenständig die Welt zu durchdenken habe, der Richter also in einsamer Anstrengung die Rechtsprechung fortführe.) Vorarbeiten in der Dogmatik also können den Richter zu seiner Entscheidung anregen, können ihm dazu sogar direkt verhelfen: der Richterspruch läßt sich von außen bestimmen. Applaus für vorhandene Judikate oder Erfüllungshilfe für anstehende Präzedenzfälle verfolgen diesen Zweck, ebenso die Kritik an unerwünschten Vorentscheidungen, verknüpft mit Entwürfen "besserer" künftiger Lösungen. Verunsicherung des Richters durch Argumentation ist aber nichts Böses, im Gegenteil: Wachstumsprozesse juristischer Rationalität sind nur so möglich; was aus der Perspektive des
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Richterberufs leicht als Störung und Last erscheint, ist Grundlage rechtfertigender (Recht fertigender) Richtigkeit. Traditionen, die unter dogmatischen Attacken unhaltbar (implausibel) geworden sind, müßte der Richter vernünftigerweise aufgeben; hart angegriffene Rechtsansichten sind rational nur durch neue, überlegene Argumentation zu verteidigen; aus kritischen oder apologetischen Beiträgen der Dogmatik kann der Richter wählen, seine Wahl wiederum muß er plausibel machen ... Der Richter: ein Nadelöhr, vor dem die Rechtsansichten sich drängen. Welche Ansichten sich dort treffen, welche von ihnen den Durchgang schafft, weil viele Dogmatiker mit vielen Argumenten sie verfechten: all das muß nicht "dem Zufall", der Inspiration und Schreiblust eines Rechtswissenschaftlers (dem "freien" Wachstum der Dogmatik) überlassen bleiben. Erkenntnisprozesse sind auch eine Sache der Organisation. So darf nicht verwundern, was ein Blick über den Rand der Dogmatik hinaus an Fabrikationsbedingungen, Okkupationsversuchen vorfindet. Tradierte Rechtsprechung läßt sich planmäßig kritisieren (oder verteidigen), künftige Entscheidungen lassen sich ebenso planvoll durch Offensiven in der Fachliteratur vorbereiten. Bestellte Aufsätze und Rechtsgutachten beherrschen dann das Feld der Diskussion, legen Argumentationen an, sammeln alle guten Gründe für das favorisierte Interesse, alle Gründe wider die Gegeninteressen; oder man bringt das Unerwünschte durch Verschweigen geschickt in Vergessenheit. Bei gemeinhin interessanten Streitthemen wird neben der Fachliteratur eine Arena in der allgemeiner zugänglichen Publizistik eröffnet. Insgesamt ein Aufwand zur Rechts-verfertigung, den naturgemäß nicht die "kleinen" Konfliktionäre betreiben; er liegt bei den Interessenverbänden (- eine zweite Ebene des Zugriffs auf das Recht, zur Ergänzung, Kontrolle oder Korrektur des pressure auf die Legislative). Gerade am Beispiel der "Sozialpartner" (Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften) ist die Strategie leicht belegbar und gut belegt56 • Man denke an den "Kampf" um das Mitbestimmungsrecht oder, mit Konsequenzen für jeden Einzelfall, an Kontroversen um den Kündigungsschutz57 • 68 Thomas Gawron / Rudolf Schäfer, Justiz und organisierte Interessen in der BRD, in: Legitimationsprobleme politischer Systeme, Politische Vierteljahresschrift, Sonderheft 7/1976, S. 217 - 269. 57 Seit den "Kampfabstimmungen" mit Hilfe organisierter Stimmblöcke, geschehen auf dem 52. Juristentag bei der Auseinandersetzung um das Kündigungsrecht, sehen manche Juristen dieses gehobene ("sachliche") juristische Forum als diskreditiert an. Tatsächlich ist nur ein Merkmal der Recht-fertigung ungeschminkt zutage getreten, freilich in schon etwas überzogener Weise. Vgl. zu den Vorgängen den Bericht von Horst Föhr in: Arbeit und Recht 1978, S. 369 f., und Manfred Löwisch, Juristentag in der Sackgasse, in: Recht der Arbeit 1979, S. 50.
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Dem Idealbild von (Rechts-)Wissenschaft ("zweckfrei und voraussetzungslos": ein angejahrtes Bild allerdings) scheint das Verfahren reichlich zuwider. Trotzdem schließt es Rationalität nur bei einer Konstellation aus: wenn auf dem Feld der Theorien ein einziges Interesse artikuliert ist, Gegeninteressen aber sprachlos bleiben. Die solchermaßen besetzte Dogmatik besetzt prompt den Kopf des Richters; sie ist herrschende Lehre als "Lehre der Herrschenden" und erzeugt "Klassenjustiz" (ein zutreffender Aspekt bei Marx). Pluralistisches Gedränge der Rechtsansichten hingegen neutralisiert sich leicht, stellt die Offenheit des Diskurses her, den der Richter, seinerseits argumentierend, zu Ende auszufechten hat58 • Der Richter ist dann nicht verfügbar für dieses oder jenes zur Rechtslehre aufgewertete Interesse, er ist Prüfstein aller Lehren. Chancengleichheit der kontroversen Theoreme hat jedoch auch ihre speziellen Bedingungen; so zum Beispiel, daß die verschiedenen Meinungen gleichen Zugang zur selben, renommierten Fachzeitschrift haben, nicht etwa die eine Seite auf ihre Hauszeitschrift verwiesen ist, einem in der Wertvorstellung des Richters ganz apokryphen Blättchen (falls man "so etwas" überhaupt kennt). Ein Aufsatz in "Recht der Arbeit" wird in der Diskussion anders beachtet als derselbe Text in "Demokratie und Recht". Und ebenso verhält es sich um die Allocation der Dogmatikmacher: Eine Rechtsansicht, die "nur" aus Bremen kommt, hat in der Diskussion einen anderen Stellenwert, als wenn (auch) ein Professor (der Besoldungsgruppe C 4) von der Juristenfakultät zu Cölln am Rhein sie verficht. Die Rhetorik kennt die Bedeutung der "Autoritäten" seit jeher und rechnet mit ihr. e) Hinter Konsensfassaden
Konkretisierbar ist das Gesetz, statt durch privates Diktat oder öffentlichen Spruch, auch im privaten Konsens. Er ist der nicht-herrschaftliche Modus der Gesetzlichkeit - oder ein günstiges Versteck für Herrschaft. Von seinen realen Umständen hängt die eine oder andere Bedeutung ab. (1) Dazu diesen Fall: Tarifparteien verhandeln über ein Urlaubsgeld. Die Gewerkschaft fordert, den organisierten Arbeitnehmern (Gewerkschaftsmitgliedern) 20 Prozent mehr zu zahlen als den Unorganisierten. ("Differenzierungsklausel" . Begründung: Die Gewerkschaftsmitglieder finanzieren mit ihren Beiträgen die Tarifmacht der Arbeitnehmer, die Unorganisierten ernten kostenlos die Erfolge der Tarifpolitik.) Die Zulässigkeit einer solchen Klausel ist umstritten, der Ausgang eines Prozesses, den am Ende wohl das Bundesverfassungsgericht zu entscheiden 68 Dies wenigstens fordert die Erkenntnistheorie vom Richter, der sich rational zu verhalten gedenkt. Mehr dazu in meinem Buch: Rechtserkenntnis und Gewaltstrukturen, 1975, S. 84 f. und 96 ff.
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hätte, ist nicht absehbar 59 • Aber man will ja nicht prozessieren, sondern sich einigen; also gelingt ein Kompromiß. Er gehört in ein ganzes System wechselseitiger Zugeständnisse hier, Selbstbehauptung dort: in diesem Paket aus Kompromissen, das verschiedene Arbeitsbedingungen regelt, wird schließlich eine Differenz von 15 Prozent verabredet. Rechtsgrundlage für die Zahl (15 %) ist der Tarifvertrag. Rechtsgrundlage des Vertrags ist das Reglement der Tarifzuständigkeit: Art. 9 Absatz 3 Grundgesetz, ein seinerseits streitbehafteter Text, den nun gleichfalls ein Konsens konkretisiert hat. Die Einigung darauf, Differenzierungsklauseln wie die vereinbarte für rechtlich zulässig anzusehen, stellt das Gesetzliche fraglos und hält es zur Lösung dieses bestimmten Konflikts fest. Ein Idealfall nicht-herrschaftlicher (herrschaftsfreier) Gesetzesanwendung; denn kein Tarifpartner hatte die Chance, seine Auslegung dem Gegner zu oktroyieren. Jede Seite hatte nur die gleiche Chance zum Rechtsstreit, bei (ungefähr und vermutlich) gleichem Verlustrisiko. Die Gewerkschaft hätte versuchen können, mit Hilfe eines Streiks ihre Rechtsauffassung und eine höhere Differenzquote durchzusetzen; doch sie mußte mit Klagen der betroffenen Unternehmer und mit Verurteilung zum Schadenersatz rechnen. Umgekehrt konnte die Unternehmerseite nicht auf einen Sieg im Prozeßweg vertrauen, sie hätte die wirtschaftlichen Folgen einer Niederlage ebenfalls riskiert. Das vereinbarte Ergebnis zeigt zwar den Sieg einer Rechtsauffassung, die Niederlage der Gegenmeinung;· über Herrschaftlichkeit sagt dieser Aspekt jedoch nichts aus. Die nachgiebige Seite hatte die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten, sie konnte sich für die Lösung entscheiden, in welcher sie ihr Interesse besser befriedigt sah. Sie war unabhängig von "nötigender Willkür" = vom Diktat der Gegenseite, wenngleich nicht frei von der fremden Zumutung, vom fremden Interesse und Anspruch. Doch ein realistischer Freiheitsbegriff darf ja die Menschen und Institutionen gerade nicht in eine Autonomie fingieren, in der man einander nicht berühre; Freiheit ist erst im Konflikt gefragt, angesichts der Widersprüche und Widerstände, und sie bewährt sich als Wegweisung daraus. Frei ist im Konflikt ein Beteiligter, der genauso über das Resultat "herrscht" wie der andere. Nachgiebigkeit steht nicht dagegen, zeugt nicht von Unfreiheit (man erinnere sich auch an die Rettung bei Masirah). Sie ist so wenig ein sicheres Indiz gegen Freiheit, wie man andererseits einen Kompromiß blind mit Freiheit identifizieren dürfte. Er kann Taktik der Herrschaft sein. Sein Urbild, die Einigung auf halbem Weg, am Muster quantitativer Streitgegenstände orientiert, wäre ohnehin bei qualitativen Konfliktpunkten (zu denen Auslegungsfragen gehören) eine oft sinnlose Maxime. Als Baustein in 59 Dokumentation der Rechtsansichten bei Wiedemann / Stumpf (Fn. 34), Einleitung Rz. 70, 74 ff. Außerdem Däubler (Fn. 32), Kap. 4.9.2.
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einem komplexeren Kompromißgebilde kommt Nachgiebigkeit außerdem am Detail vor, ohne daß man ihr die Rolle fürs ganze Arrangement ansähe. Die Fallschilderung oben - "Paket aus Kompromissen" - deutet dies an. (2) Der Fall wird gewiß anders enden, die Lösung anders zu werten sein, denkt man eine der realen Bedingungen verändert. Die Rechtslage zwar sei unsicher wie zuvor, die Gewerkschaft aber zu schwach für den Konflikt, in den sie sich brachte: die Streikkasse ist erschöpft, ein verlorener Schadenersatzprozeß wäre ruinös. Das Risiko, gleich groß für beide Parteien, solange man auf die Logik der Gesetzesform und auf den Streitstand der Dogmatik (auf die Konkretisierungsvorschläge dort) sieht, schlägt um angesichts der ökonomischen Gewichtung. Die eine Konfliktpartei kann den Rechtsgang nicht wagen, ist darum abhängig vom "guten Willen" des Gegners. Sie ist auf das vollkommenste unfrei. Woraufhin man für den Fortgang des Konflikts dies unterstellen da.rf: Der Gegner, in Kenntnis seiner Macht, legt ein Rechtsgutachten vor, das die Unzulässigkeit von Differenzierungsklauseln "beweist"; er fordert von der Gewerkschaft Anerkennung dieser Rechtslage. Die Gewerkschaft akzeptiert, wenn auch mit dem Vorbehalt, daß man die Rechtslage derzeit, bis zur besseren Klärung, so hinnehme. - Der Vorbehalt mindert nicht, daß der Konsens über das (bis auf weiteres) Rechte den Streitpunkt entschied. (Ein Konsens auch von taktischem Wert: die Verhandlungsführer der Gewerkschaft können unzufriedene Mitglieder aufs Recht verweisen, zeichnen sich dadurch von jeder Verantwortung für die Niederlage frei. Ein Nebenkonflikt ist mitbefriedet.) Hinter der Einigkeit im Reglement verbirgt sich das Diktat einer Konfliktpartei, ermöglicht durch ein Machtgefälle. Das unentschiedene Gesetzliche war für den aktuell mächtigeren Tarifpartner zur Form geworden, Herrschaft zu vollziehen. (3) Nachgiebigkeit kann noch einen anderen Grund haben; dazu folgende Variante aus der Lösungsskizze des Falles S.: ZU einer Zeit, da die S.-Werke noch zu retten sind, verlangt die Gewerkschaft bei Tarifverhandlungen mit den Unternehmern S. ein Investitionsversprechen: Verkauf der Oldtimer, Einsatz des Erlöses, um die Fabriken zu sanieren. Die Brüder S. weisen das Ansinnen von sich. Die Gewerkschaft gibt den Verhandlungspunkt auf. Ein Streik für dieses Ziel wäre zu riskant, die Klage auf Abschluß eines Investitionsvertrags hätte zu geringe Erfolgsaussicht. Die Niederlage im Prozeß ginge zu Lasten einer längerfristigen Strategie, auf Meinungswandel in der Dogmatik hinzuarbeiten. - Haben mithin die Gebrüder S. sich herrschaftlich durchgesetzt? Ihre Ablehnung ist unter Art. 9 Absatz 3 Grundgesetz subsumierbar, wenn man das Reglement eng auslegt: Keine Tarifzuständigkeit in unternehmerischen Angelegenheiten! Der so festgelegte Text spricht
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2. Kap.: De lege lata (nach geltendem Gesetz)
Herrschaft aus, nämlich Alleinentscheidungsrechte der Unternehmer. Bezogen auf die formale Seite des Gesetzes, um die es hier (noch immer) geht, ist Herrschaft aber schon die vorgängige Chance, ein Verständnis des Reglements zu diktieren. (Eine Chance der Art, wie sie gegen die arm gewordene Gewerkschaft oder gegen einen zur Konfliktarbeit unfähigen Arbeitnehmer besteht.) Unvermögend, den Konflikt zu betreiben, ist die Gewerkschaft indessen nicht; sie verzichtet nicht aus akuter Schwäche, sondern aus Einsicht in ihre Interessen und in die ungünstigen Verhältnisse. Zu sagen, der Verzicht habe dem Gegner den Verfassungstext überlassen, ginge zu weit; eher noch könnte man meinen, daß es gar nicht zu einer Gesetzesanwendung kam. Denn die Gewerkschaft hat den Streitstoff zurückgezogen, den Konflikt dadurch für erledigt erklärt und den Definitionsversuch der Gegenseite unterlaufen: er war nicht mehr gefragt. Ob man freilich Konfliktverzicht annimmt, der nichts präjudiziere, oder im Gegenteil einen Grundkonsens über die Rechtslage, denn der Gleichlaut der Auffassungen sei nun einmal Konsens, den man mit Wunscherfüllung, mit Zufriedenheit und dergleichen Einschätzungen nicht verwechseln dürfe - egal, wie man die Situation deuten wird, auf eines läuft der Rückzug doch stets hinaus: er ist entweder ein Akt der Freiheit oder (die Frage ist noch offen) der Beherrschtheit. Die Frage entscheidet sich an einigen Momenten der Rechtswirklichkeit. Dort gibt es die "herrschende Lehre", die für die Gebrüder S. spricht, und allzu nahe liegt, daß Gerichte dasselbe täten. Die Unternehmer S. haben ihren Gegner auf diese Bindungen aber nur verwiesen, tatsächlich "herrscht" ein Rechtsgedanke, seiner Geltung vermag die Gewerkschaft sich (derzeit) nicht zu entziehen. Hinter der "Herrschaft des Gedankens" ist komplexe Realität am Werk: die Mehrheit der Dogmatiker, die ihn begründete, und damit verknüpft der Justizapparat, dessen übliches Funktionieren und dessen vorhandene Judikate den Schluß auf dasselbe Resultat nahelegen. Dieses verschränkte Stück Rechtswirklichkeit herrscht, mit seinen Reflexen zugunsten der einen, zur Last der anderen Konfliktpartei. Die Tarifparteien selbst begegneten einander (innerhalb des Raumes Gesetz) in Freiheit, keiner hing bei der strittigen Frage von "nötigender Willkür" des anderen ab, beide betraf dieselbe Wirklichkeit, dieselbe vorgegebene Definition. Wer hiervon frei werden will, muß Kritik organisieren - vielleicht wird sie die Wirklichkeit verändern. Soweit an der skizzierten Wirklichkeit die Justiz mitwirkt, geschieht dies nicht aktiv, agierend, sondern in Antizipationen, die ein Betroffener anstellt. Die unmittelbare Herrschaft scheint darum ganz bei Dogmatikern zu liegen. Tatsächlich aber wäre Dogmatik bloß flatus vocis, Stimmhauch, wenn nicht der positivierende Apparat mit ihr verbündet wäre. Zudem: Es gibt, wie vorherige überlegungen schon zeigen, keine gesicherte, unumstößliche Herr-
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schaft der Dogmatiker. Der Markt der Theorien ist offen, die Konfliktionäre aus dem Produktionsprozeß können dort gleichermaßen (und als Kollektive real chancengleich) um Gefolgschaft werben, Gefolgschaft auch kaufen, in den (gar nicht engen) Grenzen der Verfügbarkeit von Rationalität. Nur diktierbar ist den Dogmatikern die Dogmatik nicht ohne weiteres. Und wo, in dogmatistischen Systemen, dieses Diktat gelingt, hat ein gegen Argumentation gefeites Machtwort die Denkform Dogmatik verdrängt. Dann kommt es nur auf Macht, nicht auf das Wort an, im Gegensatz zu einem System, in dem Macht und Wort zueinander finden, sich arrangieren können. Sofern (Rechts-)Dogmatik geduldet und respektiert wird, hat die Lehre der jeweiligen Mehrheitsfraktion Definitionsmacht gegenüber den gesellschaftlichen Machtansammlungen, produziert sie Wirklichkeit für/gegen die Mächtigen. Ihrer selbst kann die Mehrheit dabei nie sicher sein: nichts bewahrt sie vor dem Klügerwerden der anderen, das ansteckt. (4) Die privaten Gelegenheiten, Gesetzestext herrschaftlich zu nutzen, sehen nach alledem so aus: Herrschaft äußert sich als Diktat einer Rechtsansicht, die auf dem Rechtsweg sehr schlechte Erfolgsaussicht hätte. Der privat Herrschende praktiziert eine Mindermeinung aus der Dogmatik oder eine von den Gerichten bisher verworfene, wenn auch verbreitete Meinung. Des weiteren ist Herrschaft das Rechtsdiktat in solchen Fällen, in denen Dogmatik und Justiztradition zu unbestimmt für verläßliche Prognosen sind. In allen ihren Varianten setzt Herrschaft voraus, daß der Beherrschte die ihn treffende Definitionsmacht nicht auf den Richter umzuleiten vermag, aus welchen Hemmnissen auch immer. Wer frei sein will von Definitionen, die der Kontrahent setzt, muß den Rechtsweg wählen; muß (je nach Situation) gegen den Herrschaftsversuch klagen oder ihm widerstehen auf die Gefahr hin, verklagt zu werden. Am Rechtsweg wird jedermanns Anmaßung, selbstgefertigtes Recht zu haben, scheitern. Im Gegenteil wird das Recht so wie es gilt den Herrschsüchtigen treffen; jedenfalls dann wird es ihn treffen, wenn er von vornherein eine gefestigte Rechtsprechung gegen sich hatte. In anderen, offeneren Fällen stehen seine Chancen nicht so schlecht; mit seiner eigenen Herrschaft aber ist es dennoch vorbei. Wer die Klage erhob, hat die Gleichheit zum Kontrahenten - die formale Gleichheit aller vor dem Gesetz - aktualisiert. Auch den Sich-Wehrenden kann zwar, bei offener (objektiv strittiger) Rechtslage, am Ende das Recht schlagen, ein Stück ihm unguter Wirklichkeit. Doch ist dies eine andere Herrschaft, der Gewinner "nur" ihr Günstling. Er bekommt, was er hatte nehmen wollen; nehmen konnte er's nicht. Der "Günstling" des geltenden Rechts übt vermittelte, un-eigene (geborgte) Herrschaft aus: durch Gesetze, nicht über das Gesetzliche. Auf einer nächsten Stufe allerdings sind Versuche möglich, selbst eine günstige Rechtslage zu produzieren (davon war ausführlich die Rede).
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2. Kap.: De lege 1ata (nach geltendem Gesetz)
Wiederum ein Herrschaftsversuch, gegen den anzugehen nun "höhere" Machtmittel verlangt. Nötig ist ein Engagement dort, wo die Rechtsansichten professionell gebildet werden: auf dem Markt der Theorien. Oder gar (und zusätzlich) in einem Vorzimmer des Gesetzes: in der "Lobby" des Bundestags. Aber dann geht es um Aktionen der Rechtserzeugung und der Gegenwehr, die das Vermögen des einzelnen und sein je eigenes, aktuelles Rechtsbedürfnis übersteigen. (5) Zum Schluß ein Blick auf den Fall des politisch aktiven Betriebsratsmitglieds (oben bei "Auslegung und Subsumtion", Topos (2)). War es herrschaftsfreier, also "wahrhaftiger" Konsens? Ein Konfliktionär, der den Rechtsweg .nühelos beschreiten konnte (der Arbeitgeber), nahm stattdessen die Meinung des Gegners an. Dabei vergab er eine gute Chance, recht zu bekommen. Doch er vergab sie an das eigene spontane Verständnis des Gesetzestextes. Er ließ sich vom Text beherrschen, wie er ihn selbst interpretierte. So wurde ihm der Text zum Medium seiner Selbstbestimmung (seiner positiven Freiheit). Daß er sich vom Text beherrscht glaubte, ist eine fast übliche Verwechslung, die an der objektiven Situation nichts ändert. Freiheit fand statt, versäumt wurde, sie zu genießen. Günstig ist der Irrtum für den pragmatischen Rechtszweck: der Aberglaube an zwingenden Wortlaut erleichtert die Konfliktlösung.
111. Rechtsregeln für die "kapitalistische" ("marktwirtschaftliche") Arbeitswelt Das Nachdenken über Gesetzlichkeit hielt sich an die Gesetzesform, es söTIfe aufklären, was (wie) Gesetze sind. Ein anderes Problem ist, was Gesetze sagen; davon soll kurz noch die Rede sein. Ein Inhalt läßt sich nicht in gleich fundamentaler Weise abhandeln wie die Form: sie ist das Allgemeinere, Fassung und Medium vieler sagbarer Inhalte. Der Inhalt jeweils zusammengehöriger Gesetze bezieht sich auf einen bestimmten Lebensbereich, auf diesen Bereich als Konfliktfeld (und der realdefinierte Bereich wiederum verklammert viele Paragraphen zu einem Rechtsgebiet). Der ThemensteIlung durch die Affaire S. entsprechend, wird hier Arbeitsrecht - werden gesetzliche Regeln für den Bereich Produktionsprozeß - abgehandelt, beschränkt auf die Rechtsordnung der Bundesrepublik zur Jahresmitte 1983. Dabei sind Gesetzesinhalte nun nicht in Anwendung vorzuführen, sondern als Grundsätze und in Grundzügen. Einsicht in die Abstraktheit der Gesetze hat zudem gelehrt, wie gewiß Recht außerhalb der Anwendung mitgeteilt werden kann: als ein Muster oder Programm der Konfliktlösung, verknüpft mit werbenden Argumenten ebenso wie mit Vermutungen über die Durchsetzung ("herrschende Lehre"; "herrschende Meinung" = vorherrschend in Dogmatik und Rechtsprechung; "Mindermeinung" ; "abwegig ist ..."; "unstreitig"; "vielfach kritisierte Praxis"; und so weiter). Ein Programm, das mit Vorbehalten, Einwänden, Gegenthesen zum Detail oder zur Substanz versehen werden kann und durch solche Zufügungen voll-
IU. Rechtsregeln für die Arbeitswelt
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ständiger, insofern als Darstellung "wahrer" wird. Ein wissenschaftliches Lehrbuch des Arbeitsrechts müßte die Vielfalt zum Konzept (zum System) fügen und doch stets das Bewußtsein vermitteln, daß es ein "offenes" System ist - vom geltenden Recht getrennt um die Distanz, die zwischen allgemeinen Sätzen und der Lösung jedes realen Konflikts liegt. Die folgenden Absätze entwerfen nur einen Grundriß. Vorrangig wird wieder die Herrschaftsfrage beschäftigen: der Ort des Arbeitsrechts in der Großen Alternative. (1) Ein paar slur-affen machen noch kein Schlaraffenland, sie aushalten zu müssen, war den Tätigen stets ein Ärgernis. Protest veroannte die "faulen Müßiggänger" zuerst aufs Narrenschiff (Sebastian Brand, Kap. 108), fand später auch härtere Worte: "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!" Dabei wäre der phantastische Ort doch der allerschönste; und die ihm nachhängende Illusion verführt in die Lotterien. Güter, die ein Mensch braucht oder wünscht, müssen erzeugt werden. Die hochentwickelte industrielle Produktion hat die einzelnen radikal um jede ernsthafte Möglichkeit gebracht, den eigenen Bedarf unmittelbar (oder in einfachem Tauschverkehr mit eigenen Erzeugnissen) zu decken. (Science fiction: Der plötzliche Zusammenbruch des industriellen Makrosystems - wer hat Chancen zu überleben? Wodurch? Für wie lange?) Die Lebensgrundlage ist eine so gigantische (gigantomanische?) wie fragile Apparatur, aufgebaut aus einer Vielzahl von Produktionsveranstaltungen, die in gesellschaftlicher Arbeitsteilung Fabrikate oder Dienstleistungen hervorbringen. (Das Wenigste davon ist eßbar, bewohnbar, wärmend oder heilsam.) Die Bausteine der "Volkswirtschaft" reichen vom seltenen Ein-Mann-Betrieb bis zum stadtteilfüllenden Großunternehmen. Der einzelne, in diese Szenerie gestellt, darf dank seiner Gewerbefreiheit entscheiden, welche Veranstaltung er selbst eröffnen und betreiben will - eine Befugnis für jeden, der sie zu nutzen vermag. Für die große Mehrzahl der Berufstätigen bleibt sie hypothetisch; weder ist das (ökonomische und "persönliche") Vermögen zu eigenem Unternehmertum vorhanden, noch würde die heutige Arbeitszerlegung (die betriebliche Arbeitsteilung als zweite Stufe nach der gesellschaftlichen Arbeitsteilung) stärkere Neigung zur Selbständigkeit vertragen. "Die Umstände" legen auf die Arbeitnehmerrolle fest: eine Verbannung in ein Geflecht der Abhängigkeiten. Die Notwendigkeit, den Lebensunterhalt zu verdienen, macht abhängig von der Mitarbeit im großen Produktionsapparat. Die objektive und subjektive Unmöglichkeit eigenen Unternehmertums macht abhängig von fremdem Unternehmertum: davon, daß ein Unternehmer Arbeitsplätze plant, bereitstellt, anbietet. Die Abhängigkeit vom bereitgestellten Arbeitsplatz setzt sich fort in Gestalt der Arbeitsbedingungen: Arbeit sei zu nehmen, wie angeboten; zu verrichten, wie angeordnet. 12 Gast
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2. Kap.: De lege lata (nach geltendem Gesetz)
Das geltende Arbeitsrecht handelt von diesen Verhältnissen, sie sind sein Thema. Wie aber begegnet es ihnen; nimmt es sie ohne Vorbehalt hin; wertet es alle Formen und Fälle der Abhängigkeit zu Rechtslagen auf? Daß es durchwegs auf. "Sachzwänge" der arbeitsteiligen Produktion treffe, sich selbst und die Arbeitsverhältnisse dem factum brutum bloß anpassen könne, wäre eine falsche Vorstellung. Zusammenarbeit etwa läßt sich auf verschiedene Weisen dirigieren: die Anweisung eines Leiters ("Direktors") ist eine Möglichkeit, Ordnung zu schaffen, aber genauso sorgt die Mitbestimmung durch alle "Mitarbeiter" für nötige Resultate. Abhängigkeit von einem Unternehmer, der den Arbeitsplatz anbietet, lebt darum nicht "naturnotwendig" im Arbeitsverhältnis weiter, zur Herrschaft des Unternehmers über Art und Weise des Arbeitens stilisiert. - Und Abhängigkeit von fremdem Unternehmertum? Das industrielle Produktionsniveau setzt Großunternehmer voraus; der Gedanke, daß ihnen massenhaft auszuweichen wäre, ist utopisch. Das (Arbeits-)Recht, oder noch die kühnste Rechtserwartung, stößt hier an eine dingfeste Grenze. Dagegen ist von denselben "Dingen" aus gesehen gleichgültig, wer in die Unternehmerrolle eintritt: der einzelne Kapitalist, eine Gesellschaft von Geldgebern (zum Beispiel Aktionären) oder der Staat. Wiederum liegt ein Stück Freiheit in den Verhältnissen, wenn auch nicht für den "geborenen" Arbeitnehmer; er bleibt bei jeder Variante auf die unternehmerische Leistung angewiesen. Nur könnte seine Abhängigkeit einen unterschiedlichen Grad erreichen. Den Staat könnte politischer Druck zur Bereitstellung von Arbeitsplätzen zwingen; womöglich wäre das Interesse des arbeitslosen Bürgers zum Rechtsanspruch zu verdichten. Dem gleichen Ansinnen an private Unternehmer baut frühzeitig das Privateigentum vor. Eine Komponente der Abhängigkeit - keine "natürliche", sondern eine künstliche - ist das Eigentum einer Minderheit am Produktivvermögen (an den Unternehmen). Eine rechtliche Grundentscheidung im Vorfeld des Arbeitsrechts gewährt privat-kapitalistisches Eigentum (Privateigentum an produktiven Einrichtungen). Dem Arbeitsrecht ist hierdurch eine seiner Prämissen gesetzt, Widersprüche zu ihr muß die Dogmatik vermeiden. Die Frage ist, welche Gestaltungsfreiheit für Reglement und Regulierung daraufhin bleibt, und zu welcher verbindlichen Ordnung das geltende Recht diese Freiheit verbraucht hat. (2) Der Tatbestand "Eigentum", in § 903 BGB für Sachen ("körperliche Gegenstände") definiert, ist nach allgemeiner Meinung für geldwerte Güter aller Art gleich. Der Eigentümer, nun: der Unternehmer darf mit der Einheit Unternehmen oder mit jedem dazugehörigen Gut "nach Belieben verfahren und andere von jeder Einwirkung ausschließen" (es sei denn, daß "das Gesetz oder Rechte Dritter entgegenstehen"; so der Gesetzestext).
111. Rechtsregeln für die Arbeitswelt
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Das Recht zur Ausschließung ist Spiegelbild exklusiver (privateigentümlicher) Zuordnung. Folgerichtig verneint die herrschende Lehre ein "Recht auf Arbeit" im Sinn eines Anspruchs auf Einstellung - es würde einem Nichteigentümer den Zugriff auf fremdes Gut eröffnen. (Ist dieser Schluß auch richtig, sobald staatliche Subventionen Arbeitsplätze im Privatunternehmen finanzieren??) Daß der Unternehmer das Eigentum an den Produkten erwirbt, scheint gleichfalls konsequent: eine Fortführung seines Eigentums am produktiven Gut. (Aber warum stehen "Rechte Dritter" = der Arbeitnehmer dem nicht entgegen? Der Gesetzestext bietet Spielraum für Gegenthesen. Sogar für den Gegenentwurf oben im Abschnitt "Rechtsdogmatik" , Topos (2).) Vor allem aber gehört zum Eigentum Verfügungsrnacht; die exklusive Zuordnung wird dadurch erst sinnvoll. über seine Güter - Kapital, Produktionsmittel, Produkte, die funktionale Apparatur Unternehmen - verfügt der Unternehmer auf vielfältige Weise: durch Veräußerung; durch Schließung eines Betriebs; durch die Definition der Produktionsziele, Festlegung der Investitionsrate, Festlegung der Personalkosten, die er einzusetzen gedenkt; durch Planung der Arbeitsabläufe, Gestaltung von Arbeitsplätzen; durch Rauchverbot im Betrieb, Anordnung einer Torkontrolle, Einführung von Kurzarbeit ... Freilich: Versuche, dieses ganze Feld der Entscheidungen (oder jedenfalls möglichst viel daraus) dem Eigentum zu subsumieren, sind in der arbeitsrechtlichen Literatur selten geworden. Sie kämen leicht in dogmatische Schwierigkeiten, da Verfügungen aus Eigentum ex definitione das zugeordnete Wertstück (ein Rechtsobjekt) betreffen, mithin nur die Objekt"herrschaft" rechtlich gedeckt ist. Was aber, wenn das "Verfahren" mit Gütern sich zur Verfügung über Menschen, über fremde Interessen verlängert? Zu einer Verfügung, die sich nicht im "Ausschließen" erschöpft, denn allein dieses Stück Herrschaft über Menschen billigt der Gesetzestext zu? Macht über Arbeitnehmer (spiegelbildlich: Abhängigkeiten des Arbeitnehmers) vermittelt das kapitalistische Eigentum unbezweifelbar, und mit ihr setzt das Arbeitsrecht sich auseinander. Es kann sie bestätigen oder zu negieren trachten, muß in jedem Fall nur mit dem Eigentumstatbestand dogmatisch versöhnt bleiben. Die erste Tendenz, Bestätigung realmöglicher Herrschaft, darf den Aspekt "Sachherrschaft" nicht allzu unglaubwürdig machen; man kann sich behelfen, indem man die Herrschaft über Menschen in gesonderte Rechtsfiguren verlegt. Umgekehrt darf das Arbeitsrecht bei der zweiten Tendenz, der Herrschaftsverhinderung, nicht das Institut Eigentum aushöhlen, es am Ende auf funktionsloses Haben zurückschneiden. Jene Aura arbeitsrechtlicher Kategorien, die herrschender Meinung zufolge das Unternehmereigentum umgibt, sieht sich allerdings nicht eigentumsfeindlich an. Da ist die Rede von der "Organisationsgewalt" 12·
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2. Kap.: De lege lata (nach geltendem Gesetz)
des Unternehmers; von "unternehmerischer Autonomie" (als Fall der allgemeinen Handlungsfreiheit, Art. 2 Absatz 1 Grundgesetz); von "Leitungsmacht" und "Direktionsrecht" des Arbeitgebers ... Sogar die Typisierung des Arbeitsvertrags folgt dieser Linie: Für ihn sei wesentlich, daß der Arbeitnehmer "Gehorsam" verspreche, sich der Entscheidungsmacht des Unternehmers/Arbeitgebers" unterwerfe", sich "in den fremden Lebensbereich einordne" (Nachweis Fn. 30). - Das Arbeitsrecht: eine Versammlung von "Konnexinstituten" zum Eigentum, bereit, alle Bestimmungs- und Durchsetzungschancen des Unternehmers jenseits bloßer Güterbeherrschung aufzufangen? So jedenfalls stellt eine Summe üblicher Grundbegriffe es dar 60 • (3) Wären die überkommenden Lehren vom Arbeitsverhältnis wörtlich und ganz ernst zu nehmen, das geltende Arbeitsrecht wäre Herrschaftsordnung: ein System einseitiger Regulierung. Alle gesetzliche Freiheit im Produktionsprozeß wäre für die Eigentümerseite reserviert. Dem Arbeitnehmer bliebe das Recht, seinen "Herrn" zu wählen - sofern er das Glück: hat, daß mehr als ein Arbeitgeber ihm das Beherrschtwerden anbietet. Als "Recht der abhängig Arbeitenden" (Recht der "abhängigen Arbeit") charakterisiert die herrschende Lehre ihren Gegenstand, und sie errichtet sich daraus eine Prämisse; eine Perspektive für alles dogmatische Nachdenken 61 • Unter der Prämisse "Abhängigkeit" muß das so reflektierte Recht sich auf Ausgestaltung der vorgegebenen Abhängigkeitsmuster beschränken. Selbstverständlich übersieht man nicht die Tarifrnacht der Arbeitnehmer, die Mitbestimmung oder Mitwirkung in den Aufsichtsräten, die Betriebsverfassung. Die Prämisse "Abhängigkeit" trifft auf gesetzliche Gegenvorstellungen, deren "Wesenszüge" ebenfalls dogmatisch festgehalten werden: "Betriebspartnerschaft" anstelle des "Herr-imHause"-Standpunkts; "gleichberechtigte Teilhabe der Arbeitnehmer an Entscheidungen"; "Besinnung auf das Prinzip der Selbstbestimmung". Die beiden gegenläufigen Prinzipien stehen ziemlich unvermittelt nebeneinander, ein konsistentes System ist der herrschenden Meinung bisher nicht gelungen. Einen Akzent allerdings setzt sie sehr wohl: Das Arbeitsrecht sei "Schutzrecht" zugunsten der Arbeitnehmer. Die Betonung der Schutzfunktion knüpft bei der Abhängigkeit konservierend an. Schutzbedürfnis und Abhängigkeit gehören zusammen; so entsteht eine gedankliche Barriere vor dem Mitbestimmungs-, dem Gleichheits60 Liefert das Zivilrecht hier: das Arbeitsrecht - überwiegend "Konnexinstitute" zum Eigentum, in denen dieses sich realisiert? Dies meinte Karl Renner, Die Rechtsinstitute des Privatrechts und ihre soziale Funktion, Neudruck 1965, insbes. S. 87 - 135. 61 So ausdrücklich Reinhard Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille bei der Gestaltung des Arbeitsverhältnisses, 1968, S. 1.
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prinzip. Ihre Tendenz, Unternehmerherrschaft zu festigen, hat die herrschende Meinung durchaus. (4) Bei dieser Ausrichtung wirkt ein verstümmeltes Bild von der Realität des Produktionsprozesses mit. (Eine Verkürzung der Theorie, die eintrat, als der "Arbeitgeber" den "Dienstrnieter" ablöste; oben 1. Kap. V 2 b.) Der Blickwinkel hin zu den Abhängigkeiten des Arbeitnehmers, erklärtermaßen gewählt, um den Abhängigen vor Auswüchsen der Macht zu schützen: er sperrt die korrespondierende Abhängigkeit des Unternehmers aus. (Die Abhängigkeit vom Dienstvermieter wurde "abgeschafft", nur das Mieterrecht, die Verfügbarkeit des Gemieteten, blieb erhalten.) Phasen der Hochkonjunktur mit akutem Mangel an Arbeitskräften spiegeln dann episodenhaft eine "Umkehrung der Verhältnisse" vor: den Wettbewerb der Arbeitgeber, die mit übertariflichen Leistungen Arbeitnehmer zu gewinnen suchen. Schlechtere Zeitläufe: Arbeitslosigkeit, Knappheit der Arbeitsplätze, der Triumph des Besitzes und die Ohnmacht des Bedürfnisses scheinen das "Schutzrecht" wieder zu bestätigen. Vergessen wurde darüber eine Abhängigkeit, die dauerhaft in der "Natur" der Produktionsmittel liegt, jedoch den Unternehmer betrifft. Jedes Produktionsmittel nämlich ist eine Synthese aus Sache und Arbeitskraft; die Arbeitskraft konstituiert es. (Dies jedenfalls, wo kein sich selbst regulierender Apparat am Werk ist.) Das Produktionsmittel ist, exakter als üblich gesehen und gesprochen, ein eigentumsfähiges Gut nur, wenn die "Zutat" des Arbeitenden, seine Arbeitskraft, mit ins Unternehmereigentum fällt. Wird diese Verdinglichung von Persönlichkeit nicht akzeptiert - und sie ist inakzeptabel angesichts der Art. 1 und 2 Grundgesetz -, dann endet das Eigentum am Rande der Sache, des puren Gutes. (Und dürfte ein "Konnexinstitut" jemals die Verfügungsrnacht des Eigentümers über das Substrat hinaus, unter anderem Namen, retten?) Jenseits der Sache begegnen die Parteien des kapitalistischeh Produktionsprozesses einander in qualitativ gleicher Abhängigkeit: jeder Seite eignet ein notwendiges Element der Produktion. Ein Arbeitsrecht, das diesem Grundtatbestand angemessen ist, würde vollkommene Gleichberechtigung organisieren. Eine das Argumente-Angebot ausschöpfende Dogmatik würde die komplexe Prämisse zweiseitiger Abhängigkeit wählen. (5) Aus Strukturen des Wirklichen darf nicht kurzerhand auf das Rechte geschlossen werden. Das Wirkliche ist Problemstoff für das Recht. Mit den Abhängigkeiten im industriell-kapitalistischen Produktionsprozeß muß das Recht sich auseinandersetzen, seit und wo immer sie ins Anstößige gemündet sind. Es schuldet seine Stellungnahme; darin bestätigt es entweder Machtverhältnisse, die aus der Abhängig-
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keitslage hervorgingen, oder es greift korrigierend, machtmindernd ein. Es ist der historischen Tatsache konfrontiert, daß eine Partei des Produktionsprozesses die eigene Abhängigkeit zu überspielen vermochte, real von Anfang an, schließlich auch terminologisch, indem sie sich vom Dienstmieter zum Arbeitgeber wandelte. "Dem Kapital" gelang es, die Bedürfnisse der anderen Seite dauerhaft in eigene Macht zu übersetzen. Bei der Suche nach Maximen, wie dieser Macht zu begegnen sei, bestätigend oder negierend, lebt die Erinnerung an verdrängte Auch-Abhängigkeit des "Stärkeren" auf (an einen Tatbestand, den jeder Streik immerhin augenfällig macht). Sie ins dogmatische Spiel zu bringen, ist "vernünftig", Rücksicht des Rechts darauf "angemessen", aber das Angemessene steigt nicht zwingend zu der Rechtslage auf. "Angemessenheit" ist ein Argument für einen rechtlichen Gedanken, eine seiner Stützen neben anderen, bisweilen die ausschlaggebende, allein genommen meist die schwächste. Nicht bei der erfahrbaren Wirklichkeit, sondern bei den RechtsquelZen muß Dogmatik die Geltungsversicherung für ihr System suchen. Der beste Weg ist, eine Rechtsansicht im Gesetzestext zu reflektieren. (Andernfalls wären schwächere Mittel am Zug: die Rechtsfortbildung per Analogie, per teleologischer Extension oder Reduktion, argumenturn e contra rio ...) Die Rechtsform, wechselseitige Abhängigkeit in gleiche Entscheidungszuständigkeit zu überführen, ist der Vertrag; das gesetzliche Reglement des Arbeitsvertrags ist deshalb als Ansatz wichtig. Daß der Arbeitnehmer hiernach "versprochene Dienste" gegen Entgelt leistet (§ 611 BGB), muß weder im längst verjährten Sinn der Dienstrniete, noch radikal verkürzt als "Unterwerfungsvertrag" gelesen werden. Der Gesetzestext deckt auch folgendes Verständnis: Der Unternehmer trage das Gegenständliche bei (,Produktionsmittel' im üblichen, lax definierten Sinn), der Arbeitnehmer erbringe "Dienste" = Arbeitskraft, und die Synthese aus beiden Elementen sei Thema eines "Versprechens", das heißt des Vertrags. Die Synthese allerdings reicht weit, auf ihr beruht letztlich das gesamte Unternehmen. Folgerichtig wird es selbst und insgesamt zur Sache des Vertrags. Vertragsthemen sind demnach: die Produktionsziele; die Gewinnverwendung (Gewinnaufteilung in Rendite, Arbeitsentgelte, Investitionsrate); die Organisation der Produktion, Gestaltung des einzelnen Arbeitsplatzes, Ordnung der Zusammenarbeit ... Enteignet wäre der Unternehmer keineswegs. Eigentum als Befugnis, "nach Belieben" über Güter zu verfügen, bliebe gewahrt: niemand muß Kapital dem produktiven Zweck widmen; die puren Güter darf der Eigentümer beliebig veräußern; der Unternehmer darf sein Unternehmertum aufgeben, um sein Kapital zurückzuerlangen. Was den produktiven Gebrauch angeht, so wäre der Unternehmer nicht macht-
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los, auch würde keine fremde Verfügungsrnacht über sein Eigen eröffnet. Gegen den Willen des Unternehmers wäre nichts zu erreichen nur würde er seinerseits nicht beherrschen, was außerhalb seiner Güter liegt. Für dieses Zusätzliche wäre er auf Konsenssuche angewiesen. Aber mehr ist in den Gegenständen ohnehin nicht angelegt als die Chance zur produktiven Nutzung, sofern die hierzu benötigten "Arbeitskräfte" beispringen. Unter dieser Bedingung steht die produktive Nutzung apriori. "Potenz" der Güter wird einseitig, "herrschaftlich", in der eigenhändigen Produktion entfaltet; sonst kann der Eigentümer sie nur realisieren, indem er Mitwirkende sucht, sich deren Mitwirkung versichert. - Das vorgeschlagene Verständnis des § 611 BGB ist also mit dem Eigentumsrecht dogmatisch verträglich, und auch andere Grund-Sätze des geltenden Rechts kommen ihm zugute. Vertragspartnerschaft eröffnet in der Arbeitswelt dem Produktionsmittellosen "freie Entfaltung seiner Persönlichkeit" (Art. 2 Absatz 1 Grundgesetz); und zwar eine "Entfaltung", die sich als einigermaßen (prinzipiell) "gleichberechtigt" mit jener des Unternehmers denken läßt (Art. 3 Grundgesetz). Soweit es "Gleichheit" zwischen Eignern und Besitzlosen überhaupt geben kann. Noch ist dieses Idealbild des Arbeitsvertrags nicht hinreichend begründet; nichts scheint einfacher, als es zur Illusion abzustempeln: Soll also der Vorstand von VW monatlich durch die Betriebe hasten und mit jedem Arbeitnehmer die Stückzahlen für die nächsten vier Wochen verabreden? Was aber, wenn der "grüne" Pförtner von Tor 13 die Umstellung der Produktion auf Fahrräder verlangt? Bleibt, um der Funktionsfähigkeit willen, nicht doch nur das Diktat gegen Unwillige und weshalb dann die Umständlichkeit? - Ein argumentum ad absurdum, das unwiderleglich, unabwendbar scheint. Es entstammt dem üblichen Verständnis, das in § 611 BGB nur den individuellen Arbeitsvertrag definiert sieht; Vorgänge, die viele Arbeitnehmer angehen, scheinen mit der Regelungskraft des Vertrags daher nicht erreichbar. Zwingend ist dieser Schluß indessen nicht. Denn der Gesetzestext läßt sich auch als Vorschrift überhaupt vertraglicher Leistungsbestimmung auffassen, so daß die engeren Grenzen individueller Vertraglichkeit nicht gegen das Vertragsprinzip einzuwenden sind. Vertragliche Regelung der "Dienste" (= der produzierenden Zutat zum Unternehmenssubstrat) kann als höchstes Prinzip des Arbeitsrechts dem Gesetz entnommen werden: woraufhin "nur" noch fraglich ist, mit welchen Hilfsmitteln das Recht den Vertragsgedanken im Produktionsprozeß durchführt. (6) Derart "im Prinzip" gerettet, führt die Vertragsidee zum kollektiven Arbeitsrecht. Dort ist sie, mit Wirkung für die einzelnen Arbeitsverhältnisse, mehrfach ausgeformt. Die Betriebsvereinbarung regelt
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2. Kap.: De lege lata (nach geltendem Gesetz)
Momente der Arbeitsverhältnisse, ebenso der Tarifvertrag. Sogar die Tätigkeit des paritätischen Aufsichtsrats (im Montanunternehmen) kann, wenngleich formal auf den Beschluß- = Mehrheitsmodus festgelegt, noch immer als Verwirklichung von Vertragsgeist gedeutet werden: denn keine Partei kommt ohne Zutun der anderen zur Mehrheit, keine vermag von sich aus eine Entscheidung zu fällen. Erst zusammen mit dem "elften Mann" (einem Mann des Vertrauens beider Seiten) oder einem Mann der Gegenseite - einem Anwesenden, der zustimmt, einem Abwesenden, der "mit den Füßen" abstimmt - kann ein Partner der Produktionsveranstaltung den anderen überstimmen. (Der Sieger überstimmt, genau genommen, nur mehr eine Fraktion = ein Bruchstück der Gegenseite.) Sodann: Machtsymmetrie, die Bedingung für materiale Vertraglichkeit - der Vertrag sei kein Versteck für Herrschaft des überlegenen -, wird gleichfalls über die Kollektivierung erreicht. Auf der Tarifebene ist sie letztlich dem Arbeitskampfrecht anvertraut. Machtsymmetrie im Betrieb sucht das Gesetz herzustellen, indem es die Betriebsratsmitglieder vor Kündigung schützt, ihre Schulung fördert und gegen nicht kompromißbereite Arbeitgeber den Gang zur Einigungsstelle erlaubt. Der Betriebsrat soll konfliktfähiger und durchsetzungsfähiger sein als der isolierte Arbeitnehmer. Die Vertragsmaxime findet sich durch das Mitbestimmungsrecht bestätigt - doch offenbar nur stückweise. Betriebsverfassungsrecht und Mitbestimmungsgesetze schaffen Inseln der Mitbestimmung, daneben lassen sie der Alleinentscheidung des Unternehmers weiten Spielraum. Gemessen am Ideal vertraglicher Regulierung, scheint das Arbeitsrecht weithin lückenhaft: dem Prinzip fehlen vororganisierte, praktische Gelegenheiten. Auf einen Ausschnitt jedoch trifft die Rüge nicht zu: auf die Tarifautonomie. Unter die Prämisse Vertraglichkeit gestellt, wäre sie weit zu fassen. Tatsächlich deckt Art. 9 Absatz 3 Grundgesetz ein extensives Verständnis. Die Verfassung akzeptiert Vertragszuständigkeit, das heißt Tarifzuständigkeit in allen Angelegenheiten des Produktionsprozesses. Wo immer die übrigen Rechtsquellen dem Unternehmer ... Herrschaft einräumen? nein: pure Macht belassen, weil der Gesetzgeber bisher politisch unfähig war, die Rechtslage ihrer eigenen Prämisse gemäß auszuformen - dort darf die Gewerkschaft den lükkenfüllenden Tarifvertrag fordern. Zwei Möglichkeiten stehen den Tarifpartnern zur Wahl. Entweder man verabredet fällige Entscheidungen selbst; oder man delegiert, weil solches "Hineinregieren" in ein Unternehmen nicht opportun scheint, die Entscheidungszuständigkeit an vorhandene Organe. Beispielsweise an die Betriebspartner: Sie mögen auf betriebsverfassungsrechtlichem Weg "ihre" Produktionsveranstaltung dirigieren. Die Delegation liefe, betriebsverfassungsrechtlich gesehen, auf Erweiterung der Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats
III. Rechtsregeln für die Arbeitswelt
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hinaus. Ihrer Substanz nach wäre sie Selbstfortbildung des arbeitsrechtlichen Systems, Selbstvollendung eines Torso, der seinen erst abstrakt ge faßten Maßstab einzulösen, konkreter darzustellen sucht. Der Ausdruck ,Mitbestimmung' freilich wird vor diesem Hintergrund unpassend. Er suggeriert, Arbeitnehmer hätten sich in ursprüngliche Alleinkompetenzen des Unternehmers eingemischt: historisch-empirisch eine richtige Feststellung, die zugleich fundamentale Versäumnisse der Arbeitsrechtslehre und Praxis eingesteht. Denn die Vertragsmaxime "beherrscht" das Arbeitsrecht seit dem frühen 19. Jahrhundert; sie wurde "nur" nicht verwirklicht. Sie endlich zu praktizieren, wäre kein stückweises "Mitbestimmen", sondern umfassend zweiseitige Direktion62 • (7) "Aber was wird aus dem einzelnen, aus seinen Rechten, seiner Selbstbestimmung??" Dogmatische Gemahnung dieser Art fehlt nicht, Verfechter des kollektiven Aspekts setzen sich ihr schnell und reichlich aus. Ein argumentum ad hominem, das auch zur Replik taugt: Wer bestimmt was im individuellen Arbeitsvertrag? Dieser Vertrag atomisiert das Unternehmen zu einer Summe individueller Beziehungen, die der Vertragspartner Arbeitgeber eingeht. Während jedoch der Arbeitgeber in der Summe sein Gesamtinteresse verfolgen kann, ist der einzelne Arbeitnehmer auf Regulierung seiner individuellen Lage, der für ihn exklusiven Momente des Unternehmens, in dem er mitarbeiten soll, beschränkt: er darf ja nicht in die Verhältnisse des Nebenmannes eingreifen. Die außer-individuellen Momente, individualvertraglich ausgespart, fallen in die Entscheidungsmacht des Arbeitgebers - es sei denn, die Vertragszuständigkeiten der Arbeitnehmer addieren sich ihrerseits zur einheitlichen Ausübung. Erst die kollektive Zuständigkeit, aufgefangen in der Tarifmacht der Gewerkschaft, in der Mitbestimmungsbefugnis des Betriebsrats, im gleichen Entscheidungsrecht der Arbeitnehmerbank im Aufsichtsrat, ist dem Vertragsgegenstand angepaßt. Die "Dienste" des einzelnen, hingeordnet auf die Produktionsveranstaltung, sind in kollektiver Zuständigkeit endlich thematisierbar; seine Interessen im Zusammenhang mit der Produktionsveranstaltung sind endlich umfassend verfolgbar.
"Selbstbestimmung" des Arbeitnehmers im kapitalistischen Produktionsprozeß ist apriori zweifach relativiert. Im Verhältnis zum Arbeitgeber kann sie bestenfalls Vertragspartnerschaft sein, die Hälfte der Herrschaft über fällige Lösungen, und in der arbeitsteiligen Produktion ist die "eigene Hälfte" an Zuständigkeit wiederum Sache der vielen Zusammenarbeiter. Für den einzelnen kann Selbstbestimmung nicht anders real werden als dadurch, daß er am Interessenverfolgungsprozeß 62
Arbeitsvertrag und Direktion (Fn. 30), S. 343 passim.
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2. Kap.: De lege lata (nach geltendem Gesetz)
"seiner Seite" mitwirkt. Dies geschieht durch Bestellung (Wahl) der gemeinsamen Vertreter und durch Teilnahme an der kollektiven Willensbildung: das demokratische Grundmuster hat auch im Gesellschaftsausschnitt Produktionsprozeß seinen Ort. Individuelles Geltendmachen ist dennoch nicht ausgeschlossen, wenn ein Interesse als ganz eigenes erlebt wird; nur muß es sich auch objektiv isolieren lassen. Das Gefühl beispielsweise, benachteiligt zu sein, stößt zu individueller Rechtssuche an und begründet einen individualrechtlich lösbaren Konflikt am Rande. Den zur Konfliktarbeit fähigen einzelnen unterstützt (nach §§ 84, 85 BetrVG) auf Wunsch der Betriebsrat: eingedenk des Machtgefälles, das es auszugleichen gilt. (8) Dieser Entwurf umfassender Vertraglichkeit freilich ist Meinung: meaning in a book about law in the books; und, überblickt man die arbeitsrechtliche Literatur, bislang wohl eher Meinung am Rande. Wäre daher ums andere Mal Kants Warnung zu variieren: Ein Kopf, der schön sein mag, nur schade!, daß er keinen Rumpf hat ... ? Gedanken ohne Wirklichkeit: das ebenso traurige Gegenstück zum Kopf ohne Gedanken (oben, "Anstöße", IV 2)? Bei allem Pragmatismus, der für akute Rechtserwartungen sinnvoll ist - Rechtsdogmatik soll sich gerade nicht darauf beschränken, unter den gesetzlichen Möglichkeiten nur das Möglichste zu traktieren. Von ihr verlangt Rationalität mehr und anderes; so etwa, daß sie Prinzipien des gemeinhin reflektierten Systems zu Ende denkt, wie überraschend oder störend die Ergebnisse sein mögen. Dem Rechtszweck dient auch das unbeliebteste - Interessen und Vorurteilen lästige - Stück Dogmatik zweifach. Zum einen trägt es, gerade durch Kritik, zur Legitimation des Systems bei: Seht, das System stellt sich dem "Gerichtshof Vernunft" (Kant), dem Diskurs, es birgt in sich die Chance, immer zum Richtigsten zu führen. Zum anderen hat jede Mindermeinung aus der Dogmatik auch ihren praktischen Rang: bereitzuliegen, um dann, wenn es jemals auf sie ankommen könnte, Rechtlichkeit zu vermitteln, friedlichen Gang aus einem Konflikt.
IV. Scblußbemerkung zur Universalität des Vertrags Sich zu vertragen, ist der konfliktlose Zustand. Das Recht hat ihn aufgegriffen ("apperzipiert"), um daraus kunstvoll einen Weg der Konfliktregulierung zu machen. Zu den typischen Konstellationen, in denen Recht und Vertrag verknüpft sind, hier eine kurze übersicht. (1) Das Exempel Kaufvertrag (Tauschvertrag): Eine Sache bringt zwei Menschen (allgemeiner: zwei Rechtssubjekte) in Beziehung zueinander. Ihre Interessen scheinen "von Natur aus" zu korrespondieren:
IV. Schlußbemerkung zur Universalität des Vertrags
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einer will die Sache erwerben, der andere sie veräußern - von Konflikt keine Spur. Die Situation ist indessen schon durch das rechtliche Raster betrachtet: auf Ausgleich von Interessen hin. Zieht man das (Kauf-)Recht ab, stellt die Lage sich anders dar: der eine will die Sache unbedingt bekommen, der andere sie nur bedingt (um einer Gegenleistung willen) abgeben. Ein Gegensatz, den auf rechtlose Weise ein Diebstahl, Raub, Betrug "überwinden" würde. Der rechtliche Weg (schuldrechtlicher Kaufvertrag, sachenrechtliches Erfüllungsgeschäft) ist so zur Routine geworden, daß er den zugrunde liegenden Konflikt unmerklich, lautlos machte; dennoch weckt jeder Diebstahl im Kaufhaus die Erinnerung daran. (Nebenbei: Der unmerkliche, ungespürte, also nur objektive Konflikt ließe sich in strikter Terminologie als "Interessengegensatz" bezeichnen; der vermerkte und laut gewordene, bewußt betriebene Gegensatz als "Konflikt". Von dieser Möglichkeit des Unterscheidens macht der Text hier kaum Gebrauch: ihm kam es nicht darauf an.) Zum Kauf alltäglicher Kleinigkeiten genügt die flüchtige Begegnung. Ein kostspieliges Ding knüpft die Beziehung Verkäufer- Käufer fester, regt an, sie reichhaltiger auszugestalten: wobei existentielles Beiwerk dem Recht gleichgültig ist, ihm geht es um Vorsorge für unangenehme Folgen. Die verkaufte Sache kann schnell zum Zankapfel werden, wenn die ersten Mängel an ihr auftreten. Für den Folgekonflikt aus friedlich verlaufener Transaktion hält das Bürgerliche Gesetzbuch ein Reglement der Mängelhaftung bereit, das jedoch unter einem Vorbehalt steht: es ist weithin ius dispositivum, abdingbares Recht, die Vertragspartner dürfen ihre eigenen Haftungsregeln an seine Stelle setzen. Die Ersetzung kann nur vertraglich geschehen; zum Kauf addiert sich dann die zweiseitige Legislatur. Das private Gesetz (generell insofern, als es jeden Haftungsstreit aus diesem Kauf betreffen soll, und abstrakt ohnehin) wird vielleicht ungenutzt bleiben, im Anwendungsfall die üblichen Auslegungsprobleme mit sich bringen. In der Praxis halten die kommerziellen Vertragspartner ihre "Allgemeinen Geschäftsbedingungen" bereit, ausgeklügelte Regeln mit der typischen Tendenz, die eigene Haftung zu minimieren. Eine Gelegenheit, bei welcher der Vertrag leicht zum Versteck für Herrschaft wird: der Konsument, der in seiner Lust aufs Produkt Folgeprobleme verdrängt und die kunstvollen Klauseln auch nicht stets zu durchschauen vermöchte, unterschreibt vertrauensselig. Vor allzu krasser Enteignung seiner Rechte suchen gesetzliche Klauselverbote ihn zu schützen. (2) Der Kaufvertrag ist auf den Augenblick, die Okkasion hin konzipiert; punktuelle Bedürfnisse sollen kurzerhand gestillt werden. Darum auch ist der vertraglich aufzufangende Konflikt oft so unscheinbar. Anders, wo fundamentale Bedürfnisse schwerer zu befriedigen
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2. Kap.: De lege lata (nach geltendem Gesetz)
sind, etwa die Wohnungssuche bei zu knappem Angebot. Am "Markt" zeigen Interessenwiderspruch und Machtgefälle sich nun deutlicher, ungelöste Konflikte brechen kraß und laut auf (Obdachlose besetzen einen leerstehenden Altbau, der abgerissen werden soll, um einem Kaufhaus zu weichen). Der Mietvertrag wird zum Programm für ein "Dauerschuldverhältnis" , das reich an Gelegenheiten zum Streit ist; Streit, der bei Bedarf aus dem Maximenfundus dieses Vertrags gelöst wird. Grenzfall ist schließlich jener permanente Interessengegensatz, der zu einem Strukturmerkmal der Gesellschaft ausfiel: die Konfrontation zwischen Kapital und Arbeit im ,kapitalistisch' genannten Produktionsprozeß. Die Konfliktstruktur wird, allen ideologischen Bemäntelungen zum Trotz, an jedem Arbeitskampf oder in den ständigen Auseinandersetzungen um mehr Mitbestimmung augenfällig. Jeder Arbeitslose erfährt sie für sich. (Der Befund impliziert nicht, daß man dem ideologischen Pendant - "Klassenkampf!" - anhängen müsse.) Die arbeitsrechtlichen Verträge, ob individuell oder kollektiv geschlossen, versammeln sich zur gleichfalls permanenten Stillhaltung des Grundkonflikts. Bei weitem nicht jeder Vertrag erbringt dabei auch herrschaftsfreien Ausgleich für das Stückchen Interessenlage, das er thematisierte. Wohin jedoch überhaupt kein Vertrag gelangt, dort wird eine Partei des Produktionsprozesses, werden die Unternehmer herrschaftlich regulieren. Interessen der anderen Seite werden per Reflex mitbedacht: nach Maßgabe dessen, was die Interessen der Herrschenden befriedigt. Die Herrschaft im vertraglosen Feld mag durch Rechtstitel (angeblich) gedeckt sein oder bloß faktische Machtausübung: der Unterschied ist gleichgültig, solange legaler Widerstand gar nicht bis dorthin dringt. Die Rechtsform dieses Widerstands ist der Vertrag. (In einer arbeitsteiligen Gesellschaft des Mangels, bei dauernder Not an Subsistenzmitteln, wäre wohl auch der Verteilungsprozeß als ein Dauerkonflikt zu begreifen. Die Atomisierung durch individuelle Kaufverträge wäre der Bedeutung der Kaufvorgänge dann ebenfalls nicht mehr angemessen.) (3) Den Vertrag auf Konflikte anzusetzen, um Harmonie zu erreichen, ist eine, die eigentlich rechtliche Gebrauchsweise der Form. Verträge werden jedoch auch zwischen Partnern gleichen Interesses geschlossen. Man will sich vereinen, um ein gemeinsames Ziel (leichter) zu erreichen; um Mittel und Chancen zur Macht zu addieren ... Einfaches (tatsächliches) Sich-Vertragen würde hierzu genügen; Gesetze haben die Verbündung dennoch zum Vertragsabschluß ritualisiert (Eheschließung; Gründung einer Handelsgesellschaft, eines Vereins ...). Eine sinnvolle Maßnahme im Hinblick auf künftige Konflikte: die Be-
IV. Schlußbemerkung zur Universalität des Vertrags
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ziehungen sind definiert, die Spur von der Definition zu den "einschlägigen" Gesetzen ist gesichert, womöglich ist der grundlegende Vertrag seinerseits Rechtsquelle, auf die es dann ankommen wird. (4) Nicht nur Lebensform ist der Vertrag; die Erkenntnistheorie hat ihn auch zu einem Werkzeug der Richtigkeit erklärt. Ein Gesetzestext ist immer ausgelegt, sogar auf das entschiedenste, unumstößlichste ausgelegt, wenn alle Beteiligten des hermeneutischen Vorgangs denselben Sinn daraus abgelesen haben. Der Konsens ist zureichender Grund seines Resultats.
Drittes Kapitel
Recht auf Unrecht hin (Strafrecht) Das Rechtsbedürfnis im Konflikt verlangt nach dem friedlichen Ausweg. Zur Rechtssuche anderer Art stößt Unrecht an: Ihr geht es nicht mehr darum, daß (vielleicht) ein Interesse auf Gegeninteressen traf, ein so begründeter Widerspruch nun zu lösen wäre. Um solche Auswege kann es nicht gehen; denn die Tat ist unabänderlich, nichts führt aus ihr heraus, sie ist abgeschlossen (im zweifachen Wortsinn: zu Ende geführt ebenso wie unerreichbar). Aber sie provoziert Erwiderung: Hinzunehmen sei dies nicht, den Täter habe das Recht zu treffen. Eine Forderung, die das Recht in Aporien (E!D ap6rois = in schlimmer Lage) bringt. An der ThemensteIlung gemessen, die der Fall Schlumpf und anschließend der KKW-Fall vorgezeichnet haben (1. Kap., "Skandale") - Konflikte, denen das Recht mit jeweils unterschiedlichem Aufwand und verschiedenen Instrumenten beizukommen sucht -: gemessen daran, ist Unrecht nun in einem Exkurs angesprochen. Doch es gilt, den Blickwinkel zu erweitern, unter dem im zivilrechtlichen Zusammenhang Unrecht und Sanktion erscheinen. Dort ist Unrecht ein Ausbruch aus dem rechtlich eröffneten Weg der Konfliktlösung; die Sanktion ist zunächst angedroht, ein übel auf dem Papier, um Gesetzestreue zu stimulieren; sie ist fällig, wo die illegale Lösung unternommen wurde. Unrecht stellt sich als etwas Beiläufiges dar, hat diese typische Gelegenheit; das Recht der Sanktionen (Strafrecht vor allem) erhält seine fest umrissene Funktion. (Seine Tauglichkeit, die Aufgabe zu erfüllen, ist ein Problem für sich.) Im folgenden wird demgegenüber selbständiges Unrecht beschäftigen. Die unrechte Tat ist (vielleicht) eine ebenso fundamentale Befindlichkeit wie das Sich-Vertragen und der Konflikt; und wie es sinnvoll ist, daß (viele) Konflikte nicht sich selbst überlassen sind, scheint zur Bewältigung von Unrecht abermals das Recht notwendig. Eine Bemerkung noch zur Problemfassung und zum hier gewählten Umgang mit dem Problem: Unrecht und rechtliche Erwiderung darauf ist das Grundmuster des Strafrechts. Es ist der Modus eines Rechts, das zu spät gekommen ist, offenbar gar nicht früher kommen konnte, und aus der schlimmen Situation dennoch "das Richtige" zu machen versucht. Seine Versuche indessen sind aller Skepsis wert, und allen Nachdenkens, ob das herkömmliche Verfahren wirklich schon letzter Schluß der Weisheit sei die übel, die aus dem Unrecht kommen, zu vermehren, "am besten noch mit einer Zugabe: auf einen Schelm werden anderthalbe ge-
I. In Aporien
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setzt"63. Hinter der Anstrengung, die notwendig wäre, wird das Nachdenken hier weit zurückbleiben. Gelingen sollte aber doch: einige Einsicht in die Nachtseite des Rechts und Beunruhigung darüber; außerdem einige argumentative Stärkung gegen Rückfälle in noch schlechtere Strafrechtszeiten. Rückfälle, für welche beispielsweise die Freunde der Todesstrafe werben.
I. In Aporien 1. Anstoß wozu?
Die Schauspielerin van B., 46 Jahre alt, dreimal geschieden, seit Jahren ohne Erfolg im Beruf, stark verschuldet. Ihr Geliebter, der Finanzmakler K., 12 Jahre jünger als sie, verheiratet, auch ihr untreu, droht seit einiger Zeit, sie zu verlassen. Noch leben beide, in gespanntem Verhältnis, in der gemieteten Villa zusammen. Am 2. Februar 1977 hatte Frau van B. den Abend lang vergebens auf die angekündigte Heimkehr des Freundes gewartet. Sie trank (Alkohol gehalt im Blut zur Tatzeit: 1,6 Promille). Gegen 1 Uhr nachts rief K. an und teilte mit, daß er sich in eine andere Frau verliebt habe, die Trennung unvermeidlich sei. Frau van B. holte den im Haus aufbewahrten Revolver, lud ihn, wartete auf den Mann, der sie verlassen wollte. Als K. wenig später nach Hause kam, tötete sie ihn durch zwei Schüsse. (Zur Anatomie der Tat und des Strafverfahrens, das als "Prozeß des Jahres" 1977 die schäbige Berühmtheit exhibierter "dolce vita" erlangte: K. Häusler in der Zeitschrift "Kriminalistik" 1978, S. 117 ff.) Das Unrechte des Falls, "die Tat", hängt zwar mit einem Konflikt zusammen. Die Täterin "löst" einen Gegensatz der Begehren, den sie nicht mehr anders zu bewältigen vermag, mit Hilfe des Revolvers. (Eine katastrophe: die zerstörerische Wendung im letzten Akt des Dramas.) Rechtsfragen aber knüpfen sich gerade und nur an dieses Ende. Recht, das aus dem vorgängigen Konflikt einen friedlichen Ausweg gewiesen hätte, fehlt sogar. In schwieriger Lage hat das Recht Menschen im Stich gelassen, abgesehen von so allgemeiner wie (im Fall) hilfloser Weisung, sie dürften nicht töten. (Ein Satz, der nicht vollstreckbar ist. Und kann das Recht ihm überhaupt Geltung verschaffen, das heißt die Beachtung verbürgen?) Wie allerdings sollten Gesetze in den "intimen" Konflikt Zutritt bekommen, was sollten sie vorschreiben, wie wäre die Verwirklichung anzulegen? Es gibt rechtsfreie Räume, in denen Menschen ihre Probleme anhand anderer Maximen, aus anderer existentieller Substanz lösen müssen. Versagen sie auf schlimme Weise, dann erst scheint Recht nötig. Jedenfalls weiß es dann zuzugreifen: Das Schwurgericht in München verurteilte Frau van B. wegen Totschlags zu sieben 83 Ernst Bloch, Naturrecht und menschliche Würde (Gesamtausgabe Bd. 6), S.277.
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3. Kap.: Recht auf Unrecht hin (Strafrecht)
Jahren Gefängnis. Der rechtliche Sinn und Zweck solcher späten, verspäteten Aktion freilich ... ? 2. Vernünftige Antworten?
Ein Angestellter, Familienvater in den mittleren Jahren, findet am Montagmorgen in der Geschäftspost seine Kündigung. Er verläßt sein Büro, kauft ein Gewehr, kehrt zurück und erschießt seine fünf Vorgesetzten. "Sie waren Maschinen, sie mußten ausgeschaltet werden." Er diktiert seiner Sekretärin ein kurzes Geständnis und läßt sich verhaften. - So die Exposition in Hans Noevers Film "Der Preis fürs überleben" (1980). Es sind gespenstige Einstellungen: Der Täter geht ruhig von Zimmer zu Zimmer, kein rasender Amokläufer, wenn auch zwanghaft festgelegt auf sein Ziel, ohne andere Wahrnehmung; mit einer jeden Widerstand lähmenden Selbstverständlichkeit ... (1) Daß die Spannung eines Konflikts zusammenbrach zur Tat, läßt sich hier kaum annehmen. Die Schüsse des Angestellten sind nicht in gleicher Weise "konsequent" wie die Schüsse der Frau van B. Zwar gab ein arbeitsrechtlich faßbarer Konflikt den Anlaß; die Tat jedoch ist nicht in diesem Konflikt angelegt, vorbereitet. Noch weniger ist sie bloße "Entgleisung" aus einer rechtlichen Bahn, auf die der Täter zurückgeführt werden könnte. Ein Kündigungsschutzprozeß, er mochte zuerst noch so aussichtsreich sein, ist durch die Tat obsolet geworden. Auf den vorherigen Konflikt gesehen, bleibt für das Recht, hier wie im Fall van B., nichts mehr zu tun. Anders beim Blick auf die Zukunft. Das geltende Zivilrecht lehrt, die Tat als neuen Konfliktgrund zu begreifen: es regelt Ersatzansprüche Hinterbliebener. Vor allem rückt es den Täter in die Unterhaltspflicht des Opfers ein. Er schuldet allen Personen eine Rente, denen der GetÖtete während seiner mutmaßlichen Lebensdauer Unterhalt hätte zahlen müssen (§ 844 BGB). Doch die Pflicht zum Schadenersatz ist nur eine rechtliche Spur, die von der Tat wegführt - und, die Einsicht entsteht leicht, eine nicht zulängliche Antwort. Wie soll eine vermögenslose Frau, im Gefängnis mit der dort üblichen, geringwertigen Arbeit beschäftigt und selbst dafür noch unangemessen "entlohnt", Unterhalt für Witwe und Kinder des einstigen Geliebten aufbringen? Wie soll der fünffache Totschläger oder Mörder in Zukunft neben der eigenen Familie fünf weitere ernähren? Das Recht gerät hier so zufällig wie in vielen Haftungsangelegenheiten: der zufällig reiche (versicherte) Schädiger zahlt. Die Zahlungsfähigkeit eines Schuldners gehöre eben zum "allgemeinen Lebensrisiko" jedermanns! Eine unfreundliche Maxime gegenüber den Opfern und zugleich eine Ideologisierung des Haftungsrechts: dessen gesetzlich vorgespiegelte Allgemeinheit erweist sich als leeres Versprechen, als schöner Schein. Zu ihrem Recht kommen die Opfer eines Armen - und zur Wirklichkeit wird das Rechte erst -, wenn staatliche Fürsorge einspringt.
1. In Aporien
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Die zweite rechtliche Spur von der Tat aus - und offenbar die wesentliche, denn ihr dient ein respektabler Ausschnitt des Staatsapparats - hat das Strafrecht gelegt. Ein neuer Konflikt auf die Tat hin könnte auch für das Strafrecht der Anknüpfungspunkt sein: Das Interesse des Täters an Folgenlosigkeit der Tat sei mit - wessen? - Verlangen nach Erwiderung, Rache, Sühne konfrontiert. Wiederum hielte das Recht die Auflösung des Widerspruchs bereit (so abstrakt und ungeschlossen, wie Gesetzestexte nun einmal sind). Die ..Wesens"frage des Strafrechts ist aber so schnell und einfach nicht zu beantworten. Denn warum soll Rechtssuche gerade damit enden (warum löst es den Konflikt auf die Tat hin am besten), daß ein(e) Totschläger(in) ins Gefängnis gesperrt wird? Oder man denke an den Ort der Handlung in Noevers Film, eine US-amerikanische Mittelstadt: daß der Täter auf einem Elektrischen Stuhl, in einer Gaskammer, durch eine Zyankali-Injektion (so in EHis, Texas) ... umgebracht wird? Daß überhaupt Recht im Gefolge der Tat notwendig sei, scheint unbezweifelbar. Dabei würde Haftungsrecht ersichtlich nicht genügen; denn es würde die Tat käuflich machen, wenn es allein bliebe, und der zur Haftung Unvermögende ginge sogar schadlos aus. Aber was ist an Recht notwendig, richtig? (2) Hilflos steht das (Straf-)Recht vor der Tat, der brutalen Tat-Sache, die sich nicht "auflösen" (ungeschehen machen) läßt. Und es wehrt durch sein grobes Raster die subtile "eigentliche" (existentielle) Dimension des schlimmen Geschehens ab: auf wieviele unterschiedlichste Taten setzt es dieselben x Jahre Einsperrung ins selbe Gefängnis. Die mörderische Aktion des gekündigten Angestellten ist - vermutlich ein Akt der Befreiung, oder deutlicher: der Selbstrettung. Ein Mensch, verkümmert oder ruiniert zum middle-class-businessman, ein belangloses Rädchen in einer Verwaltungsapparatur, über seine Lebenslage allenfalls hinweggetäuscht durch Gewöhnung und den Talmi einiger Statussymbole: er erkennt seine Verstümmelung in dem Augenblick, als eine bürokratische Maßnahme - die Entlassung, ausgespuckt von einem Rationalisierungscomputer in der fernen Konzernzentrale - ihm auch noch die synthetische Büroexistenz entzieht. In diesem lichten Augenblick jenseits allen (bürgerlichen) Verstandes strömt vielerlei zusammen: Rache für die beiden Enteignungen; eine Rachsucht freilich, die Unschuldige trifft, ihrerseits hilflose, mitläuferische Repräsentanten jenes way of life, gegen den der Schlag sich richten will. Dann der Versuch, wieder "wesentlich" zu werden, den Verlust an Lebenssinn zu kompensieren; damit verknüpft die kühle überlegung, daß es unter obwaltenden Umständen nur einen einzigen Weg zum Ich, nur ein Verfahren radikaler Selbstgewinnung gebe: den Gang aus der Gesellschaft hinaus. Diesen Weg geht der Täter mit erbarmungsloser Entschlossenheit, und er baut jeder Umkehr vor ... Ein Mensch überlebt seine jäh eingetretene, große Krise, findet zu sich in kompromißlosester Weise; aber den "Preis fürs überleben" läßt er andere zahlen. Diese Abwälzung will, kann das Recht ihm nicht durchgehen lassenl 13 Gast
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3. Kap.: Recht auf Unrecht hin (Strafrecht)
Die rechtliche Erwiderung indessen hebt banal - dem Ereignis ganz unangemessen? - an: als Gezänk zwischen Staatsanwalt, Gerichtspsychiatern, Verteidigern und Prozeßkommentatoren um die Zurechnungsfähigkeit des Täters. "War dieser Mensch zur Tatzeit verrockt oder nicht?" Und der Ausgang, mag er in die Heilanstalt, in die Gefängniszelle oder in einen Hinrichtungsapparat führen: kann man über ihn sagen, daß so die Tat in irgendeinem Sinn "eingeholt" werde? Doch womöglich ist diese Frage falsch, enthält sie unzulässige "Existenzphilosophie". Das Strafrecht habe nüchtern ("zweckrational") bestimmbare Aufgaben zu erfüllen; dazu müsse es nicht bis zu den Grundlagen des Lebens vordringen. - Replik: Eine die Existenz gestaltende (oder vernichtende) Strafe aber dringt blind, ihrerseits ein factum brutum, so weit vor! (3) Sicherlich brauchen die Menschen Belehrung darüber, welche Handlungen sie um ihres Zusammenlebens willen unterlassen sollen. Konflikte, zu denen kein Gesetz regelnd beispringt, sollen dennoch nicht mit Waffengewalt gelöst werden, wie verzweiflungsvoll die Situation auch geworden sein mag. Ein Mensch, dem andere hart zusetzen - dem sie durch fristlose Kündigung die (ökonomische) Existenzgrundlage entziehen - , soll dennoch nicht zum spontanen und maßlosen Gegenschlag ausholen: Er möge sich mit den bescheideneren rechtlichen Mitteln (soweit vorhanden) begnügen. Belehrung also geht dem Strafrecht immer voraus oder ist sogar sein eigener erster Teil, beispielsweise in Gestalt von Verboten: Vieles dürfe ein Mensch tun, nur eben nicht dies! Verbote allerdings stehen zunächst nur auf dem Papier (wie die Gesetze oder der Richterspruch im zivilrechtlichen Konflikt; dort aber kann eine Partei die andere auf den Rechtsweg zitieren, indem sie bei Gericht klagt, und den papierenen Richterspruch setzt der Zwangsvollstrecker in Wirklichkeit um). Realisierbar wie konfliktlösendes Zivilrecht sind strafrechtliche Sätze (Verbote) nicht. Sie werden ohne weiteres befolgt - oder die verbotene Tat ist begangen, das Verbot wirkungslos geblieben. Weil aber nicht bloß Ermahnung bezweckt war, ein Vorschlag, den man nach Belieben befolgt oder nicht: deswegen wurde, so könnte man meinen, das Verbot mit Sanktionen gegen den Ungehorsamen verknüpft. Die Strafe sei notwendig, um einer Lebensregel Geltung zu verschaffen. Verbote in Verbindung mit (drohender) Ahndung des Verstoßes: die so komplettierten Strafgesetze erscheinen als Mittel, das bellum omnium zu verhindern, in welches die rechtlos belassene Menschheit geriete (Hobbes). Ein zweiter Beitrag der Rechtsordnung neben den Konflikte auffangenden Gesetzen, für ein und dasselbe Ziel. - Jede begangene Tat freilich blamiert das Strafgesetz. Die Belehrung blieb trotz der Drohung erfolglos. Vom Versagen des Strafrechts im Tatfall lenkt der Strafrechtler ab, indem er auf unterlassene Taten ... hinweist (?). Man bedenke, was noch geschähe, wenn es das Strafrecht nicht gäbe. Woher jedoch weiß
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In Aporien
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man um den Verhütungserfolg der Strafe? In normaler Lebenslage einen Menschen zu befragen, ob er sich durch Strafrecht abschrecken lasse, ohne die Aussicht auf Strafe leichter zum Totschläger werden könnte - was besagt schon die Antwort hierauf für die "unnormale" Situation, in der es zur Tat kommt. Trotzdem: Daß Strafrecht gerade durch die Strafe seinen Weisungen Respekt verschaffe, gehört zu den Grundüberzeugungen heutiger Straftheorie. Gesteht man diesen Grundkonsens zu, unterstellt man ihn sogar als richtig, dann aber fällt schon eine andere Frage an: Was hat der eine, bestimmte Täter, der nun bestraft wird, damit zu tun, daß der Rest der Gesellschaft von gleichen Taten abgehalten werden soll? Seriöse Vorbeugung sähe anders aus. Die griffbereite Schußwaffe, die einfach zu erwerben war, bringt höchste Gefahr in pathologische Lebensverhältnisse; die Tat geht ungleich leichter von der Hand, als wenn ein(e) Täter(in) sich auf die eigenen Körperkräfte verlassen oder zum Brotmesser greifen "müßte". Entwaffnung der Gesellschaft, Abzug des leicht handhabbaren Mordgeräts wäre die angemessene Fürsorge. Gewiß, Versuchung ist begleitet von größerer Freiheit (an welche die Waffenhändler zu erinnern pflegen, wenn ihnen Geschäftsschädigung ins Haus steht). Doch was nützt eine "Freiheit", bei der man von zwei Möglichkeiten ("to kill or not to kill, that's the question" , hamletisch-abstrus) die eine ohnehin nicht wählen darf. (4) Schnell kommen Zweifel auf, die vom Strafrecht wegzuführen scheinen. Aber tangieren sie denn die Grundüberzeugung: Strafrecht sei unverzichtbar, weil so radikales Unrecht wie die Tötung eines Menschen nicht folgenlos (oder käuflich) sein darf!? Das Tötungsverbot und auch andere Weisungen aus dem strafrechtlich erfaßten Verhaltenscodex (vielleicht nicht alle, doch darüber läßt sich reden): sie "verdienen" ein Recht, das ihnen Achtung verschafft und den Verächter bekämpft. Recht, das dem Zufall und der Willkür entzieht, ob und wie dem Unrecht zu entgegnen ist ... Solche Sätze sind Postulate; Gedanken vom gewünschten Erfolg aus. Postulieren ist schon beim Ergebnis angelangt, ihm fehlt nur noch der Weg dorthin. Was hier bedeutet: Noch fehlt die recht-fertigende Brücke zwischen der Tat, diesem Anreger eines so diffusen wie dringlichen Rechtsbedürfnisses, und der zweiten Tatsache, daß ein(e) Täter(in) ins Gefängnis gesperrt (in anderen Weltgegenden: hingerichtet) wird. "Gefunden" ist zunächst nur das perfekteste Vorurteil: der eigene Schatten, über den man nicht zu springen vermag. Wie man zum Schatten kommt, ist noch nicht erklärt; und wozu er nötig wäre ... aber die letzte Frage ist offenbar von Grund auf sinnlos. Andererseits, zu dieser Metapher gehört auch, daß Licht den Schatten zum Verschwinden brächte. 13·
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3. Kap.: Recht auf Unrecht hin (Strafrecht) 3. Heißes Recht?
Zwei entlassene Häftlinge dringen in ein Bauernhaus ein, bringen die Bewohner, eine vierköpfige Familie, in ihre Gewalt, töten sie in Anfällen höchster Grausamkeit. Exzesse, die dennoch "in cold blood" begangen wurden; und die Täter, nach wenigen Wochen gefaßt, vermochten ungerührt die Einzelheiten zu berichten. Ohne Scham, Trauer, Bestürzung, sogar ohne Erstaunen über sich selbst ... Truman Capote hat die Tat, wie sie sich in Holcomb, Westkansas, abspielte, beschrieben und zu erklären versucht. "Kaltblütig. Wahrheitsgemäßer Bericht über einen mehrfachen Mord und seine Folgen"; dt. Ausgabe 1966. Der Bericht darf nicht zur Annahme verführen, er handle von etwas Einmaligem. (1) Der Chronist fahndete nach den Gründen der Tat. Auf 6000 Seiten Notizen hielt er fest, was mit Akribie zusammenzutragen war: Lebensund Charakterbeschreibungen der Täter und der Opfer; Szenerie; "Atmosphärisches". Ein Gegenstand, der gleiche Aufmerksamkeit verdienen würde, ist das Rechtsbedürfnis, das auf solche Verbrechen hin zum Ausdruck oder Ausbruch kommt. Gefühle, Affekte sind geweckt worden: Trauer, Abscheu, Entsetzen, Angst; und der Chronist könnte zeigen, wie Menschen ihre Gefühlslagen aufarbeiten. (Er könnte mehr zeigen als nur Fahndungsgeschichte, die Capote ausbreitet.) Eine Aufarbeitung, zu welcher das Strafrecht beiträgt - womöglich ist sie sein Sinn und Zweck. Das Strafrecht habe jenes Chaos des Leidens und der Leidenschaften einzufangen, das die Tat hinterließ. So würden die Affekte gebändigt, geordnet - sie wären nun dem Recht aufgeladen. Ohnehin muß es die eigene Blamage wieder gutmachen. Schließlich hatte das Strafgesetz in seiner Drohgebärde zugleich ein vom Unrecht freies Leben versprochen. Das Vertrauen hierauf sieht sich enttäuscht, zwei Rechtserwartungen können aus der Enttäuschung hervorgehen. Zum einen das Verlangen nach stärkerer Drohung: Wie die Tat beweise, sei das Strafrecht noch nicht abschreckend, also nicht schrecklich genug. (Wenn aber das Gesetz schon an die Grenze des Androhbaren gestoßen war; an die Grenze solcher "pädagogischen" Einfälle?) Zum anderen ist das angedrohte Übel nun konsequenterweise fällig. Eine Vergeltung für den Täter, der die Enttäuschung bereitete, den Frieden störte, gesetzliche Bilder vom sicheren Leben Lügen strafte. Im oft wiederkehrenden Ruf nach dem Henker äußert sich spontan und radikal, was sich selbst für fälliges "Recht" hält; und die höchst aggressive Erwartung zeigt besondere Erschütterungen an. Ein Bedürfnis wird offenbar, das erschrecken mag, aber schwer wiegt: also muß etwas geschehen. Und wissen die Bedürftigen nicht am besten selbst, was ihnen fehlt, vermögen nicht gerade sie anzugeben, was befriedigen, beruhigen würde? Rechtssuche bräuchte nur die Vorschläge zu sammeln, das Recht müßte einen davon in die Tat umsetzen ("logischerweise" den krassesten, weil er alle milderen Maßnahmen einschließt?). Para-
I. In Aporien
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dox scheint jeder Widerstand hiergegen: eine Begünstigung des Täters, die nur das unbefriedigte Bedürfnis weiter anreizt, Unruhe mehrt, dem Rechtszweck Frieden zuwiderläuft. Die Mörder von Holcomb wurden viereinhalb Jahre nach der Festnahme hingerichtet: womit das Rechtsbedürfnis auf das Vollkommenste befriedigt war!? (2) Das Problem - die richtige Antwort auf Unrecht - scheint sich überraschend einfach zu lösen. Als Weg des Rechts könnte genügen: zu ermitteln, welcher Gegenschlag in der Gesellschaft gefordert wird, das Geforderte zu verrichten, die erregten Gemüter auf diese Weise zu beruhigen. Oder objektiviert gesehen, als ein Zusammenhang von Zuständen: Unruhe wird konstatiert, das zur Wiederberuhigung erforderliche Mittel festgestellt, dann angewendet. Ein Verfahren, das sich auch auf den Nenner des Gesetzes bringen läßt: Erkundung von Fall zu Fall sei nicht nötig, das Gesetz sehe für bestimmte Taten bestimmte Rechtsfolgen vor. "Die Gesellschaft" meldet bei ihrer Legislative Rechtserwartungen an - man wird ihr die Befugnis hierzu nicht absprechen dürfen, denn das Unrecht hat (viele) Mitbürger erregt, sie leiden mit, sehen in den Getöteten sich selbst (die Mensch-heit) getroffen oder durch die Täter sich selbst bedroht ... Die Gesellschaft also, durch Betroffenheit ("Verunsicherung") legitimiert, weiß und sagt, was ihr wieder "Sicherheit" zu geben verspricht. Die Anmeldungen müssen nur auf den Weg demokratischer Legalisierung gebracht werden. Zugleich ist die Gesetzgebung das rechte Verfahren, Unterschiede in den Rechtserwartungen auszugleichen, eine kompromißfähige Erwartung zu finden oder (mangels anderer Kriterien für Richtigkeit) die Erwartung der meisten zu verrechtlichen. Beunruhigung der Gesellschaft ist selten eine unmittelbare Folge der Tat, sie wird erst durch Berichterstattung hervorgerufen. Ohne die oft reißerische Publikation des Unrechts - ohne solches "Geschäft mit dem Unrecht"64 - hielte die Unruhe sich in Grenzen. Nur Angehörige der Opfer, Nachbarn und Zeugen würden typischerweise ihr Rechtsbedürfnis entwickeln, ihre Rechtserwartungen geltend machen. Doch ob nun zwei oder 2 Millionen Menschen den Kopf des Täters fordern: für ein Recht der "Trauerarbeit" (oder Gefühlsbändigung) wäre nicht wesentlich, wieviele Erschütterte es aufnehmen muß. Käme es auf die Zahl an, so wäre Beunruhigung der Massen ein skandalon für sich, und gegen ihre Verursacher, die Publizisten, wäre ebenfalls Recht fällig. 4. Noch mehr Fragen
(1) Entführung. Das erpreßte Lösegeld wird entrichtet, das Entführungsopfer tot aufgefunden. 84 Hans Joachim Schneider, Das Geschäft mit dem Verbrechen. Massenmedien und Kriminalität, 1980.
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3. Kap.: Recht auf Unrecht hin (Strafrecht)
Eine Tat, die den Affekt gegen die Täter besonders anzuschüren vermag. Ist freilich ein Affekt dadurch "wahrer", rechtlicher, daß er überaus heftig anfällt und hartnäckigst insistiert? Gegen ihn anzudenken, kann schwierig werden. Dennoch: Warum sollte er nicht der zweite Skandal sein, nächstes Anstößiges im Gefolge der Tat; und das Recht müßte sich gegen ihn genauso richten wie gegen das auslösende Unrecht?! Scheinbar ist Unmögliches gefordert. Denn Recht könne nie "besser" sein als die Menschen, die nach ihm verlangen, es entwerfen. Doch sobald eine Skala der Rechtserwartungen denkbar ist, kann darin auch ein Gefälle liegen. Dem Gefälle braucht die Rechtssuche nicht so nachzugeben, daß sie bei der Erwartung mit niedrigstem Niveau endet. (Das schlimmste übel schließt eben nicht auch die geringeren befriedigend ein, die logische Implikation ist keine psychologische oder moralische.) Rechtssuche muß das Paradox jedenfalls wagen: gegen Unrecht und gegen Rechtserwartungen in einem Zug anzugehen und das zu aggressive Rechtsbedürfnis, das sich enttäuscht sieht, dennoch so friedlich zu halten, daß es nicht seinerseits aus dem (Straf-)Rechtssystem heraustritt. Der Ausfall geschähe unmittelbar in einem Akt von Lynch"justiz". Bändigen und belehren in einem - bändigen durch Belehrung - müßte das Recht die allzu wilden Rechtsbedürfnisse. Dafür braucht es seinerseits Kriterien, auf die es sich stützen kann; Gründe, die es als "bessere" Lösung auszeichnen und mit ihrer Rationalität Protest erledigen, zumindest ihn stillegen. Aber wenn "die Mehrheit" Todesstrafe fordert: welche "Vernünftigkeit" ließe sich noch dagegen setzen? - Der Kurzschluß, Mehrheit sei von sich aus das Kriterium für Richtigkeit, also eo ipso vernünftig, darf nicht unterlaufen. In der Mehrheit zu sein, ersetzt das überdenken nicht, bedeutet vielmehr erhöhte Richtigkeitschance dank Mehrung des Nachdenkens bei einer Vielzahl Nachdenklicher. Wenn allerdings die implizite Vernünftigkeit des Mehrheitsprinzips nicht funktioniert? Der bisweilen locker sitzende Gedanke an "höhere" Vernunft, die es gegen Mehrheiten durchzusetzen gelte, sollte hier so wenig wie bei anderen Rechtsfragen (KKW-Konflikt) ins Spiel kommen. Er mündet in Herrschaftsanspruche selbsternannter "Vernünftigster", denen die Mitteilung und Multiplizierung ihrer "Erkenntnisse" nicht gelungen war. Versager im Dienst der Vernunft haben den Preis der Dummheit mitzuzahlen; mindestens also den, daß vom Volk tödliche Staatsgewalt ausgeht. Er sei ihnen ein Stachell (2) Science fiction (noch?): Menschen verschwinden, bleiben verschollen. Die Ursache: Eine Organisation versorgt auf diese Weise eine von ihr betriebene Klinik mit Organ"spenden" zur Transplantation auf reiche Patienten. (Es mag richtig sein, daß technischer, hier: medizinischer Fortschritt "an sich" ein Neutrum ist, weder gut noch böse. Jedenfalls aber vermehrt er die Möglichkeiten des Menschen, mörderisch zu handeln.)
Endlich ein Fall, der die praktische Erheblichkeit des auf Unrecht
reagierenden Rechts kurzerhand belegt. Die Polizei greift ein, beendet
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die tödliche Veranstaltung. Aber man täusche sich nicht: das kriminelle Unternehmen zu schließen, ist eine Seite. Die strafrechtliche Frage folgt erst: Was ist den Tätern von (Straf-)Rechts wegen zu erwidern? ll. Recherche du temps perdu
Daß die Menschen nichts vom Recht wüßten, wenn kein Unrecht geschähe: dies hat Heraklit gelehrt (Fragment 23). Die Sentenz folgt seinem allgemeineren Denkmuster, wonach Verlust der "Harmonie" die Menschen umtreibe, Rückkehr zu harmonischen (geordneten, befriedeten) Verhältnissen das höchste Ziel sei; ein Ziel, dem vor allem das Recht diene (oben 1. Kap. I (2)). Eine Theorie des Rechts überhaupt ist in Heraklits Fragmenten entworfen und bietet sich nun zur besonderen Anwendung auf das Strafrecht an. Ihr Kennzeichen ist der zweifache (dialektische) Gebrauch des Grundbegriffs "Harmonie". Harmonie bestand in einer Ausgangslage, die jedoch gestört, zerstört worden ist, und sie wird sich einstellen am Ende eines Prozesses. Dazwischen klafft ein zu überwindender Abgrund: die Störung. Immerhin ist sie Anstoß, in beide Richtungen nach den harmonischen Verhältnissen zu fragen, wenn auch die Zukunft, das Fällige, dringlicher zu suchen sein dürfte. Die Störung, dieses produktive Moment, eröffnet einen Weg dahin, heißt ihn vielmehr erst noch zu entdecken, macht ihn aber notwendig. Eines nur darf man gar nicht erst hoffen: alles so anzutreffen, wie es war. "Es ist unmöglich, zweimal im seI ben Fluß zu baden" (Fragment 91).
Unrecht also bringt dazu, Recht zu entdecken, und des Rechtes Frucht wird "Harmonie" sein. Nur: Was soll man darunter verstehen? 1. Wiedergewinnung des Friedens
Heraklits Lehre sei hilfreich und aktuell, wenn man sie unvoreingenommen wörtlich nehme (aber gibt es das?). Harmonie, rechtlich hergestellt, bedeute: den "inneren Frieden" der Gesellschaft. Ihn störe ... die Tat?; die (öffentliche) Unruhe, die ein Unrecht provozierte. Die Unruhe ihrerseits gebe das negative (zu negierende) "Maß": Recht sei, was die Gemüter wieder beruhigt. - Der Weg, den der Ho1comb-Fall nahelegte (oben I 3: "Heißes Recht"), ein nächster Gedanke wieder in Frage stellte: ihn scheint nun doch die Logik des Rechts selbst zu fordern. Und dies sei kein Rückzug auf das "gesunde Volksempfinden", jene vermeintliche Rechtsquelle, die sich gründlich diskreditierte durch ihr Sprachrohr, Roland Freislers "Volks gerichtshof" . Im Gegenteil: Der allgemeinste Rechtszweck (Befriedung der Gesellschaft), den Heraklit in einer Formel darzustellen vermochte, hebe Volkes Stimmung auf einen objektiven Rang; und zwar ablösbar vom demokratischen Muster!
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3. Kap.: Recht auf Unrecht hin (Strafrecht)
Strafrecht sei, was das Volk beruhige, egal wer die Anpassung der Strafgesetze an ihr Ziel besorge. Die einfache Maßgabe setzt einfache Verhältnisse voraus. Nur der Gleichklang der erschreckten Gemüter (ihre ursprüngliche Harmonie) läßt die Lösung problemlos finden und schließt, wie schrecklich sie geraten mag, Protest und Widerstand gegen sie, überhaupt jedes weitere Nachdenken über sie aus. Jeder Widerstreit der Gefühle hingegen erzeugt einen Konflikt um das fällige Recht; er spätestens zwingt, nach der Richtigkeit zu fragen. Gesteht man Affekte auf die Tat hin zu wie folgerichtig verhalten sich die geäußerten Rechtserwartungen? "Stimmig", nämlich zu ihrem Anstoß konsequent muß jede Rechtserwartung ausfallen, soll sie überhaupt diskutabel sein. Angesichts des spontanen Widerspruchs ist erst ein reflektiertes Rechtsbedürfnis rechtsfähig. Einige der denkbaren, vermutbaren Zusammenhänge seien hier angesprochen. Es geht weder um psychologische Erkenntnis, noch um Alltagstheorien, die ihr eilfertig vorgreifen würden, nur um ein fundamentales Stückchen Logik, die sich von keinem Schrecken und keiner Wut verdrängen lassen sollte - Recht und Wut wären sonst dasselbe. Die Emotionen zu Holcomb sind wohl besonders geeignete Prüfsteine für das Dagegen-Denken. (1) Die Tat weckt Abscheu. Das heißt: sie ver-scheucht den, der von ihr vernimmt. Der so Betroffene scheut den Tatort, das Tatbild und. vor allem, die Täter. Es sei nicht zumutbar, die Täter zu Mitbürgern zu haben. "Man" (die Gesellschaft) will sich von ihnen trennen: aber wie? Die entschiedenste, unaufhebbare Trennung ist die Tötung. Doch sie fällt exzessiv, übermäßig aus; sie schafft Menschen aus der Welt, die "nur" aus der Gesellschaft zu schaffen wären. Dem Rechtsbedürfnis, das aus Abscheu erwächst, müßte die Gefängnismauer zwischen Tätern und Gesellschaft genügen. Sind ihm die Berührungspunkte noch immer zu zahlreich, so wäre auch perfekte Trennung organisierbar: gesellschaftslose Inseln hat die Erde noch genug. Die Aussetzung der Täter würde bedeuten, daß jede Seite, Gesellschaft und Verabscheute, dem eigenen Schicksal überlassen bleibt. Einem Schicksal zudem, das nicht jede Wiederbegegnung ausschließt, wenn sie späterhin erwünscht sein sollte. Der tödliche Schlußstrich hingegen verwehrt Reue und Läuterung ebenso wie Verzeihung - sittliche Kategorien, deren Gewinnung im Lauf der menschlichen Geschichte als Fortschritt galt und gilt. Vom Versuch, Justizirrtümer wieder gutzumachen, ganz zu schweigen. (2) Die Tat weckt Angst. Angst vor den Tätern ist um so berechtigter, je eher Wiederholung der Tat droht. Die Prognose ist unsicher, doch gibt es empirische Wahrscheinlichkeiten; Risiken mit Tätern gehen
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daher auch Gesellschaften ein, in denen Todesstrafe praktiziert wird. (Ein Gattenmord aus Eifersucht wird anders eingeschätzt, kann unter dem Vorsorge-Aspekt milder behandelt werden als die Verbrechen des räuberischen Mehrfachtäters.) Bei begründeter Angst genügt es, den Mörder zu scheuen . .. Angst vor der Tat ist auch Angst vor dem Nachahmer; vor einem Unbekannten, dem niemand ansieht, was er bald tun wird. Vor Nachahmung habe das Recht zu warnen, den Epigonen des Schrecklichen müsse es abschrecken! Den vollkommen sichernden Schrecken haben die Menschen, bei allem Einfallsreichtum in dieser Hinsicht, bisher aber noch nicht erfunden. Und ein Mensch, den "Kaltblütig" fasziniert, den die Tat selbst nicht etwa abschreckt, sondern zum Nachvollzug begeistert: nach welcher Logik sollte ihn das Schicksal der Mörder von Holcomb abschrecken? Sie seien zu dumm gewesen für das perfekte Verbrechen, hätten Spuren hinterlassen ... Oder man denke an den Fall van B.: Verzweiflung, die Stimmung des "Jetzt ist alles gleichgültig" läßt sich (vielleicht) durch die Strafdrohung nicht schrecken, findet eher noch Bestätigung im Drang zum Ende. (Der Abschreckungsgedanke ist ein reichlich spekulatives Stück aus dem Konglomerat der Strafzwecklehren.) (3) Die Tat entsetzt. Sie bringt Menschen, die von ihr hören, außer Fassung. Der Fassungslose nennt in seiner Rechtserwartung, was ihm Halt zurückgäbe, ihn wieder in Fassung brächte. Nennt er die Todesstrafe, dann allerdings müßte er nach der Tatbeschreibung auch Beschreibungen von Hinrichtungen lesen: zur Überprüfung, ob ihm ein solches Ereignis tatsächlich die entzogene ideelle Lebensplattform wieder errichtet. Und wer die Angelegenheit "ganz abstrakt sehen" möchte, bedenke: Nachdem ein Mord ihn erschüttert hat, soll eine zweite Tötung das Gegenteil erreichen und ihn wieder festigen.
Das Entsetzliche kann auch in der Erfahrung liegen, ohnmächtig zu sein gegen das Böse, das in der Tat triumphierte. Der Staatsapparat, der den Täter jagt, ergreift, bestraft: er könnte das Gefühl der Stärke wiederherstellen. Ein Gefühl, das gleichwohl auf seltsame Art substanzlos und unbegründet bliebe: das nächste Verbrechen wird es wieder umwerfen. Ein Teufelskreis also ... (4) Die Tat erzeugt Haß. An einem Ort wie der Mordfarm von Holcomb entsteht prompt neu, was sich dort soeben in der Tat ausgelebt hatte. (Noch ein Teufelskreis.) Denn in Holcomb geschah kein Raubmord. Die Tat ging weder auf einen Raubplan zurück, noch war sie ein "Unfall", weil einem geplanten Raubzug unerwartet Hindernisse entgegengetreten wären. Haß feierte "in cold blood" eine Orgie. Krasses Außenseitertum, seiner selbst längst bewußt, zuletzt durch die Haft
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3. Kap.: Recht auf Unrecht hin (Strafrecht)
bestätigt: es genoß sich nun. Vorzuführen, was man gelernt hatte, wozu man gemacht worden war, und sich zugleich für diese Lehre und Prägung zu rächen, dafür war die Gelegenheit günstig. Ein momento deI verdad, Augenblick der Wahrheit. Wenn nun jedoch gegen den Haß der Außenseiter der "bürgerliche" Haß tritt - wodurch sollte der zweite rechtlicher sein als der erste? Wieso soll der eine Haß Richter über den anderen sein? Richter zudem über einen Haß, der vermutlich "gesellschaftlich gemacht" ist. (Oder werden Menschen "ganz aus sich heraus", in wüster Autonomie zu Mördern, wie sie in "Kaltblütig" vorgeführt sind?) Wie so oft, sind Unschuldige die Opfer. Erklärungsversuche, in denen (fälschlich?; häufiger wohl zu Recht) die "Schuld" der Täter abgebaut, relativiert, auf "Umstände" abgeleitet wird, erscheinen als Zynismus gegen die Opfer. Den Gegenschlag um der Opfer willen zu fordern, scheint unabweislich. Ob freilich weniger Zynismus darin liegt, die Täter als autonome Erzeugnisse ihrer selbst zu feiern und, wie Hegel es nannte, sie per Exekution als vernünftige Wesen zu "ehren"? (5) Nicht nur Affekte, die Kompensation begehren, kann eine Tat wecken, sondern auch Leiden. Sie wird als Angriff auf die "menschliche Natur" empfunden, der Mit-leidende fühIt ein den Menschen Gemeinsames getroffen und aus diesem Zusammenhang auch sich selbst. Zweifach scheint das Menschliche geschändet: in den Opfern und in der Täterschaft. Eine "das Menschliche" 'wahrende Erwiderung gegen die Störer also ist gesucht. Wäre sein rechter Erfüllungsgehilfe der Henker? 2. Wiedergewinnung des Wirklichen
Heraklits Prinzip, als Beruhigungsrezept gelesen, führt nicht mit der erhofften Bündigkeit zu Ergebnissen. Doch womöglich war das Verständnis allzu einfach, hilft präziserer Umgang mit derdialektischen Grundform weiter. "Präziser" bedeutet auch: konkreter. Statt vage "Harmonie" ans rechtliche Ziel zu setzen, könnte es hilfreicher sein, bestimmte Tatsachen zu erwarten: exakt jene Wirklichkeit, die das Recht herzustellen habe. Weil nicht irgendetwas geschehen soll, kein willkürlich anmutender Versuch einer Tröstung oder Ablenkung, sondern Wieder-Herstellung, darum kann eigentlicher Maßstab nur das unrechtlich Zerstörte sein. Das Recht habe für faktische Restitution zu sorgen. (1) Es ist unmöglich, mit Hilfe des Rechts Tote ins Leben zurückzubringen. Unmöglich auch, einen Menschen zu ersetzen: der leibhaftige Substituent wäre doch ein anderer. Er wäre zweifach entfremdet, den eigenen vorherigen Lebensverhältnissen ebenso wie dem zu ersetzenden Leben ...
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Für archaisches Denken war solche restitutio naturalis weniger problematisch; jedenfalls machte es familienrechtlichen Gebrauch davon (vgl. 5 Mose 25, 5). Gefährlicher Konfliktstoff konnte sich für einen Menschen ergeben, der den Unterschied erkannte. So im Fall Onans (1 Mose 38, 6 - 10): "Juda gab seinem ersten Sohn, Ger, ein Weib, die hieß Thamar. Aber Ger war böse vor dem Herrn; darum tötete ihn der Herr. Da sprach Juda zu Onan: Gehe zu deines Bruders Weib und nimm sie zur Ehe, daß du deinem Bruder Samen erweckest. Aber da Onan wußte, daß der Same nicht sein eigen sein sollte, wenn er einging in seines Bruders Weib, ließ er's auf die Erde fallen ... Das gefiel dem Herrn übel, was er tat, und er tötete ihn auch." ... Nur Splitter von Restitution enthält der Geldersatz. Die Rente für Unterhaltsberechtigte ist zwar eine Leistung, die der Getötete zu seinen Lebzeiten erbracht hätte. Aber er war und wäre jetzt nicht bloß Geldquelle. Bekämen die Angehörigen Schmerzensgeld wegen ihres ideellen Verlusts (das geltende Recht sieht diesen Anspruch nicht vor), so wäre der Tote gar auf ein paar Dinge reduziert, die sich damit bezahlen lassen. In der Frühzeit des Rechts war man von solcher Ersetzbarkeit ausgegangen, der Täter gab Wergeld an die Sippe des Opfers - einen Gegenwert für verlorene Arbeitskraft. Das (fortgeschrittenere?) Recht des Alten Testaments verbot diese Lösung (4 Mose 35, 31): auf den ersten Blick eine Bekundung der Menschenwürde. Die statt dessen verfügte Todesstrafe allerdings ist weder an Verhältnissen vor der Tat zu messen, noch kommt ihr in irgendeinem Sinn "Würdigkeit" zu. Andererseits mutet Geldersatz dem Vergleich zwischen vorher und jetzt fast nur Abweichung zu, die Kongruenz fällt minimal aus. Der Fluß (aus Heraklits Metapher) wäre "umgekippt" oder ausgetrocknet. (2) Die faktische Wieder-Herstellung gelingt jedoch, wo Unrecht in der Welt der Dinge verblieb. Das Haus, das der Brandstifter anzündete, kann wieder aufgebaut werden; der Neubau ist nicht mehr dasselbe, doch immerhin ein gleiches Haus. Der Unterschied zwischen Selbem und Gleichem markiert den Zeitfluß zwischen der ersten, unrecht zerstörten und der zweiten, rechtlich zurückgewonnenen Wirklichkeit. Eine erträgliche Veränderung, da der Geschädigte neu für alt bekommt; und wenn man meint, die Zwischenzeit ohne benutzbares Haus, die Dauer des Unrechts sei im Neubau allein nicht ausgeglichen (durch erhöhte Bestandsdauer), so wird der Täter noch zulegen müssen: entgangene Nutzung ist problemloser in Geld übersetzbar als zerstörtes Leben. Die rechtliche Erwiderung auf die Tat besteht mithin darin, dem Täter alles zum Ersatz benötigte Geld abzufordern. Den nicht zahlungsfähigen Täter hätte das Recht "in die Pflicht zu nehmen". Was solcherart geschehen könnte: Der Staat entschädigt das Opfer kurzerhand und zwingt den Täter, den Betrag abzuarbeiten. Ein Leben in Zwangsarbeit könnte der Preis für die Tat sein ...
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Den vermögenden Brandstifter träfe das restituierende Recht weniger hart er bezahlt und ist frei. Die Ungleichheit der Tatfolgen ist ein eigenes Problem im Anschluß an den Restitutionsgedanken; Heraklits Formel wirft Fragen auf, ohne die Antworten mitzugeben. Entweder man akzeptiert, daß Verarmung des Reichen und Versklavung des Armen gleichwertige Ergebnisse seien, da es lediglich auf die Ersatzleistung ankomme. Oder die Ungleichheit der Schicksale, die auf dasselbe Unrecht folgen würden, scheint doch anstößig, eine Privilegierung (= ungerechtfertigte Bevorzugung) des Reicheren; dann müßte das Recht auf gleiche Taten hin ein einheitliches Schicksal vorschreiben. Die Ersatzarbeit des Ärmsten müßte zur Norm werden. So würde der Vorwurf vermieden, daß Freiheit für manche Täter käuflich sei. (Nur Wergeld bei Totschlag wäre noch übler: es macht sogar Leben, das Leben des Opfers, käuflich.) (3) Es gibt auch Fälle, in denen Restitution ohne ein Begleit- und Folgeproblem einlös bar ist. Wird ein Dieb auf frischer Tat angetroffen, verfolgt, gestellt, werden die Beutestücke ihm unbeschädigt abgenommen, dann erhält der Bestohlene seine seI ben Sachen zurück. Die kurze Besitzstörung kostet nichts, sie blieb zu unbedeutend, als daß Entschädigung zu errechnen wäre. (Und Ersatz für den Schrecken? Solche flüchtigen Momente am Rande erfaßt Restitution nicht.) Gleichgültig ist auch, wie reich oder arm der Täter ist; die Wegnahme versetzt ihn in seinen vorherigen Besitzstand zurück, beläßt ihn darin unberührt. Das Prinzip also läuft ideal ab - und gerade der "harmlose" Verlauf wirkt skandalös: Mehr verlange das Recht nicht, eine härtere Antwort sei das Unrecht ihm nicht wert? Diese Frage stellt sich nicht immanent, ihr geht es nicht um Vollkommenheit der Restitution. Dank zügigster Rückkehr zur Rechtslage scheint der Täter "allzu billig" davongekommen, die Tat bleibt folgenlos; und indem das Rechtsbedürfnis sich an ihr entzündet, ist das Prinzip Wieder-Herstellung verlassen. Denn sein Anstoßpunkt ist allein der unrechte Erfolg. Entsprechend zeigten sich die Unterschiede: prompte Rückgabe der gestohlenen Sache stellt einen Idealfall von Restitution dar, der getötete Mensch hingegen ist nur partiell, in seiner Rolle als Geldschuldner, zu ersetzen. Was aber soll aus der Verschiedenheit folgen? Daß Recht die Rückkehr in die gestörten, zerstörten Lebensverhältnisse leider nicht besser organisieren könne? (Vor Naturgesetzen muß jede Rechtsvorschrift resignieren, die Forderung nach "besserem" Recht wäre sinnlos.) Oder soll die Rechtssuche nach einem anderen Prinzip forschen, braucht die Erwiderung auf die Tat einen anderen, befriedigenderen Maßstab? Die geltende Rechtsordnung begnügt sich nicht mit Restitution. Der Straftäter schuldet sie zwar, er hat "den Zustand herzustellen, der bestehen würde, wenn der zum Ersatze
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verpflichtende Umstand nicht eingetreten wäre" (§ 249 BGB). Diese zivilrechtlich geregelte Haftung findet jedoch neben der strafrechtlichen statt, und beide stehen unverbunden nebeneinander. Ein Schädiger, der für seine Tat ins Gefängnis kommt, wird nicht etwa zur Realisierung des Schadenersatzes eingesperrt (Zwangsarbeit). Die Gefangenschaft ist deshalb auch nie durch das Ziel,Ersatz zu schaffen, zeitlich bemessen. 3. Wiedergewinnung des Rechts
Der Gedanke, Recht habe Wunden zu heilen, die das Unrecht schlug: er ist doch zu wesentlich, als daß er nach zwei gescheiterten Auslegungsversuchen schon preisgegeben werden dürfte. Wie könnte diese Rechtserwartung für das Strafrecht - jenen Teil der Rechtsordnung, der Unrecht aufarbeiten soll - keine Rolle spielen! Womöglich ist Heraklits dialektisches Muster nur anders auszulegen, damit seine Wahrheit zutage tritt: Weder des Bürgers Beruhigung noch die dingliche Erneuerung sei das Ziel, sondern die Wiedergewinnung verletzter Rechtssätze. Eine Norm sei Wirklichkeit gewesen, der Täter habe sie entkräftet, das fällige Recht müsse ihr wiederum Geltung verschaffen. Eine Aktion zur Selbstbehauptung der Rechtsordnung also. Die Rechtssuche ist damit bei Hegels Rechtsphilosophie angekommen. In ihr findet sich die (banale?) Definition, Unrecht sei "negirtes Recht" ("Negation von Recht"), und folgerichtig die herakleitische Zielsetzung, "daß das Recht durch das Negiren dieser seiner Negation sich wieder herstellt" (Rechtsphilosophie, § 82). Das Ziel liegt im Reich der Prinzipien, freilich nicht der bloß gedachten (abstrakten), sondern der gelebten Existenzregeln. Das rechtliche Mittel, auf die Tat hin fällig, ist ein realer, handgreiflicher Akt, der die Welt der Regeln, die sichere Maß-gabe für Menschen, wieder in Ordnung bringen soll. Tötung (negativ umschrieben: das Nicht-Ieben-Iassen) eines Menschen als "das Unwahre" anzusehen, ist der erste Schritt einer Rechtserkenntnis. Er setzt sich, nach Hegel, in einem "Prozeß" der Rechts"vermittlung" fort, derart, daß das Recht "aus seiner Negation zu sich zurück zu kehren" vermöge. Aus dem Negativum Nicht-Ieben-Iassen ist das Gegenteil (= das Recht) leicht ableitbar: das rechtliche Prinzip heißt "Leben lassen". Diesen Satz befolgten die Mitglieder einer Gesellschaft ohnehin und unmittelbar, er war ihr allgemein praktizierter Modus vor der Tat. Die Tat stellte ihn in Frage, gab so jedoch Anlaß, ihn als rechtens zu erkennen, und macht nun notwendig, ihn zu manifestieren. (Hegel: Indem das rechtliche "Wesen" die ihm widerfahrene Negation negiere, erstehe es als "das Bekräftigte".) Das Ziel ist: den Modus, der zuvor selbstverständliche Praxis war, so sehr zum Bewußtsein aller
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3. Kap.: Recht auf Unrecht hin (Strafrecht)
zu bringen, daß er wieder fraglose Praxis sein kann. Irritation aus der Tat - ob nicht doch in dieser oder jener Lebenslage die Tötung das Richtige sei, jedenfalls ein gangbarer, nicht verwerflicher Weg aus verzweifelten Verhältnissen heraus -: dieses Bedenken ist zu widerlegen. Der Prozeß der Widerlegung ist einerseits eine theoretische Aufgabe: ein Sammeln der Argumente, weshalb Frau van B. den treulosen Geliebten nicht erschießen durfte. Das zurückkehrende Recht nimmt die Route durch das Bewußtsein der Menschen, sein Antrieb ist eine den Zweifel überwindende Argumentation. Zugleich aber sei diese Vergewisserung ein realer, praktischer Vorgang; wie ja das Recht überhaupt eine praktische Angelegenheit ist, nicht bloß etwas Ideales. Was indessen muß außer der Einsicht - zusätzlich zu ihr und an äußerem Ereignis - noch geschehen?? Wenn doch Hegels Formel auf die ihr zu verdankende Fragestellung auch die Antwort bereithielte! Hegels Formel könnte besagen: Nicht-leben-lassen ist das negierte Recht; fällig ist das "Negiren dieser seiner Negation", also das Zufügen eines ,nicht', real gesehen: eine Veranstaltung, die "nicht Nicht-lebenlassen" = "Leben lassen" verkörpert. Welche Manifestation des Rechts nun zu veranstalten sei, wie sie konkret auszusehen habe, bleibt offen, nur eines darf wohl nicht geschehen: noch ein Tötung, also die Hinrichtung des Täters ... Seltsam: Hegel kommt zum gegenteiligen Schluß. Auf Mord stehe notwendig 0) die Todesstrafe. Sie bedeute "nur die Umkehrung der Gestalt selbst des Verbrechens gegen sich" (Rechtsphilosophie, § 101 Zusatz). Auf das dialektische Grundmuster bezogen: Dem Unrecht, einem Negativum, müsse zwecks Negierung ein zweites Negatives folgen; erst durch das zweite Negative werde das erste aufgehoben. Hierzu tauge nicht irgendein beliebiges Ereignis; dem Nicht-leben-lassen müsse das ihm identische Negative (kein bloß inhaltsleeres ,nicht') noch einmal zugefügt werden. Hierdurch erst werde die Negation gelingen, erreiche man das fällige Positive! ... - Der Unterschied zwischen beiden Verständnissen: Im ersten ist Leben-lassen als Aktion für das Recht erschienen, und sie kann als etwas Besonderes, Augenfälliges sich vom alltäglichen Ohnehin nur abheben, indem der Täter öffentlich zum Leben bestimmt wird. Das zweite, Hegels eigenes Verständnis verlangt, die Demonstration für das Recht müsse im Negationsakt (in der Tötung des Täters) bestehen. Das hieraus resultierende Recht bedarf dann keiner weiteren Darstellung seiner selbst. Warum nun aber das zweite Verständnis "richtiger" sein soll als das erste? Bestätigt sieht Hegel sich durch einen weiteren Gedanken: Dem Mörder, der getötet werde, widerfahre "sein Recht" (§ 100). Ihm widerfahre eben jene Tat, die er, in Opposition zum damals "an sich" Rechten, selbstherrlich zur Rechtslage hatte erheben wollen. - Suum cuique also: Jedem das Seine. Doch wenn der Täter gerade Hegels Rechts-
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begriff bestätigen soll, müßte er auch "sein Recht" in diesem Begriff, in derselben Formel reflektieren können. Er probiere also: Töten ist Recht; Nicht-töten ist das negierte Recht; das negierende Moment, seinerseits ein Negatives, und zwar kein beliebiges, sondern die "Umkehrung ... des Verbrechens gegen sich selbst" - dieses "eigene" Negative des Täters wäre ... Nicht-töten. - Daß der Täter mit seinem Ergebnis vom zuvor erschlossenen Recht abweicht, darf nicht erstaunen; seine andere Prämisse bedingt einen anderen Schluß. Würde trotz entgegengesetzter Prämissen dasselbe Resultat erreicht, so wäre die Methode tautologisch, also wertlos. Sie ist es nicht und offenbart deshalb, daß Hegel einen falschen Zeugen anrief. Dem Täter widerfährt gerade nicht "sein Recht". Ihm widerfährt das Gegenteil; wenn man so will: sein Irrtum über das Recht, das von zuständiger Seite erschlossen wurde. Begründet hat Hegel seine Vorliebe für die negative Bekräftigung des Rechts - für die Todesstrafe - mithin keineswegs. Vielmehr ist er darin einem Vorurteil verfallen, welches Feuer mit Feuer zu löschen versucht. Warum aber soll man nicht Wasser oder Sand verwenden?Eine schöne Vorstellung davon, was Recht auf Unrecht hin vollbringen müßte, klingt in Heraklits und Hegels dialektischer Form gewiß an. Leider nur kommt der schöne Gedanke nicht aus seiner Abstraktheit heraus; in Hegels Konkretisierung büßt er die Schönheit des Guten ein. Die Welt bleibt (wieder einmal) hinter der Philosophie erschreckend weit zurück. 4. Redttsphilosophisdte Wegweisung
Trotz solcher Enttäuschung wäre es falsch, an der (Rechts-)Philosophie zu verzweifeln oder sie aufzugeben. Im Gegenteil, der Augenblick ist günstig, einzusehen, was Philosophie wirklich vermag. Sie ist kein Lieferant wohlfeiler Ergebnisse. Sie verlangt, was Hegel "Anstrengung des Begriffs" nannte, Erkenntnismühe also; hierfür bietet sie Hilfestellung an. Jedes einigermaßen entwickelte philosophische Konzept ist zu aspekte reich , als daß man es leichthin abtun sollte, wenn ein Teil, zumal das Resultat nicht gefällt. Zu aspekte reich auch, als daß alles gleichermaßen akzeptabel sein müßte. Gerade so verhält es sich um Hegels Rechtsphilosophie 65 • Wichtig hieraus ist die Einsicht - oder vielleicht liegt nur ein Postulat vor -, daß jede Sanktion der "Bekräftigung" verletzten Rechts zu dienen habe. Eine Selbstdarstellung des Rechts sei auf die Tat hin e:; Ohnehin ist hier, neben dem erkenntnistheoretischen Grundmuster, nur Hegels Strafrechtstheorie angesprochen worden. Einen lohnenden Einblick in weitere Elemente eröffnet Manfred Riedel, Studien zu Hegels Rechtsphilosophie, 1968 (edition suhi-kamp 355).
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3. Kap.: Recht auf Unrecht hin (Strafrecht)
fällig, nicht irgendein opportunes Schauspiel. Es geht darum, eine Rechtsnorm - und mit ihr die Rechtlichkeit überhaupt - glaubwürdig zu vermitteln. (Ob jeder prominente Strafprozeß aus der bundesdeutschen Rechtsgeschichte der letzten Jahre diesem Zweck angemessen verlief, ist zweifelhaft.) Die Mittel und Wege, Rechtlichkeit erleben zu lassen, sind allerdings strittig. Der Frage nach ihnen hilft Hegel nicht weiter. Einen anderen Ausschnitt der Rechtssuche aber stellt Hegels Erkenntnislehre dar. Sie macht deutlich, daß die Bewertung eines Vorfalls als Recht oder Unrecht nichts Selbstverständliches ist. Wie anstößig eine Handlung auch sein mag, wie unerwünscht und viel gescholten: bevor sie als Unrecht ausgewiesen ist, muß sie den Weg durch das erkennende Subjekt (durch das Nachdenken, die Abwägung pro und contra) zurückgelegt haben. Das reine Sich-Ereignen, die "unmittelbare" Tatsache ist wert-los; ein Neutrum, das in die Alternative richtig/falsch (rechtens/unrecht) erst einzuordnen sein wird. Das "Unmittelbare (ist) noch für die Negation empfänglich" (Rechtsphilosophie, § 82 Zusatz): noch kann der Nachweis gelingen, daß überkommende Wirklichkeit "verkehrt", negationswürdig ist, eine Tat endlich an ihre Stelle das Rechte setzte. Ebenso freilich: daß schon immer das Rechte geschah, die hiergegen gerichtete Tat Unrecht sei. Als Neutrum steht zur Bewertung an, was bisher nur war, nun jedoch Anstoß, Ärgernis gibt (Umweltdelikte sind solche Neuentdeckungen des Strafrechts). Zum Neutrum kann umgekehrt das traditionelle Werturteil unter dem Angriff von Zweifeln werden: die Wertung ist in Frage gestellt, eine Neuentscheidung fällig. (Homosexuelle Praxis zwischen Erwachsenen war strafbares Unrecht. Die Strafvorschrift ist abgeschafft, das vormals unrechte Handeln ist etwas Tatsächliches geworden, um das kein Gesetz sich mehr kümmert.) Auch der ungewohnte, schockierende Gedanke hat seinen Platz in der Rechtssuche. Der Gesetzeskritiker darf ihn an den Gesetzgeber richten, der Strafverteidiger ihn vor Gericht verfechten: beide handeln von Vernunft wegen. Richtigkeit setzt den Widerspruch (Diskurs) voraus; nur aus ihm kann (Rechts-)Erkenntnis hervorgehen66 • Eine These an der Grenze des Sagbaren hieße für den Fall van B.: Die Schüsse der alternden Schauspielerin sind der verzweifelte Versuch, ein durch Eifersucht, Demütigungen und Angst dramatisiertes Verhältnis zu "lösen". Warum soll das Recht sich in diese "Privatangelegenheit" einmischen? Mit welchem "Recht" wird den Menschen verwehrt, ihre ganz persönliche Existenz, ihre Partnerbeziehung(en) bis zum lebensgefährlichen Konflikt auszugestalten und auf des Messers Schneide auszutragen? Die dazu gehörigen "Zimmerschlachten" gehen keinen Dritten etwas an. Schuldlose Opfer wird es nicht geben ... 6G Rechtserkenntnis und Gewaltstrukturen (Fn. 58), S. 63 ff., 143 f.; Peter Schi/lauer, Wortbedeutung und Rechtserkenntnis, 1979, S. 123 ff.
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Zur Toleranz, die in der Dialektik liegt, hält Hegels Rechtslehre an. Sie stellt die Rechtssuche als einen Diskurs dar, der seine Grenze "nur" an der Saehe finden dürfe. (Andernfalls wäre das Recht nicht erkannt.) Die erkannte Sache Recht aber bedarf der Manifestation (der "Bekräftigung") gegen Irrtum und unvernünftigen Zweifel. - So viel an akzeptabler Wegweisung gibt Hegel allemal; zugegeben: eine sehr abstrakte Grundlage, eine nur ungefähre Orientierung. Der Philosoph souffliert nicht, was im einzelnen zu tun sei, Philosophie erweist sich vielmehr als eine Anforderung. Sie fordert die Mühen präzisierender Theorie und theoriegemäßer Rechtspraxis. Am Beispiel Hegels zeigt sich auch, was zu dieser fälligen Konkretisierung gehört: zumal manches dem "reinen" Philosophieren zuwiderlaufende Zugeständnis ans factum brutum. Zugeständnisse an Traditionen, die sich nicht beenden lassen, an herrschende Meinungen, die nicht zu belehren sind. Auch Hegel brachte sein philosophisches System in Einklang mit der Wirklichkeit, die er nicht verändern konnte oder deren Veränderung er nicht für wünschenswert hielt. So gelangte zum Beispiel die Todesstrafe in seine Rechtslehre; eine pragmatisch unvermeidliche Rezeption, keine logisch oder begrifflich notwendige Ableitung. Der Philosoph erklärt und legitimiert, was er nicht negieren kann (oder will). "Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig." (Von Hegel selbst ironisiert zu: "Hie Rhodus, hie saltus"; in Hegels "Übersetzung": "Hier ist die Rose, hier tanze". Rechtsphilosophie, Vorrede.) Mit der Idee, daß Strafe das Recht zu bekräftigen habe, "versöhnte" Hegel deshalb sogar einen sachlich unverbundenen, jedoch praktisch erheblichen Strafzweck: die Vergeltung der Tat. Nicht einmal den Ausdruck ,Rache' scheute der Philosoph (aaO. §§ 101, 102). Nach aller Suche des "idealen Wesens" war damit womöglich das reale (Un-)Wesen des Strafrechts eingestanden. 5. Wiederum: Rechtssuche als Gesetzesanwendung
Das geltende Strafrecht ist in Gesetzen affirmiert. Strafrechtliche Vorschriften sagen an, welche Verhaltensweisen Unrecht sind, und verknüpfen jede Tatbeschreibung mit einer Strafdrohung. Angedrohte Strafen zu realisieren, ist einem Ausschnitt des Staatsapparats vorbehalten; seine Tätigkeit reglementieren Strafverfahrensgesetze. Die Strafprozeßordnung legt in Grundzügen die polizeiliche Aufklärung der Tat fest und beschreibt ausführlich den Prozeß, der dem Tatverdächtigen zu machen ist. Strafvollzugsnormen handeln vom Vollzug der verhängten Strafe. Die Gesetzestexte des Strafrechts stellen, als Sprachvorkommen, vor die üblichen Probleme der Gesetzesanwendung. Der Unrecht beschreibende Text ist auszulegen, und nur auf das ihm subsumierbare Ereignis 14 Gast
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3. Kap.: Recht auf Unrecht hin (Strafrecht)
wirft er sein Verdikt. Verbindliche Subsumtion aber ist dem Richter vorbehalten; jene private Herrschaft über den Text, die den zivilen Konflikt zu lösen vermag, gibt es im Strafverfahren nicht. Die Juristenzunft freilich verwaltet den Text bei vielerlei Gelegenheiten, die Plädoyers jeweils vor dem Richtertisch und die richterliche Antwort in der Urteilsbegründung sind nur zwei davon. Dogmatik ist wiederum der Ort und die Form theoretischer Auseinandersetzung; wie beim Zivilrecht, steht sie den Einflüssen Interessierter offen. (Ökonomische Interessen, man denke an das Wirtschaftsstrafrecht, finden ebenso Platz wie Weltanschauungen.) - Die Auslegung gesetzlicher Tatbeschreibungen ("Tat-bestände") sucht engsten Anschluß an expliziten Textsinn (dies gebiete die Rechtssicherheit). Weites Ermessen hingegen hat das Gericht bei der Strafzumessung. Gesetzestexte schreiben die Bestrafung selten definitiv vor ("Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft"), der disponible Strafrahmen überwiegt ("Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren"). Die gesetzlichen Kriterien zu seiner Ausfüllung sind vage, Dogmatik und Psychologie, letztere weithin eine Domäne der Verteidiger, behalten nahezu freie Hand. Der Kampf um die Subsumtion und, damit verschränkt, um das Strafmaß: das Tribunal ist oft Gladiatorengrube (und von ihrer "Rationalität"?). Man denke an das Reich gesetzlicher Möglichkeiten auf eine Tötung hin. War es Mord, der mit lebenslanger Einsperrung zu sühnen wäre, auch bei späterer Begnadigung also mit mindestens 15 bis 20 Jahren 'Haft ... ? Es kommt (dem Gesetzestext zufolge) darauf an, ob die Tötung "aus niederen Beweggründen" geschah; oder "heimtückisch"; "grausam"; um einer anderen Straftat willen. Der "gewöhnliche" Totschlag, ohne erschwerende oder mildernde Tatumstände, ist mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bedroht; das Zeitspektrum reicht bis zur lebenslangen Gefangenschaft. Der "minder schwere FaTI"dagegen (eine Zornestat etwa; ihr Täter war "ohne eigene Schuld durch eine ... Mißhandlung oder schwere Beleidigung von dem Getöteten zum Zorne gereizt und hierdurch auf der Stelle zur Tat hingerissen worden") ist mit sechs Monaten, maxima1.mit fünf Jahren Gefängnis abzugelten. Und ein Täter gar, der in der Tatsituation nicht mehr Recht von Unrecht zu unterscheiden vermochte, dessen Bewußtsein, wenn auch nur vorübergehend, bis auf den Grund gestört war (was zu rekonstruieren wäre): er ist schuldunfähig und von Strafe freizusprechen. Der Sinn in den Unterscheidungen87 ?
m.
Rächendes Recht
"Auge um Auge", wenn auch nicht streng wörtlich genommen, doch immerhin als Prinzip, übel mit üblem zu vergelten - jedes Strafrecht scheint so noch am zutreffendsten erklärt. Als wäre der Strafbetrieb 87 Jeder Strafprozeß auf eine Tötungshandlung hin steht vor der Aufgabe, gerade die rechte der Möglichkeiten zu erkennen. Außerdem findet eine ständige rechtspolitische Diskussion über die Differenzierungen statt; hierzu zusammenfassend das Gutachten von Albin Eser für den Juristentag 1980 (Gutachten D zum 53. DJT in Berlin).
!II. Rächendes Recht
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aus der archaischen Logik, bei aller Sublimation im Detail, bisher nicht freigekommen. 1. Natürliche Neigung zur Rache?
Wenn Strafe Rache ist, dann hat das Rächen immerhin Kultur. Es vollzieht sich nicht urwüchsig, sondern ritualisiert im staatlichen Strafapparat. Die Einsperrung in eine Zelle oder die Ermordung auf dem Elektrischen Stuhl (Mord = grausame Tötung) ist kein unmittelbar kreatürliches Handeln. Aber steht hinter dem Strafritual - hinter der verfaßten Rache - nicht ein natürliches Bedürfnis; liegt ein natürlicher Vorgang zugrunde, den Kulturformen aufgefangen haben? Wenn man so will: Es geht um Biologie oder Psychologie der Rache. Verhaltensforscher sehen hinter Rachetaten den Aufbau und Abbau von Aggression88 • Ein Mensch (überhaupt ein "höheres" Lebewesen) fühle sich durch einen anderen mißachtet, gestört, belästigt, bedroht: woraufhin er den Gegenschlag anzubringen trachte. Nicht bloß Abwehr oder Zurechtweisung finde statt, sondern ein Heimzahlen. Wem die spontane Reaktion, die Erledigung Zug um Zug verwehrt sei, der erleide einen "Aggressionsstau" . Eine "unlustvolle Spannung" werde erlebt, die zur Entladung dränge. (1) Studenten nahmen an einem Experiment teil, in dessen Verlauf man sie verärgerte. Verärgerung ist meßbar: sie läßt den Blutdruck ansteigen. Die in Rage Versetzten wurden in zwei Gruppen geteilt; den Gruppen wurde erklärt, daß der Versuchsleiter (der Verantwortliche für den Unfrieden) nun bestimmte Aufgaben zu lösen habe, seine Fehler zu vermerken seien. Die Gereizten der einen Gruppe sollten durch Knopfdruck lediglich signalisieren, daß etwas falsch war. Die zweite Gruppe bekam die Auskunft, mit jedem Knopfdruck würden Elektrostöße ausgelöst, die den Versuchsleiter schmerzhaft träfen. Die erste Gruppe rügte die Fehler und blieb in Wut. In der zweiten, strafenden Gruppe sank der Blutdruck schnell auf Normalhöhe. Erkennt man die Aggressionsthese an, dann sind über die Brücke "Aufladung - Entspannung" vielerlei Ereignisse miteinander verknüpfbar. Die verschiedensten Ursachen können einen Menschen aggressiv stimmen. Die Verhaltensforschung nennt Auslöser, die sie bei vielen Kreaturen, nicht bloß beim Menschen am Werk sieht: das Eindringen in fremdes Revier etwa, oder den Griff nach fremden Beutestücken. Aggression weckt der Nächste auch, indem er zum Hindernis wird. (Pressenotiz: Zum Gewehr griff auf der Autobahn NürnbergBayreuth ein Lastzugfahrer. Seine Erklärung: "Ich habe mich geärgert, weil das Auto vor mir so langsam fuhr, und darum habe ich geschossen."89) Eine Art von Reizmittel schließlich ist spezifisch menschlich: die es Zum folgenden Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Liebe und Haß. Zur Naturgeschichte elementarer Verhaltensweisen, 1971, S. 86 - 101. ee ADAC Motorwelt 10/1978, S. 44 f. Dort wird von etlichen ähnlichen Fällen berichtet. 14"
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3. Kap.: Recht auf Unrecht hin (Strafrecht)
Idee, das Ideal. Weltanschauungen treffen unvereinbar aufeinander und provozieren, während sie Frieden und Glück verheißen, wechselseitig Gewalt. Der Gereizte sinnt auf Vernichtung der fremden, störenden Idee oder des Störers selbst. Erst der Erfolg im Vergelten wird den Aggressiven friedlich machen. Daß ein Störer einen Betroffenen direkt angeht, dessen Aggression daraufhin reflexhaft zurückschlägt, ist der einfachste denkbare Zusammenhang. Ein komplexeres Muster ist vorauszusetzen, wenn ein anderer Mensch als das unmittelbare Opfer Aggression entwickelt; so bei der Tötung, auf welche hin Verwandte, Freunde, Nachbarn des Getöteten oder auch Unbekannte, die von der Tat hören, aggressives Verhalten zeigen. Hier findet Identifikation mit dem Opfer statt; sei es, daß der aggressive Dritte dem Opfer durch Gefühl oder Interesse verbunden war und der Täter ihm Verlust bereitete; sei es, daß die Tat als Angriff auf ein gemeinsames Gut erlebt wird (auf das Leben; auf die Friedfertigkeit, Unblutigkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse), das Gemeinsame demgemäß als etwas je Eigenes aggressiv verteidigt wird. Eine einzige Tat kann viele Menschen berühren und zu Subjekten der Aggression machen. Ähnlich auf der Seite der Abreaktion: als Objekt kommt keineswegs nur der Täter (Verursacher) selbst in Betracht, Identifikation kann auch in diese Richtung den Kreis erweitern. Der fünffache Totschläger seiner Vorgesetzten (s. oben, "Vernünftige Antworten?") lebt unerreichbar im Gefängnis, deshalb werfen "anständige", empörte Nachbarn seiner Frau die Fenster ein. Gestaute Aggression aber braucht nicht einmal mehr die Beziehung zum Urheber, ihr genügt, irgendeinen Sündenbock zu finden. Darum wird einem Schwächeren heimgezahlt, was dem Stärkeren nicht zurückgegeben werden konnte. (Für Büroärger büßen Ehefrau und Kinder. An Fürstenhöfen gab es Prügelknaben: Kinder armer Leute wurden gemeinsam mit den Prinzen erzogen und erhielten von den Hofmeistern die Schläge, die die jungen Herren "verdient" hatten70 .) Aggression, die kein menschliches Ziel erreicht, richtet sich gegen Tiere oder Dinge. Befriedigen kann sie sich womöglich sogar mit Hilfe einer Fiktion: den aggressiven Betrachter eines Kriminalfilms entspannt der Sieg des "Guten". Die Verfremdung reicht dabei sehr weit: nicht nur, daß es ein künstliches Geschehen ist, das den Blutdruck des Aggressiven senkt, die befreiende Handlung gegen den Film-Bösewicht nimmt ein anderer vor, der Betrachter läßt sich abreagieren. Da unterschiedlichste Objekte zur Ableitung genügen, liegt es nahe, daß auch das ableitende Verhalten sehr verschieden ausfallen kann. 70 Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 21. Auf!. 1975, Stichwort Prügelknabe, -junge.
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Ganz beliebiges Reagieren jedoch befriedigt nicht, es muß dem Objekt, wie auch immer, schädlich sein. (Vielmehr: Der Aggressive muß solche Schädlichkeit glauben.) Erst am (vermuteten) Leiden des reaktiv Getroffenen kühlt der Aggressive sein Mütchen ("Der Feind gedachte: Ich will ... meinen Mut an ihnen kühlen ..."; 2 Mose 15,9). Leblose Dinge werden beschädigt oder wenigstens aus ihrer Lage gestoßen (spielt ein Atavismus mit, der auch Steine für sentimentabel hält?). Lebenden Zielen wird Schmerz zugefügt; wobei körperlicher Schmerz das primitivste Mittel abgibt. ("Primitiv" nicht in einem historischen Sinn, als wäre dieser Weg in Hochkulturen oder Zivilisationen überwunden; gemeint ist die einfachste, direkte Art des Quälens.) Entwickeltere Pllyche ist anfällig für seelischen Schmerz, den schon pure Worte erzeugen können. Entwickelte gesellschaftliche Lebensformen enthalten ihrerseits Hebel zu spezieller Leidbereitung: Wertschätzung läßt sich in Verruf verwandeln, Anerkennung in Verachtung, ein Status kann aberkannt oder verweigert werden ... Ein Fundus möglicher Abreaktionen steht dem entsprechend niveauhohen Aggressionsträger zur Verfügung. (Auch ein Fall von "suum cuique".) (2) Den aggressiv gestimmten Menschen erlöst, was er einem anderen zufügen konnte - aber der betroffene andere ist ja "auch nur ein Mensch": was Wunder, daß er Aggression aufbaut. Also drehen beide sich im Kreis; oder es werden, wenn die Ablenkung auf Dritte gelingt, Kettenreaktionen angelegt ... Die Gesellschaft als perpetuum mobile aus Aggressionen, in dem die gesammelte Intensität der Gegenschläge nur stetig zunehmen kann: Hobbes' bellum omnium scheint erreicht und von "Gesellschaft" wäre kaum zu sprechen. (Der Verzicht auf Gesellschaft wäre logischerweise die Rettung vor der totalen Zerstörung.) Demgegenüber beschreiben Verhaltensforscher und Ethnologen, wie schon Gesellschaften auf niederer Entwicklungsstufe Aggressionen zu bändigen trachten. Versucht wird die Ablenkung auf Dinge oder auf (kollektive) Kampfspiele, die an die Stelle echter Kämpfe getreten sind. Kettenreaktionen werden abgeschnitten, indem hochaggressiv aneinander geratene Streiter sich auf einen alles entscheidenden Zweikampf festgelegt finden. Einen Kampf, der kultiviert, in eine Minderform des Kämpfens gegossen ist, um das Überleben zu sichern. So unblutig wie die Gesangsduelle mancher Eskimostämme freilich verläuft die Auseinandersetzung nicht immer: "Der Stil der vorgetragenen Gesänge folgt einem traditionellen Muster, die Texte werden jedoch für die Anlässe jeweils individuell gestaltet. Das Publikum ist Richter und applaudiert dem besseren Sänger - auch wenn er objektiv im Unrecht ist. Alle Streitgründe, Mord im allgemeinen ausgenommen, werden auf diese Weise geregelt. Ein Ostgrönländer kann allerdings selbst für einen Mord an einem Verwandten auf diese Weise Genugtuung
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3. Kap.: Recht auf Unrecht hin (Strafrecht)
fordern, dann nämlich, wenn er für einen physischen Kampf zu schwach ist .. :'71
Die Texte sind schmähend: so reagiert man sich durchs Wort ab, zunächst der "Rächer", in der Replik auch der verhöhnte Täter. Ließ der Gesang die Kontrahenten ruhig werden, dann droht einem von ihnen jedoch neue Aggression durch den Spruch des Publikums. Dieser Spruch verlangt vom Verlierer Disziplin, zumal wenn der Sieger "objektiv im Unrecht" - gemeint ist wohl: der Schädiger, der Täter war. (Die Entscheidung des Publikums setzt - wenn man diese Kategorie bereits anwenden will - das Recht.) Das Sich-Abfinden mit der Niederlage gehört notwendig zu jedem Zweikampf; im Idealfall vermochte Erziehung den richtenden Spruch aus dem Kreis der Aggressionsursachen auszuschließen. Die Reaktion des Unterlegenen ist dann eher resignativ: ein Schicksal wurde bereitet, mit dem man sich abfinden muß. Der Verlierer im Singduell hat in seiner Gemeinschaft "ausgespielt", er ist verächtlich gemacht, wird den Stamm vielleicht verlassen. (3) Soviel zur Aggressionslehre. Sie schildert einen Ablauf kreatürlichen Verhaltens - ist er im Strafrecht wiederzufinden, ablesbar an der Rechtsgeschichte wie am geltenden Recht als dem Resultat eines geschichtlichen Prozesses? Davon spricht das Eskimo-Beispiel, und jedermanns Alltagserfahrung könnte den ersten Eindruck erhärten. Die Tat habe Aggression geweckt (bei wem auch immer), die Strafe diene der Abreaktion. Recht hätte also den natürlichen Vorgang reguliert, ihn in geordnete Bahnen geleitet: ein Nachgeben gegenüber der Natur, wenn auch zu dem Zweck, sie im Ritual zu bezähmen. Was die Strafe angeht, so ist die Aggressionslehre zu offen, um bestimmte Mittel zu implizieren. Vielmehr hängt von der Sensibilität der Aggressiven ab, womit sie sich (typischerweise) zufriedengeben. 2. Zur Kulturgeschichte des Richens
Das "natürliche" Aggressionsmuster unterstellt72 Menschen daraus gemacht, strafrechtlich gesehen? 71 Eibl-Eibesfeldt (Fn. 68), S. 94.
was haben die
71 Noch eine zweite Verarbeitung in einer Theorie des Strafrechts bietet sich an: Das Strafrecht sei nicht in den Dienst der Aggression getreten, im Gegenteil. Es versuche, Aggressionen zu unterdrücken oder wenigstens von bestimmten Wegen abzuhalten, sie auf "harmlose" Wege zu verweisen. Die Straftat wäre demnach ein verbotenes Abreagieren, die Strafdrohung die Barriere vor dem gesellschaftlich unerwünschten Befreiungsweg. Die Ursachen der Aggression liegen bei dieser Erklärung dem Strafrecht voraus, irgendwo oder überall in der Gesellschaft. Strafrecht hätte den Zweck, die Gesellschaft vor manchen Konsequenzen ihrer Aggressionsgründe - vor den unerwünschten = unrechten Abreaktionen - zu bewahren. Der Schwach-
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a) Lamechs Erben (1) Zu den primitivsten Umgangsformen zwischen Menschen gehört die Blutrache. Was immer einen Menschen wild macht (moderner gesprochen: was er an Unrecht erlebt), er reagiert mörderisch, der tödliche Schlag trifft den Täter selbst oder ein Mitglied aus seiner Familie, seiner Sippe73 • Blutrache ist die gängige Abreaktion vor der Erfindung des Strafrechts. Ein wüster Rächer war Lamech, Kains Nachfahr der fünften Generation. Vor seinen Frauen prahlte er mit seiner Maßlosigkeit (1 Mose 4, 23): "Und Lamech sprach zu seinen Weibern Ada und Zilla: Ihr Weiber Lamechs, höret meine Rede und merket, was ich sage: Ich habe einen Mann erschlagen für meine Wunde und einen Jüngling für meine Beule. Kain soll siebenmal gerächt werden, aber Lamech siebenundsiebzigmal." (2) Das Lebensniveau in strafrechtloser Zeit braucht nicht allgemein niedrigst zu sein, das Leben nicht ganz ohne Recht zu verlaufen. In anderer Hinsicht mag es Fortschritte aufweisen: es kann reich geworden sein an ökonomischen und künstlerischen Fertigkeiten, bei bemerkenswerter Vielfalt in Status und Verkehr. Der Urzustand spontaner Hordenbildung (oder wie immer er geraten war) liegt dann weit zurück, überwunden durch eine kulturelle Leistung, die schließlich den Namen ,Recht' verdient: sobald die "höheren" Umgangsformen nicht bloß unbewußt gelebt, sondern auch als Maximen angewendet und gegen Abweichung durchgesetzt werden, archaischer Weise mit Brachialgewalt. In seiner befolgten und durchgesetzten Verfassung hat das Leben sich von der denkbar schlechtesten Lage, dem bellum omnium, ein gutes Stück distanziert (und zwar "zivilrechtlich" ; wobei man sich Rückfälle in rechtsfreie Verfahren, wie Raub statt Tausch, für günstige Gelegenheiten vorzubehalten pflegte). Jedoch auf "Unrecht" hin, das heißt dem Aggressor gegenüber ist man urwüchsig geblieben. Eher noch kann die primitive Entgegnung ideologisch (mythologisch) zum Heroentum verklärt sein, als daß man auf "öffentliche" Errichtung von Hemmnissen bedacht gewesen wäre. Vieles an ungleichzeitigen Maximen kann sich zu einer menschlichen Situation oder zum Typus addieren - beispielhaft im tückereichen Dulder und göttlich geförderten Killer Odysseus.
punkt dieser Überlegung: Sie kann nur Aggressivität, nichts sonst, als Ursache des Unrechts, der Straftat sehen. Das ist nicht plausibel. Das Strafrecht ist besser erklärt, wenn man es selbst als kultivierten Vollzug von Aggressivität auffaßt. 73 Mehr dazu in dem lesenswerten Buch von William Seagle, Weltgeschichte des Rechts, 2. Aufl. 1958, S. 61 ff.
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3. Kap.: Recht auf Unrecht hin (Strafrecht)
Die Welt des Odysseus ist Ithaka - und überhaupt die Hellas - in der Zeit um 1000 v. u. Z.74. Diese Welt ist aufgeteilt und in festen Händen. Sie gehört den oikoi; jedem oikos (= Haushalt), was er zu erobern vermochte. Der oikos ist, wirtschaftlich gesehen, eine Veranstaltung der Produktion und des Verbrauchs; ein nahezu autarkes Gebilde, in welchem die Arbeit etlicher Mitglieder alle ernährt. Personell stellt er eine hierarchisch verfaßte Gemeinschaft dar; Sklaven, nicht-versklavte Hirten und Bauern, sie gehören ebenso dazu wie Gefolgsleute (theräpontes: eine Art Garde des Hausherrn) und Spezialisten (demioergoi: Zimmerleute, Grob- und Feinschmiede, ein Wahrsager, Sänger, Arzt). Die Familie des Hausherrn bildet die Spitze dieser sozialen Pyramide; er selbst gebietet über alle, diktiert Arbeit und Konsum. Wieviele Mitglieder ein Hauswesen erreicht, hängt letztlich davon ab, wieviele es ernähren kann, also vom Landbesitz. In politischer Hinsicht schließlich ist der oikos souverän. Eine erhebliche politische Dimensipn (zu welcher im klassischen Griechenland die polis werden wird) gibt es zwischen mehreren oikoi nur, wenn sie sich zeitweilig für kriegerische Zwecke, als Angreifer oder Angegriffene, miteinander verbünden. Dann ist der mächtigste Hausherr der Runde ihr gemeinsamer König, basileus, der Streitigkeiten zwischen den Oikoarchen entscheidet und zumal den Schiedsrichter beim Verteilen der Beute spielt. Die Ilias handelt von einer solchen Gesellschaft auf Zeit und von ihrer Unternehmung, dem "Trojanischen Krieg". Zum Raubzug kann nicht bloß die Gier anregen. Auch der Mangel zwingt einen oikos, sich mit anderen auseinanderzusetzen. Die Autarkie stößt mehrfach an Grenzen: Arbeitskräfte können fehlen, und stets waren die Griechen knapp an Metall, das aus Westasien oder Zentraleuropa herangeschafft werden mußte. Nicht zu vergessen jenes biologische Bedürfnis, das laut Homer den Kampf um Troja verursachte: der Troer Paris entführte Helena, Gattin des Menelaos von Sparta, und die Folgen lehren, wie verkehrt dieser Versuch einer Befriedigung war. Dem Gewaltmodus sind die Herren aus "heroischer" Zeit (Herakies, Odysseus, und wer immer dem kaJJjkleischen Ideal entspricht; 1. Kap. V 1) zwar stets zugetan, wenn neuer Besitz lockt. Doch Gewalt ist riskant, man hat auch etwas zu verlieren, nicht "nur" das eigene Leben, sondern ein manifestes und auf mehr Dauer angelegtes über-Ich, in dessen Dienst man sich gestellt findet: den oikos. Der angehäufte Besitz, glückliches Ergebnis früherer Beutezüge (und Grund für ein Erbrecht innerhalb der Herrenfamilie), weckt ein Verlangen nach Sicherheit, das mit dem Ausmaß möglichen Verlusts zu wachsen pflegt; viele oikoi teilen es, es wird zum immer allgemeineren Gut. Die Umstände halten zu friedlicheren Verkehrsformen an, deren erste familienrechtliche Verträge - die Heiraten von oikos zu oikos - gewesen sein dürften. Der Bedarf an Arbeitern ließ sich urwüchsig decken, indem man Personal eines anderen Haushalts versklavte (- viele Frauen, aber nur wenige Männer: eine Vorsorge gegen Aufstände). Jede andere, friedliche Lösung setzt einen Arbeitsmarkt voraus. Um ihn zu bedienen, darf ein Stand der vagabundierenden Arbeitskraft entstehen; die thetes, besitzlose, an keinen oikos gebundene Männer ziehen über Land, werden vorübergehend ange74 Welchen real geschichtlichen Gehalt die Epen Homers haben, ist umstritten. Die sehr plausible Deutung, die der Archäologe Moses I. Finley entwickelte, habe ich übernommen. Vgl. sein Buch: Die Welt des Odysseus, revidierte Ausgabe 1979 (dtv 4328).
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stellt und nach getaner Arbeit wieder entlassen. (Als Odysseus, in Bettlermaske, unerkannt in sein Haus kommt, bietet einer der dort versammelten Freier ihm an, sich als thes zu verdingen: Dornen seien zu sammeln und Bäume zu pflanzen, zum Lohn gebe es Nahrung, Kleider, Schuhe. Odyssee 13, 356.) Der Handel mit Sklaven, auch ein Markt für Arbeitskraft, besteht daneben; doch die Preise sind offenbar hoch, und ein thes ist um versprochenes Entgelt leichter zu prellen als ein mächtiger Verkäufer. Der bedeutsamere Handelsmarkt ist jener für Metalle. Sie werden, wenn gerade nichts leicht zu rauben war, von reisenden - gut bewachten - Händlern, in der Regel Phoinikern, eingetauscht. Merkantiles Verhalten, das Anonymus Iamblichi später bevorzugen wird (1. Kap. VI 2), gab es dann also längst in der griechischen Welt. Freilich stand es noch in verbreiteter Konkurrenz mit der "heroischen" Lösung. Odysseus, sonst so kenntnis reich, so voll bunter Klugheit (der Dichter überhäuft ihn mit dergleichen Attributen): seine Erwiderungen auf "Unrecht" - auf Angriffe - hin sind phantasielos "natürlich". Aggression wird abreagiert, und nichts am Rachegeschehen, keine Zutat, läßt sich als erste Spur eines Strafrechts identifizieren. Ein Hausherr, dem Untertanen übles zufügen, ordnet kurzerhand Exekution an. (Womit er immerhin den schon vorhandenen Normen des Familien- oder Sklavenrechts Respekt verschafft, sie bekräftigt, als ihr institutioneller Hüter.) Nicht anders handelt der findige Sohn des Laertes: Noch inkognito im eigenen Haus, wird er von Mägden verspottet (Odyssee 18, 320), die es überhaupt eher mit den Freiern als mit ihrer Herrin und dem oikos halten; als Hausherr restituiert, befiehlt Odysseus die Tötung der Ungetreuen. (Sohn Telemachos, dem die befohlene Enthauptung ein zu "reiner Tod" scheint, erwürgt die Unglücklichen mit einem Schiffstau; Odyssee 21, 440, 465.) Und wie brachiale Zucht die inneren Feinde trifft, ebenso wehrt man äußere Angreifer exzessiv ab. Rache an den Freiern, die seinen oikos belagerten und plünderten, Penelopeia um Neuvermählung bedrängten, vollzieht Odysseus mit Pfeil und Bogen. Offenbar folgt er damit der "herrschenden Meinung"; denn genauso zu verfahren, hatte schon Nestor dem Telemachosempfohlen (Odyssee 3, 196, 212). Nur hielt Telemachos sich für zu schwach, um den Rat zu befolgen. Der Rächer Odysseus handelt zweischneidig: er ist Vergelter des übels, das ihm zugefügt worden war, und zugleich übeltäter, dem Rache droht. (Nach strafrechtlicher Logik hingegen wäre die Vergeltungstat nicht wiederum Unrecht, das Vergeltung auslösen könnte.) Die Aussicht auf den Gegenschlag, zu welchem Angehörige der getöteten Freier sich entschließen könnten, ängstigt (!) Odysseus: "Wer auch immer im Volk einen einzigen Mann nur erschlagen, selbst einen, der nicht viele hat, die ihm hinterher helfen - fliehen muß er und fort von Verwandten, vom Land seiner Heimat. Wir doch erschlugen von Ithakas Söhnen weitaus die besten ..." (Odyssee 23, 117). Tatsächlich rüsten die
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3. Kap.: Recht auf Unrecht hin (Strafrecht)
getroffenen oikoi zur Reaktion: Es wäre schändlich, bliebe der Mord an Söhnen und Brüdern ungesühnt (24, 433). Das Haus Odysseus wäre nach menschlichem Ermessen verloren gewesen angesichts der übermacht. Für das happyend muß theos ek mechanes, Athene leibhaftig, rettend eingreifen; sie erschreckt die Rachsüchtigen und nimmt ihnen den Mut (24, 531). Was im Epos die rettende Göttin vom Schnürboden vermag "Nichts mehr von schrecklichem Krieg, Ithakesier!" -, mußte im historischen Fortgang das Strafrecht leisten. (3) Als erstes war notwendig, daß die Menschen eine Unterscheidung lernten: Auf manche Handlungen hin sei der aggressive Gegenschlag erlaubt, andere seien hinzunehmen, auch wenn das Zurückschlagen leicht gelingen würde. Vorfälle vom selben Erscheinungsbild - ein Mensch wird getötet - mußten, dem Anschein zum Trotz, gegensätzlich eingeordnet werden: Die erste Tötung sei Unrecht, die zweite Tat, nämlich Tötung des Täters oder eines der Seinen, sei untadelige, rechte Vergeltung (= Strafe), darum nicht wieder vergeltbar. Der Nexus Tat- Vergeltung war aus dem Fluß der Ereignisse zu isolieren; und dies mußte ertragen werden, wieviel Schmerz und Wut die zweite, die rechte Tat auch immer bereitete. Tatsächlich gibt es viele Belege dafür, wie "primitive Gesellschaften" versuch(t)en, die Kette der Blutrache rechtzeitig, vor Ausrottung einer Partei (Sippe), abzubrechen75 • Auf dieser Grundlage konnte das Strafrecht entstehen: als Anerkennung des einmaligen Racheschlags. Nächster Schritt war dann dessen Regelung: Nicht jede Störung, die einer wagt, sei schon Unrecht, das einen q~_genschlag erlaube. Und der Rächer halte Maß, die übergroße Wut Lamechs sei kein Vorbild.
Seltsamerweise (?) fand die frühe Rechtssuche noch einen anderen Weg als nur den der limitierten Blutrache. Der Täter oder seine Verwandten konnten die Sippe des Opfers versöhnen, indem sie ihr ein Wergeld (compositio) zahlten76 • Eine Anzahl Rinder, Schafe, Ziegen, einige Schekel Silber, oder was sonst Vermögenswert hatte, wurde übergeben, gleichsam Zug um Zug gegen Verzicht auf den Racheschlag .. Die wilde ("natürliche") Reaktion war damit abgeschaltet - und vor dem Hintergrund der Aggressionslehre läßt sich nun streiten: Bedeutet die Sühneleistung gar, daß das Prinzip Aggression abgeschafft werden kann? Oder ist Aggressivität doch nur abgelenkt worden: Vermögensschaden auf der Täterseite genügte, die Opferseite zu befrieden? Öffentlichen Zwang, auf Blutrache zu verzichten, die ökonomische Lösung zu wählen, gab es in der frühen, noch staatenlosen Menschheit 75 76
Seagle (Fn. 73), S. 63 ff. Seagle (Fn. 73), S. 69 ff.
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kaum. Es gab allenfalls den Nachdruck dessen, was die Griechen themis, das Gehörige, nannten. Ein Nachdruck, der noch unorganisiert, ohne Verrichter ("Funktionäre") war. Von heutigen Ansprüchen an das Recht aus gesehen, war mit Erfindung des Wergelds deshalb erst die halbe Strecke hin zum Strafrecht zurückgelegt. Auch in der Welt des Odysseus war die ökonomische anstelle der herostratischen Lösung nicht unbekannt. Sie wurde akzeptiert - mit Maßen77 • Die Ilias (9, 121 und 632) berichtet von einem gescheiterten Versöhnungsversuch. Agamemnon beleidigte Achilleus schwer (indem er ihm das Mädchen Briseis wegnahm), bot jedoch eine erstaunlich reiche Versöhnungsgabe. Achilleus lehnte ab, zur Verwunderung der Genossen, die dies für übertrieben hielten: nehme doch mancher sogar vom Mörder seines Bruders oder Sohnes Sühne an, und der Täter dürfe im Land bleiben, nachdem er viel gezahlt habe. Der "wahre" Held werde dann freilich unbestechlich sein. Aber wegen einer Sklavin ... ?! Der Koran, um 610 bis 632 niedergeschrieben und als Rechtsquelle aktuell, empfiehlt Verzeihung und Sühnezahlung78 : ,,0 ihr Gläubigen, die ihr vermeint, euch sei bei Totschlag das Vergeltungsrecht vorgeschrieben: ... Verzeiht aber der Bruder dem Mörder, so ist doch nach Recht billiges Sühnegeld zu erheben, und der Schuldige soll gutwillig zahlen. Diese Milde und Barmherzigkeit kommt von eurem Herrn. Wer aber darauf sich doch noch rächt, den erwartet harte Strafe." (2. Sure, 179.) (4) Blutrache zu üben, stattdessen Wergeld anzunehmen: die frühen Entgegnungen auf eine Missetat waren "private" Angelegenheiten beteiligter Familien. Erst als eine "öffentliche" Sphäre sich zwischen den kleineren sozialen Einheiten ausbildete, die eher chaotische Ansammlung dieser Gebilde sich zur komplexeren Einheit ordnete, kam auch öffentliches Strafrecht auf; nicht etwa als beiläufige Erscheinung der Vergesellschaftung, sondern als wesentliches Element darin. Verwundern kann dieser Zusammenhang nicht, denn Zentralgewalt ("Staatsgewalt" in einem minimaleren als dem heutigen Sinn) kann sich vorzüglich durch Rechtsschutz und Rechtsverwirklichung darstellen, auch dadurch legitimieren. Entsprechend bietet Unrecht einen Anknüpfungspunkt für öffentliche Rechtserzeugung (nicht zuletzt unter dem Aspekt, daß eine Tat jedermann schädigen könnte, also jeder am Strafrecht interessiert sein müsse. Das öffentliche Strafrecht aber griff die Blutrache auf; sie war der neuen Gemeinschaftlichkeit - und dem Eigeninteresse der Führer und Herrscher - offenbar nützlicher als die unauffälligere Sühnezahlung. In die Blutrache immerhin kam auf diese 77 Aufs Ganze gesehen, war den Homerischen "Helden" der Totschlag' aus Rache aber wohl mehr wert als die Versöhnung. Vgl. Finley (Fn. 74), S. 123 f. 78 Zitiert aus der Ausgabe von Leo Winter (Goldmann Taschenbuch 521/22).
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Weise Vielfalt und System: also Kultur. Nicht auf jede unrechte (aggressiv stimmende) Tat hin wurde sogleich der radikalste, der tödliche Gegenschlag geduldet oder vielmehr vorgeschrieben. Geringere, überlebbare Strafen - der Dieb wird nicht getötet, ihm wird "nur" die stehlende Hand abgeschlagen - erfand das Strafrecht, ohne dabei sein Wesen, blutige Rache, zu verlieren. Die Vereinigung der oikoi zur polis ließe sich als ein Stück Genesis des Strafrechts beschreiben. Denn sie folgt einem allgemeineren Entwicklungsmuster, für das es vielfältige Belege gibt79 • Auch das rachsüchtige Zeitalter des Odysseus war keine einmalige Erscheinung der Weltgeschichte; man darf es exemplarisch, modellhaft nehmen für ein entsprechend frühes Befinden vieler Kulturen. Wobei das "früh" die Wertung eines Fortschrittsglaubens darstellt, dem der historische Stoff prompt auch Diskontinuität entgegensetzt. So sind die oikoi zu Odysseus Zeiten nicht nur Bausteine für einen kommenden höheren Organisationsgrad; sie sind auch Reste und Trümmer integrierter Gemeinwesen, die - wie Mykene - um 1200 v. u. Z. untergegangen waren80 • Zur Entstehungsgeschichte des Strafrechts gibt es eine besonders lesenswerte literarische Quelle, und an sie wird das weitere Nachdenken (dem es gerade auf "Wesenszüge" ankommt) sich halten. Es geht um die Bibel, genau: das Zweite bis Fünfte Buch Mose. Ein Text, der die Begründung einer Gemeinschaft durch Gesetze spiegelt. Der Ausdruck ,Verstaatung' wäre dafür, vor den Maßstäben heutiger Staatslehre, zu hoch gegriffen, wenngleich er deutlicher das Wesentliche anzeigen würde: ein Sozialgebilde kommt auf, das Handlungssouveränität von seinen Elementen abzieht, auf sich zieht. Während der vierzig Jahre dauernden Wanderschaft von Ägypten aus ins "Gelobte Land" wird in kritischen Situationen, gegen zentrifugale, die Einheit sprengende Vorfälle immer wieder das Gesetz Jahwes aufgeboten: das "Volk Israel" verfaßt sich. Es konsolidiert sich per Kodifikation. Derart als Darstellung eines einzigen soziologischen Vorgangs von großer Dichte gelesen, sind die mosaischen Kapitel allerdings "historisch mißverstanden". Sie versammeln in sich Schichten mehrerer, wenn auch gleichartiger Ereignisse (wie der Ort Troja als Abschichtung mehrerer, aufeinander gebauter Siedlungen existiert. So liefern sie eine gesicherte Idealtypologie archaischer Gemeinschaftsbildung. Was man späterhin "Staatsgewalt" nennen wird, fängt an mit dem Aufbau des Richtertums. Zunächst wenden Streitende sich an Moses, erbitten seinen Spruch. Die Anforderung, jeden Streit zu entscheiden, wäre zu groß; deshalb setzt Moses (auf den Rat seines Schwiegervaters hin) "redliche Leute" als Unter-Richter ein, behält sich nur die "großen Sachen" vor (2 Mose 18, 15 - 25). Eine Vielzahl an Richtern aber läßt die 79 Dazu Seagle (Fn. 73), S. 93 ff. (über die Anfänge des Rechts) und 153 ff. (über archaische Gesetzbücher). 80 Finley (Fn. 74), S. 81. Wer sich mit der Erscheinung von Abbruch und Umbruch bei dennoch wirksamer geschichtlicher Identität beschäftigen möchte, lese zur Klärung der Kategorien sowie zum Verständnis eines wichtigen Beispiels: Christian Meier, Kontinuität/Diskontinuität im übergang von der Antike zum Mittelalter, in: Hans TTÜmpy (ed.), Kontinuität/Diskontinuität in den Geisteswissenschaften, 1973, S. 53 - 94.
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Einheitlichkeit der Rechtsprechung zum Problem werden, zumal das Volk keine richterliche Willkür, den Spruch um des Spruchs und Friedens willen verlangt, sondern daß ihm in den Entscheiden "Gottes Rechte und seine Gesetze" gezeigt werden (aaO., Vers 16). Das Volk verlangt "gleiches", das heißt sich wiederholendes, gleichbleib endes, absehbares Recht; Recht, das im neuen Streit den Gegner nicht günstiger stellt, als bisher üblich war. (Gerechtigkeit: eine Funktion des Neids?) Gesetzgebung ist fällig. Sie beginnt mit den "Zehn Geboten", die Moses von Jahwe "empfängt" und an das Volk weitergibt. Es handelt sich um ein Grundgesetz, das zum einen die religiöse Basis der Gemeinschaft sichern soll, zum anderen im Umgang zwischen den Menschen verbietet, was erfahrungsgemäß Zwietracht sät. Du sollst nicht töten, ehebrechen, stehlen, verleumden ... Die Verbote wiederum führen zur (noch immer gültigen) Syntax jedes Strafgesetzes. Denn wie ist auf Verstöße zu reagieren, und zwar dem allgemeinsten Verbotszweck entsprechend, in einer die Gemeinschaft affirmierenden Weise? Zahlreiche Vorschriften im Gefolge der Zehn Gebote halten die Antworten bereit. (5) Es sind jÜdische Familien, die aus der ägyptischen Diaspora ("Zerstreuung") aufbrechen; für ihre Vereinigung wirken von vornherein drei Gründe zusammen. Stärkste einigende Kraft ist die Religion. Der Glaube an Jahwe hatte die "Kinder Israels" von den Ägyptern unterschieden und ihre Identität hergestellt, die zum Selbstverständnis wuchs, das von Gott "auserwählte" Volk zu sein (2 Mose 19, 6; 5 Mose 7, 6). Daß die Religion als integrierendes Moment erkannt und von Führern bewußt eingesetzt wurde, bezeugen die biblischen Berichte ebenso wie die Verordnung des Monotheismus ("Du sollst keine anderen Götter neben mir haben!") und die große Zahl der Kultvorschriften. Gelegentlicher Abfall von Jahwe, die Hinwendung zur Vielgötterei, verursacht schon während der Wanderjahre und mehr noch in folgenden Jahrhunderten Krisen - oder wird zum Vorwand genommen, Unglück, das über die Gemeinschaft hereinbrach, zu erklären. Die Wiederbesinnung auf die Religion der Väter, förmlich veranstaltet als erneute Verkündung und Beschwörung der Gesetze, soll dann jeweils Heilmittel sein. Das zweite Moment, das zum Exodus aus Ägypten eint, ist die Aussicht auf ein alle interessierendes Ziel: Man werde ein Land erreichen, "darin Milch und Honig fließt" (2 Mose 3, 8). Einend wirkt schließlich während des langen Marsches die charismatische Führerfigur Moses. In späteren Zeiten gehört die Erinnerung an den Mann, der die Worte Jahwes übermittelt habe, zur Veranstaltung jüdischen Grundkonsenses. Die Bücher Mose sind überladen mit Sätzen, von denen es jeweils heißt, lIder Herr" habe also gesprochen. Unterstellt man Mose(s) als historische Person und den Auszug aus Ägypten als historisches Ereignis (die Beweise für bei des sind dürftig), dann wäre dieser Exodus um 1300 v. u. Z. zu datieren. Gesetzgebung als bewußte Maßnahme hätte damals erst Rudimente der "Mosaischen Gesetze" zustande gebracht: Vorschriften, die das wandernde Volk unter seinen faktischen Lebensbedingungen benötigte. Viele Normen, die den Kult oder den Ackerbau betreffen, setzen bereits andere Lebens-
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verhältnisse voraus. Ein erster Normenbestand ist immerhin als Grundlage denkbar, aus welcher später die Herrscher Israels Rechtsinhalte und, vor allem, die Legitimation für ihre eigene Gesetzgebung bezogen. In "das Gesetzbuch" wurden, um der Legitimation willen, Fortbildungen des längst praktizierten Rechts ebenso wie Ergänzungen und Neubildungen interpoliert, eingestellt; dabei war man gegen Widersprüche nicht weiter empfindlich. Es waren auch immer wesensgleiche Situationen, in denen "das Gesetz" feierlich beschworen wurde: Bekräftigung der Einheit und der ihr dienenden Zentralgewalt (des rudimentären "Staates") war fällig. "Der Bund" wurde gegründet oder erneuert. Eine Kodifikation des mosaischen Rechts - Gesetzgebung oder zumindest Gesetzessammlung als künstlichen, öffentlichen Akt, als Demonstration besorgte König Josia um 620 v. u. Z. Der Hohepriester Hilkia "findet" in einem hinteren Zimmer des Tempels "das Gesetzbuch" - es war wohl verschollen (2 Könige 22, 8; 2 Chronik 34, 15). Auf königliches Geheiß hin wird der "Fund" dem Volk vorgelesen, Wort für Wort, dann aber sogleich gegen Abweichler (gegen "Götzenpfaffen" und "Hurer") gnadenlos exekutiert (2 Könige 23). Verkündet wurde damals weder der ganze, heute bekannte Gesetzestext, noch darf man annehmen, daß eine von Grund auf neuartige Rechtsordnung das Volk überraschte. "Wiederentdeckt" wurden die Niederschriften; die Rechtsinhalte waren traditionell. Sie waren praktiziert worden, wenn auch nicht hinreichend getreulich. Abweichungen im religiösen Bereich provozierten, neben politischen Gründen, die "Auffindung" der "reinen" Vorschrift, der dann vermutlich manches aktuell Erwünschte beigemengt wurde. Niederschrift und Verkündung schienen dem König und seiner Priesterschaft jedenfalls notwendig zur Festigung der Herrschaft und, korrespondierend, zur Erneuerung des "Bundes" (zur Bewältigung einer Krise; zur Rettung des gesellschaftlichen Grundkonsenses). Bald nach Josias Tod geriet das Reich Juda in Abhängigkeit von BabyIon. Befreiungsversuche scheiterten; Nebokadnezar ließ Jerusalem zerstören, die Israeliten wurden in die babylonische Gefangenschaft verschleppt (587 v. u. Z.; 2 Könige 24 und 25 erzählt davon). Die Perser unter König Kyros eroberten BabyIon im Jahr 538 v. u. Z. und gestatteten den Juden die Heimkehr; doch die Rücksiedlung und der Wiederaufbau Jerusalems wurden zur langwierigen Unternehmung. (Die Bücher Esra und Nehemia berichten Einzelheiten.) Der Priester Esra und der Landpfleger Nehemia, beide von den Persern eingesetzt, können schließlich um 445 v. u. Z. zur Neukonstituierung schreitenBI: Wieder "versammelte sich das ganze Volk wie ein Mann ... und (sie) sprachen zu Esra, dem Schriftgelehrten, daß er das Buch des Gesetzes Mose holte ... Und Esra tat das Buch auf vor dem ganzen Volk", und die Leviten verlassen es. "Und in diesem allem machen wir einen festen Bund ..." (Nehemia 8 und 10). (6) Der Dekalog schreibt vor: "Du sollst nicht töten." Die Fortsetzung des Rechts, die fällig ist, wenn das Verbot mißachtet wurde, heißt: "Blutrache". Trotzdem ist alles ganz anders als in der strafrechtlosen Welt des Odysseus. Allein schon die Existenz der Folgenregel bedeutet, daß einer Familie die (historisch angewachsene) Entscheidungsfreiheit über Rache oder 81
Zur "Abrechnung" mit Esra, dem Schlußredaktor der Bücher Mose:
Ernst Bloch, Atheismus im Christentum (Gesamtausgabe Bd. 14), S. 101 - 111.
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Sühnezahlung entzogen ist. Selbst wenn man wählen dürfte, wäre diese Wahl dem Gesetz zu verdanken. Tatsächlich aber hat das Gesetz die vormalige Freiheit genommen: "Und ihr sollt keine Versühnung nehmen für die Seele des Totschlägers; denn er ist des Todes schuldig, und er soll des Todes sterben" (4 Mose 35, 31). Blutrache ist verordnet, und der "Rächer des Blutes soll den Totschläger zum Tode bringen; wo er ihm begegnet, soll er ihn töten" (aaO. Vers 19). Dieser Satz, der für sich genommen ein Freibrief für den Rächer wäre, wird aber sogleich eingeschränkt: Sterben soll, wer seinem Opfer "nachgestellt", es "mit List erwürgt" hat; wer "aus Feindschaft" zuschlug; nicht jedoch, wer die Tat "ungefähr" beging, etwa "unversehens" einen Stein warf, unachtsam einen Baum fällte ... (2 Mose 21, 12 -14; 4 Mose 35, 20 - 23; 5 Mose 19,4 f., 11). Das Gesetz führt die Unterscheidung zwischen vorsätzlicher und fahrlässiger Tat ein, um die Rache seltener zu machen. Dem Fahrlässigen öffnet es (aaO.) einen Rettungsweg. Weder darf ein Rächer zurückschlagen, noch ist Wergeld zu leisten; der Täter darf in eine "Freistadt" fliehen (drei "Städte" im Lande mußten hierzu bestimmt werden). Dort muß der Flüchtige ausharren bis zum Tod des amtierenden Hohenpriesters; danach möge er unbehelligt "zum Lande seines Erbguts" zurückkehren. Die folgenschwere Zweiteilung wäre leicht zu hintergehen, wenn der Rächer zugleich und allein der Richter sein dürfte. (Anders gesagt: wenn es zwar materielles Strafrecht gäbe, seine Verbote, Gestattungen und Verpflichtungen, ein Prozeßrecht jedoch, das Gesetzestreue verbürgen soll, fehlen würde.) Dem Urteil des Rächers mißtraut bereits die Bibel. Zumindest für den Fall, daß Fahrlässigkeit sich vermuten läßt, verweist sie auf den Prozeßweg. Dann nämlich "soll die Gemeinde richten zwischen dem, der geschlagen hat, und dem Rächer des Bluts" (4 Mose 35, 24). Der todbringende Schuldspruch hängt ab vom "Mund zweier Zeugen" (ebenda, Vers 30); mindestens zwei Zeugen müssen Indizien für eine Meintat bekunden. Die Erlaubnis an den Rächer, den Totschläger zu töten, "wo er ihm begegnet": diesen weitgefaßten Wortlaut schränkt der rechtliche Kontext letztlich auf eine Tatsituation ein. Wer den Täter auf frischer Tat antrifft und zwei Zeugen für die Vorsätzlichkeit bei sich hat, der nehme Rache. Jeder andere Racheschlag aber wäre allzu riskant: dem ungedeckten Rächer droht, als Totschläger verfolgt zu werden. Einen Rest von Privatheit behält der Racheakt für Totschlag. Veröffentlicht ist die Entscheidung zur Rache, sie entspringt aus dem Gesetz und aus dem Urteil der richtenden "Gemeinde"; doch die Vollstreckung des Urteils liegt bei der Familie des Opfers. Vollständig öffentliche Sache ist die Rechtsanwendung hingegen, wenn die Tat ein ganz und gar öffentliches, gemeinschaftliches Gut angreift. So etwa die Abkehr
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von Jahwe, die Verehrung anderer Götter: dergleichen Unrecht bedroht die ideologische Grundlage des Gemeinwesens, die Bestrafung ist also dessen Angelegenheit. Im einfachsten Verständnis bedeutet die öffentliche Sphäre eine Aktion aller Bürger; entsprechend wird die Todesstrafe gegen Götzendiener vollstreckt. Schon die Art der Strafe ist auf Allgemeinheit zugeschnitten: Steinigung schreibt das Gesetz vor. Verurteilt wird der Täter auf die Aussage von zwei oder drei Zeugen hin; sie, zu Förderern des Rechts geworden, leiten auch die Hinrichtung ein: "Die Hand der Zeugen soll die erste sein, ihn (den Abtrünnigen) zu töten, und darnach die Hand alles Volks ..." (5 Mose 17,2 -7). - Daß zum Richter über den Totschlag "die Gemeinde" bestellt ist, liegt im Sinn sich affirmierender Gesellschaft. Moses freilich war anders verfahren, er hatte der Gemeinde ihre Richter vorgesetzt. (Eine Konkurrenz der Möglichkeiten, die politischen Konfliktstoff enthält.) "Richter und Amtleute" zu bestellen, auf "daß sie das Volk richten mit rechtem Gericht", ordnet dann auch Jahwe - ordnen Gesetzgeber über ihren Recht-fertiger Jahwe - an späterer Stelle an (5 Mose 16, 18). Und "wenn eine Sache vor Gericht dir zu schwer sein wird", egal worum der Streit gehen mag, um Blut, Handel oder Schaden, "so sollst du dich aufmachen und hinaufgehen ... zu den Priestern .. ."; sie werden das Urteil sprechen (5 Mose 17, 8 - 12). Wie zunächst Moses sich die "großen Sachen" zur Entscheidung vorbehalten hatte, so folgt ein oberstes Gericht der Priester ihm in der Herrschaft nach. (Vermutlich hat Esra diese Einrichtung geschaffen.) Recht erweist sich als Medium der Gemeinschaft wie der Herrschaft. Für beide Funktionen sichert es sich auch gleichermaßen ab: "Und wo jemand vermessen handeln würde, dalLer. dem Priester nicht gehorchte, ... oder dem Richter, der soll sterben." Die Veranstaltung der Rache (auch Ungehorsam stimmt aggressiv) baut sich aus. Der Strafrechtsbetrieb macht einerseits Taten überlebbar, die sonst den Tod einbringen konnten; andererseits meldet er seinen eigenen Blutzoll an. (7) Die Tendenz für die Weiterbildung des Rechts liegt klar zutage; im Prinzip bleibt nicht mehr viel zu tun. Relikte des Privaten werden vom "öffentlichen Interesse" absorbiert werden: dem Rächer wird der Henker folgen, zuletzt dem Kläger (oder Denunzianten) der öffentliche Ankläger. Das Öffentliche wird sich zum Staatsapparat verfestigen. Todesstrafe ist verwaltete Blutrache. Res publica, öffentliche Sache, ist das Verfahren gegen Jesus von Nazareth; ein Prozeß, bei welchem römisches Besatzungsrecht die traditionelle = mosaische Ordnung allerdings überlagert. Personal des Tempels nimmt die Verhaftung vor (Markus 14, 43). Der Angeklagte wird vor den Hohen Rat gezerrt; das Gericht hört Zeugen, der Hohepriester vernimmt J esus zu den Anschuldigungen. Da J esus bekennt,
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"der Sohn des Hochgelobten" zu sein, wird er wegen Gotteslästerung zum Tode verurteilt (Markus 14, 56 - 64). Nach älterem Recht hätte das Volk nun den Delinquenten zu steinigen. Doch die Vollstreckung unterbleibt, der Verurteilte wird statt dessen der römischen Behörde überstellt und eines Verbrechens von offenbar politischer Bedeutung angeklagt: Er trete als "König der Juden" auf. Pilatus spricht, auf Drängen der Priester und "des Volkes", das zweite Todesurteil (Markus 15, 1 - 3 und 15). "Kriegsknechte" - römische oder einheimische?; jedenfalls "Staatsorgane" - führen die Hinrichtung aus (Markus 15, 16 - 24). b) Das Paradigma Kain
(1) In Jahwe spiegelten Gesetzgeber ihre Vorschriften um der Legitimation willen. Aber die Mythen sind noch reicher an Reflexion; Menschen haben darin vielfältige Möglichkeiten überdacht, ebenso auch Unmögliches, dessen sie gerne mächtig oder gewiß geworden wären ... Im Mythos erscheint frühzeitig die unblutige Vergeltung. Jahwe übt sie an Kain, dem Brudermörder aus Neid (1 Mose 4, 8 -16). Die Tat des Kain wird nicht, wie dieser selbst befürchtet, mit dem Tode bestraft. Das Kainszeichen, das den Täter erkennbar macht, also brandmarkt, soll zugleich nach Art eines Schutzbriefs Rächer abhalten. Die Strafe besteht in Flucht und Not: "Wenn du den Acker bauen wirst, soll er dir fortan sein Vermögen nicht geben. Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden." (2) Vergleichbar fällt die Rache der Erinyes aus, der Rachegöttinnen in der griechischen Mythologie. Erinys war nach ursprünglicher Vorstellung die Seele des getöteten Menschen, die sich ihre Rache selbst nahm, wo der lebende Rächer fehlte oder versagte. Statt als "Schatten" (als psyche) in der trostlosen Öde des Hades dahinzukümmern, suchte sie den Täter quälend heim, erschien ihm im Angsttraum, wurde zur schlimmen Begleiterin seiner Flucht vor dem Bluträcher. Welt-Anschauung, die mythologisch gewonnen wurde (Abstraktes personifiziert zu erfassen, ist für sie kennzeichnend), faßte den unseligen Zustand des Täters in die Gestalt einer Göttin, begriff ihn so; und theogonia, die Abstammungskunde von Göttern, fabulierte daraus ein wildes Dreigestirn. Die Göttinnen verfolgen ihr Opfer überallhin, quälen es durch ihren Anblick, der gräßlich ist, in den Wahnsinn treiben kann: drohend ihre Fackeln schwingend, tauchen die Furien aus der Erde auf, Schlangen züngeln über ihren verzerrten Fratzen. Einem wüsten Verbrechen verdanken sie ihre Existenz überhaupt. Mutter Erde hatte ihre Söhne angestiftet, Uranos, den Gatten und Vater, zu entmannen; Sohn Kronos ("Krähe") führte die steinerne Sichel, aus dem Blut des Geschändeten gingen die drei schrecklichen Töchter hervor. Ausgeburten einer Scheuß15 Gast
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lichkeit, die es auf sich nehmen, leibhaftige Werkzeuge einer doch ganz andersartigen, unblutigen - subtileren - Vergeltung zu sein: sie begründen eine zur Blutrache wie zum Wergeld alternative Lösung. Ihr Vergelten vollzieht sich dauernd und unentrinnbar: im gepeinigten Leben des Flüchtigen. Im Gewissensbiß. In Erinnerungen an den verlorenen oikos, die auf alle Versuche eines "neuen Lebens" ihren Schatten werfen ...82. Prominenter Verfolgter der Erinyes war Orestes, Sohn des Agamemnon und der Klytaimnestra. - Während Agamemnon sich am Raub- und Rachezug gegen Troja beteiligt, wird seine Frau Geliebte des Aigisthos. Den zurückgekehrten Gatten tötet sie: eine Tat, die mit dem Anspruch ausgeführt wird, Rache für früher erlittene Unbill zu sein, nach vorrechtlicher Denkweise jedoch ihrerseits den Rächer anzieht. Orestes, auch er aus der Fremde zurückkehrend, erschlägt die Mutter und ihren Geliebten. Die Erinyes nehmen die Verfolgung des Muttermörders auf (wogegen der Tat an Aigisthos Nachsicht widerfährt; das Tabu, das die Göttinnen zu dieser Zeit bewehren, schützt den Usurpator wohl nicht). Orest flieht, hetzt durch das Land, gejagt von den schrecklichen Erscheinungen - befreien könnte ihn davon nur ein Erlöser, der die Tat verzeiht. Ein Gott also, stärker als die Furien, denen er zu gebieten vermöchte. Im Heiligtum zu Delphi findet Orest den "Entsühner": Apollon. Im Zeitkontext von Ilias und Odyssee wäre der Fall damit zu Ende; aber nicht so bei Aischylos, der ihn zur Tragödie ausformte. Als die Orestie im Jahr 458 v. u. Z. in Athen uraufgeführt wurde, hatte sich dort längst ein Gerichtshof etabliert, der Areopag. So muß denn Orest von Delphi aus noch bis Athen ziehen, um dort den "weltlichen" Freispruch zu erlangen. Das Gericht, von Athene einberufen, gewährt ihn nach langer Verhandlung mit einer Stimme Mehrheit: der Stimme der Stadtgöttin selbst. Die unterlegenen Erinyes verwandelt Athene zu "Eumeniden" ("Wohlgesinnten"); ein vielsagender Vorgang, wenn man bedenkt, daß die umgetauften Rächerinnen am Fuß des Gerichtshügels ihr Heiligtum erhielten:-Wurden sie als Schützerinnen des Lebens verehrt (Furcht vor ihnen verhindere viele Taten)? Oder schmückte das Gericht, das zum Herrn über die Rache geworden war, sich mit dem schöneren Titel wie mit einer verklärenden Fassade ... ? (3) Jahwes Nachsicht mit Kain und die Unnachsichtigkeit der Erinyes: beides könnte von derselben Suche nach neuen Dimensionen des Menschlichen zeugen. Das menschliche Leben will sich der Vernichtung entziehen, es heiligt, tabuisiert sich. Dieses Leben gespendet zu haben, gilt als höchste Leistung der Gottheit (1 Mose 1, 26 - 28). Der Verbrecher, der Leben zerstört, zieht ein schlimmes Schicksal auf sich, das er erleben muß. Vergeltung soll sich dem Leben immanent gestalten. Die 82 Die antike Götter- und Heldenwelt, ihre archetypischen und exemplarischen Figuren und Situationen haben vielfältigen Erkenntniswert; vgl. Robert v. Ranke-Graves, Griechische Mythologie, Quellen und Deutung, 2 Bde. (rowohlts deutsche enzyklopädie 113 - 116). Die Mythen sind dort dargestellt und zugleich auf historische Ereignisse geprüft, die sie (möglicherweise) spiegeln. - Als Nachschlagewerk: Herbert Hunger, Lexikon der griechischen und römischen Mythologie (Rowohlts Taschenbuch 6178).
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dahin entwickelte Humanität ist offenbar nicht einfach zu gewähren; deshalb bleibt sie bei Jahwe exklusiv, schreibt derselbe Gott seinem Volk zu so vielen Taten die Todesstrafe vor. (Der Rückzug in die "Freistadt" ist mit dem Schicksal Kains nicht zu vergleichen. Er war bei fahrlässiger Tötung eröffnet, Kain aber mordete vorsätzlich und aus übelster Gesinnung.) Anderwärts freilich ging auch "irdische Gerechtigkeit" zeitweilig auf das Angebot der Erinyen ein. In der polis und im republikanischen Rom durften Mörder wählen zwischen dem Exil und dem Gerichtsverfahren, das (wenn keine Gottheit rettend eingriff) mit dem Todesurteil endete 83 • Daß die Wahl leicht gefallen wäre, der Täter billig davonkommen konnte, darf man nicht annehmen; das Exil war ein hartes Los, im Glücksfall das hoffnungslose, umhergestoßene Leben des thes 8 4, öfter aber tödliche Einsamkeit. Es sei denn, der Exilierte machte als Brigant sein neu es Glück, gleich dem Flüchtling aus Argos, Odyssee 15, 223 - 242: eine aristokratische, doch keine typische Laufbahn für einen flüchtigen Totschläger. Die Orestie des Aischylos feiert den Sieg über die Erinyes als Sieg des (Straf-)Rechts über die maßlose Rache 85 • (Nebenbei: Sie feiert auch den Sieg des Patriarchats über die Mütter. Sie stellt die Frage, welches Unrecht schwerer wiege: der Gattenmord, den Klytaimnestra beging, oder der Mutterrnord durch Orestes. Je nach Antwort war Orest entweder ein rechtens handelnder Rächer, eher schon Strafer, oder ein Verbrecher, der den erinytischen Gegenschlag - oder Krasseres verdiente. Die Erinyes hatten ihre Geschlechtsgenossin verschont, ihr offenbar Recht gegeben. Apollo und die Richter vom Areopag hingegen, unterstützt von Athene (!!), verweisen das weibliche Leben auf den zweiten Rang.) Die Rachegöttinnen also seien rechtlich besiegt worden: dieses Verständnis ist zutreffend, wenn man bedenkt, daß ein förmliches Verfahren Gewißheit, offenkundige Entschiedenheit, eben Rechtssicherheit in die Verhältnisse brachte. Der zweifelhafte Zug dieses Fortschritts aber ist die Strafe, die von nun an Gerichte verhängen werden. Paradigmatisch: Das Hohe Gericht AtheIts tagte auf dem Areios Pagos, dem Hügel des Gottes Ares, des Mörderischen, Blutigen - Kriegsgott (römisch: Mars) war er von Haus aus. (4) Erinytische Auftritte galten dem einmal etablierten Strafbetrieb als ein Greuel, das glücklich überwunden sei; aber solcher Verruf gesteht ein, daß Strafe auch anders sein könnte. Moses überbrachte von J ahwe viele Tötungsgebote; doch auch J ahwes anderer Spruch gegen 83
Seagle (Fn. 73), S. 345.
Zu dessen an Kain erinnernden Status vgl. Finley (Fn. 74), S. 56 ff. Daß die Orestie des Aischylos exemplarisch die "Voraussetzungen rechtlichen Denkens" vorführe, diese Deutung entwickelt Hans-Marnn Pawlowski, Das Studium der Rechtswissenschaft, 1969, S. 197 - 214. 84
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Kain blieb im Gedächtnis, eine vorbereitete Replik. Erinnerungen solcher Art spricht der Eingangssatz zu Adornos "Negativer Dialektik" an: "Philosophie, die einmal verjährt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward." Belebbar zur Rechtspraxis sind allerdings seit jeher nur Gedanken, aus denen man Institutionen zimmern kann. Archaische Gerichtsbarkeit vermochte die Blutrache zu verwalten. Bei Tätern, die sie ins Exil entließ, vertraute sie auf Vergeltungsarbeit der Götter - skeptischer gesehen: der Vergeltungserfolg wurde dem Zufall anvertraut. Recht und Zufall jedoch vertragen sich nicht, jedes Rechtsbedürfnis zielt auf Garantien. Wenn Recht Aggressionen kühlen soll, so muß die Gesellschaft Gewißheit haben, daß dem Täter übles zustößt. Für heutiges Rechtsempfinden wäre die Abschiebung des Totschlägers über die Staatsgrenze wohl eine Beleidigung des Rechts: ein "gutes" Weiterleben scheint allzu leicht möglich. Das erinytische oder kainitische Prinzip müßte, um überhaupt diskutabel zu sein, sich exekutieren lassen, fest in Händen des staatlichen Strafapparats. Aber vielleicht wird es dort schon seit längerem praktiziert: in Form von Gefängnissen. Daß das Strafen zu einer aufwendigen Veranstaltung werden kann, hängt mit der "Logik" der Aggressivität zusammen. Denn das Leid, das einem Aggressor "zum Ausgleich" zugefügt wird, hat jedenfalls eine Bemessungsgrundlage: die ohnehin vorherrschenden Lebensverhältnisse und Lebensmöglichkeiten. Im Vergleich zu ihnen muß die Strafe schmerzlich treffen. Aus dieser Relation sind die Strafarten, ist zumal das drastisch-grausame Strafrecht des europäischen (Spät-)Mittelalters erklärbar - wobei dieses Mittelalter, strafrechtlich gesehen, bis ins 18. Jahrhundert hineinreichte. Man vergegenwärtige sich die Härte der körperlichen Arbeit; die Enge, den Dreck und Gestank der Städte; die ständige, religiös gespiegelte und überhöhte Todesnähe, die Hilflosigkeit gegenüber Krankheiten, Seuchen, Feuersbrünsten ... Auch ohne daß es das bellum omnium contra omnes brauchte, geriet das Leben für allzu viele so, wie Hobbes resümierte: arm, kümmerlich, roh und kurz. Als Revolten in den Städten, später in der Bauernschaft hinzukamen, das Vagapundentum gedieh, schließlich sogar die metaphysischen Existenzgrundlagen wankten, da war, nach verbreitetem Lebensgefühl, schon im normalen Alltag das "Jammertal" vollkommen. Wozu also mußte ein Strafrecht ausholen, um noch Schlimmeres anzurichten! Die Carolina von 1532, die überkommende Strafformen weitergab, liest sich in der Tat weithin wie "ein Lehrbuch des Sadismus" (E. Bloch)86. 8S Bloch, Naturrecht (Fn. 63), S. 278. - Details dieses Strafbetriebs bei: earl Ludwig v. Bar, Geschichte des deutschen Strafrechts und der Strafrechtstheorien, 1882, Neudruck 1974, S. 100 ff., 120 f., 145 ff.; Rudalf His, Geschichte des deutschen Strafrechts bis zur Karolina, 1927, Neudruck 1967,
passim. Eine umfassende Kulturgeschichte der Strafe und ein Archiv der strafrechtlichen Einfälle bietet Hans v. Hentig, Die Strafe, 2 Bde., 1954. Für die rechte Anschauung sorgt der Bildband von Wolfgang Schild, Alte Gerichtsbarkeit, 1981.
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Radikalster Strafsucht genügt unter heutigen Bedingungen der "Tod als solcher". In EIlis, Texas, wird er daher auf dem Niveau gegenwärtiger Hygiene vermittelt: "Der Tod in EIlis soll von anonymer Hand und durch einen langen Schlauch kommen. Drei Ärzte schließen ihn an Behälter mit drei verschiedenen Substanzen an - zwei davon sind harmlos, eine aber ist eine Zyankali-Lösung. Durch eine Kanüle fließt sie in die Armvene des Delinquenten, der angeschnallt auf einem Rollbett liegt." (DER SPIEGEL 9/1980, S. 222.) - Hippokrates im Bündnis mit Bluträchern, diesen den Anblick des Blutes ersparend. Die "saubere" Todesstrafe zeugt von ungebändigter Rachsucht, nur die Methode daran ist auf der Höhe der Zeit. Recht, das die Rache bändigen soll, muß mit anderen Strafen auskommen. Die kainitische, erinytische Lösung also? Wäre schon der gewöhnliche Alltag dem elenden Leben des Mörders Kain gleich, so würde dieses Leben als Strafe nicht ausreichen - die Strafe würde nicht "befriedigen". Aber lebt man, um beim Beispiel EIlis zu bleiben, in Texas so elend? Wenn nicht, dann hat die Kultur des Vergeltens nicht mit der "gesellschaftlichen Entwicklung" Schritt gehalten: ein Stück Wirklichkeit ist archaisch geblieben. Schlimmer noch: es ist durch die Diskrepanz barbarisch maßlos geworden. Den kargen und mühevollen Arbeitstag des Kain, dazu seelische Drangsal, wie die Erinyen sie symbolisieren: beides weiß ein eingerichteter Strafbetrieb sicherlich zu verwirklichen. Auch dem Wesen des Racheschlags bleibt die unblutige Variante treu, sofern Lebensniveau und Lebensgefühl in der Umwelt nur deutlich "höher" liegen. Der Täter hätte es besser haben können, hätte er nicht alles verwirkt ... Zu ungewiß für das Recht ist lediglich (seit langer Zeit schon) die Freiheit des Exils, mag sie auch Freiheit zum Elend sein. Den Zwang der Gefangenschaft muß das Strafrecht mit sich bringen. Da es auch so seit der Antike verfährt, liegt der Versuch nahe, die Geschichte der Freiheitsstrafe als eine Geschichte Kains und der Erinyes zu rekonstruieren. (5) Erste Indizien (mehr ist hier nicht zu sichten) lassen vermuten, daß überhaupt nur ein Nebenschauplatz der Rechtsgeschichte angesprochen ist. Die Hauptrolle in der Geschichte des Strafrechts hat offenkundig das andere, das bluträcherische Vergelten gespielt. Der Rachegedanke, wie er durch alle Zeiten bewußt gepflegt worden ist, als Theorie des Strafrechts eingekleidet: er orientierte sich überwiegend blutrünstig. Jahwes Tötungsgebote, nicht sein eigenes Verhalten gegenüber Kain, waren der abendländischen Rechtssuche willkommen. Für Fälle, in denen das Recht leben ließ, brachte es die verstümmelnden Leibesstrafen. (Schon der Codex Harnrnurabi, um 1750 oder 1700 v. u. Z., verordnete in BabyIon Amputationen oder Blendung. Das christlichabendländische Strafrecht bewies darin ebenso großen Einfallsreichtum wie in seinen Foltermethoden.) Soweit aber doch Freiheitsstrafen aufkamen, waren sie bis ins 19. Jahrhundert kaum mehr als Reflexe oder Anhängsel des ökonomischen Systems und dort herrschender Interessen.
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Die römische Republik verurteilte Straftäter ad metalla: die Arbeit in den Bergwerken war allzu mörderisch und die Sklavenpreise waren zu hoch - auf dem Rechtsweg kam der nötige Nachschub billiger87 • ("Vernichtung durch Arbeit" hieß eine entsprechende Maxime in nazistischen Konzentrationslagern.) Den wüsten Strafbetrieb ihrer Zeit durchbrach im Jahr 1595 die erste Zuchthausgründung zu Amsterdam. Nicht die Verwahrung bis zum Gerichtsurteil oder Verwahrung zur Hinrichtung, die Aufgaben lange schon bestehender Kerker, oblagen der neuen Anstalt; nun vielmehr mußten die Häftlinge zur Strafe arbeiten. Die Neuerung war revolutionär, und dem Rückblick mag es scheinen, als sei dank jäher Erleuchtung das Strafrecht erstmals "auf die sittliche Natur des Menschen gegründet" worden 88• Doch abgesehen davon, daß Amsterdam eine prosperierende Stadt war und Blochs Verdacht zutreffen könnte, das Zuchthaus sei in dem Augenblick erfunden worden, da es "rentabler als der Galgen" wurde 89 : Kains Leben gab gerade nicht das Vorbild ab. Schon deshalb nicht, weil auf Kapitalverbrechen weiterhin die Todesstrafe stand. (Sie stand auch lange noch auf Bagatellen, wurde dort zuletzt aus Gründen der Rechtserhaltung reformiert: wo Gerichte sie für maßlos hielten, drohte die Ahndung von Vergehen zu entfallen90 .) Dem Exempel, das Jahwe an Kain statuierte, kamen schließlich am ehesten Gerichtsherren nahe, die Todesurteile zu Deportation in eine Strafkolonie umwandeln konnten. Zu Verbannung nach Sibirien etwa, die unter Peter "dem Großen" im frühen 18. Jahrhundert begann - eine Gnade aus siedlungspolitischer Absicht91 • (6) Der Blutrache abgeschworen hat eine Rechtsordnung erst von dem Augenblick an, da sie die Todesstrafe aufgibt. (Verstümmelnde Strafen werden, der geschichtlichen Erfahrung nach, für eine Gesellschaft schon früher unerträglich und durch Freiheitsstrafe abgelöst.) In der deutschen Rechtsgeschichte hat erstmals das Grundgesetz der Bundesrepublik die Reinigung des Rechts vollzogen: "Die Todesstrafe ist abgeschafft" (Art. 102 GG). Die schwersten Verbrechen sind mit langjähriger oder lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht. Gilt also hier87 88 88
Karl Christ, Krise und Untergang der römischen Republik, 1979, S. 84 f. Robert v. Hippel, Deutsches Strafrecht I, 1925, S. 246 f. Bloch, wie Fn. 86. - Es würde sich um eine Quelle der Menschlichkeit
handeln, die auch v. Ihering festgestellt hatte; oben 1. Kap. V 2 b. 90 "Im Jahre 1839 richteten nicht weniger als 1000 Bankleute eine Petition an das (englische) Unterhaus, in der sie um Abschaffung der Todesstrafe für Urkundenfälschung baten. Der eigentliche Grund für diese Petition war selbstverständlich der, daß es angesichts einer so harten unzeitgemäßen absoluten Strafdrohung schwierig geworden war, überhaupt eine Verurteilung eines Delinquenten zu erreichen." - Seagle (Fn. 73), S. 363. 91 Vg!. Hans v. Rimscha, Geschichte Rußlands, 2. Auf!. 1970, S. 299, 369, 396,463,505 und öfter.
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zulande das Paradigma Kain endlich; werden die Erinyen, vormals Göttinnen, dann ideologisches Blendwerk vor dem Blutgericht ("Eumeniden"), nunmehr staatlich betrieben? Ein Kompendium, mit dessen Hilfe man über diese Frage nachdenken kann, hat das Bundesverfassungsgericht angefertigt. (Zu finden in der amtlichen Entscheidungssammlung BVerfGE Bd. 45, S. 187 - 271.) Das Gericht mußte entscheiden, ob lebenslanger Freiheitsentzug mit den Grundrechten des Mörders (zumal mit dem Würde-Prinzip) zu vereinbaren sei. Seinen Spruch - die Höchststrafe sei verfassungs gemäß , jedenfalls sei sie verfassungskonform vollziehbar - begründet das Gericht mit überlegungen zum Strafzweck und mit Studien über den Einfluß des Strafvollzugs auf die Persönlichkeit des Häftlings. Was Sinn und Zweck der Strafe angeht, so hat das Recht sich offenbar viel vorgenommen: "Schuldausgleich, Prävention, Resozialisierung des Täters, Sühne und Vergeltung des Unrechts", all dies werde angestrebt, auch gegenüber dem Mörder (S. 253 f.). Ein Konglomerat der Zwecke, das gleichwohl ein folgerichtiges Programm ergibt? Vergeltung ist darin enthalten, und die Verfassungsrichter bestätigen ihr Notwendigkeit (S. 254); das Vergeltungserlebnis ist dem Mörder also unbedingt zu bereiten. Nur darf es nicht so hoffnungsleer geraten wie einst für Kain oder für erinytisch Verfolgte, die normalerweise erst der Tod aus ihrer Mühsal befreite. Die Chance, ins freie Leben zurückzukehren, müsse auch dem Mörder verbleiben; auch er sei zu re-sozialisieren (S. 238 f.). Tatsächlich läßt die Begnadigungspraxis in der Bundesrepublik das "Lebenslänglich" endlich werden, wenn auch nicht vorausberechenbar. (Die "durchschnittliche Verbüßungsdauer" beträgt rund 20 Jahre, aber die Grenzwerte liegen unter 10 Jahren und höher als 30 Jahre; S. 203 f.) Mit Rücksicht darauf sei der Strafvollzug nicht bloß "Verwahrvollzug", sondern zugleich ein "Behandlungsvollzug" (S. 230). Verwahrung allein wäre allerdings auch nicht kainhaft, nicht erinytisch. "Behandlung", die in der Zuweisung anstrengender Arbeit, in strenger Beschränkung der Genüsse, in Gelegenheiten zur Trauerarbeit, zur Reue, zu Anflügen von Verzweiflung und zu rettender Selbstbesinnung besteht: erst sie hätte das mythologische Niveau. Um den "Behandlungs"erfolg des deutschen Strafvollzugs wird gestritten, die zitierte Entscheidung dokumentiert die Auseinandersetzungen. Streit gibt es vor allem über die Lebenstüchtigkeit nach der Freilassung. "Sozialtüchtig" seien die meisten Langzeithäftlinge geblieben, manche seien es durch die Haft geworden. Replik: Sie seien "sozialtüchtig" als Stillgestellte; aus Resignation, Kraftlosigkeit ... Diese Perspektive des Streits, die Maßgeblichkeit der Freiheit-danach aber bedeutet doch (wieder): ein Verdrängen oder Vergessen der Götter.
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3. Kap.: Recht auf Unrecht hin (Strafrecht)
Oder wird derzeit das göttliche Vergelten endlich zu Recht besserem Recht - überwunden, in mühsamen Lernprozessen?
hin zu
(7) "Denn daß der Mensch erlöst werde von der Rache: das ist mir die Brücke zur höchsten Hoffnung und ein Regenbogen nach langen Unwettern." - Also sprach Nietzsches Zarathustra92 • Man wird sehen, wohin solche Hoffnung inzwischen vorangekommen ist (unten IV: "Bessere Gründe?"). In welchen Theorien sie sich präziser faßt, welche Praxis sich ihr verdankt. 3. Angeblich logischer Zwang zur Rache: das ius talionis
"Es läßt sich nicht vernünftig bestimmen, noch durch die Anwendung einer aus dem Begriffe herkommenden Bestimmtheit entscheiden, ob für ein Vergehen eine Leibesstrafe von vierzig Streichen oder von vierzig weniger eins, noch ob eine Geldstrafe von fünf Thalern oder aber von vier Thalern und drei und zwanzig u. s. f. Groschen, noch ob eine Gefängnißstrafe von einem Jahre oder von dreihundert und vier und sechzig u. 5. f. oder von einem Jahre und einem, zwei oder drei Tagen, das Gerechte sey. Und doch ist schon Ein Streich zuviel, Ein Thaler oder Ein Groschen, Eine Woche, Ein Tag Gefängniß zu viel oder zu wenig eine Ungerechtigkeit." - Hegel, Rechtsphilosophie, § 214. Hegel verneint, daß man Art und Höhe der Strafe aus sicheren Begriffen ableiten könne (- was nicht ausschließt, die Falschheit eines Fehlurteils zu bemerken). Seine eigene Regel, wonach das Negativum Unrecht durch ein zweites Negatives zu negieren sei, ist ihm also zu unbestimmt für exakte Schlüsse: ein zureichender Grund zwar, der Strafen deckt, aber kein Grundsatz, der sie nennen würde. Aus der theoretischen Unsicherheit rettet der Skeptiker sich ins Pragmatische, in die praktische Notwendigkeit: Das "Interesse der Verwirklichung" gebiete und rechtfertige, "daß überhaupt bestimmt und entschieden sey". Eine Insel im Meer des Ungewissen aber glaubte Hegel entdeckt zu haben: Bei Mord sei die Tat zwingender Maßstab der Vergeltung (Rechtsphilosophie, §§ IOD, 101). Für den Fall des äußersten Unrechts (warum nur dann??) geht Hegel zurück auf das ius talionis, das spiegelnde Recht. Daß den Täter treffe, was er tat: diesen Reflex scheint ein seit langem erkannter (?) Grundsatz der Gerechtigkeit (?) zu fordern. (1) Kein göttliches Maß zwar, doch der Überlieferung zufolge immerhin ein gottgewolltes Maß in Händen der Menschen! Jahwe, der Kain ganz andersartig bestrafte, gab den Seinen eine Arithmetik des Rächens: "Seele um Seele, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, Brand um Brand, Wunde um Wunde, Beule um Beule" (2 Mose 21, 23 ff.). Dem Täter habe zu widerfahren, was er selbst seinem 82 Zweiter Teil, Kap. "Von den Taranteln". Die Giftspinne erscheint in diesem Text als Symbol des Vergelters.
111. Rächendes Recht
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Opfer zufügte: "Und wer seinen Nächsten verletzt, dem soll man tun, wie er getan hat" (3 Mose 24, 19). Warum eigentlich war dies kein strafrechtlicher Stein des Weisen: Rachelust wurde gebändigt und kam doch zu ihrem Recht, und auch das Bedürfnis nach Rationalität - nach strikter Ableitung des Ergebnisses - wurde gestillt!? Mit Akribie haben Gesetzgeber zu verschiedensten Taten die Strafe nach dem Talionsprinzip bemessen. Als Muster an Folgerichtigkeit, wenn es darum geht, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, wird der Codex Hammurabi (niedergeschrieben um 1750 oder 1700 v. u. Z.) gelobt 93 • Tatsächlich streben etliche seiner Vorschriften danach, in der Strafe das Unrechte möglichst getreu zu kopieren. Etwa: Hat ein avilum (wohl: ein freier Bürger) einen Knochen eines anderen avilum gebrochen, so wird dem Täter derselbe Knochen zerbrochen (§ 197). Hat er dem anderen einen Zahn ausgeschlagen, wird sein Zahn ausgeschlagen (§ 200). Den tödlichen Racheschlag rechtfertigt die Talionsidee einzig auf eine Tötung hin, zugleich gibt sie ihm seine "logische" Richtung: Erschlägt ein avilum die Tochter eines anderen avilum, dann wird seine Tochter getötet (§ 210) - der Täter soll genau denselben Kummer erleiden, den er einem anderen Familienoberhaupt zufügte. Errichtet ein Baumeister für einen avilum ein Haus so mangelhaft, daß es einstürzt und den Bauherrn erschlägt, so wird der Baumeister getötet (§ 229). Kommt bei dem Einsturz jedoch der Sohn des Bauherrn ums Leben, dann wird man zur Strafe den Sohn des Baumeisters töten (§ 230). Die talionsgerechte Strafe für Diebstahl sieht 2 Mose 22, 3 vor: "Findet man aber bei ihm (dem Dieb) den Diebstahl (die Beute) lebendig, es sei Ochse, Esel oder Schaf, so soll er's zwiefältig wiedergeben." Zum einen nämlich ist die gestohlene Sache zu restituieren, und zum anderen tut man dem Täter, wie er getan. Die Wiederholung der Tat gegen den Täter gilt als der strafrechtliche Grundgedanke archaischen RechtsD4 • Im Codex Hammurabi findet man penible Anwendungen des Prinzips; die jüngeren Mosaischen Gesetze haben es auf höherer Abstraktionsstufe ausformuliert. Im europäischen Mittelalter diente es als Leitfaden zur Komplettierung und Verfeinerung physischer GrausamkeitU5 • Traditionsgebundenes Recht islamischer Staaten geht von KoransteIlen aus, die das ius talionis lehren und loben, es freilich für dispositiv erklären: Verzeihung und Sühnezahlung 93 Textausgaben: Hugo Gressmann, Altorientalische Texte und Bilder zum Alten Testamente, 1909; Richard Haase, Die keilschriftlichen Rechtssammlungen in deutscher Fassung, 2. Aufl. 1979. - Rechtsgeschichtliche Darstellung: Hans Jochen Boecker, Recht und Gesetz im Alten Testament und im Alten Orient, 1976 (Neukirchener Studienbücher Bd. 10). 84 Seagle (Fn. 73), S. 106, 171 f. '5 v. Bar (Fn. 86), S. 100 f.; His (Fn. 86), S. 73 f., 86 und öfter.
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3. Kap.: Recht auf Unrecht hin (Strafrecht)
sei ebenso (oder noch mehr) gottgefällig (2. Sure, 179 f.; 5. Sure, 46). Am Ende des 18. Jahrhunderts hielt Kant das Talionsprinzip für die "reine und strenge Gerechtigkeit", die letztlich der Täter sich selbst zufüge; denn wer den anderen bestehle, schlage, töte, der bestehle, schlage, töte sich selbst. So widerfahre jedem, "was seine Thaten werth sind"96. Hegels Strafrechtslehre hingegen läßt dem spiegelnden Recht "nur" noch ein Reservat: Bei anderen Taten als bei Mord sei die Spiegelung von äußeren Zufällen abhängig ("Zahn um Zahn" gegen den zahnlosen Schläger??); einzig die Tötung eines Menschen, diese "unendliche" Tat, die alles "Äußerliche" einschließe, könne (dank ihrer "Unendlichkeit") wesensgleich vergolten werden (Rechtsphilosophie, § 101). Wenigstens diese Gelegenheit also gehöre dem spiegelnden Recht; und gerade das extremste Unrecht hätte hiernach seine "vernünftige" Antwort. Die Verfechter der Todesstrafe sehen Tradition und Logik auf ihrer Seite, die Frommen unter ihnen gar das Wort Gottes. (Das nicht nur Fleisch geworden wäre, Johannes 1, 14, sondern auch Fallbeil, Galgen, Garotte, Zyankali ... ) Gegen den Täter, der "Gottes Ebenbild" zerstörte, müsse "in dieser zeitlichen Welt der gefallenen Schöpfung Gottes Zorn vollstreckt und realisiert werden"97. Wie "gefallen" muß indessen auch Er sein, wenn Sein Zorn gegen Seinesgleichen die ungöttliche Lösung begehrt. (2) Gerechtigkeit nach Art des Spiegels: die alten Gesetze haben sie mindestens ebenso oft verfehlt wie verwirklicht. Die biblischen Texte enthalten unter der abstrakten Maxime "Auge um Auge" konkretere Vorschriften, die außerhalb des beschworenen Maßes liegen. In Ham~urabis Gesetz verhält es sich nicht anders. Auffällig ist, wie sehr Recht, statt den einmal gefundenen Maßstab unbedingt anzuwenden, sich entsprechend der sozialen Hierarchie relativierte. Für Handgreiflichkeiten des Abkömmlings gegen die Eltern sieht die biblische Norm die Todesstrafe vor (2 Mose 21, 15). Die Körperverletzung kostet nach babylonischem Codex das Auge oder den Zahn des Täters nur, wenn der Verletzte auf derselben sozialen Stufe steht wie sein Verletzer. Beschädigt ein avilum in der gleichen Weise einen muschkenum (wohl: einen Halbfreien), dann bleibt der Täter unversehrt, das Opfer ist mit Silber zu entschädigen (Codex, §§ 198, 201). Ebenso zahlt ein avilum nicht mit dem Leben seiner Tochter, sondern in Silber, wenn er die Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, B 225 ff. Walter Künneth, in: Todesstrafe? Theologische und juristische Argumente, Heft 24 der Schriftenreihe "Kirche und Volk", 1960, S. 55; insgesamt ein Kompendium der herkömmlichen Argumente pro und contra. Aus der reichhaltigen Literatur zum Thema: Dieter Keller, Die Todesstrafe in kritischer Sicht, 1968; Max Geiger / Hans Saner / Günter Stratenwert, Nein zur Todesstrafe, 1978 (Zeitbuchreihe Polis Bd. 1, Basel). Zur weltweiten Praxis: Amnesty International, Die Todesstrafe (rororo aktuell 4538). 8a
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Tochter eines muschkenum getötet hat (§ 212). Erst recht des Talions unwürdig ist der Sklave, der ja nicht als Mensch, sondern als Sache gilt. Sein Eigentümer erhält Schadenersatz, wenn die Verletzung den Wert des Sklaven mindert (§ 199); für die erschlagene Sklavin zahlt der Täter weniger als für die Tochter des muschkenum (§ 214). Oder man bedenke die folgende subtile Abstufung aus dem Codex: Hat ein avilum einen höher gestellten avilum auf die Wange geschlagen (ohne Zahnschaden), so werden ihm öffentlich 60 Schläge mit dem Ochsenziemer verabreicht (§ 202). Dieselbe Tat, gegen einen gleichgestellten avilum begangen, kostet eine Mine Silber als Schmerzensgeld (§ 203): das ist doppelt soviel wie bei Tötung der Tochter eines muschkenum und das Dreifache wie für die Tötung der fremden Sklavin. Der Schlag von muschkenum zu muschkenum (und von avilum zu muschkenum?) ist nur 10 Schekel = ein Sechstel Mine Silber wert (§ 204). Dem Sklaven, der einen avilum schlägt, wird ein Ohr abgeschnitten (§ 205). Und so weiter - das Talionsprinzip ist in solchen Normen nach zwei Richtungen hin verlassen worden. Entweder findet man das Maß überschritten, obwohl die mindere, spiegelnde Strafe möglich wäre: so bei der Tötung der Kinder, die sich an den Eltern vergriffen haben, oder bei der öffentlichen Züchtigung des avilum. Soll das übermaß soziale Distanz bekräftigen, dann ist in Wahrheit sie, nicht der Talionsgedanke entscheidend. Oder die Tat scheint der härteren Strafe nach Talionsmaß nicht wert; dann spiegelt die Abmilderung gleichfalls ein soziales Gefälle wider, und die Täterschaft nach unten ist begünstigt, wie jene nach oben das Unrecht schwerer macht. Maßstab ist abermals der Status, nicht der Spiegel. Die frühen Einzelheiten könnten zweitrangig werden, wenn das Prinzip zur Diskussion steht. Gegen den historischen Stoff läßt sich einwenden, er zeuge von anfänglicher Unfähigkeit zur Konsequenz. Doch Harnrnurabis feine Unterscheidungen künden in Wahrheit eher davon, wie Strafgesetze auf das historisch Mögliche und politisch Opportune eingehen. Sie nehmen Rücksicht auf Aggressionen der Mächtigeren, denen sie mehr Befriedigung gönnen, und sie respektieren die traditionelle Wergeldzahlung - beides in einer Weise, einem Ausmaß, die "systemfördernd" wirken sollten. Der Mächtigere (gesellschaftlich Höherstehende) bleibt von der Blutrache des Niedrigeren verschont, er zahlt: ein Recht, das Seinesgleichen schon herkömmlich in Anspruch nahmen. Aus der Befugnis oder gar nur Chance, private Rache abzuwenden, ist unter den Händen des Gesetzgebers allerdings Haftung, Ersatzpflicht geworden. (Oder Geldstrafe; aber sie wäre noch mit dem Schadenersatz identisch, im Gegensatz zum heutigen Recht.) Garantiertes Wergeld soll die Unterschicht beruhigen. Dagegen sind Taten des Höheren (des avilum) an Seinesgleichen oder an noch Höherstehenden
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3. Kap.: Recht auf Unrecht hin (Strafrecht)
mit Blut zu sühnen: auch der Schrecken soll helfen, die Gesellschaft zu befrieden und zu festigen. Ein avilum wird, da der silberne Rettungsweg abgeschnitten ist, vielleicht die Tat unterlassen (eine seit jeher ans Strafrecht geknüpfte Hoffnung), wird somit auch kein stimulierendes Beispiel für "unten" geben. Was schließlich geschah, wenn der Untere (der muschkenum) sich nach oben verging, sagt der Codex nicht; vermutlich blieb der blutige Racheakt nunmehr als Strafakt fällig. Damit wäre das Recht den Aggressionen der Höheren und zugleich den ökonomischen Voraussetzungen gefolgt: abgestraft wird, wer für den Freikauf zu arm ist. Gegenüber den Sklaven konnte das Gesetz überhaupt keine andere Lösung vorsehen. Fazit: Die wirtschaftlichen und sozialen Umstände machten ein disparates Strafrecht sinnvoll, wenn nicht gar notwendig, um Gesellschaft und Zentralgewalt im BabyIon Hammurabis zu festigen. Wie käme ein Gesetzgeber dazu, die Logik eines Prinzips l'art pour l'art dem zeitgemäß Plausiblen vorzuziehen!? Gemeinwesen, die (im Gegensatz zu BabyIon) die Chance zum geschichtlichen Fortschritt hatten, kamen späterhin von den Reminiszensen ans Wergeld ab. Die pekuniäre Lösung war Privileg der Reichen, und sobald Privilegierungen Unruhe in der Gesellschaft auslösen, hat "der Staat" ein Interesse, diesen Störfaktor abzuschaffen. Aufstände der Benachteiligten (wie in Rom zur Zeit des Sulla) halfen dem gleichen Recht für alle - oder vielmehr gegen alle - nachu8 • Das Strafrecht nivellierte sich auf der Ebene staatlich besorgter Blutrache an jedem Täter. (3) Nachdem er bereinigt war von der Unlogik der Privilegien: konnte da nicht der egalisierte Strafbetrieb das ius talionis unverkürzt verwirklichen? Im Gegenteil! Die Egalisierung - als Angleichung "nach unten" - zog logische Möglichkeiten ab, und zwar vom humaneren Teil des Rechts. Die denkbare spiegelnde Strafe für Diebstahl (doppelte Wegnahme) beispielsweise kam nicht mehr in Betracht, weil sie gegen einen Vermögenslosen nicht vollstreckbar wäre. Um dennoch das Spiegelprinzip zu behaupten, blieb letztlich nur der Weg in die Metapher. Ihn gingen das archaische und das mittelalterliche Strafrecht. Wie "spiegelnd" ist es freilich, wenn einem Dieb - und ebenso dem Meineidigen - die rechte Hand abgeschlagen wird? Bei solcher Bestrafung wird nicht das Unrecht selbst, seine unmittelbare Gestalt, am Täter abgebildet; es fällt allenfalls in symbolischer Fassung auf den Täter zurück: Die unrecht handelnde Hand sei verwirkt. Mit Handabschlagen bestrafte der Codex Harnrnurabi auch so unterschiedliche Taten wie das Aufbegehren des Kindes gegen den Vater (§ 195) oder den unglücklich verlaufenen chirurgischen Eingriff (§ 218) ... - Gewiß, dem Willen g8
Seagle (Fn. 73), S. 351.
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zur Rache setzte das Talionsprinzip auch eine Grenze. Es bestimmte, was maßlos und deshalb rechtlos wäre. Andererseits ließ es sich dehnen und stellte dann seine Logik in den Dienst der Grausamkeit. Kurzerhand zum Fragment wurde das Prinzip gemacht, wenn die Strafsucht sich keine spiegelnde Strafe vorstellen konnte - als Grenze des Strafrechts schlechthin fand das ius talionis niemals Anerkennung. Die ungemessene Todesstrafe galt für falsche Anschuldigungen vor Gericht (Codex §§ 1 - 3), für die Entführung eines Freien (2 Mose 21, 16), für Zauberei (ebenda, 17), für Blutschande, Sodomie und Homosexualität (3 Mose 20, 11 - 17). Als todeswürdig wurde auch der Ehebruch bewertet (Codex § 129; 3 Mose 20, 10). Die europäische Aufklärung 99 half, blutrünstiges Strafen zu überwinden - abgesehen von der Todesstrafe. An die Leine der Vernunft sollte zwar auch sie genommen werden. Aber das bedeutet: die Strafart selbst erschien so nachdrücklich als Prämisse, daß es nur darum ging, sie zu "rationalisieren". Hegel versuchte, Strafpraxis und Talionsidee für das äußerste Unrecht (wenigstens, aber immerhin dafür) zur Dekkung zu bringen. Zur Ungleichzeitigkeit der Weltgeschichte freilich gehört, daß die krude Logik des Spiegels mancherorts mit ihren früheren Schlüssen auch heute weiterpraktiziert wird. Mehr noch: Renaissance scheint ihr zu blühen. Dazu ein Pressezitat von vielen (aus DER SPIEGEL Nr. 7/1979, S. 103): "Augenfälligstes Symptom der Islamisierung ist das Bemühen, Sittenverfall und Kriminalität durch Wiedereinführung der Scharia, des vor 1100 bis 1200 Jahren entwickelten islamischen Rechts, zu bekämpfen. 1977 führte Pakistan die aus dem Koran abgeleiteten Strafgesetze wieder ein, ähnlich wie Kuweit, Libyen, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate. Agypten scheint sich ebenfalls der Scharia-Gemeinschaft anschließen zu wollen, Scharia-Befürworter melden sich im Sudan und in Malaysia zu Wort ... So plant Agypten, Diebe durch Abschlagen der rechten Hand und des linken Fußes zu strafen. In Pakistan läßt das Militär Diebstahl durch fachmännische Amputation einer Hand ahnden - der linken beim Rechtshänder und der rechten beim Linkshänder." (4) Unwiderlegbar sei das ius talionis aber doch in einem Fall: auf eine Tötung hin. Man möge es dann moralisch in Verruf bringen, gegen seine Logik sei nichts auszurichten. (Und als polemische Spitze seiner Verteidigung: "Wie unmenschlich, daß 2 X 2 = 4 ist. Wie unmenschlich, daß Gleiches mit Gleichem vergolten wird!")
Trotzdem: Auch das "logisch zwingende" Minimum des Prinzips verdankt sich (wie so vieles) nur einem Mangel an Vorstellungskraft. Denn warum soll es nur "logisch" sein, daß der Täter das Gleiche er99
Zur Charakterisierung: Hattenhauer (Fn. 5), Rz. 41- 54.
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3. Kap.: Recht auf Unrecht hin (Strafrecht)
leidet; kann eine genauso "logische" Vergeltung nicht darin bestehen, daß der Täter gezwungen wird, zukünftig immer das Gleiche zu tun?! Dante setzt dem Spiegel, der die Tat auf den Täter zurückwerfe, einen Spiegel entgegen, der die Tat verdoppelt, vervielfacht: eine ungewohnte, aber nicht weniger "logische" Lösung. Die Sünder im Inferno ("Göttliche Komödie" I) haben nicht das zu leiden, was sie anderen angetan haben, sondern müssen zur Strafe, zu ihrer Pein, im Unrecht fortfahren. Sie finden sich in eine Situation gestellt, in der sie ihre auf den Kern reduzierte Untat weiter begehen müssen. Die Jähzornigen etwa sind zu ewigen Schlammschlachten in den trägen, zähen Fluten des Flusses Styx verurteilt; die Wut läßt sie nicht mehr los, Wärter treiben die Tobenden an, und noch lebe mancher Große auf Erden, "der Säuen gleich hier stecken wird im Kot, wo grause Flüche ihm als Nachruf schallen" (Inferno 8, 49 ff.). Die Strafe für Mörder, Räuber und Tyrannen ist der dauernde Aufenthalt in einem heißen Blutbad. Je schlimmer die Taten, um so höher reicht der "rote Sud" - manche müssen nur bis zum Knie darin waten, anderen reicht er bis zum Kinn (Inferno 12, 100 ff.). Auch auf solche Weise widerfährt dem Täter, "was seine Taten wert sind" (Kant). Zwar ist die Strafe vom Tathergang abstrahiert, sie wiederholt ihn nicht realistisch; doch auch die "klassische" Talionsstrafe ist Reduktion auf "das Wesentliche": auf den letzten TateT/olg. (Todesstrafe hat herkömmlich den Tod des Gemordeten, nicht sein Sterben zum Vorbild.) Metaphern erfand auch Dante; insofern dachte er wie die Handabhacker seiner Zeit. Und dem Sujet der "Commedia" gemäß erfand er jenseitige Strafen, die man bei realistischem Durchdenken des Prinzips auf eine diesseitige Fassung zu bringen hätte. Der Zwang für den Täter, in einer simulierten Situation seine Tat täglich wiederholen zu müssen, wäre mit Mitteln der heutigen Technik leicht einzurichten. Der Mörder wird erneut zu den tödlichen Schüssen gezwungen, er löst damit eine filmisch-elektronische Apparatur aus, die ihm Leiden und Sterben des Opfers drastisch vorführt ... Genug; es zeigt sich, daß die angeblich konsequenteste Strafe, die Spiegelung des unrechten ET/olgs am Täter, nicht zwingender bemessen ist als das, was man schon als ihr Gegenteil begreifen darf: die genauso mögliche Spiegelung (Wiederholung) des unrechten Tuns. Mit "Logik" allein ist das Problem der "richtigen" Strafe keinesfalls zu lösen. (5) Wenn aber doch Jahwe gefordert hat: "Auge um Auge ... "! Man hüte sich, mit Seinen Worten zu spielen! Mit ihnen Schindluder zu treiben! An Sein Wort zu glauben, ist eine Sache. Eine andere ist es, dieses Wort zu veTstehen! Wer immer gesprochen haben mag, Jahwe durch Moses oder Esra durch Jahwe ... : der Gesetzgeber sprach, brachte Sätze ins Volk, und die Zuständigen stehen vor der Last, sie auszulegen. Der
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Glaube an höchste Herkunft eines Satzes erspart noch nicht die Mühe, dem Satz zu entnehmen, wie er "tatsächlich gemeint" sei. Nach dem "wahren" Sinn der Mosaischen Gesetze forschten die Schriftgelehrten, fromme Männer von Profession. Der Babylonische Talmud, abgeschlossen um das Jahr 500, protokolliert ihre ,mindestens tausendjährige Auslegungsarbeit 10o • Zur Talionsformel bildete sich eine herrschende Lehre aus (Traktat Bawa kamma 83 b/84 a), die keineswegs "wörtlicher" geriet als Dantes Verständnis des Wörtchens ,um'. (Tat um Tat um Tat ... , eine nach der anderen; so hatte Dante gedacht.) "Wörtlich", das heißt eidetisch, der realen Anschauung gemäß, hatten sicher auch die Juden in früher Zeit das Talionsprinzip begriffen und vollzogen. ("Rabbi Elieser sagt: Auge um Auge - das ist wirklich gemeint.") Aber den Meistern kamen Zweifel: Was soll geschehen, "wenn das Auge des einen groß war und das Auge des anderen klein ist"? Und deutlicher: "Was willst du sagen, wenn da ein Blinder war, der blendete, ein Verstümmelter, der verstümmelte, ein Lahmer, der lähmte?" (Hegels Einwurf, oben Topos (1), war also uralt.) Oder gar: Was wird man "mit einem tödlich Verletzten tun, der einen Gesunden ermordet hat"? (So subtil wollte Hegel nicht mehr fragen.) Gewißheit gab es nur und immerhin in einer Hinsicht: Weil das Gesetz von Gott stammt, darf der Mensch es nicht preisgeben - es muß seinen vollziehbaren Sinn haben! Einen auf jedermann anwendbaren Sinn, da ein anderes Gebot vorschreibt: "Ein einziges Recht soll für euch gelten." Die Weisen des Talmuds folgerten: Das Recht solle jeden gleichartig betreffen. Auch die Gleichheit ist allerdings Auslegungssache. Die Spiegelung realistisch durchzuführen, wo immer sie möglich sei, von Strafe abzusehen, wo sie nicht naturgetreu ausfiele: diese Lösung, die ja auch dem Gleichheitssatz gehorchen, nämlich gleichheitlich differenzieren würde, schien den Rabbinern aber zu ungerecht. Sie fanden das Ergebnis: ",Auge um Auge' bezieht sich auf Geldentschädigung!" Man lese mithin: Auge um den Wert des Auges. Oder genauer: Der Verletzer schuldet, was das Auge des Verletzten wert war. Angesichts der lex specialis, die ausdrücklich verbietet, Lösegeld vom Totschläger (Mörder) anzunehmen (4 Mose 35, 31), zähmten die Interpreten ihren Scharfsinn für diesen Fall. Es blieb bei Leben um Leben. Bei Verletzungen hingegen war ihnen nicht verboten, den Körper des Täters zu schonen, nur mußte die Strafe oder Buße talions100 Eine zwölfbändige Ausgabe in deutscher Sprache besorgte Lazarus Goldschmidt von 1929 bis 1936. Leicht erreichbar und für den Zugang ausreichend ist die kommentierte Auswahl von Reinhold Mayer (Goldmann Taschenbuch 1330 - 1332, nunmehr 7571). Dazu Hermann L. Strack, Einleitung
in Talmud und Midrasch, 6. Aufl. 1976. - Zur hier dargestellten Diskussion um das ius talionis vgl. Mayer aaO., S. 296 - 304.
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3. Kap.: Recht auf Unrecht hin (Strafrecht)
mäßig sein. Es karn darauf an, das verletzte Körperteil in Geld zu spiegeln. (Nicht die Nivellierung "nach unten" wurde hier gesucht, sondern Angleichung an Oberschicht-Befugnisse; vgl. dagegen oben Topos (2).) Die Realisierbarkeit der pekuniären Lösung bereitete den Meistern des Talmuds kein Kopfzerbrechen. Ein Täter, der nicht bezahlen kann, wird zeitgemäß zu Geld gemacht: sei es, daß er als Knecht im Dienst des Geschädigten arbeitet, sei es, daß man ihn als Sklaven verkauft. Das Talionsprinzip besagt hiernach, daß und worauf der Täter haftet, schließt also auch die (Leibes-)Strafe neben dem Geldersatz aus. (Im Unterschied zur Zweispurigkeit de lege lata.) Für die Berechnung des Schadens geben die Schriftgelehrten Regeln, die sich auf dem Niveau heutigen Schadenersatzrechts halten. Für fünferlei haftet der Täter: "für Wertminderung, für Schmerz, für Kur, für Zeitverlust, für Beschämung". Ad 1: Man "sieht den Geschädigten an, als ob er ein Sklave sei, der auf dem Markt verkauft wird, und man schätzt, wieviel er wert war und wieviel er jetzt wert ist". Ad 2, Schmerzensgeld: Bei kleinen Wunden folge man dem (bescheidenen) Verlangen des Verletzten, ansonsten (um überhöhten Forderungen vorzubeugen) gebe man, was ein verständiger Mensch an seiner Stelle verlangen würde. Ad 3: Gemeint sind die Arztkosten, die der Verletzte aufwenden mußte. Ad 4, Zeitverlust: Man sehe den Verletzten an wie einen Menschen, "der Gurken bewacht", das heißt eine geringwertige Arbeit ausübt, die auch noch ein Lahmer, Einarmiger, Einäugiger verrichten kann. Zu dieser Arbeit war der Verletzte während seines Krankenlagers nicht fähig; der entgangene Lohn ist ihm deshalb zu ersetzen. Die dauernde Minderung der Erwerbsfähigkeit wurde schon unter Posten 1 abgegolten. Ad 5: "Beschämung" meint den immateriellen Schaden durch Statusverlust. Es handelt sich also nochmals um Schmerzensgeld, nun nicht für die erlittene körperliche Pein (ad 2), sondern inUiinblick auf künftigen seelischen Schmerz, den die Behinderung bereiten wird. Nebenbei: Ist der Ersatzposten "Kur" wirklich per talion vorgeschrieben? Die Logik des Spiegels - jenen "logischen" Aspekt, daß der Spiegel etwas zurückwirft, im Unterschied zum Aspekt der Vervielfachung hat auch der Talmud gewahrt. Die Semantik der Talionsregel indessen erweist sich als mehrdeutig. Aber so verhält es sich immer: Jede logische Form ist nur ein Gerüst, auf dem sich mancherlei abspielen kann. (6) Es gibt noch einen letzten Punkt, den der religiöse Verfechter der Todesstrafe nicht übersehen sollte.
Die Talionsformellieferte Jahwe, der Vater. Jesus, der Sohn, dementierte (nachzulesen in der Bergpredigt, Matthäus 5, 38 ff.): "Ich aber sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem übel; sondern, wenn dir jemand einen Streich gibt auf deine rechte Backe, dem biete die andere auch dar. Und wenn jemand mit dir rechten will und deinen Rock nehmen, dem laß auch den Mantel ... "
IV. Bessere Grunde?
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Wer hat recht, das Alte oder das Neue Testament? "Feindesliebe" gebietet die neue re Lehre doch könnte sie überhaupt Recht sein? Kann vom Recht verlangt werden, daß es sogleich dem Täter noch eine zweite Gelegenheit zur Tat anbiete? Die Hoffnung hinter solchem Verfahren hieße, daß der Täter sich schämen, Besserung geloben möge: eine sehr ungewisse pädagogische Wirkung der Großmut. Das Recht darf vor allem nicht zur erneuten Tat herausfordern. Zum Rechtsgrundsatz scheint die Weisung aus der Bergpredigt untauglich. Ein Urteil, das Distanz suchende Theologen bestätigen: Die fragliche Textstelle sei allein als Regel für die "Jünger" zu verstehen. Dieser kleinen, auserlesenen Gruppe sei verboten worden, gleich heimzuzahlen, einen Schlag mit dem Gegenschlag zu beantworten 101 • Einer Elite des Leidens ist ein Verhaltenskodex auferlegt, der nicht verallgemeinerbar scheint. Nimmt man die zitierte TextsteIle nicht allzu "wörtlich", dann allerdings zeigt sich hinter ihr ein nicht mehr so elitäres, auf Passion gerichtetes Prinzip: die Regel nämlich, nicht in den Stil des Gegners zu verfallen. Dieser Gedanke kann auch dem Recht vorgehalten, ihm sogar auferlegt werden. Das ius talionis gefällt sich darin, Untaten zu wiederholen, nur eben unter einem anderen Vorzeichen: der Totschlag wird zum "Rechts" akt, weil er Antwort auf einen Totschlag ist. Ein Teufelskreis der sich gleichbleibenden Schlechtigkeiten! Ihn durchbricht das Recht, indem es seine Reaktionen anders, dem Unrecht ganz und gar ungleich gestaltet. Der Anspruch des Rechts, Unrecht zu "negieren" (HegeI), läßt sich auch als Anspruch an das Recht auffassen: Es könne das Unrecht nicht bloß nachahmen, wenn dieses beseitigt, überwunden werden soll. (7) In der Kälte abstrakten Denkens kann der Spiegel zum Inbegriff der Gerechtigkeit werden. So für den rigorosen Moralisten Kant. "Spiegel, Früchte der Ängste", setzte der sensible re Lyriker Tristan Tzara dagegen. Zum Medium einer menschenleeren Existenz gerät der Spiegel dem Typus Narziß. Leonardo wollte in Rom eine achteckige Spiegelkammer bauen: die unendliche, vollkommene Spiegelung als totale Irrealität. Die Maler des Surrealismus haben den Spiegel nicht seltener eingesetzt als die Rechtsphilosophie; ihnen aber war er meistens das Gerüst einer Paranoia (= systematisierten Wahnidee)102.
IV. Bessere Gründe? Rache, unblutig und verwaltet, gehört zum geltenden Strafrecht, aber es begnügt sich nicht mit ihr. Noch einige "Strafzwecke" teilen Georg Eichholz, Auslegung der Bergpredigt, 1965, S. 95 f. Zu alldem Gustav Rene Hocke, Die Welt als Labyrinth (rowohlts deutsche enzyklopädie 50), S. 7 ff., 196 ff. und öfter. 101
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16 Gast
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3. Kap.: Recht auf Unrecht hin (Strafrecht)
sich in die jeweils verhängte Strafe (die also in aller Regel Resultante aus den verschiedenen Zwecken ist?): "Schuldausgleich, Prävention, Resozialisierung des Täters, Sühne." Rechtfertigungsgründe, bei denen Nachdenken über das Recht sich eher beruhigen kann als bei der anstößigen ("veralteten", "amoralischen") Racheidee? 1. Schuld uud Siihne
Der Täter habe Schuld auf sich geladen, der Mörder (§ 211 StGB) schwerste Schuld - nötig sei "Schuldverarbeitung" , bevor an die Rückkehr des Strafgefangenen in die Gesellschaft zu denken sei (BVerfGE 45, S. 258 f.). Die Freiheitsstrafe ist hiernach Gelegenheit zur Sühne, und sie dauert, bis der "Schuldausgleich" gelungen ist. Diese Mechanik, ableitbar aus § 46 StGB (Schuld sei die Grundlage der Strafzumessung), wird in der Rechtspraxis fortwährend angewendet. Dabei muß entweder das Gericht, das den Täter verurteilt, die Dauer der Entschuldung prognostizieren und festlegen; aus dem weitgefaßten "Strafrahmen", den die Strafvorschrift absteckt, wählt es das "erforderliche" Zeitquantum. Oder die Freiheitsstrafe wird ungemessen = "lebenslänglich" verhängt; dann begnadigt eine zuständige Behörde den Häftling, sobald ihr die Sühneleistung genug scheint. (Von Gnade wegen, nicht von Rechts wegen wird herkömmlich über dieses "genug" entschieden. Das Bundesverfassungsgericht - E 45, S. 252 - insistierte auf Verrechtlichung des Gnadenwegs; seit dem 1. Mai 1982 besteht nach 15 Haft jahren ein Anspruch darauf, daß Gnade erwogen wird.) Bei der Kalkulation des Schuldkontos geht die Praxis mit Evidenzen ans Werk: Schuld, Sühne - die "allgemeine Gerechtigkeitserwartung" wisse Bescheid. Evidenz ist eine Form unscharfen Denkens: der Glaube, man kenne die Sache schon, wird mit exakter Kenntnis verwechselt. Auch der Sprachgebrauch nimmt sich dann nicht sonderlich genau: "Schuldausgleich" und "Sühne" erscheinen in der Aufzählung des Bundesverfassungsgerichts wie zwei verschiedene Strafziele, aber es handelt sich nur um zwei Namen für dasselbe. Die Rechenregel für die Strafzumessung funktioniert trotz oder vielmehr gerade dank der Vagheit. Tatumstände wandeln sich wie anhand einer Skala (welcher Skala?) in Schuldmenge um, und die Schuldmenge wiederum wird zu Jahren der Sühneleistung: man hat es irgendwie im Gefühl. Oder bürokratischer gesprochen: Man hat es im Griff. Daß bei alldem ein metaphysisches Gerücht exekutiert werde, zum Schaden des Täters wie der Gesellschaft, wenden Kritiker ein. Im Anfang steht auch hier Jahwes Wort. Der Weisung, am Totschläger Blutrache zu nehmen, folgt eine Begründung: "denn wer blutschuldig ist, der schändet das Land und das Land kann vom Blut nicht
IV. Bessere Gründe?
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versöhnt werden . . . außer durch das Blut des der es vergossen hat" (4 Mose 35, 33). Die Logik des Spiegels - Blut um Blut - wäre demnach nicht selbstverständlich, sie wäre nicht unmittelbar die strafrechtliche Vernunft; ein "höherer" Sinn erst würde sie rechtfertigen. Die Strafe erhält eine zweite Dimension neben, sogar über der Vergeltung: Reinigung. Entsprechend wird hinter dem Gemordeten ein zweites, höherwertiges Gut entdeckt: "das Land, das der Täter geschändet hat". Die öffentliche Sphäre ist strafrechtlich mit einbezogen. Der Familie des Getöteten soll diese Verdoppelung plausibel machen, weshalb der Racheschlag nicht länger zur Disposition stehen dürfe, Wergeld nicht mehr in Betracht komme. "Verunreinigt das Land nicht, darin ihr wohnet, darin ich (Jahwe) auch wohne" (aaO., Vers 34). Das öffentliche Interesse bringt sich gegen privates zur Geltung. Sein Mittel ist eine so raffinierte wie ungeheuerliche Bekräftigung des Rechts: Ekel wird geweckt und gegen den Täter gelenkt, die Aggressivität wird gesteigert. Das heftigere Verlangen nach Abreaktion kommt dem unbedingten Rachegebot zugute. Ein Beispiel aus dem Weiterleben des archaischen Vorbilds bot "Deutschland im Herbst", nach den RAF-Attentaten des Jahres 1977. Die Anschläge weckten landauf. landab den Ruf nach der Todesstrafe für Terroristen. Der Politologe Iring Fetscher diagnostizierte: "Die eindeutige Demütigung des übervaters Staat durch Terroristen wird als ein so gravierender Makel angesehen, daß dieser nur durch Blut wieder abgewaschen werden kann."103 Wo die Todesstrafe gilt, hat die Sühne ihr Objekt: den Täter, der zur "Versöhnung" (= Reinigung) des Landes geopfert wird. Vom puren Racheschlag ist der Sühneschlag nicht zu unterscheiden; die Sühneidee sollte, wie gezeigt, ja auch nur die Blutrache sichern. Erst die Freiheitsstrafe stellt sich verschieden dar, je nachdem, ob Vergeltung oder Sühne den Blickwinkel bestimmt. In einem Fall wird dem Häftling das Leid der Gefangenschaft zugefügt, im zweiten Fall vollbringt er dieses kainitische Leben, das der Strafbetrieb ihm beläßt und bedingt. Die Sühne hat ihr Subjekt. Zur Kritik an der Todesstrafe hat die Metaphysik von Schuld und Sühne womöglich beigetragen, weil (vielmehr: sobald) sie das tätige Subjekt lobte. (Ein ambivalentes Prinzip also, das im Dienst des Gegenteils angefangen hatte.) Daß trotzdem, einen Schritt später, das Sühnekonzept auch bei der Freiheitsstrafe zweifelhaft werden mußte und heute nur mehr als Ideologie (leerer Schein) dasteht: auch dafür gibt es indessen einen zwingenden Grund. Er liegt gerade in der Verrechtlichung - für die Sühne bedeutet der Eintritt ins Recht (oder vielmehr das Eindringen des Rechts) den Sündenfall. Denn 103 In: Freimut Duve / Heinrich. BalZ / Klaus St:zeck (ed.), Briefe zur Verteidigung der Republik, 1977 (rororo aktuell 4191), S. 47. - "Deutschland im Herbst" ist ein Film, der die "Terroristen"-Psychose jener Tage, ein Stück Verfall der Republik, darstellt. lS'
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3. Kap.: Recht auf Unrecht hin (Strafrecht)
nun wird Sühne von Rechts wegen veranstaltet. Damit er sühnendes Subjekt sei, wird der Täter zum bestraften Objekt. "Sühnevollzug" widerfährt ihm. Den Unterschied zur Rache hebt das Strafrecht auf, nämlich hin zu den ominösen "zwei Seiten derselben Medaille". Aber "das Tiefere" an der Sühne, wie Dostojewskis Raskolnikow es vorführt!? Ein Mensch war "krank" an finsteren Gedanken, "starb" durch den Mord, den er beging, war abgeschnitten vom "lebendigen Leben", findet durch Verständnis und Verurteilung auf einen Rückweg, "gesundet" im Straflager '" Dies ist Innenseite des Menschlichen. Das Recht hat dahin keinen Zugang. über den Sinn, den ein Mensch, von den Erinyen verfolgt, in Kains Lage gesetzt, seinem Leben gibt, verfügt das Recht nicht: es kann nur Lebensbedingungen stellen. Daß sie so und so ausfallen, hat seine erklärbaren Gründe, läßt sich auch mit Zweck- und Absichtserklärungen verbinden. Für existentielle Sinngebung, gewohnte oder ungewohnte, "moralisch wertvolle" oder "wertlose", bleiben die Lebenslagen gleichwohl offen. Das physisch Konkreteste ist noch immer metaphysisch vieldeutig. 2. Prävention
"Für begangenes Unrecht straft nur, wer sich wie ein Tier vernunftlos rächen will. Wer aber mit Vernunft strafen will, der bestraft nicht um des begangenen Unrechts willen, denn er kann ja doch das Geschehene nicht ungeschehen machen, er straft vielmehr des zukünftigen Unrechts wegen, damit weder derselbe Täter noch ein Zeuge seiner Bestrafung ein andermal wieder dasselbe Unrecht begehe." - Platon, Protagoras 324 a, b. Neuartig ist der Gedanke, das Strafrecht müsse dem Unrecht zuvorkommen (prae-venire), also keineswegs. Seine Wirkungsgeschichte aber beginnt spät; Protagoras und Platon waren schon über 2000 Jahre tot. Der junge Mailänder Jurist Cesare Beccaria veröffentlichte 1764 seinen Traktat "Dei delitti e delle pene" (über Verbrechen und Strafen), worin er den vergessenen Faden aufnahm, ihn zu einem Leitfaden strafrechtlicher Aufklärung erhob. Dem rohen und blutrünstigen Strafbetrieb seiner Zeit wollte Beccaria den theoretischen Boden entziehen, indem er die Rechtfertigung der Strafe kühler und enger faßte als die alttestamentarisch ausgerichtete Strafrechtsorthodoxie. Einziger legitimer Zweck der Strafe sei die Vorbeugung gegen künftige Straftaten. Das Strafrecht habe "den Schuldigen daran zu hindern, seinen Mitbürgern abermals Schaden zuzufügen, und die anderen davon abzuhalten, das gleiche zu tun". Dem nützlichen Zweck müßten Art und Maß der Strafe entsprechen. Grausamkeit sei sinnlos, Hinrichtungen seien nur "Schauspiele". Nicht die Heftigkeit der Strafe habe den nötigen Einfluß auf das menschliche Gemüt, sondern ihre Dauer104 • Beccaria machte das Vorbeugungsprinzip prominent. Gefolgschaft fand er dabei weniger im Kreis der Rechtsphilosophen - dort suchte man fundamentale Lösun104 Cesare Beccaria, über Verbrechen und Strafen, übersetzt und herausgegeben von Wilhelm AIII, 1966 (sammlung insel 22), S. 74, 110 ff.
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gen und nahm, wie Kant und Hegel, Anstoß am pragmatischen Charakter der "neuen" Lehre. Um so mehr griffen Strafrechtslehrer sie auf 105. Auch den Anhängern aber war Beccaria mit einer Folgerung weit voraus: er rückte ab von der Todesstrafe. Sie sei kein Recht, sondern "ein Krieg der Nation gegen einen Bürger", darum auch nur in Extremfällen "gerecht", sogar notwendig: dann nämlich, wenn die Existenz der Nation und ihrer Rechtsordnung abhänge vom Tod dieses bestimmten Bürgers. Eine Notwehrlage für das Kollektiv, die auch Beccaria nur abstrakt skizzieren konnte; ein konkreter Sachverhalt ist kaum vorstellbar, solange man die Bedingung - ein Tod rette Alle ernst nimmt. Am gefährlichsten für die Existenz einer "Nation" ist wohl ihr "Herrscher", der einen Angriffskrieg befiehlt oder vorbereiten läßt. Aber dies ist weniger ein Problem des Strafrechts als des Widerstandsrechts, es sei denn, man denkt an das zu späte Tribunal nach der Niederlage (Nürnberger Prozeß). Doch Beccarias Grund für die Todesstrafe besteht nach einem Kriegsende gerade nicht mehr. Für akute "Notlagen" andererseits hat Beccaria eine Hintertüre zur Todesstrafe offen gelassen - und Notstandsgesetze, die daraufhin die Todesstrafe vorsorglich bereithalten, riskieren den Rückfall in ungehemmten Mordbetrieb. Der Zweck, "die Nation" zu erhalten (das heißt praktisch: den Staatsapparat, der zugleich das Strafmonopol in Händen hält), kann leicht zum Ventil für apokalyptische Ängste werden; die deutsche Strafgerichtsbarkeit während der nazistischen Kriegsjahre gibt davon ein übles Beispiel. Das "zersetzende" Wort kann den Hütern der Existenz der Nation genügen, den Untergang zu befürchten, wenn man dergleichen nicht "ausmerzen" würde, zur Abschreckung aller "Volksschädlinge"106. Seit Beccaria also beschäftigt die Dogmatik der Strafzumessung sich mit dem Präventionsgedanken, sucht sie seine Implikationen darzulegen. Vier Aspekte sind zu diskutieren (wiederum am Leitfaden, den das Bundesverfassungsgericht gezogen hat). a) Die "negative oder spezielle Generalprävention"
über solche termini technici zu streiten, lohnt sich nicht. (1) Es geht um die "Abschreckung anderer ... , die in Gefahr sind, ähnliche Straftaten zu begehen" (BVerfGE 45, S. 255). Eine Pädagogik, die auf Furcht und Schrecken baut, hat sich auch in der Strafrechtslehre zu Wort gemeldet. Sie gibt der Strafe einen praktischen Sinn, der
105 Vgl. die Theoriengeschichte bei v. Bar (Fn. 86), S. 233 - 310; hier insbes. S. 248 ff., Feuerbach betreffend. lOG Beispiele einer Mordjustiz, ausgeübt durch die zivile Strafgerichtsbarkeit, findet man bei Staff (Fn. 6), S. 170 - 175, 191 - 213 sowie in den Besprechungsprotokollen dort S. 101 - 106. Die deutsche Militärjustiz brachte es während der Nazizeit auf rund 16000 Todesurteile, von denen rund 10 000 vollstreckt wurden. (Vergleichszahl: 142 Todesurteile in der US-Armee während des Zweiten Weltkrieges.) I-Herzu atto Peter Schweling, Die deutsche Militärjustiz in der Zeit des Nationalsozialismus, 2. Aufl. 1978.
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3. Kap.: Recht auf Unrecht hin (Strafrecht)
folgerichtig zum Maßstab für das Strafrecht wird und (wie Beccaria zeigt) kritisch gegen überkommende Strafwirklichkeit angeführt werden konnte. Der Schrecken, den das Strafrecht verbreiten soll, erhält eine menschenfreundliche Tendenz: jenes größere Entsetzen zu verhindern, das ungehemmte Kriminalität über die Gesellschaft brächte. Schrecken wird als Mittel seiner Selbstabschaffung, wenigstens Selbstverminderung legitimiert. Der Pädagoge mit dem Rohrstock allerdings ist seit längerem ins Gerede gekommen, sein Erziehungserfolg wird bezweifelt. Ebenso ist das Vertrauen in die Drohgebärden des Strafrechts erschüttert. Im Prozeß um die Verfassungsmäßigkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe sah das Bundesverfassungsgericht sich der Skepsis aller Sachverständigen gegenüber: Eine "abschreckende Wirkung" dieser Strafe bei Mord könne "für den potentiellen Täterkreis nicht festgestellt werden" (E 45, S. 255). Dem radikalen Zweifel widersprachen die Richter mit einfacher Mutmaßung (mit Bildern aus dem common sense): Viele Morde geschähen aus einer "Konfliktsituation" heraus; auch ein "Konflikttäter" aber entscheide sich nicht "kopflos, unüberlegt oder leichtfertig" für die Tat, er überdenke seine Möglichkeiten, verfalle auf den "Mordplan" nur, wenn er keinen anderen Ausweg mehr sehe; in dieser Phase der Klärung könnten Gedanken an die drohende Höchststrafe doch noch zu einer anderen Lösung ermutigen ... (S. 255 f.). Einen Beweis, daß Morde so geplant und eben darum gesetzlich abgewendet würden, konnte das Gericht nicht erbringen. Es fügte sich in die Grenzen der Erkenntnis: "Wahrscheinlich lassen sich bei der schwersten Tötungskriminalität verbrechensmindernde Wirkungen aus einer bestimmten Strafandrohung oder Strafpraxis überhaupt nicht meßbar nachweisen" (S. 256). (... "meßbar nachweisen"?; nachmessen = durch Messung nachweisen.) Nun darf man die Meßbarkeit eines Zusammenhangs nicht mit seiner Existenz verwechseln. Das Unvermögen, fragliche Wirklichkeit aufzuklären, widerlegt noch nichts. Der Versuch des Gerichts, Unbeweisbares gleichwohl plausibel darzustellen, ist ein Stück theoretischer Versicherung. Andererseits: Die Lehre vom Abschreckungszweck stellt auf einen realen Erfolg des Strafrechts in der Gesellschaft ab, sie ist empirisch ausgerichtet (im Gegensatz zur Schuld-Sühne-Metaphysik) und hält sich gerade deshalb für wahrhaft rational. Wie dürfte ihr da die bloße Vermutung, die Plausibilität an der Oberfläche, die hausbackene Alltagstheorie, dieses typisch juristische Erwägen in der Maske erfahrungswissenschaftlicher Sätze oder das großzügige Verallgemeinern je eigener Beobachtung: wie dürfte all dies genügen, um Strafandrohung und Strafbetrieb zu rechtfertigen! Strafrecht auf Verdacht, auf ein Vorurteil oder Gerücht hin, wäre eine zynische Zumutung. Das große Experiment, die Strafe abzuschaffen,
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müßte also eigentlich gewagt werden107 - oder, mit gleicher Folgerichtigkeit zum Strafzweck, die Verschärfung des Strafrechts so lange, bis der Vorbeugeerfolg meßbar wird! Meßbar an rapider Zunahme / am rapiden Rückgang der Straftaten: denn einen anderen Weg, die Unterlassung des Unrechts zuverlässig zu erforschen, gibt es nicht. Den populären Glauben, die Todesstrafe sei effizienter als jede Freiheitsstrafe, belegt übrigens bisher kein Vergleich. Das Verfassungsgericht hat aus aller Beweisnot die nächstliegende Folgerung gezogen: ihm reichte die negative Generalprävention als Strafgrund nicht aus. (2) Strafrechtlose Zeiten, die Rückschlüsse auf den Präventionswert des Strafrechts zulassen könnten, gibt es bisweilen. So beim Stromausfall in einer Weltstadt (black-out in New York im November 1956 und öfter). Eine Nacht der günstigen Gelegenheiten bricht an; denn die Wächter und Fahnder, die Aufklärer und Verhafter sind blind, kaum bewegungsfähig, kaum erreichbar für Hilferufe. Brandstiftung, Plünderung, Abrechnung, Vandalismus sind frei. Die Dunkelheit hat die Strafgesetze außer Kraft gesetzt, die Drohung auf dem Papier braucht man nicht ernst zu nehmen, solange ihre Verwirklicher verhindert sind. (Ist Elektrizität eine notwendige Bedingung des Rechts geworden?) Die Drohung wirkt erst durch ihr Medium, das aus ihr ein gegenwärtiges Damoklesschwert macht. Geht das Licht wieder an und die Kriminalität aufs Normalmaß zurück, so beweist der Unterschied die Vorbeugekraft des Strafrechts .. .
Beweist er sie tatsächlich? Nur, wenn man eines unterstellt: Alles Polizeiliche sei bloß Vermittler der Strafandrohung, es gebe ihr Gestalt, enthalte selbst nichts eigenes Erschreckendes. Diese Einschätzung aber ist nicht zwingend, eher zweifelhaft. Erinnern uniformierte Wächter, breitbeinig aufgebaut, die Maschinenpistolen im Anschlag, gesichterlos unter Mützenschirmen, hinter Helmen - erinnert der martialische Anblick allein und zwangsläufig an die Strafe, die auf eine Tat hin verhängt würde? Es ist doch wohl so, daß Gewalt unmittelbar, sichtbar, spürbar auf dem Sprung steht, um beim ersten Tatversuch über den Verdächtigen herzufallen. Ein Kamikaze, wer es dennoch wagt! Eine Mauer der Gewalt, schon mehr absolut als kompulsiv, trennt von der Tat. Aber auch wenn ein Mensch oder Ding nicht so scharf bewacht ist, die Tat gelingen würde, freilich die Verfolgung gewiß ist: auch dann liegen andere Hemmungen und Hindernisse näher als die (Angst vor) Strafe. Als Verdächtiger gejagt zu werden, ist ein Schrecknis für sich. Und manche Tat würde ihren "Sinn" verlieren, alles wäre "umsonst" 107 Nachdrücklich gefordert von Arno PZack, Plädoyer für die Abschaffung des Strafrechts, 1974. Ersatzlose Streichung ist damit aber nicht gemeint, sondern ein gefängnisloses System der Wiedergutmachung (Schadenersatz) und der Versöhnungsarbeiten. - Weitere Hinweise unten Fn. 114.
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gewesen, wenn ihr Entdeckung droht ... : die Ungunst der Umstände schreckt. Drohender Strafe, dem fernsten Risiko - wieviel kann bis dahin geschehen - ist also der meßbar größere Frieden in der Gesellschaft nicht unbedingt zu verdanken. (3) Pragmatisch ist es, am Verhütungserfolg des Strafrechts zu zweifeln. Ein anderer Vorbehalt stellt den Ansatz überhaupt in Frage: Die verschreckte Gesellschaft sei kein annehmbares Ziel. Die Absage an schreckendes Recht hat durchaus gute Gründe. Zunächst: Der Präventionsgedanke, als Programm ernst genommen, müßte die hinreichend (= meßbar) abschreckende Strafpraxis fordern. Daß das Strafrecht in seiner bisherigen Geschichte noch immer sehr viel Unrecht geschehen ließ, zeugt von unzulänglichen Mitteln. Der fällige Auftrag an Wissenschaft und Gesetzgeber hieße, endlich den Horror (synonym: Terror) zu finden und anzuordnen, der jedermann zurückfahren ließe beim Gedanken ans Unrechttun. Neue Strafarten wären zu entdecken, die stärkeren Eindruck auf die Menschen machen als alles bisherige - warum sollte der perfekte Schrecken mit Hilfe von Psychologie, Pharmazie und Elektronik nicht zustande kommen? Zugleich müßte der Staat so viel Verfolgungsaufwand betreiben, daß ein Entkommen ganz unwahrscheinlich würde, die Strafe garantiert ist. Die Präventionsidee hätte nun endlich ihr Versprechen eingelöst, um einen Preis, den Beccaria nicht bedachte. (Wie sehr beim Wort darf man sie aber nehmen, wenn der Schrecken erträglich gehalten werden soll?). Je rigoroser das Strafrecht auf Abschreckung ausginge, um so krasser geriete es in Gegensatz zu den Werten des legalen Lebens. Dort soll, dem Grundgesetz zufolge, Freiheit, Gleichheit und Menschenwürde zur Wirklichkeit werden. Wie jedoch wäre diese Schizophrenie zu ertragen (sofern sie veranstaltet werden könnte): einerseits die freiheitliche Gesellschaft, die würdige Existenz, und zugleich, alle Lebensverhältnisse durchziehend, die perfekte Vorkehrung gegen Abweichungen ins Unrecht? Wieviel Existenz dürfte ein Mensch dann noch wagen, außerhalb der rechtlich sichersten Minima und Standards?! Egal aber, wieviel Abschreckung vom Unrecht das Recht versuchen würde, der Vorwurf schließlich, den Hegel erhob, trifft immer zu: jener der Menschenverachtung. Die Abschreckungslehre begründe die Strafe, "als wenn man gegen einen Hund den Stock erhebt, und der Mensch wird nicht nach seiner Ehre und Freiheit, sondern wie ein Hund behandelt". Wobei doch niemals der Erfolg garantiert werden könne, denn: Die Drohung könne einen Menschen derart empören, daß er "seine Freiheit gegen dieselbe beweist" und darum Unrecht begeht. (Rechtsphilosophie, § 39 Zusatz. - In Andre Gides Roman "Die Verließe des Vatikan" vollzieht der junge Lafcadio eben diesen "acte gratuit", einen Mord an einem gutmütigen Apotheker aus der Provinz.) Der Fundamentalist
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Hegel durchschaute den Abschreckungsplan bis auf den Grund (woraus nicht folgt, daß man Hegels eigenem Resultat, der "Ehrung" des Menschlichen durch Todesstrafe, folgen müßte). b)
Die "positive oder allgemeine Generalprävention"
(1) Gemeint ist, daß die Strafe "die Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung vor der Rechtsgemeinschaft zu erweisen und so die Rechtstreue der Bevölkerung zu stärken" habe (BVerfGE 45, S. 256). "Bekräftigung" nannte Hegel dieses Moment (oben II 4: "Rechtsphilosophische Wegweisung"). Die Rechtsordnung demonstriert, daß ihre Verbote und Reglements ernst zu nehmen, keine Papiertiger sind. Eine empirische Komponente sieht das Verfassungsgericht auch hier: Androhung und Verhängung der lebenslangen Freiheitsstrafe seien "für den Rang von Bedeutung ... , dem das allgemeine Rechtsbewußtsein dem menschlichen Leben beimißt" . Die strafrechtlich vermittelte Wertkenntnis wiederum erhöhe "in der Bevölkerung ganz allgemein" die Hemmung vor dem Totschlag (S. 256 f.). Der Zusammenhang - je schwerer die Sanktion, um so sicherer der Respekt vor dem bewehrten Gut - scheint evident, jeder Aufwand für einen empirischen Beweis überflüssig. Zweifelt man gleichwohl an dieser Art der Bewußtseinsbildung (warum sollte Respekt leichter zu erzeugen sein als Angst?), dann bleibt noch immer ein theoretischer ("logischer") Grund für das Strafrecht: Irgendwodurch muß das Recht schließlich sein Tötungsverbot verwirklichen. Ein Verbot (die Weisung, dies oder jenes nie zu tun) ist leider nicht übersetzbar in ein bestimmtes Verfahren, im Unterschied zu einem Konflikt, der auf den Rechtsweg gebracht werden kann. "Am wirklichsten" ist ein Verbot, wenn das Verbotene nie geschieht. übertretungen gefährden diese vollkommene Wirklichkeit; das Recht sucht sie zurückzugewinnen. Es wirbt für sie auf seine Weise. Strafandrohung gegen jedermann und Strafvollstreckung gegen den Rechtsbrecher: der seit jeher gebräuchliche Modus soll an die ideale (und verlorene) Wirklichkeit wenigstens heranführen. Seine Tauglichkeit hierzu kann man bezweifeln, zugute kommt ihm dennoch, daß etwas geschehen muß mangels besserer Einfälle das, was schon immer geschah. Tradition ist zählebig, sie hat ihr Eigengewicht, das schließlich über die Beweislast bei Kritik entscheidet. Wer Gegenvorschläge - aber welche? - einreicht, schuldet den Nachweis für ihre überlegenheit. (2) Nicht nur gegen Entkräftungen, die eine Straftat dem Recht bereitet, muß das Strafrecht antreten. Es tritt in Widerstreit mit vielerlei Tatsachen, die ein sanktioniertes Gut schwächen, es entwerten. Das Prinzip Leben beispielsweise, nach Ansicht des Verfassungsgerichts strafrechtlich mit Hilfe der lebenslangen Freiheitsstrafe zur Geltung
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gebracht, sieht sich in einer gleichfalls rechtlich gedeckten Umwelt so vielen fatalen Relativierungen ausgesetzt. Entkräftigendem Recht also, das dem Strafrecht womöglich eine Sisyphusarbeit bereitet. Die radikalste unter allen Relativierungen ist die militärische. Die Produktion von Feindbildern (anhand nationaler, rassischer, politischer, ökonomischer Kriterien betrieben) erkennt "für den Bedarfsfall" menschliche Natur massenhaft ab, macht den zum Feind reduzierten anderen verfügbar als Zielscheibe einer Mordmaschineriel08 • Wo zuvor die Manifestation des Rechts so weit ging, daß ein tötender Schuß den Täter lebenslang ins Zuchthaus (oder sogar aufs Schafott) brachte, findet dann das vielfache gleiche Tun Belohnung: Orden und Pensionsansprüche. Den dürftigen Ansatz einer Richtigstellung (der historisch folgenlos blieb) unternahmen die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse, in denen einige Hauptveranstalter eines Angriffskrieges zur Rechenschaft gezogen wurden: den höchsten Auszeichnungen folgte die Höchststrafe. (Der Galgen: ein adäquater Verfechter des Prinzips Leben?) Die Bundesrepublik hingegen hat im Jahr 1957 den Zweiten Weltkrieg per Gesetz entnazifiziert: seither dürfen Orden und "Ehrenzeichen", die für kriegerische "Verdienste" (?!?) verliehen worden waren, nach Entfernung der NS-Embleme wieder getragen werden. Von den Überfällen der (Groß-)deutschen Wehrmacht auf die Nachbarvölker, vom faschistischen Raubzug wurde eine "gute Seite" abgetrennt: die Gelegenheit für "Heldentum". Es gebe die soldatische Leistung an sich, die ihren Wert behalte, allen Respekt verdiene, auch wenn sie für verbrecherische Zwecke mißbraucht worden sei. Mit diesem Tenor findet sich die rehabilitierte Menschenjagd, die nun als Selbstzweck dasteht, landauf, landab erneut gerühmt. Das gewöhnlichste Muster, nach welchem der Wert Leben entkräftet wird, haben Verhaltensforscher beschri!,!ben. Distanz durch Abwertung zu schaffen, heißt die Maxime: "der Andere" wird in eine Position möglichst weitab von der Mitmenschlichkeit projiziert. Dieses Verfahren ist bis in die alltäglichen politischen Kontroversen hinein verbreitet und kann dort lebensbedrohend wirken. Dazu ein Beispiel, das der Biologe Wolfgang Wickler analysiertel09 : Der-amerikanische Präsident Nixon nannte in einer Rede am 1. Mai 1970 Studenten "liederliche Taugenichtse" - am 4. Mai 1970 erschossen Nationalgardisten auf dem Campus der Universität Kent vier Studenten, deren "Unschuld" (Friedfertigkeit) sich später erwies. Der Präsident habe durch die negative Titulierung eine Hemmschwelle abgebaut, den Nationalgardisten sei es leichter gefallen, auf eine zu nichts brauchbare Existenz den Gewehrlauf zu richten und abzudrücken. - Wickler erinnert an eine "biologisch sehr vernünftige Verschärfung des Fünften Gebotes", die in der Bergpredigt (Matthäus 5, 21) steht: "Wer zu seinem Bruder sagt: ,Raka!', ,Du Nichtsnutz!', der ist des Hohen Rats (Gerichts) schuldig." - Principiis obsta!: Schon der Anfänge enthalte man sich. Eine Liste der Entkräftungen, die dem Fünften Gebot fortwährend und weltweit zugefügt werden, geriete endlos, und der Gesetzgeber von Sinai, 108 Über diese Herstellung von Feinden: Oskar Negt / Alexander Kluge, Geschichte und Eigensinn, 1981, S. 809 ff., 851 ff. IOD Walfgang Wickler, Die Biologie der Zehn Gebote, 1971, S. 116. (Um einer Verwechslung vorzubeugen: Im folgenden meint Wickler, der KatechismusNumerierung entsprechend, das Tötungsverbot. Nach dem biblischen Original heiligt das 5. Gebot die Familie.)
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Jahwe selbst, wäre im schlimmen Zusammenhang mit anzuführen. Seine Gebote sollten nur unter Brüdern, nur innerhalb des auserwählten Volkes gelten. Die Kainstat war ein Brudermord, und J ahwe, von dem geschrieben steht, daß er Kain dafür verfluchte, hat andererseits den Israeliten oft geholfen, ihre Feinde zu töten, sogar die Feindestötung für die Seinen ausgeführt. Dennoch: Aus keiner erfahrbaren oder nachlesbaren Entkräftung darf ein Rückschluß gegen die Reservate gezogen werden, in denen das Recht auf Leben Geltung hat; vorsichtiger: in denen das Strafrecht an seiner Geltung zu arbeiten sucht. Wenn freilich die Strafrechtspraxis selbst ihrem Anspruch, Rechtsbekräftigung zu betreiben, nicht genügt; wenn sie zu Resignation, gar Kapitulation neigt in einer Lage, in der sie aufs Äußerste gefordert wäre .. , Ein solcher Beitrag eher zur Beschämung als zur Bekräftigung des Rechts ist die Art, wie in der Bundesrepublik NS-Verbrechen, zumal Massenexekutionen in den .. besetzten Ostgebieten" , verfolgt worden sind. Geringes Interesse an der Aufklärung (mancher Täter saß gut abgeschirmt im öffentlichen Dienst, womöglich im Polizeidienst, dem er schon vor 1945 angehört hatte), politisches Kalkül, verschleppte Verfahren, Urteile mit farcehaftem Strafmaß prägen das Bildllo . So stellt ein kläglich unterentwickeltes Rechtsbedürfnis sich dar; als habe die Flut von Unrecht die Rechtssuche ausgeschaltet, nicht provoziert. Abwehrkräfte gegen das Ansinnen, sich mit ..so etwas" zu beschäftigen, wurden justizmächtig. Als ..Unfähigkeit zu trauern" hat Alexander Mitscherlich die Verdrängung des Gräßlichen charakterisiert; in vielfacher Unfähigkeit zum Recht setzte sie sich fort. Bestimmende Erfahrung aus diesem Stück Rechtsgeschichte ist: die leichte Verfügbarkeit des Lebens in (von den Tätern geschaffenen) Ausnahmesituationen. Rechtsverfall, von dem Machtexzesse zeugen, kann in ihrer ..Ahndung" fortdauern. c) Die .. negative Spezialprävention"
Es geht darum, die Gesellschaft vor einer Wiederholungstat eben dieses Täters zu schützen. Bei seiner dritten Aufgabe richtet das prävenierende Recht sich gegen den einzelnen, der Unrecht beging (im Unterschied zur Generalprävention, in der eine Vielzahl möglicher Täter als Adressat des Schreckens, die Gesellschaft insgesamt als Adressat der Bekräftigung erscheinen). Nun soll das anzuwendende Strafgesetz einen schützenden Wall zwischen dem Täter und allen Menschen errichten, die er erneut mit demselben Unrecht überziehen könnte. Der Strafzweck ist endlich konkret, der Erfolg evident (ein sicher einge110 Ulrich-Dieter Oppitz, Strafverfahren und Strafvollstreckung bei NSGewaltverbrechen, 2. Aufl. 1979; Adalbert Rückerl, Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen 1945 - 1978 (der Autor dieser 1979 erschienenen, düsteren Bilanz ist seit 1001 Mitarbeiter, seit 1966 Leiter der .. Zentralstelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen" in Ludwigsburg).
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sperrter Mörder mordet nicht mehr), nicht nur auf Hypothese und Hoffnung gegründet wie die generelle Zwecksetzung. Wäre die Strafrechtslehre mit der Sicherheitsleistung zufrieden, so bliebe allein nach dem sichernden Mittel zu fragen: Welche Strafe ist hierzu notwendig, aber auch ausreichend? Doch die Prävention soll ja mehr bedeuten, die Strafe ist deshalb zugleich den übrigen Zielen anzumessen. Beccaria hat die Wechselbeziehung umrissen: Fällig seien Strafen, "die unter Wahrung des rechten Verhältnisses zum jeweiligen Verbrechen den wirksamsten und nachhaltigsten Eindruck in den Seelen der Menschen zurücklassen, für den Leib des Schuldigen hingegen, so wenig qualvoll wie möglich sind"111. Die denkbar gründlichste Sicherung gegen den Täter wäre die Todesstrafe; Beccaria verwirft sie als nicht "eindrucksvoll" genug. Da er für Freiheitsstrafen plädiert, stellt er das Zumessungsproblem so, wie es heutzutage im Strafprozeß herrscht. Dem Richter muß (innerhalb des gesetzten Strafrahmens) eine Entscheidung gelingen, die, Beccarias Formel läßt es ahnen, auf die Quadratur des Kreises hinausläuft. Eine nur sichernde Freiheitsstrafe müßte so lange dauern, bis die Strafvollstrecker die günstige Prognose stellen dürfen, ein Rückfall sei ausgeschlossen. Bei Tötungsunrecht kann man dieses Urteil in vielen Fällen bald wagen; die private Katastrophe, die tödlich endet (Fall van B.), bleibt doch meist einmalig in einer bürgerlichen Biographie. (Daraus könnte sich die geringe Rückfälligkeit aus der Haft entlassener Mörder erklären. Sie beträgt etwa 1 : 20 gegenüber der sonstigen Rückfallhäufigkeit von 50 bis 80 Prozent je nach Delikt; BVerfGE 45, S. 257.) Auf die generalpräventiven Ziele wäre die geringe Strafe ein Hohn. Der Täter würde eher nur getestet statt bestraft, und der erste Totschlag in tragischer Lage schiene für jedermann frei. Die verschiedenen Strafzwecke können in unaufhebbaren Widerspruch treten; das Gericht, das bei Totschlag Freiheitsentzug zwischen 6 Monaten und 15 Jahren anordnen soll (§§ 212, 213 StGB), müßte deshalb zunächst zwischen den Prämissen für die Strafmenge wählen. Als Korrektiv für diese Wahl (oder als Anhalt für Kompromisse) hat Beccaria das "rechte Verhältnis" der Strafe zur Tat angeboten. Gemeint ist wohl, daß eine Strafe weder aus general präventiver Absicht zu hoch anzusetzen sei, eine pure Quelle der Angst; noch, daß sie wegen geringer individueller Wiederholungsgefahr allzu milde ausfallen dürfe. Zu suchen sei "die Mitte zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig": so hat Aristoteles Gerechtigkeit definiert112 • Die Maß-gabe allerdings kommt nun plötzlich von außerhalb, sie liegt jenseits der Präventionslehre und ist ihr 111 112
Beccaria (Fn. 104), S. 74.
Nikomachische Ethik 1129 a - 1134 b.
IV. Bessere Gründe?
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übergeordnet. Ein höherrangiges Prinzip soll die Resultate der Prävention verbessern, hin zum "befriedigenden" Ergebnis. Welcher Maßgeber jedoch ist dann zusätzlich am Werk, wenn nicht die Aggression, die Rachsucht? Was zur Vergeltung ausreiche (nach Rechtsgefühl, Gewohnheit, öffentlicher Erregung), sei die gerechte Strafe. Harmonieren mit ihr die Aspekte der Prävention, so darf man von glücklichem Zufall sprechen. Aber gar nicht "glücklich" fügen Spezielles und Generelles sich zusammen, denkt man an Hegels Einwand gegen die Abschreckungslehre: Sie lasse Recht als den Stock erscheinen, mit dem man einem Hund drohe. Denn nunmehr nimmt der Prügel Gestalt an: der verurteilte Täter muß dafür herhalten. Er wird zum Instrument der Rechtspflege. Eine Verwendung des Täters, die vor Hegel bereits Kant als unsittlich angeprangert hatte. Kants Ethik wirbt für den Gedanken, daß der Mensch immer nur Ziel, nie Mittel zu irgend einem (noch so gut gemeinten) Zweck sein dürfe113 • Zur (General-)Prävention hingegen gehört unleugbar eine gewisse Verdinglichung. Die eigentliche Konsequenz der Tat ist demnach, daß der Täter Menschennatur einbüßt. (Dies sei seine Schuld: er habe sich verfügbar gemacht.) Die Erinyen waren "menschlicher": sie wollten den Täter Leid, eine Dimension des Menschlichen, wenn auch eine oft und gern verdrängte, auskosten lassen. d) Die "positive Spezialprävention"
Die Gesellschaft ist vor dem Täter sicher, solange er von ihr isoliert lebt. Weder die Theorie der Prävention, noch das geltende Strafrecht sehen die dauernde Trennung vor ("lebenslänglich" ist nicht wörtlich zu nehmen). Nur ausnahmsweise werden Rückfalltäter dauernd in "Sicherungsverwahrung" genommen. Nach dem Ende der Strafzeit kehrt ein Mensch in die Welt zurück, die ihm nicht abermals Opfer geben will. Die Versicherung gegen neue Täterschaft muß im Alltag fortdauern. Strafrecht als Schreckmittel und Wertbekräftiger gehen nun zwar diesen Menschen wie jedermann an, vielleicht mit mehr Erfolg, weil er den Schrecken schon durchlebte. Aber die Präventionslehre vertraut allein darauf nicht mehr, sie verlangt zugleich den "Behandlungsvollzug", der den Häftling auf ein künftig rechtmäßiges Leben festzulegen habe. Prävention in diesem "positiven" Sinn ist Resozialisierung.
113 "In der ganzen Schöpf'upg kann alles, was man will, und worüber man etwas vermag, auch bloß als Mittel gebraucht werden; nur der Mensch, und mit ihm jedes vernünftige Geschöpf, ist Zweck an sich selbst." - Kritik der praktischen Vernunft, A 156 f. Entsprechend Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, B 226.
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3. Kap.: Recht auf Unrecht hin (Strafrecht) 3. Resozialisierung
Der Einfall ist wiederum nicht neu, und auch er war lange utopisch. Platons Entwurf eines idealen Staates (Nomoi 907 a - 909 d) sieht das "Besserungshaus" (sophronisterion) vor für Übeltäter, die aus "Unverstand" oder aus "argen Leidenschaften und Gesinnungen" sich "an den Göttern vergehen". Die Frevler seien für mindestens fünf Jahre einzuschließen; nur ausgewählte weise Männer werden mit den Gefangenen "zu deren Zurechtweisung und zum Heile ihrer Seelen Umgang haben". Wer "zur Besinnung gekommen ist, der kehre zu den Besonnenen zurück". Vielerlei kann Resozialisierung bedeuten. Etwa, daß ein Gefangener eine Berufsausbildung nachholt, um später seinen Lebensunterhalt legal statt durch neu es Unrecht zu verdienen. (Wobei die Gesellschaft mit zu "sozialisieren" wäre: sie muß den Freigelassenen ohne Vorbehalt aufnehmen, ihm die normale Chance zur Normalität geben.) Oder: Ein Mensch kann, wenngleich in Haft, günstige Selbsterfahrungen machen. Er erwirbt Selbstwertgefühl und kommt auf den Gedanken, künftig auch andere als wertvoll und unantastbar anzuerkennen (ein permanenter Austausch Zug um Zug) ... Doch auch Gründlicheres ist im Gespräch. Nötig sei Lebenshilfe für den Täter, die ihn bei Bedarf dauernd begleiten (vielmehr leiten) sollte. Heilung in Freiheit habe den Strafbetrieb abzulösen, der hilflos gegen Unrecht sei, es sogar vermehre114 • (Gefängnisse als "Hohe Schulen der Kriminalität".) Als Ausweg bietet die womöglich totale Psychotherapie sich an. Sie freilich würde Unrecht von vornherein, ex definitione, aus der Welt schaffen. Denn Therapie setzt Krankheit voraus, und vormals unrechtes Handeln wäre nunmehr ein Fall gestörten Befindens. Zur Verantwortung dürfte man den Patienten nicht ziehen, weder Rache noch Haftung hätten ihn zu treffen - auch der Herzinfarkt ist nicht abzubüßen, sondern zu heilen. (Was dem Patienten "lästig" sein mag. Aber darin liegt ja schon "Buße" für die verkehrte Lebensführung zuvor.) - Und das Verbrechensopfer? Es tritt kurz als Indikator (Anzeiger) einer Krankheit des "Täters" in Erscheinung, hat damit seine Funktion erfüllt und verschwindet wieder aus dem Blickfeld. Mit dem leichten Zynismus des Protagoras betrachtet: Warum auch nicht, da sogar ein Rächer das Geschehene doch nicht ungeschehen machen könnte. Vergessen wird das Opfer indessen nur bei individualistischem (individual-medizinischem) Ansatz; er wendet sich in verkürzender 114 Dazu Helmut Ortner (ed.), Freiheit statt Strafe. Plädoyers für die Abschaffung der Gefängnisse (Fischer Taschenbuch 4225); Karl F. Schumann / Michael Voß, Versuchte Gefangenenbefreiung. über die Abschaffung der Jugendgefängnisse im US-Staat Massachusetts im Januar 1972 und die Entwicklung seither, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 1981, S. 168 - 224.
V. Keine Lösung
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Weise an einzelne, deren er habhaft werden kann. Therapie, die das Attribut "sozial" verdienen wollte, müßte den ganzen gesellschaftlichen Zusammenhang erfassen und sich auch den victimae 115 zuwenden. Auch dort, bei den Geschädigten oder bei Angehörigen eines Getöteten, ist Heilung fällig. Ein hinreichend komplexes Therapiesystem müßte sich ausbauen zu möglichst lückenloser Versorgung - zur Verwaltung der Leidlosigkeit. (Die so perfekt gelungen ist in Huxleys "Brave New World".) Gewiß, nach dergleichen kann man streben. Wie realisierbar ein solches Ideal ist - und wie wünschenswert angesichts der Implikationen, die man überdenken muß - ist allen Fragens würdig.
v.
Keine Lösung
Das Verbrechen (das Unrecht) ist Stachel im Fleisch der Gesellschaft. Menschen, denen Rachsucht zuwider ist - "Erlösung" von der Rache wünschte Nietzsches Zarathustra -, nennen das Strafrecht im selben Atemzug. Es stellt sich ihnen als gleich großes übel, als nicht minderer Stachel dar. Die gründliche Abneigung läßt nach ebenso gründlicher Lösung suchen. "Unschädlichmachung der Gesellschaft" hat Ernst Bloch verlangt: die radikalste und zugleich freundlichste Straftheorie sei, die "gesellschaftliche Mutter des Unrechts" zu töten 116 • Nach dieser "Mutter" wäre also zu fahnden - und es gibt einen Steckbrief, ausgestellt erstmals von Karl Marx, schärfer nachgezeichnet von Lenin. Quelle des übels sei die kapitalistische Produktionsweise, sie werde ausgetrocknet durch den Sozialismus ... Ein einfaches Rezept, das leider in praxi unglaubwürdig geworden und als Heilsbotschaft theoretisch zweifelhaft ist. Wer nicht auf veränderte objektive Umstände baut, nicht mit Abschaffung des kriminogenen (Unrecht zeugenden) Sachverhalts rechnet, und sei es nur, weil die bessere Wirklichkeit nicht absehbar ist, man bis auf weiteres die zweitbeste Lösung arrangieren müsse: wer der "Materie" nicht traut, kann bei den Subjekten ansetzen. Zwei Mittel hat Beccaria empfohlen: Belohnung und Erziehung1l7 • Preise für tugendhafte Handlungen vorzuschreiben (als positives Pendant zur Strafe), habe das Recht bisher leichtsinnigerweise versäumt. Schließlich aber sei "das sicherste doch schwierigste Mittel zur Vorbeugung gegen das Verbrechen die Vervollkommnung der Erziehung". Widerspruch gegen 115 Ihnen ist eine noch junge kriminologische Forschungsrichtung gewidmet; vgl. Hans Joachim Schneider, Viktimologie. Wissenschaft vom Verbrechensopfer, 1975 (UTB 447). 118 Bloch, Naturrecht (Fn. 63), S. 297 ff. 117 Beccaria (Fn. 104), S. 155.
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3. Kap.: Recht auf Unrecht hin (Strafrecht)
diesen Satz ist kaum möglich. Nur: Was geschieht, wo Erzieher scheitern? Beim Strafrecht bleibt es also. Womit eine Erwiderung auf Unrecht gegeben, aber kein Problem gelöst ist! Strafrecht ist: eine Verlegenheit. Es dokumentiert das Unvermögen, die zugrundeliegenden Probleme zu lösen. Vielleicht ist es bisweilen ein Indiz für deren Unlösbarkeit. Um so weniger darf es als seriöse Antwort gelten; am wenigsten als eine beruhigende Antwort. Es ist anstößig wie das Unrecht selbst; und Unbehagen, schlechtes Gewissen, Anstrengung um bessere Wege und Ertragen des Scheiterns kennzeichnen das Weitersuchen nach Recht. Aber dieses Übel Strafrecht ist trotz allem Recht. Es trägt (vermutlich) bei zum einigermaßen friedlichen Betreiben einer Gesellschaft. Erfolge (unterstellt man sie) verdankt es am ersten der Tatsache, daß es Rache verwaltet, d. h. in der Gesellschaft Aggression kanalisiert. Es ist also ein Stück condition humaine; und um wenigstens folgerichtig in sich zu sein, muß es solche auch dem Täter gewähren. Es muß ihm eine Existenz vermitteln, die zwar belastet ist durch die Tat - ein anderes Leben, als er es sich wünschen mag. Doch Unrecht zu tun und unbehelligt frei zu bleiben, wäre allzu widersprüchlich. Abgewendet hat diesen Widerspruch Jahwe im Urteil über Kain.
Viertes Kapitel
L'Etat, c'est nOllS (Öffentliches Recht) Der KKW-Fall (1. Kap. II 2 und III 2) steht exemplarisch für etliche ähnliche Ereignisse, die an der Substanz des Staates zehren; am Grundkonsens oder gar noch an der Fähigkeit zu ihm. Die Skizze zur Rechtssuche hat hohe Anforderungen an das Recht gezeigt; zugleich ist der Eindruck entstanden, als würde das geltende Recht ihnen nicht genügen. Vielleicht aber ist dieser Eindruck falsch, kommt es darauf an, Grundlagen und Wirkungsweisen der Gesetze erst einmal zu erkennen. Und dann nicht bei abstrakter Einsicht zu enden, sondern erkannte Handlungsmöglichkeiten auch wirklich auszuschöpfen! Vom Spielraum für recht gemäß-sinnvolles Handeln in öffentlichen Angelegenheiten soll daher nun die Rede sein, und auch von der Last der Praxis, die der einzelne auf sich nehmen muß, wenn er ernsthaft Demokrat sein will. J. Der rechtsstaatliche Aspekt: Zum KKW durch Gesetzesanwendung Elektrizität zu erzeugen und zu verbrauchen, gilt in der Bundesrepublik als private Angelegenheit. Unternehmer entscheiden in Privatautonomie, ob sie Anbieter auf dem Energiemarkt werden wollen und in welcher Technik sie ihr Produkt herzustellen gedenken; aus Verlustgeschäften ziehen sie sich nach ökonomischem Gutdünken zurück. In die Unternehmerrolle kann auch "der Staat" (der Bund, ein Bundesland, eine Gemeinde) schlüpfen, er agiert dann unstaatlich: nicht hoheitlich (wie ein Briefträger, Polizist oder Richter), sondern als ein Jedermann. Dem privaten Status entsprechend verteilt der Energieunternehmer sein Erzeugnis: mit dem einzelnen Kunden schließt er einen bürgerlichrechtlichen Vertrag über Leistung und Gegenleistung ab. Trotz zivilistischer Rechtsformen ist die Grenze der Privatheit schnell erreicht - so schnell, als wäre in der zivilrechtlichen Hülse doch eine eigentlich öffentliche Sache enthalten. Der Staat als Organisation der res publica mischt sich ein, versucht öffentliche Interessen (Gemeininteressen) zur Geltung zu bringen. Er sieht sich zur "Daseinsvorsorge" verpflichtet: verantwortlich dafür, daß ein lebensnotwendiges Gut dauernd bereitsteht. Die Stromerzeugung ist andererseits mit Risiken 17 Gast
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4. Kap.: L'Etat, c'est nous (Öffentliches Recht)
verbunden, die Gewinnung der einen, technischen Lebensgrundlage gefährdet andere, natürliche Lebensgrundlagen (Luft, Wasser); dem Staat als Schutzeinrichtung für alle obliegt es, gegen die Gefahren einzuschreiten, ihnen möglichst vorzubeugen. Die Erwartungen an den Staat - sie sind sogar längst anerkannte Staatsfunktionen - begründen Aufgaben für Funktionäre; und weil staatliches Handeln nicht willkürlich, vielmehr verbürgt und berechenbar sein soll, ist auch die rechtliche Regelung vorausgesetzt. Der Energiemarkt, das "privatautonome" Gebaren dort, ist eine im wesentlichen reglementierte Veranstaltung; er ist Gegenstand für etliche Gesetze des Verwaltungsrechts. (Aus der Masse des Verwaltungsrechts stellen sie nur wieder einen bescheidenen Ausschnitt dar.) Öffentliches Recht, so geheißen zur Unterscheidung gegenüber dem Zivilrecht, das staats frei anwendbar ist, solange Konfliktionäre ohne den Richter auskommen: öffentliches Recht verschafft dem Leben in der Gesellschaft eine mehr oder minder determinierende Begleitung durch Behörden. Man hängt ab von Genehmigungen, ist Eingriffen ausgeliefert, hat Weisungen zu befolgen .. , Gesetze, die alldies regeln, sind unvermeidlich abstrakt, ihr immanenter Freiheitsraum jedoch scheint den Behörden vorbehalten - der Definitionsmacht in den Büros (Bürokratie). 1. Die Prozedur
(1) Ein Unternehmer, der eine Energieanlage bauen, erneuern, erweitern oder stillegen will, muß sein Vorhaben bei der zuständigen Behörde anzeigen. Das Energiewirtschaftsgesetz von 1935, zuletzt geändert 1977 (also bewußt "in Kraft" gehalten und fortgebildet), legt ihm diese Verpflichtung auf. "Der Staat" verschafft sich Kenntnis vom Energieangebot, um einzugreifen, wo er die Versorgung gefährdet sieht. Daß "die Energieversorgung so sicher und billig wie möglich zu gestalten" sei, gehört zu den Maximen, die in der Gesetzespräambel festgehalten sind. Dem gesetzlichen Auftrag widerspricht ein Unternehmen, das seine Nachfrager nicht (mehr) befriedigen kann; ihm darf die Behörde den Betrieb untersagen, seine vom Mangel bedrohten Kunden darf sie einem anderen, leistungsstärkeren Unternehmen zuweisen (§ 8 des Gesetzes). Optimale Leistung erwartet das Gesetz von einem Verbund der Monopole, von denen jedes ein bestimmtes Gebiet versorgt. Konkurrenzlosigkeit soll zur wirtschaftlichsten Ausnutzung der Anlagen führen und jedem Unternehmen so viel Gewinn sichern, daß die kostspieligen Investitionen möglich und für Kapitaleigner reizvoll sind. Behörden (die Wirtschaftsministerien von Bund und Ländern) richten dementsprechend die Anbieterseite auf dem Energiemarkt aus; Betriebsverbote sind das gesetzliche Instrument. Das Monopol freilich vermittelt auch Macht gegen den Kunden. Ihn sucht das Recht vor Willkür des Monopolisten zu schützen, indem es eine Versorgungspflicht festlegt und die Preisgestaltung beeinflußt. Die staatliche Lenkung des Marktes begründet Verantwortung (oder vielmehr folgt sie schon aus dieser);
I. Der rechtsstaatliche Aspekt: Zum KKW durch Gesetzesanwendung 259 konsequent ist deshalb, daß der Staat selbst eintritt, wo immer private Investoren (sich) versagen. Die wirtschaftsrechtliche Prämisse vom überhaupt privatwirtschaftlichen Produktionsprozeß verweist den Ersatz-Privaten "Staat" dann in die zivilen Rechtsformen. (Wozu die Maskerade?) (2) Unternehmertum in der Energiebranche (das Vorhaben "als solches") ist, sofern nur die ökonomische Grundlage stimmt, rechtlich frei. Das "im Prinzip" erlaubte Tun wird gleichwohl prompt gegen rechtliche Barrieren stoßen. Frei ist die Berufswahl (auf Art. 12 Grundgesetz darf der Kraftwerkunternehmer ebenso pochen wie der Friseurlehrling). Errichtung und Betrieb der Kraftwerksanlagen jedoch bedürfen der Genehmigung. Wozu diese Erschwerung einer politisch erwünschten Tätigkeit? Der Betrieb eines Kraftwerks wirkt auf die Umwelt ein (er bringt "Immissionen" mit sich); dabei belästigt oder bedroht er unabsehbar viele Menschen. Mit dem Interesse am Produkt, in dessen Dienst der Staatsapparat getreten ist seine Maßnahmen gegen störende Erzeuger sollen die Produktion fördern - konkurriert das Interesse an einer gefahrlosen Welt. Zur Entschärfung der Welt hatten die Menschen Gemeinschaft (polis, Staat) erfunden, und damit Gemeinschaftlichkeit funktioniert, mußte Zeus das Recht beitragen (Protagoras). Gegen die Risiken einzuschreiten, die der Energieunternehmer (einerseits ein Prometheusl?) in die Welt setzt, obliegt daher den Behörden ebenfalls. Ihr rechtliches Werkzeug ist der Genehmigungsvorbehalt. Nur die genehmigte Anlage darf errichtet und betrieben werden, und nur die hinreichend sichere Anlage ist genehmigungsfähig; wobei Gesetze auch das Maß für Sicherheit bestimmen. Die Rechtsverhältnisse um Kernkraftwerke regelt das Atomgesetz von 1959/1976. Die atomare Anlage zu erlauben, liegt im Ermessen der zuständigen Behörde. Sie darf die Genehmigung erteilen, wenn alle Bedingungen erfüllt sind, die § 7 Absatz 2 des Gesetzes aufzählt. Vorgeschrieben ist unter anderem die "nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderliche Vorsorge gegen Schäden" aus dem Nuklearprozeß; zugleich auch die "erforderliche Vorsorge für die Erfüllung gesetzlicher Schadenersatzverpflichtungen" . (Eine doppelte Sicherung, die indessen auch bedeutet: Soweit Gefahren wissenschaftlich nicht aufgeklärt sind, oder erkannte Gefahren technisch ungebändigt, da gilt die Maxime "Geld statt Leben". Welchem "Stand" der Wissenschaft die Vorsorge folgen muß, dem optimistischeren oder dem skeptischeren denn hinter dem Ideal vom sicheren Wissen verbirgt sich in jeglicher Wissenschaft viel Meinungsstreit -, sagt das Gesetz nicht. Die "Lösung" dieser Frage ist gleichfalls dem Haftungsrecht anvertraut. Den wissenschaftlichen Irrtum, das zu gewagte Vertrauen, die mißlungene Spekulation: pekuniärer Trost soll alles auffangen. über die Grenzen dieses althergebrachten Prinzips wäre nachzudenken.) Genehmigen darf die Behörde außerdem nur, wenn "überwiegende Interessen, insbesondere im Hinblick auf die Reinhaltung des Wassers, der Luft und des Bodens" dem Vorhaben nicht entgegenstehen. Die Entscheider 17'
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4. Kap.: L'Etat, c'est nous (Öffentliches Recht)
müssen abwägen: Sind Risiken für die Naturgüter geringer anzusetzen, eher zu ertragen, als die drohende Knappheit an Elektrizität ... ? (3) Zuständig für die verbindliche Antwort sind "die durch die Landesregierungen bestimmten obersten Landesbehörden" (§ 24 Atomgesetz). Oberste Landesbehörde ist jeder Minister jeweils für sein Ressort (- der Wirtschaftsminister ist höchste Behörde für Angelegenheiten der Wirtschaftsverwaltung, und so weiter). Jede Landesregierung hat, im Zuge ihrer Geschäftsverteilung, die Ressortgrenzen festgelegt; einem der Ressortchefs - oder dem Konsens zwischen mehreren - vertraut sie die atomrechtliche Entscheidung an. Zugewiesen ist dem Minister selbst die rechtlich-formelle und die politische Verantwortung. Die Entscheidungsarbeit übernimmt ein Stab aus Beamten und Angestellten des Ministeriums; und das Resultat spiegelt die einhellige oder herrschende Auffassung einer gesamten Regierung wider. Zur Rechtfertigung seiner Entscheidungsmacht kann der Minister zwei Gründe anführen: sein Amt und das Atomgesetz. (4) Der Entscheidung geht ein Verfahren voraus: ein rechtlicher Weg, den Bürger und Staatsapparat einhalten müssen. Der einfachste Gang der Dinge wäre, daß der interessierte Unternehmer einen Antrag stellt, die Behörde entscheidet, das Resultat, versehen mit einer Begründung, dem Unternehmer mitgeteilt wird. Der wesentliche Teil, die Entscheidungsfindung, bliebe dann interne Prozedur des Apparats; sie würde sich nur durch die Begründung offenbaren. Solche Verfahren gibt es (der Bürger, der für sein Wohnhaus eine Baugenehmigung beantragt, erlebt dergleichen). Der Weg zum Kernkraftwerk ist nicht so kurz 118 • Ein Bündel staatlicher Planungen und Entscheide ist nötig, bis ein Kernkraftwerk den Betrieb aufnehmen kann. Zuerst geschieht "Raumordnung": eine Landschaft wird für bestimmte Nutzungen freigegeben, ein Gelände darin als Standort für das Kraftwerk ausgewiesen. Eine lange rechtliche Strecke wird danach zu durchlaufen sein, bis die letzte Genehmigung ansteht, die das Gesetz vorschreibt: die Freigabe des Betriebs. Halbwegs wird über den Bau der atomaren Anlage (des Reaktors im Kraftwerk) entschieden; nur auf sie bezieht sich § 7 Atomgesetz. Das Verfahren dabei läßt sich exemplarisch nehmen für Exekutive mit "Bürgerbeteiligung" . Dieses Verfahren nun ist zwar nicht unmittelbar demokratisch (die Entscheidung fällt ein Minister), doch immerhin öffentlich. Der Unternehmer stellt seinen Antrag und reicht die erforderlichen Papiere ein: Pläne der Anlage, einen Sicherheitsbericht, ein Verzeichnis vorgesehener Maßnahmen des Umweltschutzes ... Das Vorhaben wird im Amtsblatt und in Tageszeitungen bekanntgemacht. Wichtige Unterlagen Zum Procedere bei Verwaltungsverfahren mit ökologischer Dimension: Hermann Ule / Hans Werner Laubinger, Gutachten B zum 52. Deutschen Juristentag 1978. Vgl. außerdem die Literatur aus Fn. 20. 118
earl
I. Der rechts staatliche Aspekt: Zum KKW durch Gesetzesanwendung
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werden zur Einsicht für jedermann ausgelegt: der Antrag, der Sicherheitsbericht und eine Kurzbeschreibung des Projekts. Darüber hinaus ist Akteneinsicht möglich. Während der zwei Monate dauernden Auslegung kann jedermann schriftlich - oder zu Protokoll bestimmter Behörden - Einwendungen erheben. Die Genehmigungsbehörde setzt einen Termin für die Erörterung der Einwendungen fest; jeder Einwender darf daran teilnehmen und seine Bedenken erläutern. (Nicht behandelt werden zivil rechtliche Ansprüche. Anlieger etwa, die Immissionen von ihren Grundstücken abwehren möchten, sind insoweit auf den Rechtsweg zu den Zivilgerichten verwiesen.) Nach Prüfung aller gesetzlichen Gesichtspunkte ergeht Bescheid; die Genehmigung wird versagt oder erteilt, die Erteilung kann in Raten geschehen. (Einzelheiten regelt die Atomrechtliche Verfahrensverordnung vom 18. Februar 1977.) (5) Der Spruch der Behörde ist nicht unbedingt das letzte Wort. Er wird rechtskräftig, sein Inhalt unumstößlich, sofern keine Klage beim Verwaltungsgericht eingeht. Gegen die Versagung ist nur die Klage des enttäuschten Unternehmers zulässig (- ein eher hypothetischer Fall; man kann vor dem teueren Verfahren die Chancen eines Antrags erkunden). Die Genehmigung aber darf jeder Bürger anfechten, der sich in seinen Rechten verletzt meint (in nicht-zivil rechtlichen Titeln, zumal in Grundrechten). Das Verwaltungsgericht prüft nach, ob die Genehmigungsbehörde Rechtsverletzungen beging. Hat die Behörde darauf geachtet, daß die Vorsorge gegen Unfälle den "Stand von Wissenschaft und Technik" wahrt? Welches ist überhaupt der zu wahrende "Stand"? Wurde mit zureichenden Gründen festgestellt, daß Interessen des Umweltschutzes nicht überwiegen? ... Der Bürger, nun Kläger, braucht keine Belastung zu dulden, die unter Gesetzesverstoß verhängt worden ist. Allerdings hat das geltende Recht den einzelnen nicht zum Wächter über die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung bestellt; seine Klage bleibt erfolglos, wenn das gesetzeswidrige Ereignis nicht gerade ihn in seinen Rechten verletzt. Erfolg hat eine Klage also unter folgenden Bedingungen: Erstens muß sich ergeben, daß die Behörde ein Gesetz falsch angewendet hat. (Beispiel: Die akzeptierte Sicherung gegen radioaktive Strahlen entspricht nicht der wissenschaftlich erkannten Notwendigkeit.) Zweitens muß hieraus eine Gefahr für den Kläger resultieren, die sich juristisch als Verletzung eines ihm zustehenden Rechts begreifen läßt. (Der Kläger lebt im Strahlenbereich des Reaktors; die Strahlenmenge würde seine Gesundheit gefährden oder schädigen; das Recht des Klägers auf Leben und körperliche Unversehrtheit, gewährleistet durch Art. 2 Grundgesetz, wäre verletzt.) Umgekehrt: Hat die Behörde dem Gesetz Genüge getan, so ist - vielleicht - kein Rechtsgut des
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4. Kap.: L'Etat, c'est nous (Öffentliches Recht)
Klägers bedroht (eine Lebensgefährdung durch Strahlung ist nicht zu erwarten). Oder die Gefahr besteht vielleicht doch, aber sie ist, weil legal verhängt, vom Bürger hinzunehmen. (Letzteres, wenn das Gericht von der Behörde nicht fordert, sie müsse den skeptischsten Wissenschaftlern folgen, vielmehr eine "mittlere Strenge" der Ansichten ausreichen soll.) - Im Effekt ist der Kläger ein inoffizieller Verrichter (ein faktischer Funktionär) für viele Kernkraftgegner. Sein Erfolg wird zum Erfolg all jener Gleichgesinnten, die nicht klagen durften, weil sie zu weitab vom konkreten Vorhaben wohnen. Zum Erfolg auch für jene, die aus politischen Erwägungen (der "Atomstaat" drohe) Kernenergie verwerfen: aus Gründen, die sich nicht zur individuellen Grundrechtsverletzung definieren lassen. Wie verhält es sich um die Chance einzelner Bürger, das Gericht von ihren Rechtserwartungen zu überzeugen? Sie ist prinzipiell gleichartig der Siegesaussicht in jedem Prozeß: es kommt darauf an, welcher dogmatische Kontext das Gericht einbindet, welche Rechtsansichten den rechten Stellen plausibel sind (2. Kap. II 3 d und 5 d). (6) Am Ende des Rechtswegs steht, wenn alle anderen Hoffnungen unerfüllt geblieben sind, das Bundesverfassungsgericht. Seine Grundanschauung - sein überaus wirksamer, nämlich präjudizierender Beitrag zur dogmatischen Szenerie, zugleich Anhaltspunkt für die Erfolgsaussicht künftiger Verfahren in KarIsruhe - zeichnet sich ab im Beschluß vom 8. August 1978 (BVerfGE Bd. 49, S. 89 ff.). Gestritten wurde um kein "gewöhnliches" Kernkraftwerk, sondern um den Schnellen Brüter von Kalkar: einen Reaktor mit zwei Funktionen. Er soll atomar die Energie zum Betreiben von Turbinen erzeugen, gleichzeitig aber nicht-spaltbares Uran in radioaktives Plutonium (in neuen Kernbrennstoff) umwandeln. Im Dezember 1972 erging die erste Teilgenehmigung zur Errichtung der Anlage. Ein Landwirt aus nächster Nachbarschaft, nur etwa 1000 Meter von seinem Hof entfernt würde der Brutreaktor stehen, klagte gegen diese Entscheidung. Das Verwaltungsgericht Düsseldorf wies die Klage im Oktober 1973 ab. Der Streit kam in die Berufungsinstanz. Dem Oberverwaltungsgericht Münster genügte die Legitimation der Entscheider nicht: Die Macht der Behörden, aufgrund des § 7 Atomgesetz einen Brutreaktor zu genehmigen, verstoße gegen Prinzipien der Demokratie und des Rechtsstaats (gegen Art. 20 Grundgesetz also). Die Brütertechnologie vermehre erheblich die Risiken, die von der Atomindustrie ausgehen; die "politische Leitentscheidung" , ob den Bürgern ein solcher Eingriff in ihr Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit zugemutet werde, müsse das Parlament treffen. Für den Gesetzgeber des Jahres 1959 sei, als er den § 7 Atomgesetz erließ, das Ausmaß der Gefahren nicht absehbar gewe-
I. Der rechts staatliche Aspekt: Zum KKW durch Gesetzesanwendung 263
sen; das generelle rechtliche Einverständnis mit dem Atombetrieb neuer Qualität fehle darum noch. Zwar könne ein Gesetz Behörden zur Genehmigung Schneller Brüter ermächtigen; die Bedingungen dafür müsse es aber "präziser" (konkreter, strenger) fassen als bisher. (Einzelheiten in E Bd. 49, S. 94 - 98. Sodann 25 Seiten juristisches und technologisches Pro und Contra, mit Einblicken in die Büchse der Pandora, S. 112 ff.) Den Schluß, daß im Streitfall die Genehmigung ohne Rechtsgrundlage erteilt, deshalb aufzuheben sei, durfte das Oberverwaltungsgericht jedoch nicht eigenmächtig ziehen. Es mußte das eigene Verfahren unterbrechen und die Rechtsfrage dem Bundesverfassungsgericht zur Klärung vorlegen (Art. 100 Grundgesetz). Dies geschah im August 1977. Das Verfassungsgericht teilte die Bedenken nicht. Es erklärt die vorhandene rechtliche Grundlegung des Plutoniumzeitalters für ausreichend. (Womit zunächst implizit gesagt ist, daß die Brütertechnologie nicht etwa gar an sich verfassungswidrig ist.) An Schnelle Brüter habe nachweislich auch der Gesetzgeber von 1959 gedacht (S. 128). Man darf ergänzen: Bei der Gesetzesänderung 1976 hätte der Bundestag, besser unterrichtet als 17 Jahre zuvor, die Zulassung von Brutreaktoren neu normieren können (- unterstellt, er war politisch dazu fähig, war nicht im Gegenteil dankbar, alle Entscheidungslast fürs erste auf Länderminister und Gerichte abgewälzt zu haben). Beibehaltung der Gesetzeslage ist ein Indiz dafür, daß dem Gesetzgeber alles zulänglich geregelt scheint. Auf solche Zufriedenheit käme es nur dann nicht an, wenn die einmal erlassene Vorschrift an Maximen des demokratischen Rechtsstaats scheitern würde. Sie verlangen die demokratische Ermächtigung jedes Staatsorgans zu jeder seiner Aktionen; außerdem ist ein den Bürger belastender Verwaltungsakt nur rechtens, wenn ein Gesetz die Belastung mit hinreichender Bestimmtheit vorzeichnet. Verstöße gegen diese Essentialen konnte das Verfassungs gericht nicht entdecken. Z. Radikaler gesehen
(1) Auf vier Überlegungen stützt das Verfassungsgericht seinen Spruch: Erstens sei die Annahme falsch, eine womöglich folgenschwere politische Entscheidung übersteige schlechthin die Kompetenz der vollziehenden Gewalt. Im Gegenteil verwehre das Grundgesetz den "Gewaltenmonismus in Form eines allumfassenden Parlamentsvorbehalts" (S. 125). Die Exekutive habe im System der Gewaltenteilung eigene Relevanz. Ihre Organe - der genehmigende Minister zum Beispiel seien "institutionell und funktionell" legitimiert aus der Verfassung selbst; "personell" gesehen, legitimiere den Entscheider die Zugehörig-
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4. Kap.: L'Etat, c'est nous (Öffentliches Recht)
keit zur demokratisch bestellten Regierung. (Wenn man die Hierarchie jeder Behörde weiterdenkt: den einzelnen nachgeordneten Entscheider legitimiert die Abhängigkeit vom Minister.) - Zweitens genüge § 7 Atomgesetz, obwohl sein Text "in weitem Umfang unbestimmte Rechtsbegriffe" verwende, dem "Erfordernis hinreichender Bestimmtheit". Bei "vielgestaltigen Sachverhalten" sei die Anforderung an das Gesetz "geringer" (S. 133). Der Gesetzestext darf also hochabstrakt ausfallen, mit der Folge, daß viele reale Gestaltungen dem Gesetz subsumierbar sind und die Behörde große Wahlfreiheit hat. (Eine Entscheidungsmacht, die rechtlich eingebunden und darum "nur" Freiheit zu plausibler Argumentation ist! Die Entscheidung ist mit Gründen = Argumenten zu versehen, das Argumentieren wird auf eine Klage hin gerichtlich nachgeprüft.) - Die Unbestimmtheit des § 7 Atomgesetz diene, drittens, dem Schutz der Bürger: Indem das Gesetz "die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderliche Vorsorge gegen Schäden" verlange, sorge es für Sicherheit nach jeweils neuesten Erkenntnissen (S. 136 f.). "Dynamischen Grundrechtsschutz" nennt das Gericht diese Anbindung an die Aktualität. - Viertens schließlich: Rechtlich vermittelbarer Schutz des Lebens habe seine Grenzen, absolute Sicherheit sei nicht zu veranstalten. Ein Kernkraftwerk dürfe nach geltendem Recht nur genehmigt werden, wenn die Schädigung für Leben, Gesundheit und Sachgüter der Bürger "praktisch ausgeschlossen erscheint". Ein noch strengerer Maßstab würde bedeuten, eine ganze Technologie auf Verdacht hin zu verbannen; dazu sei der Staat nicht verpflichtet. "Ungewißheiten jenseits dieser Schwelle praktischer Vernunft haben ihre Ursachen in den Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens; sie sind unentrinnbar und insofern als sozial-adäquate Lasten von allen Bürgern zu tragen" (S. 143). Für die Irrtümer einiger haften alle! (2) In der zuletzt zitierten Aussage setzt das Verfassungs gericht ein Terrain "praktischer Vernunft" (was immer es darunter verstehen mag) mit jenem des Rechts gleich: beide würden an derselben Grenze enden. (Jedenfalls leiden beide unter der Relativität des Wissenschaftsbetriebs, der letztlich die jeweils herrschende Meinung als "Wahrheit" festhalten muß, um überhaupt Halt zu bieten.) Beim Blick über die Grenze kommt das Gericht zu einem negativen und bloß tautologischen Befund: Grundrechtsschutz gebe es dort nicht mehr. Anders gesagt: Die rechtlich gesicherte Lebenssphäre, die Sicherheit des Rechtlichen sei dort nicht mehr zu vermitteln; und wenn man es positiv wenden will: Schicksal statt Recht waltet jenseits der "praktischen Vernunft". Der Urzustand also: die Welt ohne aid6s und dike (s. oben "Anstöße", I)? Eine Welt, in der, wenn etwas geschieht, Gewalt ausgeübt und ertragen wird?
11. Der demokratische Zusammenhang
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In der Justizperspektive, verengt auf sie, kann Recht sich wohl gar nicht anders darstellen: die geschützte, friedliche Welt breitet sich im Gesetz, in den anzuwendenden Normen aus. Alles übrige ist nicht Thema der Justiz. Zwar werden Rechtsnormen gemacht und erhaltendie realen Gründe hierfür aber sind der Gerichtsbarkeit gleichgültig. Ebenso braucht im Rechtsstaat die Verwaltung nur bis an den Rand der Gesetze zu denken. Vberschreiten dürfen ihn beide Staats"gewalten" (Staatssegmente) ohnehin nicht. Das Ganze des Rechts indessen - die gesamte staatliche und bürgerliche Veranstaltung, die schließlich ein KKW hervorbringen oder verhindern wird - ist erst erfaßt, wenn auch die Legislative und alle ihre verfaßten Bedingungen mitgesehen werden. Deren Kennwort gibt Art. 20 Absatz 1 Grundgesetz; es heißt ,Demokratie' .
11. Der demokratische Zusammenhang Pragmatische Rechtssuche hält sich an die "einschlägigen" Normen. Ihr geht es um die fällige Lösung eines Konflikts aus dem vorhandenen Rechtsbestand. Aber der Konflikt ist nicht immer so einfach, daß ein Stückchen Gesetzestext die Lösung bereithielte, die spätestens der Richter verkünden könnte. Das extreme Gegenbeispiel liefert der KKW-Fall, der vielfältiges Prozedieren auf verschiedenen rechtlichen und politischen Ebenen umfaßt. Ein Teil der Lösungsarbeit liegt beim Gesetzgeber: er ist für Grundentscheidungen über die Nutzung der Kernenergie zuständig. Diese Entscheidungen wurden im Atomgesetz gefällt, doch offenbar nicht zu etwas Selbstverständlichem verfestigt. Den Sinn jedes Gesetzes, eine politische Auseinandersetzung zum Endpunkt zu bringen, ein (Zwischen-)Ergebnis festzulegen, so daß von nun an die schmälere, an Möglichkeiten ärmere Diskussion der Gesetzesanwendung zu führen bliebe: diese Verringerung an Konfliktstoff und Austragungsweisen hat das Atomgesetz bisher nicht erreicht. Wenn demnach der Konflikt unvermindert andauert, muß die Rechtssuche auch die ganze Lage des Rechts, alle Bedingungen der Rechtlichkeit einbeziehen. Sie könnte sich sonst leicht verirren - womöglich auf Kohlhaasens Weg. Daß eine Last alle Bürger "unentrinnbar" treffe, diese Bemerkung des Verfassungsgerichts zum geltenden Atomrecht (oben I 2) ist aus dem Blickwinkel der Justiz verständlich und relativ richtig. Aber wie unentrinnbar ist gesetzlich verhängte Wirklichkeit tatsächlich, welche Umstände haben die Unentrinnbarkeit erzeugt, wodurch wäre sie möglicherweise zu be enden? Handelt es sich denn nicht um demokratisch produzierte und daher demokratisch aufhebbare "Unentrinnbarkeit"? - Oder: Der private Kläger gegen ein Kernkraftwerk erscheint als Mentor für viele, deren Klage unzulässig wäre; individuelle Rechts-
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4. Kap.: L'Etat, c'est nous (Öffentliches Recht)
aktion und politische Reichweite klaffen auseinander. Das Klagerecht kann deshalb zweifelhaft werden. Zweifelhaft zum Beispiel aus der Sicht der Kernkraftgegner: ihnen mag es unzumutbar vorkommen, daß ihr Interesse dem zufälligen Engagement und dem zufällig anmutenden Erfolg eines einzelnen überantwortet sei. Aber ist dies der Fall? Hat, wer so denkt, nicht den ganzen demokratischen Kontext vergessen? ... Ein paar Probleme von vielen, die der KKW-Fall aufwirft! Lösbar sind sie de lege lata alle, und zwar (dies sei vorweggenommen) in so rechtmäßiger Weise, daß für Agieren außerhalb des Rechts wenig Gelegenheit bleibt; illegitime, unrechte Gelegenheit. Es geht "nur" darum, die Kategorien des demokratischen Rechtsstaats vollauf zu praktizieren, sie wirklich auszufüllen - und, da man sie beansprucht, sie auch zu ertragen. Die nicht ungebräuchliche Formel "demokratischer Rechtsstaat" verdankt sich dem Versuch, aus dem Inhalt des Art. 20 Grundgesetz so viel wie möglich in einer den Staat kennzeichnenden Parole zu erfassen. Dies gelingt ihr sehr unvollkommen, letztlich setzt sie durch ihre Grammatik den sachlichen Akzent falsch. Das Demokratische erscheint als Zutat zum Rechtsstaat (als Akzidenz): ein Eindruck, der naheliegt, weil ja auch die demokratischen Ereignisse gesetzlich verfaßt sind. Warum aber sagt man hierzu nicht, das Grundgesetz entwerfe eine rechtsstaatliche Demokratie? - Erst die Summe beider Formeln führt zur Wahrheit. Im Ordnungsentwurf des Grundgesetzes konstituieren Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einander wechselseitig. Weder eine demokratische action directe noch ein ordentlich beschlossenes Gesetz dürfen diese Verschränkung aufbrechen (Art. 79 Abs. 3 Grundgesetz erklärt den Art. 20 für unabänderlich). Sie bedingt zugleich den verfassungs gemäßen Begriff des Politischen: Politik ist der Versuch, etwas zu Recht zu machen. Von der demokratischen Komponente soll hier vor allem die Rede sein; doch sie wird sich von der Komponente Recht nie ganz abstrahieren lassen. Der Stoffmenge sucht das erste Nachdenken beizukommen, indem es ein paar topoi ("Gemeinplätze") schärfer ausleuchtet. 1. Der Souverln
"Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt." - (Art. 20 Absatz 2 Grundgesetz.) Also: L'etat, c'est nous. Ein schöner Satz - nur: was bedeutet er für mich? Für den einzelnen, der meint, so und so müsse die Gesellschaft, die Rechtsordnung aussehen. Für alle die einzelnen, die, zum "nous"
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addiert, plötzlich nicht mehr selbst vorkommen oder jedenfalls von sich nichts mehr entdecken ...
a) Vorbemerkung gegen falsche Bescheidenheit (1) Von Zeit zu Zeit ein Kreuz auf den Stimmzettel malen: das sei alles? Das kurze Aufflackern des Souverän, der sogleich wieder erlischt; zurückfällt in die Rolle des regierten, verwalteten und gerichteten Staatsobjekts? Fast ein Untertan, mächtig lediglich dank der Chance, einen Racheschlag gegen "die da oben" zu führen? Vergeltung durch den Stimmzettel nämlich - und diese Gelegenheit ist in der Geschichte der Bundesrepublik bisher nie ernsthaft genutzt worden. Wäre Demokratie auf die turnusmäßigen Wahlakte beschränkt, der Staatsapparat hätte nur eine spärliche Legitimation vorzuweisen. Daraus, daß es ihn gibt und daß ein Ausschnitt, das Parlament, nun mit gewähltem Personal besetzt ist: aus dieser inhaltslosen Formalie wäre das "Placet!" zu allen seinen Leistungen abzuleiten. Zugleich könnte dem Apparat die Frage nach seiner Rechtfertigung (Legitimität) fast egal sein, sie beträfe ihn sehr theoretisch: der spärliche Demokratiebetrieb könnte ihm kaum etwas anhaben. Die Kaste der politisch Herrschenden - Nomenklatura, die sich auch in "westlichen" Demokratien eingerichtet hat -, sie dürfte sich als Eigner des Apparats verstehen und entsprechend agieren. Für die Bürger wäre das Ausüben "ihrer" Staatsgewalt etwas Beiläufiges, keine ernsthafte Betätigung. Ein unentwickeltes Bedürfnis nach demokratischer Teilhabe würde sich damit zufriedengeben. Zwar müßte man die staatlich auferlegten Lebensumstände hinnehmen. Doch eine Gesellschaft (ihr handlungsfähiger Teil) wird die Vorgaben leicht akzeptieren, wenn sie im großen und ganzen den akuten Interessen genügen, die Interessengegensätze sich befriedigend lösen lassen. Der Erfolg gibt den Herrschenden recht; und wäre mehr demokratischer Aufwand noch sinnvoll, wenn das System ohnehin funktioniert? (2) Konsens zwischen Herrschenden und Beherrschten hängt immer am seidenen Faden. Die Interessen "oben" und "unten" harmonieren nur zufällig: es fehlt an institutioneller Gelegenheit, den Gleichklang herzustellen. (Die Ansichten der Welt, aus entgegengesetzten Perspektiven gewonnen, sind nicht so leicht miteinander zu identifizieren.) In einer herrschaftlichen Minimaldemokratie hinge von der Sensibilität und Lernfähigkeit der Herrschenden ab, wie sehr die Beherrschten zufriedengestellt (zu Frieden gestellt) werden. Dabei sollte man die Machthaber illusionslos einschätzen: die Erfahrung bezeugt ihr Talent, eigene Ideale mit dem Gemeinwohl zu verwechseln. ("Men with power have an extraordinary capacity to convince themselves, that what they
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want to do happens coincide with what society needs done for its goOd."119) Immerhin: Solange die Beherrschten den Herrschenden glauben und folgen, bleibt die Gesellschaft friedlich; der Rechtszweck wird erreicht. Es scheint, als könne "mehr Demokratie" nur stören. Die erste Disharmonie wird etwas anderes lehren. Die Folge von Unverträglichkeiten ist Widerstand. Für ihn eröffnet der Minimalismus nur einen rechtlichen Weg: Unzufriedene (ihre Sprecher) müssen Zugang zur (durchaus offenen) Politikerschaft finden und dann Reformen auslösen. Ohne dergleichen Unterwanderung der politischen Klasse liefe sogar das Wahlrecht leer: es setzt Alternativen voraus. Zwei weitere Lösungsmöglichkeiten, die auch denkbar sind, würden sich hingegen außerhalb des politischen Systems abspielen. Die Gesellschaft könnte versuchen, sich vom Staat abzukoppeln und in staatsfreien Räumen ihren eigenen modus vivendi zu verwirklichen. Das deutsche Bürgertum im 19. Jahrhundert, wirtschaftlich dominant, doch politisch machtlos gehalten, wählte diesen Weg120 • Inzwischen jedoch ist der Staat allgegenwärtig geworden, und seine Präsenz ist - oder scheint, dank geschickter Propaganda - notwendig. Die biedermeierische Variante innerer Emigration ist wohl unwiederholbar. Die zweite Lösung jenseits des Systems aber ist die rabiate: der Protest geht auf die Straße. Das System, das ihm keinen legalen und demokratischen Auslauf gewährte, hat ihn dazu getrieben. Nun sieht es sich durch ihn bedroht. Demokratie auf kleinster Flamme ist weder das Ideal des Grundgesetzes, noch läßt sich sagen, daß die demokratische Praxis in der Bung~~l,"epublik so armselig, so verkümmert wäre. Damit dieses Ideal und die Versuche der Annäherung hierzulande sich klarer erweisen, sind viele Mosaiksteinchen zusammenzutragen.
b) Direkte Demokratie (1) Demokratischer Anfangspunkt ist die Parlamentswahl: keine reale Stunde null, die es im Fluß des Lebens ja nicht gibt, sondern stets ein gedachter Beginn. Die Tätigkeit des Souverän ist in jeder Demokratie ihrer Idee nach Selbstregulierung des Zusammenlebens eines Volkes. Sie beginnt damit, daß dieses Volk ein Parlament bestellt (- das Parlament wird für seine Besteller Gesetze machen und ihnen eine Regierung, die Spitze der Exekutive, verschaffen). Selbstregulierung der res publica, der gemeinsamen Angelegenheiten, ist überhaupt der Zweck, um dessentwillen das Volk Souveränität wahrnimmt. Der Staatsapparat, den es sich bestellt, mit Geld und Personal 119
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Zitiert nach FabTicius (Fn. 31), Hz. 154. Hattenhauer (Fn. 5), Hz. 255 - 260.
II. Der demokratische Zusammenhang
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ausstattet, mit Aufträgen demokratisch versieht, ist Werkzeug zu diesem Zweck; und dadurch, daß die Staatsaktivität vom Souverän Volk "ausgeht", ist Demokratie definiert. (Gegensatz: Der Souverän im ancien regime war der Landesherr; von ihm, von seinem Machtwort ging der Staat aus. Mochte man seit Hobbes auch den Herrscher als gesellschaftsvertraglich berufene Instanz ansehen, der einmal Gerufene und seine Dynastie existierten selbstherrlich weiter.) Der demokratische Betrieb also fängt mit der Wahl an. Seine Qualität im Auftakt zeigt sich daran, wie reichhaltig die Auswahl ist. Dem Urteil des Souverän unterwerfen sich Programme und Personen: Vorschläge für die weitere Handhabung der res publica und Bewerber, die das Verrichten übernehmen möchten. Das Spektrum der Einfälle und Charaktere ist in der Bundesrepublik (der Wahljahre 1980 und 1983) weit gespannt, es reicht von den rechtsradikalen Nationaldemokraten bis zu stalinistischen, trotzkistischen, maoistischen Spielarten des Linksradikalismus. Ein schillerndes Reich der Möglichkeiten stellt sich im Wahlkampf zur Schau - die Welt könnte ganz anders werden, zumindest könnte man ihre Umkehrung versuchen, wenn "das Volk" nur wollte. Der Wahlakt beendet die große Freiheit wieder, er verwirft Angebote, bringt Affirmation, Enge in die Verhältnisse. (Wie erledigt wirken Wahlplakate am Tag nach der Wahl, vor allem dle Plakate der Verlierer! Verjährte Zukunftsbilder im NieseIregen.) Affirmation ist allerdings Bedingung der Wirklichkeit (die Tatsachen, die sich einstellen oder fortdauern werden, sind konkret, haben ihre feste Gestalt). Die nächste Gelegenheit, alles wieder zu öffnen, wird in ein paar Jahren mit dem nächsten Wahlkampf kommen. Freiheitslos (vollständig affirmiert) sind die Verhältnisse bis dahin dennoch nicht: man denke nur an die Freiheit im Gesetz, die der Gesetzgeber programmieren, aber nicht aus "dem Volk" abziehen kann. (2) Der Souverän wählt. Ihm werden seine Möglichkeiten im Wahlkampf gezeigt und angeboten, er stellt sich daraus Prämissen für seine Zukunft zusammen. Diese ganzheitliche (höchst-abstrakte) Sicht geht zurück auf das Strukturelle, Wesentliche. Realistisch angeschaut, zerfällt das monolithische Ereignis in tausendfältige Betriebsamkeit; der Souverän löst sich auf zu den vielen, die am Wahlbetrieb mitwirken. Im Angebot an "den Wähler" vereinen sich zahllose Aktionen der Wahlbürger. Demokratische Wahl ist alles andere als die Konsumierung des einen oder anderen Ausschnitts aus dem Angebot. Die Stimmabgabe ist die mindeste Art, Souveränität auszuüben. Bis zum Wahltag hat jeder Bürger das Recht, verbale Auseinandersetzungen um Kandidaten und politische Aussagen zu führen. Er darf werben für die Personen und Ansichten seiner Wahl, darf polemisieren gegen die anderen Bewerber und gegen die anderen Meinungen. Die Meinungsfreiheit, ein
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Grundrecht jedermanns (Art. 5 Grundgesetz), hat im Wahlkampf eine ihrer großen Stunden. Sie verkörpert dann Souveränität, wie der einzelne sie innehat und ausleben kann. Volkssouveränität bedeutet keineswegs, daß dem einzelnen zum Schicksal wird, was "das Volk" entscheidet; nur die Tatenlosen werden schicksalhaft getroffen. Volkssouveränität enthält vielmehr die Chance jedes Bürgers, die Richtlinien der Politik zu bestimmen. Hierzu muß er Gleichgesinnte suchen und zusammen mit ihnen die noch anders Gesonnenen umstimmen, sie "belehren" und "bekehren". Der Wahlkampf soll erschöpfen: zuletzt ist alles gesagt, die Entscheidung ist fällig und erwünscht, die Affirmation ist legitimiert. Sie ist es auch gegenüber jenen, die der Wahlausgang enttäuscht: sie waren eben nicht überzeugend genug. Demokratische Legitimierung und Befriedung setzen allerdings voraus, daß jeder Bürger genug Gelegenheiten hatte, in seinem Lebensbereich zu politisieren. Im Widerspruch dazu stehen Tendenzen, politiklose Räume anzulegen. Die Arbeitswelt etwa erscheint manchem als ein so fragiles Gebilde, daß Politik dort die Erträge zu mindern drohe: Politische Meinungsäußerung im Betrieb gefährde den Betriebsfrieden und verstoße gegen die "Treuepflicht" des Arbeitnehmers 121 • (3) Der Souverän (als Ganzheit) spiegelt sich im Wahl ergebnis. Ausgewählt sind die Funktionäre für die Parlamentsaufgaben (Gesetzgebung, Wahl des Regierungschefs, Kontrolle der Regierungsarbeit). Die gewählten Personen vermitteln ein Spektrum politischen Geistes, dem der Spruch des Souverän zugleich Zensuren erteilt hat: entschieden ist, welche politischen Gedanken dominieren werden und welche auf den zweiten Rang verwiesen, zur Opposition verurteilt sind. Alles andere ist vorerst für irrelevant erklärt, und ein Stück "Volkes Wille" ist dieses Verdikt ebenfalls. Die bisher Erfolgreichen in der Bundesrepublik drängen sich mit ihren Ideen auf einem Terrain, das sie zur "Mitte" erklärt haben eine Selbstrichtung, die den Anspruch erhebt, das einzig richtige Resultat (nicht bloß ein "zufällig" gewähltes) aus allen Möglichkeiten zu verkörpern. Anmaßung liegt darin ebenso wie ein Beweis für Harmoniebedürfnis. Doch jene Harmonie, um deren willen es Politiker und Politik, Volkssouveränität und den demokratischen Betrieb gibt: sie kann immer nur das Resultat eines Konflikts sein, die Ruhe nach erledigtem Konflikt (Herakleitos; oben 1. Kap. I (2)). Zur demokratischen Kultur gehört, Positionen im Konflikt, das heißt Interessen präzise zu definieren, ihren partikulären Charakter einzugestehen (denn was nützt schon allen, ohne Ausnahme, Vorbehalte, Abstriche?), die Kontroverse 121
Vgl. Meisel (Fn. 37), S. 43 f.
11. Der demokratische Zusammenhang
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zwischen Interessen offen auszutragen. Tatsächlich holen die Konflikte im politischen Alltag dann auch die Standort-Ideologie ein, die "Mitte" zerfällt in ihre "Flügel": Stoff zur Demokratie ist vorhanden. Daß er bewegt wird, dafür sorgen zudem neue Beweger mit offen extremer Gegenmeinung: "Die Grünen". Und die Erfolglosen? Sie erfahren, wie gering ihr Anteil am Souverän ist: zu gering, als daß ein Recht daraus würde, in der Legislative mitzusprechen. Demokratie mutet den Zu-wenigen zu, ihre Bedeutungslosigkeit auszuhalten. Mißerfolg kann allerdings undemokratisch stimmen; Aggression gegen das System kann sich einstellen. Aber das bestehende System bietet selbst ihr noch Auslauf im legalen Protest (Demonstrationsrecht). Ohnehin bietet es stets die Freiheit im Gesetz. Wem nicht gelang, in den Gesetzgeber einzuziehen, der kann versuchen, wenigstens ins Gesetz einzuziehen. Jedoch nur in das Gesetz selbst, nicht in die staatlichen Einrichtungen der Gesetzesanwendung (Exekutive, Justiz); denn auch davor liegen demokratische Barrieren, von denen bald zu sprechen sein wird. Die Abstraktheit des Gesetzes aber ist ein Ort für sich, an welchem ein (politisches) Interesse oder eine (politische) Meinung zur Geltung kommen kann. Der Erfolg hängt dort nicht von einem demokratischen Quantum ab, sondern vom Konsens Beteiligter, im Streitfall von der Plausibilität für die Gesetzesanwender. So kann die rechtliche Lösung im Einzelfall (das Verbot eines KKW am Standort XX) einer Rechtserwartung entsprechen, die keine demokratische Chance hätte, herrschende Maxime in der Politik, allgemeine Regel und ausdrücklicher Inhalt eines Gesetzes zu werden. Den größeren Erfolg, den Einzug in die Legislative, hat Demokratie (ihrem Prinzip zufolge) jedoch nie endgültig verwehrt; sie vertagt nur die Chance dazu auf den nächsten Wahltag. (4) Wahlen setzen Wählbares voraus. Alles, was zur Wahl steht, kann als vorgegebene Materie erscheinen. So auch im demokratischen Wahlkampf: Kandidaten und Programme präsentieren sich, ein Wähler hat seine Favoriten, engagiert sich für sie - doch er könne nur pro oder contra urteilen, ein Drittes gebe es nicht. - In Wahrheit ist die Wählerrolle, wie intensiv man sie auch spielen mag, erst der halbe demokratische Part. Der Stoff der Wahl existiert nicht von sich aus, er muß ebenso angefertigt werden wie dann aus ihm Staatsgewalt. Darum kann jeder Bürger, ehe er Wähler wird, politischer Demiurg (Schöpfer) sein. Den Stoff für die Wahl stellen die politischen Parteien bereit. Sie benennen Bewerber, formulieren Sachprogramme. Der Souverän hat indessen nicht nur Parteien, er macht sie auch. Oder läßt sie sich vielmehr veranstalten von interessierten Bürgern, die ihren politisch lauen Zeitgenossen die demiurgische Arbeit abnehmen. (Der Untätige findet
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sich dann verwiesen auf das, was Tätige ihm vorsetzen. Doch begegnen ihm darin gleichermaßen die Früchte seiner Untätigkeit: er wird zu Recht betroffen.) Das Grundgesetz sieht vor, daß die Parteien "bei der politischen Willensbildung des Volkes" mitwirken (Art. 21). Sie sind sogar die institutionelle Gelegenheit, politische Ansichten auszubilden und Sprecher, Darsteller für diese Ansichten zu bestimmen. Nach geltendem Recht ist die Gründung politischer Parteien frei, nur müssen sie ihrerseits demokratisch verfaßt sein. Dazu gehört, daß jedes Parteimitglied Meinungsfreiheit in der Partei hat, das Resultat aus den Meinungen aller Mitglieder durch Mehrheitsentscheid gezogen wird, Funktionäre der Partei aus freien Wahlen hervorgehen. (Einzelheiten regelt das Parteiengesetz vom 24. Juli 1967.) Eine Partei, legal betrieben, ist Demokratie en miniature, gemessen am Umfang des Souverän. Sie ist zugleich ein Element in den demokratischen Prozeduren des Souverän, ein Medium zu seiner Verfügung, mit dessen Hilfe er sich politisch darstellt. Durch die Wahlentscheidung bringt der Souverän seine Parteien - seine politischen Möglichkeiten - dann in eine bestimmte Rangordnung. Er mißt Erheblichkeit zu oder versagt sie. Für jene Parteifunktionäre, die aus einer Wahl als Volksvertreter und Funktionäre des Staates (der Legislative) hervorgehen, sieht das Grundgesetz scheinbar eine wieder parteiferne Rolle vor: "Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen" (Art. 38). Aber der Bezug auf das ganze Volk bedeutet, daß Entscheidungen des Mandatsinhabers für und gegen alle wirken. Eine Verpflichtung auf das gemeinsame Interesse aller wäre fiktiv, da Legislative doch zur Lösung von Interessengegensätzen bestellt ist. (Ohne Konflikte, die rechtlich aufgefangen werden sollen, bräuchte man keine Gesetze.) Allenfalls der Appell, pazifierende Lösungsmuster zu finden, den Konfliktstoff darin wirklich zu vermindern, ist als dem Recht gemäß sinnvoll. - Was die Ungebundenheit des Abgeordneten angeht, so darf man keine falschen Vorstellungen hegen. Der Verrichter im Parlament sei frei von förmlichen (verbindlichen, rechtlich sanktionierten) Aufträgen und Weisungen, die irgendwelche Personen oder Organisationen erteilen möchten. Er ist damit nicht etwa von der politischen Auffassung seiner Partei getrennt, nicht zu überraschender Originalität verpflichtet. Im Gegenteil, er ist in Verbindung mit einem Wahlprogramm, überhaupt einem politischen Standpunkt gewählt worden und schuldet dem Souverän (I) nunmehr, aus der angepriesenen Theorie politische Praxis zu machen. Die abgeordneten Meinungen sind Prämissen für fällige Entscheidungen. Keine statischen, endgültigen Prämissen, sondern offen für neue Erkenntnisse, korrigierbar angesichts neuer Aufgaben: solche "Fortschreibung" des status quo ist unvermeidlich mitgewählt. Der
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Abgeordnete darf freilich seinen Standpunkt ändern, darf klüger werden außerhalb seiner Partei, jener Apparatur der Willensbildung, an der er bisher teilgenommen hatte - auf sein Gewissen darf er sich zurückziehen. Das Mandat, das er einem anderen - dem nun verlassenen - Bezugspunkt verdankt, behält er dennoch. (5) Die Verschränkung der Demokratie mit den politischen Parteien erzeugt leicht Mißverständnisse. Der demokratische Betrieb sei nur Parteiherrschaft. Oder: Was könne der einzelne schon ausrichten gegen Parteienmacht. Systemkritisch ist der erste Satz oft gemeint, resignativ der zweite. Tatsächlich ist jede Partei so einflußreich oder ohnmächtig, wie der Souverän sie sein läßt. (Und die Parteien als Erscheinungen politischer Kultur geraten so einfallsreich und human oder so medioker wie der Souverän selbst, den sie ja bloß abbilden.) Was aber Teilhabe und Teilnahme des einzelnen an der Gesamtveranstaltung Demokratie betrifft: Irrtümer hierzu beruhen nicht selten auf ganz undemokratischer Selbstüberschätzung. Berechtigte Ansprüche und wirkliche Chancen jedermanns lassen sich numerisch verdeutlichen. (Zugegeben: die folgende Skizze abstrahiert von allen qualitativen Momenten. Sie zeigt jedoch deutlich, was jedem zusteht. Sie ist jedenfalls eine klärende Metapher. Die Zahlen darin sind natürlich variabel, sie gehören einem bestimmten Zeitpunkt an, einer Momentaufnahme. Andere Daten verändern die zu zeigenden Strukturen nicht. Man mache die Probe aufs Exempel mit neu esten Quantitäten.) a. Vom Souverän geht alle Staatsgewalt aus. Die je eigene Berechtigung ermißt der einzelne, indem er sich durch den Souverän teilt. In einem Volk von 60 Millionen Menschen (ungefähre Zahl für die Bundes republik) steht dem einzelnen die Souveränität zu einem Sechzigmillionstel zu. Der Anteil ist nicht so ausübbar, daß er für das Ganze bestimmend sein könnte; ein Schluß, den die numerische Schwäche angesichts der vielen übrigen Teile aufzwingt. Ins Rechtliche übersetzt: Niemand hat ein Recht darauf, daß die res publica sich gerade nach seiner Meinung richtet. Tatsächlich sind viele demokratische Handlungen des einzelnen möglich, nur muß der Akteur sich immer auf die gleiche Berechtigung aller beziehen lassen. Er muß sich relativieren lassen und, als Demokrat, seine Relativität ertragen. Ein grober Irrtum wäre es dennoch, wenn der einzelne gegenüber der Masse kapitulieren wollte, weil sein Beitrag zu winzig, also bedeutungslos, sinnlos sei. Auf eine von zwei Möglichkeiten, auf Mitwirkung oder Untätigkeit, legt das System zwangsläufig jeden fest. Man addiere nun die Passiven: das Ergebnis ist, daß Volkssouveränität "theoretisch" bleibt, nicht wirklich stattfindet. Ein Vakuum entsteht, in das Okkupanten einziehen können. Sie machen ein System, das auf gleiches 18 Gast
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Recht jedermanns in der Selbstverwaltung aller angelegt war, zur herrschaftlichen Veranstaltung. Differenzierter gesehen: Sie errichten Herrschaft an jeder Stelle im System, deren demokratische Besetzung versäumt wurde. b. "Das Volk" hat die Souveränität; von der Inhaberschaft ist die (Rechts-)Ausübung zu unterscheiden. Die fundamentale Ausübungsweise, ein Parlament zu wählen, liegt bei den Wahlberechtigten. Das aktive Wahlrecht beginnt erst mit dem neunzehnten Lebensjahr (Art. 38 Absatz 2 Grundgesetz). In die Souveränität aller Staatsbürger teilen sich also bei dieser Gelegenheit die Befugten (rund 43 Millionen Bürger für die Bundestagswahl 1980. Für jeden von ihnen ergibt sich die Ausübungsmacht 60 : 43, also rund 1,4). Nicht alle Berechtigten gehen zur Wahl (Wahlbeteiligung 1980: knapp 89 Prozent, das sind annähernd 38 Millionen Wähler). Auf ein bestimmtes Parlament (9. Deutscher Bundestag) bezogen, teilen sich jeweils die Wähler in die von allen "ausgehende" Staatsgewalt (60: 38; Ausübungsmacht ungefähr 1,6). Der einzelne entscheidet für andere mit (hier im Verhältnis ungefähr 2 für 3); der Tatbestand läßt sich als Macht wie als Verantwortlichkeit begreifen. Umgekehrt begeben die Nichtwähler sich ohne Not in fremde Hände. c. Wirksam wird die individuelle Entscheidung in der Zusammensetzung des Parlaments: in den dorthin abgeordneten Personen und Meinungen. Den Stoff für die Wahl präsentieren die politischen Parteien; der einzelne Wähler kann ausrechnen, mit wievielen Mitbürgern er die gleiche Entscheidung teilen muß, damit die Partei seiner Wahl parlamentsfähig wird. Hierzu verlangt das geltende Wahlrecht, daß eine Partei mindestens 5 Prozent der abgegebenen Stimmen (oder 3 Direktmandate) erringt. (Eine pragmatisch-vernünftige Bedingung: es geht darum, eine Welt konträrer Möglichkeiten zu verengen auf fällige Wirklichkeit hin. Die rechtliche Affirmation fängt mit dem Gang ins Wahllokal an.) Bei 38 Millionen Wählern müssen 1,9 Millionen Gleichgesinnte zusammenkommen, damit eine politische Möglichkeit schwer und real genug wird für die parlamentarische Teilnahme. Wieviel Macht verschenkten da 5 Millionen Nichtwähler! Sie haben auch das Quorum zur Parlamentsfähigkeit gesenkt; es hätte sonst bei 2,15 Millionen gelegen. Auf die Souveränität - das Gut der 60 Millionen bezogen, stehen 1,9 Millionen entscheidungsmächtige Wähler für über 3 Millionen Menschen.
Im Parlament nimmt die Mächtigkeit der 1,9 Millionen organisatorische Gestalt an: sie plaziert 25 Abgeordnete (von mindestens 496; die genaue Zahl schwankt wegen möglicher Überhangmandate). Auf eine Stimme im Parlament mußten immerhin rund 76 000 Wähler sich einigen. - Gegenläufig gesehen, vom Standpunkt der Parteien aus,
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zeigen die Zahlen Erfolgsbedingungen und zugleich die quantitative Legitimationsgrundlage an. So viele Menschen mußte man gewinnen fürs eigene politische Vorhaben, andernfalls fand man es abgewiesen und vertagt. d. Der Souverän wählt nicht nur, er stellt auch den Stoff zur Wahl bereit. Diese Arbeit verrichten für ihn die politischen Parteien. In der Bundesrepublik gibt es davon mindestens 40. An der Bundestagswahl 1980 nahmen 20 Parteien teil; sie haben zusammen zwischen 2 und 2,5 Millionen Mitglieder. (Einzelheiten im Fischer Welt almanach '81, Sp. 254 ff. und 934.) Angenommen, 2,5 Millionen Parteimitglieder wirken demiurgisch am Reich der Möglichkeiten, das sich dem Souverän zur Wahl anbietet: dann wird jedes Mitglied immerhin 24 Anteile Souveränität verbrauchen. Der individuelle Machtfaktor steigt, je mehr schweigende Mitläufer ("Karteileichen") in den Parteien vorhanden sind. Verglichen mit dem Wähler, hat der Partei aktivist eine (mindestens) 15fache Ausübungsmacht. Unter dem Vorbehalt, 5 Prozent der Wähler als Zustimmer (Mitstimmer) finden zu müssen, um erheblich zu werden, agieren freilich beide, der Aktivist und sein Anhänger. Von den Wahlergebnissen her gerechnet, sind die erfolgreichen Veranstalter des Politischen naturgemäß mächtiger als die abgewiesene Konkurrenz. Die in den 9. Bundestag gewählten Parteien haben knapp 2 Millionen Mitglieder, deren individueller Machtfaktor (mindestens) 30 beträgt. e. Zuletzt zu Chancen des Parteimitglieds innerhalb seiner Organisation. Nimmt man eine parteiinterne "Souveränität" der Mitglieder an, so teilt der einzelne sie mit allen seinen Parteifreunden (Genossen). Da die Parteien sich in Gebietsverbände gliedern (§ 7 des Parteiengesetzes), ergeben sich je nach Ort unterschiedliche Relationen x: l. (Für den einzelnen 1 : x.) Aufs Ganze gesehen, beträgt die Relation in der größten Partei der Bundesrepublik (SPD) 1 zu rund 1 Million. Teilhabe innerhalb dieser Partei hat immerhin einen 60fachen internen Wirkungsgrad, verglichen mit dem Anteil an der Volkssouveränität. Im übrigen gilt in einer Partei wie im Volk: Einigkeit mit hinreichend vielen ist Bedingung jeder Wirksamkeit. c) Mediatisierung
(1) Der Souverän hat das Seinige vorerst getan, sobald er sich zu einem Parlament verholfen hat. Die unmittelbare Demokratie aller, uno actu in der Wahl vollzogen, ist für einige Zeit vollbracht. Dem Wahltag folgen die Jahre der mittelbaren Selbstherrschaft (Selbstbeherrschung) des Souverän. Für ihn handeln dann "besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung" 18·
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4. Kap.: L'Etat, c'est nous (Öffentliches Recht)
(Art. 20 Absatz 2 Grundgesetz). Die Verrichtungen der "Organe" werden ihm zugerechnet nach dem Muster demokratischer Repräsentation: daß für den Souverän Staatsorgane agieren, bedeutet, daß er durch sie agiert. Sie vermitteln ihm permanent seine Wirklichkeit, seinen Zustand. Schließlich ist das Volk Souverän nur, um sich in einer Ordnung zu halten, dank welcher es Gesellschaft sein, als Gesellschaft friedlich leben kann, und um ordnende Einrichtungen mit Personal zu besetzen. Die Einrichtungen tragen den Namen ,Staat'. Diese Apparatur, die so leicht als selbständig (gar als eigenständiger "Wert") erscheinen kann, ist die Ausstattung des Souverän mit Handlungsfähigkeit und mit Instrumenten. Warum aber so wenig unmittelbare Selbstherrschaft, so viel Mittelbarkeit, die doch leicht in Vormundschaft umschlägt? Bei der Gesetzgebung zumal ließe sich mehr direkte Demokratie veranstalten, nach Schweizer Vorbild. Wäre der bundes republikanische Souverän unfähig dazu? Als Vorsorge - notwendig sei ein gewisser Schutz des Souverän gegen sich selbst - darf man das Monopol des Gesetzgebers allerdings begreifen. Es soll Barriere sein: gegen ein "gesundes Volksempfinden", das sich in der jüngeren Vergangenheit als so ungesund erwies; gegen überkommene Vorurteile und ihre Fixierung, wo Lernprozesse und Fortschritt geboten scheinen; gegen Spontaneität und ihre nicht durchdachten Resultate. Gegen Irrungen eines wilden Rechtsgefühls - hätte "das Volk" jemals in unmittelbarer Gesetzgebung die Todesstrafe geächtet? Oder man denke an den Schutz für Minderheiten: wer sollte ihn verwirklichen, wenn nicht ein Gesetzgeber, welcher jeweils der Mehrheit im Volk überlegen ist - überlegen an politischer Moral wie an Durchsetzungsvermögen. Gesetzgebung als Diskurs der Volksvertreter verspricht außerdem höhere Rationalität. Im Verfahren des "Organs" Gesetzgeber werden die Argumente zur Sache vorgebracht (und zwar nur die erwägenswerten), wird mit Sachverstand die Auseinandersetzung geführt; das Ergebnis ist, wenn es auch anders hätte ausfallen können, vermutlich "sachgerecht". - Replik: In der Mediatisierung bezweifelt das demokratische Konzept sich selbst. Ein Hauch von Unmündigkeit wird über den Souverän gelegt und konserviert. Die "größere Klugheit" des Gesetzgebers widerspricht dem Prinzip demokratischer Repräsentation; die Legislative hat den Souverän abzubilden. Das Geschäft der Elite (unterstellt, sie käme tatsächlich im Parlament zusammen) wäre angemessenerweise die Gesetzesvorbereitung: das Artikulieren, Entfalten, Begründen der Möglichkeiten. Das Gesetz zu geben, vermöchte der unterrichtete Souverän dann selbst. Was aber das Vertrauen in größere politische Reife der Volksvertreter betrifft: die Spätzeit der Weimarer Republik beweist das Gegenteil. Die demokratische Spiegelung hat offenbar gut funktioniert, bei der Wahl des
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Reichspräsidenten v. Hindenburg ebenso wie des "rechten" Reichstags. Wenn das Grundgesetz aus Mißtrauen gegen "das Volk" die unmittelbare Demokratie beschränkt und dies eine Lehre aus der deutschen Vergangenheit sein soll, so rechtfertigt dieselbe Vergangenheit nicht, die beim Souverän abgezogene Entscheidungsmacht den Abgeordneten anzuvertrauen. "Besser" werden im Lauf der Geschichte entweder beide Seiten, Volk und Vertreter, oder keine ... Einen utopischen Zug hat das Nachdenken, ob mehr direkte Demokratie zu wagen sei, angesichts der Unabänderlichkeit des Art. 20 Grundgesetz. Die Verteilung der Zuständigkeiten ist zementiert. Eine Entwicklung hin zu "politischer Reife", die in unmittelbare Demokratie münden könnte, verwehrt das Grundgesetz: es ist strukturkonservativ (Art. 79 Abs. 3). Etwas mehr Kompetenz könnte die Verfassungsdogmatik dem Souverän aber dennoch erringen. Der Wortlaut des Art. 20 Abs. 2 erlaubt immerhin, zu betonen, daß "Staatsgewalt" nicht bloß durch Wahlen und durch "Organe" auszuüben sei, sondern auch durch die gleichberechtigt mitgenannte dritte Möglichkeit: durch "Abstimmungen". (Im Unterschied zum Grundgesetz eröffnen die meisten Länderverfassungen den Bürgern einen bescheidenen Zugriff auf die Legislative über Volksbegehren und Volksentscheid. - Weshalb also keine verbindliche Volksabstimmung über Kernkraft?) (2) Die Metapher von den "Organen" besagt nicht, daß der Souverän (das Volk) mit ihnen restlos zu identifizieren wäre. Den Organen steht zwar keinerlei Eigenleben zu; sie besorgen entweder die Geschäfte des Souverän auf demokratischer Grundlage, oder sie handeln illegitim. Dieser Schluß jedoch, der den Staatsapparat im Souverän aufgehen läßt, ist nicht umkehrbar: dahin, daß auch alle Souveränität des Volkes in den jeweiligen Staatsaktionen aufgehen würde. Gewiß, "das Volk" kann sich keine Gesetze geben außerhalb des Staatsorgans Gesetzgeber, keine "vollziehende Gewalt" üben außerhalb der Exekutive, kein Recht sprechen und vollstrecken außerhalb der Justiz. Aber jedermann hat das Recht, über den status quo schon hinauszudenken. Im Volk darf man den demokratischen Sturz seiner aktuellen Verfasser und Ordner vorbereiten, die Änderung der Rechtslagen und der Verfassung selbst verfassungsgemäß planen. Wäre der Souverän (mithin auch jeder einzelne Bürger) reduziert auf den Staat der amtierenden Staatsorgane, dann blieben künftig nur mehr die amtlichen Ansichten der Welt erlaubt; es gäbe gerade noch die verfaßte Toleranz, daß man sich zu entscheiden habe zwischen der Meinung der Regierenden und der gleichfalls amtlichen Gegenmeinung der parlamentarischen Opposition. Dies wäre politischer Totalitarismus. Im Unterschied dazu läßt das Grundgesetz das politische Meinen und Handeln für jedermann frei. (Eine Freiheit in Schranken; Art. 5 Abs. 2.) Wer will, politisiere zwischen den
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Wahlen inopportun (ungelegen, den etablierten Gelegen-heiten zuwider), als Opponent im Innern einer der Parlamentsparteien oder von welcher Plattform, auf welchem Forum auch immer. Man kann darin schon Vorarbeit für die nächste Wahl sehen, ein Geschäft des Souverän insofern. Privates politisches Agieren - "privat" im Unterschied zum Funktionärshandeln ex käthedra - darf nur seine demokratische Quantität nicht vergessen: Niemand hat ein Recht auf größere Erheblichkeit in den öffentlichen Dingen, als sein Anteil an der Volkssouveränität (Anteil der Substanz und der Ausübung nach) beträgt. Ein Anteil, auf dem quasi als Hypothek noch die vorherige Ausübung lastet: man kann nach der Parlamentswahl "klüger" werden und bleibt dennoch aus dem vorherigen Votum betroffen. Betroffen bleibt von Demokratie wegen auch, wer "es schon immer gewußt hat" und anders, nur leider erfolglos gewählt hatte. Die Entscheidungen der nicht mehr erwünschten Staatsverrichter - unerwünschte Entscheidungen, von denen die "Herrschenden" sich nicht abbringen ließen - gelten trotz allem, die Korrektur ist den Nachfolgern vorbehalten. Gefesselt ist der Souverän an seinen Staatsapparat also durchaus. Die Bindung hat zwei Aspekte. Zum einen ist sie Bindung an jene Institutionen (Einrichtungen), die das Volk mit Ordnung versorgen. Die Institutionen sind auf Dauer angelegt, lassen sich schwer oder gar nicht beseitigen, verändern, ersetzen. (Der Idee nach hat der Souverän in einem Akt der Selbsterrichtung sich als erstes das Grundgesetz und also den dort definierten Staatsapparat gegeben.) Zum anderen sind da die Funktionäre in den Einrichtungen; ihre Meinungen und Persönlichkeiten überziehen auf institutionellen Wegen die Bürger. Wenngleich das Personal eher zur Disposition steht als die Strukturen, das Volk scheint doch zweifach beherrscht, durch Zwänge der Institutionen und durch die Wahrnehmer darin. Verbleibende bürgerliche Freiheit scheint machtlos angesichts der zum Staatsapparat versammelten Macht. Ein Anschein, der aus Mißverständnissen über die demokratischen Regeln, aus mangelhafter Nutzung der Demokratie, aus der Arroganz der Funktionäre - aus vielen Gründen entstehen kann. Um ihn zu widerlegen, wäre die Parlamentswahl allein sicherlich zu schwach; das Volk als Selbstherrscher, den einzelnen Bürger als Teilhaber an der Selbstherrschaft aller zu begreifen, wäre bei so minimaler demokratischer Praxis eine eher dürftige ideologische Beschönigung. Gegen Entmachtung des Souverän - gegen Verdinglichung des einzelnen Bürgers hin zum Untertan - enthält das demokratische System jedoch etliche Vorkehrungen. Das freie politische Meinen kann im legalen Protest massiv und (mit-)bestimmend werden. Es kann sich organisieren zu politischen Parteien; auf diese Weise wird eine Meinung, sofern sie genug Anhang findet, in die Institutionen einziehen. (Oder sie kann, auch wenn sie
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formal erfolglos bleibt, immerhin Lernprozesse und Veränderungen bei den "etablierten" Parteien auslösen.) Gegen undemokratische Herrschaft sperren sich auch die Institutionen selbst. Die Trennung der drei Staats"gewalten" (Staatsfunktionen) ist als solche Vorsorge gedacht. Der Staat möge sich darin verzetteln, die "Gewalten" sich wechselseitig behindern und kontrollieren - der Apparat soll nicht zur omnipotenten Einheit werden. Freilich, der Souverän hat es auch in der Hand, demokratisches Potential zu verspielen. Jahrzehntelange absolute Mehrheit derselben Partei im Parlament ist der sicherste Weg, den Staat monolithisch werden zu lassen. Die "staatstragende" Partei wird zur staatsbesitzenden. Die Minderheit wird im System chancenlos, die demokratische Selbstherrschaft aller kippt um zur Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit. Erträglich und von Demokratie wegen zumutbar ist der Mehrheitsentscheid für die Unterlegenen gerade durch die Chance zum Mehrheitenwechsel und durch die aus Wechseln resultierende Pluralität in den Staatseinrichtungen. (Eine Partei gibt die Regierungsmacht ab, ihre Ideen bleiben vielfach im Apparat präsent.) (3) Von den Einrichtungen des Staates besetzt der Souverän eine einzige unmittelbar mit Funktionären seiner Wahl: das Parlament. (Also den Bundestag, Art. 38 ff. Grundgesetz; die Verfassung des Gesamtstaates Bundesrepublik ist hier exemplarisch angesprochen, in den Gliedstaaten = Bundesländern wiederholen sich die Verhältnisse ähnlich.) Das Parlament ist in einer seiner Rollen Gesetzgeber. Die Wahl schließt den Auftrag an die Gewählten ein, Gesetze zu erlassen, das heißt für Konflikte Lösungsmodelle bereitzustellen. Dies geschieht für alle Lebensbereiche. Die Gesetze des Privatrechts (Zivilrechts) betreffen Streitigkeiten in privaten Beziehungen. (Ihr Anwendungsbereich ist definiert durch die rechtliche Gleichstellung der Konfliktionäre. Die Wirklichkeit sieht oft anders aus, private Diktatoren und die von ihnen diktierten Existenzen gibt es allenthalben, trotz rechtlicher Ansätze zur Machtausgleichung.) Die Gesetze des Verwaltungsrechts sollen Kollisionen zwischen Privaten und dem Staat lösen. Initiativen der Staatsverrichter werden darin gedeckt und gebändigt; Initiativen Privater bekommen bürokratische Lenkung. Das Strafrecht schließlich ist als Mittel gedacht, die Menschen zu gesetzlicher Interessenverfolgung und Konfliktlösung anzuhalten. Die Straftatbestände sind Muster für falsche Lösungsversuche; zusammen mit dem Strafverfahrensrecht bilden sie die Rechtsgrundlage der staatlichen Rachearbeit (3. Kap. V). (Die Übersicht zur Legislative ist lückenhaft, genügt hier aber.) - Daß der Souverän aus der Parlamentswahl einen Gesetzgeber gewinnt, gehört zum "Zwang" der Institutionen (Art. 77
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Grundgesetz). Bei der Wahl kauft der Souverän eine legislatorische Katze im Sack. Konturen zeichnen sich nur insofern ab, als man weiß (wissen kann), welche Partei und welches politische Programm man wählt. Außerdem können Bürger jederzeit ihre Gesetzesmacher durch Demonstrationen anregen und belehren. (4) Von der Gesetzgebung führt eine Brücke zur zweiten Staatsfunktion, der Exekutive. Im Rechtsstaat, wie das Grundgesetz ihn vorzeichnet, ist Exekutive "ihrem Wesen nach" Gesetzesvollzug. Ihre Aktionen sind mithin durch den Gesetzgeber vorbestimmt. Gleichbedeutend: In sachlicher (inhaltlicher) Hinsicht leitet die Exekutive ihre Legitimation unmittelbar vom Parlament als dem Gesetzgeber ab; gegenüber dem Souverän eine Mittelbarkeit ersten Grades. Das zu vollziehende öffentliche Recht - die abstrakte Vorschrift - läßt den Vollziehern allerdings Entscheidungsfreiheit, wachsend mit der Abstraktionshöhe des Gesetzestextes. Größer fällt der bürokratische Spielraum noch aus, wo Gesetze den Behörden "Ermessen" einräumen; im Ermessensbereich programmiert kein gesetzlicher Begriff die Entscheidung der Behörde. Hinzu kommt, daß die Exekutive Vorgaben aus der parlamentarischen Sphäre nicht nur erleidet, sondern auch, in informeller Weise, starken Einfluß auf die Gesetzgebung ausüben kann. Sie ist vorzüglich in der Lage, Bedürfnisse nach gesetzlicher Regelung anzumelden und Lösungsvorschläge gleich mitzuliefern, beides aus ihrer Sicht und nach ihren bürokratischen Interessen. Tatsächlich werden die meisten Gesetzesentwürfe in den Ministerien ausgearbeitet; eine "Hilfe" für den Gesetzgeber, die gewiß nicht wirkungslos bleibt, wenn auch die Parlamentarier die Freiheit zur Umformulierung haben. Die förmliche Zuständigkeit bleibt dennoch klar verteilt, sie wird nicht berührt; der Gesetzgeber aber darf Anregungen nehmen, wo immer sie sich ihm anbieten. Die Inhalte der Exekutive also stammen (von Rechts wegen) aus dem Parlament, mehr oder weniger festlegend. Aber nicht allein inhaltlich, auch personell hat die "vollziehende Gewalt" dort ihren Anknüpfungspunkt. Ihre Behörden sind hierarchisch aufgebaut, ihr Strukturbild ist die Pyramide. Vielmehr eine Reihe von Pyramiden: die Staatstätigkeit ist in Branchen geteilt. Recht, das die Landwirtschaft betrifft, wird in einem anderen Ausschnitt des Staatsapparats exekutiert als das Wehrrecht; die Ausschnitte arbeiten selbständig nebeneinander. An der Spitze eines jeden Segments amtiert ein Minister; die Tätigkeit im gesamten Unterbau ist als Derivat aus seinen gesetzlichen Befugnissen gedacht. (Die Nachgeordneten handeln in Vertretung oder im Auftrag des Ministers.) Indem nun ein Parlament eine Regierung besorgt, verschafft es der Exekutive ihre personellen Prämissen. Die zweite Aufgabe des Parlaments neben der Gesetzgebung (der inhaltlichen Grund-
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legung) ist die personelle Grundlegung des vollziehenden Apparats. Das Grundgesetz sieht dafür folgendes Verfahren vor: Der Bundestag wählt den Bundeskanzler, der Kanzler wählt die Minister aus, der Bundespräsident hat die so zusammengestellte Regierung zu ernennen (Art. 63, 64). In diesem Vorgang liegt zugleich ein Legitimationsfluß. Das Parlament leitet "Staatsgewalt", die bei der Wahl ihm zur Ausübung zuströmte, weiter an den Kanzler, dieser an die Minister. Jeder Minister schließlich vermittelt sie seinem Ressort. Das realistische, praktische Moment des Apparats - altertümlich: der amtliche "Organismus" - kommt so zu seiner Rechtfertigung. (Im Unterschied dazu kann man die Legitimation, die aus Gesetzen herrührt, als theoretisches Moment des Apparats kennzeichnen. Welt, die im Gesetzbuch steht, braucht den Verwirklicher; und wenn nicht jedermann für die Verwirklichung zuständig sein soll, ist die Auswahl und Ernennung der exklusiv Zuständigen eine Sache für sich.) Gegenüber dem Souverän schreitet die Mediatisierung in der Exekutive schnell voran; bereits der Minister ist ihm durch zwei Mittler (Bundestag und Kanzler) verbunden. In dieser Mittelbarkeit zweiten Grades steht der ranghöchste Anwender öffentlichen Rechts dem Souverän doppelt so fern wie das anzuwendende Gesetz ... Bei den tieferen Rängen der Behördenpyramiden kann der Rückbezug auf den Souverän schließlich als leerer Gedanke erscheinen. Demokratische Züge zeigt die Anstellung eines Inspektors nicht, und seine Karriere hängt an keiner demokratischen Prozedur. Grund dafür ist das Berufsbeamtenturn, nach Genesis und Form eine demokratie-neutrale Einrichtung. Zum Staatsverrichter unterhalb der politischen Pyramidenspitze wird man dank Ausbildung, individuellem Berufswunsch und dem Zufall, der "geeignetste" Bewerber auf eine freie Planstelle zu sein; der gewöhnliche Zugang zu jedem Beruf. Besondere Rückkopplung zum Souverän findet aber doch noch statt, auf eine andere Weise als der demokratischen Wahl, eher versteckt unter der Anforderung der Loyalität zur "freiheitlich-demokratischen Grundordnung" . Diese Loyalität vermag nach herrschender Vorstellung ein Bewerber nicht zu erbringen, der einer "radikalen" politischen Lehre anhängt. Demokratiegemäß, sogar ein Stück demokratischer Mechanismus ist dies durchaus: Politik, die der Souverän bei der Parlamentswahl verworfen, vom Parlament ferngehalten hat, soll auch nicht in die Entscheidungsfreiräume der Exekutive eindringen. Und was an Ideen in der Exekutive wirken möchte, muß sich zuvor dem Souverän zur Wahl stellen. Die Bundesbehörden bilden nur einen schmalen Ausschnitt der Exekutive. Die "Ausführung" der Bundesgesetze ist weithin Angelegenheit der Länder (Art. 83 Grundgesetz). Dort verhält es sich um die praktische Konstituierung der Exekutive entsprechend.
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(5) Die "dritte Gewalt" ist die Gerichtsbarkeit. Sie ist die eigentlich maßgebliche Stelle, Gesetze von Staats wegen zu konkretisieren. Sie besorgt dies für den privaten Konflikt, den die Streitenden nicht anders beilegen wollten, auf eine Klage hin. Bei der Anwendung öffentlichen Rechts haben Gerichte das letzte Wort; ein Entscheid der Exekutive allein ist nur endgültig, wenn der Bürger ihn hinnimmt. (Aber nur auf Rechtmäßigkeit überprüft das Verwaltungsgericht den Behördenspruch. Wo der Gesetzgeber Ermessen eröffnet hat, darf das Gericht sich nicht einmischen - insoweit fehlt eine gesetzliche Vorgabe, die zu konkretisieren wäre.) Ohnehin nicht zuständig ist die Exekutive für die Anwendung des Strafrechts; diese ist der Strafjustiz vorbehalten. Da auch die Rechtsprechung vom Souverän ausgeht - "Im Namen des Volkes" werden die Gerichtsurteile gefällt -, ist wieder nach dem Legitimationsfluß zu fragen. Die direkte Wahl der Richter ist denkbar. Das geltende Organisationsrecht hingegen schreibt eine stark mediatisierte Berufung vor: der Souverän handelt dabei durch seine anderen Organe. Entweder entscheiden die Justizverwaltungen (Exekutive unter einem Justizminister), oder es werden Richterwahlausschüsse tätig, deren Mitglieder teils von der Exekutive, teils vom Parlament bestellt worden sind. Bei der Berufung von Bundesrichtern wirken Bundesexekutive, Länderexekutiven und Bundestag zusammen (Art. 95 Grundgesetz). Den demokratischen Zusammenhang verstärkt wiederum das schon genannte Kriterium für die Personalauswahl: Parlamentsferne Weltanschauungen sind auch für die Staatsfunktion Justiz nicht legitimiert. (6) Gegenüber dem Alltag der Demokratie erscheint die Parlamentswahl als turnusmäßig wiederkehrende Grundlegung. Der Souverän selbst wird tätig und die Verhältnisse stehen zu seiner Disposition: er kann das politische Personal austauschen, dessen er überdrüssig ist, kann sich auf neue politische Gedanken einlassen. Die Institutionen werden belebt - aber sie sind nicht neu zu verfassen. Wie der Souverän handeln muß, zu welchem Zweck er agiert, alles ist ihm verfassungsrechtlich vorgeschrieben. Die eigentliche Grundlegung ist längst geschehen, sie hat (Rechts-)Wege gebracht, auf die das Volk sich nunmehr verwiesen sieht. Die "Stunde null" des Souverän, seine äußerste Freiheit, war die Verjassungsgebung. Vielmehr: sie ist es grundsätzlich, der Idee nach. Die Genesis des Grundgesetzes hingegen stellt alles andere, nur keine demokratische Selbstkonstituierung eines Souverän dar. Das Grundgesetz ist als gelinde verbrämter Oktroi der drei westlichen Besatzungsmächte über die (West-)Deutschen gekommen. Die Militärgouverneure der drei westlichen Besatzungszonen erteilten am 1. Juli 1948 den Auftrag, eine verfassungsgebende Versammlung einzuberufen. Daraufhin entsandten die Regierungen der (späteren Bundes-)Länder
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Fachleute, die in Herrenchiemsee einen Verfassungstext entwarfen. Der Entwurf wurde dem Parlamentarischen Rat in Bonn vorgelegt: einem Beschlußgremium, gebildet aus Abgesandten der Länderparlamente. Der Parlamentarische Rat, mittelbar demokratisch errichtet (die Länderparlamente immerhin waren vom Volk gewählt), amtierte unter einer nicht-demokratischen conditio sine qua non: auf den Willen der West-Alliierten hin, das heißt aufgrund Besatzungsrechts. Das Grundgesetz, das er verabschiedete, wurde von den Besatzungsmächten genehmigt; danach konnten die Länderparlamente es für die künftige Republik rezipieren. Der Bayerische Landtag lehnte als einziges Parlament die Vorlage ab: Sie sei nicht hinreichend föderalistisch. Eine Volksabstimmung über die - als Provisorium gedachte Verfassung fand nicht statt. Selbstverfassung führte, im Zeitraffer, die DDR vor. Auch dort war die erste Verfassung vom 7. Oktober 1949 ein Oktroi gewesen. Am 1. Dezember 1967 beschloß die Volkskammer, daß eine Kommission zur Ausarbeitung eines Verfassungsentwurfs zu bilden sei. Die Kommission legte ihr Ergebnis am 31. Januar 1968 vor. In einer landesweiten "Volksaussprache" wurde der Entwurf zur Diskussion gestellt; über 12 000 Änderungsvorschläge gingen ein. Sie führten zu 170 Veränderungen an der Vorlage. Die Volkskammer bestätigte die Endfassung am 26. März 1968. Im Volksentscheid am 6. April 1968 wurde die Verfassung angenommen, zwei Tage später ist sie in Kraft getreten. Der Prozedur nach wurde der Souverän hierzulande durch eine Auftragsarbeit für die Besatzer zwangsverfaßt. Der Sache nach hat er sich das Grundgesetz freilich längst angeeignet. Die Parteien seiner Wahl sind verfassungsimmanent orientiert; Ideologien, die auf andere Staatsstrukturen hinauslaufen ("Diktatur des Proletariats"; "Führerstaat") finden, demokratisch gewogen, keine relevante Anhängerschaft. (Oder läßt der Souverän sich von der Wahl des "Verfassungswidrigen" bloß abhalten, weil solchen Parteien das Verbot droht; Art. 21 Abs. 2 Grundgesetz? So einfach ließe ein wirkliches, verbreitetes Interesse an einem anderen Staat sich kaum unterdrücken.) Seit Konstituierung des ersten Bundestages hat zudem der Gesetzgeber Verfügungsmacht über das Grundgesetz erlangt. In mehr als dreißig Änderungen seit 1951 hat er es neuen Bedürfnissen angepaßt. Jede Verfassungsänderung bringt demokratisch besser legitimierte Sätze in das System ein, und die Belassung des anderen, änderbaren Verfassungstextes drückt Einverständnis aus. Die nachträgliche Herrschaft über die Verfassung ist jedoch beschränkt durch eben diese Verfassung. Eine konsequente Erscheinung; denn allein das Grundgesetz hat den Souverän mit Handlungsfreiheit und Instrumenten ausgestattet, und ihrer muß er sich nun bedienen, wenn er die Ausstattung ändern will. Bundestag und Bundesrat dürfen gemeinsam, je mit Zweidrittelmehrheit, das Grundgesetz kürzen, ergänzen, umformulieren (das Würdeprinzip und das Gerüst demokratischen Staatsaufbaus ausgenommen; Art. 79). Das Quorum macht Verfassungsänderungen schwierig, aber es sichert hohe demokratische Präsenz.
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Sogar direkte Verfügung über seine Verfassung ist dem Souverän in Aussicht gestellt - theoretisch. Die Voraussetzung dafür fällt ins Reich politischer Utopie; Präambel und Schluß artikel des Grundgesetzes nennen sie gleichwohl: Nach der Wiedervereinigung wird das deutsche Volk "in freier Entscheidung" seine Verfassung beschließen werden. Jede Entscheidung wird möglich sein, das Grundgesetz wird nichts präjudizieren. d) Von falschem Verrichte-rbewußtsein
Eine Episode, für zahllose. Und zur Erinnerung: "Funktionär" kommt von ,,fungor" = ich verrichte. Aber dieser Wortsinn hat sich weithin wohl ebenso verloren wie minister = Diener. Im Herbst 1979 führten Reporter der Illustrierten STERN vier Wochen lang mit einem Radargerät Geschwindigkeitsmessungen an Bonner Straßen durch. Sie wollten die Vermutung überprüfen, daß die Bonner Behörden-Chauffeure es mit der Straßenverkehrsordnung nicht so gen au nehmen. "Während Minister und Abgeordnete öffentlich darüber nachdenken, wie sie den Autofahrern das Rasen abgewöhnen, damit Benzin gespart wird, setzen sich viele von ihnen großzügig über die Verkehrsvorschriften hinweg. Im Vertrauen auf die Nachsicht der Polizei und getrieben von einem vollen Terminkalender, nehmen sie es zumeist widerspruchslos hin, wenn die Fahrer ihrer Dienstwagen zu Temposündern werden. Ein Kabinettsmitglied: ,Mir fällt das wirklich nicht mehr auf' ... Den Spitzenplatz unter den Rasern hält ein Vertreter der Opposition. 103 Stundenkilometer zeigte das Meßgerät an, als der Wagen des CDU-Abgeordneten und hessischen Landesvorsitzenden Alfred Dregger über die Ludwig-Erhard-Straße fegte. Erlaubt sind dort aber nur 70 km/ho Dagegen nehmen sich die 63 Stundenkilometer, mit denen Verkehrsminister Kurt Gscheidle auf der Adenauerallee (erlaubtes Tempo: 50 km) in die Radarfalle ging, geradezu manierlich aus ... Daß die Politiker seit Jahren nach Belieben durch die Bundeshauptstadt brausen können, verdanken sie vor allem der Großzügigkeit der Polizei. Zwar können Regierungsmitglieder und Abgeordnete mit Ausnahme der genau festgelegten Blaulicht-Fahrten keine Sonderrechte beanspruchen, die Chauffeure von BD-Fahrzeugen haben aber von den Bonner Uniformierten kaum Unbill zu befürchten." (Gerade Alfred D., der mit starken Worten für "Recht und Ordnung" zu werben pflegt?) Der Herrscher sei den Gesetzen nicht unterworfen: "Da er die Macht hat, Gesetze zu erlassen und zu widerrufen, kann er sich von ihrem Zwang befreien, wenn er die ihm lästigen Gesetze verwirft und sie in neue verwandelt; und folglich war er ihnen auch nicht verpflichtet." Mit dieser Begründung stellt Hobbes den vordemokratischen Souverän von den Gesetzen frei (Leviathan, cap. XXVI 2). Der Schluß jedoch war von vornherein verkehrt. Die Macht über das Gesetz bedeutet, daß Leviathan ein Gesetz beseitigen kann: von da an bindet es niemanden
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mehr. Wen es zur Zeit seiner Geltung gebunden hat und wen nicht, kann man aus der Kompetenz des Gesetzgebers überhaupt nicht ableiten. - Der seinerzeit unlogische Satz war gleichwohl opportun, und er scheint gewisse Nachwirkung zu entfalten, auch wenn er weniger ins System paßt als je zuvor. Von der "Souveränität" alter Fassung ist die Arroganz Mächtiger geblieben; die Sucht, "ein bißchen gleicher" zu sein als die übrigen, lebt sich aus. Allerdings gibt es ein Demokratieverständnis, das Arroganz - nicht rechtfertigt, doch inspiriert. Demokratie sei die Herrschaft der Gewählten auf Zeit. Also sprach mancher Gewählte, und er machte sich ans Herrschen. Worin liegt da der Irrtum? Zweifellos hat der politische Funktionär Macht: die Chance, (s)ein Interesse durchzusetzen über Hindernisse hinweg, an denen "Normalbürger" leicht straucheln. Von Herrschaft wäre zu sprechen, wenn Recht diese Chance absegnen würde. Das politische Amt ist Rechtsgrundlage für Entscheidungen des Politikers in der Institution. Privilegien im Straßenverkehr schließt es nicht ein. - Ein selbstverständliches Ergebnis, wer wollte es nicht "theoretisch" billigen. Wenn ein Staatsverrichter dennoch Mühe hat, seine Attitüde (die innere Einstellung und das ihr gemäße Verhalten) dem anzupassen, dann verrät sich zweierlei. Zum einen ist das Pendeln zwischen amtlichem und bürgerlichem Verhalten gestört; zum anderen ist der Amtsstil bedenklich. Entscheidungsmonopole und rechtlich begründete Entscheidungsfreiheit verschaffen dem politischen Funktionär, formal gesehen, manche Herrschaftsposition: er darf Interessenwidersprüche zum Vorteil des einen, zu Lasten des anderen Interesses verbindlich lösen. Offen bleibt aber dann noch, in welcher Haltung er sein Amt führt: selbstherrlich (autoritär; "herrschaftlich" dem Gebaren nach) oder sachlich. Der Selbstherrliche mißversteht Demokratie als Herrschaft der Verrichter. Er pflegt das Machtwort. Der Sachliche erkennt, daß Demokratie Herrschaft des Souverän durch den Verrichter ist. Sein Arbeitsmittel ist daher das Argument, er wirbt für seine Entscheidungen, müht sich, überzeugung zu stiften. Hat er Erfolg, dann nützt er der Staatsautorität mehr als der Herrscherliche. Denn letztlich sind nur zwei Weisen denkbar, politische Entscheidungen durchzusetzen: das überzeugen oder die Gewalt. Je weniger der erste Modus Platz greift, um so mehr ist Zuflucht in den zweiten notwendig. "Das Theoretische ist wesentlich im Praktischen enthalten" (Hegel, Rechtsphilosophie, § 4). Jedenfalls sollte es so sein. Schöne Sätze der Verfassung sollten ablesbar sein am Verhalten der Staatsverrichter, auf jeder Ebene staatlichen Handeins und im noch so "banalen", alltäglichen Fall. Gerade an den kleinen Ereignissen zeigt sich, was die großen Gedanken wert sind. Die Würde des Menschen, die unantastbar sei (Art. 1 Grundgesetz), ist die eine
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Seite. Die andere Seite, ein Prüfstein, ist die Art, wie Lebenszeit-Beamte mit einem angetrunkenen Obdachlosen umgehen. 2. Das politische Meinen
Bevor vom Volke "Staatsgewalt ausgehen" kann, geht von den einzelnen politische Meinung aus. Einiges aus der Masse der Meinungen werden die Staatsverrichter dann in die Tat umsetzen. Das Grundgesetz verspricht jedem Menschen Meinungsfreiheit (Art. 5). Besteht jedoch Freiheit zu jeder Meinung? Die Gedanken sind frei: von der verschwiegenen Meinung kann das Recht nicht handeln. Aber darf jeder Gedanke ausgesprochen werden, darf man für jeden Gedanken um Gefolgschaft werben? Unbeschränkte Meinungsfreiheit würde zur unbeschränkten (totalen) Demokratie gehören. Dort hätte über jedes anfallende Ordnungsproblem die (zuständige) Mehrheit frei zu entscheiden, und also müßte jede Meinung Zugang zum Entscheidungsprozeß haben. Anders in der rechtsstaatlich gefaßten Demokratie (im "demokratischen Rechtsstaat"): Meinungen haben hier ihre geregelten Gelegenheiten - meinen darf man also in den Grenzen der Regelung. Das geltende Recht hat ein sehr differenziertes System der Situationen angelegt, bei welchen Meinungen sich anbieten und verfechten lassen; Meinungen, die dann jeweils "systemimmanent" sein müssen. a) Rechtgemäßes Meinen
(1) Auf das engste vorverfaßt sind die Situationen der Gesetzesanwendung. Die Meinung ist dann Rechtserwartung, und "sinnvoll" (diskussionswürdig) sind nur solche Ansichten, die sich im Gesetzestext spiegeln lassen. Der Meinungsstreit vor einer Behörde oder mit ihr, oder der Meinungsstreit vor Gericht, alle diese Chancen für Meinungen sind gesetzlich programmiert, je nach Textvorgabe mit engerem oder weiterem Freiraum. Meinungen jenseits des Gesetzeshorizonts sind nicht bemerkenswert; die Rechtsanwender brauchen sich nicht darauf einzulassen, dürfen das Abwegige übersehen oder als indiskutabel zurückweisen. Wer es vorbringt, übt Freiheit zum Irrelevanten aus: leerste Freiheit. Legal bleibt das Vermeinen dennoch in den meisten Fällen. Die Ansicht außerhalb des Gesetzes ist nicht notwendig auch rechtswidrig, verboten, kriminell - hierzu müßte ein besonderes (Straf-)Gesetz sie erst erklären. Gesetzlich verboten ist zum Beispiel die beleidigende Meinungsäußerung; ihr folgen von Rechts wegen Sanktionen nach (Strafe, Schadenersatz). (2) Meinungen, die ein Gesetz überschreiten, richten sich stets gegen dieses Gesetz; Opposition, Antithese zu sein, ist ihr logischer Effekt.
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Wie allerdings wird ein praktischer Effekt daraus, wie wird die erlaubte, aber vor dem Gesetz bedeutungslose Meinung doch noch erheblich? Der Rechtsstaat enthält ein Verfahren, Gesetze abzuschaffen und neue Gesetze zu erlassen; auf diesen rechtlichen Weg müssen Erwartungen contra legem gebracht werden. Gesetze zu ändern, ist dem Gesetzgeber vorbehalten; Gesetzgeber ist das Parlament; im Parlament fällt die Entscheidung über den Gesetzesinhalt. (Wobei in etlichen Fällen der Bundestag mit Präjudizien oder Hindernissen rechnen muß, die der Bundesrat errichtet.) Wirksam können demnach Meinungen werden, die ins Parlament gelangt sind, und von ihnen die Ansichten der parlamentarischen Mehrheit. Dabei kann das Ergebnis als Kompromiß anfallen, zu welchem verschiedene Meinungen resultieren, oder es kann ungeminderte Meinung der parlamentsmächtigen Fraktion/ Koalition sein. Die Meinung eines Bürgers wird nur durch diese Vermittlung Gesetz; und die Entscheider hatte er, als Wähler, demokratisch ausgewählt. Zumindest hatte er die demokratische Chance der Mit-Auswahl. Die Wahl stellt, sieht man auf ihre inhaltliche Komponente, eine hochabstrakte Meinungsäußerung dar. Sie ist so abstrakt wie das Wahlprogramm, für das man votiert; und welches Wahlprogramm wäre schon jemals wortwörtlich Gesetz geworden. Bezogen auf die Inhalte künftiger Gesetze, haben Souverän und einzelner Wähler eine Blankettvollmacht erteilt. Bekannt waren Absichten, Tendenzen, "Grundüberzeugungen" , politische Standorte der Kandidaten; Genaueres konnte man kaum wissen. Den einmal berufenen Verrichtern der Legislative darf niemand Aufträge oder Weisungen erteilen. Möglich und erlaubt jedoch sind Versuche, die Gesetzesmacher anzuregen, sie auf bestimmte Gedanken zu bringen, ihnen eigene Vorhaben auszureden. Der Vorgang ist alltäglich, die Methoden sind vielfältig. Da gibt es pressure groups, die das Interesse je ihrer Klientel sanktioniert sehen möchten. Oder: Mit Beifall, Verdikt und Anregungen überhäuft die "öffentliche Meinung" die Politiker (- die in Presse, Funk und Fernsehen veröffentlichte Meinung. Wieviel Eigenveranstaltung der Politiker darin liegt, welche Chancen zur Maßgabe und Nachmessung den "Medien" verbleiben, ist eine andere Frage). Prämissen seines HandeIns bezieht der Abgeordnete sodann aus seiner Partei; darum vermittelt auch die Willensbildung in den Parteien Meinungen an das Hohe Haus. Auf all die vorhandenen Meinungsmärkte und auf die Legislative unmittelbar kann schließlich der sich selbst organisierende Protest der Bürger einzuwirken suchen: Bürgerinitiative und Demonstration sind seine legalen Werkzeuge. Wer nun seine politische Meinung plazieren will, der halte sich an einen der angesprochenen Wege,
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oder an mehrere, und schließe sich dort den Mit-Meinem an. Womöglich wird es gelingen, eine Meinung mächtig zu machen. - Mächtig in einem der Volkssouveränität widersprechenden Ausmaß? Dies wäre die Schuld der Untätigen, die ihren Anteil Gegenrnacht verschenkt, eher: verschlafen haben. (3) Rechtserwartungen gegen ein Gesetz also können auf so legale wie demokratische Wege gebracht werden - und wiederum hat das Meinen seine Grenzen. Vom Gesetzgeber läßt sich nur fordern, was er zum Gesetz erheben darf. Die Gesetzgebung "ist an die verfassungsmäßige Ordnung ... gebunden" (Art. 20 Absatz 3 Grundgesetz). Regeln des parlamentarischen Verfahrens legen den Gesetzgeber fest; vor allem jedoch ist er auf die Grundrechte verpflichtet (Art. 1 Absatz 3 Grundgesetz) . Der Gesetzgeber darf jede Praxis vorschreiben, die den hochabstrakten Grundrechtssätzen subsumierbar ist. Solche Vorschriften fassen das Grundrecht in Formen der Ausübung; es wird konkreter, mithin enger, um "wirklicher" zu werden. Als Quelle der Gesetzeskritik aber besteht es unverkürzt fort. Gegen die einmal verordnete Ausübungsweise gegen den gesetzlichen Modus der Versammlungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, Berufsausübung ... - darf jedermann eine "bessere" Lösung entwerfen, die auch Verwirklichung des Grundrechts wäre. Der Gegenentwurf ist politischer Art: kein geltendes Recht, nur denkbares Recht. Vor fälliger Anwendung des kritisierten Gesetzes schützt die Kritik nicht, mit einem Fluchtweg aus dem Gesetz sollte man sie nie verwechseln. Sie ist eine Aufgabe. Wer das "Bessere" will, mühe sich, es auf die legislatorische Bahn zu bringen. - Und noch etwas ist dem Gesetzgeber erlaubt: er darf einige Grundrechte beschränken, darf Eingriffe in diese Grundrechte gestatten. Nicht um Verwirklichung geht es dann, wie bei der Konkretisierung, vielmehr um Ausnahmen von ihr; um grundrechtslose Zonen, die gesetzlich angelegt werden. (Das Recht auf Leben dürfe der Gesetzgeber an den Grenzen "praktischer Vernunft" enden lassen, sagte das Bundesverfassungsgericht. So jedenfalls im Zusammenhang mit Schnellen Brütern 122 • Beim Schwangerschaftsabbruch hingegen?) Voraussetzung ist, daß der Verfassungstext die Minderung ausdrücklich erlaubt und diese das Grundrecht nicht "in seinem Wesensgehalt antastet" (Art. 19 Absatz 2 Grundgesetz). Genug andere Gelegenheit zur Rechtsausübung muß in der Gesellschaft übrigbleiben. (Eigentum als Werkzeug jedes einzelnen bei seiner Selbstverwirklichung wäre noch immer zureichend vorhanden, wenn es kein Privateigentum an Produktionsmitteln mehr gäbe; Art. 14 und 15 1!2 Oben, 4. Kap. 12. Zur "Philosophie" der Kalkar-Entscheidung siehe auch: Herbert Sommer, Praktische Vernunft beim kritischen Reaktor, in: Die öffentliche Verwaltung 1981, S. 654 ff.
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Grundgesetz.) Der Eingriff im Einzelfall soll den Betroffenen doch nicht ganz grundrechtlos stellen (Freiheitshoffnung trotz "lebenslanger" Gefängnisstrafe). Um jedes beschränkende Gesetz sind wiederum politische Argumente und Aktionen zulässig, bei gleicher Berechtigung für die beiden entgegengesetzten Tendenzen: die Freiheit, das Ende gültiger Beschränkungen zu fordern, ist so groß wie die Freiheit, auf mehr Restriktion zu bestehen. Ein grundrechtswidriges Verlangen ist ähnlich "abwegig" wie die außergesetzliche Rechtserwartung bei der Gesetzesanwendung. Wie dort könnte die Verkehrtheit nochmals relativ sein: eine zu verwerfende Zumutung an den "gewöhnlichen" Gesetzgeber, doch Diskussionsstoff für den Verjassungsgeber ... (4) Kritik an einem Gesetz kann sich auf die Verfassung zurückziehen, sich aus der Verfassung nähren. Thesen gegen die Verfassung finden solchen Fluchtpunkt nicht. Ihnen fehlt die positive Grundlage. Ein Gedanke, der das Grundgesetz überschreitet, gerät dennoch nicht zwangsläufig verfassungswidrig. Er wäre es, wenn das Grundgesetz das letzte Wort zu allen rechtlichen Möglichkeiten spräche. Tatsächlich ist sogar die Verfassung weithin disponibel - sie sagt nur nicht, wozu. Der inhaltliche "Rahmen", den sie für die Gesetzgebung absteckt, fehlt für die Verfassungsgebung. Entwürfe gegen das verfassungsrechtlich fixierte System sprechen das Grundgesetz nur negatorisch an, ihr positiver Inhalt (ihre Prämisse) liegt jenseits des Systems. Der ("einfache") Gesetzgeber muß allen Gedanken widerstehen, die das Grundgesetz verlassen. Anders der Verjassungsgeber (Bundestag und Bundesrat je mit Zweidrittelmehrheit): seine Welt fängt jenseits des Grundgesetzes erst an, er hat dort eine "an sich" unerschöpfliche Ideenquelle. Weil die Verfassung änderbar ist, darf auch jeder Bürger Verfassungserwartungen aufgreifen, wo immer er sie findet. Mit ihnen möge er aufs selbe Forum ziehen, auf dem schon Gesetzeskritik stattfindet: pressure groups, "Medien", politische Parteien, Bürgerprotest sind die Meinungsmärkte und Orte der Relevanzsuche. Eine Grenze aber hat die Meinungsfreiheit auch diesmal, und anders als zuvor ist diese Grenze endgültig. Vermeinen darüber hinaus wird nicht auf einer noch höheren Ebene der Gesamtordnung aufgefangen, im Gegenteil drohen Sanktionen für verfassungswidrige Betätigungen. (Verbot der verfassungswidrig aktiven Vereinigung zum Beispiel.) Gezogen ist die nicht zu überschreitende Linie im Grundgesetz: es verweist Denkbares aus der Politik, indem es einige seiner Artikel für unabänderlich erklärt (Art. 79 Absatz 3). Grundrechte können zwar neu formuliert oder abgeschafft werden, jede Neufassung aber muß die Würde des Menschen wahren. An die veränderte Grundrechtslage wä19 Gast
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ren die drei "StaatsgewaIten" wiederum gebunden. Fixiert sind sodann die Strukturprinzipien des Staates. Volkssouveränität ist weder "von oben" entziehbar, noch darf der Souverän auf sie verzichten. Gleiches gilt für die demokratische Ausübung der Souveränität und für die Gewaltenteilung. Unter ein bestimmtes, historisch erreichtes Niveau der Demokratie dürfen Souverän und Apparat nicht zurückfallen. (Die Sanktion? Das Widerstandsrecht nach Art. 20 Absatz 4 Grundgesetz.) Sie dürfen andererseits auch nicht über das erreichte Niveau hinaus fortschreiten - verfassungswidrig wäre es, Vorstellungen von einer Demokratie höherer Qualität zu entwickeln. Hingegen hat der Verfassungsgeber GestaItungsfreiheit für die gesamte ökonomische Sphäre. Das Privateigentum einer Minderheit an den Produktionsmitteln ist keine Bedingung der Menschenwürde; Art. 15 Grundgesetz stellt dies klar, sieht für die heute erlaubte Sozialisierung aber eine Entschädigung vor. Der Verfassungs geber wäre nicht gehindert, stattdessen gegen bescheidene Rente, also fast ersatzlos zu enteignen. Gleichfalls disponibel ist die - heutzutage privatautonome - Verteilungsweise der Produkte. Das Fazit: Politisches Meinen gegen die Verfassung ist noch immer verfassungsgemäß, solange es sich nicht ain ius co gens des Grundgesetzes vergreift. Und selbstverständlich muß es den rechtlich vorgezeichneten Weg der Verfassungsänderung einbeziehen. Das Äußerste an Meinungsfreiheit findet demgemäß statt, wenn um den Grenzverlauf für eine verfassungskonforme Änderung der Verfassung gestritten wird. Bei Diskussionen um Grenzverläufe kann man von beiden Seiten an die Grenze herandenken. Deshalb muß die Annäherung von außen her, das Argumentieren von dort aus, noch immer als verfassungsgemäß hingenommen werden. Dazu gehört ein Recht auf (ehrlichen, unvermeidlichen) Irrtum: Sanktionen, nach Diskussionsende gegen die unterlegene und belehrte Seite verhängt, würden bald ihre Schatten vorauswerfen - "graue" Redeverbote. Die Verfassungswidrigkeit beginnt mit gezieltem Fortdenken von der Grenze aus. (5) Der Begriff des Verfassungsgemäßen/Verfassungswidrigen hat (dies sei noch einmal klargestellt) eine komplexere Struktur als sonst der Begriff des Normgemäßen/Normwidrigen. Sie ergibt sich daraus, daß die Verfassung alles Meinen deckt außer jenem, das gegen unabänderliche Verfassungssätze gerichtet ist. Die Verfassung deckt (= legitimiert) auch vieles, was nicht in ihr steht. Die Kritik an veränderbaren Verfassungssätzen ist, wenn sie auf Änderung im verfassungsgemäßen Verfahren abzielt, ihrerseits noch verfassungsgemäß. (Dagegen ist die Kritik an einem einfachen Gesetz immer dem Gesetz zuwider, gesetzeswidrig.) Mit dem Attribut "gesetzeswidrig" kann, logisch exakt, jede Meinung belegt werden, die nicht dem jeweils angesprochenen
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Gesetz subsumierbar ist. Sie ist dennoch nicht rechtswidrig, soweit die Verfassung sie auffängt. Die Verfassung ihrerseits hat kein solches Netz hinter sich, sie muß sich selbst dieses Netz sein, also den Widerspruch gegen sich auffangen. Verfassungswidrig ist daher erst die Kritik, die das Netz zu durchschneiden (= den nicht kritikfähigen Teil der Verfassung zu negieren) sucht. In einern zweiten Zusammenhang ist der Begriff des Verfassungswidrige.n allerdings strikt, mit derselben Logik wie sonst der Begriff des Normwidrigen definiert. Er gilt unmodifiziert für die Staatsverrichtungen. Diese sind dann schon verfassungswidrig, wenn sie die gegebene Verfassungslage überschreiten. Gesetzgeber, Exekutive, Justiz sind an die ganze Verfassung gebunden. So frei wie das politische Meinen ist, anders als der Verrichter des aktuellen Rechtsstaats, erst der berufene Systemgestalter: der Verfassungsgeber. An einer Stelle schließlich ist die Verfassung ganz ohne Schranke: wenn es darum geht, die Zeit nach der Wiedervereinigung Deutschlands anzusprechen, Art. 146 Grundgesetz. Freilich: Das Recht, so weit zu denken, entbindet nicht vorn Grundgesetz, wie es bis dahin besteht. Alles politische Meinen, das gerechtfertigt und wirksam sein will, ist in das aktuelle System und in dessen Änderbarkeit eingebunden. Utopie für Art. 146 würde in Wahrheit gar nicht beim vorhandenen System anknüpfen; weder, um es verfassungskonform, noch um es in systemfremder Weise zum systemwidrigen Ziel hin zu verändern. Anknüpfungspunkt wäre eine gedachte künftige Situation, auf welche Belletristik nach Art der klassischen Staatsromane Bezug nähme.
b) Verfassungswidriges Meinen; "Radikalenfrage" (1) Ein handfester Widerspruch scheint im System zu stecken: Der Bürger darf extreme Meinungen mit allen demokratiegemäßen Mitteln verfechten, Zugang zum "öffentlichen Dienst" aber hat nur, wer den gewählten Gedanken (Grün bis "Mitte") anhängt (oder jedenfalls sich nicht gegenteilig äußert). Den "Radikalen" trifft "Berufsverbot (?)". Das Grundgesetz scheint dadurch verletzt, denn: "Niemand darf wegen ... seiner politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden" (Art. 3 Absatz 3). Ein wichtiger Verfassungssatz, gewiß. Nur: Er spricht nicht davon, wie politische Meinungen in den Staatsapparat gelangen. Erst recht zwingt er nicht zu dem Schluß, Exekutive und Justiz hätten für jedes politische Weltbild offen zu sein, gerade auch für eines, das keine demokratisch begründete Erheblichkeit hat. Erheblichkeit in der Demokratie ist ein quantitativer Faktor, der sich durch Wahlen erweisen muß. Der erste demokratische Weg ist der ins Parlament (Bundestag, 19'
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Landtag); von dort geht Legitimität auf die beiden anderen Staatsfunktionen über. Ein Scheitern auf dem ersten Weg - an der 5-Prozent-Klausel der Wahlgesetze - und der Einzug in die nachgeordneten Funktionen vertragen sich nicht miteinander. Im Gegenteil: Ein Verrichteramt zu begehren, im Namen des Volkes und mit Wirkung für das Volk agieren zu wollen ohne demokratische Basis - dies hieße, entgegen Art. 3 Grundgesetz Bevorzugung zu fordern. (2) Drei Klassen politischer Meinungen kann man im demokratischen Zusammenhang unterscheiden: 1. Meinungen, die zum Verrichteramt in Exekutive und Justiz qualifizieren. Sie sind, grob umrissen, mit den Programmen der demokratisch etablierten Parteien identisch, reichen bis zu "gemäßigten" Verfassungsänderungen, tendieren vorrangig aber zur Verwirklichung des Grundgesetzes. 2. Meinungen, die vom System des Grundgesetzes wegstreben, die Verfassung "transzendieren", ihren Weg in die "andere Republik" aber getreu den Regeln für Verfassungsänderungen entwerfen. Beim Souverän liegt es, solche Meinungen wirkungsmächtig zu machen oder zu übergehen. Wahlerfolgen muß von Rechts wegen die Öffnung der Exekutive und Justiz folgen: die "extreme" Meinung ist nun legitimiert, auch bei Konkretisierungen der Gesetzestexte mitzuwirken. 3. Meinungen, die gegen ius cogens des Grundgesetzes verstoßen. Obwohl sie "der Sache nach" verfassungswidrig sind, steht ihnen das politische Forum zunächst offen, eine politische Partei mag sie zum Programm erklären. Die Folge ist Verfassungswidrigkeit der Partei; doch hierüber kann nur das Bundesverfassungsgericht entscheiden (Art. 21 Absatz 2 Grundgesetz). Nur es darf das Parteiverbot aussprechen - und wo kein Kläger ist, da ist auch kein Verfassungsrichter. Wahlerfolge einer Partei mit verfassungswidrigen Zielen sind daher realmöglich, dennoch vermöchten sie nie den Makel zu heilen. Der Souverän stößt hier an die Grenze seiner Selbstbestimmung. (Er müßte seinen Ordnungszustand "Bundesrepublik" auflösen, wenn er unabänderliche Verfassungsartikel ändern wollte; und die Auflösung geschähe außerhalb des Rechts.) Den im System nicht legitimierbaren Gedanken dürfen (vielmehr: müssen) Exekutive und Justiz sich verschließen, die Protagonisten des Verfassungswidrigen sind nicht amtsfähig. Die Subsumtion einer Meinung unter die dritte Klasse vorzunehmen, steht jeder Behörde selbst zu, einen Spruch des Bundesverfassungsgerichts braucht sie nicht abzuwarten. Er beträfe nur die Parteiarbeit innerhalb und außerhalb des Parlaments. Gegen Behördenentscheide ist, wie immer, Klage beim Verwaltungsgericht möglich.
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(3) Der Ausschluß von Staatsämtern ist die nächstliegende Sanktion gegen verfassungswidriges Meinen. Der Protagonist kommt dort nicht zum Zug, während über seiner Parteiarbeit ein Damoklesschwert - das Parteiverbot - an ziemlich dicker Schnur hängt. Noch geringeres Risiko droht, wenn illegitime Meinungen "rein gesellschaftlich" bleiben: Anschluß bei den Institutionen wird nicht gesucht, man wirbt literarisch, agitiert in "Zirkeln". Allzu heftiges Agitieren läßt zwar die Meinungsfreiheit verwirken, aber wieder ist das Bundesverfassungsgericht exklusiv zuständig, die Verwirkung auszusprechen (Art. 18 Grundgesetz). Geschehen ist dies in der Bundesrepublik noch nie. Der Richterspruch könnte zudem immer nur einzelne Agitatoren stillstelIen, ihre Weltanschauung selbst bliebe geduldet. Sie würde sogar das Parteiverbot überleben. Dieses Verbot gilt dem organisierten Vorhaben, eine Doktrin zu verwirklichen; die Doktrin wird nicht zur Ketzerei, die mit Stumpf und Stil auszurotten wäre. Überhaupt hält das Strafrecht sich zurück, die verfassungswidrige Meinungsäußerung ist allein für sich kein Straftatbestand. Das geltende Recht zieht Toleranz dem Versuch gründlicher Unterdrückung vor - es hat ja keine ewigen Wahrheiten zu schützen, sondern die Gesellschaft friedlich zu halten, und hierfür baut es stärker auf den ersten Modus. Am 17. August 1956 erklärte das Bundesverfassungsgericht die KPD für verfassungswidrig. Der Parteiapparat wurde "liquidiert". Keineswegs waren damit die Bücher von Marx, Engels und Lenin verboten oder nur noch Verrisse der marxistisch-leninistischen Philosophie erlaubt. Ohnehin muß man bei derart universalistischen Lehren (eben: Welt-anschauung) das politische Programm von den philosophischen Grundlagen trennen. Marx entwarf eine dialektisch-materialistische Erkenntnistheorie, eine Theorie der ökonomischen Prozesse (Wirtschaftsgeschichte), allerdings auch die Lehre von der proletarischen Revolution. Erkenntnislehre und politische Ökonomie kommen niemals mit dem Grundgesetz in Konflikt, mag eine auf ihnen gründende Analyse bundesdeutscher Zustände noch so "vernichtend" ausfallen. In Kollision mit der Staatsverfassung können erst die aktionistischen Folgerungen geraten (denn auch das Grundgesetz ist aktionistisch). Marx zog sie, indem er die gewaltsame Machtergreifung und anschließende Diktatur des Proletariats als historisch fällig verkündete; Lenin hat diese Vorschau zur Strategie und Taktik der Revolution verfeinert. Zweierlei widerspricht dem Grundgesetz: der revolutionäre (gewaltsame) Zugriff auf den Staatsapparat und die Absicht der "Partei der Arbeiterklasse", die einmal eroberte Macht nie mehr zur Wahl zu stellen, nie den demokratischen Verlust zu riskieren. Für das KPD-Verbot waren diese Ideale entscheidend (BVerfG E Bd. 5, S. 85 ff.). Strafbar ist seither jede "Betätigung" als KPD-Mitglied; ebenso jede "Unterstützung des organisatorischen Zusammenhalts" der Partei, begangen durch ein Nichtmitglied (§ 84 Strafgesetzbuch). Das Bekenntnis zu den verfassungswidrigen Gedanken, das eigenständige Engagement dafür wird in der Strafrechtslehre nicht als strafbare "Unterstützung" gewertet. § 84 StGB sanktioniert die Fortführung der Partei, nicht die Fortführung der Ideologie. Das Nichtmitglied überschreitet die Schwelle zum Strafbaren,
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wenn es Propagandamittel der Partei (z. B. Flugblätter, Abzeichen) verbreitet (§ 86 Strafgesetzbuch). Die pragmatische Toleranz für das Verfassungswidrige - eine Duldung, die dem Rechtszweck dienlicher scheint als ein omnipotenter Unterdrükkungsapparat - endet noch an einigen anderen Strafvorschriften. Strafbar ist das Aufstacheln zum Angriffskrieg (§ 80 a Strafgesetzbuch als Sanktion für Art. 26 Grundgesetz). Ebenso die propagandistische Vorbereitung des Hochverrats (§ 83). Hochverrat ist der Versuch, die verfassungsmäßige Ordnung mit Gewalt oder durch Drohung zu ändern; mithin zieht das Strafrecht auch der parteilosen "Arbeit" für die proletarische Revolution eine Grenze. Verboten ist schließlich jede Propaganda für die nationalsozialistische Ideologie (§ 86 Absatz 1 Nr. 4). (4) Die Klassifizierung von Meinungen (so wie sie hier durchgeführt wurde) ist aus dem demokratischen Zusammenhang ableitbar. Die Rechtswirklichkeit in der Bundesrepublik ließe sich nun daraufhin überprüfen, inwieweit sie den entfalteten Prinzipien entspricht. (Zu dieser Arbeit sei hier angeregt.) Wissenswert ist: Hält die Einstellungspraxis von Exekutive und Justiz den Rahmen der Meinung 1 ein? Wie grenzt die herrschende Dogmatik Meinung 2 von Meinung 3 ab? Geschieht das überhaupt, oder wird das Etikett "verfassungswidrig" womöglich zu großzügig vergeben? Die Kategorie des verfassungskonformen, aber nicht hinreichend legitimierten Meinens müßte in zweifacher Hinsicht praktisch bedeutsam werden. Zum einen ist der Makel zu geringer Legitimation heilbar; die Protagonisten können demokratisch erfolgreich sein, entweder als eigene politische Partei, oder weil eine etablierte Partei dieselben politischen Meinungen aufnimmt. Das Hindernis für Beamtungen entfällt damit. Zum anderen ist Fixierung auf die Meinung 1 nur für Vernchtertum in Exekutive und Justiz zu veriangen, exakt: an Stellen, an denen es um Konkretisierung von Gesetzen geht. Nur wer an Entscheidungen inhaltlich mitwirkt, wer von Staats wegen Gesetze in Einzelfällen zu Ende denkt, braucht ein demokratisch begründetes Verständnis. Dienste außerhalb der Gesetzesanwendung - eine Lokomotive führen, Briefe zustellen, Wasseruhren ablesen ... - sind "weltanschaulich" neutral. Für Kunst, Wissenschaft und Lehre im Staatsdienst schließlich eröffnet Art. 5 Absatz 3 Grundgesetz mehr Freiheit, als amtliche Gesetzesanwender haben. "Treue zur Verfassung" beweist ein Lehrender auch, wenn er zum System hält um der immanenten Änderbarkeit willen. Anhänger einer Meinung 2 von den neutralen oder "geistigen" Staatsverrichtungen auszuschließen, ist ein rechtlich nicht begründbarer Machtakt. Anders bei Meinung 3: hier setzen Abwehrreaktionen des Systems ein. Es betreibt legale und legitime Selbstbehauptung gegen jeden Menschen, der das verfassungsmäßig Fraglose in Frage stellt. Eine überreaktion des Systems wäre es, den auf Negation Sinnenden seinerseits in Frage zu stellen, ihm Negation anzudrohen (- wie immer sie
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dann praktisch ausfallen mag). Verbale Vorarbeit hierzu wird in der Bundesrepublik ständig geleistet, offenbar eher leichtfertig als mit Bedacht: Extremkritiker der Verfassung werden amtlich zu "Verfassungsfeinden" erklärt. Mit Zustimmung des Bundesverfassungsgerichts (grundlegend BVerfG E Bd. 39, S. 334 ff., insbes. S. 350, deutlich S. 370: "Der Staat ... muß sicherstellen ..., daß in den Beamtenkörper nicht Verfassungsfeinde eindringen."). Aus einem SPIEGEL-Gespräch mit dem Verfassungs richter Martin Hirsch: SPIEGEL: ... Ganz nebenbei hat das (Verfassungs-)Gericht auch noch den Pogrom-Begriff vom Verfassungsfeind justizfähig gemacht. - HIRSCH: Das ist ein bißchen eine Frage des Sprachgebrauchs. Mir tut es ja heute auch leid, daß das so drinsteht, aber es war ganz neutral gemeint, nicht in einem irgendwie diskriminierenden Sinne. - SPIEGEL: '" Da drängt sich ein beklemmender Vergleich auf: ob der Verfassungsfeind von heute womöglich der Staatsfeind unseligen Angedenkens ist. - HIRSCH: Natürlich nicht, so ist das natürlich nicht gemeint. - (SPIEGEL Nr. 48/1978, S. 41.) Wie gefühlsfrei Staatsverrichter auch immer "Verfassungsfeinde" kennzeichnen mögen: sie verwenden eine Klappmesser-Vokabel aus dem Wörterbuch des Unmenschen, die jederzeit ihre Eigenwirkung entfalten kann. (Zur Wirkungsweise oben 3. Kap. IV 2 b (2).) Das Wort legt Distanz zwischen Bürgern und "ihrem" Feind; es bereitet den Boden vor für "Maßnahmen" gegen ein "gefährliches Objekt". Die Potenz solcher Wörter ist Rechtlosigkeit, Friedlosigkeit - ein Vermögen wider allen Rechtszweck. "Verfassungsfeind" kann niemals ein Rechtsbegriff sein, und wo der Ausdruck dennoch ins System eingerückt wird, hat die Rechtsordnung eine denaturierte Stelle. überraschend sensibel für den Sprachgebrauch werden Staatsverrichter aber, wenn sie die Aussperrung vom öffentlichen Dienst als "Berufsverbot" bezeichnet finden. Das Wort sei irreführend, polemisch; ein politisches Schlagund Reizwort, das nur Emotionen zu wecken trachte. Amtliche Sprachregelung versucht, mit solchen Begründungen den Wortgebrauch zu verbietenl28 • Eine bürokratische Anmaßung entgegen Art. 5 und 18 Grundgesetzl
(5) Die Berechtigung des Systems (der "freiheitlich-demokratischen Grundordnung"), Negation abzuwehren, ist die eine Seite. Die andere, anstößige, sind die Grenzen des Systems selbst. Ein politisches Agieren, wie es in allen demokratischen Staaten Europas selbstverständlich und legal ist, stellt sich hierzulande als "verfassungswidrig" dar. (Die kommunistischen Minister im Kabinett des Pierre Mauroy: in der links rheinischen Demokratie Exzellenzen, für die rechtsrheinische "Verfassungsfeinde" . So relativ können die ewigen Werte einer Verfassung sein.) Der Souverän unter dem Bonner Grundgesetz ist "geschützt" vor jeder politischen Partei, die an den Strukturen aus Art. 20 rütteln wollte. Mißtrauen gegen den Souverän, ein Vorurteil, das ihm "politische Unreife" anhängt, kommt in dergleichen "Schutz" zum Ausdruck. Dem Souverän wird nicht zugetraut, daß er sich gegen eine politische 123 Material dazu bei Dieter Stenzel, Drei Lesarten des Wortes ,Berufsverbot', in: Demokratie und Recht 1981, S. 57 ff. - über Berufsverbote gegen inopportune = "liberale" Richter im 19. Jahrhundert: Hattenhauer (Fn. 5), Rz. 234 (Fall Planck) und 413 (Fall Kirchmann).
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Doktrin zu wehren vermöchte, die er nicht wünscht. Vorsorglich ist ihm verwehrt, "so etwas" ernsthaft, mit praktischer Erheblichkeit, überhaupt zu wünschen. Politisches Nachdenken und die Entscheidung über das Richtige und Falsche sind ihm dogmatistisch abgenommen. Wenn jedoch hinreichend viele die verbotenen Früchte wollen, so verweist das Grundgesetz sie auf "eigentlich" illegale Wege. Gewiß, die pragmatische Toleranz für das Verfassungswidrige (für DKP, KBW ...), solange das Bundesverfassungsgericht kein Verbot ausspricht, beläßt politischen Auslauf, der dem Befriedungszweck des Rechts zugute kommen kann. Gleichzeitig aber ist diese Art Toleranz eine an der Glaubwürdigkeit des Rechts zehrende, tückische Strategie. Die verfassungswidrige Partei, die erfolglos agiert, wird als Alibi für die Freiheitlichkeit des Systems benutzt; der Preis, den das System hierfür bezahlt, ist das venire contra factum proprium, der Selbstwiderspruch. Sollten unerwartete Erfolge der Verfassungswidrigen drohen, dann, so mögen die Verfassungsmäßigen hoffen, könne das Damoklesschwert des Verbots fallen. Das Grundgesetz hat seinen totalitären Ausschnitt: es definiert und verwirft "unreine" Politiken. Gedacht ist dies als Abwehrmechanismus einer freiheitlichen Verfassung gegen Totalitarismus ... Der Rechtliche muß mit dem unaufhebbaren Widerspruch leben. Seine Maxime kann nur heißen, so viel Freiheit und so viel Befriedung wie möglich aus dem System herauszuholen. c) Der Protest
Zufriedenheit mit den Staatsverrichtern, Einverständnis mit ihren Entscheidungen braucht keine rechtlich ge faßte Ausdrucksmöglichkeit: dergleichen macht keinen Skandal. Anders die Unzufriedenheit, der Dissens; der Widerspruch provoziert das Recht (1. Kap. I). Daß im Souverän kontroverse Meinungen versammelt sind, davon geht das demokratisch-rechtsstaatliche System aus; es bietet sich als Modus an, die Widersprüche zu lösen oder wenigstens zu beruhigen, sie latent zu halten. Sein fundamentales Lösungsmuster ist die Partizipation aller Bürger, die Selbstbestimmung im Souverän; das Lösungsverfahren ist - zu allererst - das institutionelle. Die Institutionen de lege lata reichen vom Handlungsfeld für alle ("Wahlen und Abstimmungen", Art. 20 Absatz 2 Grundgesetz) über die Einrichtungen repräsentativer Demokratie (Volkes Handeln durch Staatsorgane) bis zum Rechtsweg. (Wobei die Gerichtsverfahren zwischen der Exekutive und einzelnen Bürgern Konflikte zwischen dem Souverän und Opponenten aus seiner Mitte bedeuten. Der Souverän hat Toleranz: wer in ihm sich mißverstanden fühlt, sich unrecht behandelt meint, darf sich wehren.) Institution schließlich ist, obwohl sie nicht mit der Verbindlichkeit von
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Staatsorganen arbeitet, jede demokratisch relevante politische Partei. Sie ist ein auch-institutioneller Ort, von dem aus Inhalte in Staatseinrichtungen eingehen; ein Ort, der deshalb Konflikte an sich ziehen, auffangen, mit Erheblichkeit für die res publica lösen soll. Neben all diesen Formen aber gibt es eine zweite Weise, Dissens zu betreiben: den (legalen) Protest. Protest ist politischer Dissensbetrieb (Konfliktbetrieb) außerhalb vorhandener Institutionen. Diese Definition erfaßt wohl alle seine Erscheinungen, vom "Meinungsknopf" am Hemd bis zum Attentat. Seine Themen teilt der Protest mit den Institutionen: es geht um Tendenzen, Vorhaben, Entscheidungen "des Staates". Ziel ist die Beseitigung oder Ersetzung herrschender Gedanken124 • (Im Unterschied dazu richten Revolutionen sich gegen Strukturen des politischen Apparats oder des gesellschaftlichen Verkehrs.) Das jeweilige Mittel des Protests ist legal oder illegal. Das Grundgesetz stellt - in Ergänzung der Meinungsfreiheit - zwei Formen für legalen Protest bereit: die Versammlung und die Vereinigung (Art. 8 und 9). Wichtigste Art der Protestversammlung ist die Demonstration unter freiem Himmel. Als Protestvereinigungen sind in den letzten zehn Jahren Bürgerinitiativen entstanden. Sie haben vielfältige Strategien entwickelt, Meinungen zur Geltung zu bringen. Forum des Protests zu sein, Protestversammlungen durchzuführen, ist ihre eine Dimension; zum anderen sind Bürgerschulen daraus geworden. Unbehagen übt und lernt, auf Begriffe zu kommen. Bürger trainieren, ihre Interessen auf den institutionellen Wegen wahrzunehmen. Die gesetzlich vermittelte Beteiligung am Verwaltungsverfahren (Beispiel: Erörterung des KKW-Projekts) bietet Chancen zur Einflußnahme erst, wenn die Bürger dem "Sachverstand" der Exekutive überhaupt standhalten können; wenn sie fähig geworden sind, eigenen abweichenden Sachverstand entgegenzusetzen. Mut und Geld kostet der Rechtsweg durch alle Instanzen außerdem; die Vereinigung hilft auch in dieser Hinsicht dem "mündigen Bürger" auf die Beine. Qualifikation ("Mündigkeit") der Bürger herzustellen, ist zur Angelegenheit bürgerlicher Selbstorganisation geworden, nachdem die politischen Parteien hierfür offenbar nicht zureichen. (Womöglich wären sie überfordert, wenn sie auch noch den protestbereiten Widerspruch in der Gesellschaft institutionell auffangen sollten.) 124 Zur konflikttheoretischen Klärung der Kategorie: Ekkart Zimmermann, Demokratie und Protest, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 1980, S. 223 ff. Insbes. zur Legitimität der Bürgerinitiative: Gunnar Folke Schuppert, Bürgerinitiativen als Bürgerbeteiligung an staatlichen Entscheidungen, in: Archiv des öffentlichen Rechts 1977, S. 369. Umfassend zum Thema: Peter Cornelius Mayer-Tasch, Die Bürgerinitiativbewegung (rowohlts deutsche enzyklopädie 374).
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Versammlungen und Vereinigungen sind nicht ex definitione gesetzmäßig. Das Recht verlangt von den Protestierenden strikte Beschränkung auf den Meinungsvortrag. Erlaubt ist dreierlei: eine Meinung zu formulieren, sie zu begründen, ihr quantitativen Nachdruck zu geben. In der Protestform darf jeder Inhalt zur Sprache kommen, die spärlichen Fälle strafbaren Meinens ausgenommen (§§ 80 a, 83, 86 Strafgesetzbuch). Der Nachdruck darf sich allein aus der Zahl der Protestierenden ergeben. Wie dringlich sie ihr Interesse auch immer einschätzen mögen: es ist nie so dringlich, daß es einen Steinwurf, ein brennendes Auto rechtfertigen könnte.
Nie? - Die definitive Verneinung hat selbstverständlich, wie jeder Satz, den ein Mensch irgendwann, irgendwo ausspricht, einen Bezugspunkt. Vom Zusammenhang her wird eine Aussage bekräftigt oder zweifelhaft. Das ,nie' ist inmitten der funktionierenden freiheitlichdemokratischen Grundordnung gebraucht und nur in ihr gültig. 3. Der Gesellschaftsvertrag
Ist also die Bundesrepublik eine Verwirklichung dieser Kategorie? (1) Das Vertragsprinzip wäre, zum ersten, als Grundzug der res publica nachzuweisen. - Die Republik als Interaktion Gleicher, die in Selbstbestimmung Interessengegensätze lösen!? Der Souverän im Buch, so wie er hier skizziert worden ist, läßt sich auf diese Formel bringen. Im Souverän hat jeder Bürger eine Stimme. Aus der quantitativen Gleichstellung aller geht die Qualität Selbstbestimmung für jeden hervor. Wo immer kollektive (gesellschaftliche) Probleme zu lösen sind, kann die Selbstbestimmung des beteiligten (betroffenen) einzelnen keine andere Gestalt haben als die Teilnahme an der Entscheidung aller. Dabei kommt es für die Entscheidungsprozesse nicht auf das Äußerliche des Vertragsbildes an, sondern auf Einlösung seines Sinns und Zwecks. Eben darum hat die Mehrheit keine diktatorische Befugnis, das System trifft Vorkehrungen hiergegen. Die erste ist inhaltlicher Art: die Würde des Menschen ist demokratischer Disposition entzogen (Art. 1 und 79 Grundgesetz). Abhilfe gegen eine würdewidrige Staatsaktion ist auf dem Rechtsweg zu suchen, der bis zum Bundesverfassungsgericht reicht (Verfassungsbeschwerde). Die hochabstrakte Kategorie "Würde" läßt freilich viele konkretisierende Meinungen zu; die Meinungen können weit auseinanderfallen; was erheblich werden soll, muß. in die Institutionen einziehen. Reservate gegen den demokratischen Zugriff sind auf diese Weise wiederum demokratisch konstituiert - die Sicherung scheint brüchig. Hier jedoch greift die zweite Vorkehrung ein:
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die hohe Komplexität des demokratischen Systems. Mediatisierung (mittelbare Ausübung) der Souveränität und Gewaltenteilung beugen dem schnellen Mehrheitsurteil vor, der zügigen Exekution zügig gefällter volonte generale. Die Meinungen in den Institutionen ergeben, bei aller Beschränkung auf das demokratisch Legitimierte, ein kontroverses Spektrum, wie jede erfolgreiche Klage beim Verwaltungsgericht, jede erfolgreiche Verfassungsbeschwerde bezeugt. Die Vielfalt bedeutet Schutz für den einzelnen Bürger und die Chance, gegen das Verst!indnis der einen Staatsstelle bei der anderen zu obsiegen. Die dritte Vorkehrung gegen diktatorische Zustände ist die Gesetzhaftigkeit des demokratischen Rechtsstaats. Der Staat produziert nicht bloß konkrete Entscheidungen, deren Kennzeichen die Unausweichlichkeit ist, sondern zu allererst abstrakte Gesetze. Die demokratisch vorgegebenen Lösungen für Konflikte sind im Ansatz Freiräume, keine Diktate. Bürgersache ist es allerdings, Freiheiten zu nutzen statt sie den Bürokraten zu überlassen. (2) Vom geltenden Verfassungstext darf man sagen, daß er dem Gesellschaftsvertrag eine praktikable Gestalt gibt. Die weitere Frage nach der Vertragswirklichkeit scheint überflüssig, denn die Institutionen sind ja vorhanden. Aber so einfach ist der empirische Beweis nicht zu führen. Der pure Apparat, der getreu zur verfassungsrechtlichen Beschreibung existiert und am Werk ist: er ist mehrdeutig. Er kann das Gerüst sein für Herrschaft der politischen Funktionäre; für Bürokratie; für die Herrschaft einer gesellschaftlichen Gruppe ("Klasse") mit mächtiger "Lobby"; oder doch das Gerüst für die demokratische Selbstbestimmung aller. Zwei Lasten muß der einzelne Bürger auf sich nehmen, wenn das Ideal Gesellschaftsvertrag wirklich sein soll (vielmehr: wenn die Praxis dem Ideal überhaupt nahekommen soll). "Engagement" und SelbstRelativierung sind jedermann abverlangt. Das demokratische System braucht die aktive Mitarbeit möglichst vieler, um nicht in Herrschaft einer aktiven Minderheit (oder eines selbstgerechten Staatsapparats) auszuarten. Jedes Engagement jedoch überschreitet das System, sobald es je für sich Geltungsansprüche gegen die demokratische Geltungsvermittlung hegt. Wieviel jeder einzelne demokratisch gilt, hat die zahlenmäßige Reduktion vorgeführt (oben bei "Direkte Demokratie", Topos (5)). Dies muß man hinnehmen und ertragen. Das Versagen in der Demokratie geht mit einer typischen Verdrießlichkeit einher: Man wisse doch besser ... - und damit verbunden: Man könne doch nichts ausrichten ... ! Die kritisch-resignative Einstellung von Menschen, die das System "durchschaut" haben? Nein, "nur" eine undemokratische Mischung aus Arroganz und Larmoyanz, und zu ihrer Entschuldigung
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bliebe anzuführen, daß es offenbar an sinnvollem Sozialkundeunterricht gefehlt hat. Erkenntnisse (nicht bloß Mutmaßungen) über die Realität des Gesellschaftsvertrags wären durch eine Art der Volkszählung zu gewinnen, die bisher nicht stattgefunden hat. Eine Zählung der politischen Aktivitäten jedermanns, verknüpft mit der Erkundung, wie demokratische Niederlagen verkraftet werden. (3) Der Gesellschaftsvertrag ist, zum zweiten, Begründung (Legitimation) des Systems. - Daß gerade Vertraglichkeit der politische modus vivendi sein soll, obgleich man auch andere Vorbilder kennt, Hobbes' Leviathan zum Beispiel: dies bedarf der Rechtfertigung. Die formale Begründung heißt: Ein vordemokratischer Verfassungsgeber hat im Grundgesetz das Vertragsprinzip gestaltet, er hat diesen Modus "gegeben", und der demokratisch legitimierte Nachfolger hält ihn dauernd am Leben. Aber mehr als das Beharrungsvermögen des Systems, sein Insistieren auf sich, stellt der zweite, verfassungsgemäße Verfassungsgeber kaum dar. Der eigentliche Grund, aus welchem das System real gilt, ist zusätzlich zu nennen. Er ist - wiederum - ein Vertrag: der Gesellschaftsvertrag nämlich, wie Hobbes (und in seinem Gefolge eine Staatsdoktrin seither) ihn ansetzte. Jener "Grundkonsens", der die Institutionen geschaffen hat und nun ständig dasein läßt. (Oder der sie dasein läßt, auch wenn er sie nicht geschaffen hat.) Der Gesellschaftsvertrag, der den Leviathan begründete, bedeutete Selbstaufgabe des Vertragsprinzips. Der Gesellschaftsvertrag, der den permanenten Gesellschaftsvertrag begründet, bedeutet konsequente Fortführung seines Prinzips. Wie zuvor, stellt sich die Frage nach Verifikation. Ist der "Grundkonsens" dahingehend, daß man diese Verfassung habe und betreibe, eine Realität? Hierauf gibt es einerseits eine implizite Antwort: Je mehr Bürger die Last demokratischer Praxis auf sich nehmen (den Gesellschaftsvertrag als Lösungsmuster der politischen Konflikte leben), um so besser ist dieses Muster gerechtfertigt. Die Zahl ist eine Dunkelziffer. Andererseits gibt es einen direkten, leicht ermittelbaren Anhaltspunkt für den "Grundkonsens" : die Beteiligung an den Parlamentswahlen. Einverständnis mit der Grundordnung ist der gemeinsame Nenner der meisten - nahezu aller - Wählerstimmen: man ginge sonst gar nicht zur Wahl. Konkret: Bei der Bundestagswahl am 6. März 1983 gaben 89,1 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Die fünf ins Parlament entsandten Parteien erhielten 98,5 Prozent der Zweitstimmen. Konformität zur Verfassung ist den vier "Altvorderen" gemeinsam; die neue "Bewegung" ("Die Grünen") hat, wenn sie das politische System verändern will, bis an die Grenze des zwingenden
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Verfassungs rechts das verfassungsmäßige Recht zum Änderungsversuch. Und selbst von den Verlierern, die rund 600000 Anhänger fanden, strebt allenfalls ein Teil aus dem verfassungsrechtlichen status quo. Der Zahl nach ist der begründende Gesellschaftsvertrag also Wirklichkeit. Die Abweichung vom "Grundkonsens" fällt, nach dem Prinzip demokratisch zureichender Quantität, nicht ins Gewicht. Ein Befund, demzufolge alles "in bester Ordnung" ist? - Das schöne Bild vom "Grundkonsens" hat seine trüben Stellen. Zum Beispiel diese, aus dem März 1981: Zu einer verbotenen Demonstration gegen das KKW Brokdorf ziehen zwischen 50 000 und 100 000 Demonstranten in die Wilster Marsch. Nach polizeilichem Verständnis schwärmen Zehntausende von "Chaoten" aus, den Rechtsstaat zu zerstören; dieser müsse "sich gegen seine Feinde wehren dürfen" (Ministerwort zur Einstimmung der Polizisten). Die Begegnung zwischen illegalem Protest und Staatsgewalt ist so zum Kriegsfall definiert. Auf der Gegenseite werden staatliche Entscheidungen (Weiterbau am Kraftwerk; Demonstrationsverbot) kurzerhand zu "Unrecht" umgewertet - Widerstand sei nunmehr Pflicht. Exzessive Gewalt auf beiden Seiten bleibt nicht aus125 • Ein Ereignis unter vielen, die der Rechtlichkeit, mehr noch: dem Gesellschaftsvertrag überhaupt zuwiderlaufen. Der Rechtlichkeit zuwider: denn wie rechtgemäß ist das Verbot einer solchen Massendemonstration? Der Staatsapparat bringt sich damit ohne Not in die Falle zwischen Skylla und Charibdis. Kann er die Demonstration der 100 000 nicht verhindern, dann disqualifiziert er das Recht: Schaut, ein Papiertiger! Bietet er alle Mittel auf, um 100 000 Rechtsbrecher zu zerstreuen (11 000 Polizisten vor Brokdorf), dann wird in der Fülle der Gewalt das Recht schnell unsichtbar: Schaut, Recht und Gewalt sind dasselbe. Dem Gesellschaftsvertrag zuwider: denn der massenhafte Rechtsbruch ist mehr als nur "gewöhnliches" Unrecht. Die Selbstdeklarierung zum "Widerstand" bedeutet eine Absage an die institutionellen demokratischen Verfahren; daß an ihr sich viele beteiligen, bringt den Gesellschaftsvertrag ins Gerede. Zusammen mit dem Recht wird er selbst, als erste Rechtsgrundlage, zweifelhaft. Den Zweifel schürt, von der anderen Seite her, eine Exekutive, die sich das Ideal setzt, "Feinde" zu bekämpfen statt "nur" das geltende Recht zu vollstrecken. Bekriegung liegt ex definitione jenseits des Gesellschaftsvertrags. (4) Der Gesellschaftsvertrag ist, zum dritten, eine erkenntnistheoretische Kategorie. "Streng genommen", ist zwar erst der Konsens zureichende Bedingung für Richtigkeit. Die bloße Annäherung an den Idealtypus, beim Gesellschaftsvertrag um der Realisierbarkeit willen hingenommen, genügt jedoch auch für den dritten Aspekt: daß es demokratisch begründete Richtigkeit gebe.
"Aber die Wahrheit!?!" - Dieser Einwurf, empört-verzweifelt gegen demokratische Resultate gerichtet, ist zwiespältig. Er kann Rhetorik des legalen Protests sein. Das "Wesen der Wahrheit" - die unbedingte Geltung - wäre dann jedoch preiszugeben um der Legalität willen: 125
Quelle: DIE ZEIT 17/1981, S. 9.
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"das Wahre" muß sich den Gesetzen fügen. Im demokratischen Zusammenhang ist der Besitz einer "Wahrheit", die nicht obsiegen konnte, entweder Schmollwinkel oder Anstoß zu noch mehr Engagement, aber niemals Legitimation. Sogar der legal erhobene Ruf nach "der Wahrheit" bleibt verdächtig: er könnte ja "ernst gemeint" sein und Gesetzesverstöße zu rechtfertigen trachten. Ernst genommen, stellt er sich als Versuch dar, "Wesentliches" gegen die demokratisch begründeten Verhältnisse - und, weitergedacht, gegen die demokratische Begrundungsweise - auszuspielen. Eine Taktik, sich regelwidrig ins Recht zu setzen. Daß sie auf den demokratischen Modus gleichwohl einen Schatten zu werfen vermag, liegt an der Dignität des Wahrheitsbegriffs. Um so mehr kommt es deshalb auf eine KlarsteIlung an: Demokratie ist keine Magd der Wahrheit. Weder obliegt es ihr, selbst "die eine Wahrheit" zu verkörpern, noch hat sie der (anderswo gefundenen) Wahrheit zum Sieg zu verhelfen; dies wäre totalitäres Mißverständnis. Aufgabe der Demokratie ist die Herstellung von Friedlichkeit: der Rechtszweck also. Ihn erfüllt sie auf zwei Ebenen: als Verfahren, Konflikte zu regulieren, und als Rechtsquelle, die vorsorglich Regulierungen und Reglements für Konflikte bereitstellt. Gelegenheit zur Wahrheitssuche besteht in der demokratisch konstituierten Gesellschaft: in diesem befriedeten Raum für alles, was sich friedlich betreibt. Dort nun kann man die überraschende Einsicht gewinnen, daß wissenschaftliche Erkenntnisprozesse ihrerseits eine nicht kodifizierte - demokratische Struktur haben: Meinungen ("Thesen") werden entwickelt, Argumente oder Beweise für jede These gesammelt, eine herrschende Meinung unter den beteiligten Wissenschaftlern bildet sich aus; sie wird bis zur Widerlegung - bis zur Mehrheit für eine andere Theorie - die Wahrheit bedeuten. Politische Entscheidungsprozesse in der Demokratie verlaufen entsprechend. Ihr rationales Muster würde verkannt, sähe man allein auf den Schlußpunkt: auf eine Wahl oder Abstimmung. Darin wird lediglich ein Resultat festgestellt und festgehalten, für welches (bei funktionierender Demokratie) ein Diskurs vorausging. Argumente waren einander konfrontiert (man darf sagen: zu Argumenten eingekleidete Interessen); unternommen wurde, ein angestrebtes Ergebnis zu rechtfertigen, die Einwände zu entkräften; Oberzeugung sollte gestiftet werden. Der Souverän im Wahlkampf, die Funktionäre in den Institutionen agieren in dieser Weise; sie ist die allgemeinste Verfassung, die politisches Entscheiden, amtliche Rechtsanwendung und wissenschaftliche Erkenntnis teilen. (Äußerlichkeiten - ein je nach Lage unterschiedliches Niveau der Argumentation, deren Schwierigkeit oder Einfachheit, logische Stringenz oder Schwäche - dürfen nicht über die gemeinsame Struktur hinwegtäuschen.) Bei politischen (rechtlichen) Diskursen können allerdings
11. Der demokratische Zusammenhang
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Erkenntnisse aus verschiedensten Disziplinen eine Rolle spielen: rechtsdogmatische Vorschläge, ökologische oder physikalische Erkenntnisse. In den politischen (rechtlichen) Entscheidungsprozeß gelangt alles Wissenschaftliche jedoch nur als Hypothese, Argument oder Beweismittel, die Wissenschaft hat das rechtliche oder politische Resultat nicht vorweggenommen - über die Ungefährlichkeit eines Kernkraftwerks entscheidet eine Behörde (der Souverän vermittels der Behörde). Wissenschaftler leisten hierbei Entscheidungshilfe, die um so weniger mitbestimmend sein kann, je umstrittener Theorien in ihrer eigenen, der wissenschaftlichen Sphäre sind: die Kontroverse wird von dort in die Institutionen getragen. In ihnen werden die auch wissenschaftlichen Streitfragen auf demokratische Weise und zu praktisch-gesellschaftlichen Zwecken entschieden. Wenn auch nicht um "die Wahrheit", um Vernünftigkeit (Rationalität) geht es durchaus im demokratisch-gesellschaftsvertraglichen Betrieb. Lediglich werden die Grundregeln vernünftigen Verfahrens (Erkenntnisregeln) aus anderem Interesse und für andere Themen angewendet, als wenn wissenschaftliche Erfahrung, Erklärung, Prognose beabsichtigt ist. Rationalität in Politik und Rechtsfindung ist ein Befriedungsmittel, sie soll Friedlichkeit aus Einsicht stiften; soll Widerspruch erschweren und in Verruf bringen (er sei unvernünftig); soll Notwendigkeiten belegen und die Menschen für das Notwendige gewinnen. Vernünftigkeit in Recht und Staat, genauer: das vernunftgemäße Prozedieren ist die Alternative zum Leviathan. (5) Zusammengefaßt: Der Gesellschaftsvertrag ist die Bedingung der Friedlichkeit einer Gesellschaft gleichen Rechts, und er ist die grundlegende Existenzform dieser Gesellschaft. Er ist umsetzbar und de lege lata umgesetzt in die Strukturen und Prozeduren der rechtsstaatlichen Demokratie: er ist diese Demokratie. Zugleich erinnert er an Grenzen des demokratischen Grundmusters. Er als Kategorie bewahrt davor, Demokratie auf das Diktat der Mehrheit zu reduzieren. Wach wird die Erinnerung an ihn, wo die demokratische Prozedur, eigentlich seine Alltagsgestalt, (ausnahmsweise) funktionswidrig gearbeitet hat. Sie hat ein Resultat hervorgebracht, das der unterlegenen Minderheit unerträglich ist - Widerspruch flammt darum auf, "Widerstand" kündigt sich an, womöglich rüsten Imitatoren des Kohlhaas. Das (Verfassungs-)Recht hat, wie die heftige Reaktion lehrt, in der strittigen Sache seinen Befriedungsauftrag verfehlt. Das demokratische Muster ist aus dem Geist der Vertraglichkeit abgeglitten zum Diktat der Mehrheit, dem die Minderheit zu entgegnen sucht. Dennoch ist die Lage nicht so, daß "logischerweise" der Gesellschaftsvertrag in Frage gestellt wäre; es muß nicht so weit kommen. Zwar ist ihm zweierlei zuwider:
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4. Kap.: L'Etat, c'est nous (Öffentliches Recht)
das demokratische Produkt, das den öffentlichen Frieden stört, und genauso die Kohlhaaserei gegen dieses Produkt. Deshalb aber bietet er im prekären Augenblick an, die Fehlleistung seines demokratischen Aspekts zu beheben. Sein Angebot, das er noch in sich trägt, ist: der legale Protest. Meinungskampagnen, Demonstrationen, institutionell ergänzt um alle Gerichtswege, sind seine Offerte. Sie zeigt ihn wieder vollständig; wo Demokratie aus der Vertraglichkeit herausfällt, addiert ihr der Vertrag den Protestweg, um seinerseits in Kraft zu bleiben. Aus dem herrschaftlichen Mehrheitsentscheid und dem gesetzestreuen Protest soll, als vertragsgerechte Resultante, erneut die befriedete Gesellschaft entstehen. Egal, ob der Protest Erfolg hat, sich belehren läßt oder sich erschöpft. Ein Exempel gelungener Verwirklichung des ganzen Gesellschaftsvertrags bot sich im Frühjahr 1983. Der Protest gegen die gesetzlich verordnete "Volkszählung" erreichte eine solche Intensität, daß das Bundesverfassungsgericht auf Verfassungsbeschwerden hin die Zählaktion erst einmal aussetzte. Zwei Arten von Vertragsverletzungen gibt es jedoch, die an die Substanz des Gesellschaftsvertrags gehen. Die eine ist die massenhafte Kohlhaaserei, zu welcher ein Protest auswächst. Die andere ist die Verengung legaler Protestmöglichkeiten von Staats wegen, die Erzeugung von Kohlhaasens Nachfolgern. 4. Resümee: Ein KKW im demokratischen Reclltsstaat
Worauf kommt es an? Daß drei übel in Schach gehalten werden mit Hilfe des Rechts. Das eine ist: eine Technik von infernalischer Potenz. Das zweite, unter dünner Kulturschicht, der Schicht aus "Scham und Recht" (Protago ras) fortdauernd: die "menschliche Natur", wie Hobbes sie befürchtete - die Potenz zum bellum omnium contra omnes. Das dritte übel schließlich, von Ihering für den "Ernstfall" beschworen, heißt: "Staatsgewalt" (wörtlich verstanden). Hobbes sprach anschaulich vom Staat als Leviathan, dem Chaosdrachen, der in Drachenmanier die Unordnung verschlingt; ein Schrecken verbreitendes Ungetüm. Im ersten Punkt müht das Recht sich, bändigend zu wirken durch Sicherheitsvorschriften und Haftung. Damit betrifft es freilich kaum die naturwissenschaftlich-technische Basis, sondern (wie stets) erst die Seite der gesellschaftlichen Konsequenzen. Dort hat es ja seine eigentliche Sphäre, und dort ist de lege lata immerhin eines erreicht: Die Rechtsordnung sorgt dafür, daß in der Demokratie der Gesellschaft nicht mehr Risiko zugemutet wird, als die Gesellschaft sich selbst demokratisch zumutet.
11. Der demokratische Zusammenhang
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Ob ein KKW gebaut wird, ist in der rechts staatlichen Demokratie eine demokratische Frage. Demokratie heißt: Ich muß mit der institutionell gefällten Entscheidung leben, weil es mir nicht gelungen ist, sie institutionell - auf alle rechtlichen Weisen - abzuwenden. Und auch mein Protest als Belehrer der Institutionen ist wirkungslos geblieben. Wo entschieden ist, steht das Rechte fest, fällig ist seine Verwirklichung. Auf den Plan tritt der demokratische Rechtsstaat, der "an sich" omnipotente Verrichter des Rechts, den das Recht stramm einschnüren muß, damit es in seinen Händen es selbst bleibt. Das letzte, ilber nicht geringste Problem ist die staatsgewaltliche Realisierung des Rechts weitab von Leviathan. Die Synthese "Rechts-Staat" spricht in einem Zug den Staat als Mittler und Garant von Recht, das Recht als Bändiger des staatlichen Handelns an. Der zweite Aspekt ist so wichtig wie der erste. Leviathanisch wäre der Staat, sobald man das gegen ihn gerichtete Recht abzöge, in höchster Vollendung. Er ist wie niemand sonst in der Lage, das Schrecklichste anzurichten. Er hat Verfügungsrnacht über Waffen, über jedes herstellbare lebensbedrohende Gerät; er gebietet über Polizisten und Soldaten: über Menschen, die bereit sind, Schrecken zu verbreiten; und er hat alle Mittel und Gelegenheiten, Menschen zu solchem Dienst abzurichten. Der Staatsapparat, das für sich betrachtete Potential, ist die denkbar größte terroristische Einrichtung. (lhering hat diese Qualität hervorgekehrt; oben 1. Kap., "Ihering und das KKW".) Das Recht erst versucht, den optimalen Gewaltvorrat zu entschärfen, freilich auch zu kanalisieren, denn schließlich geht es um Geister, die das Recht selbst rief: um seine Verwirklichungsgehilfen. Recht soll dem Staat die Schrecklichkeit nehmen, die ihm anhaftet, weil er alle Instrumente zur Rechtsverwirklichung besitzt. Der Rechtsstaat ist im Idealbild ein Staat, der seinen Bürgern Recht vermittelt und garantiert und ihnen trotzdem keine Angst macht. Dabei ist Recht sogar das einzige Instrument, Staatsgewalt zu bändigen. Nicht die demokratische Komponente kann diese Arbeit besorgen; pure Demokratie ließe sich als Wettlauf zu den Arsenalen betreiben: wem wird es gelingen, die Büchse der Pandora zu öffnen, ihre übel auf die Verlierer loszulassen? Nur im demokratischen Rechtsstaat bleibt die Büchse zu oder wird jedenfalls versucht, den Inhalt unter Verschluß, wenigstens an der Leine zu halten. Ein ipso iure erfolgreiches Unterfangen? Theodor Adorno hat die Eignung des Rechts bezweifelt: "Während die Gesellschaft ohne Recht, wie im Dritten Reich, Beute purer Willkür wurde, konserviert das Recht in der Gesellschaft den Schrecken, jederzeit bereit, auf ihn zu
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4. Kap.: L'Etat, e'est nous (Öffentliches Recht)
rekurrieren mit Hilfe der anführbaren Satzung."126 Tatsächlich lehren theoretische Einsicht und historische Erfahrung, daß Rechtsvorschriften nicht zwangsläufig Antipoden des Schreckens sind. Die Gesetzesform ist lediglich das Gegenteil der sich überlassenen Willkür. Sie selbst jedoch taugt zum Vermittler freizügiger Gewaltanwendung. Gesetze können darstellen und recht-fertigen (sie tun es de lege lata), welchen Gewaltfundus der Staat anlegen dürfe, wie er Gewalt aufzuziehen habe, wann und wie sie einzusetzen sei. Die "Logik" des Gesetzes legt zu all dem keine Einschränkungen auf, der Gesetzgeber bleibt (von ihr aus gesehen) frei, das Sagbare zu sagen. Nur die Affirmation des fertigen Satzes zieht eine Grenze: die gesetzlich unbeschriebene Gewalt scheidet für den Staatsgebrauch aus. Willkür und Schrecken auszuschließen, wird nicht allein durch die Gesetzlichkeit, das formale Mittel, erreicht. Dem Ziel näher kommt die äußerst beengende Beschreibung der Staatsbefugnisse. Daß ihr die Exekutive dann tatsächlich entspreche, darüber müssen alle rechtlichen und demokratischen Einrichtungen dauernd und argusäugig wachen. Staatsgewalt, vis publiea, bleibt im Recht, solange sie sich darauf beschränkt, die Rechtsverwirklichung mit dem schonendsten Mittel zu betreiben. Einer Maxime folgend, die geltendes law in the books ist.
III. An der Staatsgrenze Hegel hat das Gesetz aus vielerlei Perspektiven abgehandelt. Eine davon ist die Perspektive eines "Gefühls", welches sich "das Belieben" vorbehält; eines "Gewissens", welches "das Rechte in die subjektive Überzeugung" stellt. Vom vereinzelten, beliebenden, selbst-interessferten (egoistischen) Subjekt her gesehen, erscheine das Recht "mit Grund" (I) - "als ein todter, kalter Buchstabe". Es erscheine als eine Sache, die "dem Gefühle nicht verstattet, sich an der eigenen Partikularität zu erwärmen" (Rechtsphilosophie, Vorrede). - Ist daher am vollkommensten im Recht, wer sich über den Gesetzen vergißt; im Gesetz aufgeht? Oder auf den demokratischen Zusammenhang angewendet: wer die Last demokratischer Praxis auf sich nimmt und sonst nichts ist, nichts tut? Demokratie als totaler modus vivendi?
Mit Grund wehre das Subjekt sich dagegen, sagt Hegel. (Ein unfreiwilliges, un-hegelisches Eingeständnis vielleicht1 27 .) Kein Lob des Rechtsbruchs ist gemeint, wohl aber eine Erinnerung an die Verhältnismäßigkeit: Wieviel vom Leben eines Menschen machen Recht, Demokratie, Staat aus? 128 127
Negative Dialektik (Fn. 2), 5. 301. So sieht es Adorno (Fn. 2), 5. 302 f.
IIl. An der Staatsgrenze
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Deren Funktion ist doch rein negativ. Sie sind Mittel - mühsam zu nutzende -, um die übel der Welt (der lebensnotwendigen Vergesellschaftung) gering zu halten. Etwas, woran er seine "Partikularität erwärmen" kann, braucht der Mensch außerdem.
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Ein Motto Eine Leiter immerhin könnte dies gewesen sein, die zurückläßt, wer auf ihr ein Stück höherstieg.
Namenverzeichnis Achilleus 219 Ada und Zilla 215 Adomeit, Klaus 143 Adorno, Theodor W. 14,228,305 f. Agamemnon 219, 226 Aischylos 226, 227 Andreae, Johann Valentin 21 Anonymus Iamblichi 82 ff., 94, 97, 217 Aristoteles 94, 96, 98, 252 Athene 218, 226, 227 v. Bar, Carl Ludwig 228 Beccaria, Ces are 244 f., 246, 248, 252, 255 Bloch, Ernst 23, 95, 222, 228, 230, 255 Bochenski, I. M. 19 Brand, Sebastian 177 Campanella, Tommaso 21 Capelle, Wilhelm 14 Capote, Truman 196 Christie, Nils 116 ff., 146, 168 Dante, Alighieri 73, 238, 239 Darwin, Charles 62 Däubler, Wolfgang 155 Defoe, Daniel 25 Deianeira 59 Diels, Hermann 14 Dostojewski, Fjodor M. 244 Eibl-Eibesfeldt, Irenäus 211 ff. Eichholz, Georg 241 Engels, Friedrich 45, 69, 293 Erinyes (Erinyen) 225 ff., 253 Esra (Hoherpriester) 222, 224, 238 Esser, Josef 167 Eurytion 58, 60 Fabricius, Fritz 103, 153 f. Fetscher, Iring 243 Fichte, Johann GottIieb 21
Finley, Moses I. 216, 219, 220, 227 Fourier, Charles 22 Freisler, Roland 199 Gandhi, Mahatma 77 Geryoneus 58, 60 Gessner, Volkmar 27, 139 Gide, Andre 248 v. Gierke, atto 89 Habel'mas, Jürgen 26 Hammurabi 234, 236 Hannover, Heinrich und Elisabeth 17 Hattenhauer, Hans 17, 74, 89,149,237, 268,295 Heck, Philipp 28 Hegel, G. W. F. 25, 28, 130, 134, 202, 205 ff., 232, 234, 237, 239, 241, 245, 248 f., 253, 285, 306 v. Hentig, Hans 228 Herakleitos (Heraklit) 26 f., 199, 202, 205,207,270 Herakles 58 ff., 101 Hilkia (Hoherpriester) 222 v. Hippel, Robert 230 Hippias von Elis 97 f. Hippodamos von Milet 98 Hippokrates 229 Hirsch, Martin 295 His, Rudolf 228 Hobbes, Thomas 27, 33, 81 ff., 90 f., 93 f., 117, 137,141,194, 213, 228, 269, 284, 300, 304 Hocke, Gustav Rene 241 Homer 216 Hondrich, Karl atto 79 Huxley, Aldous 22, 255 v. Ihering, Rudolf 61 ff., 69 ff., 71 ff., 80, 83 ff., 88, 92, 230, 304, 305 Jahwe 220, 221, 224, 225, 226 f., 229, 232,238,240,242,251,256 Jesus 224 f., 240
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Namenverzeichnis
Josia 222 Jünger, Ernst 80 f. Jungk, Robert 45 Kain 215, 225 ff., 232, 251, 256 Kallikles 57 f., 94, 96, WO, 134 Kant, Immanuel 16, 22, 100, 186, 234, 238,241,245,253 Kirchheimer, Otto 17 v. Kirchmann, Julius 149, 295 Klausa, Ekkehard 17, 167, 168 v. Kleist, Heinrich 53 Kluge, Alexander 250 Klytaimnestra 226, 227 Kohl, Helmut 99 Kohlhaas, Michael 30 f., 32, 46,51 ff. Kohlhase, Hans 53 Kranz, Walter 14 v. Krockow, Christian Graf 100 Kropotkin, Peter 22 Künneth, Walter 234 Lamech 215, 218 Larenz, Karl 28 Lenin, W.I. 45, 255,293 Leonardo da Vinci 241 Lukes, Rudolf 47 Marx, Karl 71 ff., 80, 89, 171, 255, 293 Mayer, Reinhold 239 Menger, Anton 21, 89 Mitscherlich, Alexander 251 MOnIs, Thomas 21 Moses 220, 224, 227, 238 Müller, Friedrich 126 N egt, Oskar 250 Nessos 59 ff. Nietzsche, Friedrich 232, 255 Nixon, Richard 250 Noever, Hans 192, 193
Odysseus 215 ff. Onan 203 Oppitz, Ulrich-Dieter 251 Orestes 226, 227 Orwell, George 22 Pawlowski, Hans-Martin 20, 28, 227 Phaleas von Chalkedon 94, 96 Pilatus 225 Plack, Arno 247 Platon 21, 57, 58, 95 ff., 244, 254 Plessen, Elisabeth 53 Protagoras 13 f., 44, 97, 244, 254, 259, 304 Proudhon, Pierre 22 v. Ranke-Graves, Robert 226 Renner, Karl 180 v. Rimscha, Hans 230 Robinson 25 Roellecke, Gerd 100 Rosendorfer, Herbert 167 Rousseau, Jean-Jaques 134 Rückerl, Adalbert 251 Scheuerle, Wilhelm 106 Schild, Wolfgang 228 Schnabel, Johann Gottfried 21 Schneider, Hans Joachim 197, 255 Schweling, Otto P. 245 Seagle, William 215, 230 Sokrates 13 f. Staff, Ilse 17, 245 Swift, Jonathan 21 Thrasymachos 58 Troje, Hans Erich 23 Tzara, Tristan 241 Weyrauch, Walter O. 23, 167 Wickler, Wolfgang 250
Sachverzeichnis Abhängigkeit 76 f., 133, 177 f., 180 Abstraktheit - Konkretheit (s. a. Gesetz: Allgemeinheit des G.) 121 f., 124, 150, 152, 155, 205 Affirmation 112 ff., 152, 269 Aggression 160, 211 ff., 228, 235 f., 243, 256 aidos kai dike (Scham und Recht) 13, 264,304 Anarchismus 14,22 Angemessenheit 20, 36, 96, 97, 131, 138, 182 Arbeitgeber, Arbeitnehmer (Begriffe) 67, 101 f. Arbeitsgericht 106, 127, 161 Arbeitsrecht 66 ff., 101 ff., 119, 153 ff., 161, 176 ff. Arbeitsvertrag, Arbeitsverhältnis (s. a. Dienstmiete) 101 ff., 119, 180 ff. Areopag 226, 227 Aufklärung 237,244 Aufsichtsrat 106 f., 157, 184 Auslegung 109, 113, 121, 125 ff., 136 f., 143 ff., 148 f., 209 f. (Strafgesetze), 239 f. (Talmud) Autoritäten 171 Begriff 124 Begriindung (juristische) 126, 130, 141 f., 143 ff., 167 bellum omnium contra omnes 27, 59, 84 ff., 117, 134, 194, 213, 228, 304 Bergpredigt 240 f., 250 Beschluß 157 Betriebsverfassung 104 ff., 127, 141, 156, 162, 184, 186 Blutrache 214 f., 218 ff., 222 f., 226, 230, 235 f., 242 f. Bundesarbeitsgericht 109 Bundesverfassungsgericht 53, 109, 150, 168, 171, 231, 242, 246, 262, 263 ff., 288, 292 ff., 298, 304 Bürokratie 258, 299
Case law 113 f. Codex Hammurabi 33, 124, 229, 233 ff. Definitionsmacht 149, 164 f., 175, 258 Demokratie 42, 158 f., 265 - 307 (insbes. 273 ff., 276, 298 ff., 305) Dezision, Dezisionismus 75, 144, 145 Dialektik, dialektische Bewegung 129, 209 Dienstmiete 66 ff., 77, 102, 181 Diskurs 144, 171, 186, 209, 302 Dogmatik 152 ff., 168, 169 ff., 174, 182, 186,210 Dreiklassenwahlrecht 98 Eigentum 68, 102 f., 111, 153 ff., 178 ff. Entnazifizierung des Zweiten Weltkriegs 250 Entscheidung 122 ff., 141 f., 166 f. Erkenntnistheorie 27, 144, 166 f., 208 (HegeI), 301 f. Evidenz 242 Exekutive 70, 87, 260, 263, 280 f., 291 f., 306 Feindbild (Herstellung des Feindes) 250,295,301 Freiheit 68, 99 f., 132 ff., 142 ff., 172, 176, 271, 286, 299 Funktionär (Staatsverrichter) 132, 165, 270, 272, 278, 281, 284 ff. Generalisierung 122 f. Gerechtigkeit 58, 232, 234, 252 Gericht (s. Justiz; Richter, Richterturn)
Gesellschaftsvertrag 87 ff., 93, 298 ff. Gesetz - Allgemeinheit des G. 120, 121 ff., 130 ff., 271, 299 - Aufgaben des G. 33, 87, 112ff., 124, 133, 142, 143, 279 - Gleichheit vor dem G. 93, 131, 175 - Lücke im G. 113 f.
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Sachverzeichnis
Gesetzesform - GesetzesinhaI t 111, 176 f. Gesetzestext 33, 103, 109, 124 ff., 130, 135, 137, 149, 155,209 f., 239, 264 Gesetzgeber 87, 93, 125, 133, 158 f., 265, 272, 276, 279 f., 287 ff. Gesetzlichkeit 111 ff., 126, 144, 147, 271,306 Gesetz und Fall 122 Gewalt 32, 51, 58 ff., 61 ff., 75 ff., 83 ff., 90 ff., 264 Gewaltenteilung 263, 279, 291 f. Gewerbefreiheit 68, 177 Gewerkschaft 48, 108 f., 138, 156, 161, 171 ff., 184 f. Gewißheit 24, 130, 239, 264 Gleichheit 83, 85 f., 90, 92 ff., 99 f., 130 ff., 138, 148, 239 Göttliche Komödie 238 Herrschaft 79 f., 85, 89 f., 100, 104 f., 134, 157 - 176 (Zusammenfassung 175 f.), 179 f., 274, 285 Hersteller (§ 950 BGB) 103, 125, 153 Ideologie 14,74, 131, 134, 192, 243 Ilias 216, 219 Interesse (s. a. Rechtserwartungen) - Begriff und Struktur 27 f., 31 f.,79, 86, 98 f., 159, 160 f. - Gemeininteresse 50 f., 70, 257 Interessenjurisprudenz 27 ius talionis (s. Talionsprinzip) Justiz (Gerichtsbarkeit) (s. a. Richter, Richtertum) 136, 145, 264, 282,291 f. Kapitalgesellschaften 106 f. Kapitalismus, Kapitalist 102, 119, 176 ff. Kohlhaaserei ("Raubzug nach dem Recht") 31, 46, 51 ff., 131, 146, 303 f. Kollektives Arbeitsrecht (s. a. Mitbestimmung) 183 Konflikt (Begriff und Strukturen) 27 f., 31 f., 35, 38, 98 f., 114 ff., 128 f., 142, 187, 191, 192 f., 270 konkret = bestimmt 123 ff. konkret = real 150 f. Konkurs 102, 110, 157 Konnexinstitute des Eigentums 180, 181
Konsens 126, 134, 136, 138, 143, 147, 171 ff., 189, 301 Koran 219, 233, 237 KPD-Verbot 293 f. Kündigung 65, 69, 102, 160, 162, 165 Leben - "Prinzip Leben" 226, 250 f. - Recht auf L. 261, 288 Legislative (s. Gesetzgeber) Leistung 95 ff. Leviathan (als Prinzip) 87 ff., 93 f., 300, 303, 304 f. Logik 144, 166, 237 f. ("Logik des Spiegels") Macht 67, 79, 104, 108, 134, 160 f., 163, 184, 285 Mehrheit - Minderheit (s. a. Richtigkeit und M.) 279, 303 f. Meinung (politische) 270, 272, 278, 286 bis 298 (insbes. 292) Meinungsfreiheit 269 f., 286, 293 Methode 18, 126, 144, 167 Minister 42, 264, 280 f. Mitbestimmung 104 ff., 153 ff., 184 f. "Mitte" (politische) 270 f., 291 Mosaische Gesetze 33, 221 ff., 233 f., 237,239 Naturrecht 58, 82 f., 85, 93, 97, 113 "Negation der Negation" (strafrechtlich) 205 f., 232 Normalität 118 f. NS-Verbrechen (Strafverfolgung) 251 Odyssee 217 f., 227 oikos 216 ff. Orestie 226, 227 Organisation 24, 47,99,170 Parlament 262,263,268,270,274,279 ff. Parteien (politische) 50, 271 ff., 275, 287, 289, 293 f., 296 Philosophie 209 Plausibilität 145 Politik (Begriff) 266 Positivität des Rechts - allgemein 90 f., 151, 166, 281 - Strafrecht 194, 228, 249 Postulat (Begriff) 195 "praktische Vernunft" (nach BVerfG) 264, 288
Sachverzeichnis Preußen 98 Produktionsmittel (Begriff) 181 Produktionsprozeß als Grundkonflikt 119 f., 188 Protest 42 ff., 146, 268, 271, 278, 287, 296 ff., 301, 304 Rache (s. Blutrache; Strafzweck) Rachsucht (natürliche) 211 ff., 217 Recht - Anfänge des R. 215 ff. - Anfänge des StrafR. 218 f., 222 f. - "an sich" (unmittelbares R.) 25 f., 116,205 - des Stärkeren 58 ff., 91 f., 96, 100 - Systemgebundenheit des R. 54 f., 114, 143, 295 f. - Zweck des R. 13, 14, 54, 56 f., 61, 69, 72 (nach Marx), 90, 146, 199, 302,305 Rechtsanwalt 137 ff., 161 Rechtsbedürfnis (Begriff und Struktur) 19, 49 f., 196 f. (Strafrecht), 200 ff. Rechtserwartungen (Begriff und Strukturen) 19, 32, 34 ff., 38 f., 41, 47, 57, 99, 161, 196, 198, 200 ff., 286, 288 Rechtsgefühl 112 f., 200, 242, 276 Rechtsmittel 146 ff. Rechtsschutzversicherung 163 f. Rechtsstaat 47 f., 131, 144, 266, 287, 305 f. Rechtsweg 43, 50, 52 f., 131, 140 f., 146 ff., 261 ff., 298 Rechtswirklichkeit (Begriff) (s. a. Positivität des Rechts) 135 f. Reform 26, 132 Revolution 23, 40, 45, 56, 99, 116, 297 Rhetorik 166, 171,301 Richter, Richtertum (s. a. Justiz) - allgemein 32 f., 50, 87, 113 f., 139 ff., 144 ff., 164 ff., 169 ff., 210 - als Beruf 168 - im Alten Testament 220 f. Richtigkeit 33 f., 128, 142 ff., 147 ff., 166 f., 170, 189, 200, 208 Richtigkeit und Mehrheit 198, 276, 301 f. Sachenrecht 103, 153 ff. Sanktion 151, 190, 207, 293 f. (S. gegen verfassungswidriges Meinen)
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Schadensberechnung 240 Schuld (im Strafrecht) 242 ff. Selbstbestimmung des Arbeitnehmers 185 f. Selbstbestimmung des Staatsbürgers 296,298 Selbsthilfe 117, 150 Sophisten 13, 57, 82, 97 Souverän (s. a. Volkssouveränität) 87, 266 - 286 (insbes. 268, 273, 275 f., 282) Staat (Aufgaben des S.) 51, 65 f., 69 ff., 72 (nach Marx), 87 f., 257 f., 305 Staatsgewalt 69ff., 265, 281,301, 304ff. Staatsorgane (s. a. Exekutive; Gesetzgeber; Justiz) 275, 277 Strafe - Freiheitsstrafe 228, 229 ff., 242, 246, 252 - Todesstrafe 191, 201, 203, 206 f., 209, 224, 227, 229 f., 232 f., 234, 237,238, 240,243,245,252,276 Strafgesetze 209 f., 221,228 Strafrecht (Aufgaben) - Befriedung 196 f., 199 f. - Bekräftigung des Rechts 194, 205 ff., 243, 249 ff. - Belehrung 194, 198 - Prävention (Abschreckung, Vorbeugung) Allgemeines zur P. 195, 201, 231, 244 f., 255 Generalprävention 245 ff., 249 ff., 252 f. Spezialprävention 251 ff., 253 - Restitution 202 ff. Strafrecht - antikes 226 f., 230, 236 - babylonisches 233 ff. - biblisches 222 ff., 233 f., 239, 243 - der Eskimo 213 - islamisches 219, 233, 237 - mittelalterliches 228, 253 strafrechtlose Zeit 215 ff., 247 Strafrecht und Staatenbildung 219 ff., 224, 236 Strafzumessung 242, 252 Strafzweck - Prävention (s. Strafrecht: Aufgaben) - Rache, Vergeltung 209, 210 f., 218 ff., 225 ff., 232 ff., 243, 253, 256
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Sachverzeichnis
- Resozialisierung 231, 254 f. - Sicherung 251 f., 253 - Sühne 231, 242 ff. - Therapie 255 Streikrecht 56, 108 f. Subsumtion 121, 125 f., 129 f., 210 Talionsprinzip 232 ff. Talmud 239 f. Tarifautonomie 108, 184 f. Tarifvertrag 108 f., 155 f., 171 f., 184 Tatsachen - als unmittelbares Recht 25 f., 27, 116,205 - neutrale (wert-lose) 208 Technokratie 49 Theogonie 225 tbes, tbetes 216 f., 227 Totalitarismus 277, 302 Unternehmerverbände 109 Utopia, Utopie 21, 41, 95
Verbände (pressure groups) 159, 287, 289 Verfassungsgebung 282 f., 289, 300 Verfassungswidrigkeit 289 f., 292 ff. Vertrag (s. a. Gesellschaftsvertrag) 63 f., 82 ff., 90 f., 182, 184, 186 ff. Verwaltungsgericht 43, 261 Volkssouveränität (s. a. Souverän) 159, 268, 270, 273 f., 290 Vorsokratiker 13 f., 26, 56, 82, 94, 97 Wahl des Parlaments 268 ff., 287, 300 Wahlkampf 99, 269 f. Wergeld (Sühnezahlung, compositio) 203, 204, 218 f., 223, 226, 235 f., 243 Wertungsjurisprudenz 28 Wissenschaften (in Recht und Politik) 259, 261, 302 f. Wortlaut, Wortsinn, Wörtlichkeit 127, 240, 241 Zivilrecht 112, 180, 190, 194, 205 (Zwangs)vollstreckung 91, 150 ff.