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German Pages 980 Year 1992
PETER HÄBERLE
Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 629
Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates Methoden und Inhalte, Kleinstaaten und Entwicklungsländer
Von
Peter Häberle
Duncker & Humblot * Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Häberle, Peter: Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates : Methoden und Inhalte, Kleinstaaten und Entwicklungsländer / von Peter Häberle. - Berlin : Duncker und Humblot, 1992 (Schriften zum offentlichèn Recht ; Bd. 629) ISBN 3-428-07467-X NE: GT
Alle Rechte vorbehalten © 1992 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Druck: Werner Hildebrand, Berlin 65 Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-07467-X
Vorwort Der hier vorgelegte Band versammelt in Raum und Zeit rechtsvergleichend gearbeitete Beiträge des Verfassers aus den letzten zehn Jahren. In einem Augenblick, da das Wort von der "Weltstunde" des Verfassungsstaates kaum übertrieben ist, wächst der komparatistischen Verfassungslehre eine große, fast universale Aufgabe zu: ihren Teil zum Aufbau und Ausbau des Verfassungsstaates bis hin zu den Entwicklungsländern und Kleinstaaten beizutragen. So begrenzt die Möglichkeiten eines (nationalen) Staatsrechtslehrers immer sind: der Verfassungsstaat lebt auch von der offenen Gesellschaft der Wissenschaftler, die heute wie kaum je zuvor in einem weltweiten Arbeits-, Verantwortungs- und Wirkungszusammenhang stehen. Die Europäisierung der Staatsrechtslehre ist Programm, die Europäisierung der nationalen Verfassungsgerichte kommt in Gang. Die hier abgedruckten Beiträge könnten als "Vorstudien zu einer vergleichend gearbeiteten Verfassungslehre" angesehen werden, wäre nicht schon diese Bezeichnung allzu unbescheiden. Der Verfasser ringt seit mehr als zehn Jahren um die Rechtsvergleichung im Verfassungsrecht: beginnend mit der Schrift "Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat" (Wien 1980), fortgeführt über die Studien "Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, insbesondere auf kantonaler Ebene" (JöR 34 (1985), S. 303-424) und "Verfassungsschutz der Familie" (1984), auch "Feiertagsgarantien als kulturelle Identitäten des Verfassungsstaates" (1988) bis hin zu dem Aufsatz "Verfassungsentwicklungen in Osteuropa" (FS Kitagawa, 1992, S. 129 ff.) sowie "Föderalismus, Regionalismus, Kleinstaaten - in Europa", (in: Die Verwaltung 1992, S. 1 ff.). Erst recht spät, nämlich 1989, hat er Wort und Sache "Rechtsvergleichung als 'fünfte' Auslegungsmethode" nach F.C. von Savigny gewagt (vgl. Nr. 2) und erst vor kurzem, d.h. 1991, kam es zu der im einzelnen entfalteten These vom "Gemeineuropäischen Verfassungsrecht" (hier Nr. 4). Das früher, d.h. seit 1984 vorgeschlagene Theorem der "Textstufenentwicklung" (vgl. Nr. 1 und 20) kann sich jetzt aus unerwartet erscheinender Richtung bestätigt fühlen: Die Nähe zu Goethes Metamorphosen-Metapher ist kein Zufall, sie wurde in Kunst und Kunstwissenschaft längst rezipiert (dazu C. Lichtenstern, Die Wirkungsgeschichte der Metamorphosenlehre Goethes. Von Philipp Otto Runge bis Joseph Beuys, 1990) und dürfte letztlich ihren Platz im Kontext einer als Kulturwissenschaft begriffenen Verfassungslehre gewinnen.
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Vorwort
Eine Reihe von Beiträgen der letzten zehn Jahre konnte aus technischen Gründen hier leider nicht aufgenommen werden, obwohl sie mindestens die Rolle von Vorarbeiten gespielt haben: so z.B. die Studie über die Menschenwürde (HdBStR Bd. I 1987, S. 815 bis 861) oder die ebenfalls rechtsvergleichend vorgehende Arbeit über "Praktische Grundrechtseffektivität, insbesondere im Verhältnis zur Verwaltung und Rechtsprechung" (in: Die Verwaltung 22 (1989), S. 409 bis 419); gleiches gilt für die Beiträge "Wissenschaftliche Zeitschriften als Aufgabenfeld juristischen Rezensionswesens" (Ged.-Schrift für Geck 1989, S. 277 bis 299) und "Das Grundgesetz vor den Herausforderungen der Zukunft" (FS Dürig, 1990, S. 3 bis 31) sowie "Aktuelle Probleme des deutschen Föderalismus" (in: Die Verwaltung 24 (1991), S. 169 bis 209). Mehrere im Erscheinen befindliche Arbeiten, etwa zum "Sport als Thema neuerer verfassungsstaatlicher Verfassungen" (FS Thieme, 1992, i.E.) fehlen; gleiches gilt fur die nicht zufällig auch aus verfassungsvergleichendem Impuls lebenden Aufsätze zum Prozeß der deutschen Einigung ("Der Entwurf der Arbeitsgruppe "Neue Verfassungen der DDR" des Runden Tisches" (1990), in: JöR 39 (1990), S. 319 bis 349; "Die Staatsrechtslehre im Prozeß der deutschen Einigung" (BayVBl. 1991, S. 385 bis 388) sowie "Das Problem des Kulturstaates im Prozeß der deutschen Einigung" (JöR 40 (1991/92), S. 291 bis 365)). Wenn sich der Verfasser gleichwohl in dieser Form zur Herausgabe der systematisch um das Thema "Verfassungsstaat", seine Methoden und Inhalte gruppierten Zusammenstellung entschließt, so fühlt er sich dazu u.a. deshalb ermutigt, weil etwa ein Drittel der hier vorgelegten Beiträge mittlerweile je für sich in ausländische Sprachen übersetzt worden sind: ins Spanische, Italienische, Polnische, Französische, Koreanische, Griechische und Japanische. Auch könnte das problemorientiert mitgefuhrte textliche Beispielsmaterial aus vielen geschriebenen Verfassungen als Materialsammlung und "Vorratshalde" für künftige verfassungspolitische Arbeiten, z.B. in Osteuropa oder in Entwicklungsländern und neuen Kleinstaaten dienlich sein, so fragmentarisch es bleibt. Der Verfasser dankt dem Verleger, Herrn Professor Norbert Simon vom Verlag Duncker und Humblot, Berlin, für die vorbildliche Betreuung auch dieses Bandes. Hatte dessen Vorgänger Johannes Broermann sich schon des ersten, primär verfassungstheoretischen Bandes "Verfassung als öffentlicher Prozeß" (1978) ohne Zögern angenommen, so stimmte Herr Norbert Simon dem zweiten, hier vorgelegten Plan bzw. Sammelband ebenfalls sofort und spontan zu. Dank gebührt überdies der Betreuerin im Verlag Frau Heike Frank und besonders meinen Assistenten, Frau Dagmar Steuer-Flieser y Herrn Bernhard Weck, Herrn Arnd-Christian Kulow sowie Herrn Helmut Schmitz (Bayreuth) für
Vorwort
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große Hilfe in technischen Fragen, zumal beim Lesen der Korrekturfahnen und bei der Gestaltung des Sachregisters sowie des Verfassungs- und Vertragsregisters. Bayreuth / St. Gallen im November 1991 Peter Häberle
Inhaltsverzeichnis
I. Methoden 1. Textstufen als Entwicklungswege des Verfassungsstaates (1989)
3
2. Grundrechtsgeltung und Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat - Zugleich zur Rechtsvergleichung als "fünfter" Auslegungsmethode (1989)
27
3. Europa in kulturverfassungsrechtlicher Perspektive (1983)
45
4. Gemeineuropäisches Verfassungsrecht (1991)
71
5. Die Entwicklungsstufe des heutigen Verfassungsstaates - Paradigmen, Verfassungsthemen, Textstufen und Tendenzen in der Weltstunde des Verfassungsstaates - Der polnische Entwurf 1991 (1991)
105
6. Verfassungslehre im Kraftfeld der rechtswissenschaftlichen Literaturgattungen: zehn Arbeitsthesen (1989)
122
I I . Inhalte 7. Die verfassunggebende Gewalt des Volkes im Verfassungsstaat - eine vergleichende Textstufenanalyse (1987)
139
8. Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen (1982)
176
9. "Gott" im Verfassungsstaat? (1987)
213
10. Artenreichtum und Vielschichtigkeit von Verfassungstexten, eine vergleichende Typologie ( 1989)
228
11. Die Funktionenvielfalt der Verfassungstexte im Spiegel des "gemischten" Verfassungsverständnisses (1989)
263
12. Sprachen-Artikel und Sprachenprobleme in westlichen Verfassungsstaaten eine vergleichende Textstufenanalyse (1990)
273
13. Die Hauptstadtfrage als Verfassungsproblem (1990)
297
14. Verfassungsprinzipien als Erziehungsziele (1981)
321
15. Menschenwürde und Soziale Rechte in verfassungsstaatlichen Verfassungen (1989)
352
χ
Inhaltsverzeichnis
16. Grundrechte und parlamentarische Gesetzgebung im Verfassungsstaat das Beispiel des deutschen Grundgesetzes (1989)
360
17. Menschenrechts- und Grundrechtsfragen des polnischen Entwurfs 1991 (1991)
391
18. Die Freiheit der Wissenschaften im Verfassungsstaat (1985)
407
19. Die Freiheit der Kunst im Verfassungsstaat (1985)
441
20. Vielfalt der Property Rights und der verfassungsrechtliche Eigentumsbegriff (1984)
484
21. Aspekte einer Verfassungslehre der Arbeit (1984)
524
22. "Wirtschaft" als Thema neuerer verfassungsstaatlicher Verfassungen (1987) . 552 23. Verfassungsstaatliche Staatsaufgabenlehre (1986)
573
24. Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich (1986)
590
25. Verfassungsrechtliche Ewigkeitsklauseln als verfassungsstaatliche Identitätsgarantien (1986)
597
I I I . Inkurs: Rechtsvergleichung in der Z e i t Die historische Dimension 26. Zeit und Verfassungskultur (1983)
627
27. Utopien als Literaturgattung des Verfassungsstaates (1987)
673
28. 1789 als Teil der Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Verfassungsstaates (1988)
685
29. Verfassungspolitik für die Freiheit und Einheit Deutschlands (1990)
721
. . . .
I V . Kleinstaaten 30. Der Kleinstaat als Variante des Verfassungsstaates (1991)
739
V. Entwicklungsländer 31. Die Entwicklungsländer im Prozeß der Textstufendifferenzierung des Verfassungsstaates (1990)
791
Sachregister
865
Verfassungs-und Vertragsregister
899
Teil I
Methoden
1. Textstufen als Entwicklungswege des Verfassungsstaates Arbeitsthesen zur Verfassungslehre als juristischer Text- und Kulturwissenschaft*
I. Problem und Ausgpngsthese Die historische und kontemporäre Textstufen-Analyse wurde bislang für mehrere Einzelfelder erprobt: etwa für Eigentum und Arbeit, Wissenschaftsund Kunstfreiheit, zuletzt Familie und die Staatsaufgaben sowie die verfassunggebende Gewalt und die "Wirtschaft" als "Verfassungsthema". 1 Indes fehlt bis heute eine allgemeine Grundsatzuntersuchung.2 Das überrascht schon deshalb, weil sich an den Verfassungsiexten bereits im ersten Zugriff juristisch sehr vieles von der Gestalt des Verfassungsstaates ablesen läßt und weil der Wandel des Verfassungsstaates und seines Rechts bereits prima facie an und in den Texten plastisch wird; schließlich gibt es eine mit hochrangigen Werken besetzte Teildisziplin "Verfassungsgeschichte" 3 und schließlich ist doch Jurisprudenz bzw. Verfassungsrechtslehre zunächst einmal Arbeit an Texten. Die Ausgangsthese des folgenden Entwurfs lautet: Die Textstufenanalyse erweist sich im Rahmen der Verfassungslehre als juristischer Disziplin ganz all#
Festschrift für Karl Josef Partsch, 1989, S. 555 ff.
1
P. Häberle, Vielfalt der Property Rights und der verfassungsrechtliche Eigentumsbegriff, AöR 109 (1984), S. 36 (52 ff.) und die weiteren Arbeiten in AöR 109 (1984), S. 630 (635 ff.); 110 (1985), S. 577 ff. - hier Nr. 20, 21 und 19; Verfassungsschutz der Familie, 1984, S. 18 ff.; AöR 111 (1986), S. 595 (601 ff.); Die verfassunggebende Gewalt des Volkes im Verfassungsstaat, AöR 112 (1987), S. 54 ff.; "Wirtschaft" als Thema neuerer verfassungsrechtlicher Verfassungen, JURA 1987, S. 577 ff.-hier Nr. 7 und22. 2 Weder die gängigen Staatsrechtslehrbücher noch Allgemeine Staatslehren, weder Grundrisse zum Wirtschaftsverfassungsrecht noch sonstige Literatur bedienen sich (soweit ersichtlich) dieser Methode. Einige Texthinweise für die Schweiz finden sich bei P. Richli, Zur Leitung der Wirtschaftspolitik durch Verfassungsgrundsätze, 1983. Speziell das Thema "Arbeit", "Umwelt" und "Kultur" wird streckenweise textvergleichend von der Sachverständigenkommission Staatszielbestimmungen, Gesetzgebungsaufträge, 1983 (S. 69 ff., 74 ff., 86 ff., 110 ff.) behandelt, doch ohne die erforderlichen methodischen bzw. verfassungstheoretischen Vorüberlegungen. Siehe noch Anm. 5 und 6. 3 Vor allem EJi. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. I bis VII, 1957-1984; Ο. Kimminich, Deutsche Verfassungsgeschichte, 2. Aufl. 1987; D. Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776-1866,1988.
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I. Methoden
gemein als ergiebig und von der Sache gefordert, sofern sie konsequent typologisch arbeitet und in der "Zeitachse" denkt. Sie sucht im ganzen das - sich wandelnde - "Textbild" der einzelnen Problemfelder verfassungsstaatlicher Verfassungen, soweit diese "geschrieben" sind, zum "Königsweg" (,sit venia verbo ) einer inhaltlichen, auch wirklichkeitswissenschaftlichen Erarbeitung 4 ihres Gegenstandes zu machen. Das für das jeweilige Sachgebiet Typische kann dank einer sensiblen Textanalyse (in der mittelfristig und mittelbar "Wirklichkeit" greifbar ist) sehr präzise erfaßt werden. Ja, Verfassungslehre vermag erst mit Hilfe solcher Arbeit an Texten "juristische Text- und Kulturwissenschaft" zu sein und den - entwicklungsoffenen - Typus "Verfassungsstaat" auf "vorläufige" Begriffe zu bringen. Dieses in der Vergangenheit wie in der Gegenwart vergleichende Ausgehen von den und immer wieder neue Zurückkehren zu den positiven Verfassungstexten verbindet unverlierbare Einsichten eines "aufgeklärten Positivismus", d. h. das Ernstnehmen der Rechtstexte mit der historischen Tiefendimension, in die eine komparatistisch und geschichtlich arbeitende Verfassungslehre "als Kulturwissenschaft" vorzudringen vermag. Die Verfassungsvergleichung genauer die VerfassungsteJtfvergleichung ist "Vehikel" bei der Entwicklung des Verfassungsstaates und bei deren Beobachtung. Zwar darf sich die Verfassungsvergleichung nicht im Textlichen erschöpfen, das "constitutional law in the books " muß zur "law in public action " durchstoßen. Da aber dank der Vergleichung oftmals älteres nlaw in action " zur Textform der jüngeren "law in books " gerinnt, sind die Texte, in der historischen Entwicklungsperspektive erfaßt, nicht nur "Oberfläche", sondern auch ein Stück Tiefendimension des gelebten Verfassungsrechts. Alle Bemühungen etwa um "Grundrechtsreform", z.B. in Österreich 5, oder um "Totalrevision" in der Schweiz6, bauen mehr oder weniger erkennbar auf Textvergleichen auf. Vergleichend arbeiten heute alle staatlichen Funktionen (vom Verfassunggeber bis zum punktuellen oder "totalen" Verfassungsänderer), freilich mehr oder weniger intensiv und offen. Zulieferfunktion hat für sie alle insonderheit die Wissenschaft vom Verfassungsstaat, d.h. die Verfassungslehre. Eine staatliche Funktion sollte im Verfassungsstaat in ihren rechtsvergleichenden Aufgaben und Leistungen für die Fortbildung des Verfassungsstaates indes nicht un4 Insofern bleibt sie H. Heller, Staatslehre, 1934 verpflichtet (Staatslehre als "Kultur-" und "Wirklichkeitswissenschaft", S. 32 ff., 37 ff.). 5 Vgl. R. Rack (Hrsg.), Grundrechtsreform, 1985, passim, bes. Anhang, S. 242 ff.; s. auch R. Wahl, ebd., S. 223 (224 ff.). 6 Dazu: Bericht der Expertenkommission für die Vorbereitung einer Totalrevision der Bundesverfassung, 1977.
1. Das Textstufen-Paradigma
5
terschätzt werden: die Verfassungsrechtsprechung bis hin zu etwaigen Sondervoten. Ihre Arbeit am konkreten Verfassungstext eines nationalen Verfassungsstaates bringt es mit sich, daß sie dort, wo der Text ihres Landes nicht ausreicht, rechtsvergleichend "Umschau" hält In der Judikatur des BVerfG 7 gibt es Belege für diesen Vorgang textvergleichenden Arbeitens gerade in Grundsatzentscheidungen! Die arbeitsteilige Fortentwicklung des Verfassungsstaates in solchen Prozessen des Gebens und Nehmens innerhalb des einzelnen Landes, aber auch über dessen Grenzen hinaus im Blick auf andere Verfassungsstaaten hat es so gesehen immer mit einem Ensemble von Verfassungstexte/t zu tun. Mag auch nicht alles etwa von einem nationalen Verfassungsgericht oder von der Wissenschaft als materielles Verfassungsrecht ausgewiesenes Ideenund Wirklichkeitsgut zu Verfassungstexten "gerinnen": Potentiell kann es im Kreise der "Familie" der Verfassungsstaaten zu solchen werden, bald früher, bald später. So betrachtet ist Verfassungsinterpretation oft eine Vorform zu Entwicklungsstufen von fortgeschriebenen "Verfassungstexten" bzw. Textstufen. Auch kann sich ungeschriebenes Verfassungsgewohnheitsrecht hier an geschriebenen Texten dort orientieren. 8 Selbst Texte von Programmen politischer Parteien kommen mittelfristig als "Lieferant" für neue vom Verfassunggeber oder Verfassungsänderer normierte Verfassungstexte in Frage. Man denke nur an zunächst parteipolitisch formulierte Sozialstaats- oder Umweltthemen sowie kulturpolitische Forderungen.
7 Vgl. BVerfGE 7, 198 (208); 19, 342 (348); 39, 68 (71, 73 f.): SV Rupp-v.Brünneck / Simon; E 69, 315 (343 f.). 8 Die dem Schweizerischen Bundessstaatsrecht unter Führung des Bundesgerichts in Lausanne entwickelte Kategorie "ungeschriebener Grundrechte" (wie Meinungsäußerungs-, persönliche, Sprachen- und Versammlungsfreiheit, aus der Lit.: J.P. Müller / S. Müller, Grundrechte, Besonderer Teil, 1985, S. 97 f., J.P. Müller, Elemente einer schweizerischen Grundrechtstheorie, 1982, S. 23 ff.) ist materielles Verfassungsrecht, das in anderen Verfassungsstaaten längst Textgestalt besitzt. Es ist nur konsequent, daß im Rahmen von Teil- oder Totalrevisionen ihre geschriebene Gewährleistung gefordert wird (z.B. VE Totalrevision 1977: Art. 14 (Wissenschafts- und Kunstfreiheit), Art. 13 (Versammlungsfreiheit), zit. nach JöR 34 (1985), S.536 ff.) bzw. daß neue Verfassungen sie auch textlich sichern (z.B. für die Wissenschafts- und Kunstfreiheit: § 14 e) Verf. Aargau (1980), § 6 Abs. 2 lit. e Verf. Basel-Landschaft (1974), beide zit. nach JöR 34 (1985), S. 424 ff.; K V Uri (1984), Art. 12 (u.a. Schutz der Privatsphäre, Versammlungs-, Forschungs- und Kunstfreiheit); V E Solothurn (1984), Art. 14 (Versammlungsfreiheit), Art. 15 (Wissenschafts- und Kunstfreiheit)). Ein Verfassungsgericht ist gut beraten, wenn es in offener, notfalls verdeckter Rechtsvergleichung Grundrechtskataloge anderer Verfassungsstaaten ungeschrieben via Richterrecht zum Vorbild nimmt, so behutsam das nur geschehen kann. Letztlich baut das Verfassungsgericht so eine Brücke zu anderen Verfassungsstaaten bzw. es macht mit der Zugehörigkeit zur "Familie" der Verfassungsstaaten ernst.
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I. Methoden
Π. Die Ausarbeitung an Beispielen Grundlage bildet die Beobachtung, daß die Entwicklung der Texte verfassungsstaatlicher Verfassungen und "in" ihnen der Typus Verfassungsstaat 9 in einer "gestuften Evolution" verläuft Gewiß: weder die einzelnen nationalen Verfassungsstaaten, noch der Verfassungsstaat als Typus entwickeln sich gleichförmig i. S. eines kontinuierlichen Prozesses mit gleicher "Geschwindigkeit": es gibt Verzögerungen und Übereilungen, Sprünge nach vorwärts und zurück, variierend je nach Mentalität und "Temperament" eines Volkes, und das ist auch gut so. Man erinnere sich der erhitzten Experimente der Franzosen in Sachen Menschenrechte bzw. Verfassungen seit 178910 oder der kontinuierlichen Entwicklungen in der Schweiz seit 1848.11 Im ganzen und auf einen größeren Zeitraum hin betrachtet, lassen sich aber doch parallele Wachstumsprozesse des Verfassungsstaates als Typus erkennen,12 umso mehr als längst ein intensives "Werkstattgespräch" zwischen den einzelnen Ländern bzw. Nationen in Sachen Verfassungsstaat geführt wird. 13 In (nicht nur kurzatmiger) historischer und kontemporärer Verfassungstextvergleichung werden Stufen sichtbar: ζ. B. beim Auftauchen neuer Themen wie der Sache "Arbeit", "Umwelt" und "Datenschutz" oder bei der Ausdifferenzierung klassischer Problemfelder wie der "Staatsaufgaben"14 und der "Wirtschaft" oder der Konstitutionalisierung der "Opposition".15 9
Vgl. P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1982.
10
Dazu mein Augsburger Vortragt 1789 als Teil der Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Verfassungsstaates, JöR 37 (1988), S. 35 ff. - hier Nr. 28. 11 Zur Verfassungsgeschichte der Schweiz: E. His, Geschichte des neueren Schweizerischen Staatsrechts, 3 Bände, 1920-1938 (Nachdruck 1968). Siehe noch unten das klassische Zitat von G. Keller (Anm. 89). 12 Aufschlußreich ist die Frage, ob sich im Vergleich zwischen mehreren Verfassungsstaaten untereinander "zeitlich faßbare" Kodifikations"wellen" bzw. Verfassungsänderungen ζ. B. in Sachen Wirtschaft belegen lassen - etwa weil sie alle eine Wirtschaftskrise (ζ. B. in den 20er und 30er Jahren) bzw. Konjunkturkrisen (in den 30er Jahren) zu bewältigen hatten (vgl. die Wirtschaftsartikel der Schweiz, dazu U. Häfelin / W. Haller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 2. Aufl. 1988, S. 442 ff., 446 ff.). 13 Dazu für die Schweiz und neuere Verfassungen in Europa: mein Beitrag Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, insbesondere auf kantonaler Ebene, JöR 34 (1986), S. 303 ff., 370 ff. 14 Dazu meine Studie Verfassungsstaatliche Staatsaufgabenlehre, AöR 111 (1986), S. 595 (600 ff.) -hier Nr. 23. 15
Vgl. Art. 23a Abs. 1 Verf. Hamburg (1952 bzw. 1972): "Die Opposition ist ein wesentlicher Bestandteil der politischen Demokratie" (zit. nach Beck-Texte, Verfassungen der deutschen Bundesländer, 3. Aufl. 1988). Vorarbeit für den "Oppositions-Artikel" in Verf. Hamburg (Art. 23a) haben (auch hier) viele geleistet, vor allem Verfassungsrechtsprechung (vgl. BVerfGE 2, 1 (13): "Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition"; E 5, 85 (199): "Kritik der
1. Das Textstufen-Paradigma
7
Verfassungsthemen, die erst in jüngerer Zeit zu solchen wurden und sich daher erst neuerdings in den Verfassungstexten finden, sind etwa die Demonstrationsfreiheit, 16 das Recht auf Gesundheit,17 der Sport18 und die Umwelt 19 Neue Verfassungen können sich mitunter textlich (fast) alleine pionierhaft als "Vorhut" "schon" eines Themas annehmen, das in anderen Verfassungsstaaten "noch nicht" formellen bzw. materiellen Verfassungsrang hat, so etwa des Schutzes der Behinderten.20 Zuweilen bringt eine neue Verfassung im Text das zum Ausdruck, was in anderen Verfassungsstaaten, etwa im deutschen, "klassischer" Leitsatz der staatsrechtlichen Dogmatik ist. 21 Die Vielfalt der Ausdrucksformen und formalen Geltungsebenen, in bzw. auf denen ein Prinzip des Typus Verfassungsstaat in den verschiedenen Beispielen der Verfassungen einzelner Völker zum Ausdruck gelangen kann, ist groß: sie reicht vom ex ante
oppositionellen Minderheit" und Staatsrechtslehre (aus der Lit.: tì.-P. Schneider, Die parlamentarische Opposition im Verfassungsrecht der BR Deutschland, Bd. 1, 1974). Die wohl früheste Konstitutionalisierung der Opposition auf Textebene findet sich (für die Parteien) in Verf. Baden von 1947 (zit. nach B. Dennewitz (Hrsg.), Verfassungen der modernen Staaten, Bd. II, 1948, S. 123 ff.): Art. 120 Abs. 3 S. 1: "Stehen sie (sc. die politischen Parteien) in Opposition zur Regierung, so obliegt es ihnen, die Tätigkeit der Regierung und der an der Regierung beteiligten Parteien zu verfolgen und nötigenfalls Kritik zu üben". Im Verfassungsstaat als Typus bzw. in der BR Deutschland ist die Opposition gewiß Teil des materiellen Verfassungsrechts unabhängig von der formellen Verfassungsurkunde. Doch ist sie dies wohl erst dank eines Zusammenwirkens vieler geworden: von einer "vorpreschenden" gliedstaatlichen Verfassung (Baden) über Rechtsprechung und Lehre bis zum "nachziehenden" gliedstaatlichen verfassungsändernden Gesetzgeber (Hamburg). 16 Vgl. Art. 33 Verf. Guatemala von 1985 (zit. nach JöR 36 (1987), S. 555 ff.); Art. 8g. K V Jura (zit. nach JöR 34 (1985), S. 424 ff.); Kap. 2 § 1 Ziff. 4 und § 18 Verf. Schweden von 1974 (zit. nach JöR 26 (1977), S. 369 ff.). 17 Ζ. B. Art. 93 Verf. Guatemala (1985); Art. 43 Verf. Spanien (1978, zit. nach JöR 29 (1980), S. 252 ff.). 18 Ζ. B. Art. 91 Verf. Guatemala von 1985 (zit. nach JöR 36 (1983), S. 555 ff.): Förderung des Sports als Aufgabe des Staates - und Art. 92 ebenda - "Autonomie des Sports". "Sport-Artikel" finden sich auch in neueren Schweizer Kantonsverfassungen (z. B. § 41 Abs. 6 Verf. Aargau von 1980, zit. nach JöR 34 (1985), S. 433 ff.); s. ferner Art. 38 Verf. Peru von 1979, zit. nach JöR 36 (1983), S. 641 ff. 19 Z. B. Art. 97 Verf. Guatemala s. auch Art. 24 Abs. 1 Verf. Griechenland von 1975 (zit. nach JöR 32 (1983), S. 360 ff.): "Der Schutz der natürlichen und der kulturellen Umwelt ist Pflicht des Staates". S. noch unten Anm. 36. 20 Art. 53 Verf. Guatemala von 1987 (zit. nach JöR 36 (1983), S. 555 ff.): "Der Staat garantiert den Schutz der Behinderten ...". - Art. 19 Verf. Peru von 1979 (zit. nach JöR 36 (1987), S. 641 ff.): "Wer wegen einer körperlichen oder geistigen Behinderung unfähig ist, für sich selbst zu sorgen, hat ein Recht auf Achtung seiner Würde und auf ein gesetzlich geregeltes System des Schutzes, der Fürsorge, der Wiedereingliederung und der Sicherheit". 21 Vgl. etwa Art. 87 Verf. Peru von 1979 (zit. nach JöR 36 (1987), S. 641 ff.): Abs. 1: "Die Verfassung geht jeder anderen Rechtsnorm vor. Das Gesetz geht jeder anderen Norm niedrigeren Ranges vor, und so weiter, je nach Stellung in der Normenhierarchie". Abs. 2: "Die Publizität ist wesentlich für die Existenz jeder Norm des Staates".
2 Häberle
8
I. Methoden
geschriebenen Verfassungstext über die spätere Verfassungsänderung bis zum Leitsatz der Verfassungsrechtsprechung, zur Lehrmeinung in der Dogmatik und zum "nur" einfachgesetzlichen Text. Nicht selten variieren die Formen, in denen bestimmte Themen verfassungsstaatlicher Verfassungen der heutigen Entwicklungsstufe abgehandelt werden, während die Inhalte sich weitgehend entsprechen. Das gilt etwa für Rundfunk und Fernsehen. Was das deutsche BVerfG im 1. Fernsehurteil (E 12, 205 (262 f.)) erarbeitet hat (in Stichworten wie "Sachlichkeit", "gegenseitige Achtung", "Ausgewogenheit"), findet sich bald in formellen Verfassungstexten, in die es über Verfassungsänderungen gelangt ist (so die Verf. Bayern Art. l i l a von 1973: "Ausgewogenheit des Gesamtprogramms", angemessene Beteiligung der bedeutsamen politischen weltanschaulichen und gesellschaftlichen Gruppen), bald in neuen Verfassungen, 22 bald in einem "Nebenverfassungsgesetz" (wie in Österreich) 23. Ein "neues" Verfassungsthema bildet - nach dem schon klassischen Vorbild Schwedens 24 - der Ombudsmann. Die von hier ausgehende "Rezeptionswelle" hat nicht wenige Verfassungsstaaten erreicht. 25 Kühne Text-Neuerungen einzelner Verfassungsstaaten, deren "Entwicklungswert" für den Verfassungsstaat als Typus wohl erst im Rückblick aus größerer zeitlicher Distanz bewertet werden kann, sind wegen des Experimentiercharakters von Verfassungstexten und -ideen i. S. des trial-and-errorParadigmas zu begrüßen. Ein Beispiel findet sich etwa in Gestalt der in der Verf. Schweden von 1974 vorgesehenen "konsultativen Volksbefragung". 26 Eine neue Entwicklungsstufe erreichten die verfassungsstaatlichen Verfassungstexte in Form von Artikeln, die den traditionellen "Souveränitätspanzer" des Nationalstaates durchbrachen, den Weg zu einer internationalen Zusammenarbeit öffneten und dabei neue Rechtsinstrumente und -verfahren schufen. Gemeint ist die Artikelgruppe, die sich speziell im GG unter dem Stichwort "offene Staatlichkeit" (K. Vogel) und "kooperativer Verfassungsstaat" 27 zusam22
Vgl. Art. 39 Verf. Portugal
23
B - V G von 1974, zit. nach H. R. Klecatsky / S. Morscher (Hrsg.), Bundes-Verfassungsgesetz, 4. Aufl. 1987, S. 218 f.: "Objektivität und Unparteilichkeit der Berichterstattung", "Meinungsvielfalt", "Ausgewogenheit der Programme". 24
Vgl. Verf. von 1975, Kap. 12 § 6, zit nach JöR 26 (1977), S. 369 ff.
25
Vgl. ζ. Β. Art. 23 Verf. Portugal von 1976/82; Art. 45 b GG; Art. 54 Verf. Spanien von 1978; Art. 148 a B - V G Österreich (zit: nach H. R. Klecatsky /S. Morscher, (Anm. 23)); Art. 70 Verf. Burgenland von 1981 (zit. wie Anm. 33). 26 Kap. 8 § 4, zit. nach JöR 26 (1977), S. 369 ff. - Die speziell deutsche (Bundesstaats-) Problematik (vgl. BVerfGE 8,104) sollte nicht grundsätzlich entmutigen! 27
Vgl. P. Häberle, Der kooperative Verfassungsstaat, in: ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978, S. 407 ff.
1. Das Textstufen-Paradigma
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menfassen läßt (Art. 24 bis 26). Vor allem Art. 24 Abs. 2 GG hat in anderen verfassungsstaatlichen Beispielländern "Verwandte". Repräsentativ sind etwa Art. 25 bis Verf. Belgien: "Die Ausübung bestimmter Gewalten kann durch einen Vertrag oder ein Gesetz Einrichtungen des internationalen öffentlichen Rechts übertragen werden"28 oder Art. 28 Abs. 2 Verf. Griechenland ,29 Manche Texte, die von einzelnen Verfassungsstaaten entwickelt worden sind, kommen auf "Umwegen" über universale und regionale Menschenrechtspakte - oder geändert bzw. fortentwickelt - zu ihnen und anderen Verfassungsstaaten zurück. Das läßt sich für die Menschenrechtserklärung der UN (1948), ihre beiden Menschenrechtspakte (1966) bzw. die EMRK (1950) samt Zusatzprotokollen belegen.30 Solche Entwicklungen bzw. "Bewegungen" haben in doppelter Hinsicht positive Effekte: Zum einen wird der einzelne Verfassungsstaat, der Mitglied des Menschenrechtspaktes ist, in seinen Grundrechtsgehalten bereichert, zumal die Menschenrechtspakte ihrerseits "Konzentrat" aus vielen Text-Vorbildern und Textelementen sind. Zum anderen beginnen die Menschenrechte ein Stück weit die Völkergemeinschaft zu "verfassen" - auch das ist ein regionaler oder gar universaler Erfolg des Typus Verfassungsstaat. Er, der eine angloamerikanisch/europäische Gemeinschaftsleistung von Rang darstellt - an den großen (Text-)Daten 1776, 1787, 1789 greifbar - sendet eine "kulturelle Botschaft" in Sachen Menschenrechte aus, die zum kulturellen Erbe und zur kulturellen Zukunft der Menschheit gehört. Die weitgehend übereinstimmenden Menschenwürdeklauseln innerverfassungsstaatlichen Verfassungsrechts und des Völkervertragsrechts sind dabei der Basistext mit schon klassischer Ausstrahlung.31 Die Tendenz, die Menschenwürde zur "anthropologischen Prämisse des Verfassungsstaates" werden zu lassen,32 kann sich auf neuere Verfassungstextstel28 Zit. nach P.C. Mayer-Tasch Europas, 2. Aufl. 1975.
(Hrsg.), Die Verfassungen der nicht-kommunistischen Staaten
29 Zit. nach JöR 32 (1983), S. 360 ff.: "Um wichtigen nationalen Interessen zu dienen und um die Zusammenarbeit mit anderen Staaten zu fördern, ist durch Verträge oder Abkommen die Zuerkennung von verfassungsgemäßen Zuständigkeiten an Organe internationaler Organisationen zulässig." S. auch Art. 93 Verf. Spanien (1978), zit. nach JöR 29 (1980), S. 252 ff.; ferner Art. 92 Verf. Niederlande von 1983 (zit. nach JöR 32 (1983), S. 277 ff.); ihr Art. 90 wagt überdies eine neue Formulierung in dem Satz: "Die Regierung fördert die Entwicklung der internationalen Rechtsordnung". 30
Texte zit. nach Beck-Texte, Völkerrechtliche Verträge, 2. Aufl. 1979.
31
Einzelheiten in meinem Vortrag: 1789 als Teil der Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Verfassungsstaates, JöR 37 (1988), S. 35 ff. - hier Nr. 28, sowie im Beitrag: Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: J. Isensee / P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland Bd. 1,1987, S. 815 (816 ff.). 32 Dazu P. Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft (Anm. 31), S. 815 (818 ff., 846 ff.).
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I. Methoden
len berufen. In ihnen zeigt sich ein Prozeß der Normativierung der Volkssouveränität im Blick auf Würde und Freiheit des Menschen, ein Vorgang, der eine "höhere" Text-Entwicklungsstufe des Verfassungsstaates repräsentiert. 33 Eine "Verfassungsänderungswelle" läßt sich innerhalb desselben Bundesstaates etwa für die deutschen Länder nachweisen, und zwar auf dem Felde des Parlamentsrechts: so in bezug auf den Petitionsausschuß "analog" Art. 45 c GG.34 "Textbewegungen" gab es in den Länderverfassungen z.B. in Sachen Datenschutz35 sowie im Umweltschutzrecht.36 Sichtbar werden aber auch Konstanten und "klassische" Formen und Inhalte von bestimmten Themen des Verfassungsstaates, so in den Ländern, die sich z. B. für eine Präambel entscheiden, bei diesem klassischen Basiselement des Verfassungsstaates. 37 Freilich: das "Raster" des historischen und kontemporären Textstufenvergleichs im Dienste der Erkenntnis der Entwicklungen des Verfassungsstaates 33 Textbeispiele sind: Kap. 1 § 1 S. 2 Verf. Schweden von 1974: "Die schwedische Volksherrschaft gründet sich auf freie Meinungsbildung und allgemeines und gleiches Stimmrecht." - Art. 1 Verf. Portugal von 1976/82: "Portugal ist eine souveräne Republik, die sich auf die Grundsätze der Menschenwürde und des Volkswillens gründet und deren Ziel die Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft ist." - Art. 1 Abs. 1 Verf. Spanien (1978): "Spanien konstituiert sich als demokratischer und sozialer Rechtsstaat und bekennt sich zu Freiheit, Gleichheit und politischem Pluralismus als den obersten Werten seiner Rechtsordnung." - Die Volkssouveränität findet sich erst in Art. 1 Abs. 2, die Menschenwürdeklausel ist als Grundlagenbestimmung in Art. 10 Abs. 1 formuliert. - S. auch Verf. Burgenland von 1981 (zit. nach: Die bürgen ländische Verfassung, oJ. (1981), Art. 1 Abs. 2: "Burgenland gründet auf der Freiheit und Würde des Menschen; es schützt die Entfaltung seiner Bürger in einer gerechten Gesellschaft." - Art. 2 S. 2 ebd.: "Die Staatsgewalt geht vom Volk aus." 34 Vgl. Art. 35 a Verf. Baden-Württemberg; Art. 25 a Verf. Hamburg; Art. 41 a Verf. NRW; Art. 90 a Verf. Rheinland-Pfalz; Art. 15 a Verf. Schleswig-Holstein. 35
Vgl. Art. 4 Abs. 2, 77 a Verf. NRW; Art. 2 S. 2 Verf. Saarland.
36
Vgl. Art.3 Abs. 2, 131 Abs. 2, 141 Verf. Bayern; Art. 7 Abs. 2, 29 a Verf. NRW; Art. 33, 73 a Verf. Rheinland-Pfalz; Art. 65 Bremen; Vorspruch Abs. 5 Verf. Hamburg (Verfassungsänderung als Präambeländerung!). Die Phantasie in Sachen Textgestaltung und systematischer Plazierung ist dabei teils größer teils geringer. Die Länder sollten indes den Ehrgeiz zu "eigenen" Lösungen haben, so sehr sie den heutigen Textstufen in Sachen Umweltschutz verpflichtet bleiben. (Alle Texte zit. nach Beck-Texte, Verfassungen der deutschen Bundesländer, 3. Aufl. 1988, mit Einleitung von C. Pestalozza). 37 Struktur und Inhalte der Präambeln neuerer Verfassungen entsprechen der Typologie in FS Broermann, 1981, S. 211 ff., d. h. der "hohen Form" (Feiertagssprache), der geschichtlichen Dimension (als Umschreibung der nationalen Identität des jeweiligen Verfassungsstaates) und der Postulierung der betreffenden Grundprinzipien der Verfassung ("Verfassung in der Verfassung"); vgl. jetzt die Beispielstexte Präambel Verf. Guatemala von 1985 (zit. nach JöR 36 (1987), S. 555) oder Verf. Peru von 1979 (zit. nach JöR 36 (1987), S. 641). Mögen diese drei Aspekte in Quantität und Umfang sowie in den Inhalten variieren, der Grundtypus ist identisch. Offenbar hat sich ein "Standard" verfassungsstaatlicher Präambelinhalte und -formen herausgebildet. Siehe noch das neue Beispiel Tirol, unten Anm. 78.
1. Das Textstufen-Paradigma
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als Typus ist nur grober Natur. Was die Interpretation bzw. Praxis aus den Verfassungstexten im einzelnen macht, läßt sich zunächst nicht direkt einfangen. Man mag insofern von einer Makroperspektive der Texte und einer Mikroperspektive der sie umsetzenden - oder auch verfehlenden - Praxis sprechen. Dennoch bringen die Textstufen in der längerfristigen Zeitdimension letztlich und mittelbar ein Stück dieser Praxis bzw. "Verfassungswirklichkeit" zum Vorschein:38 Teil- oder Totalrevisionen, neue "Verfassunggebung" oder punktuelle Verfassungsänderungen 39 im je konkreten Verfassungsstaat orientieren sich ja auch an ihrer gewandelten eigenen Praxis (Wirklichkeit), und die individuellen nationalen Verfassungsstaaten bzw. westlichen Demokratien stehen heute nachweisbar - beim "Texten" in denkbar intensiven Austausch- und Wechselverhältnissen bzw. Rezeptionszusammenhängen, so daß in einem jüngeren Verfassungstext des einen Landes auch positiv-formal zum Ausdruck kommen kann, was im älteren Verfassungstext des anderen (ζ. B. Nachbar-)Landes noch nicht sichtbar war, aber von der lebendigen Praxis der "offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten" 40 nach und nach materiell "hinzugetan" worden ist, also "Verfassungswirklichkeit" wurde. Insofern gibt es im "kooperativen Verfassungsstaat" eine spezifische Form normierender Kraft der Praxis, die zu Was im Texten führt. Die Tex/wissenschaft wird zur Wirklichkeitswisstnschaîtl einen Verfassungsstaat "noch" als Verfassungspolitik diskutiert wird und vielleicht Textgestalt annehmen will, ist im anderen "schon" textlich oder doch in der Wirklichkeit ("ungeschrieben") vorweggenommen, wobei freilich an die große Bandbreite möglicher Verfassungstexte ("Text-Varianten") im Rahmen des Typus Verfassungsstaat zu erinnern ist,41 auch daran, daß nicht alles lebende materielle Verfassungsrecht formalisierte Textgestalt annimmt, annehmen kann und annehmen soll. Beispiele finden sich in Gestalt des Siegeszuges der grundrechtlichen "Wesensgehaltgarantie" des Art. 19 Abs. 2 GG als Verfassungstext, 42 in Gestalt
38
Grundsätzlich zum Problem "Verwirklichung der Verfassung": K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 16. Aufl. 1988, S. 16 ff. 39 Zur Verfassungsänderung: A. Roßnagel, Die Änderungen des Grundgesetzes, 1981; S. Schaub, Der verfassungsändernde Gesetzgeber 1949-1980, 1984. 40
P. Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, S. 297 ff.
41
Zum Problem der "Ungleichzeitigkeit" speziell in Schweizer Kantonsverfassungen mein Beitrag in JöR 34 (1986), S. 303 (339). 42
Dazu die Belege bei P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 3. Aufl. 1983, S. 258 f., 279 f., 284; s. zuletzt den Text der Kwa Zulu Natal Indaba Bill of Rights (1986), zit. nach JöR 35 (1986), S. 695 (698), Art. 14 Abs. 3: "A fundamental right and freedom protected in this Bill of Rights may not be abolished or in its essence be encroached upon by a law of the Province."
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I. Methoden
eines Parteienartikels wie Art. 49 Verf. Italien von 1947,43 im Wachstum der Staatsaufgabenkataloge44 oder in der Aufnahme neuer Grundrechte, ζ. B. der Medienfreiheit. 45 Umgekehrt wirken solche neu geschriebenen Verfassungstexte des einen Verfassungsstaates auf die ungeschriebene Praxis des anderen (nicht notwendig direkt benachbarten). Wo es ζ. B. wie derzeit in Österreich zu keinem ausdrücklichen grundrechtlichen "Wesensgehalt-Text" kommt, entwikkelt sich in der Praxis (vor allem der Gerichte) eine ungeschriebene Wesensgehaltsklausel.46 Eine positiv zu beurteilende Entwicklung zeigt sich ferner im zunehmend "sicheren" und durchgängigen Ausbau des Schutzes der Privatsphäre: während das deutsche GG von 1949 textlich keinen ausdrücklichen und umfassenden Schutz der Privatsphäre kennt und Dogmatik und Judikatur hier ihr schöpferisches Werk tun (müssen),47 hat schon die EMRK von 1950 ein verfassungsstaatliches Textelement geliefert, 48 das auch auf neue Verfassungstexte ausstrahlt. Die Verf. Spanien von 1978 arbeitete sich auf diesem Weg weiter vor. 49
43 Zit. nach P. C. Mayer-Tasch (Anm. 28). - s. auch Art. 21 GG; Art. 4 De Gaulle Verf. von 1958; Art. 29 Verf. Griechenland von 1975. - Was im einen Verfassungsstaat "informal" ist, neben oder sich sogar einmal gegen die positiven Verfassungstexte entwickelt hat (dazu H. Schulze-Fielitz, Der informale Verfassungsstaat, 1984), das kann im benachbarten Verfassungstaat via Verfassungsänderung oder Verfassunggebung formalisiert und positiviert werden. Beispiel ist die verfassungsstaatliche Entwicklung des Parteienartikels i. S. von Art. 21 GG (dazu unten Anm. 50). Im Rahmen einer Verfassungslehre als Kulturwissenschaft behalten die Texte ihr relatives Recht, sie bilden einen "Sammelplatz" (nicht "Tummelplatz") für die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten und -geber. Sie sind freilich in ihren kulturwissenschaftlich erschließbaren Kontext zu stellen. Auf dem Forum des Typus "Verfassungsstaat" können so "Textpositivismus" und kulturelles Kontextverständnis zusammengebunden werden. Wagt man einen weltweiten Blick auf den Typus Verfassungsstaat, vermag die Vetfassungswirklichkeit von heute sich in einem späteren Verfa^sungstext von morgen zu spiegeln bzw. Gestalt anzunehmen. 44
Belege in meinem Beitrag, AöR 111 (1986), S. 595 (601 ff.), (Anm. 14) - hier Nr. 23.
45
Vgl. Art. 20 Verf. Spanien (1978), Art. 38 Verf. Portugal (1976/82). - Diese Texte sind zitiert nach JöR 29 (1980), S. 252 ff. bzw. JöR 32 (1983), S. 446 ff. 46 Nachweise in meiner Wesensgehaltgarantie, 3. Aufl. 1983, S. 264 ff.; zur Wesensgehaltjudikatur des EuGH als "gemeineuropäischen Grundrechtsrecht" ebd., S. 266 ff. 47
Vgl. BVerfGE 4, 3 (15); 6, 32 (41); 23, 344 (351); 32, 333 (338 ff.); 34, 238 (245 f.); 34, 269 (281 ff.) bis zu E 65,1 (45). 48 49
Vgl. Art. 8: "Jedermann hat Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens ...".
Art. 18 Abs. 1: "Jeder hat das Recht... auf die persönliche und familiäre Intimsphäre und das Recht am eigenen Bild"; Abs. 4 ebd.: "Das Gesetz beschränkt die Verwendung von Daten, um die Ehre sowie die persönliche und familiäre Intimsphäre der Bürger ... zu garantieren." - s. auch Art. 10 Abs. 3 Verfassungsentwurf Totalrevision Schweiz von 1977 (zit. nach JöR 34 (1985), S. 536 ff.): "Die Privatsphäre und die Wohnung sind geschützt." - § 6 Abs. 2 lit. f. Verf. Basel-Landschaft von 1984: "Schutz der Privatsphäre" (zit. nach JöR, ebd., S. 451 ff.). Ferner Art. 10 Abs. 2 Verf. Niederlande (1983): "Der Schutz der Privatsphäre wird im Zusammenhang mit der Speicherung und Weitergabe persönlicher Daten durch Gesetz geregelt" (zit. nach JöR 32 (1983), S. 277 ff.
1. Das Textstufen-Paradigma
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Ein besonders prägnantes Beispiel für Textstufenvorgänge findet sich in der Umkehrung von Bewertungen "im Laufe der Zeit". Der Verfassunggeber der Weimarer Reichsverfassung (1919) hat bekanntlich die politischen Parteien nur vom Negativen her zur Kenntnis genommen (Art. 130 Abs. 1 WRV: "Die Beamten sind Diener einer Gesamtheit, nicht einer Partei"). Das deutsche GG (1949)50 integriert demgegenüber die politischen Parteien (nach dem "Vorgang" von Art. 118 bis 121 Verf. Baden von 1947)51 positiv in den Verfassungsstaat und gibt ihnen schon textlich bestimmte Aufträge. 52 So gesehen verschränken sich Makro- und Mikroperspektive des Verfassungsstaates als Typus, und dies wird auch in zunächst bloß formal erscheinenden Texten greifbar. Es kommt zu einem "Hin und Her(Wandern)" des (Blicks vom) Idealtypischen (und Möglichen) und des (bzw. zum) Realtypischen (und Wirklichen) 53 im historischen Prozeß kultureller Evolution des Verfassungsstaates, und es ist Chance und Auftrag der Verfassungslehre, den Verfassunggeber oder -änderern ein Arsenal von "einschlägigen" bzw. möglichen Textvarianten zu vermitteln. Verfassungslehre erfüllt hier ihren Auftrag der Verfassungspolitik i. S. von Vorschlägen zur Normierung des jeweils "typischen"
50 Die Aufnahme von Parteien-Artikeln in die Verfassungstexte setzt sich weltweit durch, vgl. etwa Verf. Peru ( 1979) (zit. nach JöR 36 (1987), S. 641 ff.), Art. 68: "Die politischen Parteien sind Ausdruck des demokratischen Pluralismus. Sie wirken an der Bildung und Äußerung des Volkswillens mit. Sie sind das Hauptinstrument der politischen Beteiligung der Staatsbürger". - Dieser Text enthält gegenüber Art. 21 GG eine greifbare Verfeinerung, er liest sich wie §§ des deutschen Parteiengesetzes bzw. wie Judikatur und Lehre zu Art. 21 GG! - Entsprechendes gilt für den Parteien-Artikel der Verfassung der Republik Liberia (1983) (zit. nach JöR 35 (1986), S. 663 ff.): Art. 77 a) "Since the essence of democracy is free competition of ideas expressed by political parties and political groups as well as by individuals, parties may freely be established to advocate the political opinions of the people." Art. 80 enthält überdies die Möglichkeit des Verbots politischer Parteien! Die Essenz heutiger verfassungsstaatlicher Ideen zum Problem "politische Parteien" kann sich sogär in einfachen Parlamentsgesetzen finden, vgl. etwa Österreichisches Bundesgesetz (1975) über die politischen Parteien (zit. nach H. R. Klecatsky /S. Morscher (Hrsg.) (Anm. 23)): "§ 1 (1) Die Existenz und Vielfalt politischer Parteien sind wesentliche Bestandteile der demokratischen Ordnung der Republik Österreich (Art. 1 B-VG). (2) Zu den Aufgaben der politischen Parteien gehört die Mitwirkung an der politischen Willensbildung. (3) Die Gründung politischer Parteien ist frei ...". Denselben Gedanken normiert die neue Verf. Burgenland von 1981 auf Verfassungsstufe (zit. nach: Die Burgenländische Verfassung, 1981): Art. 3: "Die Existenz und Vielfalt politischer Parteien sind wesentliche Bestandteile der demokratischen Ordnung des Landes. Die politischen Parteien wirken an der politischen Willensbildung des Volkes mit". Die "Lernprozesse" auf allen Stufen und quer zu allen Arbeitsfeldern (Verfassungsänderung, -gebung, Gesetzgebung, Rechtsprechung und Wissenschaft) sind unübersehbar! - Ein offenkundiger Rezeptionsprozeß in bezug auf Art. 19 Abs. 3 GG etwa in Gestalt des Art. 3 Verf. Peru (1979) (zit. nach JöR 36 (1987), S. 641 ff.): "Die Grundrechte gelten auch für die peruanischen juristischen Personen, soweit sie auf diese anwendbar sind". 51
Zit. nach B. Dennewitz (Hrsg.) (Anm. 15), S. 123 ff.
52
Zu Art. 21 GG: K. Hesse (Anm. 38), S. 65 ff.
53 Zum Möglichkeits-, Wirklichkeits- und Notwendigkeitsdenken in der Verfassungstheorie mein Beitrag in: Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978, S. 17 ff.
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I. Methoden
Verhältnisses (ζ. Β. von "Wirtschaft und Verfassungsstaat" im allgemeinen, von konkreter, individueller Wirtschaft und nationalem Verfassungsstaat im besonderen). Aus diesen Gründen kommt der Analyse der Verfassungstexte ein relativ hoher Aussagewert zu. Die Textstufen sind "Antworten" auf bisherige Entwicklungen, Herausforderungen und Probleme, aber auch Hinweise auf "neue Ufer" bzw. Fragenkreise, zu denen der Verfassungsstaat als Typus aufbricht Sie bilden insoweit verläßliche, aussagekräftige "Materialien" der gestuften kulturellen Evolution des Verfassungsstaates, dessen Faszinationskraft weltweit - obwohl zunächst oft "nur" textlich ("semantisch") - im ganzen eher zunimmt als nachläßt. Man denke an seine klassischen Strukturelemente wie "Menschenrechte" und "Demokratie" (Herrschaft bzw. Wahl "auf Zeit"), die selbst die "Reformer" in der UdSSR unter M Gorbatschow; in der Volksrepublik Polen unter Jaruszelski und in China unter Deng beschäftigen (charakteristischerweise zunächst im Felde der Wirtschaft: als "Wirtschaftsreform"!).
ΠΙ. Insbesondere: Das Thema "Wirtschaft" Speziell beim Thema "Wirtschaft" läßt sich das Verfassungstextmaterial unter ganz bestimmten Gesichtspunkten befragen und typologisch aufschlüsseln.54 Schon vom bloßen Text her ist hier ein recht tiefer "Einstieg" in die Sache möglich: Der "Idealtypus" Verfassungsstaat wird durch einen Vergleich vieler seiner (nationalen) Beispiele in seiner textlichen Existenz im Blick auf etwas sehr "Reales", die Wirtschaft, höchst anschaulich, und die Entwicklungsprozesse des "Verfassungsrechts der Wirtschaft" lassen sich hier plastisch dokumentieren: auf der Folie der "klassischen" Zurückhaltung des liberalen Verfassungstypus in Sachen Wirtschaft Mancher wird einwenden, noch weniger als bei anderen Themen, etwa bei der Kultur, 55 vermöchten die Verfassungstexte bei der Wirtschaft die volle Wirklichkeit einzufangen. In der Tat: die "ganze Wirklichkeit" schließen sie nicht ein oder auf. In der größeren Zeitdimension verglichen, erlauben sie aber doch viele Rückschlüsse auf die sich wandelnde Wirklichkeit des Verfassungsstaates "in Sachen Wirtschaft". Textstufen im historischen Prozeß wirtschaftli-
54 Dazu die Belege in meinem Beitrag "Wirtschaft" als Thema neuerer verfassungsstaatlicher Verfassungen, JURA 1987, S. 577 ff. - hier Nr. 22. 55
Vergleichende Textanalysen bei P. Häberle, in: ders., Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht (Hrsg.), 1982, S. 1 (8 ff.); ders., Das Kulturverfassungsrecht der BR Deutschland, Aus Politik und Zeitgeschichte Β 28 / 85 vom 13.7.1985, S. 11 (20 ff.).
1. Das Textstufen-Paradigma
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cher Evolution56 lassen ja nicht nur aktive Steuerungsfunktionen der Verfassungstexte im Blick auf die Wirtschaft von heute erkennen, sie spiegeln auch "Antworten" des Verfassungsstaates (i. S. von "trial and error") auf Probleme der Wirtschaft und in der Wirtschaft in vorausgegangenen verfassungsgeschichtlichen Perioden wider. Insofern eröffnet die Textstufenanalyse eben doch einen vielleicht zunächst unerwarteten Zugang zur (vergangenen und heutigen) Wirklichkeit des Verfassungsstaates und "seiner" Wirtschaft: Die Wirtschaftsverfassungstexte spiegeln also nicht nur "Oberfläche", sie bleiben nicht im "Semantischen". Es sind die Vorgänge kultureller Produktion und Rezeption der verschiedenen Verfassungsstaaten untereinander, die auch die "Sache Wirtschaft" umschließen und die mittelbar sogar die "gelebte" Wirtschaftsverfassung in der "Aggregatform" der Verfassungs-Texte erkennen lassen. Verfassungstexte machen (wenigstens ausschnittweise) die Wirtschaflswirklichkeit sichtbar. Ein solcher Vergleich neuerer mit älteren Verfassungstexten "in Sachen Wirtschaft" zeitigt folgende Ergebnisse:57 Auffällig sind extensive und intensive Wachstums- und Differenzierungsprozesse in Gestalt der Erweiterung und Anreicherung der Grundrechtsgarantien um wirtschaftsrechtliche und -politische Themen sowie wirtschaftliche Freiheiten bzw. "wirtschaftliche Rechte" mit Teilhabestrukturen, aber auch die Intensivierung der Bindungen wirtschaftlicher Freiheiten über Gerechtigkeits- und Gemeinwohlklauseln sowie Menschenwürdepostulate; auffall ig sind ferner die Entwicklung allgemeiner wirtschaftlicher Fortschrittsklauseln (ζ. T. schon in Präambelform oder in Gestalt von Grundsatznormen systematisch in der Nähe der klassischen Staatszielbestimmungen), aber auch spezielle Wirtschaftsförderungsaufträge oder sonstige wirtschaftliche Teilziele (von bloßen Kompetenznormen bis zu Verfassungsaufträgen), schließlich die Normierung neuer Konnex- bzw. Konfliktthemen (wie "Wirtschaft und Arbeit", 58 "Wirtschaft und Soziales", "Verbraucherschutz und Umwelt"). Insgesamt hat der Typus Verfassungsstaat in seiner neueren Ge-
56
Speziell für die Entwicklung der Eigentumsartikel: P. Häberle, Vielfalt der Property Rights AöR 109 (1984), S. 36 (52 ff.) - hier Nr. 20.
57 Belege in der oben Anm. 54 zit. Abhandlung: "Wirtschaft" als Thema neuerer verfassungsstaatlicher Verfassungen, JURA 1987, S. 577 (578 ff.). - Herausragend ist der Passus in der Präambel (!) der Verf. Peru von 1979 (zit. nach JöR 36 (1987), S. 641): "Entschlossen, den Aufbau einer gerechten Gesellschaft zu fördern,... in der die Wirtschaft im Dienste des Menschen steht und nicht der Mensch im Dienste der Wirtschaft, eine offene Gesellschaft mit höheren Formen des Zusammenlebens und fähig, den Einfluß der wirtschaftlichen, technologischen, wirtschaftlichen und sozialen Revolution, die die Welt verändert, aufzunehmen und zu nutzen ...". 58 Offenkundig am Vorbild (Art. 1 Abs. 1 Verf.) Italien (1947) orientiert: Art. 79 Verf. Peru (1979): "Peru ist eine demokratische und soziale, unabhängige und souveräne, auf die Arbeit gegründete Republik".
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I. Methoden
stalt eine Fülle von allgemeinen und speziellen "Wirtschaftsartikeln" erfunden. Sogar die (wiederentdeckte) "Wirtschaftsethik" 59 kann auf textliche "Vorformen" verweisen und sich durch solche "Textspuren" ermutigt fühlen. 60 Mögen viele dieser Verfassungstexte als solche zunächst noch keine "sicheren" Aussagen zum /rt-Zustand der Wirtschaft, Wirtschaftspolitik und wirtschaftlichen Freiheiten im jeweiligen Land machen können und viel Programmatisches enthalten: sie umschreiben doch Perspektiven des So/Z-Zustandes. Darüber hinaus fangen sie ein Stück Wirklichkeit ein: da die jüngeren Verfassungstexte im Rahmen der allgemeinen Textstufenentwicklung des Typus Verfassungsstaat dank der von den modernen Verfassunggebern ganz offenkundig praktizierten Rechtsvergleichung auch "Spiegelcharakter" in bezug auf die Verfassungswirklichkeit älterer Verfassungsstaaten so mancher westlicher Demokratie haben, ist mittelbar doch eine Aussage zum heutigen Ist-Zustand der Sache Wirtschaft in diesem Land sowie im Verfassungsstaat als Typus erkennbar - das gilt etwa für die viel berufene "Ausweitung der Staatstätigkeit" im wirtschaftlichen Bereich, die sich ζ. B. im GG-Text noch zu wenig wiederfindet. Die Verfassungslehre wird so über das Medium der Texte zur Wirklichkeitswissenschaft! Freilich sei an die nationalen Varianten der einzelnen Verfassungsstaaten "in Sachen Wirtschaft" erinnert - es gibt sie trotz all ihrer Zugehörigkeit zum Verfassungsstaat als Typus. Man denke an die Sozialisierungsartikel, die in der Schweiz bzw. in ihren älteren und neueren (Bundes- wie Kantons-) Verfassungen bewußt fehlen, die in der Bundesrepublik Deutschland zwar "gelten", von denen hier aber kein Gebrauch gemacht wird (Art 15 GG), und die in Spanien (seit der Verf. von 1978) sowie im Frankreich Mitterrands (nach 1981) praktisch angewandt wurden, was ζ. T. wieder rückgängig gemacht worden ist 6 1 59 Zur Wirtschaftsethik aus der Literatur: A. Rich, Wirtschaftsethik, 1984; G. Enderle, Sicherung des Existenzminimums im nationalen und internationalen Kontext - eine wirtschaftsethische Studie, 1987; P. Koslowski, Prinzipien der Ethischen Ökonomie, 1988; A. Klose, Untern ehm erethik, 1988. 60 Vgl. z. B. Art. 151 Abs. 1 Verf. Bayern (1946): "Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl, insbesondere der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle und der allmählichen Erhöhung der Lebenshaltung aller Volksschichten". 61 In vielen Verfassungsstaaten gibt es ein Hin und Her zwischen Verstaatlichung und Privatisierung (Entstaatlichung). So kam es in der bundesdeutschen Regierung//. Kohl nach 1983 zu einer Teilprivatisierung der "Veba", während Art. 15 GG bis heute eine nicht praktizierte Verfassungsnorm blieb. So setzte in Spanien die sozialistische Regierung F. Gonzales 1983 die Verstaatlichung des Rumasa-Konzerns durch, die später durch eine Entscheidung des spanischen Verfassungsgerichts, wenn auch knapp, gebilligt wurde (Frankfurter Rundschau vom 9.12.1983, S. 9). - Die Verfassungstexte zur Verstaatlichung und Sozialisierung werden jedenfalls in Deutschland von Teilen der deutschen Sozialdemokratie heute distanzierter betrachtet. So warnte der wirtschaftspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion W. Roth auf dem Nürnberger Parteitag im August 1986 (zit. nach Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27.8.1986, S. 9) davor, den Risiken wirtschaftlicher
1. Das Textstufen-Paradigma
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Offenbar profilieren sich die einzelnen Verfassungsstaaten speziell hier wie sonst in Sachen Wirtschaft höchst "eigen". Die Verfassungslehre kann und soll aber den Rahmen entwickeln, der dieser "Individualität" Raum läßt und sie eher anregt als einschränkt. Der Verfassungsstaat weist sowohl in seiner Textgestalt als Typus - und zum Typus verdichtet - als auch in seinen zahlreichen nationalen Beispielfallen, d. h. in den einzelnen freiheitlichen Demokratien, Mischstrukturen i. S. der Lehre von der "gemischten Wirtschaftsverfassung" (E. R. Huber) 62 auf. "Reine Modelle" kommen nicht vor. Das Sowohl-als-Auch von wirtschaftlichen Freiheiten ("Markt", Wettbewerb) und sozialem Ausgleich (z. B. durch sozialstaatliche Kompetenz von der Demokratie zu leisten) - insoweit der "historische Kompromiß" - bildet sein "Markenzeichen". Elemente dieser "gemischten Wirtschaftsverfassung" aller Verfassungsstaaten sind (bei vielen Akzentunterschieden): Dezentralität, Pluralität und Offenheit. 63 Ein Wort zur Auswahl der Texte. Primärer Gegenstand einer "Verfassungslehre als Kulturwissenschaft" ist im Problemfeld der "Sache Wirtschaft" wie sonst der Verfassungstext im engeren Sinne, d. h. der "positivierte" Verfassungstext.64 Machtkonzentration mit der Verstaatlichung begegnen zu wollen. Dabei werde nur eine Machtkonzentration durch eine andere ersetzt. Statt dessen umschrieb Roth die Formen der Sozialdemokraten zur Begrenzung wirtschaftlicher Macht mit den Worten: "Machtteilung durch funktionierenden Wettbewerb und Machtkontrolle durch Demokratisierung der Wirtschaft, d. h. Mitbestimmung der Arbeitnehmer und ihrer Gewerkschaften sowie ihre Beteiligung am Produktivkapital". Zur "Entwicklung der Privatisierung in der Bundesrepublik Deutschland" jetzt K. König, Verwaltungsarchiv 1988, S. 241 ff. 62 E. R. Huber, Der Streit um das Wirtschaftsverfassungsrecht, DÖV 1956, S. 97 ff., 135 ff., 172 ff.; im Spiegel der neuen Verfassungstexte nachgewiesen in meinem Beitrag "Wirtschaft" (Anm. 54). - Ein geglückter Versuch ist jetzt Art. 115 Verf. Peru von 1979 (zit. nach JöR 36 (1987), S. 641 ff.): "Die Privatinitiative ist frei. Sie wird in einer sozialen Marktwirtschaft ausgeübt. Der Staat schafft Anreize und Regelungen für ihre Ausübung, um diese mit den gesellschaftlichen Interessen in Einklang zu bringen". 63 Vorbildlich Art. 112 Verf. Peru (1979) (zit. nach JöR 36 (1987), S. 641 ff.): "Der Staat garantiert den wirtschaftlichen Pluralismus. Die nationale Wirtschaft stützt sich auf die demokratische Koexistenz verschiedener Eigentums- und Unternehmensformen. Die staatlichen, privaten, genossenschaftlichen, selbstverwalteten, gemeindlichen oder sonstigen Unternehmen sind mit der Rechtsfähigkeit ausgestattet, die das Gesetz im einzelnen bestimmt". Der den Verfassungsstaat kennzeichnende wirtschaftliche Trägerpluralismus könnte kaum besser zum Ausdruck gebracht werden! 64
Auf der Mikroebene ("unterhalb" der Texte bzw. in der Arbeit mit ihnen) gibt es schon viel bewährtes Zusammenwirken zwischen Juristen und Ökonomen. Man denke an die "wirtschaftliche Betrachtungsweise" im Steuerrecht (aus der Lit. ζ. Β. Γ. Rittler, Die Auslegung der Steuergesetze in der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes, 1987, S. 36 ff., 181 ff.), an den Vorstoß zur Einführung einer "economical question-Theorie" (aus der Lit.: Η. Spanner, DÖV 1972, S. 216 ff.) oder die Bildung einer eigenen Teildisziplin "Wirtschaftsrecht" (mit so großen Werken wie W. Fikentscher, Wirtschaftsrecht, 1983 und F. Rittner, 1979). Schon diese Auswahl zeigt, wie groß der "Vorrat an Gemeinsamkeiten" zwischen Juristen und Ökonomen ist. Nur fehlt bislang auf der Seite der Staats-
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I. Methoden
Verfassungstexte im weiteren Sinne,65 d. h. Klassikertexte eines J. Locke oder Montesquieu, L Kant oder G. Radbruch sind als "anregende" Kon-Texte indes, wo möglich und nötig, "mitzuführen". 66 Entsprechendes gilt beim Thema "Wirtschaft" für die älteren oder neueren Klassikertexte der Nationalökonomie von A. Smith 67 bis F. List, von W. Eucken über Franz Böhm bis zu anderen "Grundtexten zur Sozialen Marktwirtschaft" 68 sowie heutige große Namen von J. M. Keynes 69 über F. A. v. Hayek bis J. M. Buchanan. 10 Und selbst die Texte von (Wirtschafts-)Programmen der politischen Parteien sind vereinzelt "mitzulesen".71 Verfassungslehre ist Textkulturwissenschaft so wie ihr Gegenstand, die verfassungsstaatliche Verfassung, Textkultur ist. Sie lebt aus einem komplexen Kraftfeld von geschriebenen und ungeschriebenen, von älteren und neueren, von positivierten Rechts- und Wissenschaftstexten, das als kompliziertes Ensemble den Verfassungsstaat konstituiert, wandelt und bewahrt, entwickelt und darin bewährt Im Problembereich "Wirtschaft" gilt nichts anderes. Freilich ist rechtslehre eine Aufarbeitung der Makrostrukturen - sei es der verfassungstheoretisch aufgeschlüsselten Verfassungstexte, sei es der Grundsatzdiskussion im Blick auf Buchanan, ν. Hayek u. a. (vgl. unten Anm. 70). 65
Zu dieser Unterscheidung mein Berliner Vortrag: Klassikertexte im Verfassungsleben, 1981.
66
Aus der Fülle neuerer wirtschaftswissenschaftlicher Grundlagenliteratur, die sowohl historisch ihre eigene Geschichte aufarbeitet als auch Brücken zu den Nachbardisziplinen baut und damit Materialien für jede Thematisierung der Wirtschaft im Rahmen einer Verfassungslehre liefert: D. Bell/I. Kristol, Die Krise in der Wirtschaftstheorie, dt. 1983; G. Ambrosius IW. Η Hubbard, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Europas im 20. Jahrhundert, 1986; Α. E . Ott IH. Winkel, Geschichte der theoretischen Volkswirtschaftslehre, 1985; J. Klaus / A. Maussner, Grundzüge der mikro- und makroökonomischen Theorie, 1986; R. J. Barro, Makroökonomie, dt. 1986. 67 Zu A. Smith jetzt: D. Brühlmeier, Die Rechts- und Staatslehre von Adam Smith und die Interessentheorie der Verfassung, 1988. 68
So der gleichnamige Band von 1981 (Hrsg. von W. Stützel u. a.).
69
Zu fragen wäre, inwiefern die Theoriekämpfe der Wirtschaftswissenschaftler die Verfassunggeber beeinflußt haben. Wenn in den 30er Jahren die Weltwirtschaftskrise die Auseinandersetzung mit der damals vorherrschenden neoklassischen Lehre und ihrem Glauben an die Selbstregulierungskraft der Märkte provozierte und ein J. M. Keynes dem die Theorie von der Steuerbarkeit der Wirtschaft durch den Staat entgegensetzte und wenn diese Theorie die Wirtschaftspolitik der meisten westlichen Industrieländer bis in die 30er Jahre bestimmte, so dürfte dies auch die neuen Verfassungstexte mitgeprägt haben (z. B. Art. 109 GG). 70
Vgl. ihre schon klassischen Werke, wie F. A. ν. Hayek, Die Verfassung der Freiheit, 2. Aufl. 1983; ders., Gesetzgebung und Freiheit - 3 Bände, Bd. 1 Regeln und Ordnung, 1980; Bd. 2 Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit, 1981; Bd. 3 Die Verfassung einer Gesellschaft freier Menschen, 1981; J. M. Buchanan, Die Grenzen der Freiheit: zwischen Anarchie und Leviathan, 1984; vgl. weiterhin auch E. Hoppmann, Freiheit und Ordnung in der Demokratie, FS G. Winterberger, 1982, S.179-197. 71 Für die Bundesrepublik Deutschland zu entnehmen: R. Kunz ! H. Maier IT. Stammen, Programme der politischen Parteien in der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1 u. 2, 3. Aufl. 1979, Erg.-Bd. 1983.
1. Das Textstufen-Paradigma
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im Rahmen einer Verfassungslehre zum Thema "Wirtschaft" der "Makrokosmos" vergleichend erschlossener einschlägiger Verfassungstexte ebenfalls der primäre Forschungsgegenstand. Mit anderen Worten: die Verfassungslehre hat Kontexte der Wirtschaftswissenschaften nach ihren eigenen (nicht deren!) Maßen, in ihre eigenen "Raster" bzw. Koordinaten zu integrieren. Die - rechtlich verbindlichen - Verfassungstexte "in Sachen Wirtschaft" müssen in der Weise der Verfassungslehre verarbeitet werden. Obwohl die Wirtschaftswissenschaften ihre eigenen "Klassikertexte" haben, werden sie nicht in gleicher Weise von positiven Texten "dirigiert" wie die - juristische - Verfassungslehre. So sehr die Verfassungslehre Methoden und Inhalte, Fragestellungen und Problemlösungen der neueren Wirtschaftswissenschaften zur Kenntnis nehmen und verarbeiten soll, etwa die "ökonomische Analyse des Rechts"72 oder gar der Verfassung, 73 so sehr sie sich auf das interdisziplinäre Gespräch mit einem Buchanan oder v. Hayek und die Paradigmen von Menschenbild74 und (Gesellschafts) Vertrag, 75 Verfassunggebung und Wirtschaft, Markt und Demokratie, ökonomischen und politischen "Abstimmungen" etc. einlassen sollte: es ist immer das spezifische Forum der Verfassungslehre als Kulturwissenschaft und als Lehre verbindlicher Verfassungstexte einschließlich ihrer kulturellen Kontexte, das auch den Gegenstand "Wirtschaft" prägt. Wirtschaft ist in einem weiteren Sinne gewiß auch "Kultur", Wirtschafts(verfassungs)geschichte ein Stück Kulturgeschichte, und Wirtschaft hat ihren Platz im Übergreifenden der Kultur und der sie als Verfassungslehre aufarbeitenden Wissenschaft. 76 Obgleich Wirtschaft in den Prozessen der Verfassungsgeschichte ihre eigene Motorik und Dynamik entfaltet und oft genug als Ferment und Vehikel kultureller Vorgänge wirkt: sie ist nicht "das Schicksal" und nicht "die Basis" i. S. der marxistischen
72 Das Schrifttum ist kaum mehr zu überblicken: G. Calabresi, Some Thoughts on Risk Distribution and the Law of Torts, Yale Law Journal, 70 (1961), S. 499 ff.; R. H. Coase, Das Problem der sozialen Kosten, in: H. D. Assmann IC. Kirchner ! E. Schanze (Hrsg.), Ökonomische Analyse des Rechts, 1978, S. 146 ff.; R. Posner, Economic Analysis of Law, 3. Aufl. 1986; R. Behrens, Aspekte einer ökonomischen Theorie des Rechts, Rechtstheorie 12 (1981), S. 472 ff.; M. Neumann (Hrsg.), Ansprüche, Eigentums- und Verfügungsrechte, 1984; K.-H. Fezer, Aspekte einer Rechtskritik an der economic analysis of law, JZ 1986, S. 817 ff. 73
Vgl. R. Eschenburg, Der ökonomische Ansatz zu einer Theorie der Verfassung, 1977.
74
Dazu meine Schrift: Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 1988, S. 67 ff.
75
Vgl. zuletzt H. Schulze-Fielitz, S. 213 ff.
Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, 1988,
76 Der Verfassungsstaat stand von Anfang an in allen seinen Entwicklungsstufen in Korrespondenz zu bestimmten Entwicklungen der nationalen Wirtschaft der einzelnen Länder, schärfer gesagt: die Kräfte der Wirtschaft trieben nicht selten die Entwicklung des Verfassungsstaates in bestimmten Bereichen voran (die wirtschaftliche Emanzipation des Bürgertums beförderte z. B. die Demokratisierung der Staatsgewalt etwa im Frankreich von 1789). Heute treiben die wirtschaftlichen Kräfte die Sache "Europa" voran und in ihr die verfassenden Elemente dieser "Gemeinschaft".
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I. Methoden
Überbau-Lehren. Es kommt also nicht etwa der Form, der Sache, den Methoden oder Inhalten nach zu einer "Verfassungslehre als Wirtschaftswissenschaft". Es bleibt bei der These von der Verfassungslehre als juristischer Text und Kulturwissenschaft und zwar auch dort, wo es speziell um die "Sache Wirtschaft" geht.
IV. Vorbehalte: Die Relativierung des Fortschrittsdenkens Wenn hier historisch bzw. rechtsvergleichend in bezug auf den Typus "Verfassungsstaat" von "Textstufen", 78 wenn von "Wachstumsprozessen" dieses Typus bzw. von "Verfassungsentwicklung" 79 die Rede ist, so nicht im Sinne eines naiven Fortschrittsglaubens.80 Es wird nicht behauptet, "am Ende" stünde irgendwann der "ideale Typus" von Verfassungsstaat mit perfekten Texten und einer ihnen optimal entsprechenden Wirklichkeit Leitbild ist also nicht ein "umgekehrtes" Verfalldenken. Weder ein naiver Fortschrittsoptimismus noch
77 Es geht um die Bereitschaft, die Ökonomie als Teil der Kultur zu begreifen. Max Weber hatte mit seiner Publikation über Kapitalismus und protestantische Ethik (1904/05) den Blick für die Rolle nichtökonomischer Faktoren in Wirtschaftsformen bleibend geschärft: vgl. etwa den Tagungsbericht von M. Siemons "Markt ohne Moral? Eine Tagung über Ethik der Leistung" in Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11.6.1987, S. 31 mit Hinweisen auf die "heute wuchernde Rede von Wirtschaftsethik und Unternehmenskultur", die das Moralische zu einem Element effizienten Wirtschaftens machten. Nach einem Vortrag von P. Koslowski (ebd.) sei die Formel von Mandeville ("private vices - public benefits") plastischer Ausdruck jenes Purismus, der die Ökonomie von allen moralischen Zwecken freizuhalten suche. M. Siemons selbst warnt bei wirtschaftsethischen Bemühungen, "zu kurz zwischen Markt und Moral" zu schließen (ebd.). 78 So für die Garantien des Eigentums (AöR 109 (1984), S. 36 (51 ff.)), für die Familie (Verfassungsschutz der Familie, 1984, S. 18 ff.), für die Wissenschafts- und Kunstfreiheit (AöR 110 (1985), S. 329 (333), bzw. 577 (580 ff.)), für die verfassunggebende Gewalt (AöR 112 (1987), S. 54 ff.). - Trotz "Wiener Schule" und "Wiener Zentralismus" wagte jüngst Tirol eine im Wege der Verfassungsänderung normierte Präambel u. a. mit folgenden Textelementen (LGB1. 1980/48):"... im Bewußtsein, daß die Treue zu Gott und zum geschichtlichen Erbe, die geistige und kulturelle Einheit des ganzen Landes, die Freiheit und Würde des Menschen, die geordnete Familie als GTundzelle von Volk und Staat die geistigen, politischen und sozialen Grundlagen des Landes Tirol sind, die zu wahren und zu schützen oberste Verpflichtung der Gesetzgebung und Vollziehung des Landes sein muß ...". Diese Präambel ist ganz offensichtlich am Vorbild des verfassungsstaatlichen Präambel-Standards geschult, durch Rechtsvergleichung erarbeitet und zugleich fortentwickelt worden (Grundlagen-Aspekt bzw. Schutzpflichtendimension!). 79 So unter Hinweis auf H. Ehmke (Grenzen der Verfassungsänderung, 1953, S. 64): B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982, S. 22 und meine Studie Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1982, bes. S. 22 ff. 80 Ganz entsprechend der These von Sir Karl Popper, Auf der Suche nach einer besseren Welt 1984, S. 152, für den es in der politischen Weltgeschichte keine in ihr verborgenen und auffindbaren Entwicklungstendenzen gibt und der sich damit erklärtermaßen in Gegensatz stellt zu den Fortschrittstheorien des 19. Jahrhunderts (Hegel, Marx) oder zur Untergangstheorie eines O. Spengler (ebd. S. 153).
1. Das Textstufen-Paradigma
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ein pessimistischer Verfallglaube können den gedanklichen Rahmen einer Verfassungslehre liefern. Genausowenig wie die Begriffe "Öffentlichkeit", 81 "Repräsentation",82 "Demokratie"83 zunächst "ideal postuliert" und dann i. S. des Verfalldenkens mit einer defizient gewordenen Wirklichkeit verglichen werden dürfen, genausowenig kann angenommen werden, daß in der Zukunft verfassungsstaatliche Verfassungen schon in ihren Texten die "für alle Zeit" besten Formen und Inhalte gefunden haben: etwa im Blick auf Grundrechte und ihre verschiedenen Schutzbereiche und -dimensionen,84 im Blick auf Staatsaufgabenkataloge,85 im Blick auf verfassungsrechtliche "Identitätsgarantien" wie Art. 79 Abs. 3 GG86 oder im Blick auf Präambeln87 einerseits, Übergangs- und Schlußvorschriften 88 andererseits. Jeder verfassungsstaatliche Verfassunggeber trifft als "Textgeber" in einer bestimmten Epoche immer nur höchst fragmentarisch das "relativ Beste"; andere (nationale) Verfassunggeber mögen ihm teils "voraus" sein, teils "hinterher" hinken. Das einer bestimmten Epoche der Verfassungsgeschichte entsprechende relativ beste Modell einer verfassungsstaatlichen Normierung im ganzen dürfte es in der Wirklichkeit kaum je geben: es ist ein gedankliches Abstractum der Wissenschaft, ein "Idealtypus" aus vielen mehr oder weniger gelungenen Beispielen bzw. Beispielselementen. Die verschiedenen (nationalen) Beispiele von Verfassungsstaaten können immer nur einzelne Elemente einer "guten" Normierung entwickeln. (Auch wäre der Text der Verfassung im ganzen überfordert: die "Urkunde" würde überladen.) Überdies schafft die je eigene nationale Verfassungskultur 89 einen 81 Vgl. J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, 3. Aufl. 1968 und meine Rezensionsabhandlung Öffentlichkeit und Verfassung (1969), jetzt in: Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978, S. 225 ff. (ebd. S. 230: "Verfalldenken"). 82
Gründl. H. Hofmann, Repräsentation, 1974.
83
Dazu eindringlich: Κ Hesse (Anm. 38), S. 50 ff.
84
Vergleichend hierzu P. HäberleDie 1983, S. 356 ff., 369 ff. 85
Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 3. Aufl.
Dazu der Vergleich in AöR 111 (1986), S. 595 (606 ff.) - hier Nr. 23.
86
Siehe meinen Beitrag Verfassungsrechtliche Ewigkeitsklauseln als verfassungsstaatliche Identitätsgarantien in: FS Haug, 1986, S. 81 ff. - Ein neues Beispiel für Ewigkeitsklauseln: Art. 281 Verf. Guatemala von 1985 (zit. nach JöR 36 (1987), S. 555 ff.). 87 Vgl. meine Bayreuther Antrittsvorlesung Präambeln im Kontext von Verfassungen, in: FS Broermann, 1981, S. 211 ff. - hier Nr. 8. 88 89
Dazu die Überlegungen in JöR 34 (1985), S. 303 (408 ff.).
Wohl niemand hat diese Seite der Verfassungen bzw. ihr "Wachstum" klarer erkannt und schöner formuliert als Gottfried Keller: "Die sogenannten logischen, schönen, philosophischen Verfassungen haben sich nie eines langen Lebens erfreut. Uns scheinen jene Verfassungen die schönsten zu sein, in welchen ohne Rücksicht auf Stil und Symmetrie ein Konkretum, ein errungenes Recht neben dem anderen liegt, wie die harten glänzenden Körper im Granit, und welche zugleich
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I. Methoden
kaum wiederholbaren individuellen "Kon-Text" - und damit auch Text. Darum ist in der Kategorie der (realen) Textvarianten (bzw. -alternativen) zu denken, bei aller (idealen) "Typologie". Selbst und gerade innerhalb ein und desselben Bundesstaates gibt es große (Text) Varianten und damit Pluralität: während im GG die plebiszitäre Komponente der Demokratie verkümmert ist (vgl. nur Art 29) und dies ganz im deutschen "Jargon der Eigentlichkeit" sogar Beifall findet, 90 haben einzelne deutsche Länder Verfassungen mit ausgebauten Elementen unmittelbarer Demokratie, 91 ohne freilich die Schweizer "Referendumsdemokratie" (auf Bundeswie Kantonsebene) zu erreichen. 92 Hinzu kommt folgendes: ein Forum, von dem aus sich behaupten ließe, der Verfassungsstaat des 20. Jahrhunderts sei "höher" entwickelt als der des 19. Jahrhunderts (etwa der USA, Englands oder Frankreichs), läßt sich wissenschaftlich nicht etablieren. Wohl könnte i. S. des "kritischen Rationalismus" gesagt werden, daß nach der "trial and error-Methode" eine bestimmte Textgestalt, zu der einzelne Problemlösungen "geronnen" sind oder sich kulturell kristallisiert haben, eher geglückt ist als früher. So darf die Ergänzung des Rechtsstaatspostulats um die soziale Dimension (Art. 20, 28 GG),93 der liberalen Grundrechte um die teilhaberechtliche Seite (Verfassung Portugal 1976/82),94 die klarste Geschichte ihrer selbst sind" (zit. nach G. Radbruch, Kleines Rechts-Brevier, 1954, S. 20). - Ganz auf Kanada zugeschnitten ist seine Kulturelles Erbe-Klausel in Art. 27 Canadian Constitution 1981 (zit. nach JöR 32 (1983), S. 632 ff.): "This Charter shall be interpreted in a manner consistent with the preservation and enhancement of the multicultural heritage of Canadians." 90 Z. B. E.-W. Böckenförde, Mittelbare / Repräsentative Demokratie als eigentliche Form der Demokratie, FS Eichenberger, 1982, S. 301 ff.; s. aber auch C. Pestalozza, Der Popularvorbehalt, 1981. 91 Vgl. Art. 74, 75 Abs. 2 S. 2 Verf. Bayern, Art. 68, 69 Abs. 2 und 3 Verf. Nordrhein-Westfalen, Art. 59 und 60 Verf. Baden-Württemberg, alle zit. nach Beck-Texte, Verfassungen der deutschen Bundesländer, 3. Aufl., 1988. 92 Dazu etwa U. Häfelin / W. Haller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 2. Aufl. 1988, S. 44 f., 56 f. u. ö. 93 Dank H. Heller und Carlo Schmid. - Neue Beispiele für "Sozialer Rechtsstaat"- Klauseln : Verf. Burgenland von 1981, Art. 1 Abs. 1 (zit. wie Anm. 50): "Burgenland ist ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat". - Art. 1 Abs. 1 S. 2 Verf. Vorarlberg i.d.F. von 1984, LGB1. 1984, 12. Stück Nr. 30: Vorarlberg "bekennt sich zu den Grundsätzen der freiheitlichen, demokratischen, rechtsstaatlichen und sozialen Ordnung". 94 Dazu P. Häberle, Wesensgehaltgarantie (Anm. 84), S. 388 ff. - Ausdruck der oder Antwort auf neuere grundrechtspolitische und -wissenschaftliche Fragestellungen ist der Textpassus in Art. 18 Abs. 1 Verf. Peru von 1979: "Der Staat sorgt vorrangig für die Grundbedürfnisse (!) der einzelnen und seiner Familie auf dem Gebiet der Ernährung, Wohnung und Erholung". - Eine eigene Textvariante von der Staatsaufgaben- bzw. Grundrechtsaufgabenseite her ist Art. 4 Niederösterreichische Landesverfassung von 1979: "Das Land Niederösterreich hat in seinem Wirkungsbereich dafür zu sorgen, daß die Lebensbedingungen der niederösterreichischen Bevölkerung in den einzelnen Regionen des Landes unter Berücksichtigung der abschätzbaren wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse gewährleistet sind."
1. Das Textstufen-Paradigma
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die Erfindung neuer kultureller Freiheiten,95 überhaupt die Entwicklung differenzierten Kulturverfassungsrechts, 96 die Plazierung spezieller Menschenwürdeund Gemeinwohl- bzw. Gerechtigkeitsklauseln im Verfassungsrecht der Wirtschaft (vgl. Art 151 Abs. 1 WRV, Art 151 Abs. 1 Verf. Bayern)" wohl auf der Haben-, sogar "Fortschritt-Seite" veibucht werden. Doch wären demgegenüber auch neue Text- und Wirklichkeitsdefizite zu bilanzieren:98 der Verfassungsstaat bleibt textlich wie in seiner Wirklichkeit immer nur "auf dem Weg" zu Gerechtigkeit und Gemeinwohl bzw. einem menschenwürdigen Kulturzustand.99
95
Texte in JöR 32 (1983), S. 446 ff. - Eine gelungene Weiterentwicklung des Themas "kulturelle Teilhaberechte" findet sich in Art. 21 Verf. Peru von 1979 (zit. nach JöR 36 (1987), S. 641 ff.): "Das Recht auf Bildung und Kultur ist der menschlichen Person inhärent". 96 An der Spitze der neueren Entwicklung der Texte zum Kulturverfassungsrecht steht etwa Verf. Guatemala von 1985 (zit. nach JöR 36 (1987), S. 555 ff.): in Gestalt eines kulturellen Teilhaberechts für jedermann (Art. 57), einer kulturellen Identitätsgarantie (Art. 57), zweier kulturellen Erbe-Klauseln (Art. 60 und 61), einer natürliches Erbe-Klausel (Art. 64) und einer Norm zu den Erziehungszielen (Art. 72 Abs. 1): "Die Erziehungsziele sind in erster Linie die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit und die Kenntnisse über die Welt und die nationale und internationale Kultur". Abs. 2 ebd. ist eine geglückte Weiterentwicklung von Art. 148 Abs. 3 S. 2 W R V oder Art. 188 Verf. Bayern (Verfassungstext für Schüler) in den Worten: "Der Staat hat ein nationales Interesse an der Erziehung, der Ausbildung und der systematischen Einführung in die Verfassung des Staates und die Menschenrechte". 97
Gerade im Bereich des Verfassungsrechts der Wirtschaft bemühen sich jüngere Verfassungen um ein Mehr an normierenden Texten. Dabei fallen Gemeinwohl- und Gerechtigkeitsklauseln auf (vgl. Art. 50 Verf. Costa Rica von 1949, zit. nach JöR 35 (1986), S. 481 ff.: "Der Staat trägt Sorge für größeren Wohlstand der Einwohner des Landes, indem er die Produktion und die ausgeglichenere Verteilung des Reichtums organisiert und anregt". - Art. 110 Abs. 1 Verf. Peru von 1979, zit. nach JöR 36 (1987), S. 641 ff.: "Die Wirtschaftsordnung der Republik fußt auf den Grundsätzen der sozialen Gerechtigkeit, welche auf eine menschenwürdige Arbeit als Hauptquelle des Reichtums und als Mittel der Verwirklichung der menschlichen Person gerichtet ist". - Art. 20 Abs. 1 Verf. Niederlande von 1983, zit. nach JöR 32 (1983), S. 277 ff.: "Die Existenzsicherheit der Bevölkerung und die Verteilung des Wohlstandes sind Gegenstand der Sorge des Staates und der anderen öffentlich-rechtlichen Körperschaften".). 98 Dies ist nur Konsequenz der "Tatsache, daß wir gleichzeitig Fortschritte und Rückschritte machen" (Sir Karl Popper, Anm. 80, S. 154). Die Verfassungs(text)geschichte ist davon nicht ausgenommen. Denn sie ist Teil der allgemeinen (politischen) Geschichte, weil die Verfassungstexte nur ein besonderer Ausschnitt und besonderer "Aggregatzustand" dieser Geschichte sind. Von Popper her gedacht erweist sich aber der von der abendländischen Zivilisation geleistete Weg zur Demokratie als einer "Gesellschaftsform, die durch Worte verändert werden kann und hie und dawenn auch selten - sogar durch vernünftige Argumente" (ebd S. 130), dann doch als "Fortschritt". Die abendländische Zivilisation ist nach Popper "trotz allem ... die freieste, die gerechteste, die menschlichste, die beste, von der wir aus der Geschichte der Menschheit Kenntnis haben. Sie ist die beste, weil sie die verbesserungsfahigste ist", (ebd., S. 128). Ihre juristische Gestalt hat diese Zivilisation aber im Typus Verfassungsstaat! 99
Zu diesem Verfassungsverständnis P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft,
1982. 3 Häberle
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I. Methoden
7ei7fortschritte seien damit gewiß nicht bestritten (ihre Möglichkeit schafft ein Stück des Ethos "wissenschaftlicher Vorratspolitik" in Sachen Verfassungsstaat): mehr als ein "Wandel", nämlich eine "gute Entwicklung" hat m. E. in der Art und Weise stattgefunden, wie das Privateigentum schon auf Verfassungstextebene differenzierter geworden ist: durch Normierung der Sozialpflichtigkeit wie in Art. 14 Abs. 2 GG, durch Erinnerung an seine "soziale Funktion" wie in Art. 42 Abs. 2 Verf. Italien (1947), auch Art. 33 Abs. 2 Verf. Spanien (1978),100 durch eigentums- und damit grundrechtspolitische Ziele wie in Art. 30 Schweizer Verfassungsentwurf für die Vorbereitung einer Totalrevision der Bundesverfassung (1977).101 Als Teilfortschritt darf ferner die Entwicklung gelten, die die Ausgestaltung des Verhältnisses von Staat und Kirche in den neueren Schweizer Kantonsverfassungen nimmt: i. S. eines Weges vom klassischen Staatskirchenmodell hin zum von Toleranz und Parität, Offenheit und "Neutralität" des Staates bestimmten "Religionsverfassungsrechts". 102 Doch was sich für das Heute als Teilfortschritt erweist, macht die verfassungsrechtliche Lösung (im "Staatskirchenrecht) von "gestern" nicht eo ipso zum "Irrtum" oder gar zum Unrecht: in vielem waren die (z. B. demographischen) Verhältnisse früher anders, z. B. gehörte die überwiegende Mehrheit eines Schweizer Kantons in der Vergangenheit der katholischen oder protestantischen Konfession an, darum erscheint die heute "überholte" Lösung als die damals angemessene. Gewiß, eine "Entwicklung" hat insofern stattgefunden als jetzt für alle religiösen Minderheiten ein Mehr an Freiheit und Toleranz (insgesamt an Pluralismus) schon verfassungstextlich garantiert ist, und hier mag jener Fortschrittsprozeß gelingen, den Popper beobachtet, wenn er im Blick auf England und die Schweiz an die ethisch-politischen Ziele (wie die Toleranz) erinnert, die diese Länder im Wege der demokratischen Reform durchgesetzt haben.103 Dennoch
100 Texte zit. nach P. C. Mayer-Tasch (Hrsg.) (Anm. 28), (Italien) ff. (Spanien). 101
bzw. JöR 29 (1980), S. 252
Diese Textstufenentwicklung ist interpretiert in AöR 109 (1984), S. 36 (38, 71 ff.).
102
Dazu mein Beitrag Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, insbesondere auf kantonaler Ebene, JöR 34 (1985), S, 303 (385 ff.). - Zum "Religionsverfassungsrecht" P. Häberle, Staatskirchenrecht als Religionsrecht der verfaßten Gesellschaft (1976), jetzt in: ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978, S. 325 ff. - Ganz offenbar hat Art. 4 Abs. 2 Verf. BadenWürttemberg (1953), zit. nach Beck-Texte, Verfassungen der deutschen Bundesländer, 3. Aufl. 1988 (Ihre "Bedeutung (sc. der Kirchen und anerkannten Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften) für die Bewahrung und Festigung der religiösen und sittlichen Grundlagen des menschlichen Lebens wird anerkannt") den verfassungsändernden Gesetzgeber von Vorarlberg "inspiriert" (Art. 1 Abs. 1 S. 3: "Die Bedeutung der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgemeinschaften für die Bewahrung und Festigung der religiösen und sittlichen Grundlagen des menschlichen Lebens wird anerkannt" (zit. nach LGB1. 1984, 12. Stück, Nr. 30). Doch steht dieser Artikel an der Grenze dazu, was der religiös "neutrale" Verfassungsstaat hier normieren sollte. 103
Sir Karl Popper, Auf der Suche nach einer besseren Welt, 1984, S. 160 f.
1. Das Textstufen-Paradigma
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sollte eine Verfassungslehre immer zugleich die "Gegenrechnung" aufmachen und fragen können, welches die etwaigen "Kosten" solcher Entwicklungen sind, auf welchen anderen Feldern Defizite auftreten und wo der Typus "Verfassungsstaat" weiter veibesserungsfähig bleibt 104 (etwa im Umweltschutzrecht als Folge des Wirtschaftswachstums). So gesehen sind die Begriffe "Textstufen", "Wachstumsprozesse" und "Verfassungsentwicklung" weit bescheidener und mit Vorbehalten zu verwenden, in dieser Bescheidenheit aber brauchbar. Sie wollen zum Ausdruck bringen, daß, mittelfristig betrachtet, dem Typus "Verfassungsstaat" eine relative Verbesserung seiner Problemlösungen inhaltlich und textlich möglich ist: i. S. eines "gedämpft optimistischen" Menschenbildes105 und eines ihm entsprechenden Wissenschaftsverständnisses. 106 Damit ist keine pauschale Abwertung früherer Perioden oder Wachstumsstufen des Verfassungsstaates verbunden - ihre verfassungsgestaltenden Kräfte waren der Gemeinwohl- und Gerechtigkeitsaufgabe institutionell nicht ohne weiteres "ferner" als die heutige Zeit: alles andere wäre Selbstüberschätzung der Nachgeborenen, also von uns jetzt Lebenden. Doch wird der Weg frei für den einer offenen Gesellschaft zukommenden "bescheidenen" Optimismus: die Verfassungslehre kann und muß darum ringen, im Wege "guter" Verfassungspolitik auch "klassische" Problemlösungen fortzuschreiben, neue Probleme ggf. "neu" zu lösen und all dies in "verbesserter", meist differenzierterer Text-Form zu tun: im Sinne des Geschriebenheitspostulats107 verfassungsstaatlicher Verfassungen, im Dienste der Menschenwürde108 als "Sinn" und "Ziel" der (Verfassungs-)Geschichte. 109 104 So ist zu vermuten, daß die Aktualisierung des Verfahrensgedankens vor allem im Grundrechtsbereich vom Hamburger Deichurteil des BVerfG (E 24, 367 (401 f.)) über den "status activus processualis" (i.S. meines Regensburger Ko-Referates: VVDStRL 30 (1972), S. 43 (86 ff.)) bis zur Mülheim-Kärlich-Entscheidung (BVerfGE 53, 30 bzw. 69) einerseits Ausdruck und Folge des Umstandes ist, daß der Leistungsstaat für die individuelle Freiheit neue Gefahrenzonen geschaffen hat, die früher (d. h. im klassischen Rechtsstaat) so nicht bestanden haben, andererseits sich der Verfassungsstaat deshalb verstärkt auf Verfahren "einlassen" muß, weil der fortschreitende Pluralismus immer weniger Bereiche kennt, in denen von vorneherein inhaltlicher Konsens besteht. 105
Dazu P. Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 1988, S. 38 f., 42 f.
106
Vgl. Κ R. Poppers, "Optimismus" (Anm. 103), S. 160, der darin besteht, daß er die "von ethischen regulativen Prinzipien inspirierte Gesellschaftskritik mancherorts" für erfolgreich hält. Ebd. zu den westlichen Demokratien als offenen Gesellschaften, "die unsere Irrtümer und viele andere Irrtümer toleriert" (S. 162) und als "pluralistische Gesellschaft" den Rahmen bildet für ethische, der Geschichte einen Sinn gebende Zielsetzungen (S. 160 ff.). - Zur Rolle der Wissenschaftsfreiheit in diesen Prozessen mein Beitrag: Die Freiheit der Wissenschaften im Verfassungsstaat, AöR 110 (1985), S. 330 (360 ff.) - hier Nr. 18. 107
Zur Verfassung als "geschriebener Verfassung": Κ Hesse (Anm. 38) S. 14 f.
108
Zur "Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft" mein gleichnamiger Beitrag, in: HdStR Bd. I (1987), S. 815 ff. 109 So meint Karl Popper (Anm. 103) S. 157, daß "wir selbst" der politischen Geschichte einen Sinn geben und ein Ziel setzen können, und zwar einen menschenwürdigen Sinn und ein men-
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I. Methoden
Bei einer Gesamtwürdigung der Schöpfungs- und Rezeptionsprozesse der westlichen Demokratien in den Jahren von 1776/1789 bis 1988 in Sachen verfassungsstaatliche Verfassungstexte läßt sich "schon" jetzt sagen, daß wohl alle Nationen nach und nach ihre spezifischen Textbeiträge zur Stufenentwicklung des Verfassungsstaates als Typus geleistet haben.110 Vielleicht darf man an Goethes Dictum erinnern: "die Geschichte der Wissenschaften ist eine große Fuge, in der die Stimmen der Völker nach und nach zum Vorschein kommen" jetzt auf den Typus "Verfassungsstaat" und die "Stimmen" bzw. "Notentexte" der einzelnen Beispielländer bezogen!
schenwürdiges Ziel. - Auch J. Habermas, Legitimationsprobleme des Spätkapitalismus, 1973, S. 196 beruft sich letztlich (und endlich) auf die "alteuropäische Menschenwürde". - Eine geglückte allgemeine Menschenwürdeklausel jetzt in Art. 1 Abs. 2 Verf. Burgenland von 1981 (zit. nach: Die Burgenländische Verfassung, 1981): "Burgenland gründet auf der Freiheit und Würde des Menschen; es schützt die Entfaltung der Bürger in einer gerechten Gesellschaft". - Ein Element des Menschenwürdebegriffs greift etwa Art. 26 Abs. 1 Verf. Portugal ν on 1976/82 eindruckvoll in den Worten heraus: "Das Recht eines Jeden auf die Identität der Person ... wird anerkannt". 110
In Stichworten formuliert: die USA steuerten Verfassungstexte zu Grundrechten, Gewaltenteilung und Förderalismus bei (seit 1776), Frankräch zu Volkssouveränität, Gewaltenteilung, Demokratie, Grundrechten (in den Etappen: 1789/1791/1793/1848), Belgien zu den Grundrechten (1831), Deutschland zu Grundrechten (1848/1919/1949), Föderalismus (seit 1848), Verfassungsgerichtsbarkeit (1949), und (nach dem Vorbild von Art. 148 WRV) in den Ländern nach 1945 zu Erziehungszielen, Italien zu den sozialen Grundrechten (1947), die Schweiz zur Referendumsdemokratie (1874 ff.), Großbritannien zur parlamentarischen Demokratie (meist ungeschrieben), die iberischen Länder Portugal und Spanien (seit 1976 bzw. 1978) zum Wirtschafts- und Kulturverfassungsrecht, zur Präambelkultur sowie Pluralismus-Artikeln, die Niederlande zu Staatsaufgaben (1983); andere Länder wie Schweden oder Österreich leisteten Beiträge zur Textentwicklung des Typus Verfassungsstaat auf spezielleren Feldern (wie "Ombudsmann" und Volksanwaltschaft), Griechenland zur Verfassungsänderung (Art. 110 Abs. 2 bis 6 Verf. von 1975, zit. nach JöR 32 (1983), S. 360 ff.).
2. Grundrechtsgeltung und Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat - Zugleich z u r Rechtsvergleichung als "fünfter" Auslegungsmethode
"
I . Grundrechtsgeltung i m Verfassungsstaat
Vorbemerkung: Den beiden Problembereichen des Themas sei zunächst gesondert nachgegangen: der Grundrechtsge/iwng und der Grundrcchtsinterpretation. Schritt für Schritt wird sich aber zeigen, daß sie intensiv aufeinander verweisen. Die Überlegungen gehen vom deutschen Grundgesetz aus, ordnen es aber in den Gesamtrahmen des Typus "Verfassungsstaat" ein. Grundrechtstexte, -dogmatik und -rechtsprechung entwickeln sich heute in seinem Kraftund Spannungsfeld: insofern wird unser Thema als Ausschnitt der Verfassungslehre, nicht etwa nur der GG-Wissenschaft behandelt. Da die Grundrechte zum Kern des Typus "Verfassungsstaat" gehören, muß die Lehre entsprechend tief und breit ansetzen: im Rahmen einer als juristische Text- und Kulturwissenschaft gewagten, d.h. auch vergleichend arbeitenden Verfassungslehre 1.
1. Textliche Geltungsnormen, richterliche u n d wissenschaftliche Geltungspostulate i m R a h m e n des deutschen Grundgesetzes (Bestandsaufnahme)
Es läge nahe, den "Einstieg" in unser Thema mit allgemeinen rechtsphilosophischen, rechtssoziologischen und rechtstheoretischen Überlegungen zur "Geltung" von Rechtsnormen zu versuchen1". So sehr es letztlich gelingen muß, •
JZ 1989, S. 913 ff.
** Vortrag, den der Verf. im Rahmen der 8. Tagung für Rechtsvergleichung in Madrid am 5. Mai 1989 im dortigen Senat gehalten hat. 1 Zu diesem Konzept: P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1982; ders., Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, JöR 34 (1985), S. 303 ff. (Die folgenden Schweizer Texte sind hiernach zitiert.); ders., Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 1988. la Zur "Geltung des Rechts" G. Radbruch, Rechtsphilosophie, 8. Aufl. 1973, S. 170 ff. Zum philosophischen bzw. rechtlichen Begriff von "Geltung" H. Krings / U. Kindhäuser, Artikel Geltung, Staatslexikon 2. Bd., 7. Aufl. 1986, Sp. 809 ff.
28
I. Methoden
die Lehre vom Verfassungsstaat mit den klassischen Themen der Rechts- und Staatsphilosophie zusammenzuführen, im folgenden sei anders begonnen: im Rahmen eines Verständnisses der Grundrechtslthrt als juristischer Text- und Kulturwissenschaft seien zuerst die einschlägigen Verfassungstexte in Sachen Grundrechte und Grundrechtsgeltung ernst genommen und aufgeschlüsselt. Schon die Verfassungstexte enthalten präzise Aussagen zum Thema "Grundrechtsgeltung": Art. 1 Abs. 3 GG bestimmt: "Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht". Art. 19 Abs. 3 GG lautet: "Die Grundrechte gelten auch für inländische juristische Personen, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind". Art. 3 Verf. Peru (1979) hat diesen Satz fast wörtlich rezipiert 2. § 7 KV Aargau von 19803 denkt und spricht ebenfalls in der Kategorie des Geltungsbegriffs: " § 7 1 . Geltung 1 Die Grundrechte binden alle öffentliche Gewalt. 2 Soweit sie ihrem Wesen nach dazu geeignet sind, verpflichten sie Privatpersonen untereinander."
Damit ist das Problem der "Drittwirkung" der Grundrechte als Geltungsproblem "getextet". Die Textstufenentwicklung der Grundrechtsgeltung verfeinert sich in zwei Formen: zum einen als Grundrechtsbindung - hier entwickeln sich feine Differenzierungen von der Textvariante in Art. 18 Abs. 1 Verf. Portugal ("finden unmittelbar Anwendung und binden die öffentlich-rechtlichen und privat-rechtlichen Einrichtungen") über die griechische Version nach Art 25 Abs. 1 Griechenland ("alle Staatsorgane sind verpflichtet, deren ungehinderte Ausübung sicherzustellen")4 bis zu der geglückten Klausel in Art. 53 Abs. 1 S. 3 Verf. Spanien, die die Bindungsklausel von Satz 1 in den Worten ergänzt: "Nur durch ein Gesetz, das in jedem Fall ihren Wesensgehalt achten muß, kann ihre Ausübung geregelt werden". Zum anderen kommt es zur Gestalt allgemeiner oder spezieller Grundrechtsverwirklichungsklauseln 5. Erinnert sei an Art. 3 S. 2 Verf. Italien (1947): "Es ist Aufgabe der Republik, die Hindernisse wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Art zu beseitigen, die die Freiheit und Gleichheit der Bürger tatsächlich einschränken, und die volle
2
Zit. nach JöR 36 (1987), S. 641 ff.
3
Zit. nach JöR 34 (1985), S. 437 ff.
4
Zit. nach JöR 32 (1983), S. 441 ff. (Portugal), S. 766 (Griechenland).
5
Dazu C. Starcky
(481).
Europas Grundrechte im neuesten Gewand, FS H. Huber, 1981, S. 367
2. Rechtsvergleichung als "fünfte" Auslegungsmethode
29
Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und die wirksame Teilnahme aller Arbeitenden an der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Gestaltung des Landes verhindern";
vor allem aber an den vorbildlichen Art. 9 Abs. 2 Verf. Spanien6. Einige Schweizer Kantonsverfassungen der jüngsten Entwicklungsstufe verwenden schon in ihren Texten den Begriff "Verwirklichung der Grundrechte"7. Auf spezielle Grundrechtsverwirklichungsartikel (z.B. Art. 67 Abs. 1 Verf. Portugal) sei verwiesen8. Ein Geltungsproblem ist schließlich in Art 87 Abs. 1 Verf. Peru (1979) gelöst: "Die Verfassung geht jeder anderen Rechtsnorm vor. Das Gesetz geht jeder anderen Norm niedrigeren Ranges vor, und so weiter, je nach Stellung in der Normenhierarchie" 9. Die Grundrechts*fogmai/£ erhebt spezifisch erweiterte Geltungspostulate in Gestalt der "Drittwirkung der Grundrechte" (H.P. Ipsen), der "Fiskalgeltung der Grundrechte" 10, auch im Blick auf die Sonderstatusverhältnisse11; neuere Verfassungstexte, vor allem in der Schweiz, gehen dem parallel12. Übergreifend wurde 1971 das Postulat von der "grundrechtssichernden Geltungsfortbildung"
6 "Der öffentlichen Gewalt obliegt es, die Bedingungen dafür zu schaffen, daß Freiheit und Gleichheit des einzelnen und der Gruppen, denen er angehört, real und wirksam sind..." (zit. nach JöR 29 [1980], S. 252 ff.). 7 Vgl. § 14 KV Basel-Landschaft von 1984: "§ 14 Verwirklichung der Grundrechte. 1 Die Grundrechte müssen in der ganzen Rechtsordnung zur Geltung kommen. 2 Wer Grundrechte ausübt, hat die Grundrechte anderer zu achten. 3 Niemand darf Grundrechte durch Mißbrauch seiner Machtstellung beeinträchtigen". - Dies ist der Text, in den viele Leistungen der Wissenschaft und Rechtsprechung eingegangen sind! - S. auch Art. 15 KV Uri von 1984: "Verwirklichung der Grundrechte. Grundrechte verpflichten alle Organe des Kantons, der Gemeinden und der übrigen öffentlich-rechtlichen Körperschaften und Anstalten." - Art. 23 K V Solothurn (1985) lautet: "Geltungsbereich und Verwirklichung. 1 Die Grundrechte gelten für alle Personen. Für juristische Personen gelten sie, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind. 2 Die Gnindrechte müssen in der ganzen Rechtsordnung zur Geltung kommen". - BundesVE Schweiz 1977: Art. 24: "Die Grundrechte müssen in der ganzen Gesetzgebung, besonders auch in Organisations- und Verfahrensvorschriften zur Geltung kommen." 8 Recht der Familie "auf die Verwirklichung aller Bedingungen für die Persönlichkeitsentfaltung aller Familienangehörigen". - S. auch Art. 28 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der U N (1948): "Jeder Mensch hat Anspruch auf eine soziale und internationale Ordnung, in welcher die in der vorliegenden Erklärung angeführten Rechte und Freiheiten voll verwirklicht werden können". 9 S. auch die Vorrangklausel für Menschenrechte im Verhältnis internationales / nationales Recht in Art. 46 Verf. Guatemala (zit. nach JöR 36 [1987], S. 555 ff.). 10 Dazu K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der BR Deutschland, 16. Aufl. 1988, S. 140 ff. bzw. S. 138 ff. 11 12
Dazu K. Hesse, ebd., S. 129 ff. und BVerfGE
33,1 (11), E 58,358 (366 f.).
Vgl. § 8 Abs. 2 K V Aargau; § 15 K V Basel-Landschaft; Art. 14 Abs. 3 K V Uri; BundesVE Schweiz (1977), Art. 23 Abs. 3, zit. nach JöR 34 (1985), S. 437 ff.
30
I. Methoden
formuliert, das aller Grundrechtsdogmatik, -prätorik und "Grundrechtspolitik" vorausliege13. Das schon klassische Geltungspostulat ist vom BVerfG unter Rückgriff auf ein R. Thoma- Zitat formuliert worden (E 6,55 [72]): "Aufgabe der Verfassungsrechtsprechung ist es, die verschiedenen Funktionen einer Verfassungsnorm, insbesondere eines Grundrechts zu erschließen. Dabei ist derjenigen Auslegung der Vorzug zu geben, die die juristische Wirkungskraft der betreffenden Norm am stärksten entfaltet (Thoma)".
Und die Lehre von der "Ausstrahlungswirkung" der Grundrechte etwa auf das bürgerliche Recht (BVerjGE 7,198 [207]) gehört ebenfalls hierher 14. Im Grunde war schon G. Jellineks klassische Staatslehre der Beginn der Entwicklung, die Grundrechte juristisch ernst zu nehmen. Die modernen Lehren von der "Grundrechtseffektivierung", "Grundrechtsoptimierung" sind "nur" Fortschreibungen dieses Ansatzes. Und zum geflügelten Wort wurde im Deutschland des GG der Satz: Grundrechte gelten nicht mehr "nach Maßgabe der Gesetze", sondern umgekehrt "Gesetze nach Maßgabe der Grundrechte". Faßt man all diese Teilaussagen zur Geltung von Grundrechten zusammen, so ergibt sich für das GG folgendes Bild: Die "Fiskalgeltung", die Geltung der Grundrechte in Sonderstatusverhältnissen und ihre (mittelbare) "Drittwirkung" dehnen die Grundrechtsgeltung insofern aus, als sie neben dem hoheitlichen Staat bzw. der öffentlichen Gewalt andere Adressaten (den Staat als Privatrechtssubjekt, als "Herr" von Sonderstatus und die Privaten) in die "Grundrechtspflicht" nehmen. Dieser Erweiterung des Adressatenkreises der Bindung an die Grundrechte geht eine Intensivierung der Bindung (von der bloßen Programmatik bis zur unmittelbaren Bindung) und eine Differenzierung der Schutzrichtungen ("multifunktionale Geltungsebenen") voraus bzw. parallel, vor allem aber die Entwicklung zur "Staatsaufgabe Grundrechte" - das zeigen auch die neuen Grundrechtsverwirklichungsklauseln. Eine weitere "Verallgemeinerung" der Grundrechtsidee findet sich in den Artikeln, die wie Art. 19 Abs. 3 GG oder Art. 3 Verf. Peru auch inländischen juristischen Personen Grundrechtsträgerschaft zuerkennen. Die vielfältigen Bemühungen zur Verstärkung der "juristischen Wirkkraft" der Grundrechte und die Verfeinerung der diesem Ziel dienenden Instrumente von der Erschließung neuer Schutzdimensionen, etwa der objektiven und lei13 P. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, W D S t R L 30 (1972), S. 43 (69 ff.), wieder abgedruckt in ders., Die Verfassung des Pluralismus, 1980, S. 163 (177 ff.). 14
Vgl. auch BVerfG 7, 198 (205): In der Aufrichtung einer "objektiven Wertordnung" im Grundrechtsabschnitt kommt eine "prinzipielle Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte" zum Ausdruck.
2. Rechtsvergleichung als "fünfte" Auslegungsmethode
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stungsstaatlichen, bis zum Postulat der Grundrechtseffektivierung durch Organisation und Verfahren, Interpretation und Politik15 gehören in das Gesamtbild. Es handelt sich um eine beispielhafte Gemeinschaftsarbeit von Verfassungsrechtsprechung, mitunter "vorpreschender" und oft auch "nacharbeitender Dogmatik. Beides spiegelt sich z.T. schon in der neueren "Textstufenentwicklung". Die Verfassunggeber greifen Gedanken der Wissenschaft und Rechtsprechung auf und gießen sie in Texte um: zur Verstärkung der Wirkkraft der Grundrechte. 2. Grundrechtsgeltung in kulturwissenschaftlicher Sicht
Wie gezeigt, haben Texte, Wissenschaft und (Verfassungs-)Rechtsprechung in ihren (je eigenen) Verfahren, Methoden und Funktionen unter dem GG viel geleistet, um Grundrechte wirklich werden zu lassen. Das Wort von der "grundrechtssichernden Geltungsfortbildung" (1971) wird Tag für Tag "vielseitig" eingelöst. Die "Entwicklungsgeschichte" der Grundrechte ist in einem Verfassungsstaat wie dem vom GG konstituierten die Geschichte einer fortschreitenden Intensivierung und Extensivierung ihrer Geltung! Grundrechte haben sich "verallgemeinert". Ihre Bindungswirkung steigerte sich von der bloßen Deklamation und Programmatik klassischer Garantien über die unmittelbare Bindung bis zu Verwirklichungsklauseln, die über das Instrument der Staatsaufgaben ("Grundrechtsaufgaben"), über die Entfaltung neuer Grundrechtsdimensionen (von der individuellen über die objektivrechtlich-institutionelle bis zur sozial- bzw. leistungsstaatlichen, prozessualen und Schutzpflichtendimension) eingelöst werden. Hinzu kommt die "mittelbare Drittwirkung" der Grundrechte, d.h. ihre Geltung auch für Private als Adressaten, ihre "Fiskalgeltung" und ihre Geltung im Sonderstatus. Reale Grundrechtsgeltung für alle Bürger ist an die Stelle klassischer, eher formaler Geltung der "Bürgerlichen Rechte" getreten. Neue Grundrechte wie "soziale und kulturelle Grundrechte", in vielen Verfassungs- und internationalen Menschenrechtstexten normiert, verdanken sich letztlich diesem "Impuls" 16, in Zukunft wohl auch die "Rechte der Dritten Generation". 15 Aus der Rspr. des BVerfG: E 6, 55 und E 76,1 (49): Art. 6 Abs.l GG: Ehe und Familie als "klassisches Grundrecht", "Institutsgarantie" und "wertentscheidende Grundsatznorm". - £ 6 6 , 116 (133): Pressefreiheit als subjektives Recht und objektiver Schutz der "institutionellen Eigenständigkeit" der Presse. - E 39, 1 (41 f.): aus objektiver Wertordnung der Grundrechte folgt Schutzpflicht für das werdende Leben. - E 53, 30 (65): effektiver Grundrechtsschutz durch Verfahren. Umfass. Nw. bei K. Stern, Das Staatsrecht der BR Deutschland, Bd. III 1 (1988), bes. S. 890 ff., 931 ff., 953 ff. 16 Vgl. BVerfGE 7, 198 (205): "Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung empfangen von ihm (sc. dem Wertsystem des Grundrechtsabschnitts) Richtlinien und Impulse".
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I. Methoden
Eine zusätzliche Wirkungsebene öffnet sich dort, wo der Verfassungsstaat Grundrechte "als Erziehungsziele" schützt. Schon deutsche Länderverfassungen nach 1945 hatten Grundrechte als Erziehungsziele gewagt17 - so normiert Art. 131 Abs. 2 Verf. Bayern (1946) "Achtung vor religiöser Überzeugung und vor der Würde des Menschen" als "oberstes Bildungsziel", Art. 26 Verf. Bremen (1947) formuliert die "Duldsamkeit gegenüber den Meinungen anderer" und Art. 7 Abs. 2 Verf. Nordrhein-Westfalen (1950) spricht von Erziehung "im Geiste der Menschlichkeit, der Demokratie und der Freiheit". Tiefer gedacht (i.S. "pädagogischer Grundrechtsinterpretation") verbirgt sich aber auch hinter so juristischen Prinzipien wie Art. 2 Abs. 1 GG ("Rechte anderer" als Grenze der Persönlichkeitsentfaltung) ein Eiziehungsziel: das der "Toleranz". Neuere Verfassungen bauen diese "andere" - pädagogische - Seite der Grundrechte ebenso konsequent wie meist unbeachtet aus: Grundrechte als Erziehungsziele, dem "soft law" des Völkerrechts vergleichbar. So verlangt Art. 22 Abs. 2 Verf. Peru (1979): "Der Unterricht über die Verfassung und die Menschenrechte ist in den zivilen und militärischen Bildungseinrichtungen und in allen Stufen obligatorisch", und Art. 72 Abs. 2 Verf. Guatemala (1985) sagt: "Der Staat hat ein nationales Interesse an der Erziehung, der Ausbildung und der systematischen Einführung in die Verfassung des Staats und die Menschenrechte". Schon Art. 26 Ziff. 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN (1948) verlangt: "Die Ausbildung soll die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und die Stärkung der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten zum Ziele haben". Vergegenwärtigt man sich all diese (sich gegenseitig verstärkenden) Geltungsebenen und Wirkweisen der Grundrechte, von der "juristischen" bis zur "pädagogischen" und innerhalb der juristischen die verschiedenen Schutzrichtungen bzw. Dimensionen, auch Adressaten, so entsteht ein eindrucksvolles Gesamtbild der "Allgegenwart" der Grundrechte im Verfassungsstaat. Es rundet und verstärkt sich durch den internationalen Wirkungszusammenhang der Grundrechte auf Text-, Wissenschafts- und Rechtsprechungsebene: die "Internationale" oder "Familie" der Verfassungsstaaten in Sachen Grundrechte! Die Grundrechte gewinnen heute intern und international - neben dem Demokratieprinzip - eine faszinierende "Universalität". Das Wort vom Verfassungsstaat als "Grundrechtsstaat" und von der offenen Gesellschaft als "Grundrechtsgesellschaft" scheint nicht übertrieben. Diese "Universalität", "Allgegenwart" und "Internationalität" der Grundrechte als Idee und Gerechtigkeitselemente, aber auch der einzelnen Grund17 Dazu P. Häberle, Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1981; ders., Verfassungsprinzipien als Erziehungsziele, FS Huber, 1981, S. 211 ff. - hier Nr. 14.
2. Rechtsvergleichung als "fünfte" Auslegungsmethode
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rechtsgarantien als Essentiale des Typus "Verfassungsstaat" erlauben einen weiteren Schritt: Grundrechte im Verfassungsstaat können mit dem herkömmlichen Geltungsbegùìfy sei er juristisch oder soziologisch konzipiert, nicht mehr zureichend erfaßt werden. Erforderlich wird der Begriff der "Grundrechtskultur" 18. Nur er vermag die Fülle anzudeuten, aus der und in der Grundrechte im entwickelten Verfassungsstaat "gelten". Grundrechtskultur ist ein Kernbereich des als juristische Text- und Kulturwissenschaft begriffenen Verfassungsstaates. Er bezieht das Verhalten der an der Grundrechtswirklichkeit "beteiligten" Bürger und Gruppen ebenso ein wie die grundrechtsgebundenen Erscheinungsformen der öffentlichen Gewalt und die "Dritten". Er bündelt die Errungenschaften der Wissenschaft und Rechtsprechung "in Sachen Grundrechte" und er vermag auch die "andere" Seite, die Wirkung "als" Erziehungsziel für junge Menschen, einzufangen. Schließlich kann der Begriff "Grundrechtskultur" Defizite beim Namen nennen: etwa dort, wo wie in Deutschland die Presse bzw. öffentliche Meinung Grundrechte mißachtet: bei der publizistischen Vorverurteilung entgegen der rechtsstaatlichen Unschuldsvermutung (vgl. Art. 6 Abs. 2 EMRK) 19 oder beim Einbruch der Medien in den Persönlichkeitsbereich des toten Ministerpräsidenten U. Bar schei in einem Genfer Hotel (1987). Optimale Grundrechtssicherung (und "grundrechtssichernde Geltungsfortbildung") geschieht heute nicht allein durch ausgefeilte GrundrtchtsdogmatiJc. Ja man mag fragen, ob nicht die hochdifferenzierte Grundrechtsdogmatik seit 1949 zum Teil Ausdruck fehlender politischer Kultur und Demokratiedefizite in Deutschland ist, so unentbehrlich sie war und ist. Was Frankreich ohne deutschen Grundrechtsperfektionismus, vor allem über die von den Präambeln seiner Verfassungen wieder aufgenommenen republikanischen "Traditionen" und "Tugenden" schafft und erhält, nämlich politische Grundrechtskultur und Grundrechtswirklichkeit, das sucht die BR Deutschland mühsam genug primär über Grundrechtsdogmatiken zu sichern. In Frankreich konnte ein de Gaulle in bezug auf den vor der Verhaftung stehenden Sartre sagen "Einen Voltaire verhaftet man nicht!"20, in Frankreich durfte ein Chomeini, obwohl im Status des Asyls, politische Freiheiten in Anspruch nehmen wie wohl nirgends - trotz bescheidenerer Grundrechtsdogmatiken. Das sind Beispiele "grundrechtskultureller Breitenwirkung" im Grundrechtsalltag. Hier so wenig wie sonst läßt sich politische Kultur nur von der Elite her begreifen.
18
Dazu wohl erstmals P. Häberle, Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 88 f.
19
Vgl. BVerfG E 19,342 (347); 35, 202 (232), 311 (320).
20
Grundrechtskultur muß freilich auch gerade dann Sicherungen bereithalten, wenn de Gaulle das Gegenteil gesagt hätte. Zum ganzen meine Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 88 f.
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I. Methoden
Grundrechtssicherung ist das Werk einer Vielzahl von staatlichen, öffentlichen und privaten Faktoren, die untereinander verbunden sind: neben die Grundrechtssicherung durch die staatlichen Funktionen, auch die (Selbst-) Verwaltung (!), treten die Wissenschaft und ihre Dogmatiken, treten öffentliche Meinung, Parteien und Gruppen, das Engagement der Bürger, ihre Einstellungen und Werthaltungen in bezug auf die Grundrechte, kurz ein Ensemble, das die "politische Kultur" eines Volkes bildet, nicht zuletzt seine künstlerische ambiance. (Man denke auch an die von der Dogmatik zu Art 5 Abs. 3 GG "nachgeholte" Erweiterung des Kunstbegriffs in den 60er Jahren, z.B. J. Beuys; vgl. noch BVerfGE 67,213 [225]). Im ganzen müssen die einzelnen Faktoren in ihrem Auftrag der arbeitsteiligen Grundrechtssicherung (und -fortbildung) gemeinsam, flexibel und ausgewogen tätig sein; nur zeitlich begrenzt ist es möglich, daß z.B. wie in den bundesdeutschen 50er Jahren die Grundrechtsdogmatik und damit die Wissenschaft Vorreiter ist. Heute müßte Grundrechtskultur zum GG im politischen Gemeinwesen im Ganzen "nachgewachsen" sein; müßte die pluralistische Öffentlichkeit, müßten Presse und Parteien, Verbände und öffentliche Meinung effektive Aufgaben ständiger Grundrechtssicherung auf ihre Weise übernommen haben. "Grundrechtskultur", der Versuch die Grundrechte als integrierenden Teil der Verfassungskultur eines Volkes auszuweisen, legt den Abschied von der allzu vertrauten Rechtsquellenlehre nahe: Inhalte, Funktionen, Dimensionen der Grundrechte sind nichts Fertig-Vorhandenes, aus dem "geschöpft" werden könnte. Sie "werden" und entwickeln sich in offenen Gesellschaften in processu, in den Verfahren der Interpretation. Grundrechte "gelten" nicht einfach, sie verwirklichen sich erst im Wege der Interpretation. "Grundrechtsgeltung" ist nicht die automatische Konsequenz einer abstrakten Geltungsanordnung oder Bindungswirkung eines Textes; sie ist das komplizierte, auch gefährdete Resultat vielgliedriger Interpretationsprozesse zahlreicher Beteiligter: der Bindungsadressaten und der GrundTzchtsberechtigten, letztlich der ganzen Res Publica als Grundrechtskultur. Grundrechte gelten nicht nur juristisch. Der "rein juristische" Ansatz ist durchweg zu eng, er ist ins Kulturelle zu weiten. Zu suchen ist nach einem interpretationsgebundenen Geltungsbegriff bzw. einem geltungsorientierten Interpretationsverständnis. Das unternimmt der folgende Teil II.
2. Rechtsvergleichung als "fünfte" Auslegungsmethode
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II. Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat Grundrechtsinterpretation ist Teil der Verfassungsinterpretation21, doch sie hat ihre Besonderheiten. Sie seien im folgenden skizziert
1. " Offene Grundrechts interpretation "
Grundrechte sind zunächst nach Maßgabe der seit F.C. v. Savigny "klassischen" Auslegungsmethoden zu interpretieren: d.h. nach Wortlaut, Systematik, Geschichte und telos bzw. ratio. Genauer betrachtet stehen indes die drei erstgenannten Auslegungsmethoden im Dienste der teleologischen; im übrigen gibt es weder eine Reihen-, noch eine Rangfolge. Schon diese "Offenheit" im Rahmen der klassischen Auslegungsmethoden erlaubt es, von "offener Verfassungsinterpretation" in Sachen Grundrechte zu sprechen; vor allem erweist sich die viel gehörte These vom Wortlaut bzw. Text als "Grenze" der Auslegung als fragwürdig. Sie wird m.E. durch die Praxis nicht bestätigt.
Spezifische Dynamik und Offenheit wird dem Prozeß der Grundrechtsinterpretation bzw. dem "Methodenpluralismus" durch das Postulat von der gerechErgebniskonXxoWt vermittelt. Der Grundtigkeits- bzw. vernunftorientierten rechtsinterpret soll sich auch am "gerechten", "vernünftigen" Ergebnis orientieren. Das scheint sehr allgemein, läßt sich aber durch einige längst bekannte Momente verdeutlichen: in Gestalt der Diskussion um die Folgenwtrantwortung. Grundrechtsgarantien entwickeln sich im Kraft- und Spannungsfeld der pluralistischen Öffentlichkeit. Offen und verstecktfließen bei der sensiblen Interpretation konstitutionelle Gemeinwohlaspekte ein (Stichwort: "Verfassungsinterpretation als Gemeinwohlkonkretisierung und Öffentlichkeitsaktualisierung") 22. Der "erfahrene" Richter arbeitet betont auch vom Ergebnis her, bekannt als "Judiz", das seinerseits geschult ist durch das "Training" in den Auslegungskanones und ihrer disziplinierenden Kraft. All das muß möglichst rational gesehen und offengelegt werden. Vergegenwärtigt man sich die Interpretationsgeschichte vieler Grundrechte in und aus der Hand des prätorischen BVerfG seit 1951, so ist evident, wie 21
Zum Diskussionsstand in Sachen Verfassungsinterpretation: R. Dreier ! F. Schwegmann (Hrsg.), Probleme der Verfassungsinterpretation, 1976; K. Hesse, Grundzüge, S. 19 ff.; P. Häberle, Verfassungsinterpretation und Verfassunggebung, in: ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978, S. 182 ff.; K. Stern, Staatsrecht, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 123 ff.; P. Badura, Staatsrecht, 1986, S. 14 ff. 22 Dazu meine Freiburger Habilitationsschrift öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, passim, bes. S. 716 ff.
36
I. Methoden
schöpferisch diese dank richterlicher Offenheit und Sensibilität ist. Die Entwicklungsgeschichte der deutschen Grundrechte ist jedenfalls nicht das Ergebnis ausschließlicher Anwendung der klassischen Ausleg^ngsmethoden auf einen "vorgegebenen" Text!
2. Grundrechtsvergleichung als "fünfte" Auslegungsmethode im Verfassungsstaat: der Weg von F. C. von Savigny zum heutigen Verfassungsstaat
Wie immer man über die Reihenfolge der herkömmlichen Auslegungsmethoden denken mag, im Verfassungsstaat unserer Entwicklungsstufe wird die GmndrcchXsvergleichung zur unverzichtbaren - "fünften" - Auslegungsmethode. Bekanntlich normiert das GG keine Auslegungsregeln. Doch ist zu erwägen, ob § 1 ZGB der Schweiz von 1911, die große Leistung von Eugen Huber (z.T. im Geiste von Aristoteles), in der Sache sich nicht auf die Verfassungsbzw. Grundrechtsinterpretation übertragen läßt23. Jedenfalls sollte die Rechtsvergleichung entschieden und offen in die Grundrechtsauslegung eingebaut werden. Das deutsche BVerfG arbeitet vereinzelt durchaus in dieser Richtung24. Zwei Gründe ermutigen zu dieser Forderung: Zum einen die Lehre und Praxis des EuGH in Luxemburg zu den in "wertender Rechtsvergleichung" gewonnenen Grundrechten als "allgemeinen Rechtsgrundsätzen"25; zum anderen gibt es einige neuere Verfassungen, die bei bzw. in ihren Grundrechtsgarantien schon ausdrücklich auf große Grundrechtstexte verweisen. Art. 10 Abs. 2 Verf. Spanien lautet: "Die Normen, die sich auf die in der Verfassung anerkannten Grundrechte und Grundfreiheiten beziehen, sind in Übereinstimmung mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und den von Spanien ratifizierten internationalen Verträgen und Abkommen über diese Materien auszulegen"26. Wenn in der Schweiz die EMRK dank VerfassungszVi23 Dazu meine Studie Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, JöR 34 (1985), S. 303 (350 f.); § 1 ZGB lautet: "Das Gesetz findet auf alle Rechtsfragen Anwendung, für die es nach Wortlaut oder Auslegung eine Bestimmung enthält. Kann dem Gesetz keine Vorschrift entnommen werden, so soll der Richter nach Gewohnheitsrechts und, wo auch ein solches fehlt, nach der Regel entscheiden, die er als Gesetzgeber aufstellen würde. Er folgt dabei bewährter Lehre und Überlieferung." 24
Nachweise in P. Häberle, Wesensgehaltgarantie, 3. Aufl. 1983, S. 408 f.
25
Dazu A. Bleckmann, Europarecht, 4. Aufl., 1985, S. 104 ff.
26 S. auch Art. 16 Abs. 2 Verf. Portugal; ferner Präambel KV Jura (1977), zit. nach JöR 34 (1985), S. 425 ff.: "Le peuple jurassien s'inspire de la Déclaration des droits de l'homme de 1789, de la Déclaration universelle des Nations unies proclamée en 1948 et de la Convention européenne des droits de l'homme de 1950."
2. Rechtsvergleichung als "fünfte" Auslegungsmethode
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terprètation (!) Verfassungsrang hat27, so ist dies ein Zeichen der Integration von Verfassungsstaat und Menschenrechten« Was in diesen Texten ausdrücklich angeordnet wird, darf allgemeine Geltung beanspruchen: In der "Internationale des Verfassungsstaates", in der "Familie" der Verfassungsstaaten hat der Grundrechtsinterpret immer auch die universalen und regionalen Menschenrechtstexte "mitzudenken". Die Öffnung der Grundrechtsinhalte und -dimensionen "nach außen" liegt in der Konsequenz der Entwicklung zum "kooperativen Verfassungsstaat" 28. Es entsteht eine "Grundrechtsinterpretengemeinschaft". Oder: Die offene Gesellschaft der Grundrechtsinterpreten wird international, differenziert auch nach regionalen Menschenrechtspakten (z.B. der EMRK und der EG) und kultureller Zusammengehörigkeit, etwa im europäischen oder lateinamerikanischen, auch afrikanischen Raum. Der universale Anspruch der UN wirkt auch in Sachen Grundrechte (Allgemeine Erklärung von 1948, Pakte von 1966). Die jüngste Ausrichtung östlicher bzw. sozialistischer Staaten an den Grundrechtsgarantien des Typus Verfassungsstaat ermutigt (man denke an die neue oder alte öffentliche Vereinsfreiheit in Polen und Ungarn, andere wieder erstarkende politische Grundrechte von der Demonstrationsfreiheit bis zu Vorformen von "realen", d.h. Alternativen kennenden Wahlrechten). Die "Kanonisierung" der Rechtsvergleichung als "fünfter" Auslegungsmethode, jedenfalls im Verfassungsrecht des Typus "Verfassungsstaat", wäre in der Geschichte der juristischen Auslegungslehren m.E. nur konsequent Im "System" F.C. Savignys als Begründer der "historischen Rechtsschule" mußte naturgemäß die historische Auslegung einen vorderen Platz einnehmen29. Im 27 Dazu J.P. Müller, Elemente einer Schweizer Grundrechtstheorie, 1982, S. 177. - Bemerkenswert auch Art. 46 Verf. Guatemala (1985): "Es gilt das generelle Prinzip, daß auf dem Gebiet der Menschenrechte internationale Verträge und Konventionen, soweit sie durch Guatemala ratifiziert worden sind, Vorrang vor dem nationalen Recht haben" (zit. nach JöR 36 (1987), S. 555 ff.). 28 29
Dazu P. Häberle, in: ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978, S. 407 ff.
So viel zitiert Savignys Methodenlehre ist, so selten wird unmittelbar auf den "locus classicus" zurückgegangen. In seinem "System des heutigen römischen Rechts", 1. Band, 1840 (Neudruck 1981) heißt es (S. 213 ff.): "So müssen wir in ihr (sc. der Auslegung) Vier Elemente unterscheiden: ein grammatisches, logisches, historisches und systematisches. Das grammatische Element der Auslegung hat zum Gegenstand das Wort, welches den Übergang aus dem Denken des Gesetzgebers in unser Denken vermittelt... Das logische Element geht auf die Gliederung des Gedankens ... Das historische Element hat zum Gegenstand den zur Zeit des gegebenen Gesetzes für das vorliegende Rechtsverhältnis durch Rechtsregeln bestimmten Zustand. Das systematische Element endlich bezieht sich auf den inneren Zusammenhang, welcher alle Rechtsinstitute und Rechtsregeln zu einer großen Einheit verknüpft... Mit diesen vier Elementen ist die Einsicht in den Inhalt des Gesetzes vollendet. Es sind also nicht vier Arten der Auslegung, unter denen man nach Geschmack und Belieben wählen könnte, sondern es sind verschiedene Thätigkeiten, die vereinigt wirken müssen, wenn die Auslegung gelingen soll". Im folgenden § 35 (S. 216 ff.) beschäftigt sich Savigny mit dem "Grund des Gesetzes", der "ratio legis". Hier fallen auch die Worte "Zweck" oder
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I. Methoden
Rahmen einer Lehre vom Typus "Verfassungsstaat" kommt jetzt der Verfassungsvergleichung ein "parallel" bedeutsamer Platz zu. Aus der historischen Dimension folgt - weiter gedacht - hier und heute die Vergleichung in der zeitgenössischen Dimension: die "konstitutionelle Komparatistik". Jedenfalls ist die Verfassungsvcrgleichung der Weg, auf dem die einzelnen Beispielsverfassungen untereinander aktuell "kommunizieren". Die prägende Kraft des einen Typus "Verfassungsstaat" macht sich so höchst folgenreich geltend. Mochte der "historischen Rechtsschule" die historische Auslegung als wichtige, wenn nicht "erste" klassische Methode erscheinen: in der verfassungsstaatlichen Auslegungslehre von heute muß die rechtsvergleichende Methode mindestens einen "fünften", wenn nicht vorderen Platz einnehmen, jedenfalls tendenziell. Erst später mag die Zeit reif sein, um der Verfassungsvergleichung einen präziseren Stellenwert im "Kanon" der Auslegungsmethoden zuzusprechen dann nämlich, wenn die wissenschaftliche Arbeit an den Konturen des Typus "Verfassungsstaat" insgesamt weiter gediehen ist und das gemein-europäischatlantische Erbe, das sich im Verfassungsstaat "kristallisiert", juristisch noch genauer umschrieben werden kann bzw. faßbar ist: auch in seinen universalen menschen- und menschheitsbezogenen Momenten. Heute geht es darum, in einem vielleicht kühnen Schritt nach vorn, die Verfassungsvergleichung in das Kraft- und Spannungsfeld der vier klassischen Auslegungsmethoden "hereinzuholen" bzw. diese zu erweitern. Später mag sie dann neben und mit den bekannten Auslegungsmethoden so legitimiert sein wie diese. Freilich dürfte heute und vielleicht auch später ungeklärt bleiben, welchen Rang die Verfassungsvergleichung innerhalb des Methodenkanons einnimmt. So wie die tradierten vier Auslegungsmethoden in ihrer Rang- und Reihenfolge "offen" bleiben, so bildet auch die Vergleichung nur ein Auslegungselement oder einen Auslegungsaspekt im Rahmen des überkommenden "Methodenpluralismus". Sollte sich allerdings die Einsicht durchsetzen, daß die Wortlaut-, historische und systematische Auslegung im Dienste der sie beherrschenden te-
" Absicht" des Gesetzes. In allen Fällen bleibt aber nach Savigny (S. 218) "der Grund von dem das Recht bestimmenden Inhalt des Gesetzes getrennt". Nach all dem bleibt zahlenmäßig Raum, auf die klassischen Vier heute eine fünfte Auslegungsmethode folgen zu lassen: eben die Rechtsvergleichung. Vielleicht kann man dabei Savignys systematische "Auslegung" zu Hilfe nehmen: der "innere Zusammenhang", der alle Rechtsinstitute zu einer "großen Einheit" verknüpft, wäre dann der Verfassungsstaat als Typus! - Zur "Einheit" bei Savigny: H.-M. Pawlowsid, Methodenlehre für Juristen, 1981, S. 51. - G. Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft, 13. Aufl. 1980, S. 284, glückte die plastische Wendung: Rechtsvergleichung als "Zu-Ende-Denken eines weltüberall Gedachten", dem K. Zweigert als Hrsg. dieser Aufl. einen Hinweis auf seinen jetzt klassischen Aufsatz Rechtsvergleichung als universale Interpretationsmethode, RabelsZ 15 (1949/50), S. 5 ff. hinzufügen. Allg. zu "Methoden der Rechtsvergleichung": W. Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. III, 1976, S. 781 ff. Zu "Rechtsvergleichung und Verfassungsrechtsprechung": J. Mössner, AöR 99 (1974), S. 123 ff.
2. Rechtsvergleichung als "fünfte" Auslegungsmethode
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leologischen Auslegung stehen, dann wäre der rechtsvergleichenden Methode eine besondere "Nähe" zu dieser einzuräumen. Im übrigen ist darauf hinzuweisen, daß sich "in" der verfassungsvergleichenden Methode ja letztlich die herkömmlichen Methoden "bündeln": Sobald man den bloßen Verfassungstextvergleich erweitert und vertieft zum Vergleich der Verfassung als "law in (public) action"y schlägt der Vergleich der einen gelebten Verfassung die Brücke zur anderen ebenso gelebten (Nachbar-)Verfassung und darin werden dann neben Wortlaut und Systematik auch (Verfassungs-)Geschichte und -Kultur, "telos" und "ratio" "übertragen" bzw. "verglichen". Der bloße Jecivergleich ist also nur ein Aspekt. Die hier favorisierte und in die Lehre des Verfassungsstaates als Constituens hereingeholte Rechts-, z.B. Grundrechts-Vergleichung, denkt jedenfalls von vorneherein all das mit, was die anderen herkömmlichen Auslegungsmethoden je für sich und zusammen "transportieren"! Die Überlegungen zur Vergleichung als "fünfter" Auslegungsmethode im Verfassungsstaat, d.h. der Schritt "von Savigny" zum heutigen Verfassungsstaat, kann sich z.T. schon auf ausdrückliche Texte berufen. Zwar ist aus gutem Grund die Rechtsvergleichung in den Verfassungstexten nirgends als Auslegungsmethode genannt, genauso wie die klassischen "canones" heute nirgends im Gesetz aufgezählt sind - man hat sie freilich mitzudenken, und der Verfassunggeber denkt sie wohl auch mit - , doch ordnen einige neuere Verfassungen ausdrücklich an, daß die Grundrechte "in Übereinstimmung" mit gewissen Menschenrechtstexten auszulegen sind (so Art. 10 Abs. 2 Verf. Spanien für die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte; s. auch Art. 16 Abs. 2 Verf. Portugal). Dies ist nichts anderes als die Anweisung an die Interpreten einer Verfassung, grundrechts-rechtsverg/e/c/œnd zu arbeiten. Denn die in Bezug genommenen Grundrechtstexte müssen ja methodisch, d.h. in bestimmten Wegen und Verfahren "transportiert" werden. Der moderne verfassungsstaatliche Verfassunggeber stellt also eine ganz spezifische Wirk- und Interpretationsebene zwischen verschiedenen Grundrechtstexten und ihren Auslegungen her 30. Später mag ganz allgemein als selbstverständlich erscheinen, was heute und jetzt noch ausdrücklich bzw. textlich angeordnet wird und angeordnet werden muß: die Einbeziehung benachbarter bzw. universaler Grundrechtstexte und -dimensionen. Sobald die "Universalität" aller den Verfassungsstaat als Typus konstituierenden Elemente bewußter wird, kann der Verfassungsinterpret auch ohne
30 Ganz in diesem Sinne denkt bereits die sog. "Schutzni veau "-Klausel des Art. 27 der Erklärung der Grundrechte und Grundfreiheiten des Europäischen Parlaments in Straßburg vom 12.4.1989, EuGRZ 1989, S. 204 ff.: "Keine Bestimmung dieser Erklärung darf als Beschränkung des durch das Gemeinschaftsrecht, das Recht der Mitgliedstaaten, das Völkerrecht und die internationalen Verträge und Abkommen über die Grundrechte und Grundfreiheiten gebotenen Schutzes oder als Hindernis für seine Weiterentwicklung ausgelegt werden".
4 Häberle
40
I. Methoden
ausdrückliche Texthinweise Grundrechte und andere verfassungsstaatliche Prinzipien wie "Demokratie", "Rechtsstaat" etc. von vornherein "vergleichend d.h. "im Kontext" mit den anderen Verfassungstexten anderer Verfassungsstaaten sehen. Die Aktualisierung dieses Kontextes der Beispielsverfassungen des Typus "Verfassungsstaat" ist nichts anderes als die hier geforderte "Kanonisierung" der Rechtsvergleichung als "fünfter" Auslegungsmethode. Eine "Relativierung", genauer: Präzisierung ist freilich notwendig. Im Rahmen der als juristische Text- und Kulturwissenschaft betriebenen Verfassungslehre sind ja bei allen Vergleichen die kulturellen Kontexte immer mitzudenken. Im vorliegenden Zusammenhang heißt dies: Die kulturell faßbare Individualität des einzelnen Verfassungsstaates darf nicht über das "Medium" bzw. Vehikel der Verfassungsvergleichung interpretatorisch eingeebnet werden, die Vielfalt des Verfassungsstaats drohte sonst im Wege des Vergleiches zur Uniformität zu verarmen. Äußere Textähnlichkeiten dürfen nicht über Unterschiede, die sich aus dem kulturellen Kontext der Beispielsverfassungen ergeben, hinwegtäuschen. Die Verfassungsvergleichung soll eine Bereicherung, keine Verarmung des Interpretationsprozesses sein. Auch das den einen vom anderen Verfassungsstaat Unterscheidende muß Gestalt annehmen, bewußt werden und Folgen haben. Es gibt also keine "Automatik", der Übertragung des verfassungsrechtlichen Gehalts von Verfassungsstaat zu Verfassungsstaat. Die rezipierten Inhalte müssen in den "eigenen" Kontext des "aufnehmenden" Verfassungsstaates umgedacht werden. Dies ist ein aktiver (Rezeptions-)Vorgang so wie der herkömmliche Interpretationsprozeß höchst produktiv ist.
3. Grundrechtsinterpretation als "pragmatische Integration von Theorieelementen"
Unter dem GG sind viele Theorien zur "richtigen" Auslegung der Grundrechte entwickelt worden. In der Weise des "Kästchendenkens" wird etwa vergröbernd unterschieden zwischen "liberaler", "institutioneller", "sozialstaatlicher" und "demokratisch-funktionaler" Grundrechtstheorie 31. Solche ebenso äußeren wie beliebten "Einteilungen" haben jedoch vor allem didaktisch-pädagogischen Wert, sie liefern vielleicht auch einen ersten Zugang zu den Problemen, aber nicht mehr. Denn meist handelt es sich bei den einzelnen Theorien um die Verabsolutierung von Jei/gesichtspunkten, die alle ihr relatives Recht haben - ähnlich wie die verschiedenen Methoden der Verfassungs- bzw. 31
Aus der Lit.: E.-W. Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, NJW 1974, S. 1529 ff.; aus der neueren Lit: R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985. Treffend tf. Stern, aaO (Anm. 15), S. 451 (453: "nicht ängstlich in die Schubfacher eines Schatzkästchens sortieren").
2. Rechtsvergleichung als "fünfte" Auslegungsmethode
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Grundrechtsinterpretation. Entscheidend wird die "pragmatische Integration von Theoricelementen". Keine Grundrechtstheorie kann beanspruchen, allein richtig zu sein. Ihreflexible Kombination ist das Ziel. In einer "Verfassung des Pluralismus" sollten die hinter den einzelnen Theorien wirkenden gesellschaftlichen Interessen, Gruppen bzw. Einzelpersönlichkeiten sich nicht allein durchsetzen können. Das BVerfG war klug genug, sich nicht auf eine bestimmte Theorie festzulegen. Der Grundrechtsinterpret hat insonderheit dem individuellen "Profil" der Einzelgnmdrtchtc gerecht zu werden: bald steht mehr der objektiv-institutionelle Aspekt (so etwa bei der Familie), bald der leistungsstaatliche32 (etwa beim Recht auf (Zugang zur) Kultur, vgl. Art. 73 Abs. 1 Verf. Portugal) im Vordergrund, bald der Verfahrensaspekt i.S. des "status activus processualis" (Grundrecht auf Rechtsschutz, vgl. Art. 20 Verf. Portugal), bald der individuelle (etwa bei der Religionsfreiheit, hier verbunden mit dem "status corporativus" im Blick auf Kirchen und Religionsgemeinschaften) 33. Das Entstehen neuer, auch "Sterben" alter Grundrechtstheorien wie von Theorien überhaupt ist ein normaler Vorgang im Verfassungsstaat. Bleiben sollte die Idee des "personalen Schutzdenkens". In ihrem Dienst stehen alle Grundrechtstheorien! Die Wissenschaft hat dabei "Vorratspolitik" mit Hilfe eines phantasiereichen Theorienpluralismus zu leisten, um dem Grundrechtsinterpreten zu Hilfe zu kommen.
4. Die "offene Gesellschaft der Grundrcchtsinterpreten"
Das 1975 vorgeschlagene Wort von der "offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten" - demokratie- und grundrechtstheoretisch begründet - führt Damit zum Postulat der "offenen Gesellschaft der Grundrechtsinttrprctcn"H ist die personale Frage gestellt: wer interpretiert (in welchen auch informellen Verfahren) die Grundrechte? I.S. eines weiteren Interpretationsverständnisses sind alle, also nicht nur Juristen bzw. Amtsinhaber, sondern auch Bürger, Nichtjuristen, die pluralistische Öffentlichkeit in die vielgliedrigen Prozesse der Grundrechts-Interpretation eingeschaltet, z.B. der Bürger, der in eigener Sache eine Verfassungsbeschwerde erhebt. Die mindestens mittelfristig wirksame Relevanz des Grundrechtsverhaltens aller ist eine spezifische Leistung 32 Dazu mein Regensburger Koreferat "Grundrechte im Leistungsstaat", VVDStRL 30 (1972), S. 43 (112 ff.); ders., Verfassungsschutz der Familie, 1984, S. 28 ff. 33 34
Zu dieser "beweglichen" Sicht näher meine Wesensgehaltgarantie, 3. Aufl. 1983, S. 342 ff.
P. Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, S. 297 ff., wiederabgedruckt in: ders., Die Verfassung des Pluralismus, 1980, S. 79 ff. Zur Kritik: W. Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, 1987, S. 38 f.
42
I. Methoden
der offenen Gesellschaft des Verfassungsstaates. Das Verständnis der Verfassung als Kultur legt es nahe, daß nicht nur der Jurist als "zunftmäßiger" Interpret, sondern jeder, der eine Grundrechtsnorm lebt, diese mit interpretiert. Verfassungslehre als "juristische Text- und Kulturwissenschaft" geht von den Texten aus, bleibt aber nicht bei ihnen stehen35. Gerade der durch viele nationale und internationale Interpreten hergestellte Wirkungszusammenhang vieler Grundrechtstexte der verschiedenen Verfassungsstaaten belegt die Tauglichkeit des Paradigmas der offenen Gesellschaft der Verfassungs- bzw. Grundrechtsinterpreten.
5. Insbesondere: Die begrenzte Relevanz des Selbstverständnisses der Grundrechtsberechtigten (z.B. der Religions-, Kunst-, Wissenschafts- u n d Koalitionsfreiheit)
Konsequenz dieses Ansatzes ist die Lehre von der (begrenzten) Relevanz des Selbstverständnisses der aus dem jeweiligen grundrechtlichen Schutzbereich Berechtigten. Vom BVerfG in E 24, 236 (248) ("Lumpensammler") für die Religionsfreiheit praktiziert, wurde sie in der Wissenschaft auf weitere Felder ausgedehnt: auf Kunst-, Wissenschafts- und Koalitionsfreiheit 36. Konkret heißt dies: Der Inhalt der Freiheit der Kunst (Art. 5 Abs. 3 GG) kann nicht unabhängig vom Selbstverständnis der Künstler interpretiert werden - man denke an den "erweiterten Kunstbegriff" eines / . Beuys, der Kunst und Kunstverständnis bzw. die Grundrechtsinterpretation enorm bereichert hat. Das Postulat der "offenen Grundrechtsinterpretation" wird erst jetzt ganz eingelöst. Diejenigen, die ein Grundrecht wie die Kunst-, auch Wissenschaftsfreiheit "normal" und alltäglich, aber auch "exzessiv", ja "exzentrisch" in Anspruch nehmen (5. Dali!), interpretieren letztlich und "erstlich" mit Gerade im Verhältnis von Kunstfreiheit und Strafrecht wird dies evident: die Grenzen haben sich in favorem artis Stück für Stück geöffnet. Ein weiteres Beispiel: Die Tarifvertragsparteien gestalten die Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG mit. Gewiß, es gibt Grenzen der Relevanz dieses Selbstverständnisses: weil sich sonst die Konturen der Grundrechtsgarantie auflösten und damit auch der Verfassungsstaat, der sie schützt. Gleichheit und Freiheit der Bürger erzwingen gleiche
35 Zum ganzen meine Studie Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1982. Zuletzt mein Beitrag Textstufen als Entwicklungswege des Verfassungsstaats in FS Partsch, 1989, S. 555 ff. 36 P. Häberle, Grenzen aktiver Glaubensfreiheit, DÖV 1969, S. 385 (388); ders., Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 125 ff. m.w.N. Aus der Rspr. zuletzt BVerjGE 54, 148 (156) für das allgemeine Persönlichkeitsrecht. Aus der Lit.: J. Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte, 1980; Höfling, aaO, S. 141 ff.
2. Rechtsvergleichung als "fünfte" Auslegungsmethode
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Freiheiten aller. Dennoch: Diejenigen, die das einzelne Grundrecht leben, arbeiten mit ihrem praktizierten Selbstverständnis von Freiheit dem "allgemeinen" Verständnis von Freiheit im Verfassungsstaat vor. Die Grundrechtstheorie muß dies, wie vorgeschlagen, berücksichtigen.
ΙΠ. Grundrechtsgeltung und Grundrechtsinterpretation: der Zusammenhang Die durch das Thema vorgegebene Verknüpfung von Grundrechtsge/iw/ig und Grundrechts interpretation erschließt sich erst jetzt in ihrem tieferen Sinne. Im Verfassungsstaat kann beides nicht unabhängig voneinander gedacht werden. Eine formal ansetzende Geltungslehre übersieht, daß erst die Grundrechtsinterpretation im engeren und weiteren Sinne die Grundrechte realiter "in Geltung setzt". Umgekehrt gehen die Grundrechtsinterpreten von einer vom Verfassungsstaat angeordneten "Geltung" des Grundrechts aus. Alle Grundrechtsinterpretationsvorschläge der miteinander rivalisierenden Theorien richten sich auf die grundsätzliche Verstärkung der "Wirkkraft" der Grundrechte, jedenfalls unter dem GG. Die viel zitierte und positivrechtlich angeordnete unmittelbare Bindung der Staatsgewalt an die Grundrechte, aber auch die mittelbare Bindung Privater ("Drittwirkung") sowie die "Fiskalgeltung" der Grundrechte liefern ins Leere, würden die Grundrechte nicht interpretiert. Bindung setzt Interpretation voraus. Auch die Bindungs- bzw. Geltungsnormen müssen interpretiert werden! An anderer Stelle ist dargetan, wie viel heute an Schöpferkraft hinter oder in den Bindungs-Artikeln steht bzw. vorausgesetzt wird. Erst recht gilt dies für die Grundrechtsverwirklichungsklauseln von Art. 3 Verf. Italien und Art. 9 Abs. 2 Verf. Spanien. Der Verfassungsstaat, der sich weiterhin als "Grundrechtsstaat" und "Grundrechtsgesellschaft" versteht, der "Grundrechtsaufgaben" erfüllt (vermittelt über Staatsaufgaben), denkt Grundrechtsgeltung und -interpretation immer zugleich* 1. Statt eines feierlichen Schlußwortes zuletzt eine provozierende These, die sich allein gegen anwesende deutsche Bundesverfassungsrichter wendet: Auch und selbst das BVerfG hat in Sachen Grundrechte nicht das "letzte Wort", es
37 Zur "Grundrechtsoptimierung" des US-Supreme Court: W. Brugger, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika, 1987, S. 443 ff. - Für Österreich: L. Adamovich, Die Effektivität der Grundrechte, FS Ermacora, 1988, S. 233 ff. Über Österreich hinaus spricht P. Pernthaler, Allgemeine Staats- und Verfassungslehre, 1986, S. 385 f. von "Recht und Politik in den Grundrechten". J.P. Müller, aaO, S. 15 ff.: Grundrechte: "konstitutive Elemente des Staates".
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I. Methoden
besitzt weder das Interpretationsmonopol noch den Interpretationsprimat 38. Es ist wohl ein Preis eines so hochstehenden "Grundrechtsgerichts" wie des BVerfG, daß hier spezifische Gefahren drohen: Die Wissenschaft verlernt das Atmen und "Phantasieren". Sie sinnt jedem Nebensatz der Prätorik in Karlsruhe nach und läuft Gefahr, sich zum "Glossator" oder Postglossator der Sprüche aus Karlsruhe zu degradieren. Das Richterrecht schnürt die Staatsrechtslehre stark ein, was auch deren "Schuld" ist Vielleicht können Verfassungsstaaten ohne ausgebaute Verfassungsgerichtsbarkeit die Grundrechte freier interpretieren freilich um den Preis geringerer Bindung des Staates!
38
Vgl. meine Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 28 f., 429 ff.
3. Europa in kulturverfassungsrechtlicher Perspektive* ·· I. Die Aktualität der Problemstellung 1. "Überstaatliche" u n d staatliche K u l t u r i n i t i a t i v e n in E u r o p a
Die Sensibilität für Kultur und Kulturpolitik in Europa, für Vielfalt und Identität der europäischen Kultur hat sich gerade in jüngster Zeit intensiviert. Das zeigt sich an vielen Beispielen, die nicht allein auf dem Hintergrund wirtschaftlicher Krisen in diesem Europa und trotz Europas als organisierter Wirtschaftsgemeinschaft zu sehen sind: Das Europäische Parlament hat im Oktober 1981 eine Art "Grundrechte-Charta für regionale Kulturkreise" entworfen 1; es appellierte an die nationalen Regierungen und an die regionalen Behörden, die Rechte der sprachlichen Minderheiten wie Iren, Waliser, Bretonen, Basken und Friesen zu schützen, und es empfahl, auch EG-Beihilfen für Projekte zur Förderung des kulturellen Lebens in den Regionen zu gewähren. Die Außenminister der EG haben sich auf die Gründung einer Europäischen Kulturstiftung aus Anlaß des 25jährigen Jubiläums der Römischen Verträge am 29. 3.1982 geeinigt2; die Stiftung, schon im Tindemans-Bericht von 1976 angeregt, soll die Verständigung zwischen den europäischen Völkern fördern und eine bessere Kenntnis des vielfältigen kulturellen Erbes verbreiten helfen. Der Ministerrat des Europarates, d.h. der Gemeinschaft der 21 europäischen Staaten, hat auf der Herbstsitzung am 19.11. 1981 eine neue Besinnung auf die hohe Priorität der Kulturarbeit gefordert, und am selben Tag haben sich der deutsche bzw. italienische Außenminister (Genscher bzw. Colombo ) vor dem Europäischen Parlament und im Rahmen eines Appells zur politischen Einigung für die Schaffung eines Kulturrates der Zehn stark gemacht3. Der italienische Kulturminister V. Scotti lud im Herbst 1982 zu einer Konferenz der Kultusminister der EG,
*
JöR 32 (1983), S. 9 ff.
**
Werner von Simson zum 75. Geburtstag am 21. 3.1983.
1
Vgl. EG-Magazin 1/82, Euroforum, S. VII.
2
FAZ vom 25.3.1982, S. 25.
3
Vgl. Michael Frh. Marschall von Bieberstein, 20.2.1982, S. 23.
Die letzte Chance für Europa, FAZ vom
46
I. Methoden
Spaniens und Portugals nach Neapel mit dem Hinweis ein4, die Kultur sei in den Verträgen von Rom zwar nicht ausdrücklich als Feld gemeinsamer Politik erwähnt, dennoch sei der Wunsch nach gemeinsamen Initiativen gewachsen: nach Harmonisierung der Gesetzgebung, Maßnahmen gegen internationalen Kunstraub und Fragen der Medienpolitik. So "klein" Kultur bislang noch in der Europäischen Gemeinschaft als WirtscÄo/rsveiband "offiziell" und realiter geschrieben wird, es gibt einige Ausnahmen: so etwa das europäische Jugendorchester und die alle zwei Jahre stattfindende Ausstellung "Europalia" einerseits5 sowie das Europäische Hochschulinstitut in Florenz andererseits6. Ein charakteristischer Konflikt zwischen Wirtschaft und Kultur spitzte sich im Frühjahr 1982 auf dem Gebiet der Filmwirtschaft (bzw. Film-Kultur) zu. Vertreter mehrerer Filmorganisationen protestierten während der Internationalen Filmfestspiele in Berlin gegen eine drohende, von der EG-Kommission geplante Europäisierung der bisher nationalen Filmförderung. Brüssel wolle ein Gesetz erzwingen, wonach die Mittel der Filmförderung als Wirtschaftsîôxét rung anzusehen und damit den Römischen Verträgen der EG anzugleichen seien. Damit solle, so der Protest weiter7, der Film als reines Wirtschaftsgut behandelt werden, die Römischen Verträge sähen abweichende Regelungen zum Schutz nationalen Kulturgutes vor. Die Argumentation gipfelt in dem Satz: "Nur ein national identifizierbarer Film kann ein wahrer europäischer Film sein. Wir sind gegen jede Vereinheitlichung und für Phantasie und Vielfalt". Die Positionen in diesem Konflikt sind weit über den Einzelfall hinaus symptomatisch für das europa- bzw. kulturpolitische Grundsatzproblem: zeigt sich doch die Spannung zwischen Europa als Wirtschaftsgemeinschaft und/oder Kultur-(gesellschaft), zwischen Europa als Vielfalt und als Einheit, zwischen (über)staatlicher Kompetenz und gesellschaftlicher Freiheit, zwischen Wirtschaft und Kunst. A. Kluge, der deutsche Regisseur, selbst Jurist, meinte vor
4
FAZ vom 16.9.1982, S. 25.
5
Vgl. zuletzt die Ausstellung "Menschen und Götter Griechenlands" im Brüsseler Palais des Beaux-Arts im Herbst 1982, FAZ vom 5.11.1982, S. 25. 6
Zum Europäischen Hochschulinstitut in Florenz: Chr. Sasse, Wirtschafts- und gesellschaftspolitische Ordnungsprobleme der Europäischen Gemeinschaften (= Band 1 der Schriftenreihe des Arbeitskreises Europäische Integration e.V.), 1978, S. 19 ff. - Zu den beiden Forschungs- und Ausbildungsprogrammen (1963-1971) der Europäischen Atomgemeinschaft als gemeinsamer Politik: A. Sattler, Die Europäischen Gemeinschaften an der Schwelle zur Wirtschafts- und Währungsunion, 1972, S. 72 ff. - Zur Forschungs- und Bildungspolitik aus der neueren Literatur: B. Beutler u.a., Die Europäische Gemeinschaft: Rechtsordnung und Politik, 1979, S. 400 ff. (2. Aufl. 1982, S. 451 ff.). 7
Vgl. FAZ vom 19. 2.1982, S. 24.
3. Europa in kulturverfassungsrechtlicher Perspektive
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Journalisten8: "Kein normaler Mensch wird diese Spinnereien von Beamten (sc. in Brüssel) vernünftig finden, so entsteht Europa nicht!" Wenn die EG-Kommission mit einer Klage beim EuGH gegen mehrere europäische Länder, u.a. gegen die Bundesrepublik Deutschland wegen deren nationaler Filmförderung droht, so hätte das Gerichtsverfahren sogar einen Vorteil: Der EuGH in Luxemburg wäre offen mit kulturpolitischen und -rechtlichen Fragen konfrontiert. Dadurch würde das Bewußtsein der Juristen für kulturrechtliche (in concreto auch für kulturverwaltungsrechtliche) Fragen in Europa geschärft, ganz unabhängig davon, wie eine Entscheidung des EuGH am Ende aussähe. Besonders spektakulär sind auf der kulturpolitischen Szene die Auftritte des französischen Kulturministers /. Lang. Ob er im Rahmen der Welt-UnescoKonferenz in Mexiko 1982, auf dem Treffen der europäischen Kulturminister im September 1982 in Neapel "dienstlich" oder "privat" auf der Buchmesse in Frankfurt im Oktober 1982 erscheint9: Seine eigenwilligen kulturpolitischen Ideen ziehen viel Aufmerksamkeit auf sich10. Und so viel Kritik sie verdienen, vor allem in ihrem Antiamerikanismus, sie haben viel dazu beigetragen, allgemein das Kulturthema europa-, ja weltweit auf die Tagesordnung zu bringen und speziell die Sensibilität für "Europa als Kultur" zu steigern. An einige Thesen von Lang sei erinnert: an seinen Angriff auf die "Kultur- und Unterhaltungsindustrien mächtiger Staaten", welche die kulturellen Identitäten der einzelnen Völker bedrohten, aber auch an sein Votum gegen die allzu enge Auslegung der EG-Verträge durch die Wirtschaftslobby in den Eurobürokratien Brüssels, die im Namen Europas Europa, das eine Kultur verschiedener Völker und Sprachen ist, zerstören würde11. Lang will eine Dezentralisierung der Kultur, indem der Zugang zur Kultur auf breitester Basis verallgemeinert wird 12. In Europa könne es eine wirtschaftliche Verbesserung nur geben, wenn
8
FAZ, ebd.
9
Dazu FR vom 8. 10. 1982, S. 7. Auf der Frankfurter Buchmesse am 6. 10. 1982 forderte J. Lang ausdrücklich: "affirmer une conscience culturelle européenne, affirmer une identité culturelle européenne" (zit. nach dem französischen Original). 10 Z.B. FAZ vom 20. 8.1982, S. 23 und vom 10. 8.1982, S. 19; Nordbayerischer Kurier vom 21. / 22. 8.1982, S. 7. - Zur kulturpolitischen Diskussion in Frankreich zuletzt der Bericht von Marc Guillaume: "L'impératif Culturel" der Arbeitsgruppe "Long-terme-culture", vgl. Le Monde vom 9.12.1982, S. 1 und 11. Auch die FAZ (vom 7.10.1982, S. 27) bescheinigt 7. Lang immerhin, er bringe einen "neuen Stil in die Kulturpolitik". 11 12
Zit. nach FR vom 8.10.1982, S. 7.
Zitate nach FR vom 2.1.1982, S. II. S. zuletzt J. Lang, Le Monde vom 11.12.1982, S. 27: "La culture, au fond, c'est la part de rêve qui est en chacun de nous-mêmes, le meilleur de nousmêmes. La culture, c'est: le désir de beauté, le désir de participer pleinement aux plaisirs de la vie". Zuletzt F. Mitterrand , zit. nach Le Monde vom 10.11.1982, S. 19: "il n'y a pas d'un côté la culture avec majuscule, pur royaume de l'esprit, et de l'autre l'économie, champs clos des intérêts et des
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I. Methoden
die Bürger das Gefühl hätten beteiligt zu sein, ein gemeinsames Wagnis mitzuvollziehen, das von einer Idee der menschlichen Gesellschaft getragen sei. Hier komme die Kultur ins Spiel. Europa müsse "Seele, Fleisch", müsse "Substanz" erhalten. Gerade aus der Vielfältigkeit des Austausches könne neue Anregung fürs Kunstschaffen, für die Kultur Europas erwachsen. Das nationale Kulturgut bereichere sich, veijünge sich, sobald es den zahlreichen und auch gegensätzlichen Einflüssen verschiedener Kulturen offenstehe. Der saarländische Kultusminister W. Knies trat manchen Thesen Langs in Neapel mit Recht entgegen13: Europa befinde sich nicht in der Stunde Null des kulturellen Austauschs, aber auch: Die Beschränkung auf die EG sei zu eng, das kulturelle Europa - das heiße auch Mozart, auch Zmngli und Calvin, auch der Vatikan. Kultur und Kulturpolitik begegnen nicht nur einem gesteigerten Interesse innerhalb Europas und in Bezug auf Europa; die Aktivitäten der Unesco auf kulturellem Gebiet haben weltweite Wirkung. Aber auch innerhalb einzelner Staaten vollziehen sich kulturrechtliche Änderungen. Erinnert sei an das Thema der Rückführung von Kulturgütern (auf der Basis der Unesco-Konvention von 1970), punktuell eingelöst z.B. durch die Rückgabe einer Statue von Italien an Albanien14 oder an die von der Unesco vergebene Studie über das Fernsehen als "kulturelle Industrie"15. Kolumbien forderte auf der Unesco-Konferenz in Mexiko eine Weltbank für Kulturinformation 16. Speziell im Frankreich Mitter rands ist eine Entwicklung in Gang gekommen, die unter den Stichworten "Renaissance der Regionen", "Die kulturelle Dezentralisation Frankreichs" diskutiert wird 17 und die sich in eine europaweite Tendenz zum Regionalismus einfügt 18. égoismes". - Kritisch zur sozialistischen Kulturpolitik der Ära Mitterrand jetzt: P. de Plunkett, La Culture en veston rose, 1982. 13 Vgl. D. Polaczek, Lehrstück über Europa, Zur Konferenz der EG-Kulturminister in Italien, FAZ vom 22.9.1982. 14 FAZ vom 15.1.1982, S. 19. - Die Unesco plant, eine Ausstellung durch die Welt zu schikken, in der sowohl gezeigt wird, was sich an Kunstschätzen aus der Dritten Welt in europäischen und nordamerikanischen Museen und Galerien befindet und zurückgegeben werden sollte, als auch, welche Kulturgüter bereits in ihre Ursprungsländer zurückgeschickt wurden (vgl. FAZ vom 28.11.1982, S. 25: "Gegen Kunstschmuggel"). 15
NZZ vom 5.2.1982.
16
FAZ vom 2. 8.1982, S. 15.
17
FAZ vom 1.11.1982, S. 23.
18 Die besondere Fruchtbarkeit des kulturwissenschaftlichen Ansatzes zur Erfassung des Regionalismus kann hier nicht im einzelnen entfaltet werden. Der Beispiele in Europa sind viele. Man denke an die Region der Alpenländer, die Autonomiestatute in Italien und an den Regionalismus in Spanien als Vorform eines möglichen Bundesstaates. Im Frankreich Mitterrands hat die Regionalis-
3. Europa in kulturverfassungsrechtlicher Perspektive
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Auch innerhalb der Bundesrepublik machen kulturelle Themen und Thesen, die letztlich politisch und rechtlich eingelöst werden wollen und zum Teil schon eingelöst sind, Schlagzeilen. Auf Bundesebene hatte des damaligen Bundesinnenministers G. Baum "Bekenntnis zum Kulturstaat" viel Publizität19. Bundespräsident K. Carstens spricht bei seinem Antrittsbesuch in NordrheinWestfalen in bezug auf dieses Land von "Deutscher Kultur von Europäischem Geist"20. Hilmar Hoffmanns "Kultur für alle" beschäftigt immer wieder die Kulturpolitik 21. Vor allem das "alternative Leben" und die "autonome Kulturarbeit" reizen die kulturpolitische Diskussion an22. Bis in den Wahlkampf in einem Bundesland (hier: Hessen im Herbst 1982) hinein spielt die Kulturpolitik eine Rolle23. Doch melden sich auch die Künstler selbst zu Wort: Sie beklagen, daß sie bzw. die Gegenwartskunst in der auswärtigen Kulturpolitik nicht angemessen bemus-Idee neuen Auftrieb erfahren. Den politischen Entwicklungen geht die "Konjunktur der Regionalgesch ich te" (H. Maier) parallel. So unterschiedlich die Erscheinungsformen des Regionalismus in Europa im einzelnen sind, gemeinsam ist ihnen die Relativierung des nationalstaatlichen Zentralismus, die Anknüpfung an ältere kulturelle Traditionen und Zusammenhänge, bei denen Sprache, Geschichte, Kunst, auch "Volkskunst" ganz im Vordergrund stehen. Es kommt zu einer Wiederentdeckung "alter Landschaften". Aus der Literatur zum Regionalismus: J. de Meyer, S. Cassese/D. Serrani und Boucsein in: JöR 27 (1978), S. 1 ff., 23 ff. und S. 41 ff. (dazu meine Besprechung in AöR 105 (1980), S. 158 [159 f.]); H. Lübbe, Politischer Historismus, zur Philosophie des Regionalismus, PVS 1979, S. 7 ff.; F. Esterbauer, Der europäische Regionalismus, BayVBl. 1979, S. 328 ff.; Regionalismus in Europa, Bericht über eine wissenschaftliche Tagung (Brixen, Tirol, 1978), München 1981. 19 SZ vom 6.5.1982, S. 14. Baum hatte Gespräche mit rund 100 deutschen Kulturverbänden geführt im Rahmen einer kritischen Bestandsaufnahme über sechs Jahre innerstaatlicher Kulturpolitik des Bundes. - Mit dem Begriff "lebendiger Kulturstaat" argumentiert auch der neue Bundesinnenminister Zimmermann (CSU) im Blick auf Denkmalschutz durch den Bund von nationaler Bedeutung (FAZ vom 17.12.1982, S. 25). 20
Das Parlament Nr. 17 / 1 8 v. 1. / 8.5.1982, S. 11.
21
Z.B. auf der kommunalen Ebene: Ernst Pappermann, Büchereien als breites Bildungsangebot: Kultur für alle, FR vom 22. 7.1982, S. 12. Siehe auch H. Hoffmann, Sie können sich nicht aus der Kulturpolitik davonstehlen, Die Notwendigkeit von Theater und Alternativ-Kultur in Krisenzeiten, FR vom 10.11.1982, S. 10. - Zum privaten Mäzenatentum als "zweiter Säule städtischer Kultur" und zur Aufgabe, die kulturelle Vielfalt in Deutschland für zukünftige Generationen zu erhalten: H. Geißler auf einem CDU-Kongreß "Kultur für die Stadt" (FR vom 10.12.1982, S. 7). Dabei sprach der Frankfurter Oberbürgermeister W. Wallmann von einer "guten" Kulturpolitik als einer toleranten und offenen, der Nürnberger Kulturdezernent H. Glaser unterschied "feudale" und "republikanische" Kulturpolitik (FAZ vom 13.12.1982, S. 25). 22 Vgl. die große Anfrage der CDU-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, abgedruckt in FR vom 27.4.1982, S. 12 f. Die Literatur zur Alternativ-Kultur ist schon jetzt kaum mehr zu überblicken, zuletzt etwa Bundesministerium für Jugend, Familie, Gesundheit: Zur alternativen Kultur in der Bundesrepublik Deutschland, in: Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament Β 39/81 vom 26. 9.1981, S. 3 ff., mit Beiträgen u.a. von H. Geißler und P. Glotz. 23 Vgl. das Gespräch mit A. Dregger in FR vom 8. 7.1982 und mit H. Börner in FR vom 26.7.1982, S. 18: "Die Freiräume müssen erhalten werden".
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I. Methoden
rücksichtigt seien, weil es an Mitwirkungsrechten der betroffenen Künstler fehle 24. Fast alle Entscheidungen würden von Verwaltungsbeamten, Museumsdirektoren und Mittlerorganisationen getroffen. Das laufe allen Unesco-Empfehlungen zuwider. Schließlich sei die angesichts der Londoner Versteigerung der FürstenbergManuskripte öffentlich gestellte Frage erwähnt, ob in der Bundesrepublik Deutschland "Kulturgut ohne Schutz" bleibe25, weil das Gesetz vom 6. 8.1955 (BGBl. 1955 I, S. 501) überaltert sei. Und von einer "Art Kulturkampf" zwischen den beiden deutschen Staaten i.S. von "Wem gehört die deutsche Geschichte?" ist derzeit in der Tagespresse die Rede26.
2. Private und gesellschaftliche Kulturinitiativen: Aktivitäten einzelner Bürger im Kraftfeld der kulturellen Öffentlichkeit Europas
Spätestens jetzt bedarf das aktuelle Bild des "offiziellen" Europa als Kultur der Ergänzung um "private" Aktivitäten und Stellungnahmen auf der europäischen Ebene. So sehr ihnen Verbindlichkeit fehlt, so wirksam können sie mittelfristig kulturell werden. Auf Dauer leben die Vielfalt und Identität der europäischen Kultur weniger von den staatlichen / überstaatlichen Institutionen, so wichtig und ausbauwürdig diese sind, als vielmehr aus dem Bewußtsein der europäischen Bürger und Völker und aus ihrem praktischen Handeln und Gestalten. Künstlern, Wissenschaftlern, Literaten und einzelnen Politikern kommt hier eine besondere Verantwortung zu. Sie schaffen und beleben die kulturelle Öffentlichkeit Europas durch Wort und Tat, durch Spruch und Widerspruch, durch Phantasie und Utopie, durch "Eigensinn" und Gemeinsinn. Vielleicht ist Europa schon jetzt und auch in Zukunft mehr eine Kultur der vielfältigen Europäischen Gesellschaft als eine Kultur seiner Staaten und ihrer überstaatlichen Einrichtungen, was diese von ihrer - nicht geringen - Verantwortung für Kultur indes keineswegs freistellt. Blicken wir in diesem Sinne auf das Europa in den Köpfen - und Herzen der Künstler, Wissenschaftler, Literaten und (auch politischen) Einzelpersönlichkeiten, so wird hier Europa als Kultur ebenso greifbar wie lebendig. Das zeigt sich z.B. an der Europa-Anthologie 1982, die L. Schöne im EG-Magazin (9/82), Sonderteil "Leben in Europa", herausgegeben hat: Elf deutschsprachige
24
FR vom 19.11.1982, S. 7.
25
FAZ vom 16. 6.1982, S. 25.
26
FAZ vom 18.12.1982, S. 21.
3. Europa in kulturverfassungsrechtlicher Perspektive
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Schriftsteller variieren in ihren Antworten die Frage nach dem "Leben in Europa" 27. Nach Schöne selbst kann der Begriff Europa nur meinen: "Idee einer gemeinsamen Kultur, über die Jahrhunderte hinweggetrieben, von der griechischen Polis und den Evangelisten ... hin zur italienischen Renaissance, der deutschen Reformation und dem spanischen Barock bis zur französischen Aufklärung, der deutschen Klassik, der französischen Revolution, der europäischen Restauration, dem literarischen Realismus in Rußland, England und Frankreich, der europäischen Agonie um die Jahrhundertwende. Europa - getrieben, erschüttert und gewachsen durch eine Folge geistiger Impulse." Aus den Antworten der Schriftsteller selbst sei noch G. Oedings Beitrag "Die Europamüden" herausgegriffen: "Vom Glanz und Verlust eines Themas in der deutschsprachigen Literatur dieses Jahrhunderts"28. Oeding spricht vom geistigen und ästhetischen Reduktionismus der deutschen Gegenwartsliteratur und er glaubt, eine allgemeine Europamüdigkeit beobachten zu können. Als weiteres Beispiel diene die Fernsehdiskussion zum Thema Europa im Herbst 198229: P. Wapnewski sieht Europa als historische Größe, eine kulturelle Größe, ohne das Historische überbetonen zu wollen, R. Dahrendorf möchte für Europa immer auch die osteuropäischen Länder hinzunehmen, R. Liebermann beruft sich auf das "Vom Ural-bis-zum-Atlantik"-Zitat de Gaulles, M. von Bieberstein spricht nicht von einer europäischen Identität, sondern von einer (aus Frankreich, Italien, Schweiz etc.) "zusammengesetzten Identität", R. Dahrendorf charakterisiert es als "Kernmerkmal von Europa, daß man sich in diesem Europa zu Hause fühlt und daß trotzdem dieses Europa so verschiedene Kulturen und Sprachen hat". Er bezweifelt die Berechtigung einer inhaltlichen europäischen Kulturpolitik und möchte diese "dezentralisiert" sehen, unterstützt von Μ v. Bieberstein, der die kulturpolitischen Projekte des Europarates fast ausschließlich von der Region ausgehen sieht30. 27 Schon 1973 hat T. Koch eine vergleichbare Anthologie "Europa persönlich" herausgegeben und resümiert, alle Autoren fühlten sich in Europa wohl. Der Jubilar Werner von Simson selbst hat zu dem von T. Koch 1973 herausgegebenen Band: "Europa persönlich" auf S. 261 ff. einen Beitrag geschrieben. 28
AaO., S. 29 ff.
29
Veröffentlicht in der "Zeit" Nr. 45 vom 5. 11.1982, S. 33-35 unter dem Titel "Zwischen Käse und Kultur. Ist Europa, die Keimzelle des Abendlandes, zu einem Markt heruntergekommen?". 30 Im Sinne eines Votums nur für kulturelle Regionalpolitik auch R. Liebermann, ebd. Für die erstmals von R. Liebermann 1979 angeregte "Europäische Kulturinitiative" sprach sich jüngst Altbundespräsident W. Scheel in Zürich aus (Nordbayerischer Kurier vom 11. 2.1983, S. 14): die kulturellen Fragen seien bei der wirtschaftlichen und politischen Einigung Europas zu sehr vernachlässigt worden. Scheel ist der Überzeugung, "daß wir die einzelne nationale Kultur verfälschen, wenn wir sie aus dem europäischen Zusammenhang isolieren".
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I. Methoden
3. Eine erste Bilanz
Läßt man die zitierten Äußerungen und erwähnten Aktivitäten im ganzen Revue passieren, so ergibt sich ein Gesamtbild in Sachen Kultur, so fragmentarisch diese "Bilanz" naturgemäß ist: Kultur hat als Thema "Konjunktur"; das mag Gefahren in sich bergen, bringt aber zunächst einmal auch Vorteile. Inhaltlich werden Vielfalt und Identität von Kulturen bewußt, ihre große Bedeutung fur die Unverwechselbarkeit der Völker, aber auch für die Verwirklichung des einzelnen Menschen und Bürgers. Das offene Kulturkonzept 31 ist insofern angesprochen, als auch "Alternativkulturen" gewürdigt werden. Austausch und Kommunikation der Völker untereinander werden gerade der Vielfalt ihrer Kulturen wegen ein Programm; aber auch der Schutz dieser Kulturen vor zivilisatorischer Einebnung (etwa über die Massenmedien) ist als wichtiges Ziel erkannt. Freiheit von Kunst und Kultur bleibt ein Leitmotiv von Künstlern und Kulturschaffenden. Schließlich wird Kultur und Kulturpolitik nicht nur als Sache des Staates und seiner Institutionen erkannt; Potenzen und Kompetenzen Einzelner und gesellschaftlicher Gruppen werden ebenso gesehen. Die Künstler fordern neben Freiheit mehr Repräsentation, sie fordern Partizipation, auch Förderung. All dies betrifft nicht nur die Ebene Europas, es zeigt sich ebenso innerhalb der Einzelstaaten dieses Europas wie weltweit. Dennoch ist Europa als Ganzes heute kulturell in besonderer Weise gefordert. Die Vielfalt der Kulturen seiner Völker ist in einen Gesamtrahmen eingebettet, der diese Völker zum Europa als Kultur verbindet. Wie diese Vielfalt und Einheit "zusammenstimmen" können, wie das gemeinsame kulturelle Erbe und die gemeinsame kulturelle Zukunft bewahrt bzw. gewonnen werden können, das dürfte die Gretchenfrage sein. Ersten Aufschluß über die rechtliche Ausgangsbasis für die kulturelle Zukunft Europas geben die Rechtstexte, auch manche kulturpolitische Texte.
II. Europa in Gestalt kultureller Rechtstexte und kulturpolitischer Texte (Bestandsaufnahme) Die vielfältigen Kultur-Initiativen und -Politiken in Europa und für Europa, die symptomatischerweise vor allem aus Zeitungsmeldungen zu belegen waren, reichen zwar weit in die Zukunft hinüber, sie umschreiben Hoffnungen und Wünsche, da und dort vielleicht auch "konkrete Utopien". Sie haben indes schon heute in keineswegs geringem Umfang eine sehr "reale Basis" in Gestalt 31
Dazu P. Häberle, Kulturpolitik in der Stadt - ein Verfassungsauftrag, 1979.
3. Europa in kulturverfassungsrechtlicher Perspektive
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von - bislang zu wenig bewußt gemachten - kulturellen Rechtstexten und wichtigen kulturpolitischen Texten. Sie lassen sich z.T. aus Gesetzesblättern und offiziellen "Quellen" belegen. Im folgenden seien sie überblickartig dargestellt Die Kulturpolitiken erweisen sich z.T. "nur" als fallige Aktivierung und Verlebendigung vorhandenen, aber im Schatten gebliebenen Kulturrechts; in manchen greifen sie über das schon Normierte hinaus: Sie umschreiben die Konturen werdenden Rechts, konkret "werdenden" jft/frurverfassungs- und -veiwaltungsrecht in Europa, insofern das Politische dem Rechtlichen vorausgeht32. In manchem sind Kulturpolitiken aber auch "nur" die Ausfüllung des vom Kulturrecht gesetzten Rahmens: Weil sich Kultur nur begrenzt rechtlich umfassen und verfassen läßt. Im einzelnen: Der wohl fundamentalste europabezogene kulturelle Rechtstext nach dem 2. Weltkrieg findet sich in der Menschenrechtskonvention von 1950. Das zeigt sich schon in der Präambel33, insbesondere in dem Passus: "... entschlossen, als Regierungen europäischer Staaten, die vom gleichen Geiste beseelt sind und ein gemeinsames Erbe an geistigen Gütern, politischen Überlieferungen, Achtung der Freiheit und Vorherrschaft des Gesetzes besitzen, die ersten Schritte auf dem Wege zu einer kollektiven Garantie gewisser in der Universellen Erklärung verkündeter Rechte zu unternehmen..."
In der Präambel der Europäischen Sozialcharta (ESC) vom 18. 10.196134 heißt es u.a.: "... in der Erwägung, daß es das Ziel des Europarats ist, eine engere Verbindung zwischen seinen Mitgliedern herzustellen, um die Ideale und Grundsätze, die ihr gemeinsames Erbe sind, zu wahren und zu verwirklichen und ihren wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt zu fördern, insbesondere durch die Erhaltung und Weiterentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten..."
Die im Geiste der EMRK- und ESC-Präambeln und im Anschluß an sie kodifizierten Grundrechte sind dann nicht nur dort "kulturelle Grundrechte", wo sie schon prima facie als solche erkennbar sind, sie sind kulturell geprägt auch dort, wo sie in einem entfernter erscheinenden Bezug zum eingangs beschworenen "Erbe" stehen, man denke an die Habeas Corpus-Garantien (wie Art. 5 und 6 EMRK) oder die Eigentumgarantie (in Art. 1 des Zusatzprotokolls vom 20. 3. 1952), aber auch an "soziale Grundrechte" der ESC. Sie sind ein Stück 32 Zum werdenden Verwaltungsrecht in Europa vgl. den von J. Schwarze herausgegebenen Band: Europäisches Verwaltungsrecht im Werden, 1982. 33
Zu den Rechts- und Kulturgehalten von Präambeln mein Beitrag in FS Broermann, 1982, S.
211 ff. 34
1967.
Ebenfalls zit. nach F. Berber, Völkerrecht, Dokumentensammlung, Bd. I., Friedensrecht,
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I. Methoden
Fortentwicklung der Freiheit als "geistiges Gut". Sie sind Etappen kultureller "Weiterentwicklung" der Menschenrechte und Grundfreiheiten, wie sie so oft beschworen wird. Daß das Wort "Kultur" dabei verbal nicht vorkommt, nimmt ihnen nicht ihren kulturellen Kontext, aus dem sie sich entfalten und auf den sie angewiesen sind. Schließlich gehören auch die richterrechtlichen Aktivierungen von Grundrechtstraditionen der Mitgliedsländer hierher, wie sie der EuGH im Gewand "allgemeiner Rechtsgrundsätze" aktualisiert hat35. Gemeineuropäisches Grundrechte-Recht ist hier ein Stück europäischer Rechtskultur und von einem europäischen Gericht als "Erbe" angenommen und verlebendigt Ein Zwischenstadium in diesen kulturellen Prozessen ist das an die Kommission gerichtete Ersuchen des Europäischen Parlaments vom 4. 4.1973 wonach dem Parlament in einem Bericht darzulegen ist, "wie sie bei der Schaffung und Fortentwicklung des europäischen Rechts jede Beeinträchtigung der von der Verfassungsordnung der Mitgliedsstaaten garantierten Grundrechte verhüten will, deren Prinzipien die den Mitgliedsstaaten gemeinsame philosophische, politische und rechtliche Basis bilden". Damit ist nichts anderes als die "kulturelle" Basis gemeint. Und das Ersuchen hat dann auch zu der viel beachteten Grundrechtsstudie von R. Bernhardt geführt 37. Die Satzung des Europarates vom 5. 5.194938 formuliert vorweg: 35 Dazu I. Pernice , Grundrechtsgehalte im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1979, S. 42 ff.; J. Schwarze, Die Befugnis zur Abstraktion im europäischen Gemeinschaftsrecht, 1976, S. 228 ff.; aus der Lit. allgemein: A. Bleckmann, Die Grundrechte im Europäischen Gemeinschaftsrecht, EuGRZ 1981, S. 257 ff.; Kutscher / Rogge /Matscher, Der Grundrechtsschutz im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1982. 36 Zit. nach Bulletin der Europäischen Gemeinschaften, Beilage 5/76: Der Schutz der Grundrechte bei der Schaffung und Fortentwicklung des Gemeinschaftsrechts, S. 7. 37 Abgedruckt in Beilage 5/76, ebd. S. 19 ff. - Die grundrechtskulturelle Homogenität der EG kommt in der Kopenhagener Erklärung des Europäischen Rates vom 7. / 8.4.1978 zum Ausdruck, wenn es in dieser u. a. heißt: "... erklären feierlich, daß die Achtung und Aufrechterhaltung ... der Menschenrechte in allen Mitgliedstaaten wesentliche Elemente ihrer Zugehörigkeit zu den europäischen Gemeinschaften sind" (dazu Ehlermann I Noel, Der Beitritt der EG zur EMRK ..., in Ged.Schrift für Sasse, Bd. II, 1981, S. 685 (686). - Ein der Europäischen Justizministerkonferenz 1978 in Kopenhagen vorgelegtes österreichisches Memorandum enthält den charakteristischen Passus: "Die im Europarat zusammengeschlossenen Staaten Europas, die auf der festen Grundlage gemeinsamer Wertüberzeugung in bezug auf die Würde und die Rechte jedes Menschen seit Jahren ein weltweites Beispiel und Vorbild des internationalen Menschenrechtsschutzes geben ..." (zit. nach C. Broda in: FS H. R. Klecatsky, Bd. 1,1980, S. 75 (76)). 38 Zit. nach Berber, aaO. - Zum Europarat bzw. dessen Rat für kulturelle Zusammenarbeit bzw. zu der im engen Zusammenhang mit ihm turnusmäßig tagenden Konferenz der Europäischen Erziehungsminister: T. Oppermann, Bildung, in: /. von Münch (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 8. Aufl. 1982, S. 811 (873 ff.). Ebd. S. 874 zur Europäischen Konvention über die Gleichwertigkeit der Reifezeugnisse vom 11. Dezember 1953 als "grundlegender Voraussetzung" für die zwischenstaatliche Freizügigkeit im Hochschulstudium. Zum Rat für kulturelle Zusammenarbeit
3. Europa in kulturverfassungsrechtlicher Perspektive
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n
... in unerschütterlicher Verbundenheit mit den geistigen und sittlichen Werten, die das gemeinsame Erbe ihrer Völker sind und der persönlichen Freiheit, der politischen Freiheit und der Herrschaft des Rechts zugrundeliegen, auf denen jede wahre Demokratie beruht". Art 1 ist ganz aus diesem Geiste "komponiert" und er wird rechtlich noch konkreter, indem er den Kulturaspekt ausdrücklich aufgreift: n
a)
b)
Der Europarat hat zur Aufgabe, eine engere Verbindung zwischen seinen Mitgliedern zum Schutze und zur Förderung der Ideale und Grundsätze, die ihr gemeinsames Erbe bilden, herzustellen und ihren wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt zu fördern. Diese Aufgabe wird von den Organen des Rates erfüllt durch ... gemeinschaftliches Vorgehen auf wirtschaftlichem, sozialem, kulturellem und wissenschaftlichem Gebiet und auf den Gebieten des Rechts und der Verwaltung, sowie durch den Schutz und die Fortentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten."
Das Europäische Kulturabkommen vom 19.12.195439 ist in seinem präambelartigen "Vorspann" seinem speziellen Gegenstand gemäß noch konkreter auf die "Sache Kultur" eingestimmt. Es heißt dort u.a.: "... in der Erwägung, daß es deshalb wünschenswert ist, nicht nur zweiseitige Kulturabkommen zwischen den Mitgliedern des Europarates abzuschließen, sondern auch gemeinsam zu handeln, um die europäische Kultur zu wahren und ihre Entwicklung zu fördern; in dem Entschluß, ein allgemeines europäisches Kulturabkommen abzuschließen, um unter den Staatsangehörigen aller Mitglieder des Europarates und derjenigen anderen europäischen Staaten, die diesem Abkommen beitreten, das Studium der Sprachen, der Geschichte und der Zivilisation der anderen Vertragsparteien sowie auch ihrer gemeinsamen Kultur zu fördern...".
In Art. 1 ist eine schon fast klassische Kulturelles-Erbe-Klausel normiert ("Jede Vertragspartei trifft geeignete Maßnahmen zum Schutz und zur Mehrung ihres Beitrags zum gemeinsamen kulturellen Erbe Europas"), und die folgenden Artikel 3 und 4 enthalten Ähnliches40. Art. 5 des Europäischen Kulturabkommens ist eine besonders reichhaltige kulturrechtliche Norm, die ihre Zukunft noch weitgehend vor sich haben dürfte und gemeineuropäische Kulturpolitiken initiieren sollte. Er lautet:
( C C Q im Rahmen des Europarates: G. Hindrichs, Kulturgemeinschaft Europa, 1968, S. 33 ff. Dort auch Informationen über "wichtige Organisationen im europäischen Kulturbereich" (S. 27 ff.), über "Schulen, politische Bildungsarbeit und Erwachsenenbildung" (S. 85 ff.) sowie über "Kunst und Literatur" (S. 105 ff.). 39 Zit. nach F. Berber, aaO. Die bilateralen Kulturabkommen der Bundesrepublik mit Spanien, Griechenland, Italien, Belgien und den Niederlanden sprechen von der "gemeinsamen Sache der europäischen Kultur" (vgl. G. Hindrichs, Kulturgemeinschaft Europa, 1968, S. 16). 40 Art. 3: "um ihr ... Vorgehen zur Förderung der im europäischen Interesse liegenden kulturellen Maßnahmen aufeinander abzustimmen". Art. 4: "Austausch von Personen und Kulturgütern".
5 Häberle
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"Jede Vertragspartei betrachtet die europäischen Kulturgüter, die sich unter ihrer Kontrolle befinden, als Bestandteil des gemeinsamen kulturellen Erbes, trifft die erforderlichen Maßnahmen zu ihrem Schutz und erleichtert den Zugang zu ihnen."41
Damit ist die gemeineuropäische Basis für ein kulturelles Teilhaberecht gelegt ("Zugang zu den europäischen Kulturgütern, die Bestandteil des gemeinsamen europäischen kulturellen Erbes sind"), das freilich noch der politischen und rechtstechnischen Entwicklung bedarf. Zusammen mit der "Normativitätsreserve", die vor allem in den erwähnten Präambeln steckt, werden gerade hier die Umrisse eines europäischen Kulturverfassungsrechts besonders greifbar. Prägnant ist die kulturelle Zielrichtung der ursprünglichen EG in der Schlußerklärung der Gipfelkonferenz von Bonn 1961 umrissen42: "Die Zusammenarbeit der Sechs muß über den politischen Rahmen im eigentlichen Sinn hinausgehen; sie wird sich insbesondere auf den Bereich des Unterrichtswesens, der Kultur und der Forschung erstrecken, wo sie durch die periodischen Zusammenkünfte der beteiligten Minister sichergestellt werden wird." Und fast utopisch, aber doch noch "konkret" wirkt der frühe Entwurf einer europäischen Bundesverfassung vom 6. Mai 195143 in ihrem Präambelbeginn: "Wir, die Völker ... im Bewußtsein unserer Kulturgemeinschaft .,."44. 41 In der Präambel des Euratomvertrags vom 25. 3.1957, zit. nach F. Berber, aaO., ist u.a. von der Überzeugung die Rede, "daß nur ein gemeinsames Vorgehen, ohne Verzug unternommen, Aussicht bietet, die Leistungen zu verwirklichen, die der schöpferischen Kraft ihrer Länder entsprechen". - Damit kommt wenigstens begrenzt ein Kulturaspekt, das Schöpferische auf dem Gebiet der Kernenergie in der herausgehobenen Gestalt eines Präambel-Passus zum Vorschein. 42
Zit. nach B. Beutler u.a., Die Europäische Gemeinschaft: Rechtsordnung und Politik, 1979, S. 401 (2. Aufl. 1982, S. 452). 43 Abgedruckt bei P.C. Mayer-Tasch (Hrsg.), Die Verfassungen Europas, 2. Aufl. 1975, S. 833 ff. - Mayer-Tasch beruft sich seinerseits auf die "kulturelle Einheit" Europas, ebd. S. 1, 36. 44 Die europarechtliche wissenschaftliche Literatur vernachlässigt bislang die kulturellen und kulturwissenschaftlichen Perspektiven Europas nicht wenig. Vor allem die EG-Literatur aller Literaturgattungen, vom Lehrbuch bis zur Monographie, ist hier in Verzug. In einigen Lehrbüchern kommt der Begriff "Kultur" schon im Register nicht vor (z.B. A. Bleckmann, Europarecht, 2. Aufl. 1978; M. Schweitzer ! W. Hummer, Europarecht, 1980; C. Runge, Einführung in das Recht der Europäischen Gemeinschaften, 2. Aufl. 1975; L.-J. Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften, 1979; anders H.P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S.231 f. Er meint, die Vergemeinschaftung habe die öffentliche Verantwortung der Mitgliedstaaten für Kultur und Wohlfahrt grundsätzlich in der Substanz nicht angetastet. - In französischer Sprache ist das Kulturthema z.B. behandelt bei E. Efinger, Politique culturelle et Institutions Culturelles des EtatsMembres de la Communauté Européenne, 1976; A. Reszter, Réflexions sur une politique culturelle Européenne, in: Europe, Jg. 17, Nr. 174, Mai 1976, S. 13-17 und A. Haigh, La diplomatie culturelle en Europe, 1974. - Der Kulturgedanke taucht regelmäßig auf bei der Darstellung der Europaidee: "das Erbe Roms in Form gemeinsamer Kultur ..." (M. Schweitzer / W. Hummer, aaO., S. 27), "gemeinsames kulturelles Erbe Europas" (W. Hallstein, Die Europäische Gemeinschaft, 1. Aufl. 1973, S. 12), "kulturelle Einheit" (ders. ebd. S. 13), "abendländische Kultur ... aus europäischen Wurzeln" (ders. ebd. S. 13 f.). Begleitende oder flankierende Politiken sollen immer weitere von den Zielsetzungen der EG umfaßte Bereiche in die Vergemeinschaftung einbeziehen und damit der
3. Europa in kulturverfassungsrechtlicher Perspektive
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Dem Wort und der Sache nach kommt "Kultur" als Ganzes und in einigen Teilaspekten in dem bekannten Tindemans-Bericht vom 29.12.197545 zum Ausdruck. Im Schreiben von L. Tindemans an seine Kollegen im Europäischen Rat heißt es: "Sinn der Europäischen Union muß es sein, uralte, oft zwischen Nationalstaaten aufrechterhaltene Gegensätze zu überwinden und eine humanere Gesellschaft zu erreichen, in der bei gegenseitiger Achtung unserer nationalen und kulturellen Eigenarten das Gewicht eher auf das gelegt wird, was uns eint, als auf das, was uns trennt" Im Bericht selbst ist mehrfach von der "europäischen Identität" die Rede; gefordert wird der Aufbau einer "Gesellschaftsform, die uns eigen ist und die Werte widerspiegelt, die zugleich Erbe und gemeinsame Schöpfung unserer Völker sind". Unter dem Stichwort "eine konkrete Solidarität" heißt es: "Die Europäische Union muß im täglichen Leben fühlbar werden und bürgernah sein. Sie muß in Bildung und Kultur, Information und Nachrichtenwesen, Jugendbetreuung und Freizeitgestaltung ihren Ausdruck finden." Tindemans fordert auch eine "gemeinsame Forschungspolitik", und unter dem Stichwort "die äußeren Zeichen unserer Solidarität" heißt es: "Ebenso müssen wir eine stärkere Verflechtung im Bildungswesen fördern, indem der Schüler- und Studentenaustausch unterstützt wird. Den Europäern von morgen muß die europäische Realität als eine persönliche und konkrete Erfahrung vor Augen geführt werden, und es muß ihnen eine gründliche Kenntnis unserer Sprachen und unserer Kultur vermittelt werden, denn hieraus erwächst das gemeinsame Erbe, das eben die Europäische Union schützen muß." Öffentlichkeit und Dynamik des Integrationsprozesses entsprechen (M. Schweitzer / W. Hummer, aaO., S. 280 f.). Darunter fallen z.B. Forschungs- und Wissenschaftspolitik, wie sie von der Absichtserklärung der Gipfelkonferenz in Paris 1972 angestrebt werden (zur Forschungs-, Technologie· und Industriepolitik eingehend H.P. Ipsen, aaO., S. 914 ff.; zur Forschungs- und Bildungspolitik vgl. auch B. Beutler (Mitarb.), aaO., S. 400 ff. (2. Aufl., S. 451 ff.)). Zur "europäischen Dimension" des Bildungsrechts: W. Hiermaier, Der Einfluß der Europäischen Gemeinschaft auf das Deutsche Bildungswesen, in: Birk / Dittmann /Erhardt (Hrsg.), Kulturverwaltungsrecht im Wandel, 1981, S. 81 ff. S. auch R. Lindner, Europäische Politik für Forschung und Bildung, 1977 (Möglichkeiten und Grenzen einer Europäischen Union, Bd. 4). - Ausdrücklich gefordert wurde die Zusammenarbeit im Bereich der Kultur, z.B. durch periodische Zusammenkünfte der beteiligten Minister, auf der Schlußerklärung der Gipfelkonferenz der Staats- und Regierungschefs von Bonn 1961 (B. Beutler (Mitarb.), aaO., S. 401, 2. Aufl., S. 452). 45 Bulletin der Europäischen Gemeinschaften, Beilage 1/76. - Viel beachtet wird jetzt der sogenannte Spinelli-Bericht vom 21.6.1982 (Europäisches Parlament Sitzungsdokument 1 305/82/B.). In ihm ist das Ziel der Schaffung der Europäischen Union bekräftigt. Unter Ziff. 16 heißt es: "Unseren Völkern muß in zunehmendem Maß bewußt gemacht werden, daß ... ihr eigenes Land mit seinen Institutionen, Gesetzen und Bräuchen Teil einer Union demokratischer Nationen sein sollte, die der Achtung der demokratischen Freiheiten und der Menschenrechte ... verpflichtet ist. Die Aufgabenverteilung zwischen Mitgliedsstaaten und Union muß auf dem Grundsatz der Subsidiarität beruhen ...". Gemäß Ziff. 18 soll der Gerichtshof "Kompetenz erhalten, in Fällen der Verletzung elementarer Menschenrechte Recht zu sprechen. Alle Bürger der Gemeinschaft sollten sich direkt an den Gerichtshof in den Grenzen seiner Befugnisse wenden dürfen".
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I. Methoden
Gewiß, der Tindemans-Bericht ist nur ein Bericht, kein kultureller Rechtstext. Indes enthält er ein Reservoir an europäischer Kulturpolitik, dessen Inhalt zu Kulturrecht "werden" kann. Ein Beleg ist die von Tindemans vorgeschlagene Europäische Stiftung zur Förderung von zwischenmenschlichen Kontakten wie "Jugendarbeit, Studienaustausch, wissenschaftliche Diskussionen und Kolloquien, Zusammenkünfte sozioprofessioneller Gruppen, kulturelle und Informationstätigkeiten". Diese Stiftung ist mittlerweile gegründet worden. Ein letzter einschlägiger Text sei zum Sprachenproblem in Europa zitiert 46. Die Resolution 69/2 des Europarates über ein intensiviertes modernes Sprachenprogramm für Europa lautet im Auszug: "... daß, wenn volles Verstehen unter den Ländern Europas erreicht werden soll, die Sprachbarrieren entfernt werden müssen. Sprachliche Vielfalt als ein Teil des europäischen kulturellen Erbes soll als Basis intellektueller Bereicherung dienen; sie darf kein Hindernis auf dem Weg zur Einheit sein" 47 .
m . Die werdende Kulturverfassung: Europa
Die Bestandsaufnahme hat eine große Vielfalt und Lebendigkeit kulturpolitischer Vorgänge und Initiativen, Hoffnungen und Aktivitäten in Bezug auf Europa sowie in Europa erkennbar werden lassen, und sie hat eine Reihe von fundierenden kulturrechtlichen Texten zu Tage gefördert, die schon jetzt Elemente eines kulturellen Europas in juristischer Gestalt bilden. Beides dürfte mittelund langfristig zu europäischem Kulturverfassungsrecht "im Werden" führen. Dabei können Anleihen bei den Strukturen des innerstaatlichen Kulturverfassungsrecht gemacht werden. Europa hat im herkömmlichen Sinn noch keine "Verfassung" 48. Manches deutet aber darauf hin, daß es schon in kulturverfassungsrechtliche Dimensionen hineinwächst. Mehr als in jedem anderen Teilbereich einer verfassungsstaatlichen Verfassung ist freilich der Bereich der Kultur von vorneherein nur begrenzt "verfaß46
Zit. nach K. Schröder, (1976), S. 573 (575).
Fremdsprachenpolitik in Europa, in: Politische Studien, Heft 230
47 Zu Recht heißt es bei K. Schröder, aaO., S. 575: "Die kulturelle Verarmung beginnt, wo es an Sprache fehlt; ein "restringiertes" Euro-Englisch schafft allenfalls eine paneuropäische Subkultur". 48
Nach W. von Simson, Die Verteidigung des Friedens, 1975, S. 122 sind die Europäischen Gemeinschaftsverträge zwar noch keine Verfassung. "Aber sie sind ein Schritt auf dem Wege zu verfassungsmäßigen Zuständen". Zum Verfassungscharakter der EG (unter Hinweis auf H.P. Ipsen): H. Schneider / R. Hrbek, in: Möglichkeiten und Grenzen einer Europäischen Union, Bd. I, Die Europäische Union als Prozeß, 1980, S. 241; zu "europäisch" ausgerichteter Bildungspolitik dies. ebd., S. 430 ff., dazu noch unten Anm. 55, 64.
3. Europa in kulturverfassungsrechtlicher Perspektive
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bar": weil Autonomie und Freiheit von Wissenschaft und Kunst, von Alternativ- und Gegenkulturen nur begrenzt vom Recht erfaßt werden dürfen und sollen: es schafft eher Rahmenbedingungen, zieht schützende Grenzen und regt nur sehr bedingt an. An diese Grenzen der Verrechtlichung muß gerade von einem "offenen Kulturkonzept" aus immer wieder erinnert werden. Und speziell Europa wird ja gerade als Kultur durch Vielfalt und Austausch, regionale Autonomie und Dezentralisierung, kulturelle Freiheit und Pluralismus konstituiert Diese Aspekte sind Teil des vielberufenen "kulturellen Erbes" Europas, das ihm auch für die Zukunft mit auf den Weg gegeben ist. Vor allem die Freiheit des Einzelnen bildet das ererbte "Kulturgut" Europas und diese Freiheit ist zugleich eine Garantie dafür, daß sich die Kultur Europas weiterentfaltet 49. Im folgenden werden einige jener Prinzipien erarbeitet, die Ansatzpunkte für ein europäisches Kulturverfassungsrecht "im Werden" sind. Dabei ist das Koordinatensystem zu entwickeln, in dessen Rahmen sich in Zukunft Prozesse der Verdichtung kulturpolitischer Programme und Inhalte zu kulturrechtlichen Prinzipien abspielen könnten. Das Ganze kann nur im Umriß und nur in aller Vorläufigkeit skizziert werden, ist aber als ein Anwendungsfeld kulturwissenschaftlicher Arbeitsmethoden zu begreifen 50. Territorial gesehen betrifft es auch nur das Europa der im Europarat verbundenen Staaten und das Europa der EG. Das schließt nicht aus, daß die Völker Osteuropas (bis zum Ural) von vorneherein z.B. in Fragen auswärtiger Kultur-
49 Der katholische "Rat der Europäischen Bischofskonferenz" rief mit seinem "Wort zu Europa" vom 3. 7.1977 zur Einigung Europas auf. Er wies darauf hin, daß das "Christentum zu den Kräften gehört habe, die Europas Geschichte, Entwicklung und Kultur gestaltet hätten" (zit. nach SZ vom 30. Juni 1977; dazu auch I. Pernice, JZ 1977, S. 777 (781)). 50
Vgl. meinen Beitrag: Vom Kulturstaat zum Kulturverfassungsrecht, in: P. Häberle (Hrsg.), Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht, 1982, S. 53 ff. - Kulturwissenschaftlich in der Sache setzt W. Hallstein, aaO., S. 14 an: "Die wissenschaftliche Darstellung spiegelt diese Tatsache vielleicht stärker in der Kunst- und Literaturgeschichte, die europäisch blieb, und weniger stark in anderen Zweigen wie der politischen Geschichte, die weithin eine Addition von Nationalgeschichten wurde, oder der Rechtswissenschaft, die allzu leicht der Schwerkraft der nationalen Gesetzgebungsmassen erlag, oder der Wirtschaftswissenschaft, die unbeschadet des Vielen, das wir ihr für unsere wirtschaftspolitische Arbeit verdanken, uns noch heute manchmal durch ihre "national"-ökonomische Einstellung enttäuscht." Unter dem Aspekt "Kultur" ist W. Hallsteins Buch "Die Europäische Gemeinschaft" in seiner 5. Aufl. 1979 noch ergiebiger: Das Plädoyer für die Ausdehnung der europäischen Einigung auf Kulturpolitik (S. 31) und der Hinweis auf die Bedeutung der Niederlassungsfreiheit für die freien Berufe für die Kulturpolitik (S. 141). Hallstein spricht sogar von der "kulturellen Persönlichkeit Europas" (S. 212), im Rahmen eines eigenen Abschnittes über "Kulturpolitik" (S. 211-216). - S. a. C. Schmid, Erinnerungen, 1981, S. 484 ff., der den Europa-Gedanken mit der "Freiheit der Kultur" in Konfrontierung mit dem Totalitarismus in Zusammenhang bringt; ders. ebda, zur Kulturkonferenz der Europäischen Bewegung, die 1949 in Lausanne stattfand und aus der der Kongreß für die Freiheit der Kultur in Berlin Ende Juni 1950 entstand. Vgl. jetzt des EG-Vorsitzenden G. Thorns geglücktes Wort von der "kulturellen Finalität der wirtschaftlichen Entwicklung" (zitiert nach FAZ vom 16. 5.1983, S. 23).
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I. Methoden
politik, des Kulturaustausches, der Inhalte vermittelnder Kunst "ideell" als Teil Europas mitgedacht sind.
1. Europa zwischen kulturellem Erbe und kulturellem Auftrag: die Zeitdimension, Europa als kultureller Prozeß
Der vielzitierte Reichtum des "kulturellen Erbes" Europas ist nicht von heute auf morgen entstanden. Diese - banale - Einsicht zwingt zu Folgerungen: Europa als Kultur war und ist vor allem ein Prozeß in der Zeit Seine Vielfalt auch seine Ungleichzeitigkeiten - sind eine Form des Pluralismus in der Zeit Rechtlich muß alles getan werden, daß Europa dieser Prozeß bleibt: Nur so ist seine Vielfalt garantiert. Was in Präambeln und anderen kulturbezogenen Rechtstexten als "Erbe" charakterisiert wird 51 , kann nur "in processu" weiter vermittelt werden. Die Rechtsordnung hat ein Optimum an Rahmenbedingungen hierfür zu schaffen: Genannt seien kulturelle Grundrechte sowie regionale, präföderale und föderale Staatsstrukturen als Pluralismusgarantien. Ein Europa, das bei aller Vielfalt als eine "einheitliche Kultur" begriffen wird, muß sich seiner Identität bewußt werden, um sie schützen zu können. Es darf sich vor allem nicht zur Politik hin bzw. von ihr her instrumentalisieren, und es sollte sich auch nicht von der Wirtschaft vereinnahmen lassen. Der Streit um die Subventionierung der Filmwirtschaft (bzw. genauer: Filmkultur!) ist hier ein warnendes Beispiel52. So unentbehrlich historisch die Wirtschaft für das Zusammenwachsen Europas war und so wichtig die wirtschaftliche Basis bleibt: Sie ist kein Selbstzweck. Europa ist Europa als Kultur, es bleibt Europa nur als Kultur, und alle kulturpolitischen Bemühungen in und um Europa wollen ja gerade dies bewußt machen: Europa muß seine Zukunft im kulturellen Bereich suchen bzw. wiederfinden 53. Was folgt daraus praktisch?
51 Zu "kulturelles-Erbe-Klauseln" in verfassungstheoretischer Sicht allgemein mein Münchner Vortrag "Zeit und Verfassungskultur" (1981), in: A. Möhler (Hrsg.)., Die Zeit, 1982, S. 289 (295 ff.); ferner meine Schrift: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1982. 52 53
Vgl. oben bei Anm. 7.
Im Schlußkommuniqu6 der Haager Gipfelkonferenz vom Dezember 1969 wurde die Notwendigkeit betont, Europa als "eine ungewöhnliche Quelle der Entwicklung, des Fortschritts und der Kultur zu erhalten", vgl. Für eine gemeinsame Bildungspolitik, Bulletin der Europäischen Gemeinschaften, Beil. 3/74, Ziff. 2; Ziff. 56 ebd., spricht von der "politischen, sozialen und kulturellen Realität des Aufbaus der Europäischen Gemeinschaft". - Zum Fehlen einer europäischen öffentlichen Meinung aber: L.-J. Constantinesco, Das direktgewählte Parlament, in: Ged.-Schrift für Sasse, Bd. 1,1981, S. 247 (256 ff.). - Von einem sehr "unterschiedlichen sozial-kulturellen Unterbau' " innerhalb der EG spricht Γ. Oppermann, Juristische Fortschritte durch die europäische Integration?, in: Tradition und Fortschritt im Recht, 1977, S. 415 (427).
3. Europa in kulturverfassungsrechtlicher Perspektive
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Nun, kulturpolitisch und kulturrechtlich sollte einerseits dafür gesorgt werden, daß dieses kulturelle Erbe als Ganzes und in seinen Teilen bewahrt wird. Gesetze zum Schutz nationalen Kulturgutes sind insofern konsequent. Im Interesse der Kommunikation in Europa ist aber möglicherweise zu differenzieren: Vielleicht ist ein Verkauf von bestimmten Kulturgütern an andere Teile Europas zulässig, ja sogar erwünscht: im Interesse der Kommunikation und des Austausches bzw. der gegenseitigen Anerkennung der kulturellen Identität des Nachbarn. Die nationalen Kulturgüter sind ja ein Teil des "gemeinsamen Erbes"54. Vielleicht läßt sich in dieser Richtung das Gesetz über die unerwünschte Abwanderung deutschen Kulturgutes im Ausland reformieren, ebenso alle Parallelgesetze in anderen Ländern. Das europäische Ausland wird privilegiert! Ein weiteres Beispiel ist der Streit um die Rückgabe abhanden gekommenen nationalen Kulturgutes. Er müßte sich innerhalb Europas eher schlichten lassen als weltweit (Man denke an den Streit zwischen England und Griechenland um Teile der Akropolis in Athen: die Elgin-Marbles). Es geht aber nicht nur um die Bewahrung und Vermittlung des kulturellen Erbes als solchem. Europas kultureller Auftrag als in die Zukunft weisender Prozeß verlangt z.B. Öffnung und Offenheit für neue kulturelle Entwicklungen, etwa für "Alternativkulturen". Das kann sich bei regionalen Förderungspolitiken europäischer Instanzen auswirken. Ein Europa, das im Selbstverständnis auf dem Status quo seines überkommenden Erbes "sitzen" bliebe, stellte sich selbst in Frage. M. a. W.: Der Pluralismus, der im Rückblick auf die Vergangenheit Europas praktiziert wird, muß auch die Zukunft prägen. Insofern ist die Kultur Europas, d.h. Europa unterwegs: ein offener Prozeß. Die Freiheit der Kultur und die Freiheit als Kultur ist eine Bedingung dafür, daß dieses Europa auch eine kulturelle Zukunft hat. Soweit begrenzte Leistungen staatlicherseits erforderlich werden, sollten sie grundsätzlich dezentralisiert, nur ausnahmsweise (z.B. im Weg der Harmonisierung des Kulturrechts wie des Urheberschutzes etc.) einheitlich erbracht werden55. 54 55
Art. 5 des oben zitierten Europäischen Kulturabkommens vom 19.12. 1954.
Im Rahmen der EG gibt es schon vielfältige kulturelle Initiativen: vgl. die Entschließung des Europäischen Parlaments zum Schutz des europäischen Kulturgutes (Amtsblatt der EG, Nr. C 62/5, 30.5.1974). Ihre Stichworte sind: "drohender Verlust europäischen Kulturgutes"; Notwendigkeit, "die Zeugen der historischen und künstlerischen Vergangenheit zu bewahren und der Öffentlichkeit den Reichtum, den dieses Erbe für alle Völker bedeutet, klarer bewußt zu machen"; der Hinweis auf die Erklärung über die europäische Identität der Staats- und Regierungschefs der Länder vom 14.12.1973; das Erziehungsziel bei der Jugend, "Verständnis für alte Kulturschätze zu wecken ..., ohne das zeitgenössische Kulturgut zu vernachlässigen"; die Überzeugung, daß sich die Jugend "chancengleich mit diesen Kulturschätzen vertraut" machen sollte; "Schutz und Förderung des Kulturschaffens". Die kulturelle Dimension wird der wirtschaftlichen gleichsam 'angelagert': Das zeigt sich darin, daß der Dienststelle für "Umwelt und Verbraucherschutz" auch die Kompetenz "Schutz des Kulturgutes" zugeschrieben wird (Ziff. 7 der Entschließung) und eine Abteilung
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I. Methoden
2. Einzelne Garantien der Vielfalt und Einheit, Offenheit und Identität Europas als Kultur
Die Konzeption der Vielfalt und Einheit, Offenheit und Identität Europas als Kultur verlangt Analogien zu Rechtsprinzipien, die im innerstaatlichen Kulturverfassungsrecht einzelner Länder bereits erprobt sind. Vor allem die deutschsprachigen Länder, insbesondere die Bundesrepublik Deutschland und ihre Einzelstaaten, die Schweiz als Bundesstaat und ihre Kantone, begrenzt auch Österreich 56, zeichnen sich schon heute durch ein exemplarisches Kulturverfassungsrecht aus. Seine Bestandteile sind vor allem differenzierte Kataloge kultureller Grundrechte im engeren Sinne (in Deutschland), Erziehungsziele sowie Vorformen kultureller Bundesstaatlichkeit (Regionen in Italien und in Spanien), Dezentralisierungstendenzen in England und Frankreich und Formen kultureller Bundesstaatlichkeit (Kulturhoheit bei den Ländern bzw. Kantonen). Diese kulturverfassungsrechtlichen Strukturen können Anschauungsunterricht sein und "Baumaterial" liefern für die künftige Arbeit am europäischen Kulturverfassungsrecht: de lege (bzw. constitutione) lata und de lege (bzw. constitutione) ferenda. Das sei im folgenden näher umrissen.
a) Kulturelle
Grundrechte als ein Stück Freiheit der Kultur
Auf Europaebene gelten schon jetzt Aspekte der Freiheit der Kultur 57 in Gestalt kultureller Grundrechte (im engeren Sinne). Einmal insofern und direkt, "Fragen im Kulturbereich" geschaffen wird. Vgl. die Schaffung eines Fonds zur Finanzierung der Restaurierung von Kulturdenkmälern und historischen Stätten und die Aufforderung an alle Mitgliedsstaaten, die UNESCO-Konvention vom 14.11.1970 über die "Maßnahmen zum Verbot und zur Verhinderung der rechtswidrigen Einfuhr, Ausfuhr und Weitergabe von Kulturgut" zu ratifizieren. Die schrittweise Erweiterung wirtschaftlicher um kulturpolitische Kompetenzen zeigt sich auch in der Entschließung des Rates vom 6. Juni 1974 (Amtsblatt, Nr. C 98/1) über die gegenseitige Anerkennung der Diplome etc.: "zweckmäßig, daß die Bildungspolitik einen positiven Beitrag zur Niederlassungsfreiheit leistet". Vgl. zuletzt den Bericht der Kommission vom 8.10.1982: "Le renforcement de l'action communautaire dans le secteur culturel" mit Stichworten wie: "Le libre échange des biens culturels", "L'amélioration des conditions de vie et de travail des travailleurs culturels" und "La conversation du patrimoine architectural". 56 Dazu mein Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat, 1980, vor allem ebd. S. 77 ff. zu den beispielhaften Kulturförderungsgesetzen. 57 W. von Simson hat im Zusammenhang mit der Problematik der Menschenrechte mehrfach den Aspekt des Kulturellen betont: vgl. ders., Die Bedingtheit der Menschenrechte, in: Liber amicorum, FS B.C.H. Aubin, 1979, S. 217 (218): "Kulturgemeinschaft", und ders., Internationaler Gerichtshof für Menschenrechte?, wiederabgedruckt in: ders., Der Staat und die Staatengemeinschaft, 1978, S. 195 (197): "gemeinsame Rechtsüberzeugung oder gemeinsame Kultur der Freiheit"... wird offenbar, daß diese Gemeinsamkeit der Rechtsüberzeugung oder der Kultur die unentbehrliche Bedingung für einen rechtlichen Schutz von Menschenrechten ist...".
3. Europa in kulturverfassungsrechtlicher Perspektive
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als die Menschenrechtspakte von 1966 und die EMRK-Grondfreiheiten in allen Staaten Europas in Kraft sind. Zum anderen in der Weise, daß viele Länder in Europa in gleicher oder doch ähnlicher Weise kulturelle Grundrechte nicht nur für ihre Staatsbürger, sondern für jedermann gewährleisten. Darin sind schon jetzt Elemente europäischen Kulturverfassungsrechts zu erblicken. Als Beispiel seien genannt: Die kulturellen Rechte nach dem Menschenrechtspakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (1966)58, etwa das Recht auf Bildung (Art. 13)59, das kulturelle Teilhaberecht in Art. 15 Abs. 1 Ziff. a und b sowie die Freiheit zu wissenschaftlicher Forschung nach Abs. 3 ebd. Aber auch das Recht der Völker bzw. ihre Freiheit zu "kultureller Entwicklung" (Art. 1 Abs. 1) gehört hierher, so schwer es in der korporativen Dimension zu fassen ist. Aus der EMRK 60 von 1950 seien erwähnt: etwa das spezielle kulturelle Grundrecht auf Achtung der privaten Sphäre (Art 8) oder die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art 9), auch die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Art. 11). Art 2 des Zusatzprotokolls vom 20. 3.1952 (Recht auf Bildung, Erziehungsrecht der Eltern) ist ebenfalls ein kulturelles Grundrecht par excellence61. Soweit sich kulturelle Grundrechte in den einzelnen Verfassungsstaaten Europas ganz oder teilweise entsprechen, stellt sich die Frage, ob sich insofern nicht schon gemeineuropäisches Recht, in concreto "gemeineuropäisches Kulturverfassungsrecht" entwickelt hat bzw. noch entwickelt. Eine "parallele" Geltung der Religionsfreiheit in allen europäischen Staaten oder der Freiheit von Kunst und Wissenschaft ist ein Stück europäischen Kulturverfassungsrechts. Mag formal Rechtsquelle der einzelstaatliche Gesetzgeber sein, im kul-
58 Zit. nach F. Berber (Hrsg.), Völkerrechtliche Verträge, 2. Aufl. 1979. - Zu den kulturellen Konferenzen der Unesco in Venedig (1970) und Helsinki (1972) aus der Sicht der Schweiz: W. Spühler, Kulturelle Außenpolitik, in: FS Tschudi, 1973, S. 303 (312). Wurde dort "die Freiheit des Künstlers als ein fundamentales Menschenrecht" erklärt, so war in Helsinki von einem "Recht auf Kultur und den Pflichten der öffentlichen Gewalten, diesem umfassende Geltung durch die Kulturpolitik zu verschaffen", die Rede. 59
Zu "Bestand und Bedeutung der Grundrechte im Bildungsbereich in der BR Deutschland" vgl. den gleichnamigen Aufsatz von Hans Joachim Faller, EuGRZ 1981, S. 611 ff. 60 Zit. nach Berber, aaO. - Zum Schutz des "Privatlebens" durch Art. 8 M R K vgl. H.-U. Evers, in: FS H. R. Klecatsky, Bd. 1,1980, S. 177 ff. 61 Eine Einzelanalyse der Europäischen Sozialcharta könnte auch in ihren Artikeln kulturelle Aspekte ausmachen, so sehr diese bloßem "soft law" ähneln: Art. 7 (Jugendschutz), Art. 10 (Recht auf berufliche Ausbildung, z.B. Zugang zu Universitäten nach "alleiniger Maßgabe der persönlichen Eignung"). - Aus der Schweizer Literatur zur Frage der Ratifikation der ESC in der Schweiz zuletzt H. Huber in seinem gleichnamigen Aufsatz in FS G. Winterberger, 1982, S. 395 ff.
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I. Methoden
turellen Gesamtrahmen Europas und im Ergebnis kommt es zu einem gemeineuropäischen Standard an kultureller Freiheit auf dem Gebiet von Religion62, von Wissenschaft und Kunst. Entsprechendes kann für das elterliche Erziehungsrecht63 oder die Ausbildungsfreiheit gesagt werden64. In der Zukunft dürften Aspekte der Medienfreiheit in den Vordergrund rücken. An dieser Stelle kann keine Theorie gemeineuropäischen Rechts im allgemeinen und gemeineuropäischen Kulturverfassungsrechts im besonderen entworfen werden. Nur die Kategorie "gemeinen Rechts auf Europaebene" als solche sei zur Diskussion gestellt. Sie besitzt innerstaatlich in der Lehre vom "gemeindeutschen Verfassungsrecht" 65 ein Gegenstück. Das Besondere an der Idee und Wirklichkeit gemeinen Rechts auf Europaebene liegt darin, daß hier Europa als kultureller Rahmen auch rechtlich greifbar wird. Die parallele Geltung von Rechtsprinzipien wird Ausdruck gemeinsamer Rechtskultur bzw. Kultur. Wo sich "Lücken" im geltenden innerstaatlichen Recht zeigen, wo sich Auslegungsprobleme ergeben, kann subsidiär auf den in Europa vorhandenen Standard zurückgegriffen werden. Das schafft ein Stück kultureller und dann auch rechtlicher Einheit dieses Europas und es setzt zugleich ein Stück dieser Einheit als Rahmen voraus: weil das einzelstaatliche Recht in das gesamteuro-
62 Zum Urteil des EuGH in der Sache "Prais" bzw. zu religionsrechtlichen Aspekten im Europäischen Gemeinschaftsrecht s. den gleichnamigen Aufsatz von I. Pernice, JZ 1977, S. III ff. 63 S. die Rechtsprechung des EGMR, die hier "Vorreiter" ist. Zum Recht auf Bildung nach Art. 2 des Ersten Zusatzprotokolls zur EMRK: H. Walter, Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte 1959-1974, JöR 24 (1975), S. 25 (45 f.). - Zum belgischen Sprachenstreitfall des EGMR ders., ebd. S. 44, zuletzt: C. Eiselstein, Staatliches Bildungsmonopol und Europäische Menschenrechtskonvention, in: Birk / Dittmann / Erhardt (Hrsg.), Kulturverwaltungsrecht im Wandel, 1981, S. 178 (180 f.). - Zu Aspekten der Medien fr eiheit vgl. M. Seidel, Rundfunk, insbesondere Werbefunk und innerstaatliche Dienstleistungsfreiheit, in: Ged.-Schrift für Sasse, Bd. I, 1981, S. 351 ff.; ebd. S. 365:"Die innerhalb der Gemeinschaft bestehende Freizügigkeit der Arbeit und der freiberuflichen Betätigung schließt die wechselseitige kulturelle Unterrichtung und Durchdringung der Mitgliedstaaten ein". 64 Zumal hier vom EG-Recht her Kompetenzen und Aktivitäten stützend hinzutreten, die z.T. zu europäischem Kulturverwaltungsrecht führen. In den Gesamtberichten über die Tätigkeit der EG finden sich Abschnitte über Politik auf dem Gebiet des Bildungswesens, z.B. 8. Gesamtbericht EG 1974-1976, Ziff. 208 ff.; 9. Gesamtbericht EG, Ziff. 334 ff.; 10. Gesamtbericht EG, Ziff. 402 ff.; Ziff. 406, ebd. berichtet von der dem Parlament vorgelegten "Mitteilung über die gemeinschaftliche Aktion im kulturellen Bereich", die das Parlament in seiner Entschließung vom 8. 3.1976 "mit Genugtuung" begrüßt hat. Siehe ferner die Entschließung der im Rat vereinigten Minister für Bildungswesen vom 6. Juni 1974 über die Zusammenarbeit im Bereich des Bildungswesens (Amtsblatt, Nr. C 92/2: Schaffung einer "Chancengleichheit für den uneingeschränkten Zugang zu allen Bildungsformen".). - Zu Aktivitäten der EG im Erziehungs- und Ausbildungsbereich aus der Literatur zuletzt: H. H. Schwan, Die deutschen Bundesländer im Entscheidungssystem der Europäischen Gemeinschaften, 1982, S. 15 ff. Zur europäischen Wissenschaftsstiftung ebd. S. 18. 65 Dazu P. Häberle, "Landesbrauch" oder parlamentarisches Regierungssystem?, JZ 1969, S. 613 ff., jetzt in: ders., Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 200 ff. mit Nachtrag (S. 213).
3. Europa in kulturverfassungsrechtlicher Perspektive
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päische kulturelle Erbe eingebettet ist. Der Interpret, sei es der Richter oder Wissenschaftler 66, der Gesetzgeber oder Verwaltungsbeamte, wirkt damit zugleich als Katalysator europäischer Integration. Sie ist hier primär kulturelle, nicht wirtschaftliche Integration. Und bei aller Vielfalt der europäischen Kultur: Ein Mindestmaß an kultureller Integration bleibt unentbehrlich. In Frage stehen also nicht nur die kulturellen Grundrechte im engeren Sinne. Alle Grundrechte67 - verstanden als hart erkämpfte Eigebnisse eines kulturellen Reifungsprozesses - sind Ausdruck von Kultur, d. h, der Kultur des Europa und die USA sowie Kanada verbindenden Typus "Verfassungsstaat". Hinter allen Bemühungen auf EG- oder EMRK-Ebene "Gemeineuropäisches Recht" auszumachen, stehen letztlich gemeinsame Kultur geholte, wie immer sie umschrieben werden68.
66 Auf einem Festakt der Juristenfakultät von Freiburg i. Üe. führte P. Pescatore, Mitglied des EuGH in Luxemburg aus, wie sich am EuGH seit Großbritanniens Beitritt zu der EG die beiden reichsten juristischen Traditionen Europas zu einer neuen Rechtskultur vermischten: i.S. eines Beitrags zur Bewahrung und Erneuerung der europäischen Identität (ΝΖΖ vom 14.12.1982, S. 32). Die 1982 von N. Horn herausgegebene Festschrift für H. Coing trägt den charakteristischen Titel: "Europäisches Rechtsdenken in Geschichte und Gegenwart". W. Maihof er, ebd. S. 579 (580) spricht im Blick auf den Jubilar von "Wiedererinnern und Fortdenken Europäischer Rechtskultur" aus der Sicht der Wissenschaft wie der Philosophie des Rechts. - Die Betonung des Kulturellen darf freilich nicht zum Vorwand dafür werden, zurückzufallen in den Stand eines nur geistigen Europas i.S. eines "von den Griechen und Römern 'imaginierten' und von den 'lettrés' der Nationen des Kontinents ausgebauten Reiches des Geistes - un jeu de l'ésprit" (de Gaulle nach C. Schmid, Erinnerungen, 1979, S. 751). 67 Im Rahmen der Diskussion über das Thema "Ein Grundrechtskatalog für die Europäischen Gemeinschaften" meint C. Starck in seinem gleichnamigen Aufsatz in EuGRZ 1981, S. 545 (548) zu recht: "Es wäre selbst Ausdruck der Kraft gemeinsamer europäischer politischer Kultur, wenn ein europäischer Grundrechtskatalog für die Gemeinschaften zustandegebracht würde. Europa ist nicht nur eine Wirtschaftsunion. Die dahinter stehende Einheit der Kultur zeigt sich eindrucksvoll in der Entwicklung der Grundrechte in Europa ...". S. auch E. Benda, Europa als Grundrechtsgemeinschaft, in FS F. Schäfer, 1980, S. 12 ff. - Zu Problemen einer "Charta der Rechte des Bürgers der Europäischen Gemeinschaft" vgl. den gleichnamigen Aufsatz von M. Zuleeg, in: FS Schlochauer, 1981, S. 982 ff. Der kulturelle Aspekt ist darin indes explizit nicht berührt. 68 Vgl. J. Schwarze, in: ders., Hrsg., Europäisches Verwaltungsrecht im Werden, 1982, S. 19: "gemeineuropäische Verwaltungsordnung" (im Anschluß an J. Rivero ), wobei auf die "hinter den einzelnen nationalen Verfassungs- und Verwaltungsordnungen stehenden gemeinsamen Wertvorstellungen" (S. 13) Bezug genommen wird. Auch die berühmte Formel des EuGH von den Grundrechten als "allgemeinen Rechtsgrundsätzen, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat", gehört hierher, zumal danach die Gewährleistung dieser Rechte von den "gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten" getragen sein muß, sich aber auch in die "Struktur und die Ziele der Gemeinschaft einfügen muß" (Internationale Handelsgesellschaft Rs 11/70, Slg. X V I S. 1125 (1135) und ständig). Hier werden die Umrisse eines gemein-europäischen Grundrechte-Rechts sichtbar.
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I. Methoden
b) Erziehungsziele als Direktiven für Offenheit und für Kommunikation mit anderen (europäischen) Kulturen: Der Weg zur nmultikulturellen Gesellschaft" in Europa als Ganzem und in seinen Einzelstaaten
Erziehungsziele, wie sie sich vor allem in den Länderverfassungen nach 1945 finden 69, bilden ein wesentliches Stück des deutschen Kulturverfassungsrechts; besonders prägnant ist das Erziehungsziel nach Art. 26 Verf. Bremen70. Sie finden sich aber auch in internationalen Texten71. Schließlich lassen sich manche Verfassungsprinzipien "als" Erziehungsziele interpretieren (z.B. Art. 24-26 GG). Die Frage ist, ob sich schon nach geltendem Recht in Europa Erziehungsziele ergeben, die spezifisch die europäische Kultur zum Gegenstand haben: indem sie zur Achtung vor ihr und ihren Ausprägungen, zu Toleranz gegenüber der Kultur anderer Völker in Europa erziehen wollen. Die Frage ist zu bejahen. Tendenziell läßt sich solches aus der Präambel der EMRK von 1950 gewinnen: Insofern dort vom Ziel der Entwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten die Rede ist und das "gemeinsame Erbe an geistigen Gütern, politischen Überlieferungen, Achtung der Freiheit und Vorherrschaft des Gesetzes" beschworen wird. Ähnlich formuliert die Satzung des Europarates vom 5. 5. 194972 in ihrer Präambel und in ihrer auf das kulturelle und wissenschaftliche Gebiet erstreckten Aufgabenklausel in Art. 1 b. Das Europäische Kulturabkommen vom 19.12.195473 spricht noch deutlicher vom "gemeinsamen europäischen kulturellen Erbe". Eindrucksvoll und auch in und für Europa veibindlich ist Art. 13 des erwähnten Menschenrechtspaktes. Danach muß die Bildung "Verständnis, Toleranz und Freundschaft unter allen Völkern und allen rassischen, ethnischen und religiösen Gruppen fördern". Dieses Ziel kann aber nur über ein entsprechendes Bildungsziel "Toleranz" und "Öffnung für andere Kulturen" eingelöst werden74. 69 Aus dem Schrifttum grundlegend H.-U. Evers, Die Befugnis des Staates zur Festlegung von Erziehungszielen ... 1979; s. jetzt P. Häberle, Verfassungsprinzipien als Erziehungsziele, FS H. Huber, 1981, S. 211 ff.; ders., Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1981. 70 Zit. nach C. Pestalozza (Hrsg.), Verfassungen der deutschen Bundesländer, 2. Aufl. 1981, vgl. unten bei Anm. 77. 71 Vgl. Art. 13 des Menschenrechtspaktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte: "Die Vertragsstaaten ... stimmen überein, daß die Bildung auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und des Bewußtseins ihrer Würde gerichtet sein und die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten stärken muß". 72
Zit. nach F. Berber, Völkerrecht, Dokumentensammlung, Bd. 1,1967.
73
Zit. nach F. Berber, ebd.
74
Vgl. auch aus den 10 Thesen zur kulturellen Begegnung und Zusammenarbeit mit Ländern der Dritten Welt des Deutschen Auswärtigen Amtes (März 1982) z.B.: "Die Vielfalt der Kulturen macht den geistigen Reichtum unserer Welt aus"; "Minimum an Grundbildung für alle Menschen";
3. Europa in kulturverfassungsrechtlicher Perspektive
67
Hinzuzunehmen sind Bestimmungen in europäischen Verfassungen 75, die sich wie Art. 24-26 GG als gemeineuropäische Erziehungsziele interpretieren lassen. Ja noch weitergehend: Die Völkerrechtsoffenheit des GG wird zur Achtung nicht nur vor der Kultur des territorial benachbarten Staates in Europa: Sie wird auch zur Achtung vor der (anderen) Kultur, die sich auf dem eigenen Boden des jeweiligen Verfassungsstaates entfaltet: indem sie von europäischen Gastarbeitern u.ä. staatsintern gelebt wird. Art. 24-26 GG werden sozusagen "introvertiert" verstanden: Mit Bezug auf die dank der EG-Freizügigkeit sich innerhalb der eigenen Grenzen entfaltenden Vielfalt von Kulturen. Art 24-26 GG werden zum Test für Möglichkeiten und Grenzen einer "multikulturellen Gesellschaft" in Europa76. Rechts- und kulturpolitisch ist hier noch viel zu leisten: So wird "Europa" als Erziehungsziel in den staatlichen Schulen zu formulieren und zu lehren sein, so muß die sich daraus ergebende Achtung vor der kulturellen Identität der europäischen Völker ebenso vermittelt werden wie die Fähigkeit, im Austausch (begrenzt auch: in Konkurrenz) mit ihnen zu leben. Europa als Kultur sollte auch in Erziehungszielen "auf den Begriff' gebracht werden; die Vermittlung von europäischem Kulturbewußtsein, auch hier nicht als Indoktrination verstanden, sondern als das "große Angebot". Insbesondere die Ziele Toleranz, Menschenrechte, etc. - ihrerseits der Bestandteil des "europäischen Erbes" - müssen als ein Stück Zukunft auf den Weg gebracht werden: Das beginnt mit ihrem Verständnis und ihrer Normierung als Erziehungsziel. Die Erziehungsziele der Bremischen Verfassung bleiben daher europaweit voibildlich: Erziehung zur "friedlichen Zusammenarbeit mit anderen Menschen und Völkern" sowie zur "Teilnahme am kulturellen Leben des eigenen Volkes und fremder Völker" (Art. 26 Ziff. 1 bzw. 4) könnte jede Verfassung jeden Staates in Europa auszeichnen, ebenso wie dieselbe Idee die Präambel der Verfassung von Hamburg (1952) prägt77: Hamburg will "im Geiste des Friedens eine Mittlerin zwischen allen Erdteilen und Völkern der Welt sein".
"Förderung der kulturellen Identität""; "frühzeitige Begegnung mit fremden Kulturen im Schulunterricht". 75
Siehe die Typologie in P. Häberle, Der kooperative Verfassungsstaat, FS Schelsky, 1978, S. 141 ff. 76 Insofern ist Europa eine "multikulturelle Gesellschaft", ist schon heute das europäische Miteinander ein "multikulturelles Miteinander". Das schließt Europäische Identität nicht aus, sondern ein. Die Evangelische Akademie in Arnoldshain / Ts. führte im November 1982 eine Tagung zu Ausländerproblemen durch. Dabei spielte der Begriff der "multikulturellen Gesellschaft" innerhalb der BR Deutschland eine Rolle (FAZ vom 23.11.1982, S. 23: "Der Preis der Multikultur"). Die Frage, wie der Verfassungsstaat seine je nationale Identität behalten und gleichwohl offen sein kann für ein "multikulturelles Miteinander" von Deutschen und Ausländern, ist erst noch zu klären. 77
Zit. nach Pestalozza, aaO.
68
I. Methoden
c) Dezentralisierte Organisationsstrukturen: eine Essenz von Kulturverfassungsrecht in Europa
Aus der hier vorgeschlagenen Sicht ist der kulturell verstandene und praktizierte Bundesstaat die optimale Organisationsstruktur für den Kulturstaat78. Die Schweiz und die Bundesrepublik Deutschland scheinen mit ihrem Prinzip der Kulturhoheit der Kantone bzw. der Länder, die aber Raum gibt für sektorale Kulturstaatlichkeit des jeweiligen Bundes, dem Ideal nahe. Der österreichische Bundesstaat läßt den Ländern - noch - wenig kulturelles Eigengewicht, doch deutet manches daraufhin, daß sich dies ändern kann. In Europa gibt es indes auch andere Modelle innerstaatlichen Kulturverfassungsrechts. Von Land zu Land verschieden sind die Erscheinungsformen des kulturellen Regionalismus, man denke an Italien und das Autonomie-Statut von Südtirol, an die Regionalisierung in Spanien (vor allem Katalonien), die möglicherweise Vorform von kultureller Bundesstaatlichkeit ist, sowie an den Begjiui der kulturellen Dezentralisierung in Frankreich, die sich indes wegen der besonderen Tradition dieses Landes wohl kaum zur Bundesstaatlichkeit entwickeln kann. Gerade die neueren Verfassungsentwickluhgen in Europa lassen eine Tendenz zu mehr Dezentralisation im kulturellen Bereich erkennen, so unterschiedlich die Einzelstaaten bleiben. Auf einen Nenner gebracht wird indes die kulturelle Dezentralisation als staatenübergreifendes Prinzip sichtbar, in verschiedener Intensität gewiß: am schwächsten noch im Regionalismus Italiens, am stärksten im deutschen und schweizerischen Bundesstaat. Heute scheint der Verfassungsstaat als Typus einer Tendenz zur Dezentralisation ausgesetzt zu sein, und diese beruht letztlich auf kulturellen Entwicklungen. Fragt man nach den Hintergründen, so dürften das erhoffte Mehr an kultureller Freiheit für den Einzelnen, das Mehr an kulturellem Pluralismus, der Trend zur kleineren kulturellen Einheit und die Entstehung von Alternativkulturen zu nennen sein. So vielgestaltig die einzelnen Modelle der Dezentralisation in den Verfassungsstaaten sind und auch bleiben werden, so einheitlich ist also das ihnen zugrundeliegende Prinzip. Kulturelle Dezentralisation darf schon heute als ein die europäischen Verfassungsstaaten verbindendes Prinzip mit kulturverfassungsrechtlicher Perspektive qualifiziert werden. Es ist ein Stück europäischen Kulturverfassungsrechts "im Werden".
78 Dazu mein Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat, 1980. - Zur Lage des österreichischen Föderalismus zuletzt P. Pernthaler / K. Weber, in: Der Staat 21 (1982), S. 576 ff. Für die Schweiz vgl. Y. Hangartner, Grundzüge des schweizerischen Staatsrechts, Bd. 1,1980, S. 47 ff.
3. Europa in kulturverfassungsrechtlicher Perspektive
d) Insbesondere: Dezentralisierte
Für die Kulturpolitik
69
Kulturpolitik
in Europa dürften zwei Maximen maßgebend sein:
Erstens das Postulat vom Minimum an zentraler Kulturpolitik der Staaten bzw. der Europagremien - das auch in der Inanspruchnahme zentraler Kompetenzen dem Leitziel der regionalen Vielfalt, des kulturellen Trägerpluralismus, der kulturellen Freiheit "vor Ort" verpflichtet bleibt Zweitens das Postulat vom Optimum an dezentraler Kulturpolitik in den Organisationsformen regionaler 79, präföderaler oder föderaler Strukturen. "Dezentralisation" diene hier als Oberbegriff. Vielleicht läßt sich vom "Subsidiaritätsprinzip im kulturellen Bereich" sprechen. Jedenfalls scheidet der Zentralismus als Prinzip von vorneherein für jedes Bemühen um Strukturierung des "werdenden Kulturverfassungsrechts" in Europa aus. Abgrenzungsprobleme bleiben noch genug, etwa in der Frage, welche Felder von Kulturpolitik die EG in Brüssel ihren Kompetenzen "anlagern" soll, wie sich die Aktivitäten des Europarates in Straßburg kulturpolitisch verstärken lassen. So unentbehrlich hier kulturpolitische Initiativen sind, so sehr bleibt auch ihnen das Postulat der Achtung vor der jeweiligen Regional- oder Alternativkultur als Vorgabe, bleibt die Bewahrung und Förderung des kulturellen Pluralismus und die kulturelle Freiheit das Ziel. Schließlich muß vor einem Zuviel an (staatlicher oder supranationaler) Kulturpolitik gewarnt werden: Sie führt meist zu Einengungen, zu mehr Bürokratie und zu einem Zuviel von Recht Im ganzen sollte es um die Ermöglichung von mehr kulturellem Austausch und gegenseitigem Verständnis für "das andere" gehen. Hier liegen Arbeitsfelder überregionaler Kulturpolitik. Der viel beschworene Weg zur Bildung einer Europäischen Union ist auf Dauer nur dann gangbar, wenn Europa als Kultur lebendig wird. So sehr das Politische oft vorangeht und vorangehen muß80: Von Dauer sind seine Bewe79 Das Votum für lediglich regionale Kulturpolitik verband auch die meisten Teilnehmer der zitierten Fernsehdiskussion über Europa, teilabgedruckt in "Die Zeit" Nr. 45 vom 5.11.1982, S. 33-35 (s. auch oben Anm. 29): von R. Dahrendorf über J. Erti bis zu M. v. Bieberstein, H. Gresman und R. Liebermann. - Grundlegend zur "Regionalpolitik im föderalen System der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Gemeinschaft": J. H. Kaiser in seinem gleichnamigen Beitrag in (zweite) FS Maunz, 1981, S. 169 ff.; dort auch (S. 174) der Satz: "Regionalpolitik fordert ein hohes Maß an Dezentralisierung". Im jüngst diskutierten Entwurf einer europäischen Kulturdeklaration findet sich der Passus, Kulturpolitik müsse "gewissen vereinheitlichenden Tendenzen der Kulturindustrie entgegensteuern" (zitiert nach FAZ vom 16. 5.1983, S. 23). 80 Man spricht in jüngster Zeit von einem Beschäftigungsprogramm im "europäischen Sozialraum". Dieser ist aber letztlich nur ein Aspekt des europäischen Kulturraums. Nur in dessen Vergegenwärtigung als solchem ist vielleicht doch noch ein Durchbruch zur Bildung einer Europäischen Union möglich, wie sie zuletzt in den im Juli 1982 vom Straßburger Parlament verabschiedeten
70
I. Methoden
gungen und Vorgänge nur, wenn sich ein kultureller Gesamtrahmen bildet bzw. bewußt wird und wenn sich lebendige kulturelle Prozesse in ihm vollziehen. "Europa in kulturverfassungsrechtlicher Perspektive" ist dabei ein Teilaspekt.
"Leitlinien" gefordert wurde. - Zu Recht heißt es in der FAZ vom 7.10.1982, S. 27: "Aber wenn Europa sich über die wirtschaftlichen und politischen Interessen hinaus entwickeln soll, braucht es ein Selbstverständnis von der Gemeinsamkeit seiner nationalen Kulturen, von ihrem Zusammenhang, von ihrer noch nicht erloschenen Kraft". - Aus der wissenschaftlichen Literatur zur Europäischen Union: Hans von der Groeben / Hans Möller (Hrsg.), Möglichkeiten und Grenzen einer Europäischen Union, Bd. 1, Die Europäische Union als Prozeß, 1980.
4. Gemeineuropäisches Verfassungsrecht* ·· I . Problem, Ausgangsthese
1. Das Problem
Europa durchlebt in diesen Tagen auf vielen Feldern eine Entwicklung, die die Besinnung auf seine Identität, seine historischen Wurzeln und seine mögliche Zukunft notwendig macht: auf dem Gebiet des Politischen - man denke nur an der osteuropäischer Länder (z.B. der baltischen Staaten) "Rückkehr nach Europa", an ihren Wiedereintritt in den Kreis der Verfassungsstaaten bzw. an ihre Einordnung in den gemeineuropäisch-atlantischen Wirkungszusammenhang der Verfassungen (sie ist in der aktiven Rezeption westlicher Text-Vorbilder greifbar); man denke auf dem Gebiet der Wirtschaft an die Vollendung des europäischen Binnenmarkts (1992) sowie an die Schaffung eines gemeinsamen Wirtschaftsraumes bzw. den Siegeszug der sozialen Marktwirtschaft; auf dem Felde der Kultur an die Wiedergewinnung des einen europäischen Erbes dank der Beseitigung des "eisernen Vorhangs", des Falls der Mauer der "DDR" und des Niedergangs des Marxismus-Leninismus (1989) - die Renaissance der fünf ostdeutschen Länder als Kulturlandschaften, ein "Kulturwunder" (1990) längst vor dem erhofften "Wirtschaftswunder" - ist nur ein Beleg für die kulturelle Tiefendimension, auch Wandlung, die Osteuropa nach Gesamteuropa zurückträgt Die Kunst, viele Künste, die Wissenschaften, viele Teüdisziplinen sind gefordert, diese Entwicklungen zu begleiten und zu befördern, nicht nur kommentierend, sondern auch initiierend. Die stimulierende, ja inspirierende Kraft der Klassikertexte von Aristoteles bis Κ Popper, von L. v. Beethoven (3. und 9. Symphonie) bis zur heutigen Interpretation durch einen K. Masur, aber auch das Vorbild des Dichter-Präsidenten V. Havel oder die Wahlverwandtschaft zwischen G. Büchners "Wir sind das Volk" (Dantons Tod, 1. Akt, Zweite Szene) und dem gleichlautenden Motto der friedlichen Oktoberrevolution in Ostdeutschland (1989) bewirkt hier oft mehr als ein Juristen-Wort
•
EuGRZ 1991, S. 261 ff.
** Der folgende Beitrag wurde entwickelt und in Teilen vorgetragen während der vierwöchigen Gastprofessur des Verf. an der Universität "La Sapienza" in Rom im März 1991. 6 Häberle
72
I. Methoden
Gleichwohl ist die Rechtswissenschaft in allen ihren Zweigen gefordert, mit ihren Methoden und Inhalten an der "Europäisierung Europas" auf ihre Weise mitzuarbeiten. Unter ihren Teildisziplinen hat die Zivilrechtslthrt einen aus der Zeit des alten "ius commune" stammenden und dank ihrer großen Tradition und Kunst der Rechtsvergleichung unterstützten Vorsprung: Erinnert sei an H. Kötz' Beitrag "Gemeineuropäisches Zivilrecht" (1981)1 sowie an E. A. Kramers Aufsatz "Europäische Privatrechtsvergleichung" (1988)2; beide Autoren können sich durch Klassikertexte eines R. von Jhering (1852)3, in neuerer Zeit solche von R. David (1969) und H. Coing (1986) beflügelt fühlen. 4 Die etablierte Europarechtswissenschaft leistet seit dem Beginn der EG (1957) ihren großen Anteil bei diesen Vorgängen.5 Doch bleibt sie naturgemäß begrenzt: räumlich auf das Gebiet der Europäischen Gemeinschaft bzw. ihre derzeit 12 Mitgliedstaaten, inhaltlich auf das EG-Recht, das eben nicht das Verfassungsrecht eines (nationalen) Verfassungsstaates ist, allerdings einzelne Verfassungselemente wie Rechtsstaat, Grundrechte, Marktwirtschaft nachhaltig ausbaut. Freüich greift der Europarat bzw. die EMRK weit darüber hinaus, zumal jetzt auch osteuropäische Länder wie Ungarn und die CSFR Mitglied geworden sind oder diesen Weg ins Europa der EMRK beginnen (Polen); Europarat bzw. EMRK bilden Pfeiler des Europarechts im weiteren Sinne (zu dem auch die KSZE gehört). Das hier und heute geforderte "Gemeinrechtsdenken" 6 ist zur Inanspruchnahme für Europa bestens geeignet, ist es doch seinerseits in diesem Europa entwickelt worden.7 Schwieriger wird die räumliche Verortung. Welches Europa in Geschichte, Gegenwart und Zukunft ist (geographisch) gemeint, wenn hier von "Gemeineuropa" bzw. "gemeineuropäischem Verfassungsrecht" ge-
1 So gleichnamig in FS K. Zweigert, 1981, S. 481 ff. S. auch H. Kötz, Rechtsvergleichung und Rechtsdogmatik, in: K. Schmidt (Hrsg.), Rechtsdogmatik und Rechtspolitik, 1990, S. 75 ff. 2
In: Juristische Blätter, 1988, S. 477 ff.
3
R. von Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, I. Teil (1852), S. 15: "Die Wissenschaft ist zur Landesjurisprudenz degradiert", "die wissenschaftlichen Grenzen ... in der Jurisprudenz fallen mit den politischen zusammen ... Eine demüthigende, unwürdige Form für eine Wissenschaft..." (9. Aufl. Darmstadt 1953, S. 15). 4 Nachweise bei Kramer, a.a.O. (Anm. 2), S. 477 Anm. 2 bzw. Kötz, FS Zweigert, a.a.O. (Anm. 1), S. 491 mit Anm. 23. (S. noch unten Anm. 12, 16.) 5 Von H. P. Ipsen (Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972) über A. Bleckmann (Europarecht, 5. Aufl. 1990) zu T. Oppermann (Europarecht, 1991), um nur deutsche Lehrbücher zu nennen. 6 Vgl. J. Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 1. Aufl. 1956 (4. Aufl. 1990), S. 263 u. ö. (s. auch S. 390 Schlagwortverzeichnis). 7
Dazu noch unten bei und in Anm. 8 f., 12,16, 65 ff.
4. Gemeineuropäisches Verfassungsrecht
73
sprochen wird? Die "mühsame Genese des Europagedankens"8 ist historisch jedenfalls bis in Herodots Unterscheidung von Asien und Europa als zwei grundverschiedenen Lebens- und Kulturräumen zurückzuverfolgen; auch mag man eine anonyme Chronik zitieren, die den Sieg bei Poitiers (732) mit den Worten kommentierte: "Die Europäer kehrten alsbald frohgemut in ihre Vaterländer zurück".9 Man darf Friedrich IL, den Staufer, erwähnen, der angesichts der Mongolengefahr den Namen Europa als eine alle europäische Fürsten verpflichtende Formel beschwor.10 Die "pluralistische Europa-Idee der Neuzeit" (Fuhrmann), die auf der Prämisse einer Vielzahl souveräner Nationalstaaten beruht, sollte sich diese Tiefendimension, auch im Recht, vergegenwärtigen, ebenso die Problemlagen, in denen der Europagedanke "beschworen" wurde: einerseits als Hinweis auf einen eigenen Kulturraum, zu dessen Bewahrung und Bewährung in Krisen und Kriegen der Friede, andere Grundwerte (auch der Wohlstand) im Inneren ebenso gemeinsam zu sichern waren wie die Abwehr nach außen Gemeinschaftswerk sein sollte (vgl. Papst Pius II. Türkenkreuzzugsidee, 1453). Nicht erst seit dem 1. und 2. Weltkrieg ist der Europagedanke als Korrektiv des um sich greifenden nationalen Egoismus zu erwähnen.11 Das Europa von heute 1989 ff. dürfte weniger die alte Abwehrseite als seine "Brückenfunktion" verstärken wollen. Es umfaßt geographisch gewiß den europäischen Teil der UdSSR, an seinen "Rändern" vielleicht die Türkei. In sein Zentrum gehört England, schon wegen seiner Common Law Tradition. Das "Common Law" vermag eine neu-alte Bedeutungsschicht jetzt europaweit zu entfalten. 12 Eine spezifische, noch kaum in Angriff genommene Arbeit wächst heute der (nationalen) Staatsrecluslehrt zu. In einer Zeit, die es erlaubt, angesichts der frühen Gorbatschow-Reformen und ihren Fern- und Langzeitwirkungen sogar
8
Treffend M. Fuhrmann, Herodot kommt bis Brüssel, Eurogenese, FAZ vom 30.3.1991, S. N. 3. Zu "Europa in der Antike" und zur "Entstehung Europas" bes. P. Koschaker, Europa und das Römische Recht, 1947, S. 5 ff.; ders., ebd., S. 143 ff. zu "Europa als Gebiet der Rezeption". Zur Entstehung des "gesamteuropäischen Gemeinrechts (ius commune)": F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 81 ff. 9 Zit. nach M. Fuhrmann, ebd. (Anm. 8). - S. schon das klassische Werk von P. Koschaker, Europa und das Römische Recht, 1947, das die Frage "Was ist Europa" (S. 1 ff.) kulturgeschichtlich bzw. kulturwissenschaftlich beantwortet ("kulturelles Phänomen", "Kulturelemente", "europäischer Kulturkreis"). S. auch S. 350 ff. ("europäische Kultur"); zur kulturellen Romidee, die allmählich ganz Europa ergreift: ebd. S. 45 f. 10
Fuhrmann, a.a.O. (Anm. 8).
11
Vgl. Fuhrmann, a.a.O. (Anm. 8).
12
Zum "ius commune als Gemeines Recht" und "genauen Gegenstück" zum englischen common law: H. Coing, Die Bedeutung der europäischen Rechtsgeschichte für die Rechtsvergleichung, in: ders., Gesammelte Aufsätze 1947-1975, Bd. 2 (1982), S. 157 ff.
74
I. Methoden
in den Entwicklungsländern von der "Weltstunde des Verfassungsstaates" zu sprechen,13 ist die Verfassungslehre im Europa von heute in einzigartiger Weise gefordert Das Wort vom "gemeinsamen Haus Europa" verlangt, den Spitzen bzw. der Vorhut der Zivilrechtswissenschaft auf den Spuren bzw. Fersen zu bleiben. Einen Weg dazu bildet die Arbeit an "gemeineuropäischem Verfassungsrecht". Es schafft die inneren Fundamente des "gemeinsamen Hauses Europa" - um im Bild zu bleiben - und es umreißt gemeinsame Strukturen als "Hausordnung" - für die "nationalen Zimmer" bleibt noch genug Raum und Zeit (vor allem die Rekonstruktion Osteuropas verlangt, nach einer europäisch und national denkenden Verfassungslehre). Die Europäisierung der Staatsrechtslehre14 ist Programm und Entwurf, in Ansätzen schon auf dem Weg. Die folgenden Zeilen suchen über die These vom gemein-europäischen Verfassungsrecht diese Generationen-Aufgabe zu skizzieren. So behutsam und flexibel sie voranzutreiben ist, so sehr muß ein Stück Wagnis eingegangen werden; gerade Europa kann sich ohne einen Schuß Utopie nicht weiter entwickeln.15
2. Die Ausgangsthese
Die Ausgangsthese "Gemeineuropäisches Verfassungsrecht" will sagen: Es gibt zwar noch (?) kein Europäisches Verfassungsrecht, weil Europa als solches kein Verfassungsstaat ist, wohl aber gibt es ein wachsendes Ensemble von einzelnen Verfassungsprinzipien, die den verschiedenen nationalen Verfassungsstaaten "gemeinsam" sind, geschrieben oder ungeschrieben. Solche übereinstimmenden Verfassungsprinzipien finden sich teils in den nationalen Verfassungstexten sowie in dem ungeschriebenen Verfassungsrecht der einzelnen europäischen Verfassungssstaaten, teils wachsen sie Europa von den Geltungsebenen des "Europarechts", etwa dem EG-Recht, dem vom EGMR in Straßburg entwickelten Recht und jüngst intensiviert vom Europarat und - Europa mit dem Atlantik verbindend - von der KSZE aus zu: Konstitutionelles Gemeinrecht "wird", oft in der Form "allgemeiner Rechtsgrundsätze" oder "Standards". Diese - im folgenden ohne Anspruch auf Vollständigkeit aufgelisteten gemeineuropäischen Verfassungsprinzipien beinhalten mehr als bloß äußerlich und zufallig parallele oder ähnliche Rechtsgedanken. Sie meinen den einzelnen
13 Dazu P. Häberle, Die Entwicklungsländer im Prozeß der Textstufen di fferenzierung des Verfassungsstaates, V R Ü 2 3 (1990), S. 225 (253). 14 15
Dazu mein Diskussionsbeitrag von 1990 in VVDStRL 50 (1991), S. 156 f.
Vgl. G. Nicolaysen, Europa und Utopia, in: FS Carstens, 1984, S. 230 ff.; allg. P. Häberle, Utopien als Literaturgattung des Verfassungsstaates, Ged.-Schrift Martens, 1987, S. 73 ff.
4. Gemeineuropäisches Verfassungsrecht
75
Verfassungsstaaten in der Tiefe ihrer Rechtskultur Gemeinsames, Übereinstimmendes, Wahlverwandtes, jenseits des Rechtstechnisch-Positiven. Den Blick für solches gemeineuropäisches Verfassungsrecht darf man sich nicht durch Varianten der äußeren (Text)Fassung bzw. oberflächliche nationale Formbesonderheiten verstellen lassen. Das rechtskulturell Gemeinsame, das letztlich in Gerechtigkeitsvorstellungen mündet, erwächst aus dem europäischen Wurzelboden, der von der Einheit Europas als Geschichte ausgeht und heute wieder zu Europa als einer die Nationalstaaten zusammenführenden Gegenwart zurückfindet - in den Horizont einer "Zukunft Europas" ausgreifend. Zwei Gründe haben die Erkenntniswege zu "gemeineuropäischem Verfassungsrecht" lange Zeit blockiert: zum einen der verabsolutierte Nationalstaats·16 und Souveränitätsgedanke des 19. Jahrhunderts, zum anderen (sich zum Teil damit überschneidend) die spezifische Nähe des Verfassungsrechts zum (National-)Politischen. Beides, der "souveräne" Nationalstaat und die Konzeption vom Verfassungsrecht als (staatlichem) politischem Recht, stehen - recht verstanden - der Bejahung und weiteren Entwicklung von gemeineuropäischem Verfassungsrecht nicht entgegen: Der Nationalstaat, heute "kooperativer Verfassungsstaat" geworden,17 ist im Europa von 1991 ebenso unverzichtbar wie relativiert, d. h. von vorneherein in das Geflecht von transnationalen Rechtsprinzipien eingebunden, evident in regionalen Menschenrechtspakten und tiefgreifenden Vertragswerken (z.B. der EG), die den nationalen Souverän diszipliniert, sein Handeln normativiert und motiviert haben. Ja, der Typus Verfassungsstaat konstituiert sich recht eigentlich dadurch, daß er souveräne Staatlichkeit ersetzt durch die Begründung im Recht bzw. durch "Ver-fassen" der offenen Gesellschaft. Die Zugehörigkeit der Nationalstaaten Europas zum Typus "Verfassungsstaat" legt es schon als solche nahe, daß bestimmte typusbestimmende Merkmale gemeinsame Rechtsprinzipien sind. Die Erkenntnis, daß sich die Nationalstaaten Europas "analog" verfaßt haben und daß diese Analogien innere Gemeinsamkeit begründen, aber auch voraussetzen, läßt dem Nationalen, was ihm zukommt, sieht es aber in den gemeineuropäischen Kontext eingebettet.
16 Zur "Auslösung des gemeinen Rechts in nationale Rechtsordnungen": H. Coing, Europäische Grundlagen des modernen Privatrechts, 1986, S. 11, der ebd., S. 22 auf dem "Weg über die Rechtsvergleichung wieder zur Rechtswissenschaft als einer einheitlichen europäischen Wissenschaft" kommen möchte. Zur "ursprünglichen Einheit der europäischen Rechtswissenschaft" H. Coing, in: ders., Gesammelte Aufsätze 1947-1975, Bd. 2 (1982), S. 137 ff. 17 Dazu mein gleichnamiger Beitrag in: FS Schelsky, 1978, S. 141 ff. Zuvor W. v. Simson, Die Souveränität im rechtlichen Verständnis der Gegenwart, 1965, S. 220: "Ende der Selbstgerechtigkeit des Staates".
76
I. Methoden
Ein Wort zum Problem des Politischen. Die Eraibeitung von gemeineuropäischem Verfassungsrecht hat keine a- oder antipolitische Stoßrichtung. In dem Maße, wie Verfassungsrecht politisches Recht ist,18 ist auch das gemeineuropäische Verfassungsrecht "politisch": es kommt politisch zustande, bezieht sich auf die res publica und entwickelt sich politisch weiter. "Neu" ist nur die Erkenntnis, daß das Politische im großen und tiefen Zusammenhang der Einheit und Vielfalt Europas steht und daß es der Entwicklung von gemeineuropäischem Verfassungsrecht heute nicht nur Raum läßt, sondern diese auch antreibt. Freilich bleibt dem je national Besonderen und politisch Eigenen der verschiedenen Verfassungsstaaten in Europa noch ein weites, auch unverzichtbar individuelles Feld. Das gemeineuropäische Verfassungsrecht will den nationalen Verfassungsstaat weder fesseln noch lähmen, wohl aber mit begründen und tragen, auch weiterführen.
II. Elemente einer Bestandsaufnahme Die folgende Bestandsaufnahme kann nur fragmentarisch sein: Die Sichtung des gemeineuropäischen Verfassungsrechts insgesamt verlangt einen Über- und Durchblick, der heute (schon gar) einem einzelnen Forscher kaum möglich ist.
1. Texte, Themenfelder bzw. Materien, Beispiele für einzelne gemeineuropäische Verfassungsprinzipien
Es sind vor allem einzelne verfassungsstaatliche Verfassungsprinzipien, wie Menschenrechte, Demokratie (auch als kommunale Selbstverwaltung konkretisiert), Staatszwecke wie Rechts- und Sozialstaat, die gemeineuropäisches Verfassungsrecht greifbar werden lassen, ohne schon einen europäischen Staat zu machen. So "allgemein" hier vieles ist, es bleibt nicht nur formal, sondern läßt ein gemeineuropäisches ius constitutionale, ein ius commune Europaeum, ein ius publicum europaeum erkennen, das inhaltlich Übereinstimmendes meint. Nationale Varianten bleiben, aber ein gemeiner Kernbestand liegt schon vor. Man mag das Nenner / Zähler-Bild gebrauchen: Je mehr analoge nationalstaatliche und europarechtliche "Zähler" heranwachsen, desto greifbarer wird der gemeinsame Nenner: das Gemeineuropäische Verfassungsrecht.
18 Aus der Lit.: Κ. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 14 ff.
4. Gemeineuropäisches Verfassungsrecht
77
Systematischer Gesichtspunkt ist die Reihenfolge: geschriebene Texte, ungeschriebene (d.h. vor allem richterliche Entscheidungen) und Stimmen der Wissenschaft (Juristenrecht) - all diese Objektivationen von sich entwickelndem Gemeinrechtsdenken in Europa wirken vielfältig zusammen. (1) Erinnert sei an den ältesten Text, die Satzung des Europarates vom 5. Mai 1949.19 In ihrer Präambel heißt es ganz i.S. der später so erfolgreichen kulturellen-Erbe-Klauseln 20 u.a.: "... in unerschütterlicher Verbundenheit mit den geistigen und sittlichen Werten, die das gemeinsame Erbe ihrer Völker sind und der persönlichen Freiheit, der politischen Freiheit und der Herrschaft des Rechts zugrunde liegen, auf denen jede wahre Demokratie beruht ...". 21
Die gemeinsame Rechtskultur Europas wird auch in der Präambel der EMRK von 1950 greifbar: "... unter erneuter Bekräftigung ihres tiefen Glaubens an diese Grundfreiheiten ... und deren Aufrechterhaltung wesentlich auf einem wahrhaft demokratischen politischen System einerseits und einer gemeinsamen Auffassung und Achtung der Menschenrechte andererseits beruht, von denen sie sich herleiten; entschlossen, als Regierungen europäischer Staaten, die vom gleichen Geist beseelt sind und ein gemeinsames Erbe an geistigen Gütern, politischen Überlieferungen, Achtung der Freiheit und Vorherrschaft des Gesetzes besitzen...".22
Diese Linie der Bezugnahme auf ein gemeinrechtliches Kulturerbe in Europa setzt sich in den 70er Jahren - beflügelt von der Rechtsprechung des EuGH zu den Grundrechten als "allgemeinen Rechtsgrundsätzen" - für die EG in zwei vielbeachteten Dokumenten fort, zugleich ins Konkrete weiterentwikkelt: Die Gemeinsame Erklärung des Europäischen Parlaments, des Rats und der Kommission vom April 1977 formuliert den "Grundsatz der Achtung des Rechts", der, "wie vom Gerichtshof anerkannt wurde", außer den Vorschriften der Verträge und des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts "die allgemeinen Rechtsgrundsätze und insbesondere die Grundrechte, Prinzipien und Rechte, die die Grundlage des Verfassungsrechts der Mitgliedsstaaten bilden" umfasse. Der Europäische Rat spricht in seiner Erklärung zur Demoiaatie vom April
19
Zit. nach F. Berber (Hrsg.), Völkerrecht, Dokumentensammlung Bd. I, 1967, S. 357 ff.
20
Dazu P. Häberle, Artenreichtum und Vielschichtigkeit von Verfassungstexten, in: FS Häfelin, 1989, S. 225 (237 f.) - hier Nr. 10. 21 Art. 1 spricht von der "engeren Verbindung" zwischen den Mitgliedern zum "Schutze und zur Förderung der Ideale und Grundsätze, die ihr gemeinsames Erbe bilden" sowie vom "Schutz und der Fortentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten". 22 Die Menschenrechtsschranke der EMRK: nationale Sicherheit "in einem demokratischen Staat" bzw. in einer "demokratischen Gesellschaft" (Art. 6 Abs. 1 bzw. 8 Abs. 2, 9 Abs. 2, 10 Abs. 2, 11 Abs. 2) verlangt zwar nicht, daß "derselbe Standard" gelten müsse (Frowein, in: J A . Frowein / W. Peukert, EMRK-Kommentar, 1985, Vorb. zu Art. 8-11), doch verlangt die Überwachung des "Beurteilungsspielraums" des "margin of appreciation" dann doch gemeineuropäische Maßstäbe. S. noch unten Anm. 50.
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I. Methoden
197823 von der allgemeinen Direktwahl der Mitglieder der Versammlung als "herausragender Demonstration des allen Mitgliedstaaten gemeinsamen demokratischen Ideals" und noch präziser: "Die Regierungschefs bekräftigen wie schon in der Kopenhagener Erklärung zur europäischen Identität ihren Willen, die Achtung rechtlicher, politischer und moralischer Werte, denen sie sich verbunden fühlen, zu gewährleisten und die Prinzipien der parlamentarischen Demokratie, des Rechts, der sozialen Gerechtigkeit und der Wahrung der Menschenrechte zu schützen".24 Die Einheitliche Europäische Akte vom Februar 1986 (BGBl II Nr. 39 vom 24.12.1986) spricht von der Entschlossenheit, "gemeinsam für die Demokratie einzutreten, wobei sie sich auf die in den Verfassungen und Gesetzen der Mitgliedstaaten, in der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Europäischen Sozialcharta anerkannten Grundrechte, insbesondere Freiheit, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit stützen". Nicht minder feierlich wird der "Europagedanke" angerufen, der Wunsch der "demokratischen Völker Europas" genannt und die Verpflichtung auf die Grundsätze der Demokratie und die "Wahrung des Rechts und der Menschenrechte" beschworen.25 Wird hier eine erstaunlich entwicklungsoffene Kontinuität, überdies ein Zusammenhang zwischen Europarats- und EG-Texten sichtbar, so dokumentieren KSZE-Erklärungen der 80er Jahre, wie sehr das Europarecht im weiteren Sinne neue gemeinrechtliche Impulse gibt, mag es auch juristisch nur als "soft law" einzustufen sein. So prägte das Kopenhagener Dokument über die menschliche Dimension der KSZE vom Juni 199026 die Stichworte: "pluralistische Demo-
23 Beide Dokumente werden "wirksam" zitiert in BVerfGE 73, 339 (381 f.) = EuGRZ 1987,10 (21 f.), was einmal mehr den "Gemeinschaftswerkcharakter" des gemeineuropäischen Verfassungsrechts belegt. 24 Ebd. ist sogar von der "pluralistischen Demokratie" die Rede. - Zu diesen Dokumenten und zur folgenden EEA: S. M a gier α, Die Einheitliche Europäische Akte und die Fortentwicklung der Europäischen Gemeinschaft zur Europäischen Union, in: Ged.-Schrift für Geck, 1989, S. 507 ff.; H.P. Ipsen, Vier Glossen zur Einheitlichen Europäischen Akte, FS Partsch, 1989, S. 327 ff. 25 S. auch die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 13. 4. 1989 (EuGRZ 1989, S. 204 ff.) unter D.: "... in der Erwägung, daß die Identität der Gemeinschaft in der Formulierung der den europäischen Bürgern gemeinsamen Werte zum Ausdruck kommen muß". Aus der "Erklärung der Grundrechte und Grundfreiheiten" selbst ist u. a. bemerkenswert, der Hinweis auf die Menschenwürde und die "gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedsstaaten" (Präambel), die Wesensgehaltgarantie (Art. 26) und die Schutzniveauklausel (Art. 27). - Die Stuttgarter Erklärung des Europäischen Rats vom Juni 1983 (zit. nach J. Schwarze! R. Bieber (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa, 1984, S. 380 ff.) will u.a. gefördert wissen: "... eine engere kulturelle Zusammenarbeit, um das Bewußtsein eines gemeinsamen kulturellen Erbes als Teil der europäischen Identität zu festigen".
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Text in EuGRZ 1990, S. 239 ff.
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kratie und Rechtsstaatlichkeit als wesentlich fur die Gewährleistung der Achtung aller Menschenrechte", "Ideale der Demokratie und des politischen Pluralismus", Rechtsstaatlichkeit, "nicht nur als formale Rechtmäßigkeit, sondern auch als Gerechtigkeit", Katalog von "Elementen der Gerechtigkeit" (z.B. freie Wahlen, klare Trennung zwischen Staat und politischen Parteien, Unabhängigkeit der Anwaltschaft), Einschränkungen von Rechten (wie Meinungs- und Gewerkschaftsfreiheit) nur im Einklang mit "internationalen Standards", Schutz nationaler Minderheiten im Blick auf ihre "ethnische, kulturelle, sprachliche und religiöse Identität". Die Charta von Paris für ein Neues Europa vom November 199027 postuliert kühn die "Demokratie als die einzige Regierungsform unserer Nationen". Neue Textelemente finden sich in Sätzen wie "Demokratie ist der beste Schutz für freie Meinungsäußerung, Toleranz gegenüber allen gesellschaftlichen Gruppen und Chancengleichheit für alle" oder "Wir bekräftigen, daß ethnische, kulturelle, sprachliche und religiöse Identität nationaler Minderheiten Schutz genießen muß", "Freiheit und politischer Pluralismus sind notwendige Elemente unserer gemeinsamen Bemühungen um die Entwicklung von Marktwirtschaften". 28 Die Europäische Charta der Kommunalen Selbstverwaltung von 1985 / 88, im "Europa der Bürger" neben der EMRK, der ESC und dem Europäischen Kulturabkommen oft als "vierter Pfeiler des Europarats" bezeichnet,29 fügt den schon in der Präambel beschworenen "Idealen und Grundsätzen", die das "gemeinsame Erbe" bilden, die Erwägung hinzu, daß die kommunale Gebietskörperschaften eine der "wesentlichen Grundlagen jeder demokratischen Staatsform sind", daß "das Recht der Bürger auf Mitwirkung an den öffentlichen Angelegenheiten einer der demonkratischen Grundsätze ist, die allen Mitgliedsstaaten des Europarats gemeinsam sind". Wenn in derselben Präambel Schutz und Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung in den verschiedenen europäischen Staaten als wichtiger Beitrag zum Aufbau eines Europas bezeichnet wird, "das sich auf die Grundsätze der Demokratie und der Dezentralisierung der Macht gründet", so sind damit Stichworte vorformuliert, die eine Brücke zum letzten hier ausgewerteten Dokument schlagen: die Entschließung der Teilnehmer der Konferenz "Europa der Regionen" vom Oktober 1989 in
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Text in EuGRZ 1990, S. 517 ff.
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Mit Recht beobachtet H. Steinberger, VVDStRL 50 (1991), S. 9 (11) eine "zunehmende Tendenz zur Rezeption verfassungsstaatlicher Prinzipien"; ebd. S. 12: "zugrundeliegender Wertkonsens". 29 Text bei F.-L. Knemeyer (Hrsg.), Die europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung, 1989, S. 273 ff. - Zum "Europa der Bürger" s. den gleichnamigen Band, hrsg. von 5. Magiera, 1990, mit dem Beitrag von W. Fiedler zu den kulturellen Aspekten (S. 147 ff.).
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I. Methoden
München30 bekräftigt im Vorspruch die "Absicht, mit Hilfe des europäischen Einigungswerkes Europa zu einem Kontinent der Freiheit, des Friedens, des Wohlstands und der sozialen Gerechtigkeit zu machen" sowie die "Überzeugung, daß die Europäische Politische Union allen Völkern und Staaten des Kontinents offen steht, die die Menschenrechte achten und sich zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bekennen", um dann zu postulieren: "1. Europas Reichtum ist die Vielfalt seiner Völker und Volksgruppen, seiner Kulturen und Sprachen, Nationen, Geschichte und Traditionen, Länder, Regionen und autonomen Gemeinschaften" ... "3. Subsidarität und Föderalismus müssen die Architekturprinzipien Europas sein." (2) Die Rechtsprechung des EuGH zu den "allgemeinen Rechtsgrundsätzen" - in den großen Pionierentscheidungen "Stauder" (1969), "Internationale Handelsgesellschaft" (1970) und "Nold" (1974) greifbar und von der Wissenschaft zu Recht gefeiert - bildet ein wachsendes "Reservoir" für Aspekte gemeineuropäischen Verfassungsrechts "in action". Gemeint sind solche "Grundsätze, die mit den erkennbaren Strukturprinzipien der EG wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaatlichkeit, Schutz von Grund- und Menschenrechten, bundesstaatsähnliche Zusammensetzung der EG usw. eng verbunden sind".31 Hinzugenommen werden die "gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten".32 Wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nach eigenem Bekenntnis einen "ordre public européen" geschaffen hat, in dem die europäische Rechts- und Verfassungsgemeinschaft ihren kollektiven Ausdruck 30 Aus der Lit.: F.-L. Knemeyer, Subsidiarität-Föderalismus, Dezentralisation, ZRP 1990, S. 173 f.; U. Petersen, Zur Rolle der Regionen im künftigen Europa, DÖV 1991, S. 278 ff.; s. auch W. Böttcher, Europafähigkeit durch Regionalisierung, ZRP 1990, S. 329 ff.; M. Heintzen, Subsidiaritätsprinzip und Europäische Gemeinschaft, JZ 1991, S. 317 ff.; F. Esterbauer ! P. Pernthaler (Hrsg.), Europäischer Regionalismus am Wendepunkt, 1991; C. Eiselstein, Europäische Verfassunggebung, ZRP 1991, S. 18 (21 f.). 31 32
So T. Oppermann, Europarecht, 1991, S. 158 m.w.N.
T. Oppermann, a.a.O. (Anm. 31). Aus der Lit. zu den vom EuGH "aus der Rechtsvergleichung zu entwickelnden allgemeinen Rechtsgrundsätzen" auch A. Bleckmann, Europarecht, 4. Aufl. 1985, S. 104 ff., 108 ff.; s. auch ebd. S. 113 f.: "Im Rahmen der rechtsvergleichenden Methode ist ... die lebendige Verfassungstradition zu beachten, die etwa in Stellungnahmen des Europäischen Parlaments zum Ausdruck kommen könnte". B. Beutler / R. Bieber / J. Pipkorn / J. Streil, Die Europäische Gemeinschaft - Rechtsordnung und Politik, 3. Aufl. 1987, S. 174 f.: Zum ungeschriebenen Recht der EG gehören als allgemeine Rechtsgrundsätze "insbesondere Grundrechte und allgemeine Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten". G. Ress, Artikel Rechtsgrundsätze, allgemein, in: Lexikon des Rechts, Bd. 1 Gruppe 4 (1990), S. 1 (3) unterscheidet für die "ARG" ihre Aufgabe der Lückenfüllung, der Interpretationshilfe, daneben eine rechtsschöpferische Bedeutung bzw. die Begrenzungs- und Berichtigungsfunktion. - Zu den Grundrechten als "allgemeinen Rechtsgrundsätzen" und zu ihrer Gewinnung durch "wertenden" Rechtsvergleich, I. Pernice, in: E. Grabitz (Hrsg.), Kommentar zum EWG-Vertrag, Art. 164 Rd.-Nr. 42, 58 m.w.N., s. auch ders., Gemeinschaftsverfassung und Grundrechtsschutz, NJW 1990, S. 2409 (2412 ff.) mit einem Ausblick auf "Perspektiven europäischer Grundrechtskultur" (ebd. S. 2419 f.).
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gefunden hat,33 so ist hier seine prätorische Rechtsprechung zu einer geglückten Formel verdichtet, die die Fülle seiner Detailarbeit an der EMRK nur ahnen läßt, die aber das "ius publicum europaeum" suggestiv umschreibt. Seine "effektivierende" und "evolutive" Auslegung, sein Ringen um "europäische Standards und die Grundsätze einer demokratischen Gesellschaft" sind viel gerühmt. 34 Die nationalen Verfassungsgerichte sind neben EuGH und EGMR eigens zu erwähnen. Ihr Rechtsprechungsstil mag je nach Tradition und Mentalität, nach Theorienähe und Pragmatismus, auch nach Mut zur Rechtsvergleichung unterschiedlich sein, mittelfristig kann gewiß von einer "Europäisierung der (nationalen) Verfassungsgerichtsbarkeit" gesprochen werden (sie wird sogar zum Postulat), wül sagen: von einem intensiver werdenden Prozeß der interpretatorischen Einbeziehung "fremder", aber europäischer Verfassungsprinzipien im wertenden Rechtsvergleich. Die wachsende Tendenz zur erklärten Rechtsvergleichung bzw. zur interpretatorischen Berücksichtigung der EMRK und anderer Euro-Texte35 gehört ebenso hierher wie die vor allem in der EuGRZ dokumentierten Konferenzen der Europäischen Verfassungsgerichte eine eher informelle, aber kaum weniger wirksame Vorarbeit hierzu leisten.36 Die Judikatur des deutschen BVerfG ist teils schon den Worten, teils der Sache nach der Idee eines gemeineuropäischen (Verfassungs-)Rechts denkbar nahe. So heißt es in BVerfGE 75, 223 (243 f.): "Daß die Mitgliedstaaten die Gemeinschaft mit einem Gericht ausstatten wollten, dem Rechtsfindungswege offen stehen sollten, wie sie in jahrhundertelanger gemeineuropäischer Rechtsüberlieferung und Rechtskultur ausgeformt worden sind".37 Und: "Die Gemeinschaftsverträge sind auch im Lichte gemeineuropäischer Rechtsüberlieferung 33 Dazu D. Thürer, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, W D S t R L 50 (1991), S. 97 (106). Zur (ungeschriebenen) Wesensgehaltgarantie des EGMR: Ρ. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 3. Aufl. 1983, S. 424 f. 34 Z.B. K. W. Weidmann, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auf dem Weg zu einem europäischen Verfassungsgericht, 1985, S. 75 ff., 237 ff., 267 ff. 35 Vgl. das Schweiz. BG im Blick auf die Mindestgrundsätze des Europarates für die Behandlung von Gefangenen (zit. nach J. P. Müller, Elemente einer Schweizer Grundrechtstheorie, 1982, S. 174 f.): "Da sie ihre Grundlage in der gemeinsamen Rechtsüberzeugung der Mitgliedstaaten des Europarates finden, sind sie bei der Konkretisierung der Grundrechtsgewährleistungen der Bundesverfassung gleichwohl zu berücksichtigen". - Tendenziell bemerkenswert für Frankreich das "Nicolo-Urteil" des Conseil d'Etat, EuGRZ 1990, S. 99 ff. Vgl. dazu Ludet / Stotz, Die neue Rechtsprechung des französischen Conseil d'Etat zum Vorrang völkerrechtlicher Verträge, EuGRZ 1990, S. 93 ff. und ferner C. Lerche, Ein Sieg für Europa?, ZaöRV 50 (1990), S. 599 ff. 36 Vgl. etwa die Zweite Konferenz (EuGRZ 1974, S. 81 ff.) und die Vierte Konferenz über "Bestand und Bedeutung der Grundrechte" (EuGRZ 1978, S. 426 ff.). 37 Es folgen Hinweise auf "das römische Recht, das englische common law, das Gemeine Recht" sowie auf die Herausbildung allgemeiner Rechtsgrundsätze in Frankreich etc.
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I. Methoden
und Rechtskultur zu verstehen". Zuvor hatte das BVerfG (E 73, 339 (378)) zustimmend vermerkt: "Alle Hauptorgane der Gemeinschaft haben sich seither in rechtserheblicher Form dazu bekannt, daß sie sich in Ausübung ihrer Befugnisse und im Verfolg der Ziele der Gemeinschaft von der Achtung vor den Grundrechten, wie sie insbesondere aus den Verfassungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Menschenrechtskonvention hervorgehen, als Rechtspflicht leiten lassen werden".38 Schließlich zeichnen sich in der Rechtsprechung zur Rolle der EMRK als "Auslegungshilfe" ebenfalls die Konturen gemeinrechtlicher Verfassungsprinzipien ab.39 (3) Die Wissenschaft, genauer die (deutsche und je nationale) Staatsrechtslehre und Europarechtswissenschaft, die die EMRK kommentierende40 und die rechtsvergleichend ausgreifende, ist ein dritter Beteiligter, der bewußt oder unbewußt an der Schaffung von gemeineuropäischem Verfassungsrecht mitarbeitet. Sie leistet ihre Beiträge teils in der dogmatischen Nachbereitung der zitierten Texte und in der Kommentierung der Europarechtsjudikatur des EGMR und EuGH, aber auch der nationalen Verfassungsgerichte, soweit diese sich "europäisieren" ("Europäisierung der Verfassungsrechtsprechung"!), teils bereitet sie diese Texte vor oder sie wagt "wissenschaftliche Vorratspolitik" für spätere Rechtsprechung. Aus dem deutschen Sprachbereich seien im folgenden nur einige wissenschaftliche Leistungen zitiert, die Vehikel gemeineuropäischer Rechtsbildung von konstitutionellem Zuschnitt sind. Stichworte müssen genügen. An die erste Stelle gehört die Literatur, die den Weg des EuGH zu den Grundrechten als "allgemeinen Rechtsgrundsätzen" bzw. den "gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedsstaaten" begleitet hat.41 Wenn die Eu38 S. auch ebd. S. 386 = EuGRZ 1987, 23: "Mindeststandard an inhaltlichem Grundrechtsschutz". Zu diesem "Mittlerweile"-Beschluß des BVerfG: H. P. Ipsen, EuR 1987, S. 1 ff. 39 BVerfGE 74, 358 (370) = EuGRZ 1987, 203 (206): "Bei der Auslegung des Grundgesetzes sind auch Inhalt und Entwicklungsstand (!) der Europäischen Menschenrechtskonvention in Betracht zu ziehen ... Deshalb dient insoweit auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes". - S. auch BVerfGE 82,106 (114 f.) = EuGRZ 1990, 329 (331) und das Sondervotum Mahrenholz, ebd. S. 122 (125) = EuGRZ 1990, 333 (334), der diesen Passus als "schon klassisch" charakterisiert. Weitere Nachw. bei A. Bleckmann, Staatsrecht II, Die Grundrechte, 3. Aufl. 1983, S. 87 mit der Erläuterung: "Dies kann auf dem Hintergrund der geisteswissenschaftlichen Auslegung oder zur Feststellung der gemeinsamen westlichen Verfassungstradition gesehen werden"; s. auch P. Häberle, Wesensgehaltgarantie, 3. Aufl. 1983, S. 410. 40 Die Literatur zur EMRK spricht mitunter von "gemeinsamen europäischen Standards", vgl. etwaX. Doehring, Allgemeine Staatslehre, 1991, S. 229 (unter Hinweis auf Frowein). 41
Bahnbrechend P. Pescatore, seit 1968 (dazu T. Oppermann, a.a.O. (Anm. 31), S. 159): Pescatore, Bestand und Bedeutung der Grundrechte im Recht der europäischen Gemeinschaften, EuGRZ 1978, S. 441 ff. mit Hinweisen auf die Kopenhagener "Erklärung zur Demokratie" von
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roparechtswissenschaft materielle Beitrittsbedingungen eines Mindestmaßes "prinzipieller Homogenität der Verfassungsstrukturen" verlangt,42 so impliziert dies ebenfalls Elemente gemeineuropäischen Verfassungsrechts. 43 Schließlich sind Berufungen auf die "Homogenität der Wertentscheidungen", das "gemeinsame Erbe der europäischen Völker", "europäisches Allgemeingut" Ausdruck von konstitutionellem Gemeinrechtsdenken in Europa.44 Jüngst wagte D. Thürer den Satz: "Im Europarat hat der "europäische Verfassungsstaat" seine gemeinsame, feste und verbindliche Gestalt erhalten",45 und die Entwicklung von "gemeineuropäischem Verwaltungsrecht", durch / . Schwarze vorangetrieben,46 ist vielleicht der eindruckvollste Beitrag zu konstitutionellem Gemeinrecht "von unten" her. Die Staatsrechtslehre und Europarechtswissenschaft samt ihren Teildisziplinen wie Verwaltungsrecht und Umweltrecht, Kulturrecht und Sozialrecht werden künftig in dem Maße an der Entwicklung von gemeineuropäischem Verfassungsrecht verstärkt beteiligt sein, wie sie von vorneherein rechtsvergleichend arbeiten: kommentierend, interpretierend, aber auch begriffsbildend und den Textgebern und der Rechtsprechung ein Stück vorauseilend. Die Rechtsvergleichung in der Hand des Wissenschaftlers arbeitet gewiß mit Rechtstexten i.e.S., aber auch mit solchen Texten, die dies noch werden können (sog. Deklarationen als "soft law"). Daß hier die /?ec/tfsvergleichung zur Kulturvcrgleichung wird, sei nur angemerkt47 1978 und die gemeinsame Erklärung von 1977 (ebd. S. 442 bzw. 443). Pescatore spricht in bezug auf die "Grundsätze der freiheitlichen Demokratie" von der "ungeschriebenen Voraussetzung der europäischen Integration". Aus der weiteren Literatur statt aller: A. Bleckmann, Europarecht, 4. Aufl. 1985, S. 104 ff.; Oppermann, a.a.O. (Anm. 31), S. 158 f.; R. Streinz, Bundesverfassungsrichterlicher Grundrechtsschutz und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1989, S. 367 ff., 378 ff. 42 H. P. Ipsen, Über Verfassungs-Homogenität in der Europäischen Gemeinschaft, FS Dürig, 1990, S. 159 (160). 43 Zur "Zuordnung von Verfassungsprinzipien" der EG: H. P. Ipsen, Europäische Verfassung Nationale Verfassung, EuR 1987, S. 195 ff., freilich mit der Mahnung (S. 196): "Verfassung verleitet zwar zum Staats-Bezug, ein solcher verbietet sich aber für die Gemeinschaft". Das gilt m.E. auch für das "Gemeineuropäische Verfassungsrecht". 44 C. O. Lenz, Gemeinsame Grundlagen und Grundwerte des Rechts der Europäischen Gemeinschaften, ZRP 1988, S. 449 ff. (z.B.: "Die Mitgliedstaaten sind alle demokratische, soziale und rechtsstaatlich geordnete Gemeinwesen. Insofern weisen die Verfassungen der Mitgliedstaaten ein gewisses Maß an Homogenität der Wertentscheidungen auf", "Recht ist nicht nur Teil des gemeinsamen Erbes der europäischen Völker", "Nicht alle Grundlagen unserer staatlichen Ordnung sind europäisches Allgemeingut". "Neben grundrechtlichen Wertentscheidungen sind auch Methoden der gerichtlichen Rechtsauslegung und -fortbildung europäisches Gemeingut"). 45 D. Thürer, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, W D S t R L 50 (1991), S. 97 (106) und LS 1.4. (S. 137). 46 47
Vgl. unten Anm. 52.
Zu den vier Ebenen der Grundrechts- bzw. Kulturvergleichung: P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 3. Aufl. 1983, S. 407 ff., 425; ders., JöR 32 (1983), S. 9 (16 f.,
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Zusammenfassend: Textgeber, (Verfassungs)Rechtsprechung und Wissenschaft schaffen in Europa ein gemeinrechtliches Ensemble, das wesentliche Elemente des Typus "Verfassungsstaat" enthält: vor allem Menschenwürde und pluralistische Demokratie, Menschenrechte und Grundfreiheiten, Rechtstaat (Herrschaft des Rechts, Übermaßverbot u.ä.) und soziale Gerechtigkeit, kommunale Selbstverwaltung und Subsidiarität, Toleranz und Minderheitenschutz, Regionalismus bzw. Föderalismus. So groß die Variationsbreite der Einzelausformungen und so unterschiedlich der Abstraktionsgrad bzw. die Konkretheit dieser Prinzipien ist, so vielfältig auch die Erscheinungsformen von der Berufung auf das "gemeinsame Erbe" und die "geistigen und sittlichen Werte" über die "allgemeinen Rechtsgrundsätze einzelstaatlicher Verfassungen" bis hin zu "europäischen Standards", Homogenitätsvorstellungen und dem Begriff "europäischer Verfassungssstaat" sind: Europa wird von seinen (all)gemeinen Rechtsprinzipien her greifbar, und diese zeigen sich als konstitutionelles Erbe und konstitutionelle Programmatik zugleich. Die "Konstituierung Europas" geschieht auf dem Boden einer Rechtskultur, die Einheit und Vielfalt verbindet. Die formal "subkonstitutionellen" Rechtsgebiete wie Privatrecht und Arbeitsrecht, zunehmend auch Umwelt- und Sozialrecht (sowie Rechtsgüter schützend das Strafrecht), sind darin von vorneherein mitgedacht und höchst wirksam. Das "oben/unten"-Schema der herkömmlichen Rechtsquellenhierarchie hat bei der Erschließung des Zusammenspiels von gemeineuropäischem Verfassungsrecht und z.B. gemeineuropäischem Zivilrecht nur relativen Erkenntniswert Gleiches güt für die formale Rechtsqualität bzw. -stufe, etwa Präambeln von Deklarationen, geschriebene und ungeschriebene Verfassungs- und Menschenrechtstexte, ständige Menschen- bzw. Grundrechtsjudikatur sowie wissenschaftliche Dogmatik und Begriffsbildung. Die Kraft, je immer "universale" bzw. regionale juristische Interpretationshilfe sein zu können, ist diesen Inhalten bzw. Instrumenten gemeinsam, und eben darin und daraus entwickelt sich konstitutionelles Gemeinrecht in Europa. "Lückenfüllung" ist ein zu schwaches Wort, um die Qualität der Aufgabe zu charakterisieren; es wird den von Gemeinrechtsdenken beflügelten kooperativen Rechtsbildungsprozessen in Europa nicht gerecht. Gemeine Rechtskultur kommt nicht und wird nicht aus
25 f.), schon mit Hinweisen auf Begriffe wie "Grundrechtskultur", "gemeineuropäisches Grundrechts-Recht", "gemeineuropäische Grundrechtsstandards" u.ä. Treffend H. Steiger, W D S t R L 46 (1988), S. 166 (Diskussion): "Bei den Grundrechten befinden wir uns, auch dank der Rechtsprechung des EuGH, im Prozeß der Entwicklung eines gemeineuropäischen Rechts der Grundrechte". - Zur Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht: R. Bernhardt, ZaöRV 1964, S. 431 ff.; J. M. Mössner, Rechtsvergleichung und Verfassungsrechtsprechung, AöR 99 (1974), S. 193 ff.; P. Häberle, Neuere Verfassungen ... in der Schweiz ..., JöR 34 (1985), S. 303 (351 ff. im Blick auf die Gewinnung von "gemeinem Verfassungsrecht"). Zur "Rechtsvergleichung und Methodenlehre im Europäischen Gemeinschaftsrecht" gleichnamig H.-W. Daig, FS Zweigert, 1981, S. 395 ff.
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"Lücken" in Europa, sie gedeiht aus gemeinsamen Rechtsgrundlagen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft dieses Europas.
2. "Schöpfer", Organe bzw. Verfahren und Instrumente in Sachen "gemeineuropäisches Verfassungsrecht"
Ein zweiter Systematisierungsaspekt läßt sich aus der Frage gewinnen, welches Subjekt bzw. Organ in welchen Verfahren zur Ausbildung von gemeineuropäischem Verfassungsrecht beigetragen hat und in Zukunft weiter beitragen sollte. Hier eine erste Aufzählung: Zuvörderst sind es die nationalen Verfassunggeber, die durch ihre sich im Sinne des Textstufenparadigmas weiter entwickelnden Verfassungstexte 48 gemeineuropäisch arbeiten; einzubeziehen sind die Verfahren der Total revision oder Teilrevision. Mag derselbe Text je nach nationalem Kontext differieren, er konstituiert doch auch Gemeinsames im Inhalt. Wenn etwa die neuen Schweizer Kantonsverfassungen die "Menschenwürde" schützen, so ist hier ein gemeineuropäischer Standard angesprochen, an dem viele Instanzen und Funktionen in einem gemeineuropäischen Wirkungszusammenhang arbeiten;49 ebenso die Rechtsprechung der nationalen und europäischen Verfassungsgerichte wie EuGH und EGMR,50 die Verfassungsrechtswissenschaft, darüber hinaus alle Verfassungsinterpreten, einschließlich des Gesetzgebers und der "einfachen" Gerichte. Die nationalen Trennwände sind längst mehr als bloß "durchlässig": Brückenbauer beim Entstehen von gemeineuropäischem Verfassungsrecht ist die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, je national,51 aber nicht nur dies: Längst sind Subjekte und Strukturen, Vorgänge und Verfahren einer offenen Gesellschaft der Verfassungsinter48 Dazu mein Beitrag Textstufen als Entwicklungswege des Verfassungsstaates, FS Partsch, 1989, S. 555 ff.; s. auch: Die Entwicklungsländer im Prozeß der Textstufenentwicklung des Verfassungsstaates, V R Ü 23 (1990), S. 225 ff. Das evolutive Textstufenparadigma, das "Ungleichzeitigkeiten" nicht ausschließt, sondern braucht, erinnert fast an biologische Evolutionstheorien: auch hier Variation und Selektion. 49 S. zum Nachweis der Texte Ρ: Häberle, Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz ..., JöR 34 (1985), S. 303 (424 ff.); ders., Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, HdBStR Bd. I (1987), S. 815 ff. - Zum spezifischen Beitrag der Schweiz für die europäische Verfassungskultur mein Aufsatz: Werkstatt Schweiz, Verfassungspolitik im Blick auf Gesamteuropa, NZZ vom 20. Nov. 1990. 50 Vgl. allgemein K. W. Weidmann, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auf dem Weg zu einem europäischen Verfassungsgerichtshof, 1985; I. Maier (Hrsg.), Europäischer Menschenrechtsschutz 1982; J. A. Frowein / W. Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, Kommentar, 1985. S. schon oben in Anm. 22, 31 bis 33; J. A. Frowein, Der europäische Menschenrechtsschutz als Beginn einer europäischen Verfassungsrechtsprechung, JuS 1986, S. 845 ff.; J. Schwarze (Hrsg.), Der EuGH als Verfassungsgericht..., 1983. 51 Dazu mein Vorschlag: Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, S. 297 ff.
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preten in ganz Europa sichtbar. Sie arbeiten am "gemeineuropäischen Verfassungsrecht", u. U. (mittelbar) selbst dort, wo sie Abweichendes schaffen. Sie setzen bewußt Alternativen und Varianten zum gemeinsamen rechtskulturellen Erbe und zur gemeinsamen rechtskulturellen Gegenwart Europas. So ist der Begriff der "allgemeinen" Rechtsgrundsätze i.S. der Judikatur des EuGH technischer Transmissionsriemen für die Erkenntnis und Weiterbildung von gemeineuropäischem Verfassungsrecht, besonders auf dem Feld der Grundrechte. Ähnliches ist vom EGMR zu sagen, der zwar im strengen Sinn noch kein "Verfassungsgericht" bildet, wohl aber die Entstehung gemeineuropäischer Verfassungsprinzipien kraftvoll vorantreibt - auf der Basis der eher mageren Texte der EMRK. Vor allem sind die Texte von Europarat und KSZE gewichtige Vehikel und Fermente für "gemeineuropäisches Verfassungsrecht". Hervorragender "Beteiligter" ist die Wissenschaft: die je nationale Wissenschaftlergemeinschaft und die Wissenschaft vom Europarecht im weiteren Sinne, sofern sie nicht nur ein "europäisches Verwaltungsrecht", 52 ein europäisches Privatrecht, 53 ein "europäisches Arbeitsrecht", 54 ein europäisches Strafrecht 55 erarbeitet, sondern sich bewußt wird, daß sie mittelbar, nämlich dort, wo es um das "Konzentrat" der Gebiete des einfachen Rechts geht, also bei den fundamentalen Rechtsprinzipien der jeweiligen Detailmaterie, letztlich und in der arbeitet Wenn im euroTiefe an gemeineuropäischen Verfassungsprinzipitn päischen Verwaltungsrecht vom Rechtsstaatsprinzip die Rede ist, 56 so liegt dies auf der Hand; ebenso beim europäischen Arbeitsrecht in bezug auf den Sozialstaatsgedanken oder beim europäischen Strafrecht im Blick auf den Grundssatz "nulla poena sine lege". Die Wissenschaftlergemeinschaft wird zunehmend eine gemeineuropäische, im die Nationalstaaten in Europa nach Europa überschreitenden Sinne. Man darf nicht nur als Zukunftsvision heute von einer "Europäisierung der Staatsrechtslehre" sprechen.57 Längst lassen sich konkrete 52 Dazu die Pionierleistung von J. Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, 2 Bde. 1988; ders., in: ders. (Hrsg.), Europäisches Verwaltungsrecht im Werden, 1982, S. 17: "gemeineuropäisches Verwaltungsrecht"; s. auch S. 19 f.; U. Everling, Auf dem Wege zu einem europäischen Verwaltungsrecht, JuS 1987, S. 1 ff. 53 Dazu P.-C. Müller-Graff, Privatrecht und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1989, S. 15: "Das gemeineuropäische Privatrecht als kulturelles Erbe"; ders., Binnenmarktziel und Rechtsordnung, 1989, S. 65: "Wachsen und Wiederentdecken einer europäischen Rechtsgemeinschaft". 54
Vgl. R. Birk (Hrsg.), Europäisches Arbeitsrecht, 1990.
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Dazu U. Sieber, Europäische Einigung und europäisches Strafrecht, Bochumer Strafirechtslehrertagung, 1991 (ZgesStrW 1991, S. 957 ff.). 56 Vgl. J. Schwarze, a.a.O. (Anm. 52), Bd. I I (1988), z.B. S. 843 ff. ("Rechtssicherheit und Vertrauensschutz"), S. 1135 ff. ("Rechtsstaatliche Grundsätze des Verwaltungsverfahrens"). 57 So der Verf. 1990 auf der Zürcher Staatsrechtslehrertagung, W D S t R L 50 (1991), S. 156 f. (Diskussion).
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Projekte bezeichnen, die von vorneherein gemeineuropäisch ansetzen (so die Hagener Parteienrechtsforschung 58 oder die Umweltrechtswissenschaft 59); der "Kulturbereich im Zugriff der Europäischen Gemeinschaft" und die etwa in Gestalt der Fernsehkonvention des Europarates und der EG-Fernsehrichtlinie (1989) sich entwickelnden "Europäischen Elemente der Rundfünkordnung" lassen "europäische Mindeststandards" und gemeineuropäisches Medienverfassungsrecht entstehen.60 Man kann institutionelle Rahmen und Foren nennen, etwa das Europäische Hochschul institut in Florenz, das "Erasmus-Programm", auch manche gemeineuropäisch angeleiteten Vorhaben (z.B. in Budapest und Salzburg): Entscheidend ist, daß sich die Wissenschaftlergemeinschaft in den einzelnen juristischen Fachdisziplinen tendenziell als eine gemeineuropäische versteht Das bedeutet keine Absage an die Rechtswissenschaft als auch nationale Disziplin, sie bleibt mehr als bloßer "Zulieferer". Doch sollte die aktuelle und potentielle europäische Dimension bei jeder national verfassungsrechtlichen und -staatlichen Frage von vorneherein stets mitbedacht werden. Methodologisch ist die Etablierung der Rechtsvergleichung im Verfassungsrecht als "fünfter" Auslegungsmethode61 Vehikel dieser gemeineuropäischen Perspektive. Zwar beschränkt sich die Integrierung der Rechtsvergleichung in den Methodenkanon "nach Savigny" nicht auf den Vergleich mit den Rechtsordnungen in Europa, sie greift weit darüber hinaus, z.B. auf die USA und das 58
Dazu die von D. Tsatsos geleiteten Vorhaben, z.B. D. Tsatsos / D. Schefold / H.-P. Schneider (Hrsg.), Parteienrecht im europäischen Vergleich, 1990, mit dezidierter Rechtsvergleichung von M. Morlok (ebd., S. 655 ff.); s. auch D. Tsatsos, Zu einer gemeinsamen europäischen Parteienrechtskultur?, DÖV 1988, S. 1 ff. 59 Vgl. allgemein M. Kloepfer, Umweltrecht, 1989, S. 289 ff.; /. Pernice (unten Anm. 91). Der "internationale Wirkungszusammenhang der Verfassungen" wird für das GG im Blick auf Länder wie Portugal, Spanien, Polen, Griechenland und die Schweiz beispielhaft erarbeitet in: U. Battis / E. G. Mahrenholz / D. Tsatsos (Hrsg.), Das GG im internationalen Wirkungszusammenhang der Verfassungen, 1990; ebd. die Berichte von D. Schefold und P. Ridola über Italien (S. 69 ff., 81 ff.). S. auch die Bände 40 Jahre GG, hrsg. von K. Stern, 1990, und C. Starck (Hrsg.), GG und deutsche Verfassungsrechtsprechung im Spiegel ausländischer Verfassungsentwicklung, 1990. Eine systematische Auswertung dieser drei Bände, ergänzt um Parallelbände, die sich um Verfassungsstaaten wie Italien (Verf. von 1947), Frankreich, Spanien (1978) und die Schweiz (1874) gruppierten, würde genauer zu den Konturen des gemeineuropäischen Verfassungsrechts führen. 60 Aus der Lit.: H. P. Ipsen, Der "Kulturbereich" im Zugriff der Europäischen Gemeinschaft, Ged.-Schrift Geck, 1989, S. 339 ff.; W. Fiedler, Impulse der EG im kulturellen Bereich, in: S. Magiera (Hrsg.), Das Europa der Bürger, 1990, S. 147 ff.; B. Möwes / M. Schmitt-Vockenhausen, Europäische Medienordnung im Lichte des Fernsehübereinkommens des Europarats und der EG-Fernsehrichtlinie 1989, EuGRZ 1990, S. 121 ff.; H. Goerlich / Β. Möwes, Europäische Elemente der Rundfunkordnung, Jura 1991, S. 113 ff.; M. Schweitzer, EG-Kompetenzen im Bereich von Kultur und Bildung, in: D. Merten (Hrsg.), Föderalismus und Europäische Gemeinschaften, 1990, S. 147 ff. 61 Dazu meine Madrider Vorlesung Grundrechtsgeltung und Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat, JZ 1989, S. 913 ff., sowie näher ausgearbeitet im Vortrag in: V R Ü 23 (1990), S. 225 (244 ff.).
7 Häberle
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I. Methoden
hier weiterreichende gemeineuropäisch / atlantische Rechtskulturerbe in Sachen Verfassungsstaat. 62 Doch kann die Rechtsvergleichung als "fünfte" Auslegungsmethode bevorzugt in Europa genutzt werden: weil bei aller Vielfalt eine gemeinsame europäische Kultur vorhanden ist und weiter (zusammen) wächst. Es ist ja die kulturelle Einheit Europas, die den Wurzelboden des gemeineuropäischen Verfassungsrecht bildet.63 Und die derzeit vertiefte Erfassung der "Europäischen Rechtsgeschichte" bildet einen Mosaikstein dieser "Europäisierung" der Rechtswissenschaften64 bzw. ein Feld der juristischen Komparatistik: in der historischen Dimension.
Π Ι . Umrisse einer Theorie "gemeineuropäischen Verfassungsrechts M 1. "Gemeinrecht" als rechtswissenschaftliche Kategorie
Die hier vorgeschlagene Kategorie "gemeineuropäisches Verfassungsrecht" knüpft an Begriffstraditionen der Rechtwissenschaften an, die ihr bei der eigenen "Karriere" in Zukunft dienlich sein können: formal und inhaltlich. An die erste Stelle der Vorbüder und Vorläufer gehören Wort und Sache vom "ge-
62 Dazu mein Vortrag: 1789 als Teil der Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Verfassungsstaates, JöR 37 (1988), S. 35 ff.; s. auch H. Steinberger, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, W D S t R L 50 (1991), S. 1 ff. 63 Vorbildlich bleiben bis heute die Pionierschriften von E. Rabel zur Rechtsvergleichung: vor allem Rechtsvergleichung und internationale Rechtsprechung, in: E. Rabel, Gesammelte Aufsätze, Bd. I I (1965), S. 1 ff. (hrsg. von H. G. Leser), und ders., Aufgabe und Notwendigkeit der Rechtsvergleichung (1924), in: ebd. Bd. III (1967), S. 1 ff. Ebd. S. 3 ff. sind alle auch für das heutige Verfassungsrecht relevanten Stichworte zu finden: "geschichtliche Komparation", Vordringen zu den "Grundgedanken", Vermehrung des "Vorrats an Problemlösungen", "Rechtskritik" und "Rechtspolitik". Vgl. auch Bd. II S. 1 (3): "Wenn die erste und grundlegende Aufgabe der Rechtsvergleichung darin besteht, die Rechtssysteme auf Ähnlichkeiten, Verschiedenheiten und gegenseitige Beinflussungen zu prüfen und in Beziehung zu setzen...". M. Rheinstein ist der "andere Klassiker" der modernen Privatrechtsvergleichung, der den Öffentlich-Rechtler von heute bescheiden macht; vgl. seine großen Aufsätze Comparative Law - its Functions, Methods and Usages (1968), jetzt in: Gesammelte Schriften Bd. 1 (1979), S.251 ff., "Types of Reception" (1956), ebd. S. 261 ff. mit dem großen Satz (S. 292): "Wieder, wie vor dem 19. Jahrhundert, wird die Rechtswissenschaft die Rolle des Wahrers der Einheit der Rechtskultur zu übernehmen haben". Übergreifend jetzt H. Coing, Aufgaben der Rechtsvergleichung in unserer Zeit, NJW 1981, S. 2601 ff. (S. 2604: "Zeitalter, das zu einem ... neuen lus Commune zurückstrebt"). 64 Charakteristisch sind die Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte der Reihe "lus Commune" mit Heften wie E. V. Heyen (Hrsg.), Geschichte der Verwaltungsrechtswissenschaft in Europa, 1982; ders., (Hrsg.), Wissenschaft und Recht der Verwaltung seit dem Ancien Régime, 1984. S. auch die FS Gagner (hrsg. von M. Stolleis u.a. 1991) mit dem Titel: "Studien zur europäischen Rechtsgeschichte". Jetzt D. Willoweit, in: R. Schulze (Hrsg.), Europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte, 1991, S. 141 ff.
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meineuropäischen Zivilrecht", das in bewußter Anknüpfung an das alte europäische ius commune vom 13. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts die moderne Privatrechtswissenschaft heute so eindrucksvoll diskutiert.65 Bei all dem ist an ältere Vorgänge wie die Entwicklung des "droit commun français" im 16. Jahrhundert66 oder an die Auslegungsdivergenzen zu erinnern, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts von den Staaten des Deutschen Bundes angesichts der Allgemeinen Wechselordnung und des Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuches zu bewältigen waren.67 Gab es hier, in Deutschland, eine Vorform der Bundesstaatlichkeit, so dort in Frankreich eine Vereinheitlichungsetappe auf dem Weg von den "coutumes" der französischen Landschaften zum "droit commun français", das Basis für den Code Napoléon wurde. Immer waren Wort und Sache "gemeinen Rechts" Ausdruck und Vehikel einer politische Grenzen übersteigenden rechtskulturellen Einheit. Es ist kein Zufall, daß das rechtstheoretisch wie rechtsvergleichend schon klassische Werk von 7. Esser, "Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts", 1956 (4. Aufl. 1990), allenthalben um "Gemeinrechtsdenken" ringt und dafür die einschlägigen Stichworte bis hin zum kulturwissenschaftlichen Ansatz prägt 68 Im Öffentlichen Recht findet sich mehrfach und zunehmend Gemeinrechtsdenken, zum einen im Verhältnis zwischen staatlichem und kirchlichem Recht69 sowie als Brückenschlag zwischen öffentlichem und privatem Recht70 und dann - für das Vorliegende unmittelbar relevant - im Verfassungsrecht des Bundesstaates als "gemeindeutsches Verfassungsrecht" 71 und rechtsvergleichend er65
H. Kötz, Gemeineuropäisches Zivilrecht, FS K. Zweigert, 1981, S. 481 ff., bes. S. 490; Ε. A. Kramer, Europäische Privatrechtsvereinheitlichung, Juristische Blätter 1988, S. 477 ff. mit Hinweisen auf ältere Stimmen wie H. Coing ("ursprüngliche Einheit der europäischen Rechtswissenschaft", 1986), F. Gschnitzer ("Schaffung eines gemeinsamen eropäischen Zivilrechts", 1960); Kramer erörtert präzise die Pro- und Contra-Argumente zur Schaffung eines "gemeineuropäischen Zivilrechts" (ebd. S. 485 ff.). Eindrucksvoll jetzt H. Coing, Europäisierung der Rechtswissenschaft, NJW 1990, S. 937 ff.; soeben H.-P. Mansel, Europäische Rechtseinheit, JZ 1991, S. 529 ff. 66
Dazu Kötz, a.a.O., S. 499.
67
Dazu Kötz, a.a.O., S. 489.
68
A.a.O. (Anm. 6), bes. S. 221: "Gemeinrechtserbe", S. 263: "Gemeinrechtsdenken der Jurisprudenz", S. 287: "Gemeinrechtsprinzipien", S. 293: "Die Zerstörung dieser Gemeinrechtsbasis ... ist ... ein Werk dreier Faktoren: Des Absolutismus, der Aufklärung und der Nationalstaatsidee", S. 345: "gemeinsames Recht i.S. der principes généraux du droit". - Zu allgemein "anerkannten Rechtsprinzipien der Kultur nation en" ebd. S. 34 ff., 378 ff. 69 P. Häberle, Gemeinrechtliche Gemeinsamkeiten der Rechtsprechung staatlicher und kirchlicher Gerichte?, in: JZ 1966, S. 384 ff.; später parallel im Sinne eines "einheitlichen Rechtsbegriffs", der "Eingliederung des kirchlichen Rechts in ein nicht-dualistisches, sondern umfassendes Rechtsdenken": Κ Schiaich, Kirchenrecht und Kirche, ZevKR 28 (1983), S. 337 ff., bes. S. 359 ff. 70 71
M. Bullinger, Öffentliches Recht und Privatrecht, 1968.
P. Häberle, "Landesbrauch" oder parlamentarisches Regierungssystem?, JZ 1969, S. 613 ff. (mit Rechtsprechungsnachweisen in Fn. 3). - Zum "Gemeindeutschen Verwaltungsrecht" (histo-
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I. Methoden
weitert aus Anlaß der Diskussion um gemeinschweizerisches Verfassungsrecht.72 Speziell im Europarecht im engeren Sinne (d.h. dem Recht der EG) und weiteren Sinne (d.h. dem Recht der EMRK, der ESC und der KSZE) gibt es in neuerer Zeit vereinzelte Hinweise auf gemeineuropäisches Recht oder ähnliche Formeln.73 Auf allgemein politischer Ebene, etwa bei der Diskussion um den Minderheitenschutz für die Deutschen in den ehemals deutschen Gebieten in Polen, wird (1991) im Blick auf den auszuhandelnden Nachbarschaftsvertrag von der geplanten Regelung nach "europäischen Standards" gesprochen.74 Was läßt sich aus dieser Aufzählung lernen? M.E. dieses: Die Kategorie "Gemeinrecht" ist in hohem Maße geeignet, um die von Textgebern, der Wissenschaft und Praxis vorangetriebenem auf Gemeinsames zielende Rechtsentwicklungen zu benennen und zu befördern, die grenzüberschreitend wirken, auf Grundsätzliches zielen, das letztlich auf einem gemeinsamen Wurzelboden der Rechtskultur, und Kultur, wächst (Der Zeitfaktor, d.h. der mittel- und langfristige Entwicklungsgedanke, gehört hinzu.) Diese heuristische Funktion des "Gemeinrechtsdenkens", in unterschiedlichen rechtsethischen Konstellationen in Alteuropa bewährt, ermutigt dazu, sie auch heute im Blick auf das Europa unserer Tage als "gemeinsames Verfassungsrecht" nutzbar zu machen. Die rechtlich institutionalisierte Teilhabe Englands an und Teilnahme in Europa (in der EG, der EMRK, auch der KSZE) bedeutet, daß seine Common Law Tradition, gerade von der Privatrechtswissenschaft im Blick auf gemeines Recht viel berufen, 75 die Entwicklung von Gemeinrecht in diesem Europa eher befördert als behindert. risch): E. Forsthoff, VerwR I, 10. Aufl. 1973, S. 51; zum "allgemeinen deutschen Staatsrecht": M. Friedrich, JöR 34 (1985), S. 1 ff. 72 Vgl. den Beitrag: Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz ..., JöR 34 (1985), S. 303 (340 ff.). S. noch die Nachweise in Anm. 94. 73 Vgl. H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 108: "Das Gemeinschaftsrecht ist gemeines Recht"; E. Riedel, Entschädigung für Eigentumsentzug nach Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK - Zur Herausbildung eines gemeineuropäischen Standards, EuGRZ 1988, S. 333 (338); J. A Frowein, Eigentumsschutz im Europarecht, FS Kutscher, 1982, S. 189 (200): "gemeineuropäischer Standard", "Prozeß des Gebens und Nehmens zwischen der europäischen und der nationalen Ebene"; ders., Die Herausbildung europäischer Verfassungsprinzipien, FS Maihofer, 1988, S. 149 ff. - Allgemein: H. Coing, Gemeines Recht und Gemeinschaftsrecht in Europa, FS Hallstein, 1966, S. 116 ff. 74 Zit. nach FAZ vom 6.3.1991, S. 1. Zuletzt Bundesaußenminister H.-D. Genscher im Blick auf den Nachbarschaftsvertrag mit Polen (FAZ vom 18.5.1991): "Insgesamt ist es gelungen, wesentliche Teile des europäischen Standards der Minderheitenrechte, wie er insbesondere im Dokument des Kopenhagener Treffens über die menschliche Dimension der KSZE sowie in den Empfehlungen des Europarates niedergelegt ist, in dem Vertrag festzuschreiben und ihm so völkerrechtliche Gültigkeit zu verleihen." 75 Vgl. J. Esser, Grundsatz, a.a.O. (Anm. 6), S. 183 ff., 225 ff. S. aber auch E. A. Kramer, a.a.O. (Anm. 65), S. 486 als mögliches "contra-Argument". -H. Coing, NJW 1990, S. 937 (939 f.)
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2. Die "Prinzipien"-Struktur des gemeineuropäischen Verfassungsrechts
Theoretisch ist das Prinzipienhafte am gemeineuropäischen Verfassungsrecht bedeutsam: es verweist auf das wirklich Grundlegende, nicht auf das formelle Detail, zugleich auf Flexibilität und Offenheit. Der Begriff "Prinzipien" hat schon bisher in den verschiedensten Bereichen der Rechtswissenschaften seine spezifischen Eigenschaften erprobt: auf dem Feld des gemeineuropäischen Privatrechts in Gestalt von / . Essers großem Entwurf "Grundsatz und Norm" (1956, 4. Aufl. 1990), im nationalstaatlichen Feld auf dem Gebiet der Grundrechte.76 Die Erkenntnis des Prinzipienhaften des gemeineuropäischen Verfassungsrechts macht dieses für seine Aufgaben besonders geeignet Es soll nicht starr unitarisieren, es soll hinter dem "positiven Recht" "undogmatisch" greifbar werden, sei es geschrieben oder ungeschrieben; es soll arbeitsteilig den Durchgriff zum Rechtsethischen erleichtern und den Durchblick auf das Rechtskulturelle eröffnen. Schließlich läßt die Figur des "Prinzips" bzw. der gemeineuropäischen Verfassungsprinzipien die Rechtsquellen-Frage eher als sekundär erscheinen, wenn sie sie nicht ganz beiseite schiebt - vieles spricht längst für eine Verabschiedung des Bildes "Rechtsquelle", suggeriert es doch das fertige Vorhandensein von etwas, was sich erst in komplexen Textschaffungs- und Interpretations-Vorgängen vieler Beteiligter entwickelt Die Geltungsebene und -höhe bzw. das formale Gewand, in dem gemeineuropäisches Verfassungsrecht auftritt, ist von sekundärer Bedeutung: Es kann zwar die Gestalt von "höchstem" nationalen Verfassungsrecht haben, es genügen aber u.U. auch bloßes (innerstaatlich umgesetztes) Gesetzesrecht (z.B. der EuroparatVerträge), ("ungeschriebene") allgemeine Rechtsprinzipien77 aus der Feder der Verfassungsgerichte im engeren und weiteren Sinn (z.B. des Schweizer BG, des deutschen BVerfG einerseits oder des EuGH andererseits), das Europarecht nennt das amerikanische Common Law als Beispiel für die Möglichkeit einer "überstaatlichen Rechtswissenschaft". 76
R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985. (S. freilich auch ders., Grundrechte als subjektive Rechte und als objektive Normen. Der Staat 29 (1990), S. 49 ff.). S. schon meine "Erinnerung" von 1971 ( W D S t R L 30 (1972), S. 186 (Diskussion)) daran, daß "Grundsatz und Norm - von Josef Esser - für die Grundrechte noch nicht geschrieben worden ist"; im übrigen jetzt F. Bydlinsld, Fundamentale Rechtsgrundsätze, 1988. 77 Der Durchgriff auf "allgemeine Rechtsgrundsätze" ist ein spezifisches "Bindemittel" für Vereinheitlichungsvorgänge in Rechtskulturen. Seien sie geschrieben "verankert" (z.B. Art. 215 Abs. 2 EWGV, Art. 123 Abs.2 GG, Art. 38 Abs.l lit. c IGH-Statut, Art. 7 Schweiz. SeeschiffahrtsG., s. auch § 7 ABGB: "natürliche Rechtsgrundsätze"), seien sie ihrerseits ungeschrieben entwickelt, sie können als immanente Bestandteile und sensibler Verweis auf eine materiale *Allgemeinheit" begriffen werden, die letztlich in kultureller Gemeinsamkeit wurzelt. Was rechtlich zunächst noch wenig verdichtet ist - eben das Kulturelle - wird über das Vehikel "allgemeiner Rechtsgrundsätze" zum Rechtsprinzip. Die Rechtsvergleichung ist dabei die "Methode zur Konkretisierung der allgemeinen Grundsätze des Rechts" (gleichnamig W. Lorenz, JZ 1962, S. 269 ff.). "Standards" sind eine moderne Version der ARG. Beide Begriffe haben Prinzipien-Charakter.
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I. Methoden
wie die Einheitliche Europäische Akte (1986) sowie die "Richtlinien", oder schließlich das "soft law" einer KSZE-Erklärung (z.B. über "die menschliche Dimension": Kopenhagen, 1990, und Paris, 1990). Oft erscheint derselbe Gedanke allmählich auf den verschiedensten Geltungsebenen der Rechtsordnung und in den unterschiedlichsten Rechtsformen: Z.B. "durchwandert" die Rechtsstaatsidee nach und nach wohl fast alle "Rechtsquellen", um sich so als gemeineuropäisch zu bewähren: die nationalen Verfassungsrechte (z.B. Art 28 Abs. 1 S. 2 GG; Art. 9 Ziff. b Verf. Portugal von 1976; Präambel Verf. Spanien von 1978 sowie jüngst Präambel Verf. Ungarn von 1949 /1989 ("... die soziale Marktwirtschaft verwirklichender Rechtsstaat..")), die Satzung des Europarates von 1949 ("Herrschaft des Rechts"), die EMRK (Präambel: "Vorherrschaft des Gesetzes"), in der EG die Gemeinsame Erklärung vom April 1977 ("Achtung des Rechts"), die Stuttgarter Erklärung vom Juni 1983 ("soziale Gerechtigkeit"), die Erklärung der Grundrechte und Grundfreiheiten des Europäischen Parlaments vom April 1989 ("... daß Europa die Existenz einer Gemeinschaft des Rechts bekräftigt, die sich auf die Wahrung der Würde des Menschen und der Grundrechte stützt"), die Einheitliche Europäische Akte von 1986 ("Wahrung des Rechts"), zuletzt (1990) die Charta von Paris der KSZE ("Bindung der staatlichen Gewalt an das Recht").
3. Vorteile der Erkenntnis und Entwicklung von gemeineuropäischem Verfassungsrecht, mögliche Nachteile, die Grenzen
Die Forderung nach bewußtem und offenem Arbeiten am gemeineuropäischen Verfassungsrecht hat einen praktischen und einen theoretischen Hintergrund. Zunächst zum praktischen: Der nationale Verfassunggeber und -interpret kann sich aus dem Vorrat an schon verallgemeinerten oder doch verallgemeinerungsfähigen Verfassungsprinzipien bereichern. Er vermag die Erfahrungen zu nutzen, die "andere in Europa" bei der verfassungsjuristischen Problemlösung bereits gemacht haben, er kann dank rechtsvergleichender Umschau mit Hilfe des Fremden das Eigene lösen, Text- bzw. Regelungsdefizite ausgleichen durch "Anleihen". Die Rechtswissenschaften ganz allgemein und besonders die Verfassungslehre sind sich ihrer erfahrungswissenschaftlichen Dimension noch viel zu wenig bewußt Die Erfahrungen, die andere europäische Verfassungsstaaten mit ihren Lösungen machten, und die Antworten, die sie rechtspolitisch und interpreta torisch gaben, können "rezipiert" werden. Die nationalen Verfassungen in Europa gleichen einer großen "Werkstatt", in der es letztlich gemeinsame Produktions- und Rezeptionsvorgänge gibt. Im "Inneren" von Bundesstaaten läßt sich dies fast modellhaft z.B. in der Schweiz bzw. ihren
4. Gemeineuropäisches Verfassungsrecht
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Total- und Teilrevisionsbewegungen seit den 60er Jahren nachweisen.78 Im europäischen Raum dürfte (z.B. über EG, Europarat und KSZE) Entsprechendes vor sich gehen. Es ist nur noch zu wenig bewußt und beim Namen genannt. Speziell Osteuropa tut sich bei der Schaffung seiner Verfassungsstaaten leichter, wenn ihm vom Westen her gesagt werden kann, daß bestimmte Verfassungsprinzipien im Grunde "gemeineuropäischen Standards" entsprechen. Ein Wort zum theoretischen Hintergrund: Zum einen hat das Textstufenparadigma gezeigt, wie stark der Typus "Verfassungsstaat" weltweit, vor allem auch transatlantisch wirksam ist Die besondere räumliche Nähe und Nachbarschaft der einzelnen Verfassungsstaaten im "alten" Europa ermöglicht intensivere Austauschprozesse, weil Europa eine Kultur hat 79 Dieser Aspekt der Kultur, im Begriff der "Rechtskultur" näher bezeichnet, ist Grund genug, jeden Verfassunggeber und Verfassungsinterpreten in diesem Europa näher zusammenrücken zu lassen, indem er die Möglichkeit des Rück- und Durchgriffs auf gemeineuropäisches Verfassungsrecht nutzt. Speziell Osteuropa kann kulturelle Identität in dem vom Zusammenbruch des Marxismus-Leninismus hinterlassenen Vakuum nur durch Wiederbesinnung auf die Zugehörigkeit zum Europa der Kultur gewinnen - darum ist die schon allenthalben sichtbare Vorbüdwirkung westeuropäischer Verfassungstexte im Osten nur konsequent. Zum anderen verlangt die Vollendung des europäischen Binnenmarktes 1992 nach einheitlichem Wirtschaftsverfassungsrecht (effektiv im Prinzip der sozialen Marktwirtschaft, greifbar in wirtschaftlichen Freiheiten und Elementen der sozialen Sicherung). Der sich intensivierende "grenzüberschreitende Wirtschaftsverkehr" 80 verlangt nicht nur im Privatrecht, er verlangt auch im Verfassungsrecht vereinheitlichende Lösungen: eben ein Stück gemeineuropäisches Verfassungsrecht. Die Integration Europas vollzieht sich jedoch nicht nur auf dem Gebiet der Wirtschaft, sie kann nur als kulturelle und rechtskulturelle in der Tiefe gedeihen; ein tragendes Element dabei ist die Entwicklung gemeineuropäischen Verfassungsrechts, das freilich die kulturelle Vielfalt Europas und seine Umsetzungen ins positive Recht als Gegenprinzip von vorneherein mit zu bedenken hat. Vor allem kann Osteuropa zu Gesamteuropa nur auf bzw. in der kulturellen Tiefenschicht zurückkehren, gleich welcher Art von Integration: die enge in Gestalt eines Beitritts zur EG, die losere in Gestalt eines Beitritts zum
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Dazu mein Beitrag: Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz ..., JöR 34 (1985), S. 303 ff. 79 Zu Europa in kulturverfassungsrechtlicher Perspektive mein gleichnamiger Beitrag in: JöR 32 (1983), S. 9 ff. Allgemein P. Morand, L'Europe galante, 1989; O. Molden, Die europäische Nation, 1990.
so Vgl. für das Zivilrecht H. Kötz, a.a.O. (Anm. 65), FS Zweigert, S. 488 ff.
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Europarat oder die Zugehörigkeit zur KSZE, die sich jüngst in der Form von "soft law" intensiviert und ihrerseits kräftige Beiträge zum gemeineuropäischen Verfassungsrecht leistet. Im ganzen kann die Bewußtmachung von vorhandenem und die behutsame Entwicklung von neuem gemeineuropäischen Verfassungsrecht zu einer so oft beschworenen "Kräftigung europäischer Identität" führen. 81 Mögliche Nachteile und die Grenzen seien nicht verschwiegen. Nicht zu Unrecht ist der Europäer stolz "auf die kulturelle und d.h. eben auch rechtskulturelle Vielfalt dieses Kontinents"82 und einer "undifferenzierten" Tabula-rasaLösung der europäischen Rechtsvereinheitlichung (T. Mayer-Maly) sei hier nicht das Wort geredet. Aber diese Vielfalt leuchtet eben doch letztlich auf der kulturellen Einheit eben dieses Kontinents, und die vorletzten und letzten Gerechtigkeitsprinzipien, heute in viele Verfassungsprinzipien eingegangen sind, in Europa ein- und dieselben. Im übrigen geht es nicht um numerisches Addieren und Quantifizieren, sondern um Wertung nach Maßgabe von Gerechtigskeitskriterien. Nur behutsam kann gemeineuropäisches Verfassungsrecht erschlossen werden - mit hoher Sensibilität für das nicht Gemeineuropäische, weil national Besondere und eben hierin die Vielfalt der europäischen Rechtskultur Ausmachende. Die Vergegenwärtigung der spezifisch nationalen Gehalte im jeweiligen Verfassungsrecht eines Verfassungsstaates ist es, die letztlich davor bewahrt, zu vorschnell auf einen Nenner zu bringen, was eben doch verschieden bleiben soll und wül - man denke an Präambeln in ihrer Dimension der Verarbeitung nationaler Geschichte, an nationale Feiertagsgarantien, an andere symbolträchtige Verfassungsgehalte. 83 Auch die Unterschiede in der Bundesstaatsstruktur, etwa in der Reihung Schweiz / Deutschland / Österreich angedeutet (was die Eigenständigkeit der Gliedstaaten angeht), dürfen nicht über das Stichwort eines gemeineuropäischen Bundesstaatsmodells eingeebnet werden. Und doch gibt es hier ebenfalls zunehmend ins Blickfeld rückende Gemeinsamkeiten, etwa die Möglichkeit von gemeindeutschem bzw. -eidgenössischem Bundesrecht84 oder die Idee der Bundestreue.85
81 So vorbildlich entwickelt für das Privatrecht von E . A. Kramer , a.a.O. (Anm. 2), S. 487: "Immerhin ist das europäische Privatrecht nicht nur ein marginales Nebenprodukt europäischer Kultur, sondern kraft Tradition und hoher formaler und materialer Qualität eine ihrer zentralen Komponenten." 82
So mit Recht E. A. Kramer, a.a.O. (Anm. 2), S. 486.
83
Dazu meine Ausarbeitungen: Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, FS Broermann, 1982, S. 211 ff.; Feiertagsgarantien als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, 1987. 84
Vgl. oben Anm. 72, unten Anm. 94.
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4. Die zwei Wege der Rechtsgewinnung in Sachen gemeineuropäisches Verfassungsrecht
Das gemeineuropäische Verfassungsrecht ist kein "Fertigprodukt"; es muß hart erarbeitet, überlegt entwickelt werden, so greifbar die Materialien schon sind, aus denen es "wird" bzw. werden kann (vgl. die obige Bestandsaufnahme). Grob betrachtet lassen sich zwei Wege unterscheiden, auf denen sich das gemeineuropäische Verfassungsrecht entfaltet: (1) der rechtspolitische Weg der Rechtssetzung, (2) der interpretatorische der Rechtsfindung. Beide Wege sind nur im Grundsätzlichen unterscheidbar. Es gibt manche Überschneidungen: ein Gran Rechtspolitik leistet auch der Interpret, umgekehrt setzt Rechtspolitik vorherige Interpretationsvorgänge voraus (z.B. selbst beim Textstufenvergleich).
(1) Rechtspolitik in Sachen gemeineuropäisches Verfassungsrecht
Prinzipiell rechtspolitische Arbeit leisten diejenigen, die Verfassungsrecht setzen, an erster Stelle der (nationale) Verfassunggeber, aber auch die an Totalund Teilrevisionen Beteiligten. Sie entwerfen Verfassungstexte und gehen dabei bewußt und unbewußt vergleichend vor. Die Textstufenanalyse kann diese vergleichende Arbeit aufdecken. 86 Vergleichen heißt Erarbeiten des Gleichen, aber auch i/ngleichen. Diejenigen, die für ihre Verfassungsstaaten in Europa neue Verfassungstexte entwerfen wollen, können nur auf der Basis eines europaweiten Vergleichs erkennen, welche Prinzipien im Grunde schon "allgemein" sind, welche je national besonders bleiben (sollen). Gerade die jüngsten Verfassungen und Verfassungsentwürfe in Osteuropa, vor allem auch in den neuen deutschen Bundesländern, zeigen, auf wie vielen Feldern schon ein gemeiner Rechtsbestand an Verfassungsprinzipien vorliegt, den der Osten rezipiert und damit als ius commune constitutionale bestätigt: die soziale Markt-
85 Dazu K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. 1984, S. 699 ff.; J. Isensee, Idee und Gestalt des Föderalismus im GG, HdbStR Bd. I V 1990, S. 517 (599 ff.); U. Häfelin / W. Haller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 2. Aufl. 1988, S. 94 f.; C. Starck (Hrsg.), Zusammenarbeit der Gliedstaaten im Bundesstaat, 1988; P. Pernthaler, Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre, 1986, S. 430 ff. Vorbildlich (bundesstaats-)v ergleich end arbeitet T. Fleiner, in: W D S t R L 46 (1988), S. 123-126 (Diskussion). Zum Ganzen mein Beitrag: Aktuelle Probleme des deutschen Föderalismus, in: Die Verwaltung 1991, S. 169 ff. 86
Dazu für die Schweiz mein Beitrag Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz ..., JöR 34 (1985), S. 303 ff.; fortgeführt in U. Battis / E. G. Mahrenholz I D. Tsatsos (Hrsg.), Das GG im internationalen Wirkungszusammenhang der Verfassungen, 1990, S. 17 ff. Für die Entwicklungsländer: Ρ. Häberle, Die Entwicklungsländer im Prozeß der Textstufendifferenzierung des Verfassungsstaates, V R Ü 23 (1990), S. 225 ff.
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I. Methoden
Wirtschaft, klassische Grundrechte, Rechtsschutzverfahren etwa gehören hierzu.87 Insofern ist die Öffnung Osteuropas, sind die heutigen Prozesse der Übernahme westlichen Verfassungsrechts (fast als Elemente einer "Modellverfassungw) dort ein kräftiger Beleg für die Erstarkung übereinstimmender Verfassungsprinzipien zum ius commune Europaeum. Obwohl national meist nicht auf der Ranghöhe von Verfassungsrecht angesiedelt bzw. verstanden, sind die Grundrechte der EMRK "Kernteile" von gemeineuropäischem Verfassungsrecht.88 Angesichts der Wechselwirkung, die zwischen einfachem Recht und Verfassungsrecht besteht,89 sollte aber die rechtspolitische Tätigkeit nicht unterschätzt werden, die die Rechtsvereinheitlichung in Europa nach Art. 100 sowie 100 a EWGV leistet. Formal ist sie zwar im Rang unter der Verfassung angesiedelt,90 mittelfristig kann es aber sowohl von den Verordnungen als auch von den Richtlinien der EG her zu vereinheitlichenden Ausstrahlungswirkungen nach oben kommen, d.h. zu konstitutiven Beiträgen auf dem Weg zu gemeineuropäischem Verfassungsrecht Das gilt z.B. für das Umweltrecht 91 Im übrigen seien alle Bemühungen um eine Revision des primären Gemeinschaftsrechts, Vorgänge wie die Schaffung der Einheitlichen Europäischen Akte, auch bloße Entwürfe für eine europäische Verfassung 92 als "Merkposten" erwähnt. All diese Teile setzen Vergleichsvorgänge voraus, sie können sich als (Vor) Arbeit zu einem gemeineuropäischen Verfassungsrecht entpuppen. Freilich: mit der Schaffung übereinstimmender Verfassungstexte ist nur ein erster Schritt auf dem Weg zu gemeineuropäischem Verfassungsrecht getan. Identische Textformen sind noch keine Garantie für identische Ttxtinhalte, 87 Vgl. die Textmaterialien für Ungarn in: JöR 39 (1990), S. 258 ff.; für die ostdeutschen Bundesländer ebd., S. 373 ff. - Zur "Verfassungsentwicklung in Osteuropa" mein gleichnamiger Beitrag in: FS Kitagawa, 1992, S. 129 ff. 88 Die Schweiz spricht der EMRK Verfassungsrang zu, dazu J. P. Müller, Elemente einer schweizerischen Grundrechtstheorie, 1982, S. 177. S. aber auch M. E. Villiger, Die Europäische Menschenrechtskonvention und die schweizerische Rechtsordnung, EuGRZ 1991, S. 81 ff.; zu Österreich: L. Κ Adamovich /B.-C. Funk, österr. VerfR, 2. Aufl. 1984, S. 82. Zu den "allgemeinen Grundsätzen der Rechtsordnungen aller Mitgliedstaaten" i.S. der Kommission: H. Miehsler, in: Intkomm-EMRK, 1986, Rdnrn. 86 ff. zu Art. 6. 89 Dazu P. Lerche, Stiller Verfassungswandel als aktuelles Politicum, FS Maunz, 1971, S. 285 (286 f.); P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 1. Aufl. 1962, S. 126 ff., 180 ff., 210 ff., 3. Aufl. 1983, S. 180 ff., 210 ff. und S. 340 f. 90
Zu. Art. 100 EWGV: E. A. Kramer, a.a.O. (Anm. 2), S. 430 f.
91
Vgl. I. Pernice, Auswirkungen des europäischen Binnenmarkts auf das Umweltrecht - Gemeinschafts(verfassungs)rechtliche Grundlagen, NVwZ 1990, S. 201 ff. 92 Dazu R. Luster (Hrsg.), Bundesstaat Europäische Union, Ein Verfassungsentwurf, 1988; s. auch den Entwurf der Verfassung einer Europäischen Union, vorgelegt von der Fraktion der Europäischen Volkspartei vom Sept. 1983, in: J. Schwarze!R. Bieber (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa, 1984, S. 571 ff.
4. Gemeineuropäisches Verfassungsrecht
97
zumal Texte oft unbestimmt, ja mehrdeutig sind. Dieses, das Textstufenparadigma relativierende Argument ist ernst zu nehmen. Umgekehrt kann gemeineuropäisches Verfassungsrecht sich auch wunterw verschiedenen Textfassungen finden: weil bei aller Unterschiedlichkeit der Texte der Interpretationsprozeß letztlich doch je national zu parallelen, von der Gerechtigkeit gesteuerten Wertungen kommt. Einen Art. 100 EWGV auf der Ebene des Verfassungsrechts, d.h. eine Institutionalisierung der Rechtsvereinheitiichung gibt es in Europa aus guten Gründen nicht, wohl aber leisten die rechtspolitischen Aktivitäten eines Europarates (und der KSZE) über die Felder der Grundrechte der EMRK und der ESC hinaus viel Vorarbeit - man denke an die Initiativen auf dem Gebiet des Umweltschutzes und Medienrechts. Zu fragen ist allerdings, ob es parallel zu Gremien wie im Zivilrecht 93 nicht Aufgabe der Wissenschaft wäre, vergleichend europäisches Verfassungsrecht zu erforschen bis hin zu verfassungspolitischen Vorschlägen. Allerdings ist vor Übertreibungen zu warnen: Bei aller Entdeckerfreude in bezug auf Elemente gemeineuropäischen Verfassungsrechts sind auch dessen Grenzen zu beachten. Die nationale Verfassungshoheit und einzelstaatliche Individualität ist in einem aus seiner kulturellen Vielfalt lebenden Europa Bedingung des "Gemeinen", insoweit auch Grenze. Gemeineuropäisches Verfassungsrecht darf kein Instrument der uniformen Einebnung und Gleichschaltung von nationalem Verfassungsrecht von einem imaginären Einheitseuropa her oder auf ein solches hin sein. Stärke und Kraft des gemeineuropäischen Verfassungsrecht sind auf den Reichtum, ja "Eigensinn", auch "Ungleichzeitigkeiten" der nationalen "Eigenverfassungsrechte" angewiesen. Was bundesstaatlich für das Verhältnis von gemeindeutschem oder gemeinschweizerischem Verfassungsrecht zum Verfassungsrecht der Länder bzw. Kantone gilt, 94 gilt erst recht im Verhältnis vom gemeineuropäischem und nationalem Verfassungsrecht (Subsidiarität).
93 94
Vgl. H. Kötz, FS Zweigert, a.a.O. (Anm. 1), S. 492 ff.; Kramer, a.a.O. (Anm. 2), S. 479 ff.
Dazu P. Häberle, Neuere Verfassungen ..., a.a.O. (Anm. 86), JöR 34 (1985), S.303 (353 ff.); s. aus der weiteren Literatur die Passauer Staatsrechtslehrertagung: VVDStRL 46 (1988), z.B. Vizthum, ebd., S. 7 (13 f.), G. Schmid, S. 92 (113) und B. C. Funk, S. 174 (Diskussion); eher kritisch: C. Starck, ebd., S. 156 (Diskussion).
98
I. Methoden
(2) Der interpretatorische
Weg der Rechtsfindung
Zweiter Weg beim Erkennen bzw. bei der Entwicklung von gemeineuropäischem Verfassungsrecht ist der interpretatorische. Hier hat die wissenschaftliche Methodenlehre Vorarbeit zu leisten, die Verfassungsrechtsprechung sollte diese praktisch umsetzen und verantworten. Die Lehren von den Methoden der Verfassungsinterpretation 95 sind jetzt entschlossen um die gemeineuropäische Dimension zu erweitern. Konkret: um die rechtsvergleichende-kulturwissenschaftliche. Ob man die Rechtsvergleichung als "fünfte" Auslegungsmethode nach Savigny kanonisiert96 oder auf eine solche, zugegeben suggestive Plakatierung verzichtet, ist eher sekundär. Entscheidend bleibt, daß die Verfassungsvergleichung vor allem bei den Grundrechten bewußt und offen praktiziert wird, auch bei Fragen primär nationalen Verfassungsrechts, nicht nur bei solchen des Europarechts im technischen Sinne! Hier ist klarzustellen, daß es nicht "automatisch" und stets zur Erkenntnis bzw. Findung von gemeineuropäischem Verfassungsrecht kommen muß und kann. Die Verfassungsvergleichung kann z.B. dazu führen, daß etwa nur zwischen den drei deutschsprachigen Bundesstaaten Schweiz, Österreich und Deutschland "Gemeines" entsteht bzw. bewußt wird, z.B. im Felde von Bundesstaatsproblemen ("regionales Gemeinrecht in Europa"). Von einem bestimmten Punkt an schlägt indes die Quantität in die Qualität um: Ergibt die "wertende Rechtsvergleichung" z.B. bei Grundrechten, daß über den Bereich der EMRK-Grundrechte hinaus viele europäische Verfassungsstaaten übereinstimmende Lösungen haben (wie in der jüngsten KSZE-Deklaration), so können sich ein in diesem Punkt noch nicht so weit entwickeltes nationales Verfassungsrecht bzw. seine Interpreten auf "die anderen in Europa" als subsidiäre Interpretationshilfe berufen. Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten wird europäisch. Die nationalen Staatsrechtslehren haben in all dem eine Vorreiteraufgabe und besondere Verantwortung: als europä is che Wissenschaftl ergemeinscha ft
95 Schon klassisch P. Schneiderl H. Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, W D S t R L 20 (1963), S. 1 ff. bzw. S. 53 ff.; s. auch K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 17. Aufl. 1990, S. 19 ff.; R. Dreier ! F. Schwegmann (Hrsg.), Probleme der Verfassungsinterpretation, 1976. 96 So der Vorschlag des Verf. in: JZ 1989, S. 913 (916 ff.); weiter entfaltet in: V R Ü 23 (1990), S. 225 (244 ff.). - Die juristische Methodenlehre beginnt auch in ihren großen Lehrbüchern die Rechtsvergleichung grundsätzlich zu integrieren, vgl. H.-M. Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 2. Aufl. 1991, S. 117 f. ("Zugang zu dem Fundus von Erfahrungen und Erkenntnissen" (unter Hinweis auf des Verf. These von der Rechtsvergleichung als "fünfter" Auslegungsmethode)). Die Rechtsvergleichung ist berührt in F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl. 1976, S. 124, 146 f., 164; 4. Aufl. 1990, S. 21, 198, 210; recht punktuell bleibt K. Lorenz, Methodenlehre, 5. Aufl. 1983, S.227,233.
4. Gemeineuropäisches Verfassungsrecht
99
Notwendig wird eine gemeineuropäische Methodenlehre. Im Zivilrecht der Sache nach gefordert, 97 ist sie heute im Verfassungsrecht ein Petitum. Zwar kann es nicht darum gehen, die Offenheit und Schöpferkraft des Interpretationsvorgangs dadurch zu "disziplinieren", daß verbindlich gesagt wird, wie die einzelnen Methoden der Verfassungsinterpretation zu kombinieren sind.98 Wohl aber müßten die nationalen Methodenlehren stärker als bisher auch beim Verfassungsrecht das dem europäischen Verfassungsstaat methodologisch Gemeinsame erarbeiten (einschließlich gemeinsamer Vorverständnisse und Techniken zu ihrer Rationalisierung etc.). Während etwa die Schweiz z.B im Grundrechtsbereich die hohe Tugend der Rechtsvergleichung längst praktisch übt,99 besteht im sich seiner selbst sehr bewußten Frankreich ein großer Nachholbedarf. Italiens Staatsrechtslehre ist demgegenüber weit aufgeschlossener, 100 ebenso die spanische. 101
97 Vgl. im Anschluß an Coing : H. Kötz, FS Zweigert, a.a.O. (Anm. 1), S. 490 f. - Eine kaum zu überschätzende Hilfestellung bei der Entwicklung gemeineuropäischen Verfassungsrechts gibt der (wohl durch Art. 1 Abs. 2 ZGB beeinflußte) Art. 7 des schweizerischen Seeschiffahrtsgesetzes: "Kann der Bundesgesetzgebung ... keine Vorschrift entnommen werden, so entscheidet der Richter nach den allgemein anerkannten Grundsätzen des Seerechts, und, wo solche fehlen, nach der Regel, die er als Gesetzgeber aufstellen würde, wobei er Gesetzgebung und Gewohnheitsrecht, Wissenschaft und Rechtsprechung der seefahrenden Staaten berücksichtigt." 98
Zum Problem mein Beitrag: Kommentierung statt Verfassunggebung?, DVBI. 1988, S. 262 (267 f.). 99 Vorbildlich J. P. Müller, Elemente, a.a.O. (Anm. 35) (in Gestalt der Bezugnahme auf deutsche und angloamerikanische Grundrechtsliteratur), z.B. S. 1 ff., 8 ff., 130 f., 141 ff.; ders., Die Grundrechte der schweizerischen Bundesverfassung, 1991, S. 4 f., 87 ff., 112 ff.; P. Saladin, Grundrechte im Wandel, 3. Aufl. 1982, S. 391 ff., 419 ff.
100 D i e italienische Staatsrechtslehre nimmt seit langem (vgl. allgemein R. Schulze (Hrsg.), Deutsche Rechtswissenschaft und Staatslehre im Spiegel der italienischen Rechtskultur während der 2. Hälfte des 19. Jahrb., 1990) die deutsche nicht nur verbal zur Kenntnis, sie verarbeitet sie in der ganzen Breite ihrer Literaturgattungen; das sei an einigen Beispielen belegt, vgl. Zeitschriftenaufsätze: A. Corasaniti, Note in Tema di Diritti fondamentali, in: Diritto e Società 1990, S. 189 ff.; für Monographien: M. Carducci, V "accordo di Coalizione", 1989, S. 3, 15, 125 u. passim; P. Ridola, Democrazia pluralistica e libertà associative, 1987, passim; für Lehrbücher: P. Grossi, I Diritti di Libertà ad Uso di Lezioni, Bd. 11, 2. Aufl. 1991, S. 97 f., 145, 281 u.ö.; F. Sorrentino, Le Fonti del Diritto, 1987, S. 145, 152; Λ. Pace, Problematica delle Libertà Costituzionali, Parte generale, 1985, S. 41, 64; für Sammelwerke: A. A. Cervati, Le Garanzie Costituzionali nel Pensiero di C. Mortati, 1990, S. 418 (420); für Lexikonartikel: C. Mortati, Dottrine generali e Costituzione della Repubblica Italiana (1962), 1986, S. 154 ff., 190 f. u.ö., A. Baldassarre, Libertà, Problemi Generali, in: Enciclopedia Giuridica I 1988, S. 1 (11 f., 15, 24, 27, 29 u.ö.); A. D'Atena, Adattamento del Diritto interno al Diritto internazionale, ebd. Bd. I, S. 1 (3, 5, 6); F. Lanchester, Stato, in: Enciclopedia del Diritto, B d . X L I I I 1990, S. 796 (811 f.). In der Kommentarliteratur bestehen bezeichnenderweise Defizite (sie bleibt am längsten "national" introvertiert, vgl. nur V. Crisafulli / L. Paladin (Hrsg.), Commentario breve, 1990). 101 Auch die spanische Staatsrechtslehre, die ihrerseits mit der italienischen in lebhaftem Gespräch ist (nicht erst seit der Verf. von 1978), beachtet die deutsche Literatur intensiv; Beispiele: J. J. G. Encinar, El Estado Unitario-Federal, 1985; L. V. Mancebo, Hacia el equilibirio de poderes, 1989; A.-E. Perez Luno, Derechos humanos, estado de derecho y Constitución, 2. Aufl. 1986; P.
100
I. Methoden
Mögen die je nationalen Wissenschaftlergemeinschaften heute in der Kenntnis des Verfassungsrechts ihrer europäischen Nachbarn unterschiedlich "weit" sein und es je nach nationalem Temperament (greifbar z.B. in den Unterschieden des Argumentations- und Sprachstils) bleiben: Dem vereinten Deutschland stünde es gut an, im Zuge seiner Mittellage und Mittlerrolle ein Forum für vergleichende Verfassungsrechtsgewinnung zu sein. Es könnte so Vorarbeit für die Entwicklung von gemeineuropäischem Verfassungsrecht nach Ost und West hin leisten: rechtspolitisch wie interpretatorisch. Die im kleinen zu schaffende deutsche Wiedervereinigung im Bewußtsein, in der Kultur, besitzt ihr Parallelstück im großen: im Brückenschlag zwischen west- und osteuropäischen Staaten. Auch hier ist es die Einheit und Vielfalt der Kultur, die die Fundamente liefert, damit "zusammenwächst, was zusammengehört".
5. Die Arbeitsteilung der wissenschaftlichen Literaturgattungen in Sachen "gemeineuropäisches Verfassungsrecht"
Die Staatsrechtslehre, besser Verfassungslehre, kann und sollte die Arbeit am gemeineuropäischen Verfassungsrecht je nach ihren Literaturgattungen differenziert vorantreiben. 102 Dem Lehrbuch kommt - nach dem Vorbild des 103 Zivilrechts - ein erster Rang zu. In den Materialien, also dem Rechtsstoff, aber auch in Systematik und Dogmatik einschließlich "rechtspolitischer Ausblicke" bzw. verfassungspolitischer Varianten und Möglichkeiten bzw. Alternativen muß das Lehrbuch gemeineuropäisch gearbeitet sein. Dabei könnte es sich als solches auf Teilgebiete beschränken, etwa Demokratiestrukturen und politische Parteien,104 Grundrechte, 105 Verfassungsgerichtsbarkeit, 106 auch komCruz Villalón , La formación del sistema Europeo del Control de Constitucionalidad (1918-1939), 1987. Die deutsch-spanischen Rechtsvergleichenden Tagungen, geleitet von A. Lopez Pina (z.B. in Madrid 1989) arbeiten ebenso am n ius commune constitutional" wie regionale (z.B. Las Cömpetencias de ejecución de la Generalidad de Catalunya, 1989); s. früh A. Randelzhofer (Hrsg.), Deutsch-Spanisches Verfassungsrechtskolloquium, 1982. Speziell die Literatur zur EMRK wirkt dabei als "Kernelement" gemeineuropäischen Verfassungsrechts (als Beispiel aus Portugal: Coloquio sobre Direitos Fundamentalis e convençâo Europeia dos Direitos do Homem, 1983). - Pionierhaft früh das weltweite Symposion der Α. ν . Humboldt-Stittung 1978: Neue Entwicklungen im öffentlichen Recht, hrsg. von T. Berberich u.a., 1979; bemerkenswert auch H.-U. Erichsen (Hrsg.), Lateinamerika und Europa im Dialog, 1989. 102 Zur "Verfassungslehre im Kraftfeld der rechtswissenschaftlichen Literaturgattungen" mein gleichnamiger Beitrag in: FS Kaufmann, 1989, S. 15 ff. - hier Nr. 6. 103 Vgl. H. Kötz, Gemeineuropäisches Zivilrecht, FS Zweigert, 1981, S. 481 (498), der "Lehrbücher des gemeineuropäischen Zivilrechts" (zuerst zum Vertrags- und Deliktsrecht) fordert und schon einige Beispiele für die Darstellung eines Rechtsgebiets von vorneherein unter einem europäischen Blickwinkel nennen kann. 104
Vgl. oben Anm. 58.
4. Gemeineuropäisches Verfassungsrecht
101
munale Selbstverwaltung107. Wesentlich ist nur, daß die nationalstaatlichen Grenzen bewußt und von vorneherein überschritten werden. Das sollte im Zurück, also verfassungsgeschichtlich geschehen (auch hier jenseits des Nationalen), zugleich aber auch in der Gegenwart: als kontemporärer Verfassungsbzw. Grundrechtsvergleich. VerfassungsgescAicAfó und Verfassungsvergleichung offenbarten so ihre innere Zusammengehörigkeit als die zwei Seiten desselben Vorgangs: des Vergleichs in Zeit und Raum.108 Einzelne Monographien, ebenso Lexikonartikel und Sammelbände müßten entsprechend vorgehen. Beispiele finden sich schon.109 Etwas anders stellt sich die Aufgabe der Rechtsprechungsrezension dar. Als ein Stück "kommentierte Verfassungsrechtsprechung"110 konzentriert sie sich auf die einzelnen Verfassungsgerichtsentscheidungen. Dabei hat sie größere Linien zur Vorgeschichte nachzuziehen. Doch braucht sie keine dem Lehrbuch zu einem Thema des gemeineuropäischen Verfassungsrecht vergleichbare Systematik zu leisten. Freilich hat sie begrenzt auf ihren "Fall" eines besonders vertieft zu tun: sie muß die Rechtsvergleichung als "fünfte" Auslegungsmethode in den Methodenkanon integrieren und insofern der Arbeit der nationalen Verfassungsgerichte sozusagen "ex post" vorangehen. Die "fünfte" Auslegungsmethode erweist sich als gemeineuropäischer Schlüssel, als Methode zur Erarbeitung des europäischen Kontextes eines nationalen Rechtsfalls. Da die Gerichte - sie stehen ja meist unter Zeitdruck - erst allmählich lernen können, den nationalen Verfassungsrechtsstreit gemeineuropäisch aufzuschließen, sollte die Wissenschaft als Vorreiter aktiv sein. Erst sehr viel später mag dann der gemeineuropäisch arbeitende Verfassungsrechtskommentar gelingen, der das Mosaik vieler Einzelentscheidungen und -kommentierungen zu einem Ganzen fügt. 111 105 Vorbildlich schon J. P. Müller, oben Anm. 35. S. noch speziell: J. Iliopou los-Strangas (Hrsg.), Der Mißbrauch von Grundrechten in der Demokratie, 1989; E.-W. Böckenförde / C. Tomuschat/D. C. Umbach (Hrsg.), Extremisten und öffentlicher Dienst, 1981. 106 Beispiele: A. Auer, Die Schweizerische Verfassungsgerichtsbarkeit, 1984; W. Kälin, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie, 1987, z.B. S. 38 ff., 54 f., 61 ff., 79 ff, 177 ff. u.ö.; C. Starck/A. Weber (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa, 2 Bde. 1986. 107
Z.B. D. Thürer,
Bund und Gemeinden, 1986. Vorarbeit bei Knemeyer (Hrsg.), oben Anm.
29. 108
H. Kötz, Rechtsvergleichung, a.a.O. (Anm. 1), S. 77, spricht für Rechtsvergleichung und Rechtsgeschichte plastisch von "Zwillingsschwestern". 109 Vgl. d e n Sammelband zum Vergleich Deutschland / Ungarn: Die Verfassung als Katalysator zwischen Gesellschaft und Staat (hrsg. von A. Adam und H. Scholler), 1990. - Internationale Festschriften, um den "nucleus" (Beispiele: FS Zweigert, 1981 und FS Coing, 1982) eines europäischen Gelehrten gestaltet, können Spiegel gemein europäischer Rechtswissenschaft sein. 110 111
So mein gleichnamiges Buch, 1979.
Speziell die Europarechtswissenschaft als die Disziplin des EG-Rechts hätte ihrerseits nationalrechtsvergleichend zu arbeiten, d.h. das nationale Verfassungs- und Verwaltungsrecht als Vor-
102
I. Methoden
In all dem zeigt sich, wie sehr die Staatsrechtslehre als Wissenschaft bei der Erarbeitung gemeineuropäischen Verfassungsrechts gefordert ist. Sie vor allem sollte in der ganzen Breite ihrer Themen und der großen Fülle ihrer Prinzipien und Methoden vorangehen. Sie kann so zum Schrittmacher für ein ius commune (jetzt: constitutionale) werden, wie die Privatrechtswissenschaft in früheren Jahrhunderten im Sinne eines "ius civile Europaeum" gewirkt hat und heute wieder wirkt Das ist kein Votum für offene und verdeckte Geringschätzung der großen europäischen Privatrechtskultur. Im Gegenteil: ihre Prägekraft wurde mehrfach als vorbildlich gewürdigt Überdies sollten Verfassungsrechtsund Privatrechtswissenschaft nicht im Konkurrenzstreit um Konstruktion bzw. Rekonstruktion eines ius commune heute gegeneinander ausgespielt werden. Sie arbeiten je anteilig an der einen Rechtskultur Europas unserer Zeit. Vor allem sind Verfassung und Privatrecht in ihrem sich jeweils einander zuzuordnenden Sinne zu begreifen 112 und aus ihrem jeweiligen Proprium zu verstehen. Daß es dabei zum fruchtbaren Austausch der Methoden des Problemsichtens und -lösens kommen mag - bis hin zum Wettstreit um die jeweils bessere gemeineuropäische Methode - wäre erwünscht.113 Sicher vermag die Arbeit am gemeineuropäischen Verfassungsrecht künftig wieder ein Kraftfeld für wissenschaftliches Juristenrecht zu bilden. Die Staatsrechtslehre könnte ein Tätigkeitsfeld finden, das ihr die (nationale) Verfassungsgerichtsbarkeit nicht so rasch zu "nehmen" vermag.114 Sie hätte sich auf europäischer Ebene konstituiert und auf neue Weise legitimiert: als vergleichende Verfassungslehre, die das nationale Verfassungsrecht als jeweils mehr oder weniger geglücktes historisches "Beispiel" nimmt und zugleich den auf der höheren Ebene des idealtypisch Möglichen und z. T. schon gelebten eurooder Parailel-Erscheinungsform für seine eigenen Rechtsideen zu werten. Beispiel ist J. Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, 2 Bde. 1988; ders. (ed.), Legislation for Europe 1992,1989. 112 Dazu Κ. Hesse, Verfassungsrecht und Privatrecht, 1988. S. auch P. Häberle, Verfassung und Privatrecht, in: M . Haller / H. Hauser / R. Zäch (Hrsg.), Ergänzungen, 1990, S. 519 ff. 113 Nicht zuletzt die Fachzeitschriften sind Vehikel der sich entwickelnden gemeinrechtlichen Vorgänge und Inhalte in Europa wie z.B. die EuGRZ (seit 1974); bemerkenswert ist auch die neue mehrsprachige "Revue Européenne de Droit Public" (seit 1989), auch die alte ZVglRWiss. Eine Europäische Rechtswissenschaft konstituiert sich auch aus dem Wissenschaftsgespräch im Rahmen der in Aufsätzen, Urteilsanmerkungen und Buchbesprechungen den nationalen Rahmen darstellenden und sprengenden Fachzeitschriften. Jahrbücher sind ein weiterer "Träger": seien sie thematisch allgemein (so das JöR sowie seit 1988 das Yearbook der University of Rome II, Department of public law), seien sie thematisch begrenzt (z.B. Annuaire International de Justice Constitutionnelle, Université d'Aix-Marseille III, etwa Bd. II, 1986). 114 Dazu, daß die deutsche Staatsrechtslehre sich allzusehr im Kommentieren von BVerfG-Judikatur erschöpft: B. Schlink, Die Entthronung der Staatsrechtswissenschaft durch die Verfassungsgerichtsbarkeit, Der Staat 28 (1989), S. 161 ff.; s. auch P. Häberle, Grundrechtsgeltung und Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat, JZ 1989, S. 913 (919); ders., Praktische Grundrechtseffektivität, in: Die Verwaltung 22 (1989), S. 409 (419).
4. Gemeineuropäisches Verfassungsrecht
103
päischen Verfassungsstaates weiter entwickelt. Vielfalt und Einheit Europas seit dem Epochenjahr 1989 weltgeschichtlich ausgewiesen - wären bekräftigt. Die Verfassungslehre, obwohl unter dem Nationalstaat "groß" geworden, könnte zur europäischen Kulturwissenschaft reifen, die sie in ihren Klassikertexten von Aristoteles über J. Locke und Montesquieu bis hin zu einem A. de Tocqueville, M. Hauriou, H. Heller und C. Mortati immer war. 115 Auf den "Schultern" solcher Riesen kann sie ein Stück weiter sehen (von Europa nach Europa), ohne sich selbst zu überschätzen. Doch sollten "Klassizisten" und "Postglossatoren" ebenfalls eine Chance haben: bis dann eines Tages das gemeineuropäische Verfassungsrecht unserer Zeit seine Klassiker hervorbringt (etwa einen/. Madison ), wie sie das Zivilrecht in einem F. C. v. Savigny und R. v. Jhering, einem E. Huber und Κ Zweigert 116 besitzt. Die Juristenausbildung im Alltag ist dann erst recht zu "europäisieren" 117: als Vorbereitung einer gemeineuropäischen Rechtswissenschaft und Rechtspraxis.
IV. Ausblick Europa, und zwar jetzt das ganze Europa in Ost und West, Nord und Süd, kommt auf eine Weise "von der Wirtschaft" her - die Attraktivität der sozialen Marktwirtschaft bei der Selbstfindung der osteuropäischen Länder heute bezeugt es erneut. Und die Wirtschaft darf als ein die Geschichte mitgestaltendes Moment, auch als Anlaß von Revolutionen gewiß nicht unterschätzt werden. Doch ist sie nicht der tiefere und letzte Grund: Europa kommt von seiner Kultur her, wird sich dessen heute wie je kaum zuvor bewußt, und es findet zu dieser bei allem "Erbe" ins Offene gehaltenen, in Sachen Verfassungsstaat spezifisch mit den USA verknüpften Kultur zurück. Vor allem steht die Wirtschaft nach Idee und Wirklichkeit des Typus "Verfassungsstaat" im Dienste des Menschen - wie einige neuere und ältere Verfassungstexte eindringlich sagen.118 115 Zu H. Heller: C. Müller / I. Staff (Hrsg.), Der soziale Rechtsstaat, Gedächtnisschrift für H. Heller 1891-1933, 1984 (dazu mein Beitrag in: DVB1. 1985, S. 949 ff.); zu C. Mortati : ders., Dottrine Generali e Costituzione della Repubblica Italiana, 1986; M. Galizia / P. Grossi (Hrsg.), Il pensiero giuridico di Costantino Mortati, 1990; z u M . Hauriou: P. Häberle, Wesensgehaltgarantie, 1. Aufl. 1962, S. 73 ff. (3. Aufl. 1983, S. 319). 116 Programmatisch: Κ. Zweigert, Rechtsvergleichung als universale Interpretationsmethode, RabelsZ 15 (1949 / 50), S. 5 ff. 117 Zum Problem E. A. Kramer, a.a.O. (Anm. 2), S. 488; H. Coing, Europäisierung der Rechtswissenschaft, NJW 1990, S. 937 (940 f.); F. Ost ! M. v. Hoecke, Für eine europäische Juristenausbildung, JZ 1990, S. 911 f. Zur "pädagogischen Bedeutung" der Rechtsvergleichung: H. Kötz, Neue Aufgaben der Rechtsvergleichung, Juristische Blätter 1982, S. 355 (357). 118 P. Häberle, "Wirtschaft" als Thema neuerer verfassungsstaatlicher Verfassungen, Jura 1987, S. 577 (578 f.) - hier Nr. 22; s. auch ders., Textstufen als Entwicklungswege des Verfassungsstaates, FS Partsch 1989, S. 555 (567 ff.) - hier Nr. 1.
8 Häberle
104
I. Methoden
Die Menschenwürde, kulturanthropologische Prämisse des Verfassungsstaates,119 bildet eine mühsam genug entwickelte und immer wieder bedrohte, aber doch geglückte kulturelle Errungenschaft dieses Verfassungsstaates. Sie ist einem F . Schiller von 1789 gemäß - auch auf die Menschheit im ganzen, nicht nur auf den einzelnen zu beziehen. Der europäische Verfassungsstaat basiert auf dieser bis in das letzte positivrechtliche Detail umzusetzenden Menschenwürde-Kultur. Sie ist zwar europäisch hervorgebracht, aber tendenziell universal. Das "Prinzip Verantwortung" (H. Jonas) verpflichtet den europäischen Verfassungsstaat weltweit, um der doppelt betrachteten Menschenwürde willen. Diese Menschenwürde ist ein Element der sich im Gang der europäischen Geschichte entwickelnden Gerechtigkeitsprinzipien: von Aristoteles 1 Klassikertexten (Nikomachische Ethik) bis zum angloamerikanischen due processGedanken bzw. zur "Gerechtigkeit als Fairness" (/. Rawls). Wenn diesem Europa hier skizzenhaft genug bewußt gemacht wird, daß es jetzt die Aufgabe der Entwicklung von gemeineuropäischem Verfassungsrecht hat und es schon auf dem besten Weg dazu ist, sie wahrzunehmen, so ist dies nur Ausdruck eines Textstufen-, Rechtsprechungs- und Wissenschaftsprozesses, der letztlich um Gerechtigkeit ringt. Die einzelnen Rechtswissenschaften haben diesen Gerechtigkeitsbezug nie ganz verloren. Sie könnten ihn heute auf neue Weise gewinnen, wenn sie tendenziell gemeineuropäisch arbeiteten. Daß die Verfassungslehre hier, im Vergleich mit der Privatrechtswissenschaft und ihrer bewährten Arbeit an und mit Gerechtigkeitsprinzipien, viel nachholen muß, sei nicht verschwiegen. Daß sie im Europa von 1991 viel nachholen kann, ist zu hoffen. Denn der weltweite Produktions- und Rezeptionsprozeß in Sachen Verfassungsstaat und einzelner seiner Textelemente von Osteuropa bis zu Entwicklungsländern Afrikas und Lateinamerikas ermutigt zu vorsichtigem Optimismus. Der kulturell grundierte, wirklichkeitsgesättigte Textstufenvorgang hat im Europa von heute eine solche Dichte, Differenziertheit und Ausstrahlung erreicht, daß die Arbeit an einer gemeineuropäischen Verfassungsrechtswissenschaft im angedeuteten Sinne keine Utopie mehr ist. Sie könnte und sollte glücken. In der "Weltstunde des Verfassungsstaates" kann auch das gemeineuropäische Verfassungsrecht als Teilaspekt eine Chance haben.120
119 Dazu mein Beitrag: Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: HdbStR Bd. 1(1987), S. 815 ff. 120 Gewidmet ist dieser Beitrag den Gastgebern in Rom (März 1991): A. A. Cervati, A. Corasaniti, A. Baldassarre , P. Ridola , Α. Pace, Α. D'Atena , F. Lanchester und M. Frh. von Bieberstein sowie dem Gastgeber in Madrid (Mai 1989): A. Lopez Pina (vgl. ders., (Hrsg.), La Garantia constitucional de los Derechos Fundamentales, 1991).
5. Die Entwicklungsstufe des heutigen Verfassungsstaates Paradigmen, Verfassungsthemen, Textstufen und Tendenzen in der Weltstunde des Verfassungsstaates - Der polnische Entwurf 1991*
I· Einleitung, Problem und Aufgaben Als in Deutschland und in der Schweiz lehrender Staatsrechtler zu Ihnen im Blick auf den polnischen Verfassungsentwurf von 1991 sprechen zu dürfen, ist Ehre und Freude zugleich, schon aus zwei Gründen: Zum einen: Polen hat 1791 die erste geschriebene Verfassung Europas erarbeitet und so die heute universale Faszination mit befördert, die von geschriebenen Verfassungstexten ausgeht, vermutlich eine Säkularisierung des Glaubens der drei monotheistischen Weltreligionen an "das Buch", d.h. das geschriebene Wort Gottes. Zum anderen: Europa, ja die Welt verdankt der Gewerkschaftsbewegung "Solidarität" den Aufbruch zu den Reformen im bisherigen Ostblock, die Einleitung eines "Verfassungszeitalters" seit 1989, ja die Initialzündung für das, was man die "Weltstunde des Verfassungsstaates" nennen darf; denn die Gorbatschow-Rcformen wären ohne Polen (und A. Sacharov) wohl nicht in Gang gekommen. Wenn im folgenden Überlegungen skizziert werden, die Grundsätzliches zum Typus "verfassungsstaatliche Verfassungen" sagen wollen und vielleicht gelegentlich punktuell Kritisches zum polnischen Entwurf 1991 wagen dürfen, so nicht aus Gründen anmaßender Belehrung aus westlicher Sicht, sondern allenfalls aus "wertendem Rechtsvergleich", der sich auf viele neue Verfassungstexte bis hin zu den Entwicklungsländern (textlich vorbildlich sind ζ. B. Peru von 1979 und Guatemala von 1985) und eben beratenen ostdeutschen Länderverfassungen sowie totalrevidierten Schweizer Kantonsverfassungen stützen kann. Polen braucht sich über Entstehen und Gestalt seiner Verfassung von niemandem "belehren" zu lassen; es hat dank des Paradigmas vom "Runden Tisch" (1989) Verfassungsgeschichte vor allen positivrechtlichen Texten geschrieben und Verfassungsphilosophie als Praxis "gemacht" - vor all unseren Theorien. In der Tat beginnt Hegels "Eule der Minerva" erst spät ihren Flug, auch in der Verfassungstheorie. Daß vor mir ein griechischer Kollege "Eulen von Athen" nach Warschau trug, ist kein Zufall: Wir alle leben von den * Rechtstheorie 22 (1991), S. 431 ff. (Vortrag, den der Verfasser vor dem Verfassungsausschuß des Sejm am 27. Juni 1991 in Warschau gehalten hat.)
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I. Methoden
Klassikertexten \ on Aristoteles über/. Locke bis Montesquieu; zuletzt H. Jonas ("Prinzip Verantwortung"), zuvor Sir Karl Poppers "Offener Gesellschaft"; sie sind Verfassungstexte im "weiteren Sinne" (neben denen im engeren Sinne, den positiven): etwa die Erarbeitung des Zusammenhangs zwischen Gleichheit und Gerechtigkeit (Nikomachische Ethik) oder die Idee und Rechtfertigung der Gewaltenteilung im "Esprit des lois" (XI. Buch 4. Kap.). Es gibt überdies musikalische Klassikertexte, etwa Beethovens "Neunte" und sein Widerruf der Widmung der "Eroica" an den zum Tyrannen gewordenen Napoleon I. - Transportmittel der Ideen von 1789. F. Chopin ist ein Klassikertext für Polens nationale Identität, in der Sprache der Musik1. Einen neuen Klassikertext hat Polen 1989 geschaffen bzw. "ins Bild" gebracht: die Idee des "Runden Tisches". Wenige "Bilder" 2 haben jüngst so viel (Welt-)Geschichte gemacht, so viele Hoffnungen geweckt und für Freiheit und Demokratie zugleich so viel erreicht, wie der sog. "Runde Tisch". Von und in Walesas Polen 1989 erfunden, mag er menschheitsgeschichtlich auf König Artus 1 "Tafelrunde" zurückgehen. In unseren Tagen trat er einen Siegeszug ohnegleichen in all den Ländern an, die sich in Reformprozessen aus sozialistischen Staaten, d.h. Diktaturen, in offene Gesellschaften zu wandeln suchen: Zunächst auf Polen beschränkt, faszinierte er später auch Ungarn, dann die CSSR und schließlich sogar die DDR (er blieb hier leider voller "Ecken und Kanten"); zuletzt hat sich in Bulgarien und Rumänien ein "Runder Tisch" etabliert, auch in Teilen der Sowjetunion, soeben in Äthiopien (1991). Der Erfolg des "Runden Tisches" ist kein Zufall. Er läßt sich verfassungstheoretisch begründen, kulturwissenschaftlich einordnen und konsens- bzw. diskursethisch legitimieren3. Der "runde Tisch" symbolisiert ein gleichberechtigtes Neben- und Miteinander vieler in einem politischen Gemeinwesen. Die gleiche Distanz und Nähe zu allen anderen Teilnehmern, die Rekonstruktion des Dialogs und Miteinanders bricht mit den in Osteuropa im Zeichen des Marxismus-Leninismus verkrusteten Macht- und Hierarchie-Strukturen.
1 Camille Β our ni quel, Chopin, 12. Aufl. 1976 (Rowohlt-Taschenbuch): Zit. Marie Wodzinska an Chopin : "Wir bedauern stets aufs neue, daß Sie nicht 'Chopinski' heißen oder durch irgendein anderes äußeres Zeichen als Pole kenntlich sind. Denn dann könnten uns die Franzosen wenigstens nicht den Ruhm streitig machen, Ihre Landsleute zu sein." (S. 18). 2 Zur "Bilder-Philosophie": P. Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 1988; ders., Ethik "im" Verfassungsrecht, Rechtstheorie 21 (1990), S. 269 (272 f.). 3 Vgl. zuletzt: J. P. Müller, Versuch einer diskursethischen Begründung der Demokratie, FS D. Schindler, 1989, S. 617 ff.
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Der "Runde Tisch" ist m.E. die beste optisch-bildliche Umsetzung des gleichberechtigten "Sich-Vertragens und Sich-Ertragens", das für das Aushandeln von pluralistischen Verfassungen kennzeichnend ist. Der Kreis und der (runde) Tisch - diese Metapher könnte so etwas wie ein "kulturelles Gen" der Menschheit sein. Er symbolisiert zugleich das Moment des Friedlichen - am runden Tisch sitzt man, man steht nicht an oder vor ihm. Verfassunggebung als Neuanfang auf den Trümmern eines maroden tyrannischen Systems läßt sich am besten in Gestalt des runden Tisches veranschaulichen - und praktizieren 4. Er symbolisiert eine "Ursprungssituation". Werden bereits Verträge ganz allgemein gerne an Tischen geschlossen: speziell Verfassungsverträge sollten an runden Tischen ausgehandelt werden. Der Minimalkonsens, der schon diesem Vorgang zugrundeliegen muß, der "gute Wille", kommt darin am besten zum Ausdruck. Die ältere Idee, der Staat beruhe auf Vertrag 5, die Verfassung sei ein "immer neuer Vertrag", darf sich durch das Paradigma des jetzt praktizierten "Runden Tisches" bestätigt fühlen. Er könnte zum Symbol des Verfassungsstaates bzw. seiner Herausforderungen und seiner Chancen im Jahre 1989 / 90/91 werden - analog einer Formulierung (von 1787) wie "We the people" oder einer Textzeile der Menschenrechtserklärung von 1789 (wie Art. 16). Und er ist wie diese von einem hohen sittlichen Anspruch getragen und verlangt eine "Ethik des Kompromisses".
II· Sieben Ausgangsthesen Die Gastgeber baten mich, etwas Grundsätzliches zur Philosophie der Verfassung und zum modernen Konstitutionalismus zu sagen. Vieles muß wegen der Größe der Auigabe und der Kürze der Zeit fragmentarisch bleiben - das Buch "De l'esprit des constitutions" sollte in und von der nächsten Generation geschrieben werden. Eine kleine Skizze sei indes gewagt. Sie bewegt sich im Kraftfeld folgender Thesen: 1. Es gibt heute eine "internationale Familie" des Typus Verfassungsstaat, ja eine universale Produktions- und Rezeptionsgemeinschaft in Sachen "Verfassungsstaat".
4 Dem steht nicht entgehen, daß heute im konstituierten pluralistischen Polen, der "runde Tisch" an Kraft verliert: vgl. ΝΖΖ vom 22. Mai 1991, S.7: Politische Ernüchterung in Polen, Ergebnislose Gespräche am "runden Tisch" (es ging um ergebnislose Gespräche in Wirtschaftsfragen). 5 Vgl. H. S. 213 ff.
Schulze-Fielitz,
Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, 1989,
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I. Methoden
2. Das Textstufenparadigma öffnet den Blick für den internationalen Wirkungszusammenhang der Verfassungen, wie ζ. B. die Hagener Tagung 1989 belegen konnte6. 3. Die Rolle der Verfassungsvergleichung ist am Ende des 20. Jahrhunderts so groß wie selten zuvor. Die Zeit ist reif, die Rechtsvergleichung als '[fünfte" Auslegungsmethode nach F. C. von Savigny zu inthronisieren, neben seinen vier bekannten canones. Ich habe diesen Vorschlag erstmals 1989 in Madrid im dortigen Senat gemacht; er wird inzwischen von einer deutschen Methodenlehre und anderen übernommen7. 4. Angezeigt ist ein kulturwissenschaftlich arbeitendes Verfassungsverständnis; es "mischt" die bekannten eher formalen und eher materialen Verfassungsbegriffe und es deutet Verfassung nicht nur als juristisches Regelwerk, sondern auch als Kulturzustand eines Volkes. Das hat Auswirkungen bis in sprachliche Differenzierungsgebote hinein, ζ. B. in Präambeln hier, Finanzverfassungs- und Bundesstaatsrecht dort. 5. Es gibt "gemeineuropäisches Verfassungsrecht" wie früher bis ins 18. Jahrhundert ein ius commune im Zivilrecht Europas, d.h. ein Ensemble von geschriebenen Texten und ungeschriebener Verfassungswirklichkeit in Europa, als "allgemeine Rechtsgrundsätze" (z.B. in Gestalt der Rechtsprechung des EuGH in Luxemburg in Sachen Grundrechten) erfaßbar, als "europäische Standards" heute aktueller denn je, etwa in Form von "europäischen Standards" in Sachen Minderheitenschutz, soeben (im Mai 1991) vom polnischen Ministerpräsidenten Bielecki im Blick auf den deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag von 1991 bekräftigt und in den KSZE-Erklärungen vom "Korb drei" (1975) bis zur Charta von Kopenhagen und Paris (1990) vorgeformt: bald mit vermeintlich schwacher Kraft von "soft law" geltend, bald in der ständigen Rechtsprechung des EGMR in Straßburg greifbar, bald im Entwurf verwandter neuer Verfassungstexte wie heute in Polen möglich. Polen steht mitten im Kraftfeld dieses "Gemeineuropäischen Verfassungsrechts", es zieht Linien seit 1791 aus, auch nach viel Leid, und es kann 1991 Anregungen aus Westeuropa aufgreifen und verstärken. 6. Der polnische Entwurf von 1991 ist ein im ganzen geglückter Beitrag zum Typus "verfassungsstaatliche Verfassung" heute. Er hält in vielem eine gute Mitte (i.S. des "gemischten Verfassungsverständnisses"), die Texte sind nicht zu barock überladen wie etwa die Verf. Portugals von 1976/82, sie 6 U. Battis / E. G. Mahrenholz / D. Tsatsos (Hrsg.), Das GG im internationalen Wirkungszusammenhang der Verfassungen, 1990; ebd. mein Beitrag zur Schweiz (S. 17 ff.). 7
Vgl. unten Anm. 14.
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bleiben aber auch nicht zu technisch: wie z.B. in den Niederlanden (1983) freilich fehlt (wie ich meine: leider) eine Präambel, die in einstimmender Feiertagssprache etwa nach dem Vorbild des Schweizer Bundes-Entwurfs von 1977 aus der Feder des Dichters A. Muschg, die Verfassungsgeschichte (ζ. B. die "Erinnerung an den Runden Tisch") Polens nachaibeitet, wesentliche Prinzipien benennt (z.B. Menschenwürde oder wie in Ungarn 1949/89 die soziale Marktwirtschaft und den Rechtsstaat), und die große Zukunftsziele (etwa Europa) setzt. Eine gute Dosis Symbolkraft seines Werkes sollte sich der Verfassunggeber im Polen des Jahres 1991 nicht entgehen lassen (ζ. B. in Sachen 3. Mai als nationalen Verfassungs-Feiertag, bei Art. 11!); schließlich verarbeitet der Entwurf nicht nur westeuropäische Verfassungstexte, sondern auch Urteile hoher Verfassungsgerichte und europäische wissenschaftliche Lehrmeinungen; er ist nicht gewollt modernistisch, aber auch nicht zu konservativ, etwa ohne alle Textwagnisse. Der polnische Entwurf 1991 gibt erneut Grund zu der Überzeugung, daß alle Nationen Europas und besonders die USA ihren Anteil an dem "Gemeinschaftswerk Verfassungsstaat" leisten, fast wie Stimmen und Instrumente in einem Konzert, unterschiedlich je nach nationalem Temperament, nach historischen Erfahrungen, auch Wunden, sowie Hoffnungen auf Chancen in der Zukunft und offen für nationale "Ungleichzeitigkeiten". Das "europäische Haus" hat nicht nur viele (nationale) Zimmer, es braucht auch viele Architekten. Die politische und wissenschaftliche Öffentlichkeit in Polen hat sich als Teil der europäischen betätigt und bestätigt, der Entwurf 1991 zeugt davon. Die offene Gesellschaft der Verfassunggeber und der Verfassungsinterpreten ist international - unter Einschluß der Polen. Der Entwurf bereichert die weltweite "Werkstatt" in Sachen Verfassungsstaat, was Kritik in Einzelfragen nicht ausschließt (dazu morgen speziell im Referat über Grundrechte)7". 7. Ein Wort gilt der Frage, ob und wie Demokratie und soziale Marktwirtschaft zusammengehören. Obwohl oder gerade weil eine Verfassungstheorie des Marktes bislang fehlt, ist die Plazierung der sozialen Marktwirtschaft etwa in der Verfassung Ungarns von 1949/1989 oder in ostdeutschen Verfassungsentwürfen der Länder (1990) eine Provokation. Darauf sei vor dem Forum der klassischen Rechts- und Staatsphilosophie am Schluß eingegangen.
7a
Hier Nr. 17.
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I. Methoden
ΠΙ. Die Ausarbeitung im einzelnen Hier ist nur eine Auswahl möglich, manches in den 7 Thesen läßt sich jetzt verdeutlichen, anderes kann vielleicht in der Diskussion nachgetragen werden, vieles muß Entwurf und bloße These bleiben; auf eigene verfassungstheoretische bzw. vergleichende Arbeiten der letzten Jahre darf verwiesen werden8. 1. Zum ersten Punkt, Stichwort "Internationale Familie" des Typus Verfassungsstaates: Die Jahre 1787 (USA-Bundesverfassung samt den Federalist Papers als Verfassungstexten im weiteren Sinne), 1789 (Frankreich), 1848/49 (Deutschland und die Schweiz), dann wieder 1947 (Italien, unter Einfluß der deutschen Weimarer Reichsverfassung von 1919) und - den Reigen neuer Verfassungen in den 70er Jahren Europa eröffnend - : Griechenland (1975), Portugal (1976), Spanien (1978), Niederlande (1983) und dazu scheinbar "im Kleinen" parallel geführt die Schweizer Bemühungen um Teü- und Totalrevisionen auf Kantons- und Bundesebene (seit 1965 in Unterwaiden) - all diese Jahresdaten assoziieren das Gemeinte: Die Verfassunggeber stehen bei der Thematisierung und Redigierung ihrer Texte in engen Austauschverhältnissen - sie schließen die USA von Anfang an ein und sie greifen heute in Entwicklungsländer wie Peru und Guatemala aus9. Dabei geht es nicht nur um vordergründiges "Abschreiben" von Texten, um äußeres oberflächliches Vergleichen und Rezipieren; es läßt sich nachweisen, daß die (ja immer kulturellen) Rezeptionen aktiver Natur sind, daß die Texte national variiert werden, etwa in den Grundrechtskatalogen, bei ihren Demokratieformen, bei den Parteienartikeln, bei den Texten zur Verfassungsgerichtsbarkeit. Und doch sind Texte die "Transportmittel" für universale Verfassungsstaatsideen; sie springen wie "Funken" über Kontinente und Länder hinweg; die Wissenschaftlergemeinschaft hat ihren Anteil daran. Im einzelnen läßt sich belegen, wie intensiv die je nationalen Verfassunggeber ausländische Verfassungstexte auch dort zur Kenntnis nehmen, wo sie dann letztlich eigene Texte erfinden. Hinzuzunehmen zum Ensemble des Textmaterials sind die regionalen und universalen Menschenrechtserklärungen
8 Insbesondere: P. Häberle, Klassikertexte im Verfassungsleben, 1981; ders., Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1982; ders., 1789 als Teil der Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Verfassungsstaates, JöR 37 (1988), S. 35 ff. - hier Nr. 28; ders., Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz..., JöR 34 (1985), S. 303 ff.; ders., Textstufen als Entwicklungswege des Verfassungsstaates, FS Partsch, 1989, S. 555 ff.; ders., Artenreichtum und Vielschichtigkeit von Verfassungstexten, FS Häfelin, 1989, S. 225 ff.; ders., Die Funktionenvielfalt der Verfassungstexte im Spiegel des "gemischten" Verfassungsverständnisses, FS Schindler, 1989, S. 701 ff.; ders., Sprachen-Artikel und Sprachenprobleme in westlichen Verfassungsstaaten, FS Pedrazzini, 1990, S. 105 ff. - hier Nr. 1,10,11 und 12. 9 Dazu P. Häberle, Die Entwicklungsländer im Prozeß der Textstufendifferenzierung des Verfassungsstaates, V R Ü 23 (1990), S. 225 ff. - hier Nr. 31.
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und -pakte, etwa die EMRK von 1950, die beiden Menschenrechtspakte der UN (1966) und zuletzt die eindrucksvollen KSZE-Erklärungen von Kopenhagen und Paris (1990). 2. Das Textstufenparadigma, das den Blick für dieses Zusammenwirken schärft und den Horizont für denkbar große Blickerweiterung und Blickvertiefung eröffnet, meint folgendes: Der je neue aktuelle nationale Verfassunggeber lehnt sich nicht allein an die Verfassungstexte anderer an, er verarbeitet vielmehr das mit, was hier oder im Nachbarland Wissenschaft und Praxis inzwischen als "Ungeschriebenes" "unterhalb" der Textebene oder gar "praeter constitutionem" weiterentwickelt haben. So kann es vorkommen, daß ζ. B. Entscheidungen des deutschen BVerfG in einer Verfassungstextnovelle zu einer Landesverfassung zu finden sind (so nachweisbar beim Rundfunkartikel l i l a Bayerische Verfassung), daß sich BVerfG-Judikatur in Texten des Verfassungsentwurfs des Ostberliner "Runden Tisches" (1990) niederschlägt10. So gesehen bilden neueste Texte oft jüngere Verfassungs Wirklichkeit mit ab, nachweisbar etwa in der Entwicklung des Parteien-Artikels aus der Wirklichkeit der Bismarck-Zeit, der negativen Erwähnung in Art. 130 Abs. 1 WRV (1919) hin zur positiven Anerkennung in Art. 49 der italienischen Verfassung von 194711, oder Verfassungstexte greifen die "Vorhut" einer wissenschaftlichen Lehre auf. Sogar Parteiprogramme können Material liefern für Verfassungstexte, so für die "soziale Marktwirtschaft" als Thema der deutschen CDU/CSU belegbar. Sie findet sich jetzt in der Präambel der Verf. Ungarn (1949/1989), ist der Sache nach annäherungsweise soeben in der Enzyklika "Centensimus annus" von Papst Johannes Paul IL (gewiß auch im Blick auf Osteuropa) umschrieben (1991), steht jüngst im deutsch-deutschen Staatsvertrag über eine Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion von 1990 (Präambel, Art. 1 Abs. 3), aber noch nicht oder gar nicht im deutschen GG von 1949/1991! Der Begriff "Textstufen", Metapher ohne naiven Fortschrittsglauben (aber mit Anspielung auf Evolutionstheorien in den Naturwissenschaften), will diese Vorgänge einfangen und namhaft machen: neue Verfassungstexte hier spiegeln Vtrfassungswirklichkeit dort, sei es im eigenen "Haus", sei es beim Nachbarn. So ist ζ. B. nicht wenig deutsche Staatsrechtslehre in den Bundesverfassungsentwurf der Schweiz von 1977 eingegangen12.
10 Dazu Ρ. Häberle, Der Entwurf der Arbeitsgruppe "Neue Verfassung der DDR" des Runden Tisches, JöR 39 (1990), S. 319 ff. 11 12
Belege in meinem Beitrag in: FS Partsch, aaO., S. 555 (558 ff., 565 f.) - hier Nr. 1.
Nachweise in meinem Beitrag: Verfassungsinterpretation und Verfassunggebung, in: Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978, S. 183 (185 ff.) sowie in: ZSR 119 (1978), S. 1 ff. (5 f., 39 f.).
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I. Methoden
3. Die Rolle der Verfassungsvergleichung, als Verfassungstexf-, Verfassungsrechtsprechungs- und Vtriassungswissenschaftsvtrgicichung, ist heute denkbar groß und höchst ergiebig. Dabei muß in die Tiefe und in der Tiefe "verglichen" werden, d.h. nicht nur die Texte, auch die Wirklichkeit, die aus den Texten "wird" (bzw. geworden ist), ist zu vergleichen. Das t/ngleiche ist ebenfalls zu Tage zu fördern. Vor allem aber ist Rechtsvergleichung als Kulturvergleichung zu konzipieren und zu praktizieren 13. Das meint: Hinzuzunehmen sind zum juristischen Text immer auch die kulturellen Kontexte. Was R. Smend für die nationale geschichtliche Dimension beobachten konnte - wenn zwei Verfassungen dasselbe sagen, so meinen sie nicht immer dasselbe - gilt erst meint recht zwischen den verschiedenen Nationen. Vcrfassungsvergleichung überdies den Vergleich in der Zeit, d.h. die VerfassungsgescAicAte, und den kontemporären Vergleich, d.h. das Vergleichen heute zwischen den Nationen bzw. Kulturen. Vergleichend arbeiten nicht nur die Verfassunggeber oder Menschenrechtstexter y vergleichend arbeiten und sollen arbeiten: auch die Verfassungs- bzw. Grundrechisinterpreten. M.E. ist der Typus Verfassungsstaat heute bereits so einheitsbegründend und einheitsbegründet, in aller Vielfalt der europäischen Nationen, daß wir es wagen können, die Rechtsvergleichung als "fünfte" Auslegungsmethode zu kanonisieren14. Die Benennung mit der Ziffer "5" kann und will keine Rangordnung der Auslegungsmethoden vornehmen, ihr Zusammenspiel ist ja gerade offen, ihre Bündelung bildet das gemeinsame Werk von gerechtigkeitsorientierter Ergebniskontrolle durch den erfahrenen Richter; wohl aber soll damit suggestiv umschrieben sein, daß Rechtsvergleichung im Rang längst den vier anderen, "klassischen", von F. C. von Savigny (1840) auf den Begriff gebrachten, entspricht. 4. Die moderne Verfassungslehre muß kulturwissenschaftlich arbeiten, d.h. von der Einsicht ausgehen, daß Verfassungen nicht nur juristisches Regelwerk sind. Mit "bloß" juristischen Umschreibungen, Texten, Einrichtungen und Verfahren ist es nicht getan. Verfassung ist nicht nur rechtliche Ordnung für Juristen und von diesen nach neuen und alten Kunstregeln zu interpretieren - sie wirkt wesentlich auch als Leitfaden für Nichtjuristen: für den Bürger. Verfassung ist 13 Dazu P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Ari. 19 Abs. 2 GG, 3. Aufl., 1983, S. 407 ff. 14 Dazu P. Häberle, Grundrechtsgeltung und Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat (Madrider Vortrag), JZ 1989, S. 913 ff. - hier Nr. 2, weiterentfaltet in: ders., Die Entwicklungsländer im Prozeß der Textstufendifferenzierung des Verfassungsstaates, V R Ü 23 (1990), S. 225 (244 ff.), jetzt aufgenommen z.B. von H. M. Pawloski, Methodenlehre für Juristen, 2. Aufl. 1991, S. 227 - h i e r Nr. 31.
5. Der polnische Verfassungsentwurf 1991
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nicht nur juristischer Text oder normatives "Regelwerk", sondern auch Ausdruck eines kulturellen Entwicklungszustandes, Mittel der kulturellen Selbstdarstellung des Volkes, Spiegel seines kulturellen Erbes und Fundament seiner Hoffnungen. Lebende Verfassungen als ein Werk aller Verfassungsinterpreten der offenen Gesellschaft sind der Form und der Sache nach weit mehr Ausdruck und Vermittlung von Kultur, Rahmen für kulturelle (Re-)Produktion und Rezeption und Speicher von überkommenen kulturellen "Informationen", Erfahrungen, Erlebnissen, Weisheiten15. Entsprechend tiefer liegt ihre - kulturelle - Geltungsweise. Dies ist am schönsten erfaßt in dem von H. Heller aktivierten Bild Goethes, Verfassung sei "geprägte Form, die lebend sich entwickelt". Überdies ist ein "gemischtes Verfassungsverständnis" geboten. Die Schweizer Diskussion um eine Totalrevision der Bundesverfassung (1977)16, auch das deutsche Sachverständigengutachten "Staatszielbestimmungen Gesetzgebungsaufträge" (1983) unterscheidet (wie zuvor die Lehre) zwischen einem formalen-instrumentalen (Stichwort: Verfassung als bloßes "Grundbuch" oder Organisationsstatut wie die deutsche Bismarck-Verfassung von 1871) und einem materialen Verfassungsverständnis 17: Verfassung als "rechtliche Grundordnung des Staates" (W. Kägi, 1945), als "Wertsystem" (so in der Nachfolge von R. Smend dessen Kreis, z.T. auch das deutsche BVerfG (besonders für die Grundrechte)). Je nachdem, welchem Verständnis sich der Verfassunggeber anschließt, wird er wenig oder mehr normieren. Auf der Basis eines "gemischten" Verfassungsverständnisses" 18 kommt es auf die Balancen an, auf die jeweiligen Bereiche. Staatsziele dürfen und sollen "werthaltig" sein, m.E. bis hin zur "sozialen Marktwirtschaft", heute in Osteuropa wichtig als klare Absage an die "sozialistische Kommandowirtschaft". Der Grundrechtskatalog sollte differenzierter, aber nicht zu überladen sein: es muß Raum bleiben für weitere Verfassungsentwicklungen dank Lehre und Rechtsprechung. Thematisch neue Grundrechte wie Datenschutz dürfen gewagt werden, aber nicht zu viele gleichzeitig. Schließlich sollte der organisatorische bzw. Kompetenzteil einer Verfassung nicht zu speziell werden, das politische Leben braucht Raum. Anderes mag gelten, wenn die Abkehr von totalitären Praktiken dokumentiert werden muß, 15
Im nicht-juristischen, kulturanthropologisch bzw. ethnologisch gewendeten Sinne wird der Begriff "Verfassung" nicht zufällig benutzt bei B. Malinowski, Eine wissenschaftliche Theorie der Kultur (1941), 1975, S. 142. 16
Dazu Bericht, Expertenkommission für die Vorbereitung einer Totalrevision der BV, 1977,
S. 14 f. 17 18
AaO., S. 35 ff.
Dazu P. Häberle, aaO., FS Schindler, 1989, S. 701 ff. - Erinnert sei auch an W. Bagehots' klassische Unterscheidung zwischen den "efficient parts" und den "dignified parts" einer Verfassung.
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I. Methoden
etwa im Bereich der Gerichtsorganisation. Damit ist die abstrakte Anforderung an den Verfassunggeber offengelegt: er soll das "politisch Wichtige" normieren. Was dies je ist, ergibt sich aus der bisherigen Entwicklungsgeschichte des "Typus" Verfassungsstaat und dem je besonderen Kulturzustand einer Nation, die sich textlich "in Verfassung" bringen will - wie heute etwa Polen. Schließlich sei auf die sprachlichen Differenzierungsgebote verwiesen: Die Präambel soll in Feiertagssprache gehalten sein, sie will präambelhaft den Bürger "einstimmen", fast einer Ouvertüre ähnlich19; Beispiele gibt es in der Schweiz und jüngst bei uns in Gestalt der guten Präambel aus der Feder der sonst so umstrittenen Dichterin Christa Wolf: ihr ist der Präambelentwurf des Verfassungs-Projekts des ostdeutschen "Runden Tisches" (1990) zu verdanken. In den Grundrechtskatalogen sollte einprägsam, möglichst bündig, bürgernah und leicht verständlich formuliert werden, im staatsorganischen Verfassungsteil darf hingegen mehr juristische Fachsprache zu finden sein. M.a.W.: Die Verfassungssprache ist in den einzelnen konstitutionellen Textbereichen zu differenzieren, je nach der Funktion der einzelnen Verfassungsprinzipien und ihrem primären Adressatenkreis! 5. Die fünfte These lautet: Es gibt hier und jetzt "gemeineuropäisches Verfassungsrecht". Speziell für die Grundrechte zunächst 1983 entwickelt20, ist dieser Gedanke im Europa von 1991 zu verallgemeinern: Deutsche Zivilrechtslehrer haben seit mehr als einem Jahrzehnt im Privatrecht für die Wiederbesinnung auf das "ius commune" ihres Fachs geworben, etwa H. Coing und H. Kötr, sie knüpfen an die alteuropäische Idee des "ius commune" an, die bis zum 18. Jahrhundert galt und vom Nationalstaat zerstört wurde. Heute ist die Zeit reif, den Begriff des "gemeineuropäischen Verfassungsrechts" zu wagen21. Gemeint sind konkrete Verfassungsprinzipien wie Menschenwürde, pluralistische Demokratie, vor allem Menschenrechte und Grundfreiheiten, tendenziell m.E. auch Regionalismus oder Föderalismus, jedenfalls im "Europa der Regionen". Europa ist heute wieder eine kulturelle Einheit geworden, bei aller Vielfalt. Dokumentiert ist diese Einheit z.B. schon in der EMRK von 1950 in den Worten der Präambel:
19 Einzelheiten in meiner Bayreuther Antrittsvorlesung: Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, FS Broermann, 1982, S. 211 ff. - hier Nr. 8. 20 P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 3. Aufl. 1983, S. 271, 409, 416, 424 f.; ders., Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz..., JöR 34 (1985), S. 303 (370 ff.); ders., Europa in kulturverfassungsrechtlicher Perspektive, in: JöR 32 (1983), S. 9 (16 f.)-hier Nr. 3. 21 Dazu programmatisch mein Beitrag: Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, EuGRZ 1991, S. 261 ff.-hier Nr. 4.
5. Der polnische Verfassungsentwurf 1991
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"...entschlossen als Regierungen europäischer Staaten, die vom gleichen Geist beseelt sind und ein gemeinsames Erbe an geistigen Gütern, politischen Überlieferungen, Achtung der Freiheit und Vorherrschaft des Gesetzes besitzen...".
Das kulturelle Eibe Europas ist auch ein bestimmtes rechtliches Erbe, mit bestimmten Rechtsprinzipien. "Gemeinrechtsdenken" ist von dem großen Zivilrechtslehrer J. Esser schon 1956 für das Privatrecht praktiziert worden22 und es erwächst im öffentlichen Recht insbesondere aus und in der Gewinnung "allgemeiner Rechtsprinzipien" oder "europäischer Standards". Die Judikatur des EuGH in Luxemburg wurde zum Vorreiter dieser Entwicklung in der EG. Sie hat im sog. wertenden Rechtsvergleich Grundrechte als "allgemeine Rechtsgrundsätze" entwickelt, die allen Mitgliedstaaten gemeinsam sind; sie kennt gemeinsame Verfassungstraditionen dieser Länder, und der EGMR in Straßburg spricht sich schon für einen "ordre public européen" aus23. Die Texte der EG, des Europarates und zunehmend der KSZE-Nachfolgekonferenzen sind m.E. Kristallisationspunkte und Objektivationen europäischen Gemeinrechtsdenkens auf Verfassungshöhe oder doch mit Ausstrahlung auf diese. Speziell Polen hat sich mit seinem Entwurf 1991 mitten in dieses Kraftfeld schon vorhandenen und neu entstehenden Gemeineuropäischen Verfassungsrechts gerückt. Das zeigt die Einzelanalyse. Dabei bleibt Raum für nationale Varianten und Alternativen bis hin zum "Eigensinn", nicht nur kleiner Kantonsund Länderverfassungen in Bundesstaaten wie in der Schweiz und Deutschland, zunehmend jetzt Österreich, sondern auch für die osteuropäischen Nationen, die ja ihre besonderen Bedürfnisse, Sorgen, auch Hoffnungen haben. Sie müssen die vorausgegangene Diktatur spezifisch verarbeiten und insofern anders sein als klassische Verfassungsstaaten mit ungebrochener Tradition wie die Schweiz oder Frankreich. Konkret: Bürgerbeauftragte sind in Osteuropa wohl eher notwendig als in einem Land wie der Schweiz, das über ein hoch kultiviertes "Verfassungsgericht" wie das Bundesgericht in Lausanne verfügt, oder: Der "status negativus" der Grundrechte i.S. G. Jellineks muß in einem Land wie Polen im Verfassungstext als erster betont werden, die anderen Status wie der objektivrechtliche, leistungsstaatliche können später von der Gesetzgebung und Rechtsprechung ausgebaut werden; andererseits darf freilich die Dimension sozialer und kultureller Grundrechte bzw. Verfassungsaufträge und Staatsziele textlich nicht zu unterbelichtet bleiben.
22 J. Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 1956 (4. Aufl. 1990). 23 Nachweise zu allem in meinem Beitrag in: EuGRZ 1991, S. 261 ff. (264) - hier Nr. 4. - Die "Kulturgemeinschaft Europa" wurde soeben, d.h. im Juni 1991 auf der ersten KSZE-Kulturkonferenz in Krakau wieder beschworen (FAZ vom 17. Juni 1991, S. 27).
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I. Methoden
Das Gemeineuropäische Verfassungsrecht, als Ensemble von Verfassungsprinzipien bald geschriebener, bald ungeschriebener Art verstanden, in Gerichtsurteilen und wissenschaftlichen Lehrmeinungen, auch Deklarationen greifbar, ist so ein Vorrat an Problemlösungen von subsidiärer Rechtsquellenqualität Es kann vom polnischen Verfassunggeber, ebenso vom parlamentarischen Gesetzgeber, von Rechtsprechung und wissenschaftlicher Literatur "herangezogen" werden. Es bildet die "Herausforderung" im eins gewordenen Europa. Polen gehört jetzt wieder mitten in dieses "Haus"; es hat schon 1791 erste Fundamente gelegt und darf sich hierauf nicht ohne Stolz berufen. Es kann und soll dieses Gemeineuropäische Verfassungsrecht 1991 aber auch weiterentwickeln. Beispiele im Entwurf von 1991 finden sich schon: ζ. B. in Kapitel 6 ("Ombudsmann"), Kapitel 7 (Verfassungsgerichtsbarkeit, Art. 128 f., bindende Interpretation), Kapitel 10 (Oberstes Verwaltungsgericht). 6. Der polnische Entwurf 1991 ist, im Koordinatensystem dieser theoretischen Skizze betrachtet, praktisch im ganzen wie in vielen Einzelteilen geglückt Das Theorieraster der hier angedeuteten Philosophie des Verfassungsstaates anno 1991 findet im Entwurf 1991 ein denkbar gutes Beispiel, was Einzelkritik nicht ausschließt. Wünschenswert wäre eine Präambel, ferner eine im Kontext der Symbolartikel 10 und 11 festgelegte Feiertags- bzw. Verfassungstagsgarantie: gerade der 3. Mai sollte herausgestellt werden. Ein weltweiter Verfassungsvergleich in Sachen Feiertagsgarantien zeigt, wie sehr diese kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates sind24. Denkbar ist der Einwand, Polen habe genügend ungeschriebene Verfassungssymbole, es sei ohnehin ein Land von hohem Patriotismus. Soll aber nicht doch gerade in der neuen geschriebenen Verfassung in bestimmten Artikeln das normiert werden, woran sich "Verfassungspatriotismus" i.S. D. Sternbergers festmachen läßt25? Dies ist
24 So meine Studie: Feiertagsgarantien als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, 1987; ders., Der Sonntag als Verfassungsprinzip, 1988. 25
Wenn ich recht sehe, ist das Werk von 1791 heute Gegenstand des polnischen Verfassungspatriotismus - B. Geremek nannte es kürzlich einen "Akt der Imagination", B. Geremek, Polens Botschaft für Europa, FAZ vom 3. Mai 1991, S. 37. Die Verfassung vom Mai 1791 (beschworen von König August Poniatowsid und dem polnischen Reichstag) sicherte den Städten das Recht auf Vertretung im Reichstag und sie eröffnete dem Bürgertum so die Möglichkeit, Teil der Nation zu werden. Den leibeigenen Bauern versprach sie mehr Rechtssicherheit. Dem Adel nahm sie bedeutende Vorrechte, deren maßloser Gebrauch den Niedergang Polens mitverursacht hatte. Dem Druck der Nachbarn besser widerstehen zu können, diente auch die Abschaffung des Wahlkönigtums. Freilich kam es gleichwohl schon 1792 zur zweiten Teilung Polens, bevor 1795 Polen von der Landkarte getilgt wurde. B. Geremek berichtet, daß einer der Urheber dieser Verfassung noch 1789 in einem Brief berichtet habe, in ihrem Text sei von Nation und Staatsbürgern die Rede, obwohl das keineswegs der Wirklichkeit im Lande entspreche. Die Nation, das sei zur Zeit bloß der Adel, doch werde die Zeit kommen, da die anderen Klassen zur Freiheit erwachen und verkünden würden, sie
5. Der polnische Verfassungsentwurf 1991
117
kein Plädoyer für ein Überfrachten der polnischen Verfassungsurkunde, wohl aber ein Votum für eine gut dosierte juristische Anreicherung des Textes. 7. Bilden Demokratie und soziale Marktwirtschaft ein Analogon? Wie sehen Elemente einer Verfassungstheorie des Marktes aus? Was spricht für ein Staatsziel "soziale Marktwirtschaft" in der Verfassung? Β. Geremek hat kürzlich den Satz formuliert 26: "Es hat sich als leichter erwiesen, auch wenn das im Lichte der Geschichte Polens während der letzten zweihundert Jahre wie ein Paradoxon erscheint, die Freiheit zu erringen, als die Demokratie und die Marktwirtschaft wieder aufzubauen". Damit sind die zwei Prinzipien genannt, die im Verfassungsstaat von heute untrennbar zusammengehören: Demokratie und - soziale - Marktwirtschaft. Der moderne Verfassunggeber sollte diesem Zusammenhang gerecht werden und die soziale Marktwirtschaft textlich auf die Verfassungsstufe heben. Eine Verfassungstheorie des Marktes steht freilich noch aus. Sie sei hier nur skizziert: Zunächst hat sich der Markt den klassischen Grundfragen von mehr als 2000 Jahren Rechts- und Staatsphilosophie zu stellen, insbesondere den Paradigmen von Naturzustand und Kulturzustand, von Urzustand und (fiktivem) Gesellschaftsvertrag, dem Menschenbildproblem von T. Hobbes bis / . Locke und A. Smith und nicht zuletzt der Frage, wie es dank des Marktgeschehens im Verfassungsstaat zu Gerechtigkeit und Gemeinwohl kommen kann. Lexikalische Stichworte - wie die folgenden - genügen alleine nicht: "Unter dem Markt ist die Ebene des Leistungsaustausches von Angebot und Nachfrage zu verstehen"27, Markt = "ökonomischer Ort des Tausches, an dem sich durch Zusammentreffen von Angebot und Nachfrage Preise bilden"28, oder Markt = "Prozeß, durch den in der auf dem Sondereigentum an den Produktionsmitteln beruhenden arbeitsteiligen Wirtschaft (Marktwirtschaft) die Erzeugung in die Wege gelenkt wird, auf denen sie der Befriedigung der dringendsten Bedürfnisse der Verbraucher am besten dient"29.
seien die Nation. - Bekanntlich schrieb / . - / . Rousseau auf Bitten eines Aristokraten aus Polen (vgl. G. Holms ten y Jean-Jacques Rousseau, 1972, S. 147 und 149) eine "Untersuchung über die Frage, ob dem in Anarchie und politische Abhängigkeit vom Zarenreich abgesunkenen polnischen Staat durch eine neue Verfassung geholfen werden könne. Der Volksfreund Rousseau sah das Heilmittel in der Beschränkung der Macht der Adeligen und in der Vermehrung der Rechte der Bürger und Bauern, die in Polen zu politischer Ohnmacht verurteilt waren". - Die Denkschrift von 1772 lautet: "Considérations sur le gouvernement de Pologne". 26
B. Geremek, Polens Botschaft für Europa, FAZ vom 3. Mai 1991, S. 37.
27
Art. Markt, Münchner Rechtslexikon Bd. 2,1987, S. 891.
28
Art. Markt, Gabler Wirtschaftslexikon, 2. Band, 12. Aufl. 1988, S. 283.
29
Art. Markt, in: HdSW 7. Bd. 1961, S. 131.
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I. Methoden
Der Markt, im Verfassungsstaat wie alles gesellschaftliche Leben konstituiert und in eine Rahmenordnung gebracht, darf weder idealisiert werden (zum "Dialog über Werte" 30), noch dämonisiert werden (zum Naturzustand für menschliche Wolfsnaturen, die einseitig das Recht der Stärkeren durchsetzen31). Der Markt hat gewiß Charakteristika eines "Entdeckungsverfahrens" i.S. von F. A. von Hayek, er ist aber weder rechts- noch staats- und ethikfreier Raum. Man vergleicht den Markt gern mit idealen Formen der plebiszitären Demokratie (so F. Böhm), und bereits /. A. Schumpeter 32 hat den Satz diskutiert: "Es gibt keine demokratischere Institution als einen Markt" 33. Doch bedarf es der Differenzierung, wenn allzu direkt Anleihen bei der alten Allgemeinen Staatslehre gemacht werden ("Konsumentensouveränität", "tägliches Plebiszit" etc.). Gerade heute ist evident, wie sehr Demokratie und soziale Marktwirtschaft einander zuzuordnen sind. Aber so wie die Demokratie des Verfassungsstaates pluralistisch konstituiert sein muß und auf inhaltlichen Grundwerten und prozessualen Regeln aufbaut, so ist der Markt ein Stück Bürgerdemokratie nur dank der Strukturierung durch Grundrechte ("Drittwirkung") und Grundwerte. Hierher gehören die "sichtbare Hand des Rechts" (Έ. / . Mestmäcker) und hierher gehört zugleich die "invisible hand" des Marktes i.S. von A. Smith, reguliert durch ein Minimum an moralischen Normen (z. B. Treu und Glauben im Rechtsverkehr und durch Aspekte der "justitia distributiva" i.S. von Aristoteles/Cicero, nämlich sozialstaatliche Elemente). Demokratie, heute Inbegriff der "guten Staatsordnung", setzt einen Markt, genauer die soziale Marktwirtschaft als "gute Wirtschaftsordnung" voraus, "gut" in sozialer, ökologischer und ethischer Hinsicht. "Wirtschaftliche Gerechtigkeit" ist dann kein leeres Wort; der Markt hat insofern die Gestalt einer ökonomischen Form der Demokratie. Nur mit dieser Maßgabe kann die Überlegung von Tönnies wiederholt werden34: (Der Markt ist) "der messende, wägende, wissende Richter, welcher das objektive Urteil fällt. Dieses müssen alle anerkennen (...), also denselben Maßstab gebrauchen, mit derselben Waage wägen." 30
So W. Fikentscher,
Wirtschaftsrecht Bd. 1,1983, S. 10.
31
So der SED- und DDR-Chef E. Honecker noch 1988/89.
32
J. A. Schumpeter , Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 1946, S. 294.
33 S. auch die These "liberaler Demokraten" (zit. nach H. Krüger, Sozialisierung, in: Bettermann / Nipperdey / Scheuner, Die Grundrechte, I I I 1 1958, S. 267 (273)), der Markt sei eine Demokratie, "auf dem jeder Pfennig, der ausgegeben wird, einen Stimmzettel darstellt". - Freilich wäre auch die moderne ökonomische Demokratiekritik z.B. eines F. A. von Hayek oder J. M. Buchanan (dazu G. Lambertz, Bessere Wirtschaftspolitik durch weniger Demokratie?, 1990) kritisch zu betrachten. 34
F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, 8. Aufl. 1935 (Nachdruck 1963), S. 42.
5. Der polnische Verfassungsentwurf 1991
119
Daß zwar nicht das deutsche GG, wohl aber der mit Zweidrittel-Mehrheit verabschiedete deutsch-deutsche Staatsvertrag zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vom Mai 1990 die "Soziale Marktwirtschaft" ausdrücklich als "Grundlage" herausstellt (Präambel und Art 1 Abs. 3), dürfte, neben der "Enzyklika centesimus annus" von Papst Johannes Paul IL (1991) Grund genug sein, die soziale Marktwirtschaft - auf eine Weise ein Analogon und Korrelat zur pluralistischen Demokratie - endlich in den Verfassungsstaat und seine Strukturen zu integrieren. Dabei mag der Mittelweg zwischen dem zutiefst pessimistischen Menschenbild eines Γ. Hobbes ("homo homini lupus", "bellum omninum contra omnes") und dem optimistischen eines / . Locke der richtige sein: es ist der - begrenzte - Eigennutz des Menschen, der dem Marktgeschehen Grund und Dynamik gibt und der heute durch wirtschaftliche Freiheiten abgesichert ist Mit ihm rechnet der Verfassungsstaat. A. Smith hat sein Menschenbild ebenso realistisch umschrieben wie klassisch formuliert 35: "Dagegen ist der Mensch fast immer auf Hilfe angewiesen, wobei er jedoch kaum erwarten kann, daß er sie allein durch das Wohlwollen der Mitmenschen erhalten wird. Er wird sein Ziel wahrscheinlich viel eher erreichen, wenn er deren Eigenliebe zu seinen Gunsten zu nutzen versteht, indem er ihnen zeigt, daß es in ihrem eigenen Interesse liegt, das für ihn zu tun, was er von ihnen wünscht... Wir wenden uns nicht an ihre Menschen-, sondern an ihre Eigenliebe, und wir erwähnen nicht die eigenen Bedürfnisse, sondern sprechen von ihrem Vorteü." Dieses Menschenbild36 ist das vom Verfassungsstaat im Markt gemeinte. Es nimmt den Menschen, wie er ist. Im Marktgeschehen kommt es zu immer neuem Sich-Vertragen und Sich-Ertragen aller Bürger - ein Gedanke, der heute für das Verfassungsleben unter dem Stichwort Verfassung als Vertrag wieder gebraucht wird 37. Daß das Ganze des Marktes wie die Verfassung selbst als Xw/iwrzusammenhang zu verstehen ist, sei nur angemerkt Im übrigen ist es wohl kein Zufall, daß 1776 das Jahr der Virginia bill of rights und das Erscheinungsdatum von A. Smith 1 klassischem Werk ist. So wie die klassischen Freiheiten fortgeschrieben bzw. weiterentwickelt wurden, so hat auch der Markt normative Ergänzungen erhalten (etwa das Arbeits- und Sozialrecht des sozialen Rechtsstaates). Darum ist es die soziale Marktwirtschaft, die ein Element des Verfassungsstaates bildet. Darum gibt es in ihm Bereiche, die nicht "marktfähig" sind (Felder der Erziehung, der Kultur). Das Marktprinzip hat seine Grenzen. Beides, Prinzip wie Grenzen sind aber integrierender 35
A. Smith, Der Wohlstand der Nationen, 1776, hrsg. von H. C. Recktenwald, 1974, S. 17.
36
Zur Menschenbild-Frage allgemein meine Studie: Das Menschenbild im Verfassungsstaat,
1988. 37
Dazu P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1982, S. 18.
9 Häberle
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I. Methoden
Bestandteil der heutigen Entwicklungsstufe des demokratischen Verfassungsstaates. Darum sollte die soziale Marktwirtschaft auch verfassungstextlich dokumentiert werden38 (nicht zuletzt als Bremse gegenüber zuviel ökonomischer Reglementierung aus Brüssel). Den Mosaikstein eines guten Textes liefert etwa Art 8 Abs. 1 VE Mecklenburg· Vorpommern (1990)39: "Das Wirtschaftsleben dient der sozialen Gerechtigkeit, einer gesunden Umwelt und einem dauerhaft menschenwürdigen Dasein". Vorbildlich ist auch Art. 38 VE Brandenburg (1990): "Das Wirtschaftsleben gestaltet sich nach den Grundsätzen der sozialen Marktwirtschaft. Die Wirtschaft hat den Interessen des Gemeinwohls zu dienen. Der Mißbrauch wirtschaftlicher Macht ist unzulässig". Neue Textelemente liefert Art. 28 VE Sachsen-Anhalt (1990): "(1)
Die Ordnung des Wirtschaftslebens hat den Grundsätzen einer sozialen und der Ökologie verpflichteten Marktwirtschaft zu entsprechen und den Ausgleich zwischen Vollbeschäftigung, Wirtschaftsentwicklung, sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Verträglichkeit anzustreben.
(2)
Im Rahmen dieser Grundsätze und der Gesamtheit der verfassungsmäßigen Ordnung ist die wirtschaftliche Freiheit des Einzelnen und seiner Verbände gewährleistet."
Solche Textelemente eines etwaigen Wirtschaftsverfassungsrechts in Polen zu erwägen, ist umso notwendiger als sich der Systemwechsel der sozialistischen Kommandowirtschaft, die den Menschen buchstäblich zum Objekt einer "stumpfen und doktrinären Bürokratie" machte40, zu Markt und Demokratie als so schwierig erweist. Erst in der Demokratie und sozialen Marktwirtschaft des Verfassungsstaates ist der Bürger "Subjekt", d.h. in seiner Menschenwürde ernst genommen. So schwer dieser Übergang heute in ganz Osteuropa ist, der zur Demokratie ist ein ermutigenÜbergang Spaniens von der Franco-OWX&Xxxx des Vorbild, freilich gab es schon unter Franco marktwirtschaftliche Elemente. Texte der hier genannten Art sind jedenfalls keine "Utopien", sie können die Wirklichkeit inspirieren, ihr ein Stück wegweisend vorauseilen, sie können sie auch programmatisch provozieren. Eben diese Funktionen können und sollen Verfassungstexte neben anderen Aufgaben auch erfüllen 41. 38 Erste Überlegungen zum Obigen in meinem Beitrag: Verfassungsentwicklungen in Osteuropa, in: FS Kitagawa, 1992, S. 129 ff., sowie in FS Partsch, 1989, S. 555 (567 ff.) - hier Nr. 1; s. auch die Laudatio auf H. H. Rupp, in: Die Verwaltung 24 (1991), S. 355 ff. - Ein früher Klassikertext zur "sozialen Marktwirtschaft" ist der viel zitierte Satz von Miiller-Armack von der sozialen Marktwirtschaft als "neuartiger Synthese" im Sinne einer "ordnungspolitischen Idee", deren Ziel es ist, "das Prinzip der Freiheit auf dem Markte mit dem des sozialen Ausgleichs zu verbinden." 39
Zit. nach JöR 39 (1990), S. 399 ff.; ebd. auch die folgenden Texte.
40
So plastisch B. Geremek, FAZ vom 3. Mai 1991, S. 37.
41
Vgl. P. Häberle, Utopien als Literaturgattung des Verfassungsstaates, Ged.-Schrift für Martens, 1987, S. 73 ff. - hier Nr. 27; ders., Die Funktionenvielfait der Verfassungstexte im Spiegel des "gemischten" Verfassungsverständnisses, FS Schindler, 1989, S. 701 ff. - hier Nr. 11.
5. Der polnische Verfassungsentwurf 1991
121
IV. Ausblick Der polnische Entwurf 1991 bestätigt einmal mehr, wie sehr alle Nationen am "Gemeinschaftswerk Verfassungsstaat" mit aktiven Beiträgen und mit "übernehmenden", keineswegs aber bloß passiven Rezeptionen beteiligt sind. Mit seiner Verfassung in der endgültigen, hoffentlich bald erreichten Gestalt will, soll und kann Polen in die Gemeinschaft der europäisch / atlantischen Verfassungsstaaten zurückkehren42. Ideell, im Reiche des Geistes, gehörte es ihr immer "ungeteilt" an, praktisch leider lange Zeit nicht. Heute kommt Polen, verfassungstextlich beglaubigt, nach Europa "heim". Wir Deutschen, und gewiß noch mit größerer Legitimation die griechische Staatsrechtslehre, sind dankbar dafür, in diesem Prozeß "teilnehmender Beobachter" sein zu dürfen. Der Glaube an den Verfassungsstaat eint die internationale Wissenschaftlergemeinschaft wie kaum je zuvor - sie hat Teil an der offenen Gesellschaft der Verfassunggeber und -Interpreten. Diese Zusammenkunft im "polnischen Bicentennial" (1991) bezeugt es.
42 Freilich wandte sich Papst Johannes Paul IL auf seiner jüngsten, vierten Polenreise 1991 gegen die Redensarten, wonach "Polen nach Europa kommen" müsse (zit. nach FR vom 11. Juni 1991, S. 3). Schließlich sei Polens Kultur stets ein Teil Europas gewesen.
6. Verfassungslehre im Kraftfeld der rechts wissenschaftlichen Literaturgattungen : zehn Arbeitsthesen* I . Problem
Die Wissenschaft vom Typus "Verfassungsstaat", d. h. die Verfassungslehre, lebt nicht nur aus den objektiven ("positiven") Rechtstexten der nationalen Verfassunggeber (und diesen vorausgehend: der "Klassiker")1 sowie aus dem, was Rechtsprechung, sonstige Praxis und die Wissenschaftler inhaltlich "hinzugeben", sie lebt auch aus und in dem "Wie", d. h. dem, was die verschiedenen Arten von Literaturgattungen in spezifischer Form, also insoweit "formal", erarbeiten, vorschlagen, diskutieren und für gut heißen. Strukturen und Funktionen der für die Verfassungslehre relevanten einzelnen (vor allem juristischen) Literaturgattungen bilden ein unverzichtbares eigenes "Thema" der Verfassungslehre. So relativ "schmal" diejenige wissenschaftliche Literatur im Deutschland von heute sein dürfte, die selbst, unmittelbar und bewußt im ganzen oder in wesentlichen Teilen "Verfassungslehre" darstellt und ausbaut, so groß, vielfältig und fruchtbar ist die rechtswissenschaftliche Literatur, die mittelbar dem Denken über Verfassungen und dem Handeln für Verfassungen "Zulieferarbeit" leistet und insoweit kein geringes Gewicht für die Verfassungslehre besitzt. Im folgenden kann keine "Phänomenologie" der Literaturgattungen präsentiert werden2. Es geht zunächst nur darum, die Verfassungslehre als wissenschaftliche Disziplin3 für das Problem "Literaturgattung" zu sensibilisieren, *
Festschrift für Otto IC Kaufmann, 1989, S. 15 ff.
1
Im Sinne meines Berliner Vortrags: Klassikertexte im Verfassungsleben, 1981.
2
Einige Elemente einer Bestandsaufnahme unten in Anm. 7.
3 Sie unterscheidet sich meines Erachtens durch die Überwindung der für die (allgemeine) "Staatslehre" typischen Fixierung auf "Staat" und "Staatlichkeit". Da es nur so viel Staat gibt, wie die Verfassung konstituiert (als Typus und in der jeweiligen Beispielsform), ist heute die Verfasswrtgslehre der gebotene Sachgegenstand und die zugehörige Disziplin. Sie hat dann dem Staatlichen in ihrem Rahmen begrenzte Aufgaben zu vermitteln. Erste Ausarbeitungen dieses Ansatzes in meinen Besprechungsaufsätzen der (Allgemeinen) Staatslehren von R. Herzog (AöR 98 [1973], S. 119 ff.) und von M. Kriele (AöR 102 [1977], S. 284 ff.). Das schließt nicht aus, bedeutsame Werke der deutschen "Staatlichkeitstradition" (wie H. Quaritsch, Staat und Souveränität, Bd. 1, 1970; ders., [Hrsg.], Die Selbstdarstellung des Staates, 1977 und Herb. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 1964, bes. S. 178 ff.: Prinzip der "Nichtidentifikation") in Teilergebnissen zu integrieren. Ange-
6. Verfassungslehre und rechtswissenschaftliche Literaturgattungen
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diesem Problem eine sichere "Heimstatt" in ihrem Rahmen zu verschaffen und einige Aspekte zu erarbeiten, die die These von der Unentbehrlichkeit einer Vielfalt von in ganz bestimmter Weise strukturierten Literaturgattungen bekräftigen. (Auch der Autor der einzelnen Werksparten muß sich seinerseits für den "großen Zusammenhang" sensibilisieren.) Die Verfassungslehre darf sich also nicht damit begnügen, in "Literaturverzeichnissen", als "Vorspann" zu ihren Kapiteln oder in Fußnoten Literatur mehr oder weniger gesammelt, gleichsam im Kollektiv "mitzuführen" 4. Sie muß sich darüber klar werden, daß sie sich auch aus der Fülle der jeweils "vor Ort" spezifisch verarbeiteten Literaturgattungen selbst mitkonstituiert. Die (strukturelle und funktionelle) Verschiedenheit der Literaturgattungen, ihre wachsende Ausdifferenzierung und (soweit möglich) spätere Zusammenführung ist eine Bedingung für die Entwicklung des Typus "Verfassungsstaat". Er lebt im Spektrum vieler "Literaturen". Sie bilden seinen kulturellen "Überbau" und "Unterbau", ohne daß mit diesem hierarchischen Bild Weitungen verbunden seien. Die Literaturformen dokumentieren seine Vitalität und sind Teil seiner Identität. Gemeint sind wissenschaftliche und hier besonders rec/tfswissenschaftliche Literaturgattungen. Das weite Feld der Literaturformen bzw. Werkgattungen der Kunst bleibe an dieser Stelle ausgeklammert: So unentbehrlich Kunst, besonders "schöne Literatur und Literaten", als Anregerin und Kritikerin des Verfassungsstaates5 ist und so konstituierend sich die Kunstfreiheit als Grundrecht und in ihren Resultaten für Öffnung und Grundierung der einzelnen Verfassungsstaaten erweist6, so sehr künstlerische Elemente die wissenschaftlichen Spitzenwerke (ζ. B. eines H. Heller oder C. Schmitt) mitprägen: im folgenden sei allein das Themenfeld "Verfassungslehre im Spektrum der rechtswissenschaftlichen Literaturgattungen" abgesteckt und dies auch nur thesenartig. Die sichts der charakteristischen "Konkretheit" der Verfassungslehre gibt es auch keine der Allgemeinen Staatslehre entsprechende Aufteilung in "Allgemeine Staatslehre und (besondere) Staatslehre der Bundesrepublik" (wie bei Η. Η. ν Arnim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, 1984, S.
lt.). 4
Dies ist eine verbreitete Methode, vgl. ζ. B. für die Allgemeine Staatslehre: R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 9. Aufl., 1985; T. Fleiner-Gerster, Allgemeine Staatslehre, 1980; P. Pernthaler, Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre, 1986. - Anders Herb. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 1. Aufl., 1964. - Eine Mischform, d. h. ein Sowohl-Als-auch von vorweg bei den Einzelabschnitten zitierter Literatur einerseits und in den Text integrierten Zitaten andererseits entwikkelte H. Heller, Staatslehre, 1934. Ähnlich arbeiten R. Herzog, Allgemeine Staatslehre, 1971 und F. Ermacora, Grundriß einer Allgemeinen Staatslehre, 1979. Die Literatur in die Texte bzw. Fußnoten arbeiten M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, 1975 und K Loewenstàn, Verfassungslehre, 2. Aufl., 1969 ein. 5 Dazu Ρ. Häberle, Das Grundgesetz der Literaten, 1983. Zu "Utopien als Literaturgattung des Verfassungsstaates"(!) mein gleichnamiger Beitrag in Ged.-Schrift für W. Martens, 1987, S. 73 ff.-hier Nr. 27. 6 Dazu meine Abhandlung: Die Freiheit der Kunst im Verfassungsstaat, AöR 110 (1985), S. 577 (591 f.)-hier Nr. 19.
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I. Methoden
große inhaltliche Relevanz von Kunst und Kunstfreiheit für die Entwicklung des Verfassungsstaates muß sich hier mit globaleren Feststellungen und mit nicht nach Werkgattungen differenzierten allgemeinen Hinweisen begnügen7. 7 Elemente einer Bestandsaufnahme des für die einzelnen Literaturgattungen "Werktypischen" bzw. ihrer Struktur und Funktion seien für einzelne Felder angedeutet, so für das Handbuch: In Deutschland hat das Handbuch des Deutschen Staatsrechts, hrsg. von G. Artschütz / R. Thoma (I. Bd., 1930, II. Bd., 1932) in Umfang und Inhalt bleibende Maßstäbe gesetzt; es ist der "Klassiker" seiner Literaturgattungen, Charakteristika von Handbüchern sind: die thematisch umfassende, relativ vollständige, fachwissenschaftliche, "flächendeckende" Anlage des Werkes, eine Systematik, zu der sich die wohlproportionierten Einzelbeiträge fügen, Grundlagenartikel über den Tag hinaus, aber auch Information über Detailfragen, Theorietiefe und Praxisnähe, Vielzahl der Autoren, die als individuelle Forscherpersönlichkeiten methodisch durchaus unterschiedlich vorgehen dürfen, ja sollen, sich aber im Interesse einer Gesamtkonzeption des Handbuchs formal und materiell verweisend, aufeinander abstimmen und ihre etwaigen Unterschiede offenlegen. Handbücher sollten durch gute Sachregister leicht erschließbar sein. Beispiele für öffentlich-rechtliche Handbücher im "formellen Sinne" sind etwa das Handbuch Die Grundrechte (hrsg. von Κ. A. Bettermann u. a., 1954 ff.), das Handbuch des Staatskirchenrechts der BR Deutschland (hrsg. von E. Friesenhahn und U. Scheuner, Bd. 1, 1974, Bd. 2, 1975), das Handbuch des Wissenschaftsrechts (hrsg. von C. Flämig u. a., 2 Bde., 1982), das Handbuch für die parlamentarische Praxis (bearb. von H. G. Ritzel und J. Bücker, 1981) - aus der Bismarckzeit siehe Handbuch des öffentlichen Rechts, Einleitungsband (hrsg. von M. Seydel, 1893). Es gibt Gesamtwerke, die in der Sache einem Handbuch nahe kommen und insofern Handbücher im "materiellen Sinne" sind: das gilt etwa für das Werk "Landesverfassungsgerichtsbarkeit", hrsg. von C. Starck und K. Stern (3 Teilbde., 1983) oder sogar für eine Festschrift wie die für von Unruh (Selbstverwaltung im Staat der Industriegesellschaft, 1984, hrsg. von A. v. Mutius). Vielleicht entspricht das Handbuch in besonderer Weise der Wachstumsphase, in der sich das öffentliche Recht unter dem GG heute befmdet: Nach 39 Jahren liegen zusammenfassende Werke systematisierender, sichtender Art nahe, dies um so mehr, als einzelne Autoren alleine solche Gesamtwerke kaum mehr leisten können. (Es gibt Zusammenhänge zwischen dem "Alter" von Verfassungen und bestimmten Literaturgattungen bzw. der Form, in der wissenschaftlich aufbereitet wird.) Daß jede Generation "ihr" optimales Handbuch neu suchen muß, zeigt die Diskussion um das Handbuch des Verfassungsrechts der BR Deutschland (hrsg. von E. Benda / W. Maihofer / H.-J. Vogel, 1983; aus der Lit. die Besprechungen von M. Kloepfer, Archiv für Presserecht, 1983, S. 447 ff.; Η. Schneider, VB1BW 1984, S. 37 f.). Immerhin gibt es Werke aus einer Hand, die Handbuchcharakter annehmen, ζ. Β. H. Schneider, Gesetzgebung, 1982 (als "großes Lehrbuch" ausgewiesen) und N. Achterberg, Parlamentsrecht, 1984, auch E. R. Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht (2. Aufl., 1953). - Für den Lexikonartikel ist die umfassend "sammelnde" Information charakteristisch, auch die problembewußte wissenschaftliche Aufarbeitung (dazu R. Grawert, Das Staatslexikon der Görres-Gesellschaft, in: Der Staat 26 (1987), S. 432 ff.). In der durch den ins Auge gefaßten Adressatenkreis bedingten Auswahl der Stichworte liegt eine starke Präjudizierung. In der BR Deutschland "konkurrieren" die Lexika der beiden Großkirchen, d.h. das "Staatslexikon" (jetzt 7. Aufl., Bd. 1 und 2, 1985 bzw. 1986) einerseits und das Evangelische Staatslexikon (2 Bände, 3. Aufl., 1987) andererseits. Es dürfte für jedes Lexikonwerk dieser Art freilich schwer sein, sowohl den (Fach)Gelehrten als auch den Bürger zu "erreichen". Zur spezifischen Funktion der Rechtsprechungsrezension und der Buchrezension: P. Häberle, Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 12 ff. bzw. ders., Rezensierte Verfassungsrechtswissenschaft, 1982; zur Zeitschriftenrezension: ders., Ged.-Schrift für Geck, 1989, S. 277 ff. - Im übrigen wären das "große Lehrbuch" (Adressatenkreis: Praxis und Wissenschaftlergemeinschaft einschließlich der Studenten), das "Kurzlehrbuch" (primär "studentisch" orientiert), das Staztsrechtsiehr er-Gutachten (zum Problem: P. Häberle, in: Rezensierte Verfassungsrechtswissenschaft, S. 30 ff.), die Festschrift (vgl. meinen Beitrag, Festschriften im Kraftfeld ihrer Adressaten, AöR 105 (1980), S. 652 ff.) und die Publikation von "Gesprächskreisen" (dazu P. Häberle, AöR 111 [1986], S. 595 ff.) eigens zu untersuchen. Gleiches gilt für die Literaturgattung Festrede (dazu P. Häberle, DVB1.1977, S. 836). Auch die Gesammelten Schriften eines einzigen Autors von Rang (aus der Schweiz etwa: W. Burckhardt, Aufsätze und Vorträge 1910-1938, 1970; H. Huber,
6. Verfassungslehre und rechtswissenschaftliche Literaturgattungen
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Π. Zehn Arbeitsthesen zur Unentbehrlichkeit, Offenheit und Differenziertheit, aber auch Integration der rechtswissenschaftlichen Literaturgattungen als "Bauteilen" der Verfassungslehre 1. Die rechtswissenschaftlichen Literaturgattungen und ihre einzelnen "Repräsentanten" sind unentbehrliche "Wachstums fermente", aber auch 'Wachstumsringe" in der Entwicklung verfassungsstaatlicher Verfassungen. Verfassungslehre "als Literatur" und Verfassung als Kultur ist auf eine Vielzahl unterschiedlicher Literaturgattungen angewiesen: von der Monographie und dem Lehrbuch über den Aufsatz, den Rechtsprechungskommentar, die Entscheidungs-, Zeitschriften- und Buchrezension bis zum Gutachten, Lexikonartikel, Handbuch, Festschriftenbeitrag und zur Festrede. Daß eine Verfassung "lebt", zeigt sich nicht zuletzt in der Vitalität, Dichte und Vielfalt ihrer "Literaturen", auch in deren Weiterentwicklung. 2. Hierbei geht es nicht nur um Veröffentlichungen, die sich inhaltlich direkt als "Verfassungslehre" ausweisen oder Teilfragen einer solchen selbst behandeln. Entsprechend dem relativ hohen (aber beispielgesättigten) Abstraktionsgrad der Verfassungslehre dürfte es recht wenige Publikationen geben, die als solche ein Stück "Verfassungslehre" sind, insofern sie historisch und/oder kontemporär das Typische am Verfassungsstaat herausarbeiten8. Doch liefern die verschiedenen Literaturgattungen zu den konkreten "Staatsrechten" der einzelnen Verfassungsstaaten Vorarbeiten für eine Verfassungslehre, die von und in "Beispielen" lebt. Sie sind auf einer niedereren, aber unentbehrlichen "Stufe" auf dem (langen) Weg zur Verfassungslehre als WissenRechtstheorie, Verfassungsrecht, Völkerrecht, 1971; K. Eichenberger, Der Staat der Gegenwart, 1980) gehören in das "Mosaik" der literarischen Kultur einer Verfassungslehre. - Eigenen Rang hat nach Form und Inhalt der die Rezeption H. Hellers dokumentierende Band von C. Müller und I. Staff (Hrsg.), Der soziale Rechtsstaat, 1984, dazu P. Häberle, DVB1. 1985, S. 949 ff. - Spezifische Werkgattungen bilden Sammelbände zu einem Thema mit mehreren Autoren, z. B. C. Starck / A. Weber (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich, 1985; M. Tohidipur (Hrsg.), Der bürgerliche Rechtsstaat, 2 Bde., 1978. - Verdienstvolle (rückblickende) Dokumentationsbände sind ζ. B. U. Scheunet (Hrsg.), Die staatliche Einwirkung auf die Wirtschaft, Wirtschaftsrechtliche Aufsätze 1946-1970, 1971; H Quaritsch IH. Weber (Hrsg.), Staat und Kirchen in der Bundesrepublik. Staatskirchenrechtliche Aufsätze 1950-1967, 1967; R. Dreier I F. Schwegmann, (Hrsg.), Probleme der Verfassungsinterpretation, 1976, sowie die Dokumentationsbände zu Verfahren vor dem BVerfG, z. B.: W. Heyde u. a. (Hrsg.), Die Nachrüstung vor dem BVerfG, 1986. Siehe ferner die Reihe "Wege der Forschung" der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft (Darmstadt, dazu meine Hinweise in: NJW 1985, S. 1614); klassisch für die Rubrik und wohl stilbildend: E. Forsthoff (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, 1968; für eine Verfassungslehre materialreich auch H. Rausch (Hrsg.), Zur heutigen Problematik der Gewaltentrennung, 1969; zuletzt R. Steinberg (Hrsg.), Staat und Verbände, 1985. 8 Rechtsvergleichend gewonnene Aspekte in meinem Beitrag: Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, insbesondere auf kantonaler Ebene, JöR 34 (1985), S. 303 ff.
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schaft und Literatur angesiedelt: So wird etwa ein "deutsches Staats re cht", welches konkret das GG behandelt, Grundsatzfragen angehen (müssen), die letztlich in Problemen der Verfassungslehre münden9. So kann auch ein Verfassungsgericht wie das deutsche BVerfG nicht anders vorgehen als in manchen Grundsatzfragen die Abstraktionshöhe einer Verfassungslehre zu suchen10. Umgekehrt muß sich die Verfassungslehre mit Beispielen aus den einzelnen Verfassungsstaaten "sättigen" und insofern bald auf einen Rechtsprechungskommentar, eine Monographie oder ein "Sachverständigengutachten"11 verweisen. Daß sie dies in repräsentativer Auswahl und in hoher Sensibilität für das, was die jeweilige Literaturgattung nach ihren "Erkenntnisinteressen" beitragen kann, tut, macht ihre eigene Leistungsfähigkeit aus. Darum ist die Verfassungslehre gut beraten, entsprechend ihren eigenen Wachstumsprozessen auch die Entwicklungen zu dokumentieren, die etwa ein Lehrbuch zu einem kon-
9 Beispiele liefern vor allem für die BR Deutschland: K. Stern, Das Staatsrecht der BR Deutschland, Bd. I, 2. Aufl., 1984, z. B. zur verfassunggebenden Gewalt (S. 143 ff.); K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der BR Deutschland, 16. Aufl., 1988, z. B. zum Thema "Verfassung" (S. 10 ff.); E. Stein, Staatsrecht, 10. Aufl., 1986, z. B. zu verfassungsrechtlichen Fragen der Wirtschaft (S. 283 ff.); Κ Doehring, Staatsrecht der BR Deutschland, 3. Aufl., 1984, z. B. für die sog. "Staatselemente" (S. 87 ff.); E. Denninger, Staatsrecht 1, 1973, besonders im Abschnitt "Die pluralistische Gesellschaft und das freie Spiel der Kräfte" (S. 31 ff.) sowie unter dem Stichwort "Die soziale Gerechtigkeit" (S. 135 ff.); H. Ridder, Die soziale Ordnung des Grundgesetzes, 1975, bes. S. 35 ff. ("Die demokratische 'Gesamtverfassung' als Bezugssystem des 'Sozialstaates' ..."). - Für die Schweiz: Y. Hangartner, Grundzüge des schweizerischen Staatsrechts, Bd. I Organisation, 1980, S. 25 ff. (Verfassung), S. 159 ff. (Staatsaufgaben); 7. P. Müller, Elemente einer schweizerischen Grundrechtstheorie, 1982, S. 1 ff. ("Funktion der Grundrechte in der Staats- und Rechtsordnung"); U. Häfelin / W. Haller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 1984 (z. B. S. 42 ff.: "Die tragenden Grundwerte der Bundesverfassung": das rechtsstaatliche, demokratische, föderalistische und sozialstaatliche Element); für Österreich: L. Κ Adamovich / B.-C. Funk, Österreichisches Verfassungsrecht, 2. Aufl., 1984, z. B. für "Verfassungswissenschaften und benachbarte Disziplinen" (S. 20 ff.). 10 Vgl. etwa das sog. erste Neugliederungsurteil zur verfassunggebenden Gewalt: BVerfGE 1, 14 (LS 21: "Eine verfassunggebende Versammlung hat einen höheren Rang als die auf Grund der erlassenen Verfassung gewählte Volksvertretung. Sie ist im Besitz des 'pouvoir constituant'..."). Siehe auch manche Entscheidungen des BVerfG zur Bundesstaatlichkeit, aus der Pionierzeit: z. B. E 6, 309 (361 f.); 12, 205 (254 f.) sowie zum Kulturstaat, ζ. Β. E 36, 321 (331): "Als objektive Wertentscheidung für die Freiheit der Kunst stellt sie (sc. Art. 5 Abs. 3 GG) dem modernen Staat, der sich im Sinne einer Staatszielbestimmung auch als Kulturstaat versteht, zugleich die Aufgabe, ein freiheitliches Kunstleben zu erhalten und zu fördern." - E 10, 20 (36): "... betrachtet es der moderne Staat als seine Aufgabe, die kulturelle Entwicklung der Gemeinschaft zu fördern...". Zur pluralistischen Gesellschaft: E 44, 125 (143); zum demokratischen Staat: E 12, 113 (125). - Weiteres Material aus der Rechtsprechung des BVerfG enthält die schon in der Hiemenformulierung auf die Ebene der Staats- bzw. Verfassungslehre deutende Abhandlung von P. Badura, Verfassung, Staat und Gesellschaft in der Sicht des Bundesverfassungsgerichts, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, II, 1976, S. 1 ff. 11 Für die Schweiz sind hier vorbildlich die mehrbändigen Vorarbeiten zur Totalrevision (1977), samt dem Schlußbericht von 1977. - Für die Bundesrepublik enthält viele Materialien zu seinem Thema der Bericht der Sachverständigenkommission "Staatszielbestimmungen Gesetzgebungsaufträge", 1983.
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kreten Staatsrecht eines Landes durchläuft 12. Bei all dem bedeutete es eine Hilfestellung für die Verfassungslehre, wenn sich die "konkreteren" staatsrechtlichen Arbeiten ihres "letztlichen" Zusammenhangs mit Elementen der Verfassungslehre stärker bewußt wären. Im deutschen Schrifttum zum GG bestehen hier große Defizite, so intensiv es in bald vier Jahrzehnten dieses Beispiel einer verfassungsstaatlichen Verfassung ausgeleuchtet und weiterentwikkelt hat! 3. Die Verfassungslehre speist sich aus den Erkenntnissen, die sich in unterschiedlicher Abstraktionshöhe und in entsprechend differenzierten Literaturgattungen präsentieren. Umgekehrt findet sich ein Stück Verfassungslehre selbst in Einzeljudikaten der Verfassungsgerichte oder in Erscheinungsformen der "Staatspraxis" (ζ. B. im Parlamentsrecht). Da Verfassungslehre immer an historischen und/oder kontemporären Beispielen arbeitet, will sie sich nicht in der leer und formal werdenden oder schon gewordenen Allgemeinheit "allgemeiner Staatslehren" verlieren, liefern ihr konkrete "Staatsrechte" der individuellen Verfassungsstaaten mehr als nur "Stoff": sie konstituieren die Sache selbst Das zum Inhaltlichen Gesagte hat Auswirkungen für die Relevanz der einzelnen Literatur- bzw. Werkgattungen. Wo die Rechtsprechungs- und Staatspraxis besonderes Gewicht für das Verständnis der sich entwickelnden Verfassungstexte erlangt, muß diejenige Literaturgattung in den Vordergrund treten, die diese Praxis am besten verarbeitet, etwa der Rechtsprechungsbericht, der die Zeitdimension einfängt 13. Im ganzen kommt es zu Prozessen der Produktion und Rezeption zwischen den Disziplinen der Verfassungslehre und denen konkreter "Staatsrechte" der einzelnen Verfassungsstaaten, zu einer Art "schubweisem Stoffwechsel": Neue Erfahrungen und Einzelausarbeitungen des Verfassungsrechts eines einzelnen Landes bzw. einer konkreten Nation können die "abstraktere" Verfassungslehre voranbringen; umgekehrt vermag die Verfassungslehre den konkreten Staatsrechten Wege zu weisen (Wechselwirkung zwischen Staatsrechts- bzw. Verfassungsrechtslehren und Verfassungslehre). Diese inhaltlichen Austauschprozesse "wiederholen" sich auf der Ebene bzw. in den Formen der Literaturgattungen bzw. sie nehmen hier konkrete Gestalt an.
12 Für das deutsche Grundgesetz läßt sich dies am Beispiel der Neubearbeitungen der 1. Aufl., 1966, der zitierten "Grundzüge des Verfassungsrechts der BR Deutschland" von K. Hesse, 16. Aufl., 1988 zeigen. Die neu bearbeitete 4. Aufl. (1970) und die 8. Aufl. (1975) läßt "Perioden" erkennen. - Das Deutsche Staatsrecht von T. Maunz ist durch eine wachsende Integrierung der Judikatur des BVerfG gekennzeichnet (1. Aufl., 1951; 23. Aufl., 1980). Zur "Deutsche(n) Staatsrechtswissenschaft im Spiegel der Lehrbücher": H. P. Ipsen, AöR 106 (1981), S. 161 ff. 13 Vgl. die als Literaturgattung in den sechziger Jahren neue Rubrik: "Zur Verfassungsrechtsprechung" im Archiv des öffentlichen Rechts, beginnend u. a. mit P. Lerche, Das Bundesverfassungsgericht und die Verfassungsdirektiven, AöR 90 (1965), S. 341 ff.
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4. Der Kanon der in Frage kommenden Literaturgattungen ist offen - entsprechend der Offenheit der Verfassung und der Offenheit der "Gesellschaft" ihrer Interpreten 14 - und er muß offen bleiben bzw. gehalten werden. So wie sich bewährte Prinzipien des Verfassungsstaates weiterentwickelt haben und ausdifferenzieren, so wirken alte und neue Literaturgattungen (ζ. B. der Rechtsprechungsbericht oder das "Gase-Book") als Vehikel und Ausdruck dieser Entwicklungsprozesse zugleich. Was bloß "formal" zu sein scheint, die Literaturgattung, ist auch "material" zu begreifen. Ein Verfassungsstaat mit ausgebauter Verfassungsgerichtsbarkeit wird auf "Kommentierte Verfassungsrechtsprechung"15 mehr angewiesen sein als Verfassungsstaaten mit rudimentärer Verfassungsgerichtsbarkeit (wie bisher Frankreich) - ohne daß die Wissenschaft zur "Glossatorin" verarmen dürfte. "Rezensierte Verfassungsrechtswissenschaft" wird um so wichtiger, je mehr Bücher erscheinen. 5. Arten und "Gesetzmäßigkeiten" der einzelnen Literaturgattungen, d. h. ihre "Werkstruktur" variieren je nach der individuellen Verfassungskultur der einzelnen Länder. Hier wirkt sich auch die Eigenart der jeweiligen nationalen aus: So wird etwa das "systematische" Lehrbuch zum Wissenschaftskultur Staatsrecht auf dem europäischen Kontinent mit seinen geschriebenen Verfassungen eine andere Funktion und größere Bedeutung haben als in Ländern mit ungeschriebenen Verfassungen wie Großbritannien. So hatte der "Rechtsprechungs-Reader" bzw. das "Fallbuch" in den USA dank ihrer Verfassungsgerichtsbarkeit lange eine Spitzenstellung im Vergleich zu "Lehrbüchern" inne16. 6. Arten und Formen der Literatuigattungen differieren auch je nach dem Alter der (geschriebenen) Verfassungen. Junge Verfassungen bedürfen der pionierhaften "Begleitung" der Wissenschaft 17, "alt" gewordene Verfassungen bzw. Verfassungstexte brauchen nach einer Phase der Stabilisierung und der sie begleitenden Exegese (wieder) die kühne Monographie, den programmatischen
14 Dazu mein Vorschlag: Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, S. 297 ff. 15
Im Sinne meines gleichnamigen Buches von 1979.
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Den Typus "Casebook" führen jetzt musterhaft im deutschen Verfassungsrecht vor: /. Richter / G. F. Schuppert, Casebook Verfassungsrecht, 1987; auf diesem Weg auch M. Lepa, Das Grundgesetz in Fällen, 2. Aufl., 1987; in der Schweiz: J. P. Müller, Praxis der Grundrechte, 3. Aufl., 1983. 17 Repräsentativ etwa H. P. Ipsens Hamburger Rektoratsrede: Über das Grundgesetz, 1950; siehe auch die Aufbau-Arbeiten "in Sachen Grundrechte" dank G. Dungs Kommentierung der Art. 1 und 2 GG in: "Maunz / Dürig" sowie dank seiner bahnbrechenden Aufsätze in den fünfziger Jahren, zum Teil wiederabgedruckt in: G. Dürig, Gesammelte Schriften, 1952-1983,1984.
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Aufbruch, wie sie etwa in Antrittsvorlesungen möglich sind18. Darum "altern" wohl noch so gute Lehrbücher nach etwa 15 Jahren. Auf Perioden der Exegese des (vermeintlich) in den Verfassungstexten geschrieben schon ganz "Vorhandenen" und der "Zwischensummierung" in Großkommentaren dürften Perioden größerer Bewegung folgen 19, die sich nicht nur in einer Zunahme der Zahl und des Gewichts formalisierter Verfassungsänderungen, sondern auch im sie begleitenden oder ihnen vorausgehenden Paradigma-Wechsel zeigen können: als Befreiung von "Traditionen" und "Kästchen-Denken". Die "Richtungs- oder Methodenstreite" suchen sich ihre eigenen Foren - wie mitunter das deutsche Staatsrechtslehrerreferat 20. Auch hier gibt es Phasen von "challenge and response" im Sinne A. Toynbees in dem Maße, wie Verfassungsstaaten in übergreifenden Zusammenhängen kultureller Evolutionen stehen. Die Literaturgattungen sind in diese Prozesse eingebettet, und sie steuern sie begrenzt mit. So werden Jubiläumsaufsätze im Sinne von "20 Jahre Grundgesetz" oder "30 Jahre Grundgesetz" - im Vergleich - aufschlußreich 21, auch Reden zu großen Feiertagen22 und gewiß - viele Literaturgattungen integrierend und zugleich in Deutschland eine eigene bildend - das Staatsrechtslehrerreferat 23. 18 Zum Beispiel: K. Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, Freiburger Antrittsvorlesung, 1959; weitere Beispiele für Antrittsvorlesungen in meiner Besprechung in: AöR 108 (1983), S. 456 (457 f.). 19 Die Schweizer Diskussion um die "Totalrevision" der Bundesverfassung von 1874 hat zu tiefgehenden Grundsatzüberlegungen auf höchstem Niveau geführt, vgl. die 6 Bände Totalrevision der Bundesverfassung, 1973 ferner den Bericht von 1977. Aus der überreichen Literatur etwa P. Saladin, Verfassungsreform und Verfassungsverständnis, AöR 104 (1979), S. 345 ff.; L. Wildhaber, Das Projekt einer Totalrevision der schweizerischen Bundesverfassung, JöR 26 (1977), S. 239 ff. Weitere Lit. ist nachgewiesen in meinem Beitrag in: JöR 34 (1985), S. 303 (357 Anm. 232). 20 Vgl. etwa R. Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, W D S t R L 4 (1928), S. 45 ff.; H. Heller, Der Begriff des Gesetzes in der Reichsverfassung, ebd. S. 98 ff. - Im Rahmen des GG klingt dieser Grundsatzstreit ζ. B. nach in den beiden kontrastreichen Referaten über "Pressefreiheit" von U. Scheuner bzw. R. Schnur in: W D S t R L 22 (1965), S. 1 ff. bzw. 101 ff. 21 Aus der Literatur: U. Scheuner, Das Grundgesetz in der Entwicklung zweier Jahrzehnte, AöR 95 (1970), S. 353 ff.; H. P. Ipsen, Über das Grundgesetz nach 25 Jahren, DÖV 1974, S. 289 ff. 22 Zum Problem meine Studie: Feiertagsgarantien als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, 1987. - Aus der Weimarer Zeit ist repräsentativ: R. Smend, Bürger und Bourgeois im deutschen Staatsrecht, Rede, gehalten bei der Reichsgründungsfeier der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin am 18. Januar 1933, jetzt in: ders, Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl., 1968, S. 309 ff. 23 Am Typus "Verfassungsstaat" arbeitend etwa C. Tomuschat / R. Schmidt, Der Verfassungsstaat im Geflecht der internationalen Beziehungen, W D S t R L 36 (1978), S. 7 ff. (auch dadurch angeregt ist mein Beitrag zur FS Schelsky: Der kooperative Verfassungsstaat, 1978, S. 141 ff.). Zu ihrem Thema weitgreifend G. Leibholz / G. Winkler, Staat und Verbände, W D S t R L 24 (1966), S. 5 ff. - 50 Jahre deutsche Staatsrechtswissenschaft im Spiegel der Verhandlungen der W D S t R L behandeln U. Scheuner und H. P. Jpsen in: AöR 97 (1972), S. 349 ff. bzw. 375 ff.; siehe auch ders., Weitere 10 Jahre Staatsrechtslehrer-Tagungen 1972-1981, AöR 109 (1984), S. 555 ff.
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Je älter Verfassungen sind, desto stärker wird sich das Feld der Literaturgattungen ausdifferenziert haben: Am Beispiel des GG und "seiner" Literatur ließe sich dies gut studieren, wobei freilich Eigenheiten der deutschen Wissenschaftskultur mitwirken: die Gründlichkeit und Vielfalt ihrer Ausarbeitungen wird vom ausländischen Beobachter immer wieder registriert Freilich: So wie Verfassungen und Kodifikationen "altern" 24, so altern auch Literaturgattungen (wenngleich wohl unterschiedlich rasch). Von Zeit zu Zeit bedarf es hier der "Veijüngungsvorgänge" und d. h. der auch die Form betreffenden, diese gelegentlich "sprengenden" Kreativität der Wissenschaftler. 7. Verfassungsgeschichte 25 und Verfassungsvergleichung 26 sind in ihrer Eigenschaft als (zusammengehörende) "Methoden und Inhalte" der Verfassungslehre vom Gegenständlichen her mit den ihnen eigenen Literaturgattungen am "Aufbau" und "Ausbau" der Verfassungslehre als Wissenschaft besonders beteiligt. Die Dissertation hat im Felde der Verfassungsvergleichung speziell in Deutschland zunehmend "Kärrnerfunktion" übernommen27; gleiches güt für den (rechtsvergleichenden) Sammelband28 oder das mit rechtsvergleichenden Teilen angereicherte Sachverständigengutachten29. Die (deutsche) Habilitationsschrift gehört ebenfalls hierher 30, ebenso (zusammengenommen) die drei Staatsrechtslehrerreferate aus den drei deutschsprachigen Ländern31. 24
Zum "Altern" von Kodifikationen F. Kubier, Kodifikation und Demokratie, JZ 1969, S.
645 ff. 25 Auch in dieser Hinsicht kann das Lebenswerk in Sachen VerfassungsgescAicAte von E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. I (1957, 2. Aufl., 1967) bis Bd. V I I (1985) gar nicht überschätzt werden. - Auf dem Feld der Verfassungsvergleichung gibt es keine "Parallele" zu Hubers "Verfassungsgeschichte". - Varianten der Literaturgattungen auf dem Felde der Verfassungsgeschichte sind: Sammelbände aus der Feder vieler Autoren (E.-W. Böckenförde / R. Wahl [Hrsg.], Moderne deutsche Verfassungsgeschichte 1815-1914, 2. Aufl., 1981, so möglich nur dank eines weiten Verfassungsbegriffs: Vorwort, S. 9 f.), Sammelbände aus der Feder eines Autors (ζ. Β. H. Hofmann, Recht, Politik, Verfassung, Studien zur Geschichte der politischen Philosophie, 1986) und die "Kanonisierung" von Staatsdenkern zu Klassikern (ζ. B.M. Stolleis [Hrsg.], Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert, 2. Aufl., 1987). 26
Dazu mein Beitrag (Anm. 8) in JöR 34 (1985), S. 303 (S. 351 f. u. a.).
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Problemhinweis und einige Beispiele für das französische Recht in meiner Besprechung in AöR 101 (1976), S. 484. - Verdienstvoll: P. M. Heer, Deutsche Dissertationen zum ausländischen öffentlichen Recht (1970-1980), JöR 31 (1982), S. 367 ff. 28 Zum Beispiel E.-W. Böckenförde ! C. Tomuschat / D. G. Umbach (Hrsg.), Extremisten und öffentlicher Dienst, 1981. 29 Repräsentativ etwa: Bericht der (deutschen) Sachverständigenkommission Staatszielbestimmungen Gesetzgebungsaufträge, 1983, mit rechtsvergleichenden Abschnitten, z. B. S. 26 f., S. 74 f., 88; erstaunlich wenig ergiebig sind hingegen die "Beratungen und Empfehlungen zur Verfassungsreform", ζ. B. Schlußbericht 3/1976, S. 236 f. (zum Modell "Wirtschafts- und Sozialrat"). 30 Vgl. die stark rechtsvergleichend und zugleich typisierend gearbeitete Habilitationsschrift von H. Ehmke, Wirtschaft und Verfassung, 1961 und von H. Starnberger, Konzeption und Grenzen
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In Verfassungsstaaten, die einen gemeinsamen (Verfassungs)Gerichtshof in Grundrechtsfragen haben, wie die Mitgliedsländer der EMRK in Gestalt des EGMR, oder die sich zu "präföderalen" Gebilden wie der EG zusammenschließen und "Integrationsmotoren" wie den EuGH besitzen, rücken wissenschaftliche Tagungen mit ihren eigenen "Gesetzmäßigkeiten" in den Vorderdifferenziert sich spezifisch aus und grund32. Auch das Zeitschriftenwesen übernimmt besondere rechtsvergleichende "Zubringerdienste" 33. 8. Die einzelnen Beispiele von Verfassungsstaaten, die eine Verfassungslehre typisierend integrieren sollte, stehen heute nicht nur in bezug auf ihre Verfassungstexte in einer lebhaften Austauschbeziehung bzw. in einem "Werkstattgespräch" untereinander: Parallel zu den Prozessen von Rezeption und Produktion, die in Sachen "Verfassungstetfe" weltweit stattfinden, besonders aber im europäischen Bereich nachweisbar sind34, verläuft ein Austauschprozeß in bezug auf die Literaturgattungen: So hat die wachsende Bedeutung der Rechtsprechungsrezension35 und des "Readers" zum deutschen Grundgesetz36 gewiß manche Impulse aus den USA und den Common-law-Ländern erfahren; umgekehrt dürfte die kontinentale (vor allem wohl deutsche) Vorliebe für systematisierende Literatur aller Art vom Lehrbuch bis zum "Grundriß" nicht ohne Eindruck auf die angloamerikanischen Länder geblieben sein37. Die Parallelität im Verfassungsteri/ic/ten hat also ihre Entsprechung in den Literafreiheitlicher Demokratie, 1974 (beide am Beispiel der USA vorgehend). - Für die Schweiz im guten Sinne "repräsentativ" die Zürcher Habilitationsschrift von D. Thürer, Bund und Gemeinden, 1986 (ein Rechtsvergleich in bezug auf die BR Deutschland, die USA und die Schweiz). 31 Vgl. K. Korinek / J. P. Müller / K. Schiaich, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, W D S t R L 39 (1981), S. 7 ff.; M. Stolleis / H. Schäffer / R. A. Rhinow, Parteienstaatlichkeit - Krisensymptome des demokratischen Verfassungsstaates?, W D S t R L 44 (1986), S. 7 ff. 32 Das gilt vor allem für den Bereich des Europarechts, vgl. etwa den Arbeitskreis "Europäische Integration e. V." mit seiner Schriftenreihe (ζ. Β. M. Zuleeg, Ausländerrecht und Ausländerpolitik in Europa, 1987). - Zu Tagungen und Tagungsberichten als Spiegel und Element im Wissenschaftsprozeß schon Hinweise in: P. Häberle (Hrsg.), Rezensierte Verfassungsrechtswissenschaft, 1982, S. 22; ders., Verfassungsstaatliche Staatsaufgaben lehre, AöR 111 (1986), S. 595 ff.-hier Nr. 23. 33
So die verdienstvolle "Europäische Grundrechte Zeitschrift", die 1988 im 15. Jahrgang er-
scheint. 34
Dazu mein Beitrag (vgl. Anm. 8) in JöR 34 (1985), S. 303 ff., bes. S. 368 ff.
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Den Versuch einer Bestandsaufnahme und rechts- bzw. wissenschaftstheoretischen Klärung ihrer Funktion unternimmt meine Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 1 ff. ("Recht aus Rezensionen"). 36 37
Vgl. jetzt I. Richter / G. F. Schuppert, Casebook Verfassungsrecht, 1987.
Vgl. L. H. Tribe, [1979], S. 446 ff.).
American Constitutional Law, 1978 (dazu H. G. Rupp, Der Staat 18
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I. Methoden
turgattungen, so individuell nach wie vor die Prägekraft der Verschiedenheiten der jeweils nationalen Verfassungs- und Wissenschaftskultur sein dürfte. 9. Wenn einzelne Werke bzw. Autoren über verschiedene Verfassungsurkunden eines Volkes hinweg wiederaufgelegt werden oder im "reprint" erscheinen , so ist dies nicht nur ein "literarischer" Vorgang oder ein "Markt"Problem. Dahinter stehen tiefere Inhalte und Vorgänge: Prozesse der Kontinuität über das positive Verfassungsrecht hinweg, die Dynamik kultureller Produktion und Rezeption, Reproduktion und Rezeption, Reifeprozesse des "klassisch Werdens" von Literatur im Verfassungsleben. Das zeigt sich vor allem - unterschiedlich je nach Literaturgattungen - im Verhältnis zwischen der Weimarer Staats(rechts-)Lehre und "Bonn", d. h. der Literatur unter der Geltung des Grundgesetzes. Beispielhaft genannt seien für die Werkgattung "Sammelband" die "Verfassungsrechtlichen Aufsätze aus den Jahren 1924-1954" eines C. Schmitt (1958), die Gesammelten Schriften eines E. Kaufmann (1960), die Staatsrechtlichen Abhandlungen von R. Smend (2. Aufl. 1968), die "Studien zur deutschen Staatstheorie und Verfassungsgeschichte" ("Bewahrung und Wandlung") eines E. R. Huber (1975); repräsentativ für die Monographie ist die mehrfache Auflage von G. Leibholz, "Die Repräsentation in der Demokratie" (1. Aufl. 1929; 2. Aufl. 1960; 3. Aufl. 1966; Reprint 1973)*« Die einzelne Literaturgattung wird hier zum "Gefäß" eines Stücks lebendiger Verfassung: im weit, d. h. kulturell unter Einbeziehung der "Literatur" verstandenen Sinne. Auch der 6. Neudruck der 3. Auflage von G. Jellineks "Allgemeiner Staatslehre" (1959) oder der unveränderte Nachdruck der 1933 erschienenen 14. Auflage des Kommentars zur Weimarer Reichsverfassung von G. Anschütz (1960) ist mehr als "Verfassungsgesc/wcAte" im Spiegel zweier Literaturgattungen: es bezeugt diese Autoren als "Klassiker"39 im Verbund einer konkreten Verfassungskultur und ihre Literatur als Klassikertexte der Staats- bzw. Verfassungslehre40. Gerade im Deutschland von heute schafft die Lebendigkeit der Weima-
38 Repräsentativ auch die 2. Aufl. von G. Leibholz, Die Gleichheit vor dem Gesetz, 1959 (1. Aufl., 1924), wobei die Kontinuität dieses Klassikertextes als Verfassungstext i. w. S. auch der Rezeptionstätigkeit des BVerfG zu verdanken ist (Belege bei G. Leibholz, ebd., Vorwort zur 2. Aufl., S. 1 ff.). Auch der von C. Link besorgte Band Der Gleichheitssatz im modernen Verfassungsstaat, 1982 (Symposion zum 80. Geburtstag von G. Leibholz) ist ein Beleg für die im Text formulierte These von staatsrechtlicher Literatur (Weimars) als Klassikertext (zum Bonner GG). 39 40
Siehe dazu P. Häberle, Klassikertexte im Verfassungsleben, 1981.
Wobei das inhaltlich tragende Zitiertwerden naturgemäß der Hauptindikator der Lebendigkeit eines wissenschaftlichen Werkes bleibt. Zu "Fußnoten als Instrumente der Rechtswissenschaft": P. Häberle / A. Blanken agel, Rechtstheorie 19 (1988), S. 116 ff.
6. Verfassungslehre und rechtswissenschaftliche Literaturgattungen
rer Staatsrechtslehre in vielen Literaturgattungen eine Kontinuität, Abgründe bzw. Diskontinuitäten der NS-Zeit Brücken baut41.
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die über die
10. Bei aller Vielfalt der direkten und nur vermittelten, der allgemeinen und speziellen, kurz- und langatmigen Literaturformen 42 zum Verfassungsstaat bleibt die Aufgabe, die Literaturvielfalt immer neu zusammenzußhren: zur Sache "Verfassung" und im Rahmen der Wissenschaft "Verfassungslehre". Die in der BR Deutschland gelegentlich übergroße Fülle von Literaturgattungen kann allzu leicht dieses Ziel der inhaltlichen Integration aus dem Blickfeld verlieren: Spezialisierung schlägt in Desintegration um, Information wird zur Desinformation, Orientierung pervertiert zur Desorientierung. Jede spezielle Literaturgattung droht, sich selbst allzu absolut zu setzen und den großen allgemeinen Zusammenhang der kooperativen "Arbeit am Verfassungsstaat" zu vergessen. Die Zusammenführung der einzelnen Literaturgattungen muß nicht nur derjenige leisten, der etwa selbst eine "Verfassungslehre" wagt bzw. schreibt. Sie ist auch von dem zu verlangen, der "nur" einen Rechtsprechungskommentar oder einen Lexikonartikel zu einer Teilfrage verfaßt. Er sollte sich darüber klar werden, welche Inhalte er aus welchen Literaturgattungen wie verarbeitet und möglichst das Ganze im Auge behalten. So sind nicht alle wissenschaftlichen Erkenntnisse schon gleich "kommentarreif". Doch sollte der Kommentator den Mut haben, gegebenenfalls über den "Tellerrand" anderer Kommentarliteratur hinaus zu blicken und einmal eine pionierhafte Dissertation zu verarbeiten. Mit andern Worten: Der Prozeß der "Kommentarreifung" ist offen zu halten: in den Inhalten wie in den Literatur formen, aber es gibt eine Art "Vermutung" für die Relevanz vorhandener Kommentarliteratur (in Ablehnung wie Zustimmung), was "alternativen Ehrgeiz" in erklärten oder verdeckten "Alternativ-Kommentaren" nicht ausschließt43. Umgekehrt muß gewiß nicht alle Kommentarliteratur im Rahmen einer wagemutigen Monographie sichtbar verarbeitet werden44. Das wissenschaftliche Lehrbuch sollte ein Mindestmaß an "Selbststand" sogar
41
In der Schweiz ist die Kontinuität im Inhaltlichen in Auswertung aller einschlägigen Literaturgattungen eindrucksvoll dokumentiert bei D. Schindler, Die Staatslehre in der Schweiz, JöR 25 (1976), S. 255 ff. 42 Man denke an den Generationen prägenden Lexikonartikel, vielleicht auch an den Handbuch-Aufsatz und die "kurzatmigen", aber nicht weniger wichtigen Zeitschriftenrezensionen. 43 Vgl. die Diskussion um den A K GG von 1984, dazu W. Graf Vitzthum, D Ö V 1984, S. 918 ff. - Auch das auf fünf Bände geplante "Handbuch des Staatsrechts" (Bd. 1 und 2,1987) ist auf eine Weise eine "Antwort" auf das "Handbuch des Verfassungsrechts" (2 Bde., 1983/84, zu diesem M. Kloepfer, Durch pluralistische Verfassungswissenschaft zum einseitigen Medienrechtskonzept, AfP 1983, S. 447 ff.). 44 Beispiele dazu im Blick auf die Schweiz in meiner Rezensionsabhandlung: Kommentierung statt Verfassunggebung?, D V B I 1988, S. 262 (266).
134
I. Methoden
gegenüber einem so dominanten Gericht wie dem deutschen Bundesverfassungsgericht behalten: Es würde sonst zur bloßen "Glosse". Kurz: Der Austausch zwischen den Literaturgattungen, die wechselseitigen Möglichkeiten und Grenzen hier sind ganz bewußt ins Auge zu fassen. Es gilt zwar der Grundsatz der Offenheit ("Durchlässigkeit") aller Literaturgattungen für alle anderen Literaturgattungen (sie sind in ihrem "Wirkbereich" potentiell "universal", so spezifisch ihr "Werkbereich" ist und sein soll), doch sind die angedeuteten Differenzierungen gleichfalls zu bedenken.
ΙΠ. Ausblick Aufgabe eines "Besonderen Teils" unseres Themas wäre es, die speziellen Strukturen und Funktionen der einzelnen rechtswissenschaftlichen Literaturgattungen "werkspezifisch" an Beispielen zu erarbeiten. Dabei hätten als Grundsatzfragen im Hintergrund zu stehen: Was kann die einzelne Literaturgattung direkt oder indirekt einer Verfassungslehre vermitteln? Was vermag gerade das Lehrbuch, das Handbuch, der Lexikonartikel, die Monographie, die Buch-, Zeitschriften- und Urteils-Rezension usw. kurz-, mittel- und langfristig beizutragen, um Verfassungslehre zu betreiben und auszubauen? In dem Maße, wie diese von und in den Prozessen der (kulturellen) Rezeption und (Re)Produktion mit den Teilwissenschaften der Jurisprudenz lebt, insonderheit mit der Staatsrechtslehre, der Verfassungsgeschichte und der Verfassungs(rechts)vergleichung, muß sie sich für Fülle und Vielfalt der Literaturgattungen dieser Teüdisziplinen offen halten. Da die Verfassungslehre als "Typus-Lehre" sich aus den (historischen und kontemporären) "Beispielen" der Einzelverfassungen "aufbaut" und da diese Einzelverfassungen nicht nur in und aus den "objektiven" Texten der Verfassungsurkunde, sondern auch in vielen "subjektiven" literarischen Äußerungen leben, ist sie auf eben diese Literaturformen angewiesen. Verfassungslehre wird zwar ihre "ideale" (Zwischen-)Summe und ihr "reales" Konzentrat in einem Lehrbuch wie dem von C. Schmitt (1928, letzte Aufl. 1983) oder H Heller (1934, 6. Aufl. 1983) auch C. 7. Friedrich (1951 bzw. 1953) sowie K. Loewenstein (Verfassungslehre, 1958, 2. Aufl. 1969) finden: Solche großen Würfe sind aber nicht jeder Epoche des Verfassungsstaates vergönnt. Verfassungslehre kann sich auch in Teüarbeiten äußern, etwa in einem geglückten Lexikonartikel "Verfassung" 45 oder mehr oder weniger versteckt in 45 Meines Erachtens beispielhaft gelungen bei P. Badura, Art. Verfassung, Evangelisches Staatslexikon, 2. Aufl., 1975, Sp. 2707 ff.; ders., Art. Verfassung, Evangelisches Staatslexikon, 3. Aufl., 1987, Sp. 3737 ff. Hilfreich auch A. Dittmann, Art. Kulturverfassungs- und Verwaltungsrecht, Staatslexikon, 7. Aufl., 3. Bd., 1987, S. 773 ff.; T. Würtenberger jun., Art. Pluralismus, Ergänzbares Lexikon des Rechts, 1985, 5/550); K. Schiaich, Neutralität als verfassungsrechtliches
6. Verfassungslehre und rechtswissenschaftliche Literaturgattungen
135
einzelnen bedeutsamen Monographien46, Abhandlungen47, in Kommentierungen48 des GG oder sogar in Autobiographien eines seiner "Verfassungsväter" (hier von Carlo Schmid )49. Damit öffnet sich ein riesiges Arbeitsfeld für "Wissenschaft über Wissenschaft": Die einzelnen Literaturgattungen müßten in ihren theoretischen Ansprüchen und ihrem realen Erscheinungsbild, in ihren Traditionen und in ihrer Weiterentwicklung "aufgelistet" werden. Jeder einzelne Autor ist durch eine derartige Aufgabe heute bei weitem überfordert (was ihn aber nicht entmutigen sollte); nur die letztlich übernationale Wissenschaftlergemeinschaft im ganzen vermag Elemente dieses Gesamtbildes beizusteuern und zu "malen". Dabei kann die Hoffnung, auf diesen literarischen bzw. literaturwissenschaftlichen "Wegen" einer großen Sache zu dienen, zusätzliche Schubkraft verleihen: das Bewußtsein, daß dem Typus "Verfassungsstaat" auch von der nur formal erscheinenden Seite der Literaturgattung her Bestand und Zukunft gesichert wird. Verfassungslehre wird hier ein Stück weit Literaturwissenschaft, diese ein Stück Verfassungslehre. Freilich: Alle "gute", noch so differenzierte Literatur macht per se noch keinen Verfassungsstaat, aber sie bringt und hält ihn auf ihre Weise (mit) auf seinem Weg. Der Verfassungsstaat 50 muß letztlich von seinen Bürgern gelebt werden. Die "kleine" Schweiz bleibt hier für uns Deutsche nach wie vor das ebenso große wie nur schwer erreichbare Vorbild.
Prinzip, 1972, bes. S. 236 ff. ("Neutralität und Staatsverständnis"); E. H. Riedel, Theorie des Menschenrechtsstandards, 1986; K. G. Meyer-Teschendorf, Staat und Kirche im pluralistischen Gemeinwesen, 1979. 46 Zum Beispiel bei H. Ehmke, Wirtschaft und Verfassung, 1961, bes. S. 1-87; B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982; H.-P. Schneider, Die parlamentarische Opposition im Verfassungsrecht der BR Deutschland, Bd. 1, 1973, S. 46 ff. 47
Zum Beispiel U. Scheuner, Das Wesen des Staates und der Begriff des Politischen, in: FS Smend, 1962, S. 225 ff.; A. Hollerbach, Ideologie und Verfassung, in: Ideologie und Recht, hrsg. von W. Maihofer, 1968, S. 37 ff.; D. Grimm, Verfassungsfunktion und Grundgesetzreform, AöR 97 (1972), S. 489 ff. 48 Vor allem in den Kommentierungen von G. Dürig, in: Maunz / Dürig, Art. 1, 2 und 3 GG; Elemente auch bei P. Badura, Staatsrecht, 1986 (z. B. zum Stichwort "Staatsaufgaben", S. 194 f.); C. Starck, in: v. Mangoldt-Klein / Starck, GG Kommentar, Bd. 1, 3. Aufl., 1985 (zum Stichwort "Verfassunggebende Gewalt", ebd., S. 5 f.). 49 Vgl. Carlo Schmid, Erinnerungen, 1979, bes. S. 318 ff. ("Der Parlamentarische Rat und das Grundgesetz"). Aus der Sekundärliteratur: G. Hirscher, Carlo Schmid und die Gründung der Bundesrepublik, 1986. 50
Zu dessen Menschenbild meine Schrift: Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 1988.
10 Häberle
Teil II
Inhalte
7. Die verfassunggebende Gewalt des Volkes im Verfassungsstaat - eine vergleichende Textstufenanalyse* I. Fragestellung und Methode Der demokratische Verfassungsstaat von heute versteht sich und lebt von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes her. Sie ist teils in den Verfassungstexten ausdrücklich als solche ausgewiesen, - sie wurde in der Verfassungsgeschichte des Typus "Verfassungsstaat" bald revolutionär, bald evolutionär (vor allem gegen die verfassunggebende Gewalt der Monarchen) durchgesetzt - , teils wurde sie "ungeschrieben" von Wissenschaft und Praxis entwickelt, auf Begriffe gebracht, verfeinert und ganz oder teilweise in Verfassungstexte umgesetzt Wie kaum sonst ergibt sich das für den Typus Verfassungsstaat "in Sachen Verfassunggebung" Gharakteristische aus einem Ensemble und "Kräfteparallelogramm" von politischen Ideen, wissenschaftlichen Doktrinen, geschriebenen Verfassungstexten und ungeschriebener Praxis. So groß die Unterschiede von Land zu Land je nach der nationalen Verfassungsgeschichte auch in der Gegenwart sind: Heute hat sich ein Konzentrat von "Lehren" und von Praxis zur verfassunggebenden Gewalt des Volkes entwickelt, das bei allen "Variationen" einen Grundtypus erkennen läßt. Er wird im folgenden vorrangig aus den sich in der Geschichte wandelnden und von Nation zu Nation je nach Kulturzustand verschiedenen Verfassungstexte/ι erarbeitet - doch bedarf es dabei der Berücksichtigung der (Verfassungs-)Geschichte der "politischen Lehrmeinungen" (ohne daß diese alle im einzelnen dargestellt werden könnten); denn sie haben zu bestimmten Verfassungstexten geführt und diese fortentwickelt, wie umgekehrt diese Verfassungstexte als "Material" und Herausforderung für die weitere Theoriebildung gewirkt haben bzw. wirken sollten. Speziell im Deutschland des 19. Jahrhunderts kam es überdies zu Formen des "Paktierens" zwischen den die Verfassunggebung beeinflussenden "Subjekten" (Monarch und Stände bzw. Volk), an die die - heute wieder aktuellen - Gedanken von der "Verfassung als Vertrag" erinnern1. • 1
AöR 112 (1987), S. 54 ff.
Dazu P. Saladin, Verfassungsreform und Verfassungsverständnis, AöR 104 (1979), S. 345 ff.; P. Häberle, Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 438 ff.; s. auch P. Badura, Staatsrecht, 1986, S. 7: "Das ältere ... Bild des Vertrages, also der Verständigung, Einigung und Vereinbarung, behält in seinem Kernpunkt für Sinndeutung der Verfassung seine Richtigkeit".
140
II. Inhalte
Das Schrifttum ist schon im deutschsprachigen Raum unübersehbar2 und es setzt sich in wechselnden Frontstellungen und Rezeptionsweisen mit den Autoren Sieyès 3 und C. Schmitt in einer Weise auseinander, die diese zu "Klassikern"4, mitunter auch "Gegenklassikern" zu diesem Thema macht. Ihre einschlägigen Schriften bzw. Thesen wirken "wie" geschriebene Verfassungstexte, ja sie sind mehr und strahlen intensiver aus als die Verfassungstexte so mancher einzelner verfassungsstaatlicher Verfassungen: Sie haben eine das einzelstaatliche Beispiel oft übersteigende typisierende Macht entwickelt und konstituieren ein kulturelles Kraftfeld "produktiv" und "rezeptiv" mit, in dem sich das Problem "verfassunggebende Gewalt des Volkes" befindet und weiterentwickelt. Die folgenden Verfassungstexte sind also immer im "Kontext" solcher politischen bzw. wissenschaftlichen "Klassikertexte" mitzulesen, was diese nicht der Kritik oder dem Bedürfnis nach Fortentwicklung entzieht, sondern sie ihnen gerade öffnet bzw. aussetzt. Das neuere Schrifttum läßt einen detaillierten Vergleich des Verfassungstextmaterials in der ganzen historischen und kontemporären Dimension vermissen5. Eine Verfassungslehre hat, bei aller Einsicht in die "kulturelle Unterfütterung" jedes juristischen Textes von den (historisch und kontemporär miteinander verglichenen) Verfassungsfójtten auszugehen. Erst auf ihrem Beispielshintergrund kann das Typische eines Problems, auch das Mögliche, Notwendige und Wirkliche 6 einer verfassungsstaat-
2
C. Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 75 ff.; W. Henke, Die verfassunggebende Gewalt des deutschen Volkes, 1957; K. Loewenstein, Verfassungslehre, 2. Aufl. 1969, S. 138 ff.; U. Steiner, Verfassunggebung und verfassunggebende Gewalt des deutschen Volkes, 1966 (dazu P. Häberle, in: AöR 94 (1969), S. 479 ff.); C. / . Friedrich, Der Verfassungsstaat der Neuzeit, 1953, S. 148 ff.; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 143 ff.; D. Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die BR Deutschland, 1978 (dazu mein Beitrag in AöR 106 [1981], S. 149 ff.). - Aus der Schweiz: vgl. die Nachweise unten Anm. 77, P. Häberle, Verfassungsinterpretation ..., ZSR 1978, S. 1 ff., sowie U. Häfelin, Verfassunggebung, in: Probleme der Rechtssetzung, Referate zum Schweizer Juristentag, 1974, Schweizer Juristenverein Bd. 108, S. 77 ff. - Aus Österreich: vgl. unten Anm. 84 sowie L. K. Adamovich / B.C. Funic, österreichisches Verfassungsrecht, 3. Aufl. 1985, S. 98 ff. 3 Zu ihm: E. Zweig, Die Lehre vom pouvoir constituant, 1909, S. 116 ff.; Κ. Stern, Das Staatsrecht der BR Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 146 feiert ihn zu Recht als "Entdecker" der verfassunggebenden Gewalt; das Klassikerzitat ist "la division du pouvoir constituant et du pouvoir constitué". Zur Wirkung auf das BVerfG vgl. E 1, 14 (61): "Eine verfassunggebende Versammlung hat höheren Rang als die auf Grund der erlassenen Verfassung gewählte Volksvertretung. Sie ist im Besitz des pouvoir constituant". 4 Zu den Erscheinungsformen und Methoden der (Re-)Produktion von "Klassikertexten im Verfassungsleben" meine gleichnamige Schrift, 1981. 5
Ansätze aber bei K. Stern, aaO, S. 147 und E.-W. Böckenförde, Gewalt des Volkes - Ein Grenzbegriff des Verfassungsstaates, 1986, S. 15 f.
Die verfassunggebende
6 Die Dissertation von H. von Wedel, Das Verfahren der demokratischen Verfassunggebung, dargestellt am Beispiel Deutschlands 1848/49, 1919, 1948/49 (1976) hat zwar das Verdienst, an exemplarischen Beispielen (s. Untertitel) die Verfassunggebung "in der Praxis" (S. 85 ff.) zu erarbei-
7. Die verfassunggebende Gewalt des Volkes
141
liehen Problemlösung erschlossen werden (auch im Blick auf künftige " Verfassungspolitik"). Erst im Durchgang durch die "wissenschaftliche Verfassungstextveraibeitung" kann es zu fortgeschriebenen wissenschaftlichen Folgerungen kommen: etwa im Blick auf die Konzeption der Verfassunggebung als pluralistischem Prozeß, der Relativierung ihres Unterschieds gegenüber der "Verfassungsänderung" und sogar (zum Teü) gegenüber der verfassungsrichterlichen Grundsatzentscheidung, schließlich im Blick auf die Frage der kulturellen "Grenzen " der im Rahmen des Typus Verfassungsstaat nur evolutionären, nicht mehr revolutionären Verfassunggebung. Bei aller "Demokratisierung" der verfassunggebenden Gewalt im Laufe der Geschichte hat sie sich heute im Gegensatz zur klassischen Tradition eines Sieyès und C. Schmitt pluralisiert und konstitutionalisiert 1. Sie ist nicht mehr grundsätzlich ungebunden, auch nicht in verfahrensrechtlicher Hinsicht. Es gibt einen "gemeinen" (Europa und Nordamerika verbindenden) Kanon von Inhalts- und Verfahrensregeln der verfassunggebenden Gewalt des Volkes: jedenfalls im Typus "Verfassungsstaat" und im Rahmen einer als Kulturwissenschaft betriebenen Verfassungslehre. "Pouvoir constituant" und "pouvoirs constitués" sind sich entscheidend näher gekommen und nicht durch Welten voneinander getrennt wie dies die revolutionäre Ideologie eines Sieyès 1789 glauben machte und historisch - wegen des "Sprungs" der Revolution - vielleicht glauben machen mußte und wie dies im Deutschland des Revolutionsjahres 1918 ebenfalls nahelag.
Π. Der Problemkatalog: fünf Fragenkreise als Kontinuum im Wandel der Verfassungstexte Im einzelnen ergeben sich folgende anhand der im historischen und aktuellen Vergleich erarbeiteten Verfassungstexte 8 typologisch aufgeschlüsselten ßnf Problemkreise, die einerseits das im Verfassungsstaat Typische in Sachen "ver-
ten, doch dringt auch sie nicht zu einer typologischen Textstufenanalyse vor. Immerhin wird ein Vierphasen-Modell sichtbar: die "Ausgangstage" (S. 87 ff.), die "Träger des Neuerungswillens" (S. 123 ff.), die Schaffung eines Organs für die Verfassunggebung (S. 152 ff.), die "Schaffung eines Verfassungsentwurfs" (S. 191 ff.) und die "Ratifikation" (S. 270 ff.). Damit wird die Wirklichkeit der historischen Prozesse von Verfassunggebung nach Typischem aufgeschlüsselt. Im Verbund mit der hier versuchten Tertstufenanalyse ist dies ein weiterführender Weg. 7 Dazu - am Beispiel der Schweiz - mein Berner Vortrag Verfassungsinterpretation und Verfassunggebung, in: Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978, S. 182 ff. 8 Derartige historische und kontemporäre Tex Xstufen an a ly sen unternimmt der Verf. spätestens seit den Aufsätzen: Vielfalt der Property Rights..., AöR 109 (1984), S. 36 (52 ff.); Die Freiheit der Wissenschaften..., AöR 110 (1985), S. 329 (333 ff.); Die Freiheit der Kunst..., AöR 110 (1985), S. 577 (580 ff.) - hier Nr. 20,18 und 19.
142
II. Inhalte
fassunggebende Gewalt des Volkes", andererseits aber auch die große Bandbreite denkbarer verfassungspolitischer ?rob\tmlösungen erkennen lassen: (1) An welchen "Stellen" bzw. in welchen Abschnitten behandeln die einzelnen Verfassungswerke textlich-systematisch das Problem der verfassunggebenden Gewalt des Volkes? "Schon" in der Präambel (vgl. das GG), in Grundsatz- oder erst bzw. auch in Schlußbestimmungen (so in Art. 146 GG) oder überhaupt nicht (wird sie also "systemimmanent" vorausgesetzt und "praktiziert" - in Orientierung an der seit 1789 entwickelten Lehre (Sieyès), die in immer neuen Textvarianten um einen Grundtypus kreist?). (2) Wer ist in welchen Verfahren als "Subjekt" in die Prozesse der Verfassunggebung eingeschaltet: ausweislich der Verfassungstexte, aber auch in den "politischen Vorverfahren": in diesen Pluralismus wirken heute Parteien, Verbände, Kirchen, einzelne Persönlichkeiten, die Wissenschaft (im Spanien und Portugal der 70er Jahre, in der Türkei der 80er Jahre [auch] das Militär) mit9. Verfassungsgeschichtlich kämpften - im Spiegel der Verfassungs-Texte ablesbar - in Deutschland Fürst und Stände bzw. Volksvertretungen darum, "Subjekt" der Verfassunggebung zu sein. Oktroyierte Verfassungen (wie die preußische von 1848) waren Ausdruck der verfassunggebenden Gewalt des Monarchen, paktierte (wie die revidierte preußische von 1850) bildeten einen Vertrag bzw. Kompromiß zwischen Fürst und Ständen bzw. dem sie repräsentierenden Volk. Erst spät, d. h. seit 1918, rückte in Deutschland das Volk in die alleinige "Subjektstellung" in Sachen verfassunggebende Gewalt ein10. (3) Wird die verfassunggebende Gewalt des Volkes schon textlich auf bestimmte Verfahren festgelegt oder nicht? Gibt es ausdrücklich-textlich bestimmte Verfahrensvarianten? Zum Beispiel: Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung mit anschließendem Plebiszit bzw. ohne ein solches oder sind diese vom Typus Verfassungsstaat immanent gefordert? Denkbar ist auch das Fehlen jeder direkt demokratischen ex ante Legitimation des Verfassunggebers (so für das GG von 1949). Die Schweiz ist in der "Prozessualisierung" der Verfassunggebung insofern besonders weit vorgestoßen, als sie einen festen Kanon von geschriebenen Verfahrensregeln zur "Totalrevision" entwickelt hat, die heute zur "Substanz" dieses Verfassungsstaates gehören dürften: auf Bundesebene ebenso wie kantonal.
9 Zur Rolle der Streitkräfte vgl. Präambel Verf. Portugal (1976/82) und Präambel Verf. Türkei (1982), dazu unten bei Anm. 64 bzw. 74 ff. 10
K. Stern, aaO, S. 147, trifft die Feststellung, die Lehre vom pouvoir constituant sei der wichtigste Anwendungsfall der Idee der Volkssouveränität, sie sei im demokratischen Verfassungsstaat selbstverständlich, "aber der Weg dorthin war ein dornenreicher".
7. Die verfassunggebende Gewalt des Volkes
143
(4) Ist die verfassunggebende Gewalt des Volkes textlich in einen "Kontext" bestimmter - normativierender - Inhalte (wie Menschenwürde, Gerechtigkeit, historische Vorgänge) eingebettet (ζ. B. meist in Präambeln oder durch "Bekenntnisartiker), die damit die Konturen des Typus Verfassungsstaat umreißen, oder erscheint sie als ungebundene, freie "normativ aus dem Nichts" entstehende "Gewalt"? (5) Damit zusammenhängend: Gibt es geschriebene oder ungeschriebene ("selbstgebende" oder kulturell aufgegebene) Grenzen der verfassunggebenden Gewalt des Volkes: abgelesen aus den Verfassungstexten (besonders in den Präambeln), Verfassungsgerichtsentscheidungen (BVerfGE 1, 14 (61 f.): 1. Neugliederungsurteil!) bzw. entwickelt von der Wissenschaft, die sich ihrerseits an den Texten bzw. einem Konzentrat des Typus Verfassungsstaat in Sachen Verfassunggebung orientiert?
III. Die Einzelanalyse 1. Die US-amerikanische und französische Tradition
a)Die US-Bundesverfassung von 1787 n normiert in klassischer Weise die verfassunggebende Gewalt des Volkes schon in ihrer Präambel: "Wir, das Volk der Vereinigten Staaten, in der Absicht eine vollkommene Union zu schließen ... verordnen und geben für die Vereinigten Staaten von Amerika diese Verfassung" 12.
b) Auf dem europäischen Kontinent hat die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt ihren Klassiker- und Verfassungstext in Art. 3 der "Déclaration des Droits de l'homme et du citoyen" Frankreichs (1789): "Der Ursprung aller Souveränität befindet sich wesentlich in der Nation. Kein Körper, kein einziger Bürger kann eine Gewalt ausüben, die nicht ausdrücklich davon ausgeht."13
11
Zit. nach B. Dennewitz, Die Verfassung der modernen Staaten, I. Band, 1947, S. 54 ff.
12
Historisch war die berühmte Declaration of rights von Virginia (1776) vorausgegangen, die in der Sache textlich erkennbar ebenfalls von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes ausgeht, vgl. die Eingangsformulierung: "Eine Erklärung der Rechte, von den Vertretern des guten Volkes von Virginia gegeben in vollzähliger und freier Versammlung darüber, welche Rechte ihnen und ihrer Nachkommenschaft als Grundlage und Fundament der Regierung zustehen", "II. Daß alle Gewalt im Volke ruht und folglich von ihm abgeleitet ist ...". - Schon diese Texte legen nahe, daß "noch für die Väter der amerikanischen Bundesverfassung eine solche Bindung (sc. an inhaltliche Grundwerte) auch des Verfassunggebers "selbstverständlich" war (H. Steinberger, Konzeption und Grenzen freiheitlicher Demokratie, 1974, S. 190 unter Hinweis auf die Idee des "limited government" als einer Treuhandschaft). 13 Zit. nach B. Dennewitz, aaO, S. 77 ff. - Die französische Verfassung von 1848 formuliert in Art. 1 (zit. nach J. Godechot, Les Constitutions de la France depuis 1789, 1979, S. 264): "La sou-
144
II. Inhalte
Die verfassunggebende Gewalt ist von der gesetzgebenden (z. B. Art. 6 ebd.: "Das Gesetz ist der Ausdruck des allgemeinen Willens") freilich noch nicht unterschieden14. In der klassischen französischen Tradition steht ζ. B. Verf. Belgien (1831) mit dem Satz15 des Art 25: "(1) Alle Gewalten gehen von der Nation aus. (2) Sie werden in der von der Verfassung vorgeschriebenen Form ausgeübt."
Die verfassunggebende Gewalt ist offenbar mindestens potentiell (wenn auch negativ) "ins Visier" genommen in Art. 130 Verf. Belgien in dem Satz: "Die Verfassung kann weder ganz noch teilweise aufgehoben werden". Denn ein eigener Titel VII gilt dann der "Revision der Verfassung" 16. Ein Blick in die Verfassung von Norwegen (1814/1967) bestätigt das Bild, daß die Verfassungen des älteren Typus zwar mit Verfassungsänderungen rechnen, sie aber den Begriff "verfassunggebende Gewalt" textlich nicht ausdrücklich verwenden, mögen sie auch vom Problem der Grenzen her das Problem "ahnen". So heißt es in § 1 Verf. Norwegen: "Das Königreich Norwegen ist ein freies, selbständiges, unteilbares und unveräußerliches Reich. Seine Regierungsform ist eine beschränkte und erbliche Monarchie."
Im übrigen ist jedoch nur ein Abschnitt C "Bürgerrecht und gesetzgebende Gewalt" normiert (§ 49: "Das Volk übt die gesetzgebende Gewalt durch das Storting aus..."). Die Frage der Verfassungsänderung ist zusammen mit einer verfassungsgeschichtlich pionierhaft gewordenen "Ewigkeitsklausel" (§ 112 Abs. 1: "... eine solche Änderung [darf] keineswegs den Grundsätzen dieser Verfassung widersprechen, sondern lediglich in einzelnen Bestimmungen betreffen, die nicht den Geist dieser Verfassung verändern") geregelt17.
veraineté réside dans l'universalité des citoyens français". S. auch Art. 3 Abs. 1 Verf. 1958: "La soveraineté nationale apparient au peuple..." 14 Zu einem Klassikertext ist auch das Dekret vom 21. September 1792 geworden (zit. nach J. Godechot, Les Constitutions de la France depuis 1789, 1979, S. 79: "La Convention nationale déclare: 1. Qu'il ne peut y avoir de Constitution que celle qui est acceptée par le peuple". Es hat freilich schon 1793 seinen "Konkurrenz"-Klassikertext in Art. 28 der Verfassung von 1793 gefunden (zit. nach Godechot, aaO, S. 82): "un peuple a toujours le droit de revoir, de réformer et de changer sa Constitution. Une génération ne peut assujettir à ses lois les générations futures". 15
Zit. nach P. C. Mayer-Tasch (Hrsg.), Die Verfassungen Europas, 2. Aufl. 1975, S. 40 ff.
16
S. auch Verf. Luxemburg (1868/1972), zit. nach Mayer-Tasch, ebd. S. 348 ff., Art. 32: (1) "Die souveräne Gewalt liegt bei der Nation". (2) "Der Großherzog übt sie gemäß dieser Verfassung und der Gesetze des Landes aus". Die "Allgemeinen Bestimmungen" befassen sich nur mit der "Änderung einer Verfassungsbestimmung" (Art. 114), nicht mit einer als solche ausgewiesenen Verfassunggeòwng/ 17
Dazu allgemein unten IV.3.
7. Die verfassunggebende Gewalt des Volkes
145
c) Offensichtlich ist die volle Integrierung der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes i.S. von "1789 ff." in die Texte der (nichtfranzösischen) Verfassung im Europa des 19. Jahrhunderts nicht ganz geglückt. Dies leisten erst die Verfassungstexte des 20. Jahrhunderts, die damit den Typus "Verfassungsstaat" weiterentwickelt haben18. Die Gründe dürften mehrfacher Art sein. Zunächst liegt es psychologisch nahe, daß ein aktueller Verfassunggeber nicht an die Instanz denkt, die sein Werk beseitigt: an den "postkonstitutionellen" Verfassunggeber. Speziell in Deutschland stand das französische Prinzip der Volkssouveränität in Rivalität mit dem "monarchischen Prinzip" 19. Dieses wirkte sich ebenso konsequent wie erfolgreich in den "oktroyierten" Verfassungen des 19. Jahrhunderts aus, in Gestalt der sog. paktierten Verfassungen begann sich aber auch ein Stück der "mit"-verfassunggebenden Gewalt des Volkes zu entwickeln bzw. durchzusetzen. Erst mit dem Sieg der Volkssouveränität im Augenblick der Ausrufung der Republik (1918) wurde in Deutschland der Weg frei für einen Verfassungstext, der wie die WRV (1919) formuliert: in der Präambel einerseits: "Das Deutsche Volk, einig in seinen Stämmen und von dem Willen beseelt, sein Reich in Freiheit und Gerechtigkeit zu erneuern...hat sich diese Verfassung gegeben,"20
in dem Schlußartikel 181 andererseits: "Das Deutsche Volk hat durch seine Nationalversammlung diese Verfassung beschlossen und verabschiedet. Sie tritt mit dem Tage ihrer Verkündung in Kraft."
Im übrigen stand der verfassungstextlichen Integrierung der verfassunggebenden Gewalt des Volkes auch die politische Philosophie von Sieyès und ihre Tradierung bzw. "Weiterentwicklung" im Dezisionismus von C. Schmitt im Wege: Er konzipierte die verfassunggebende Gewalt (des Volkes) als das Unverfaßte und Unverfaßbare 21. C. Schmitt registrierte die "anerkannt demokrati-
18
Dazu unten nach Anm. 37 ff.
19
Dazu Erich Kaufmann, Studien zur Staatslehre des monarchischen Prinzips (1906), ζ. T. jetzt in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I (1960), S. 1 ff. 20 S. auch die bekenntnishafte Festlegung auf bestimmte Grundwerte wie "Freiheit", "Gerechtigkeit", Dienst am "inneren und äußeren Frieden" etc. 21 Vgl. C. Schmitts Klassikertext in: Verfassungslehre, 1928, S. 79: "Auf der verfassungsgebenden Gewalt ruhen alle verfassungsmäßig konstituierten Befugnisse und Zuständigkeiten. Sie selbst aber kann sich niemals verfassungsgesetzlich konstituieren. Das Volk, die Nation bleibt der Urgrund allen politischen Geschehens ...". S. 84: "Der verfassunggebende Wille des Volkes ist ein unmittelbarer Wille. Er steht vor und über jedem verfassungsgesetzlichen Verfahren. Kein Verfassungsgesetz, auch keine Verfassung, kann eine verfassunggebende Gewalt verleihen und die Form ihrer Betätigung vorschreiben". - Mit Recht sieht U. Steiner, Verfassunggebung und verfassunggebende Gewalt, 1966, S. 217 ff. C. Schmitts Begriff der verfassunggebenden Gewalt durch eine "völlige, juristische wie politische Form-losigìcàf gekennzeichnet, den pouvoir constituant von Sieyès aber durch "Formfreiheit".
146
II. Inhalte
sehen Verfahren", die sich in den modernen Demokratien herausgebildet haben nur als "Praxis"22. Er geht auf die Varianten (auch anhand von Texten) ein, integriert diese aber nicht wirklich in seine Theorie. Verfassungstertgestalt und -Wirklichkeit bleiben im Grunde "neben" seiner Theorie von der verfassunggebenden Gewalt23. Anders geht der Ansatz dieses Teils einer Verfassungslehre vor 24 . Er versucht, ihre "Theorien" aus der Mitte der historisch und kontemporär miteinander verglichenen Verfassungstexte im Wandel zu erarbeiten. So manche heutige ScAmitf-Tradition und -Rezeption verdient den Vorwurf, daß sie die Theorien von C. Schmitt ernster nimmt als viele positiven (!) Verfassungstexte! Die wissenschaftliche Wirkungsgeschichte seiner Lehren verdeckt bis heute nicht wenige aufschlußreiche Aussagen der Verfassungsterte; auch und gerade im Bereich der "verfassunggebenden Gewalt des Volkes". Viele Verfassungstexte spiegeln nämlich sowohl ein Stück einer Theorie der verfassunggebenden Gewalt des Volkes wider als auch ein Stück politischer Praxis. (Oft ist die Praxis "klüger" als die Theorie!) Vor allem aber stellt der "historische" Kompromißcharakter wohl jeder verfassungsstaatlichen Verfassung (greifbar auch im Wertepluralismus so mancher Präambel) einen heilsamen Zwang dar, "reine Theorien" kritisch zu überprüfen.
2. Die frühkonstitutionellen Verfassungen in Deutschland
Verfassungen in Werfen wir einen Blick auf die frühkonstitutionellen Deutschland, um den "Geist der Verfassungen" dieser Zeit speziell für das Problem der verfassunggebenden Gewalt auf die Spur zu kommen. Die Verfassungsurkunde für das Königreich Bayern von 1818 wurde ohne Mitwirkung einer Volksvertretung vom König in Kraft gesetzt25. Der Verfassungstext spiegelt dies in der Weise wider, daß schon in der Präambel dem monarchischen Prinzip
22
AaO, S. 84.
23
Ganz im Banne von C. Schmitt z. B. W. Henke, Die verfassunggebende Gewalt des deutschen Volkes, 1957, S. 25: "Sie (sc. die verfassunggebende Gewalt des deutschen Volkes) ist "immer im Naturzustand" ... Es gibt schlechterdings keine säkularen Regeln für die Wirksamkeit der verfassunggebenden Gewalt". Immerhin kann auch Henke angesichts konkreter Verfassungstextgeschichte seine "Theorie" nicht durchhalten. Er will (S. 57 Anm. 29) die "herrschende Theorie" (in Frankreich) hinsichtlich der verfassunggebenden Gewalt aus den JRevuie/uvorschriften des Verfassungsgesetzes (ζ. B. von Tit. V I I Art. 1 Verf. 1791) entnehmen, "weil die konstituierenden Versammlungen jeweils der Meinung waren, sie regelten darin die verfassunggebende Gewalt". 24
S. schon P. Häberle, Besprechung von U. Steiner in: AöR 94 (1969), S. 479 (483 ff.).
25
Dazu E. R. Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1,1961, S. 141.
7. Die verfassunggebende Gewalt des Volkes
147
gemäß die Gottesgnadentum-Formel steht26. Gleiches gilt für die Verfassungsurkunde das Großherzogtums Baden (1818)27. Anders verhält es sich mit der Verfassungsurkunde für das Königreich Württemberg (1819)28. Sie beginnt in ihrer Präambel zwar auch mit der Gottesgnaden-Klausel ("Wilhelm, von Gottes Gnaden König von Württemberg"). Doch findet sich - ebenfalls in der Präambel - am Schluß (!) der Passus: "...so ist endlich durch höchste Entschließung und allerunterthänigste Gegenerklärung eine vollkommene beiderseitige Vereinigung über folgende Punkte zu Stande gekommen". Damit war diese Verfassung vom 25.9.1819 die "erste vereinbarte Verfassung", der erste "Verfassungsvertrag" zwischen Fürst und Volk in der Entwicklung des deutschen Konstituionalismus29. Konsequent findet sich im *Sc/z/u/?paragraphen (§ 205) das Gelöbnis des Königs für sich und die Nachfolger, "den gegenwärtigen Vertrag fest und unverbrüchlich... zu halten und zu erfüllen" 30. Die verfassunggebende Gewalt ist als solche sonst nicht in den Texten angesprochen, während Normen zur Verfassungsänderung üblich werden31.
3. Die Paulskirche und das Schleswig-Holsteinische Staatsgrundgesetz von 1848
a) Die Zeit der Paulskirche brachte in Sachen verfassunggebende Gewalt des Volkes für Deutschland auch im Spiegel der Verfassungstexte Neues hervor; wurden sie wegen des Scheiterns der Paulskirche auch niemals "voll wirksam" - kulturell strahlten die Texte im 19. Jahrhundert stark nach. So heißt es in der Verfassung des Deutschen Reiches vom 28. März 1849 eingangs: "Die deutsche verfassunggebende Nationalversammlung hat beschlossen, und verkündigt als Reichsverfassung" 32. 26
Einzelheiten in meinem Beitrag: Gott im Verfassungsstaat?, FS Zeidler, 1987, S. 3 ff. - hier
Nr. 9. 27
Zit. nach E. R. Huber, aaO, S. 157.
28
Zit. nach E . R. Huber, ebd., S. 171 ff.
29
So E. R. Huber, ebd., S. 171.
30
Die Verfassungsurkunde für das Kurßrstentum Hessen (1831) beruhte ebenfalls auf einer Vereinbarung zwischen dem Landesherrn und den Landständen (vgl. E. R. Huber, aaO, S. 201). Spuren dieser Vereinbarung finden sich im Text der Präambel in den Worten: "Eintracht zwischen Fürst und Untertanen", "volles Einverständnis mit den Ständen". - Auch in der Verfassungsurkunde für das Königreich Sachsen (1831, zit. nach E. R. Huber, aaO, S. 223) findet sich in der Präambel ein vertragsähnliches Moment ("mit Beirath und Zustimmung der Stände"). 31 Dazu historisch und vergleichend: K. Loewenstein, Über Wesen, Technik und Grenzen der Verfassungsänderung, 1961. 32 S. auch den Zusatz am Schluß des Verfassungstextes (zit. nach Dürig / Rudolf, Texte zur deutschen Verfassungsgeschichte, 1967, S. 121): "Zur Beurkundung: Frankfurt a. Main, dem 28.
148
II. Inhalte
b) Ein herausragendes Beispiel für die wachsende Kraft des Volkes, wesentlich auch verfassunggebende Gewalt zu sein, liefert das schleswig-holsteinische Staatsgrundgesetz vom 15. September 184833. Die Präambel beschreibt ein Stück konkreter Verfassungsgeschichte in Sachen verfassunggebende Gewalt in den Worten: "Nachdem kraft des mit Zustimmung der vereinigten Schleswig-Holsteinischen Ständeversammlung erlassenen Wahlgesetzes vom 13ten Juli d. J. alle mündigen Staatsbürger jeden Standes aufgefordert waren, Abgeordnete für eine neue volksvertretende Versammlung zu berufen, um in Übereinstimmung mit der Landesregierung die Verfassung des Landes festzustellen; nachdem ferner die solchergestalt gewählte, am 15ten August d. J. zusammengetretene Landesversammlung nach vorgängiger Berathung und Besch lu ßnahme, auch nach bewirkter Verständigung mit der provisorischen Regierung über mehrere einzelne Artikel des gegenwärtigen Staatsgrundgesetz zur Genehmigung vorgelegt hat und solchem am 9ten d. M . von der provisorischen Regierung namens des Landesherrn ihre Zustimmung ertheilt worden: So wird gegenwärtiges Gesetz als Grundgesetz für die Herzogtümer Schleswig-Holstein hierdurch zur öffentlichen Kunde gebracht" 34.
In Art. 155 (im Rahmen des Abschnitts "XIV. Transitorische Bestimmungen") heißt es ausdrücklich: "Die verfassunggebende Landesversammlung bleibt nach Verkündung dieses Staatsgrundgesetzes bis zum Zusammentreten der ersten ordentlichen Landesversammlung bestehen..."
Das Besondere der schleswig-holsteinischen Verfassunggebung liegt darin, daß die verfassunggebende Versammlung aus allgemeinen und gleichen Wahlen hervorging und "insoweit uneingeschränkt die Volkssouveränität in repräsentativer Form" verwirklichte 35. Der Herzog war auf eine Genehmigungsbefugnis der im übrigen bereits durch die Landesversammlung ausgearbeiteten Verfassung beschränkt36. Das Zusammenwirken von verfassunggebender Gewalt des Volkes und der des Herzogs wurde durch einen Formelkompromiß festgehalten und harmonisiert, aber das höhere Gewicht lag hier - im Gegensatz zu allen anderen deutschen Verfassungen jener Zeit - beim Volk von Schleswig-Holstein. Im Rahmen der hier verfolgten Textsiw/e/ientwicklung darf die schleswigholsteinische Verfassung besondere Aufmerksamkeit beanspruchen. Sie ist ein Pioniertext der deutschen Verfassungsgeschichte, weit über das kleine Land hinaus: insofern sie "kurz vor" dem Erfolg einer dem Fürsten bzw. Monarchen März 1849. Martin Eduard Simson von Königsberg in Preußen, d. Z. Präsident der verfassunggebenden Reichsversammlung". 33
Dazu J. Krech, Das schleswig-holsteinische Staatsgrundgesetz vom 15. September 1848,
1985. 34
Zit. nach J. Krech, aaO, S. 303.
35
J. Krech, aaO, S. 125.
36
J. Krech, aaO, S. 139 f.
7. Die verfassunggebende Gewalt des Volkes
149
gegenüber entschwundenen ungeteilten verfassunggebenden Gewalt allein des Volkes steht. Die nächste - demokratische - Stufe der sich in Verfassungstexten spiegelnden verfassunggebenden Gewalt des Volkes ist in Deutschland die WRV von 1919137
4. Die Weimarer Zeit
Eine neue Etappe in der Textstufenentwicklung in Sachen verfassunggebende Gewalt setzt in Deutschland mit der Revolution von 1918 ein. Die danach in Kraft gesetzten Verfassungen bedeuten einen Sieg der verfassunggebenden Gewalt des Volkes und sind insofern Ausdruck der Volkssouveränität Das Volk ist alleiniger "Träger" bzw. Subjekt dieser Gewalt geworden. Die Texte behalten zwar die Tradition des 19. Jahrhunderts bei, das Problem schon in der Präambel oder auch in den Schlußbestimmungen zu regeln, inhaltlich und prozedural kommt jedoch Neues auf. Es ist auf Reichsebene klar in der Präambel der WRV (1919) zum Ausdruck gelangt: "Das Deutsche Volk, einig in seinen Stämmen und von dem Willen beseelt, sein Reich in Freiheit und Gerechtigkeit zu erneuern und zu festigen, dem inneren und dem äußeren Frieden zu dienen und den gesellschaftlichen Fortschritt zu fördern, hat sich diese Verfassung gegeben."
Damit ist die verfassunggebende Gewalt i. S. des obigen Problemkatalogs (Nr. 4) in den Dienst bestimmter inhaltlicher Ziele gestellt: Grundwerte wie "Freiheit" und "Gerechtigkeit", "innerer" und "äußerer Friede", "gesellschaftlicher Fortschritt" werden zu Bekenntnisinhalten "verinnerlicht" (und zugleich objektiviert), die das Dogma von der grundsätzlich unbeschränkten dezisionistischen verfassunggebenden Gewalt schon objektiv- und positivrechtlich widerlegen. Da die Wahlen zur verfassunggebenden Nationalversammlung am 19. 1. 1919 als solche durchgeführt wurden, konnte auch der Schlußartikel 181 mit Recht formulieren: "Das deutsche Volk hat durch seine Nationalversammlung diese Verfassung beschlossen und verabschiedet". Damit war eine mögliche Variante der Verfassunggebung des Volkes, nämlich die Wahl zu einer verfassunggebenden Versammlung textlich und praktisch Wirklichkeit geworden. Der geschichtliche Vorgang dieser konkreten Verfassunggebung durch ein Volk wurde zu einer sich in den Verfassungstexten spiegelnden "typischen" 37 Die preußische sog. revidierte Verfassung von 1850 bleibt demgegenüber ein Stück zurück. Das zeigt sich im Text der Präambel ("Wir, Friedrich Wilhelm von Gottes Gnaden, König von Preussen..., das Wir (!) ...die Verfassung in Übereinstimmung mit beiden Kammern endgültig festgelegt haben". Obwohl sich König und Kammern "verständigt" hatten (dazu E. R. Huber, aaO, S. 401), auch beide Kammern die Arbeit an der Revision der oktroyierten Verfassung von 1848 aufgenommen hatten, hatte der König textlich sozusagen das "letzte Wort".
150
II. Inhalte
Verfahrensform für Verfassunggebung des Volkes überhaupt Die spätere Theorie der verfassunggebenden Gewalt des Volkes hätte allen Grund gehabt, sich dadurch "belehren* zu lassen: Es macht damals wie heute Sinn, von einer "Theorie der Praxis" und einer "Praxis der Theorie" der verfassunggebenden Gewalt des Volkes zu sprechen und diese auf den Begriff zu bringen. Zugleich war eine i.S. des Problems Nr. 3 mögliche Verfahrensform kreiert 38. Die Länderverfassungen der Weimarer Zeit entsprachen dem Typus der verfassunggebenden Gewalt des Volkes. In ihren Texten und ihrer Praxis finden sich aber auch manche Varianten 39. Sehr viele Verfassungen sprechen in ihren Präambeln mehr oder weniger klar von der verfassunggebenden Gewalt des jeweiligen (Landes)Volkes40. Sie lassen auch erkennen, daß der Ausarbeitung und Verkündung der Verfassung Wahlen zu einer verfassunggebenden Versammlung vorausgingen 41. Viele beließen es bei dem Präambelinhalt42, d.h. dem Hinweis auf die erfolgten Wahlen zu einer verfassunggebenden Versammlung und der von ihr besorgten Ausarbeitung und Verkündung eines Verfassungstextes. Nur einige wenige Länderverfassungen unterwarfen auch die von der Verfassunggebenden Versammlung erarbeitete Verfassung einem nachfol-
38 C. Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 85 beschreibt zwar den Vorgang von 1919 im Lichte des Art. 181 W R V (nicht der Präambel!), doch minimalisiert er seine Bedeutung, vor allem zieht er keine Konsequenzen für eine Revision seiner Theorie von der verfassunggebenden Gewalt von der Praxis her! 39 Die folgenden Texte und Daten sind zit. nach O. Ruthenberg (Hrsg.), Verfassungsgesetze des Deutschen Reiches und der deutschen Länder, 1926. 40 Vgl. Präambel Verf. Baden: "Das badische Volk hat durch die am 5. Januar 1919 gewählte verfassunggebende Nationalversammlung die nachstehende Verfassung vom 21. März 1919 beschlossen". - Verf. Bayern: "Das bayerische Volk hat durch den am 12. Januar und 2. Februar 1919 gewählten Landtag dem Freistaat Bayern diese Verfassung gegeben". - Verf. Braunschweig (1922): "Die verfassunggebende Landesversammlung hat die nachfolgende Verfassung beschlossen...". Verf. Hamburg (1921): "Das hamburgische Volk, vertreten durch die am 16. März 1919 gewählte Bürgerschaft, hat sich diese Verfassung gegeben". - Verf. Hessen vom 12. Dezember 1919: "Das Hessische Volk hat durch die am 26. Januar gewählte verfassunggebende Volkskammer in Ausführung des Art. 10 der vorläufigen Verfassung für den Freistaat (Republik) Hessen die nachstehende Verfassung vom 12. Dezember 1919 beschlossen". - Ähnlich Verf. Lippe (1920), MecklenburgSchwerin (1920), Oldenburg (1919), Preußen (1920), Sachsen (1920). - Besonders ausführlich: Präambel Verf. Württemberg vom 25. September 1919: "Im Namen und als Vertretung des württembergischen Volkes hat die am 12. Januar gewählte verfassunggebende Landesversammlung die Verfassung Württembergs am 26. April 1919 beschlossen und, nach Inkrafttreten der Verfassung des Deutschen Reiches, am 25. September 1919 neu gefaßt. Sie wird hiermit als Grundgesetz des Landes verkündet". 41 42
S. die Belege in der vorigen Fußnote.
Ζ. B. Anhalt, Bayern, Braunschweig, Hamburg, Hessen, Lippe, Mecklenburg-Schwerin, Oldenburg, Preußen, Sachsen, Württemberg.
7. Die verfassunggebende Gewalt des Volkes
151
genden Plebiszit 43. Nur wenige Landesverfassungen verzichten auf Formeln zur "verfassunggebenden Gewalt des Volkes"44.
5. Verfassunggebung In Westdeutschland nach 1945
a) Die (west)deutschen Landesverfassungen nach 1945 markieren den Beginn einer in den Inhalten und Formen neuen Textstufe in der Entwicklungsbzw. Verfassungsgeschichte der verfassunggebenden Gewalt des Volkes. Wie seit der Weimarer Zeit präsentiert sich das (Landes-)Volk als alleiniges Subjekt der verfassunggebenden Gewalt, doch ist aus den Texten zu erkennen, daß es sich seinem Selbstverständnis nach in übergeordnete Normen und Verantwortungszusammenhänge eingebettet weiß. Es kommt zu Bekenntnisartikeln (meist in Präambeln) mit normativen, grundwertbezogenen Zusätzen, die den Typus "Verfassungsstaat" grundieren und auf den folgenden Text "einstimmen", die aber auch den zwischen den pluralistischen Gruppen ausgehandelten Kompromißcharakter der Verfassungen widerspiegeln. Auch finden sich manche Aussagen zu den Verfahren, in denen sich die verfassunggebende Gewalt tatsächlich geäußert hat und wohl auch (dem Typus Verfassungsstaat entsprechend) äußern soll. Den vielleicht deutlichsten Ausdruck für die "Normativierung" und der verfassunggebenden Gewalt des Voldamit auch "Konstitutionalisierung" kes hat die Verf. Bayern (1946) erarbeitet. Ihre Präambel lautet: "Angesichts des Trümmerfeldes, zu dem eine Staats- und Gesellschaftsordnung ohne Gott, ohne Gewissen und ohne Achtung vor der Würde des Menschen die Überlebenden des zweiten Weltkrieges geführt hat, in dem festen Entschluß, den kommenden deutschen Geschlechtern die Segnungen des Friedens, der Menschlichkeit und des Rechts dauernd zu sichern, gibt sich das Bayerische Volk, eingedenk seiner mehr als tausendjährigen Geschichte, nachstehende demokratische Verfassung."
Die normative Einbindung und (Selbst)Verpflichtung des Verfassunggebers auf die Grundwerte der Verfassung schon in der Präambel, die den Verfassungsstaat auch sonst prägen45, könnte kaum intensiver und plastischer formuliert werden. Allerdings geht aus dem Verfassungstextf selbst nicht hervor, in
43 So ausdrücklich § 69 Verf. Baden: "Diese Verfassung unterliegt der Volksabstimmung", worauf (mit Abstand) der Passus folgt: "Vorstehende Verfassung ist am 13. April 1919 in der Volksabstimmung angenommen worden...". 44 Ζ. B. Verf. Thüringen vom 11. März 1921: "Der Landtag von Thüringen hat folgendes Gesetz beschlossen". 45 Vgl. Art. 100 Verf. Bayern vom 2. Dezember 1946: Schutz der Menschenwürde, Art. 131 Abs. 2 ebd.: Erziehungsziel der Achtung "vor der Würde des Menschen", Abs. 3 ebd.: "Völkerversöhnung".
11 Häberle
152
II. Inhalte
welchem Verfahren (etwa durch Wahlen zu einem verfassunggebenden Landtag) diese Verfassung vom Volk gebilligt wurde46. Das verfassungstextliche Auslassen dieser Vorgänge erklärt sich vielleicht daraus, daß den bayerischen "Vätern und Müttern" bzw. ihren wissenschaftlichen Ratgebern (wie H. Nawiasky) der verfahrensrechtliche Weg zur "Verfassunggebung" seitens des Volkes via "Dreitakt" - Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung, Verabschiedung eines Verfassungstextes, Annahme durch das Volk (nach dem Voibild der Schweiz) - "selbstverständlich" erschien47. Die Verfassung von Hessen (1946) gibt sich in den normativen Bekenntnisinhalten sparsamer48. Doch ist ihr im Rahmen der Übergangsbestimmungen die letzte Phase des "Weges" der Verfassunggebung wichtig genug, um sie vorzuzeichnen. Art. 160 Abs. 1 lautet: "Diese Verfassung tritt mit ihrer Annahme durch das Volk in Kraft. Gleichzeitig tritt das Staatsgrundgesetz vom 22. November 1945 außer Kraft."
In Abs. 2 ebd. ist, wenn auch verschachtelt und eher nebenbei, von einer (offenbar bestehenden) "verfassungsberatenden Landesversammlung" die Rede. Die Verf. Rheinland-Pfalz vom 18. Mai 194749 verbindet im Verfassungstext Elemente des bayerischen und des hessischen "Modells": Einerseits ist in der Präambel der Verantwortungszusammenhang vor "Gott, dem Urgrund und Schöpfer aller menschlicher Gemeinschaft" hergestellt; auch werden die Grundwerte "Freiheit" und "Würde des Menschen", "soziale Gerechtigkeit", "wirtschaftlicher Fortschritt aller" betont, auf deren Hintergrund "sich das Volk von Rheinland-Pfalz diese Verfassung gegeben hat". Andererseits befaßt sich Art. 144 (im Rahmen der "Übergangs- und Schlußbestimmungen") mit dem Verfahren der Verfassunggebung in den Worten: "Diese Verfassung tritt mit ihrer Annahme durch das Volk in Kraft". Wiederum zeigt sich ein charakteristisches Textelement: Der Verfassunggeber rahmt sich - und die Verfassung - vom Textanfang (Präambel) und Textende (Schlußbestimmung) her buchstäblich ein.
46 Dazu aus der Lit.: T. Meder, Die Verfassung des Freistaates Bayern, Handkommentar, 3. Aufl. 1984, S. 57: Annahme durch Volksentscheid vom 1. Dezember 1946; vorausgegangen war die vom bayerischen Volk am 30. Juni 1946 gewählte verfassunggebende Landesversammlung. 47 Lt. C. Pesta lozza, Verfassungen der deutschen Bundesländer, 2. Aufl. 1981, S. X I traten alle Länderverfassungen der Jahre 1947 und 1948 (mit Ausnahme von Hamburg und Berlin) in Kraft, nachdem sie das jeweilige Landesvolk und die jeweilige Besatzungsmacht gebilligt hatten. 48 Vgl. die eher karge Präambel: "In der Überzeugung, daß Deutschland nur als demokratisches Gemeinwesen eine Gegenwart und Zukunft haben kann...". 49 Ihre Entstehung ist vorzüglich dokumentiert in dem Band: Die Entstehung der Verfassung von Rheinland-Pfalz, bearb. von H. Klaas, 1978.
7. Die verfassunggebende Gewalt des Volkes
153
Die übrigen Landesverfassungen, auch die späteren nach 1949 in Kraft getretenen50, enthalten im Vergleich zu denen von Bayern, Hessen und Rheinland-Pfalz keine grundsätzlich neuen Elemente. Vereinzelt kommt es sogar vor, daß in der Präambel nicht das Volk als Träger der verfassunggebenden Gewalt auftritt 51, sondern die Bürger 52. Vor allem fällt auf, daß, von den Stellen in den Präambeln und Schlußvorschriften abgesehen, die verfassunggebende Gewalt des Volkes als solche nicht weiter behandelt ist 53 - nur die Verfassungsänderung wird durchweg verfahrensrechtlich und oft auch in ihren (materiellen) Grenzen geregelt54. b) Das deutsche Grundgesetz vom 23. Mai 1949 hat das Problem der verfassunggebenden Gewalt des Volkes an drei Stellen in eine verfassungstextliche 50 Ζ. B. Berlin (1950), Verf. Nordrhein-Westfalen von 1950 (Präambel und Art. 90). - S. auch Verf. Baden-Württemberg (1953): Präambel: "... hat sich das Volk von Baden-Württemberg ... kraft seiner verfassunggebenden Gewalt durch die verfassunggebende Landesversammlung diese Verfassung gegeben". Im übrigen finden sich hier alle verfassunggebenden Momente der (Selbst)Bindung dieser verfassunggebenden Gewalt: "Verantwortung vor Gott und den Menschen", ferner Bekenntnisse zu den Grundwerten "Freiheit" und "Würde des Menschen", "Friede", "soziale Gerechtigkeit", "wirtschaftlicher Fortschritt", "neues demokratisches Bundesland", "feierliches Bekenntnis zu den unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten und den Grundrechten der Deutschen". Es handelt sich wohl um die normativ dichteste Präambelgestalt in Sachen verfassunggebende Gewalt des Volkes. - Im Grunde zieht sie eine "Summe" aus den Verfassungen der drei neugegliederten Länder, vgl. Verf. Baden (1947): Präambel und Art. 130 Abs. 2 [Annahme durch Volksabstimmung!]), Verf. Württemberg-Hohenzollern (1947: Präambel), Verf. Württemberg-Baden (1946; keine Präambel, aber Art. 108: "Das Volk des Landes Württemberg-Baden hat dieser von seiner verfassunggebenden Landesversammlung entworfenen Verfassung durch Volksabstimmung vom 24. November zugestimmt"). 51 So heißt es in Bremen (Verf. vom 21.11.1947): "... sind die Bürger des Landes willens, eine Ordnung des gesellschaftlichen Lebens zu schaffen". Im übrigen taucht der Kanon der seit 1945 weiterentwickelten Grundwerte auf: "soziale Gerechtigkeit", "Menschlichkeit", "Friede" und zusätzlich Schutz des "wirtschaftlich Schwachen" vor Ausbeutung, allen Arbeitswilligen Sicherung eines "menschenwürdigen Daseins". Indessen ist der Schlußartikel 155 ("Inkrafttreten") in seiner .Stf//forderung durch das Verfahren typisch: "Diese Verfassung ist nach ihrer Annahme durch Volksentscheid vom Senat unverzüglich im Bremischen Gesetzblatt zu verkünden und tritt mit dem auf ihre Verkündung folgenden Tage in Kraft". - Ganz am Schluß kommt die "Vollzugsmeldung "Diese Verfassung ist von der Bürgerschaft am 15. September 1947 beschlossen und durch Volksabstimmung am 12. Oktober 1947 angenommen worden. Sie wird hiermit vom Senat verkündet." 52 Präambel Verf. Nordrhein-Westfalen (1950) formuliert: "... haben sich die Männer und Frauen des Landes Nordrhein-Westfalen diese Verfassung gegeben." 53 S. allenfalls Verf. Berlin (1950), Art. 88 Abs. 2: "Die Verfassung ist bei Abschluß eines Friedensvertrages und bei Verkündung einer Verfassung für Deutschland einer Überprüfung zu unterziehen." Das kann auch "Verfassunggebung" bedeuten, denn in Abs. 1 ist technisch von "Änderungen" der Verfassung die Rede. - Verf. Württemberg-Baden (1946) nimmt Teile seiner von der Verfassunggebenden Landesversammlung erarbeiteten und durch Volksabstimmung gebilligten Verfassung zurück in der besonderen Bestimmung des Art. 105: "Bestimmungen dieser Verfassung, die der künftigen deutschen Verfassung widersprechen, treten außer Kraft, sobald diese rechtswirksam wird." - Dieser Vorbehalt zugunsten "fremder" Verfassunggebung (im Bundesstaat) verdient Beachtung. 54
Vgl. meinen Beitrag in: FS Haug, 1986, S. 81 ff. - hier Nr. 25.
154
II. Inhalte
Gestalt gebracht: zum einen in der Präambel ("Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt,... hat das deutsche Volk in den Ländern Baden, Bayern ... um dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben, kraft seiner verfassunggebenden Gewalt dieses Grundgesetz ... beschlossen. Es hat auch für jene Deutschen gehandelt, denen mitzuwirken versagt war. Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden."). Ihre Elemente in Sachen Verfassunggebung des Volkes sind in den auf bestimmte Grundwerte bezogenen Willensbekundungen geläufig ("von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinigten Europa dem Frieden der Welt zu dienen"). Historisch neu ist jedoch die "Stellvertretung" für die Deutschen der Ostzone bzw. der DDR und der Verfassungsauftrag (auch) an den deutschen Verfassunggeber, "die Einheit Deutschlands zu vollenden"55. Zum anderen ist die verfassunggebende Gewalt des (gesamten) Volkes in Art. 146 GG in einen durch die deutsche Teilung bedingten einzigartigen Text gegossen. ("Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen ist")56. Nur selten gibt es solche Texte, in denen der Verfassunggeber sein eigenes Werk relativiert und unter einen Vorbehalt stellt57. Schließlich findet sich ein aus Präambeln anderer Verfassungen bekanntes, die Verfassunggebung des Volkes in einem Bekenntnisartikel einrahmendes Element in Art. 1 Abs. 2 GG: "Das deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt."
Diese "Verinnerlichung" von bestimmten Grundwerten durch das deutsche Volk hat sich hier in einen Text objektiviert, sozusagen kulturell "kristallisiert" und sie bildet einen positiven Ansatzpunkt für eine (auch) kulturwissenschaftli55
Vgl. BVerfGE 36, 1 (16): "Im Grundgesetz ist auch die Auffassung vom gesamtdeutschen Staatsvolk und von der gesamtdeutschen Staatsgewalt Verankert' (BVerfGE 2, 266 / 277)." ... Die Bundesrepublik "fühlt sich aber auch verantwortlich für das ganze Deutschland (vgl. Präambel des Grundgesetzes)." 56 Auch Verf. Irland (1937) geht auf die Teilung des Landes ebenfalls in der Präambel ein ("... auf daß ... die Einheit unseres Landes wiederhergestellt ... werde, nehmen wir diese Verfassung an...". Art. 3: "Bis zur Wiedervereinigung des Staatsgebiets und unbeschadet des durch diese Verfassung begründeten Rechts von Parlament und Regierung, die Rechtshoheit über das gesamte Staatsgebiet auszuüben..." (zit. nach Mayer-Tasch, aaO.). 57
BVerfGE 5, 85 (131) spricht von Art. 146 GG als "in die Zukunft gerichteter Überleitungsnorm". - M. Kirn, in: von Münch (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. 3, 2. Aufl. 1983, Rdnr. 2 zu Art. 146: "transitorischer Vorbehalt" des GG.
7. Die verfassunggebende Gewalt des Volkes
155
che Deutung der "Grenzen" bzw. Ziele verfassunggebender Gewalt des deutschen Volkes.
6. Verfassunggebung in ausländischen Verfassungsstaaten (1937-1986)
Ein Blick in die Verfassungen ausländischer Verfassungsstaaten der letzten 50 Jahre läßt folgenden Wandel erkennen: Die Verfassungen der 30er bis 60er Jahre nehmen sich textlich der verfassunggebenden Gewalt in eher sparsamer Weise an58. Eine neue Textentwicklungsstufe ist aber seit den 70er Jahren zu beobachten. Im einzelnen: a) Die Verf. Irland (1937)59 macht in ihrer Präambel das Volk zum Subjekt der verfassunggebenden Gewalt ("... Wir, das Volk von Irland ... nehmen diese Verfassung an, setzen sie in Kraft und geben sie uns"), doch sind die "invocatio dei" ("im Namen der Allerheiligsten Dreifaltigkeit, von der alle Autorität kommt") und Grundwerte (wie "Gerechtigkeit", "Barmherzigkeit", "Würde und Freiheit des Individuums" sowie "gerechte soziale Ordnung", "Eintracht mit anderen Nationen") so starke normative "Einrahmungen"60, daß von einer "unbeschränkten verfassunggebenden Gewalt des Volkes" nicht gesprochen werden kann. Zugleich nimmt die Verf. Irland damit eine Textstufe vorweg, die in Deutschland erst in den Länderverfassungen nach 1945 erreicht worden ist. Die Verfassung Island vom 17. Juni 1944 verzichtet zwar auf einen Präambeltext zur verfassunggebenden Gewalt, doch leistet sie einen Beitrag zu Praxis und Theorie des Problems durch § 80, der eine geheime Abstimmung vorsieht und das Inkrafttreten des Verfassungsgesetzes von der Annahme durch eine "Mehrheit der Wähler" im Lande abhängig macht, "sobald das Althing es beschließt"«. b) Die Verfassungswerke der 70er Jahre ergeben in Sachen verfassunggebende Gewalt folgendes Bild: Ohne den Begriff der "verfassunggebenden Ge58
S. aber die stark aufgeladene Präambel Irland von 1937 (dazu sogleich).
59
Zit. nach P. C. Mayer-Tasch (Hrsg.), Die Verfassungen der nicht-kommunistischen Staaten Europas, 2. Aufl. 1975. 60
Entsprechend Art. 6 Abs. 1: "Alle Regierungsgewalt, die gesetzgebende, vollziehende und rechtsprechende, gehen nächst Gott vom Volke aus...". 61 Verf. Italien (1947) verzichtet auf eine Präambel und damit auch auf eine feierliche Berufung auf die verfassunggebende Gewalt des Volkes, doch spricht Art. X V I I I der Übergangs- und Schlußbestimmungen von der "Annahme" (der Verfassung) durch die Verfassunggebende Versammlung. Ihre Wahl war 1947 vorausgegangen, zuvor hatte sich das Volk in einer Abstimmung für die Republik ausgesprochen (dazu P. C. Mayer-Tasch,, aaO., S. 312). - Zur Verf. Frankreichs von 1946 unten Anm. 115.
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II. Inhalte
wait" arbeitet die schwedische Verfassung von 197562. Dasselbe gilt für die griechische Verfassung von 197563. Ein farbiges Panorama von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes zeichnet indes die Verfassung von Portugal 64 Sie beginnt mit der wortreichen, erzählerischen Präambel, die ein Stück Verfassungsgeschichtschreibung und "Vergangenheitsbewältigung" ist65, aber auch eine grundwertebezogene "Einrahmung" des Vorgangs der Verfassunggebung leistet. Durch den Wechsel von der Vergangenheits- in die Gegenwartsform wird auch sprachlich eine feierliche Spannung erzeugt Abs. 3 der Präambel lautet: "Die Revolution gab den Portugiesen die Grundrechte und Grundfreiheiten zurück. In Wahrnehmung dieser Rechte und Freiheiten versammeln sich die legitimen Vertreter des Volkes, um eine den Bestrebungen des Landes entsprechende Verfassung auszuarbeiten. Die Verfassunggebende Versammlung bestätigt die Entschlossenheit des portugiesischen Volkes, die nationale Unabhängigkeit zu verteidigen, die Grundrechte der Staatsbürger zu garantieren, die wesentlichen Grundsätze der Demokratie festzulegen, den Vorrang der Rechtsstaatlichkeit zu sichern und den Weg für ein sozialistisches Gesellschaftssystem unter Beachtung des Willens des portugiesischen Volkes zu eröffnen, im Hinblick auf die Errichtung eines freien, gerechteren und brüderlichen Landes. In ihrer am 2. April 1976 abgehandelten Plenarsitzung billigt und verkündet die Verfassunggebende Versammlung folgende Verfassung der Republik Portugal."
Im folgenden Verfassungstext ist von Verfassunggebung sonst nicht die Rede, nur allgemein von der sich auf die Grundsätze der Menschenwürde und des Volkswillens gründenden "souveränen Republik" (Art. 1) bzw. von der "beim Volk" liegenden politischen Gewalt (Art. 111). Das eingehende Kapitel zur "Verfassungsrevision" (Art. 286 bis 291) fällt durch zeitliche und Verfahrenshürden auf, vor allem aber auch durch zahlreiche "materielle Revisionsschranken" (Art 290)66. Sie umschreiben die Identität der geltenden Verfassung 62 Zit. nach JöR 26 (1977), S. 369 ff.; doch kommt ihr wohl Kap. 8 § 15 nahe in den Worten: "Grundgesetze werden durch zwei gleichlautende Beschlüsse gegeben. Der zweite Beschluß kann erst gefaßt werden, wenn nach dem ersten Beschluß eine Wahl zum Reichstag stattgefunden hat, und der neugewählte Reichstag zusammengetreten ist." - Damit ist zwar auf ein Plebiszit ex post verzichtet, doch kommt das Volk via Wahlen doch zu Wort, wenn auch nur schwach! 63 Zit. nach JöR 32 (1983), S. 360 ff. In ihr heißt es eingangs: "Im Namen der Heiligen, Wesensgleichen und Unteilbaren Dreifaltigkeit - Das Fünfte Verfassungsändernde Parlament der Hellenen beschließt". Vorausgegangen war 1974 eine Wiederinkraftsetzung der Verfassung von 1952, eine Volksabstimmung, die mit Mehrheit gegen die Monarchie votierte, und die Neuwahl eines "als Revisionsparlament" fungierenden Parlaments, dazu P. Dagtoglou, JöR 32 (1983), S. 355 ff. Darum ist es erklärlich, daß auf einen Formalakt: Verfassunggebung des Volkes verzichtet wurde! Im Grunde handelt es sich aber um Veriassunggebung im Wege der VerfassungsâWerw/ig! Jedenfalls verwischen sich beide Formen in der griechischen Praxis von 1975! 64
Zit. nach JöR 32 (1983), S. 446 ff.
65
Allgemein zur Zeifdimension als Eigenart verfassungsstaatlicher Präambeln mein Beitrag in FS Broermann, 1982, S. 211 (233 ff.) - hier Nr. 8. «
Dazu mein Beitrag in FS Haug, 1986, S. 81 (91) - hier Nr. 25.
7. Die verfassunggebende Gewalt des Volkes
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so umfassend und detailliert, daß für Verfassungsrevisionen wenig Raum bleibt und eigentlich die Alternative nur lautet: "kleine", "verfassungsimmanente" Revisionen oder Verfassungsbruch. Durch ihre "sozialistischen" Komponenten geht die Verf. Portugal ohnedies vereinzelt an die äußerste Grenze des Typus Verfassungsstaat 67, so daß ein Akt der Verfassunggebung fast auch dann "revolutionär" erschiene, wenn er sich im Rahmen des Typus "Verfassungsstaat" hielte. Offenbar handelt es sich um einen Grenzfall. Während Verfassunggebung heute auf dem Hintergrund des Typus Verfassungsstaat in der Sache ein evolutionärer Vorgang ist und eine historisch und kontemporär gearbeitete Verfassungslehre die Inhalte und Verfahren bereit hält, die diese "Evolution" glaubhaft machen, könnte für Portugal anderes gelten. Der Verfassung Spaniens ist jedenfalls ein besserer, zukunftsträchtiger Weg geglückt. Die spanische Verfassung (1978) leistet einen bemerkenswerten Beitrag zur inhaltlichen und formalen, sich schon in ihrem Text spiegelnden Fortentwicklung des Problems der verfassunggebenden Gewalt des Volkes. Sie gehört zwar insofern einer früheren Text-Stufe an als sie nach Art. 1 Abs. 2 "das spanische Volk, von dem alle Staatsgewalt ausgeht", als "Träger der nationalen Souveränität" qualifiziert, indessen in Abs. 3 ebd. die "parlamentarische Monarchie" als "politische Form des spanischen Staates" ausweist. Damit ist ein FormeUKompromiß in Sachen "Subjekt" der verfassunggebenden Gewalt gefunden, der auf die Nation bzw. das Volk rekurriert, aber dem König Raum läßt68. Die an bekenntnishaft formulierten, die Souveränität "einrahmenden" Grundwerten überreiche Präambel endet mit dem Satz: "Kraft dessen beschließt das Parlament und ratifiziert das spanische Volk die folgende Verfassung", womit zugleich ein Stück des Verfahrens "vor-" bzw. "nach-geschrieben" ist69.
67 Ζ. B. Art. 290 g: "demokratische Wirtschaftsplanung", lit. j ebd.: Mitwirkung der populistischen Basisorganisationen an der Ausübung der örtlichen Gemeinschaftsgewalt, aber auch Art. 1: "Ziel der Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft". 68 Ζ. B. "Die spanische Nation, von dem Wunsche beseelt, Gerechtigkeit, Freiheit und Sicherheit herzustellen und dem Wohl aller ihrer Bürger förderlich zu sein, verkündete in Ausübung ihrer Souveränität ihren Willen"; es folgen Ziele wie "das demokratische Zusammenleben im Schutze der Verfassung", "gerechte Wirtschafts- und Sozialordnung", "Rechtsstaat", "Fortschritt von Wirtschaft und Kultur", "gute Zusammenarbeit zwischen den Völkern der Erde", etc. - also durchweg normative Einrahmungen des Verfassunggebers, wie sie sich seit dem 2. Weltkrieg immer stärker entwikkeln. 69 Die ins Deutsche vom spanischen Außenministerium übersetzte Fassung bringt vorweg den Passus: "Die spanische Verfassung gebilligt durch die Cortes in den am 31. Oktober 1978 abgehaltenen Vollversammlungen des Kongresses der Abgeordneten und des Senats - ratifiziert vom spanischen Volk durch Referendum vom 6. Dezember 1978 - sanktioniert durch Seine Majestät den König vor der Cortes am 27. Dezember 1978". (Dieser Text findet sich nicht in JöR 29 [1980], S. 252 ff.)
158
II. Inhalte
Ein neuer, wohl nur den Schweizer Verfassungen im Blick auf deren "Totalrevision" vergleichbarer Verfassungstext findet sich im Titel X "Die Verfassungsreform" 70. Denn hier ist der Versuch gewagt, die verfassunggebende Gewalt wenigstens verfahrensmäßig zu "domestizieren": durch den in einem eigenen Artikel normierten Begriff der "Gesamtrevision der Verfassung". Art 168 lautet: "1.
Im Falle des Vorschlags der Gesamtrevision der Verfassung oder einer Teilrevision derselben, die sich auf den Vortitel auf Titel 1, Kapitel II, Abschnitt 1 oder auf Titel I I bezieht, muß ihre prinzipielle Billigung durch 2 /3 Mehrheit jeder dieser Kammern sowie die sofortige Auflösung der Cortes erfolgen.
2.
Die neugewählten Kammern haben den Beschluß zu ratifizieren und den neuen Verfassungstext zu erörtern, der mit 2 /3 Mehrheit beider Kammern gebilligt werden muß.
3.
Nach Billigung der Reform durch die Cortes Generates wird sie zur Ratifizierung einem Referendum unterworfen."
Der Begriff der "Gesamtrevision" dürfte eine schöpferische Rezeption des Schweizer Instituts der "Totalrevision" sein, die das europaweite "Werkstattgespräch" zwischen den heutigen Verfassunggebern bestätigt. Zwar definiert die spanische Verfassung ihre Idee von "Gesamtrevision der Verfassung" nicht, dies läßt sich auf dem Forum einer konkreten Verfassung textlich wohl auch nicht positiv leisten; man kann allenfalls in Anlehnung an Schweizer Doktrinen71 sagen, "Gesam/revisionen" bezögen sich auf das Substantielle, das Grundsätzliche, das Ganze der Verfassung. Eine gewisse Annäherung an diesen schwierigen Begriff und damit eine inhaltliche Einbindung der verfassunggebenden Gewalt wird aber auf dem (Um)Weg über die zweite Alternative des Art. 168 Abs. 1 möglich; in ihr ist von einer "Teürevision" die Rede, die sich auf den Vortitel, auf Titel I, Kapitel II, Abschnitt 1 oder auf Titel I I bezieht Die in bezug genommenen Texte der spanischen Verfassung regeln eben das Substantielle, das Grundlegende, die Identität sowohl dieser konkreten (spanischen) Verfassung als auch von Teüaspekten des Typus "Verfassungsstaat" als solchen. Der "Vortitel" beinhaltet (sonst wie hier schon in der Präambel "angeklungene") Grundlagennormen wie Art. 1 Abs. 1: "Spanien konstituiert sich als demokratischer und sozialer Rechtsstaat und bekennt sich zu Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit und politischem Pluralismus als obersten Werten seiner Rechtsordnung." Art. 2 ("unauflösliche Einheit der Nation" und "Recht auf Autonomie der Nationalitäten und Regionen"), Art. 3 Abs. 3 ("Reichtum der sprachlichen Verschiedenheiten" Spaniens als ein "Kulturgut"),
70 Dieser Begriff scheint richtiger als der der "Verfassungsänderung", wie er in der Obersetzung in JöR, aaO, S.278 verwendet ist. 71
Dazu unten Anm. 77.
7. Die verfassunggebende Gewalt des Volkes
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Art. 6 (Garantie der politischen Parteien als Ausdruck des "politischen Pluralismus"), Art. 7 (Gewerkschaften und Unternehmerverbände), Art. 8 (Bestand und Aufgabe der Streitkräfte) sowie Art. 9 (Bindung aller an die Verfassung, Freiheit und Gleichheit des Einzelnen und der Gruppen, Teilnahme aller Bürger am politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Leben, Prinzip der Legalität, der Rechtssicherheit etc.).
Titel I, Kapitel II, Abschnitt 1, die ebenfalls (alternativ) in bezug genommen sind, beziehen sich auf die "Grundrechte und öffentlichen Freiheiten", Titel II, die letzte Alternative in Art. 168 Abs. 1 ("oder"), auf Titel II, d.h. "Die Krone"; damit ist die Staatsform der "parlamentarischen Monarchie" zu einem "Essential" gemacht - wie in anderen Verfassungsstaaten die Republik 12. Die Abgrenzung der so umschriebenen "Teilrevision", die sich auf die textlich fixierten Grundlagen der geltenden Verfassung bezieht, und einer "Gesamtreform", die Undefiniert bleibt, ist schwer. Und eben deshalb darf die Aussage gewagt werden, daß Art 168 Verf. Spanien im Grunde von der auf die genannten Texte bezogenen "Teilrevision" her auch der Gesamtrevision nahekommt Mit der Aufrichtung der hohen prozeduralen Hürden in Art 168 Abs. 2 und 3, die die der "einfachen" Verfassungsänderung nach Art. 167 übersteigen, hat Spanien versucht (wie zuvor die Schweiz in vielen ihrer Verfassungen), die "Verfassunggebung" oder ihr nahekommende Grundsatzänderungen von der Verfahrensseite her in den Griff zu bekommen. Intensiver und besser kann dies wohl nicht gelingen. Damit ist aber auch eine neue Etappe auf dem Weg der Normativierung und Konstitutionalisierung der verfassunggebenden Gewalt (des Volkes) zurückgelegt. Spanien gibt ein individuelles "Beispiel", aber zugleich hat der Verfassungsstaat als Typus eine neue Entwicklungsstufe seiner Texte "genommen" und er besitzt jetzt eine mögliche Variante als Vorbild auch für andere Länder "im Angebot". c) In den beiden jüngsten Verfassungen der Türkei (1961 und 1982) zeigt sich ebenfalls, daß und wie die verfassunggebende Gewalt textlich im "Doppelbild" von Präambeln und Schlußvorschriften eingefangen wird. In der Präambel der Verf. vom 27. Mai 196173 heißt es: "Die Türkische Nation ... nimmt diese von der Verfassunggebenden Versammlung der Türkischen Republik entworfene Verfassung an".
Im übrigen ist zuvor ein Bekenntnis zu Grundwerten wie "demokratischer Rechtsstaat", "Menschenrechte", "nationale Solidarität", "soziale Gerechtigkeit" und "Wohlfahrt des einzelnen und der Gesamtheit" abgelegt, wobei die
72 Dazu die Nachweise in meinem Beitrag Verfassungsrechtliche Ewigkeitsklauseln..., in: FS Haug, 1986, S. 81 (87 f.) - hier Nr. 25. 73
Zit. nach P. C. Mayer-Tasch, aaO, S. 728.
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II. Inhalte
Grundprinzipien der Präambel ausdrücklich in den Text einbezogen werden (Art. 2, Art. 156 Abs. 1). Die Schlußvorschrift des Art. 157 Abs. 1 lautet: "Diese Verfassung wird, sobald sie zur Volksabstimmung gestellt und durch Volksabstimmung angenommen worden ist, zur Verfassung der Türkischen Republik..."
Dieses "Modell" findet sich wieder in der durch Volksentscheid am 7. November 1982 angenommenen Verfassung der türkischen Republik74. Ihre Präambel beginnt mit dem Satz: "Als gegen das ewige türkische Vaterland... ein ... blutiger Bürgerkrieg auszubrechen drohte, wurde von den türkischen Streitkräften, die einen untrennbaren Bestandteil der türkischen Nation bilden, auf Anruf die Operation vom 12. September 1980 durchgeführt, in deren Folge diese Verfassung von der aus den legitimen Repräsentanten der türkischen Nation bestehenden Beratenden Versammlung vorbereitet, durch den Nationalen Sicherheitsrat in ihre endgültige Form gebracht und von der türkischen Nation angenommen, gebilligt und unmittelbar durch sie festgelegt wurde." 75
Im historischen und kontemporären Textvergleich dieser sich im übrigen durch üppige Grundwerte auszeichnenden Präambel fällt auf, daß das Volk zwar durch Volksentscheid die Verfassung angenommen und eine "Beratende Versammlung" sie ausgearbeitet hat, sich im übrigen aber ungewohnte Subjekte in den Vorgang der Verfassunggebung gedrängt haben: die türkischen Streitkräfte und der Nationale Sicherheitsrat. Die Staatsgewalt wird zwar in Art. 6 auf die Nation bezogen, und die Präambel "macht" die Streitkräfte zu deren "untrennbaren Bestandteil". Dennoch kommt trotz dieses Sprachtricks hier ein dem Typus Verfassungsstaat fremdes "Subjekt" ins Spiel76.
7. Insbesondere: Die Schweizer "Totalrevision", das prozessuale Minimum (und Optimum) für Verfassunggebung des Volkes
Der Schweiz ist in Gestalt ihrer Verfassungstexte zur "Totalrevision" ein bahnbrechender Beitrag zu Theorie und Praxis, zu Textgestalt und Weiterentwicklung des Problems der verfassunggebenden Gewalt des Volkes 77 im Geiste
74
Zit. nach JöR 32 (1983), S. 552 ff.
75
Die "entsprechende" Schlußvorschrift findet sich in Art. 177 Abs. 1.
76
In Portugal spielten die Streitkräfte in manchem faktisch-politisch eine ähnliche Rolle. Der Verfassungstext von 1982 läßt sie jedoch nur noch im Einleitungssatz der Präambel ahnen: "Am 25. April krönte die Bewegung der Streitkräfte ... und gab damit dem größten Wunsch des Volkes Ausdruck". - Dazu A. Thomashausen, Verfassung und Verfassungswirklichkeit im neuen Portugal, 1981, S. 30 ff. 77
Die Schweizer Lehre unterscheidet zwischen "formeller Totalrevision" (sämtliche Artikel der alten Verfassung werden durch eine neue ersetzt, Beispiel: die Revision der BV von 1874) und "materieller Totalrevision" ("Ein Grundprinzip oder mehrere Grundprinzipien der Bundesverfas-
7. Die verfassunggebende Gewalt des Volkes
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des demokratischen Verfassungsstaates geglückt Die Analyse der einschlägigen Texte der Bundesverfassung und einiger repräsentativer Kantonsverfassungen von heute fördert variationenreiches Textmaterial zutage, bekräftigt aber auch letztlich einen dem Typus "Verfassungsstaat" insgesamt weit über die Schweiz hinaus hilfreichen Gedanken, der auch für andere Länder Vorbild sein könnte (Spanien scheint davon [1978] schon gelernt zu haben!). Die scheinbar so ungebundene, angeblich nicht verfaßbare und auf "Beliebiges" gerichtete verfassunggebende Gewalt des Volkes läßt sich ein Stück weit von der Verfahrensscitt her einbinden. Obwohl oder vielleicht gerade weil es in der Schweiz an ausdrücklichen "Ewigkeitsklauseln", wie sie für viele neuere verfassungsstaatliche Verfassungen typisch sind, mangelt78, hat sich im Problembereich des Verfahrens eine hochdifferenzierte Technik entwickelt, die sich auch in der Praxis der Totalrevision (in neuerer Zeit vor allem auf Kantonsebene) bewährt 79. Das sei im folgenden anhand repräsentativer Verfassungstextbeispiele belegt bzw. aus der Kommentarliteratur verdeutlicht. Der prima facie andere Begriff "Totalrevision" kann nicht verbergen, daß in der Sache die "Verfassunggebung" gemeint ist. a) Art. 118 Bundesverfassung vom 29. Mai 1874 (Stand am 1. April 1985): "Die Bundesverfassung kann jederzeit ganz oder teilweise revidiert werden."
Art. 119: "Die Totalrevision geschieht auf dem Weg der Bundesgesetzgebung."
Art. 120: "(1) Wenn eine Abteilung der Bundesversammlung die Totalrevision beschließt und die andere nicht zustimmt oder wenn 100 000 stimmberechtigte Schweizer Bürger die Totalrevision der Bundesverfassung verlangen, so muß im einen wie im anderen Falle die Frage, ob eine solche stattfinden soll oder nicht, dem schweizerischen Volk zur Abstimmung vorgelegt werden. (2) Sofern in einem dieser Fälle die Mehrheit der stimmenden Schweizer Bürger über die Frage sich bejahend ausspricht, so sind beide Räte neu zu wählen, um die Totalrevision in die Hand zu nehmen."
sung werden geändert", so U. Häfelin / W. Haller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 1984, S. 272 (unter Berufung auf J.-F. Auberi), ebenso Y. Hangartner, Grundzüge des schweizerischen Staatsrechts, Bd. I, 1980, S. 220 f., mit dem Beispiel der Umwandlung der Eidgenossenschaft von einem Bundesstaat in einen zentralistischen Staat). Die Tatsache, daß Hangartner bei der Diskussion über etwaige Schranken der Verfassungsrevision (S. 215 ff.) vom Verfassunggeber spricht (S. 218: "Der Verfassunggeber, der mit dem Volk im Sinne der Gesamtheit der Menschen der Schweiz nicht identisch ist, muß als eingesetzte Gewalt die Grundlage der im Rechtsbewußtsein des Volkes wurzelnden Rechtsordnung respektieren"), ist Ausdruck der in der Schweiz wohl gängigen Übereinstimmung von "Totalrevision" und "Verfassunggebung". Zu den materiellen Schranken der Verfassungsrevision aus Schweizer Sicht zuletzt J. P. Müller, FS Haug, 1986, S. 195 ff. 78
Dazu mein Beitrag in: FS Haug, 1986, S. 81 (86) - hier Nr. 25.
79
Dazu mein Aufsatz: Neuere Verfassungen ..., in: JöR 34 (1985), S. 303 ff.
162
II. Inhalte
Art 123: "(1) Die revidierte Bundesverfassung, beziehungsweise der revidierte Teil derselben treten in Kraft, wenn sie von der Mehrheit der an der Abstimmung teilnehmenden Bürger und von der Mehrheit der Kantone angenommen ist."
Die Mischung von Elementen der repräsentativen und der plebiszitären Demokratie (wobei in jedem Falle in Gestalt der Volksabstimmung das Volk das "letzte Wort" hat) fallt ebenso auf wie die Feinheiten des Verfahrens. Und dieses Verfahren ist auch insofern konsequent als die Präambel der Verfassung bekenntnishaft grundwertebezogen normiert: "Im Namen Gottes des Allmächtigen! Die Schweizerische Eidgenossenschaft, in der Absicht, den Bund der Eidgenossen zu festigen, die Einheit, Kraft und Ehre der schweizerischen Nation zu erhalten und zu fördern, hat nachstehende Bundesverfassung angenommen."80
b) Textbild und Problemlösung entsprechen diesem "Modell" auch auf der Ebene neuerer Kantonsverfassungen so sehr, daß von einem gemeinschweizerischen Verfassungsprinzip 81 gesprochen werden kann. Modellcharakter hat etwa die Regelung in KV Aargau (1980)82. Die Präambel entspricht der schon klassischen Struktur einer auf bestimmte Grundwerte gerichteten "Absicht" (wie "Freiheit und Recht im Rahmen einer demokratischen Ordnung", "die Wohlfahrt aller zu fördern", "die Entfaltung des Menschen als Individuum und Glied der Gemeinschaft zu erleichtern") und in ihrem Sinne "sich die nachstehende Verfassung" zu geben. Der 9. Abschnitt der Revision der Verfassung beginnt in § 121 mit dem Satz: "Die Verfassung kann jederzeit ganz oder teilweise revidiert werden". §§ 123 bis 125 regeln die Totalrevision in dem "Dreitakt": Einleitung, Ausarbeitung durch den Verfassungsrat und Volksabstimmung. § 123:
1)
2)
Das Volk entscheidet aufgrund eines Volksinitiativbegehrens oder eines Beschlusses des Großen Rates vorweg, ob eine Totalrevision der Verfassung einzuleiten ist. Die Totalrevision ist durch einen Verfassungsrat vorzunehmen.
80 Die beiden Bundesentwürfe von 1977 {Totalrevision) bzw. 1984 (Kölz / Müller), zit. nach JöR 34 (1985), S. 536 ff., bleiben auf dieser Linie; vgl. die material angereicherte Präambel des Entwurfs 1977 einerseits ("... haben Volk und Kantone der Schweiz die folgende Verfassung beschlossen"), des Privatentwurfs Köhl Müller andererseits ("Das Schweizervolk ... gibt sich die folgende Verfassung"). S. ferner die Normen der Totalrevision: Art. 112,115 bis 118 Entwurf 1977 bzw. Art. 108 bis 113 Privatentwurf Kölz I Müller (1984). 81 Zu Fragen "gemeinschweizerischen Verfassungsrechts" mein Beitrag in JöR 34 (1985), S. 303 (340 ff.). 82
Zit. nach JöR 34 (1985), S. 437 ff.
7. Die verfassunggebende Gewalt des Volkes
§ 124:
§ 125:
163
1)
Der Verfassungsrat wird auf Anordnung des Regierungsrates aus allen Stimmberechtigten in derselben Mitgliederzahl und auf die gleiche Weise wie der Große Rat gewählt.
2)
Der Verfassungsrat erläßt eine Geschäftsordnung und bestimmt sein Verfahren. Die revidierte Verfassung unterliegt der Volksabstimmung.
Dieses Modell zeichnet sich dadurch aus, daß das Volk in allen drei Abschnitten des Verfahrens der "Totalrevision" (sprich: "Verfassunggebung") der "verfassunggebenden Gewalt" präsent ist: Es leitet die Totalrevision ein, es wählt den Verfassungsrat und es stimmt über die (total) revidierte Verfassung ab. Die übrigen neueren Kantonsverfassungen seit 1980 folgen mit geringfügigen Varianten diesem "Modell" von Aargau* 3. c) Mit dem Institut der "Totalrevision" hat die Schweiz einerseits den entscheidenden Schritt in Richtung auf eine prozessuale Integrierung der verfassunggebenden Gewalt des Volkes in den Typus "Verfassungsstaat" geleistet84, andererseits hat sie damit dem Typus "Verfassungsstaat" und sich selbst als Beispiel den notwendigen Gestaltungsspielraum zur Fortentwicklung geschaffen: eine Schweizer Totalrevision wird der Schweizer Verfassungskultur und Mentalität entsprechend immer eine solche im Rahmen der dem (nicht unwandelbaren) Typus "Verfassungsstaat" gemäßen Varianten sein. Für "normativ aus dem Nichts" i. S. der Theorie von C. Schmitt konzipierten Verfassungge83 Ζ. B. K V Basel-Landschaft (1984) in der Präambel einerseits, §§ 143, 144 andererseits. K V Uri (1984) in der Präambel einerseits, Art. 119, 121 andererseits (hier eröffnet das Volk zwar die Totalrevision, es wählt auch den Verfassungsrat, der dritte "Volksakt", die Volksabstimmung, ist jedoch nicht vorgeschrieben). - Verf. Solothurn (1986) zeichnet sich durch Differenzierungen in zeitlicher Hinsicht aus (Art. 165 Abs. 1 S. 2, Abs. 4 S. 1). Im übrigen folgt sie dem Aargauer Dreitaktverfahren. Bemerkenswert ist die dem Verfassungsrat gegebene Möglichkeit, über Grundsatzfragen mit oder ohne Varianten vom Volk abstimmen zu lassen (Art. 165 Abs. 3) auch die Endabstimmung kann "ratenweise", d. h. "als Ganzes oder in Teilen" erfolgen (Abs. 4 ebd.). Modellkraft hatte wohl auch die "Gesamtrevision" des V E Wiedervereinigtes Basel (1968) entfaltet (Art. 79, zit. nach JöR 34 (1985), S. 522 ff.). 84 Die Schweiz steht mit ihrem Institut der "Totalrevision" nicht allein. Österreich hat in seiner Bundesverfassung von 1920 folgenden Art. 44 Abs. 2 (zit. nach Mayer-Tasch, aaO): "Jede Gesamtänderung der Bundesverfassung, eine Teiländerung aber nur, wenn dies von einem Drittel der Mitglieder des Nationalrates oder des Bundesrates verlangt wird, ist nach Beendigung des Verfahrens gemäß Art. 42, jedoch vor der Beurkundung durch den Bundespräsidenten, einer Abstimmung des gesamten Bundesvolkes zu unterziehen". - Auch diese Norm zur "Gesamtänderung" ist ein beachtlicher Versuch, das Problem der Verfassunggebung des Volkes auf verfassungsstaatstypische Weise von der verfahrensrechtlichen Seite her einzufangen. - Aus dem Schrifttum: H. Huber, FS Scheuner, 1971, S. 183 ff. - Die Parallelen zur Schweiz sind erstaunlich: "Gesamtänderung" ist nach h. M . jede Verfassungsänderung, durch die einer der "leitenden Grundsätze" des Bundesverfassungsrechts abgeändert oder beseitigt wird; zu diesen klassischen Baugesetzen gehören u. a. das demokratische, rechtsstaatliche (auch gewaltentrennende) und das bundesstaatliche Prinzip (L. K. Adamovich IB.-C. Funk, aaO, S. 98 f. m. w. N.).
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II. Inhalte
bung, für unverfaßte und unverfaßbare verfassunggebende Gewalt des Volkes ist in der Schweiz praktisch kein Raum. Sie bleibt allenfalls theoretisches, "sehr deutsches" Gedankenspiel ohne realen Hintergrund. Dem Schweizer Verfassungsstaat und seiner Wissenschaft ist mit der sog. Totalrevision und ihrer entsprechenden Kommentierung praktisch eine verdeckte Abschaffung der Ideologie der unbeschränkt gedachten verfassunggebenden Gewalt geglückt. Totalrevision oder Teilrevision - tertium non datur85! Gewiß kann die Schweiz angesichts ihrer besonderen Verfassungsgeschichte und gewachsenen Verfassungskultur nicht ohne weiteres Vorbild für andere Verfassungsstaaten sein. Das GG und die zugehörige deutsche Verfassungsrechtswissenschaft hat bis heute Grund, via Verfassungslehre über eine Theorie nachzudenken, die von Inhalten und von Verfahren her die verfassunggebende Gewalt des Volkes in den Typus Verfassungsstaat einbindet (d. h. normalisiert und normativiert) und zugleich der Verfassungsentwicklung Raum gibt - oder sie rezipiert den Begriff der "Totalrevision". Dazu ist die Zeit wohl reif. Die "Totalrevision" könnte - und sollte - zu der dem heutigen Typus Verfassungsstaat gemäßen "Form" der verfassunggebenden Gewalt des Volkes werden. Sie ist schon jetzt charakteristisch für den "Geist" der Schweizer Verfassungen! Die normativen Bekenntnisinhalte, die meist in Präambeln oder Ewigkeitsklauseln zum Ausdruck kommen, sind nach wie vor ein unverzichtbarer "textlicher Kontext", der die Offenheit des verfassungsstaatlichen Verfassunggebers kulturell grundiert und ihr die subjektive voluntarische Beliebigkeit schon textlich nimmt Die historisch und kontemporär arbeitende Verfassungsvergleichung hat hier viele Teilmodelle und Kombinationsmöglichkeiten für den die Verfassungspo/iVi^ 86 beratenden Wissenschaftler zutage gefördert "Verfassung als Kulturzustand" und "Verfassung als öffentlicher Prozeß"87 die beiden hier zusammengebundenen Ansätze - vermögen der Verfassunggebung ein Stück Normativität und Normalität zu vermitteln, die ihnen die klassi85 Weiterführend ist U. Steiners These von der "Einheit von verfassunggebender und verfassungsändernder Gewalt", Verfassunggebung und verfassunggebende Gewalt, 1966, S. 220 ff. - H . U. Evers, Zweitbearbeitung BK Art. 79 Abs. 3 GG, Rdnr. 89 hält die Scheidung der verfassunggebende/t Gewalt von der verfassungsä/tde/We/t für unergiebig, er sieht den Weg frei für eine "einheitliche Betrachtungsweise der Verfassungserzeugenden Gewalt des Volkes" (unter Hinweis auf U. Steiner, aaO., S. 220). Zum Beispiel Griechenland von 1975: oben Anm. 63. 86 Eine Kombination der Methode der Gesamt- und Partialrevision erwägt K. Stern, in Festgabe Maunz, 1971, S. 391 (407 ff.). Er ist auch auf dem Weg, "den pouvoir constituant zu verfassen" (Staatsrecht, Bd. I, 2. Aufl., S. 153: "pouvoir constituant institué in Art. 79 Abs. 2 GG ... Ihm sind die Verfassungsrevisionen übertragen. Er ist daher heute der Träger der verfassunggebenden Gewalt."). - Gegen eine Scheidung von verfassunggebender und verfassungsändernder Gewalt i/.U. Evers, BK, Art. 79 Abs. 3 Rdnr. 83 f. 87 Dazu meine Bücher: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1982 und Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978.
7. Die verfassunggebende Gewalt des Volkes
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sehe Lehre von Sieyès bis C. Schmitt (mit ihrem Dezisionismus und Voluntarismus) vorenthält. Auf diesem Weg hilft auch eine wirklichkeitsnahe Verfassungsgeschichtschreibung in bezug auf die pluralistischen Prozesse der Verfassunggebung88. Und dazu gehört eine hohe Sensibilität für die Entwicklung der Textstufen und ihre je konkrete Umsetzung in die Praxis, wie sie in diesen Zeilen gefordert und nachgezeichnet wurde. So wie dem einzelnen nationalen Verfassunggeber überlassen bleibt, wie stark er inhaltlich durch Bekenntnisartikel Grundwertebezüge normativer Art schon in Präambeln herstellt und die "kulturelle Grundierung" und Bindung des je konkreten historischen und sich und die Verfassung weiterentwickelnden Verfassunggebers textlich sichtbar macht, so muß auch Gestaltungsspielraum für die Art und Weise der "Vorgaben" in prozessualer Hinsicht bleiben. Der Typus Verfassungsstaat erlaubt und fordert hier ebenfalls eine große Variationsbreite der Einzellösungen89: von dem Modell "Wahl zur verfassunggebenden Versammlung mit (so Bayern und Baden 1919) oder ohne anschließender Volksabstimmung" (so Baden-Württemberg 1953, Weimarer Verfassung von 1919)90 über die bloß verfassungsändernde Nationalversammlung" (so Griechenland 1975 - in Wahrheit eine verdeckte Totalrevision-) ohne nachfolgendes Plebiszit bis zu den "Totalrevisionen" der Schweiz, in denen grundsätzlich am Anfang und am Ende einer Totalrevision das Volk eingeschaltet und überdies eine Volksinitiative auf Totalrevision immer möglich ist In Europa hat sich nur das deutsche GG eine "atypische" Lösung erlaubt: ohne die vorausgegangenen Wahlen (des "Parlamentarischen Rates" durch das Bundesvolk), sondern nur mittelbar durch die "Volksvertretungen in zwei Dritteln der deutschen Länder" (vgl. Art 144 Abs. 1 GG) und auch ohne nachfolgende Volksabstimmung. Sie unterschreitet m.E. das typischerweise vom "Verfassungsstaat" als solchem geforderte Verfahrensminimum 91. (Mag man auch wie
88
Dazu treffend K. von Beyme, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes, 1968.
89
K. Stern, Staatsrecht, aaO, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 148 hält zwei Formen für "üblich": die beschließende oder die entwerfende Nationalversammlung. "Um dem Prinzip der Volkssouveränität zu entsprechen, muß die Nationalversammlung aus allgemeinen Wahlen hervorgegangen sein." 90 Auch bei der Frage, ob eine verfassunggebende Versammlung sich nach Erledigung ihres Auftrages als (einfaches) Parlament konstituiert oder nicht, gibt es Varianten bzw. ein Mehr oder Weniger an Demokratie, vgl. BVerfGE 1, 14 (62): "Demokratischen Grundsätzen würde es mehr entsprechen, wenn das Volk nach Inkrafttreten der Verfassung unverzüglich seinen ersten Landtag wählen würde." 91 BVerfGE 5, 85 (131 f.) hat es im Blick, wenn es aus dem Passus in Art. 146 GG ("von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist") folgert, "daß die Entscheidung des deutschen Volkes über eine gesamtdeutsche Verfassung frei von äußerem und innerem Zwang gefällt werden muß, und das heißt allerdings, daß ein gewisser Mindeststandard freiheitlich-demokratischer Garantien auch beim Zustandekommen der neuen gesamtdeutschen Verfassung zu wahren
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II. Inhalte
die wohl h.M. das Legitimationsdefizit durch die späteren Bundestagswahlen seit 1949 beseitigt sehen92, die Verfassunggebung, die zum GG führte (vgl. Art. 144 Abs. 2), ist Ausnahme und nur aus besonderen Gründen zu rechtfertigen.) Alle anderen Verfahrensformen, insbesondere Plebiszite über "einen irgendwie zustandegekommenen Vorschlag oder eine irgendwie herbeigeführte Ordnung oder Regelung"93, entsprechen nicht dem Typus Verfassungsstaat Anderes kann ausnahmsweise nur gelten, wenn sich ein Volk auf den Weg von einem totalitären oder autoritären Staat zu einem demokratischen Verfassungsstaat macht wie 1791, als die französische Nationalversammlung eine Verfassung beschloß, obwohl sie nicht nach demokratischen Grundsätzen des allgemeinen Wahlrechts gewählt war 94, oder auch in Portugal (1976), als sich die "Bewegung der Streitkräfte" als ein wesentliches "Subjekt" der verfassunggebenden Gewalt mitkonstituierte. Zweifelhaft ist daher der Weg der Türkei (1982), in der die Streitkräfte eine Teilrolle als Verfassunggeber spielten. Denn hier waren dem neuen Verfassungsentwurf zu einer Nationalversammlung keine allgemeinen Wahlen vorausgegangen, vielmehr folgte eine Volksabstimmung nach. Überdies hatte vorher ein - freilich im Bürgerkrieg fast aufgelöster - Verfassungsstaat bestanden. Man mag allenfalls in den späteren allgemeinen Wahlen eine Bestätigung dieses Legitimationsdefizits sehen (das den Makel einer "oktroyierten Verfassung" beseitigt): sie stellten sich dann als ein Stück nachgeholter (materieller) Verfassunggebung dar - wie die wiederholten Bundestagswahlen nach 1949 im Blick auf das GG von 1949, jenes GG, das auf Bundesebene den Schritt vom totalitäten NS-Staat und vom autoritären Besatzungsregime zum demokratischen Verfassungsstaat markierte und leistete! Diese atypischen Fälle müssen aber Ausnahmen sein und bleiben - und als solche bekräftigen sie die verfassungsstaatliche "Regel" in Sachen verfassunggebender Gewalt des Volkes eher als daß sie sie widerlegen!
ist." Mit Recht zählt das BVerfG eine Norm wie Art. 21 Abs. 2 GG "nicht zum Wesen einer freiheitlichen Ordnung". 92
Dazu aus dem Schrifttum z. B. R. Herzog, Allgemeine Staatslehre, 1971, S. 315 f.
93
C. Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 86 mit berechtigtem Hinweis auf die Plebiszite NapoleonsL 94
Vgl. C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 87 in Einordnung als "Ausnahme".
7. Die verfassunggebende Gewalt des Volkes
167
IV. Folgerungen und Zusammenfassung 1. Die Textstufenentwicklung als Basis einer gewandelten Theorie der verfassunggebenden Gewalt des Volkes
arbeiIm ganzen zeigt sich, daß eine im Lichte der Textstufenentwicklung tende und aus Geschichte und Gegenwart Regelungsalternativen "anbietende* Theorie das Problem der verfassunggebenden Gewalt des Volkes wirklichkeitsnäher lösen kann als so manche Ideologie. Der Typus demokratischer Verfassungsstaat vermag so ein Stück weit über die je konkrete Verfassung eines individuellen Volkes hinauszudenken und Handlungsalternativen bereitzuhalten, die offene Fortentwicklungen der je konkreten Verfassung erlauben. Daß es dabei letztlich auch zu einer Entwicklung des Typus "Verfassungsstaat" selbst kommen kann, ist nicht auszuschließen - man denke nur an die Grundwertekataloge, in die sich der Verfassungsstaat bzw. der Verfassunggeber seit 1945 zunehmend einbindet: sie sind eine neue Textstufe und ein Gewinn für den Verfassungsstaat, ebenso wie die Schweizerischen Verfahrensinstrumente unter dem Stichwort "Totalrevision" und die Österreichische "Gesamtrevision" bzw. das "Modell Spanien". Sobald eine konkrete verfassungsstaatliche Verfassung Wirklichkeit geworden ist und sich damit auf den "Gleisen" des Typus "Verfassungsstaat" (weiter)entwickelt, kann es nur noch evolutionäre Verfassunggebung geben - eben weil die kulturwissenschaftlich arbeitende Verfassungslehre Inhalte und Verfahren auch jenseits der positiven Texte bereit hält, die den Weg zu einer neuen konkreten Beispielverfassung erlauben95. Sobald es zu (Kultur)Revolutionen kommt, die ein Schritt weg vom und gegen den Verfassungsstaat sind (im Zeichen totalitären Staatsdenkens von links oder rechts), versagt die Verfassungslehre. Der "große Sprung" zurück (besser: vorwärts) zum Typus "Verfassungsstaat" kann dann nur durch die oben entwickelte Argumentation geleistet werden: ausnahmsweise Verzicht auf vorgängige Wahlen zu einer Nationalversammlung, aber Unverzichtbarkeit eines späteren Plebiszits oder Wahlen: weil der neue Zustand "näher" am Typus Verfassungsstaat ist
95 In Deutschland ist die Lage im Blick auf die "deutsche Teilung" (dazu die gleichnamige Schrift von G. Hoffmann, 1969) besonders: Teil- oder Totalrevisionen des GG sind auf dem Weg des Art. 79 Abs. 1 und 2 GG zulässig, auch "Totalrevisionen" freilich nur in den Grenzen des Art. 79 Abs. 3 GG (aus dem Schrifttum zu dieser vor allem von H. Dichgans 1970 in Gang gesetzten Diskussion besonders Κ . Stern, in: Festgabe Maunz, 1971, S. 391 ff.). Davon zu unterscheiden ist die in Art. 146 GG gemeinte verfassunggebende Gewalt des gesamtdeutschen Volkes. Für sie gilt der materielle und verfahrensrechtliche Mindeststandard des Typus Verfassungsstaat, zu ihm gehört das Bundesstaatsprinzip nicht; wohl aber bildet es kraft positiven Verfassungsrechts (Art. 79 Abs. 3 GG) eine unübersteigbare Grenze für Revisionen nach Art. 79 Abs. 1 und 2 GG.
12 Häberle
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II. Inhalte
als der frühere (Beispiele: Deutschlands GG von 1949 und die Türkei-Verfassung von 198296).
2. Das pluralistische Volk als "Subjekt" der Verfassunggebung
Aus der bisherigen "Textverarbeitung" und Praxisaufbereitung ergeben sich Konsequenzen für die Frage Nr. 2 des Problemkatalogs (Stichwort: "Subjekt" der verfassunggebenden Gewalt). Die These von der alleinigen "Subjektstellung" des Volkes in den materiell vorgeprägten und normativ vorstrukturierten Verfahren seiner verfassunggebenden Gewalt wird durch die Ersetzung der traditionellen "Willenseinheit des Volkes" durch den heutigen Pluralismus des Volkes97 nicht widerlegt Der im Verfassungsstaat typische Anspruch des Volkes, alleiniges Subjekt bzw. "Träger" der verfassunggebenden Gewalt zu sein98, macht die Einsicht nicht unrichtig, daß das Volk eine pluralistische Größe ist. "Das" Volk der freiheitlichen Demokratien ist in Wirklichkeit eine Vielheit von Gruppen, Parteien, Kirchen, Einzelpersönlichkeiten, die zwar ein kulturelles Band, die "Identität" umschließt, die aber gerade in den Vorverfahren und Verfahren der Verfassunggebung das Spektrum eines facettenreichen Pluralismus offenbart. Eben darum bedarf es "vereinheitlichender" Elemente durch Verfahren, die die Verfassungslehre und -praxis bereit halten (ζ. B. in den Normenkomplexen der Schweiz zur "Totalrevision"). Das Aufkommen kontralctueller Momente, die zu einem schließlichen Verfassungskompromiß führen, der sich z.B. in den deutschen Länderverfassungen nach 1945 bis ins einzelne hinein belegen läßt99, ist ebenfalls kein Argument gegen die "Subjektstellung" bzw. "Trägerrolle" des Volkes in den Prozessen der verfassungsstaatlichen Verfassunggebung, so unbefriedigend die Metaphern "Subjekt" bzw. "Träger" sein mögen. Im modernen Verfassungsstaat arbeitet eine Vielheit pluralistischer "Faktoren" bzw. "Beteiligter" an dem Grund-Konsens, auf dem letztlich die Verfassung "gebaut" wird. Man mag von einem Pluralismus "der" Verfassunggeber sprechen, von einem Kompromiß und Vertrag(en) aller mit allen: in diesen Vorgängen und Beteiligten "ist" bzw. wirkt heute "das Volk". Die derzeiti-
96
In Anlehnung an BVerfGE 4,157 (169 f.): "näher beim Grundgesetz".
97
Dazu K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der BR Deutschland, 15. Aufl., 1985, S.
53 f. 98 P. Badura, Staatsrecht, 1986, S. 8: "In der Demokratie, in der alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht, kann auch nur das Volk Subjekt der verfassunggebenden Gewalt sein". 99 Dazu B. Beutler, Das Staatsbild in den Länderverfassungen nach 1945, 1973, S. 77, 126, 142, 152, 157, 169 f., 194 f. - Zum Kompromißcharakter der WRV: z. B. W. Henke, Die verfassunggebende Gewalt des deutschen Volkes, 1957, S. 108.
7. Die verfassunggebende Gewalt des Volkes
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ge Renaissance des Gedankens der paktierten Verfassung trifft also den Pluralismus der Inhalte und der an Verfassunggebung Beteiligten besser als die Ideologie vom (unbeschränkten) "Willen" "des" Verfassunggebers, der "sich" die Verfassung "gibt". Sie ist jedenfalls kein "Rückschritt" in die Zeit des deutschen Dualismus Fürst / Stände und kein "stände-staatlicher" Irrweg, so sehr viele Verfassungstexte noch von der Ideologie "des" Verfassunggebers geprägt sein mögen. Immerhin ist ja in den Bekenntnis- bzw. Grundwerte-Artikeln bzw. Präambeln vieler neuerer Verfassungen einerseits und in den Verfahren zur "Totalrevision" in der Schweiz100, zur "Gesamtreform" in Spanien und zur "Gesamtänderung" in der östereichischen Bundesverfassung (1920) sowie in der Praxis der meisten Verfassungsstaaten andererseits zu erkennen, wie ernst der vorgefundene und dann in Normen umgesetzte bzw. aufgefangene und damit bejahte Pluralismus "des" Volkes ist
3. Das inhaltliche und prozessuale Minimum als "Grenze" der Verfassunggebung des Volkes und für das Volk sowie als Ausdruck seiner kulturellen Identität
Als Konsequenz des bisher Gesagten ergeben sich aber auch Antworten auf die Frage Nr. 5 des obigen Problemkatalogs nach etwaigen geschriebenen und ungeschriebenen, vom Typus Verfassungsstaat bzw. kulturell vorgegebenen Grenzen der verfassunggebenden Gewalt des Volkes. Sie folgen daraus, daß sich 'Verfassunggebung" auf die Konstituierung eines konkreten Beispiels für den abstrakteren Typus 'Verfassungsstaat" beziehen muß; andernfalls wären Wort und Begriff "Verfassunggebung" irreführend und nichtssagend, ein bloßer
loo Die verschiedenen Schweizer Lehren zu den "Schranken der Verfassungsrevision" verbinden Aussagen zum Typus Verfassungsstaat und Konkretes zur Schweiz (ζ. B. dem Föderalismus), sie können in dieses Bild integriert werden (ein Überblick bei Y. Hangartner, Staatsrecht I, S. 215 ff.): so die Lehre von Z. Giacometti, die Bestimmungen oder Revisionsvorschriften der BV seien unveränderlich, welche die notwendigen Organe der Verfassungsrevision, d. h. Bundesversammlung, Stimmberechtigte und Stände einsetzen (damit ist ein prozessuales Minimum gesichert!); daraus sei abzuleiten, daß die Existenz der Eidgenossenschaft, die Freiheitsrechte, das obligatorische Verfassungsreferendum (!) sowie die föderalistische Struktur ebenfalls unveränderbar seien. Nach Nef anerkennt die Lehre vom pouvoir constituant als wesentlichen Bestandteil, daß die verfassunggebende Gewalt des Volkes an die von der Verfassung gewährleisteten Menschenrechte gebunden ist (Hangartner, aaO, S. 218); Hangartner bezeichnet als Grenzen, an die der "Verfassunggeber" stößt, das Völkerrecht, das Verbot von Rechtssätzen mit unmöglichem Inhalt und den Grundsatz des ethischen Minimums der Rechtsordnung (aaO, S. 216); H. Haug, Die Schranken der Verfassungsrevision, 1947, S. 234, 239 ff. nennt neben Grundrechten Demokratie und Föderalismus; einen neuen Vorstoß unternimmt J. P. Müller, FS Haug, aaO, S. 195 (203) mit seiner Schranke "grundrechtliche Sicherung der Bedingungen optimaler Kommunikation zur Lösung gemeinsamer Anliegen". Diese Verknüpfung von Demokratie und Grundrechten ist zukunftsweisend.
170
II. Inhalte
Formalakt101. Aus bis heute überzeugenden Gründen formuliert und normiert Art. 16 der französischen Menschen- und Bürgerrechte-Erklärung von 1789 (die in die Verfassung von 1791 integriert wurde und über die Präambel der Verfassung von 1958 auch heute noch in Frankreich gilt): "Eine jede Gesellschaft, in der weder die Gewährleistung der Rechte zugesichert noch die Trennung der Gewalten festgelegt ist, hat keine Verfassung". Dies ist ein geltender Verfassungsrechtssatz im heutigen Frankreich und kulturgeschichtlich gesehen zugleich ein kultureller "Klassikertext" des Typus Verfassungsstaat. Völker, deren verfassunggebende Gewalt eine verfassungsstaatliche Verfassung einrichten konnte, haben sich damit - immanent - mindestens für diesen typusbestimmenden Basissatz von 1789 entschieden. So groß die Variationsbreite und Entwicklungsfähigkeit der "Gewährleistung der Rechte" und der "Gewaltentrennung" in der Zeitachse ist: Eine Verfassungsurkunde, die diese beiden Prinzipien nicht enthielte bzw. immanent mitdächte, verdient den Namen "Verfassung" nicht und sie ist auch in der Sache keine "Verfassung". Dieses inhaltliche Minimum bildet die eine "Mindestgrenze", besser Konkretisierung der verfassunggebenden Gewalt des Volkes - heute oft in den Präambeln aktualisiert102; die andere, prozessuale ist jenes oben umschriebene Minimum an verfahrensrechtlichen Wegen, auf denen bzw. in denen sich die verfassunggebende Gewalt äußert103. Es hatte sich zwar 1789 / 91 noch nicht entwickelt, vielmehr kommt es erst in einer historischen Gesamtsicht einschließlich der Schweizer, österreichischen und spanischen Verfassungstexte zur "Totalrevision" bzw. "Gesamtrevision" zum Ausdruck. Aber das nimmt ihm auf der heutigen Entwicklungsstufe des Verfassungsstaates nicht die Überzeugungs- und Geltungskraft: die allgemeine Entwicklung des Verfahrensgtdznkcns in der Gegenwart tut ein Übriges. Das Prinzip des Art. 16 der französischen Erklärung von 1789 gilt (flankiert vom erwähnten prozessualen Prinzip) auch in den Verfassungsstaaten, in deren formeller Verfassungsurkunde es keinen textlichen Ausdruck gefunden hat, et-
101 S, auch E.-W. Böckenforde, aaO, S. 26: "Zum einen ist der pouvoir constituant, wie schon der Name sagt, durch den Willen zur Verfassung bestimmt." 102 Im Banne überpositiven Rechtsdenkens steht (nach 1945 verständlich) BVerfGE 1, 14 (61): Eine verfassunggebende Versammlung "ist nur gebunden an die jedem geschriebenen Recht vorausliegenden überpositiven Rechtsgrundsätze und ... an die Schranken, die die Bundesverfassung ... enthält (Art. 28 Abs. 1 GG). Im übrigen ist sie ihrem Wesen nach unabhängig. Sie kann sich nur selbst Schranken auferlegen." 103
Anders C. Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 83: "Der Wille des Volkes, sich eine Verfassung zu geben, kann nur durch die Tat bewiesen werden und nicht durch Beobachtung eines normativ geregelten Verfahrens."
7. Die verfassunggebende Gewalt des Volkes
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wa in der Schweiz auf Bundes- wie Kantonsebene104; es gilt "ungeschrieben11, weil es dem Typus Verfassungsstaat immanent ist. Die Beobachtung der prozessualen Art und Weise und der normativen Inhalte, in der und in Bezug auf die sich seit 1789 Völker Verfassungen "gegeben" haben (in den USA schon seit 1776 /1787), aber auch eine "wertende Verfassungsvergleichung" in Bezug auf die immer wiederkehrenden, letztlich um einen Typus kreisenden Verfassungstexte verfassungsstaatlicher Verfassungen (vor allem in Gestalt von Präambeln und Schlußvorschriften), erlauben die Bejahung dieser typusbestimmenden Grenzen der verfassunggebenden Gewalt des bzw. der Völker (als "Lehre" aus der Verfassungsgerichte, deren normierende Kraft für den Typus "Verfassungsstaat" sowohl textlich als auch praktisch nicht gering geachtet werden sollte). Es handelt sich um erfahrungswissenschaftlich aus der Praxis gewonnene Prinzipien, die für eine sich als Kulturwissenschaft verstehende Verfassungslehre legitim sind105. Die umschriebenen "Grenzen" der verfassunggebenden Gewalt106 sind Ausdruck verfassungsstaatlicher Kultur 101: d. h. gewachsen, entwicklungsfähig und -bedürftig (fortgeschrieben ζ. T. in den Grundwerten in Präambeln deutscher Länderverfassungen nach 1945), aber auch gefährdet und gelegentlich verletzt (wie im Falle der Türkei 1982). Als kulturelle Errungenschaft des Typus Verfassungsstaat bilden sie keinen sicheren Besitz von Schriftgelehrten und Verfassungstextern: sie müssen immer neu erarbeitet und in der Praxis durchgesetzt werden. Aber auch dort, wo sie verlorengingen wie im Deutschland von 1933, können sie in späteren Generationen wiederkehren: dank einer vergleichend arbeitenden Wissenschaft und eines Verfassungsbewußtseins des seine Kompetenz einfordernden Volkes. Sie sind ein kulturelles Kontinuum in der Verfassungsgeschichte der die Demokratie praktizierenden Völker geworden. 104
Aus dem Schrifttum vgl. W. Kägi, Rechtsfragen der Volksinitiative auf Partialrevision, ZSR 75 (1956), S. 739a ff. 105 Die anders arbeitende Lehre von C. Schmitt ist demgegenüber zutiefst ungeschichtlich. S. auch K. Stern, Staatsrecht, aaO, S. 149: "Übereinstimmung mit den überwiegend im Volk bestehenden Wert-, Gerechtigkeits- und Sicherheitsvorstellungen. Geschichte, Kultur und politische Entwicklung haben diese Legitimationsideen in der europäisch-atlantischen Verfassunggebung geformt." 106 Liegt die "verfassunggebende Versammlung" eines werdenden Gliedes des Bundesstaates vor, so ergeben sich aus der Bundesverfassung Schranken (so BVerfGE 1,14 (61) im Blick auf Art. 28 Abs. 1 GG), so umgekehrt bei der Verfassung des Bundesstaates eine Zustimmung der einzelnen Mitglieder des Bundes erforderlich werden kann (K. Stern, aaO, S. 148). 107 Angedeutet ζ. B. bei K. Stern, in: Festgabe Maunz, 1971, S. 391 (396): keine Unbegrenztheit des pouvoir constituant, weder des gesamtdeutschen noch seines westlichen Teils: "Jede Verfassungsgebung bedarf zu ihrer Realisation des Konsenses mit den Rechts- und Wertvorstellungen derer, für die sie zu gelten beansprucht." Noch klarer ders., Staatsrecht, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 150: Bindung der verfassunggebenden Gewalt an die "wichtigsten unserer Rechtskultur gemeinsamen Rechtsgrundsätze".
172
II. Inhalte
4. D i e zwei Ebenen: Verfassunggebung i m Typus " Verfassungsstaat", Verfassunggebung eines konkreten Volkes i m K o n t e x t seiner kulturellen Individualität und Identität
Stets ist auf zwei - voneinander zu unterscheidenden (in der geschichtlichen Entwicklung sich aber wechselseitig beeinflussenden) - Ebenen zu arbeiten: auf der abstrakteren des Typus "Verfassungsstaat" und auf der konkreteren eines konkret verfaßten und sich individuell verfassenden Volkes. So ist das Bundesstaatsprinzip (noch?) nicht immanenter Bestandteil jedes fußgerechten Vorgangs der "Verfassunggebung des Volkes": Es gibt große bzw. traditionsreiche Verfassungsstaaten wie England oder Frankreich, die keine Bundesstaaten sind, allenfalls Vorformen entwickeln (Regionen!)107®. Wohl aber finden sich individuelle Verfassungsstaaten wie die USA oder die Schweiz, in denen das Bundesstaatsprinzip ein Strukturelement jeder Art von Verfassunggebung bzw. Totalrevision des Volkes bildet, seitdem dieses Volk konstituiert ist: Was juristisch (wie in der Schweiz) als "Grenze" der Totalrevision bzw. Verfassunggebung erscheint, ist in der Sache freilich mehr: lebendiger, ohne Kulturrevolution und Kulturverlust nicht hinterschreitbarer Ausdruck der konkreten "Verfassung als Kultuizustand"108. Und die Nation bzw. das Volk befindet sich in diesem sich weiterentwickelnden Kulturzustand nicht im Natur- bzw. Ausnahmezustand i. S. der Lehren von Sieyès bis C. Schmitt 109. Entsprechendes gilt für die Alternative "parlamentarische Monarchie" (Spanien) oder "Republik" (Frankreich, das deutsche GG) insofern, als beide Verfassungsstaaten ihrer heutigen kulturellen bzw. verfassungsstaatlichen Entwicklungsstufe gemäß nur konstitutionelle Monarchien bzw. Republiken sein können.
5. D i e N o r m a t i v i e r u n g u n d Konstitutionalisierung der verfassunggebenden G e w a l t des Volkes
Theorie und Praxis der hier verfochtenen Normativierung und Konstitutionalisierung der verfassunggebenden Gewalt des Volkes110 auf der Folie der sie
107e
Dazu jetzt R. Sparwasser, Zentralismus, Dezentralisation ... in Frankreich, 1986.
108 2m diesem Verfassungsverständnis: meine Schrift Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1982. 109 Vgj # c Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 79: Die verfassunggebende Gewalt "ist immer Naturzustand, wenn sie in dieser unveräußerlichen Eigenschaft auftritt". 110
M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, 1975, liefert einen eindrucksvollen Entwurf des "demokratischen Verfassungsstaates". Doch eliminiert er letztlich Volkssouveränität und verfassunggebende Gewalt des Volkes in den Sätzen (S. 226): "Die Volkssouveränität tritt nur am Anfang
7. Die verfassunggebende Gewalt des Volkes
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kontextartig "umgebenden" Bekenntnisartikel in Sachen Grundwerte bzw. ihrer "Klassikertexte" von 1789 bzw. von 1776 / 1787 und der Schweizer Texte zu den prozessualen Maximen der "Totalrevision" können auch nicht mit dem Argument widerlegt werden, es handele sich dabei nur um eine "SW&rtverpflichtung" (auf dem Hinteigrund "grundsätzlich unbeschränkter Gewalt")111 des jeweiligen konkreten Verfassunggebers, nicht um die Normalität und Normativität eines typusimmanenten Verfassungsprinzips des Verfassungsstaates. Nur formal und äußerlich betrachtet verpflichtet "sich" der Verfassunggeber bzw. das (pluralistische) Volk "selbst": in der Sache und kulturgeschichtlich gesehen votiert es für Inhalte und Verfahren, die weit "objektiver" gegeben und aufgegeben sind als ein ungeschichtlicher Dezisionismus wahrnehmen will 112 . Die Eingebundenheit in einen bestimmten Entwicklungszustand einer Kultur schafft "Realien" und "Ideelles", dem die Theorie der bloß subjektiven "Selbstbindung" und voluntaristischen "Selbstbeschränkung" nicht gerecht werden kann. Die intensive "Verinnerlichung" bestimmter Grundwerte wie "Menschenrechte", "Friede" etc., die sich an textlichen Präambelelementen wie "Absicht", "Bewußtsein", "von dem Willen beseelt" zeigt, schlägt ins Objektive, in kulturelle Determinanten um.
6. Verfassungspolitischer Ausblick
Die bisherigen theoretischen Überlegungen und die in sie integrierten vergleichenden Analysen der Verfassungstexte sowie der Praxis der verfassunggebenden Gewalt des Volkes blieben halbherzig, wenn sie nicht in verfassungspolitische Konsequenzen mündeten. Denn Verfassungslehre schließt die oder am Ende des Verfassungsstaates auf, bei seiner Konstituierung und bei seiner Abschaffung", "Die demokratische Souveränität ruht, solange der Verfassungsstaat besteht". 111 Irreführend und einem fragwürdigen Schrankendenken in der Umkehrung verpflichtet daher Entwurf zur Ausarbeitung einer Europäischen Verfassung (Mitglieder der Fraktion der Europäischen Volkspartei im Europäischen Parlament) vom 26. September 1983 (zit. nach J. Schwarze IR. Bieber (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa, 1984, S. 572 [581]): "Präambel Die Völker Europas... kraft ihrer unbeschränkten verfassunggebenden Gewalt, haben durch ihre Volksvertretung, das Europäische Parlament, die nachfolgende Verfassung am ... beschlossen." 112 S. auch K. Stern, aaO, S. 149: "Ein Grundbestand dieser Vorstellungen (sc. der europäischatlantischen Verfassunggebung) besitzt rational und historisch begründbare Objektivität: Menschenrechte, freiheitliche demokratische Grundordnung, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit". Auch nach D. Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die BR Deutschland, 1978, S. 126 sind für das GG die Begriffe "verfassunggebende Gewalt" und "freie Entscheidung des Volkes" ebenso wie die Begriffe in Art. 146 GG nach Maßgabe der liberal-demokratischen Verfassungstradition zu verstehen. "An irgendwelche Verfahrensfreie' spontane Willenskundgabe des Volkes hat weder der Grundgesetzgeber gedacht..." Darum distanziert er sich auch zu Recht von C. Schmitts verfassunggebender Gewalt als "rein existentiellem Phänomen", während das GG in ihr eine "überpositive rechtliche Befugnis" sehe (aaO, S. 174,176).
174
II. Inhalte
Dimension der Verfassungspolitik in einem "letzten Schritt" nicht aus, sondern ein 113 : Die Wissenschaft kann und soll künftigen Verfassunggebern praktische Handreichungen bieten bei der Ausgestaltung ihrer Texte, wo möglich auch im Sinne von Alternativen, wie sie in den Totalrevisionsvorhaben der Schweiz als "Varianten" üblich geworden sind114. Auf diesem Hintergrund sei folgendes empfohlen: (1) Die nationalen (bundesstaatlichen, auch gliedstaatlichen bzw. kantonalen) Verfassunggeber sollten sowohl in den Präambeln ihrer Verfassungen als auch in den Schlußartikeln auf die verfassunggebende Kompetenz des Volkes als solche eingehen115: Sie "umrahmen" so gleichsam ihr Verfassungstextwerk. Dabei ist der jeweils historisch-kulturelle Vorgang der Verfassunggebung i. S. des Postulats der VerfassungstexUvaßrAe/i und -klarheit so zu beschreiben wie er sich tatsächlich ereignet hat - dies selbst dann, wenn sich - nach dem Ideal des Verfassungsstaates - eigentlich "inkompetente Instanzen" wie "Streitkräfte" und "Besatzungsmächte" in den Vorgang der Verfassunggebung gedrängt und ein Stück der allein beim Volk liegenden Kompetenz angeeignet haben (wie in Portugal 1976 oder in der Türkei 1982 bzw. in Westdeutschland nach 1945). (2) Die verfassunggebende Gewalt des Volkes sollte dem Typus "Verfassungsstaat" konform von zwei Seiten verfassungstextlich angereichert werden: von der inhaltlichen Grundwerteseite aus einerseits (Beispiele liefern die Verfassungen deutscher Länder nach 1945, aber auch die Verfassungen von Portugal und Spanien von 1976 bzw. 1978), d. h. über "Bekenntnis-" bzw. "Bewußtseins-Artikel" bzw. Elemente in Präambeln einerseits, von der prozessualen Seite andererseits (Beispiele geben die Schweizer, österreichischen und spanischen "Totalrevisions-" bzw. "Gesamtrevisions"-Regelungen). (3) Empfehlenswert sind eigene Abschnitte über die Totalrevision bzw. Gesamtrevision der Verfassung (möglichst im prozessualen "Dreitakt": Einleitung durch das Volk, Abstimmung in den Parlamenten und Verabschiedung durch das Volk, das Volk muß mindestens in Form von Wahlen und durch ein Plebis-
113 Mit Recht spricht Herb. Krüger von der "Kunst der Verfassunggebung", V R Ü 1974, S. 233 ff.
114 Vgl. die "Varianten" im Totalrevisionsentwurf für eine Bundesverfassung (1977) und für eine Kantonsverfassung wie Solothurn (1985) und Glarus (1977), abgedruckt in JöR 34 (1985), S. 536 ff. bzw. 497 ff. und 480 ff. 115 So heißt es in der Präambel der Verf. Frankreich von 1946: "... le peuple français proclame à nouveau ... Il réaffirme solennellement les droits et les libertés", am Schluß in Art. 106: "La présente Constitution, délibérée et adoptée par l'Assemblée nationale constituante, approuvée par le peuple français..." (zit. nach Godechot, aaO, S. 389, 410).
7. Die verfassunggebende Gewalt des Volkes
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zit "danach" das letzte Wort haben). Sie können redaktionell gemeinsam mit der Totalrevision bzw. Verfassungs-Änderung unter dem "Dach" eines und desselben Verfassungsabschnitts plaziert sein (Beispiele gibt es in der Schweiz auf Bundes- und Kantonsebene). Damit ist "Totalrevision" auch textlich als möglicher und durchaus normaler Vorgang (der Verfassunggebung) neben der bloßen Teilrevision bzw. "Verfassungsänderung" ausgewiesen. Auch auf diese Weise kommt zum Ausdruck, daß die verfassunggebende Gewalt des Volkes im Typus Verfassungsstaat der heutigen Entwicklungsstufe tendenziell normalisiert, normativiert und konstitutionalisiert worden ist 116 . (4) Der Begriff "Verfassunggebung" bzw. verfassunggebende Gewalt bzw. Kompetenz des Volkes braucht weder in den Verfassungstexten noch in der Theorie gestrichen bzw. verabschiedet werden - zu suggestiv ist die Wirkung der ihn kulturell bis heute tragenden Klassikertexte seit 1776/1778 bzw. 1789/ 1791/92. Doch müßte sich die Erkenntnis durchsetzen, daß "Verfassunggebung des Volkes" und "Totalrevision" bzw. "Gesamtrevision" durch das Volk im Typus "Verfassungsstaat" miteinander identisch sind. Verfassungen, die in Präambeln bzw. und/oder Schlußartikeln von "Verfassunggebung" sprechen, sollten terminologisch konsequent bleiben und auch in einem etwaigen Abschnitt über die "Gesamtrevision" diese dem Wortlaut nach als "Verfassunggebung" ausweisen. Zur Verdeutlichung der im Verfassungsstaat typischen Annäherung zwischen Verfassungsänderung (Teilrevision) und Verfassunggebung (Totalrevision) empfiehlt es sich, beide Arten von "Verfassungsreform" auch systematisch gemeinsam unter einem "Dach" bzw. Abschnitt zu vereinigen.
Vgl. auch Art. 196 S. 1 Verf. Costa Rica von 1949 (zit. nach JöR 35 [1986], S. 481 [508]): "Eine allgemeine Änderung dieser Verfassung kann nur durch eine zu diesem Zweck einberufene verfassungsgebende Versammlung durchgeführt werden."
8. Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen' I . Präambeln als aktuelles Problem
"Im Namen Gottes des Allmächtigen ! Im Willen, den Bund der Eidgenossen zu erneuern; gewiß, daß frei nur bleibt, wer seine Freiheit gebraucht, und daß die Stärke des Volkes sich mißt am Wohl der Schwachen; eingedenk der Grenzen aller staatlichen Macht und der Pflicht, mitzuwirken am Frieden der Welt, haben Volk und Kantone der Schweiz folgende Verfassung beschlossen:"
Diese Präambel aus der Feder von Adolf Muschg, nahezu im Versmaß formuliert im Auftrag der Kommission zur Totalrevision der Schweizer Bundesverfassung (1977)1, offenbart schon auf den ersten Blick sprachliche Besonderheiten verglichen mit anderen Rechtstexten: Präambeln eröffnen Verfassungstexte in einer sprachlich meist herausgehobenen Form: nicht ohne Pathos, besonders feierlich und programmatisch, gelegentlich "barock", deutlich abgehoben von der gängigen, eher fachtechnischen Rechtssprache. Ihre ornamentale Feiertagssprache zielt offenbar auf Kommunikation mit dem Bürger, nicht primär auf den juristischen Fachmann. Dieser liest denn auch gern über sie hinweg, um möglichst rasch "zur Sache", d. h. aus positivistischer Sicht zum "eigentlichen" Rechtstext zu kommen. Die Aktualität der Fragestellung ist in vielfacher Hinsicht groß. Ganz allgemein steigt derzeit das Interesse für Sprache und Sprachkultur: Das zeigt sich z. B. an der Diskussion um einen "literarischen Kanon" in den Schulen2, am Streit um "Sprache oder Linguistik"3 sowie an der Forderung nach einem "verständlichen Amtsdeutsch"4. Diese Sensibüisierung für Sprache und Sprachinhalte *
Festschrift für Johannes Broermann, 1982, S. 211 ff.
1
Abgedruckt in AöR 104 (1979), S. 475.
2
Dazu Hans Maier, Der Tragelaph, in: FAZ vom 6. 11. 1981, S. 25, in Erwiderung auf Gert Ueding, Fahrpläne für die kulturelle Wildnis - Brauchen wir einen literarischen Kanon?, FAZ vom 28.10.1981. 3 4
Vgl. Karl Korn, FAZ vom 13. 6.1981, S. 1.
Ζ. B. auf dem 21. Deutschen Notartag 1981 in Berlin, FAZ vom 26. 6.1981, S. 2; Notar H. E. Duve: "Amtsdeutsch ist der Stammesdialekt der Eingeborenen im Paragraphendschungel". -
8. Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen
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kommt auch dem Thema "Präambeln" und ihrer sehr eigenen Sprachkunst zugute5. Die juristische Sprach- (wenn man will: Kunst-)Form "Präambel" besitzt nicht nur eine eindrucksvoll lange Geschichte6, sie hat auch Gegenwart und Zukunft. So war jüngst die Präambel zum Grundsatzprogramm des DGB von 1981 besonders umstritten7: Ο. von Nell-Breuning hatte sich gegen Bestrebungen gewandt, in der Präambel die Bindung gewerkschaftlicher Tätigkeit an das Gemeinwohl aufzuheben8. - Die Jungdemokraten erregten überwiegend negatives Aufsehen mit ihrer "deutschlandpolitischen" Forderung nach Streichung des in der Präambel des Grundgesetzes normierten Wiedervereinigungsgebots9. - Das "Camp-David-Abkommen" zwischen den USA, Israel und Ägypten von 1978 beginnt mit einer umfangreichen Präambel10. - Der Hamburger Wirtschaftssenator/. Steinert begrüßte die Entscheidung der UNO-Seerechtskonferenz von 1981 für Hamburg als Sitz des Seegerichtshofs unter Hinweis auf Hamburgs Rolle als "Mittler zwischen allen Erdteilen und Völkern", die schon in seiner Verfassung festgelegt sei11. Diese aktuellen Beispiele belegen die vielfältigen juristischen Anwendungsfelder von Präambeln: im innerstaatlichen Bereich (in Gesetzen, Satzungen, Bemerkenswert die "Fingerzeige für die Gesetzes- und Amtssprache", hrsg. von der Gesellschaft für deutsche Sprache im Einvernehmen mit dem Bundesministerium des Innern, 10. Aufl., Wiesbaden 1980. 5 Präambeln sind kein Privileg von Verfassungs- (oder Gesetzes-)werken. Auch Kunstwerke haben die ihnen je entsprechenden Arten von Präambeln: Dichtwerke, wie Theaterstücke ("Proömion", Prologe), aber auch Musikstücke in Gestalt von Präludien oder Ouvertüren. Insoweit böte sich eine kulturwissenschaftliche Untersuchung von Erscheinungsformen und Funktionen von Präambeln in breitem Maßstab an. 6 So gilt etwa der erste Satz der Zehn Gebote: "Ich bin der Herr, Dein Gott" als Präambel (vgl. ζ. B. Grundwerte und Gottes Gebot, Gemeinsame Erklärung des Rates der Ev. Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz, 1979, S. 21). Präambeln hatten aber auch schon: das Gesetzeswerk des babylonischen Königs Hammurabi, die Lex Salica von ca. 510, die Goldene Bulle von 1356, der Ewige Landfriede von 1495, die Peinliche Gerichtsordnung Karls V . von 1532, aus früherer Zeit der Sachsenspiegel (ein Reimvorspruch mit 280 Verszeilen, ein Prologue und ein Textus prologi), und vor allem das Allgemeine Preußische Landrecht (1794), dessen sehr ausführliche Präambel in einzelne Paragraphen unterteilt war, vgl. Hans-Helmut Dietze, Der Gesetzesvorspruch, Berlin, Wien 1939, S. 10 f. mit den entsprechenden Quellennachweisen. 7
Vgl. FAZ vom 21. 2.1981, S. 5, 6.
8
FAZ vom 28.2.1981, S. 6.
9 Eine Forderung, die sie dann zunächst zurückstellten, FAZ vom 10. 3. 1980, S. 4. Zum "Vollenden" der nationalen Einheit in Freiheit und Selbstbestimmung unter ausdrücklicher Berufung auf die Präambel zuletzt Willy Brandt, Deutscher Patriotismus, in: "Der Spiegel", Nr. 5 vom 1. 2.1982, S. 42. 10
Vgl. SZ vom 20. 9.1978, S. 9.
11
SZ vom 24. 8.1981, S. 2.
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II. Inhalte
Verträgen), als "Vorspann" zu Verfassungen und zu völkerrechtlichen Verträgen. Ihre Erscheinungsformen 12, Inhalte und Funktionen sind alles andere als bloß "akademischer" Natur; ihre Untersuchung ist eminent praktisch: politisch und juristisch.
Π. Bestandsaufnahme 1. Die (inter-)nationale Vielfalt der Erscheinungsformen von Präambeln (in Beispielen)
Die folgende exemplarische Bestandsaufnahme will Tradition und Differenziertheit von Präambeln als klassischen und aktuellen Instrumenten juristischer Form- (bzw. Verfassungsgebung veranschaulichen.
a) Erste klassische Entwürfe
Die französische Menschenrechtserklärung von 1789 setzt mit einer solennen Erklärung ein, die klassische Stilmittel von Verfassungspräambeln (wie feierliche Sprache, langer Satzbau, große Worte) und klassische Inhalte (Vergangenheits- und Zukunftsorientierung, Offenlegung der Motivation und Bewußtseinslage, Festlegung von Prinzipien) verbindet und deshalb als Präambel zu lesen ist, obwohl sie sich nicht als solche kennzeichnet. Ihr letzter Passus lautet13: n ... damit ferner die Ansprüche der Bürger, indem sie in Zukunft auf einfache und unbestreitbare Grundsätze gegründet werden, sich immer auf die Wahrung der Verfassung und auf das Wohl aller richten mögen. Infolgedessen anerkennt und erklärt die Nationalversammlung in Gegenwart und unter dem Schutz des allerhöchsten Wesens folgende Menschen- und Bürgerrechte: ..."
Die Verfassung der 5. Republik Frankreichs von 1958 nimmt in ihrer Präambel auf die Erklärung von 1789 Bezug: "die durch die Präambel der Verfassung von 1946 bestätigt und ergänzt wurde". Neben dieser Verweisungs-
12 S. auch die Präambeln zu Parteiprogrammen: Rainer Kunz / Herbert Maier / Theo Stammen, Programme der politischen Parteien in der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl., München 1979: CDU: S. 67, 69, 80, 82,128; CSU: S. 212, 217; SPD: S. 325 f.; FDP: S. 417, 419 f.; KPD: S. 478 f. 13 Zit. nach Peter-Cornelius Mayer-Tasch (Hrsg.), Die Verfassungen Europas, 2. Aufl., München 1975. - Eine Zusammenstellung von Präambel-Teilen der frankophonen Staaten Afrikas bei Herb. Krüger, Brüderlichkeit - das dritte Ideal der Demokratie, in: Festgabe für Th. Maunz, hrsg. von H. Spanner u.a., München 1971, S. 249 (251 ff.).
8. Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen
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technik von Präambel auf Präambel fallt für 1789 der hohe Zukunftsanspruch auf ("in Zukunft", "immer"). Die Verfassung der USA" (1787) beginnt mit dem Satz: "Wir, das Volk der Vereinigten Staaten, von der Absicht geleitet, unseren Bund zu vervollkommnen, Gerechtigkeit zu verwirklichen, die Ruhe im Innern zu sichern, für die Landesverteidigung zu sorgen, die allgemeine Wohlfahrt zu fördern und das Glück der Freiheit uns selbst und unseren Nachkommen zu bewahren, setzen diese Verfassung für die Vereinigten Staaten von Amerika in Geltung...".
b) Deutsche Verfassungen
Während die Paulskirchenverfassung von 1849 keine Präambel aufwies, formuliert die eher technisch gehaltene Bismarck- Verfassung von 1871 immerhin als "Eingang": "Seine Majestät der König von Preußen ..., der König von Bayern ..., der König von Württemberg ..., schließen einen ewigen Bund zum Schutz des Bundesgebietes und des innerhalb desselben gültigen Rechts, sowie zur Pflege der Wohlfahrt des Deutschen Volkes..."
Das Wort vom "ewigen Bund" wurde Gegenstand einer großen juristischen Diskussion15.
14
Zit. nach Günther Franz (Hrsg.), Staatsverfassungen, München, Wien, 2. Aufl. 1964; 3. Aufl. 1975. 15 Schwerpunkt war die Frage, ob es sich bei dem neuen Staatswesen um einen Bundesstaat oder einen Staatenbund handele. Ersteres entsprach der herrschenden Auffassung (s. dazu Ludwig Dambitsch, Die Verfassung des Deutschen Reiches, Berlin 1910, S. 8 m. w. N.; Paul Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 5. Aufl. Bd. 1, Tübingen 1911, S. 55 ff., 88 ff. (91); Georg Meyer / Gerhard Anschütz, Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts, 6. Aufl., Leipzig 1905, S. 39 ff. m. w. N.), während die Gegenansicht die Verfassung für einen völkerrechtlichen Vertrag und folglich das Reich für einen Staatenbund hielt (Dambitsch, S. 8; kritisch dazu z.B. Conrad Bornhak, Grundriß des deutschen Staatsrechts, 2. Aufl., Leipzig 1910, bes. S. 148); ein vermittelnder Standpunkt ging davon aus, daß die Verfassung auf einem völkerrechtlichen Vertrag beruhe, daß sie aber kraft ihres Art. 78 (Kompetenz zur Abänderung der Verfassung beim Reich) die Wirksamkeit eines Reichsgesetzes erhalten habe (Dambitsch, S. 8; zur Darstellung des Streits s. auch Albert Haenel, Studien zum Deutschen Staatsrecht, Erste Studie: Die vertragsmäßigen Elemente der Deutschen Reichsverfassung, Leipzig 1873, S. 93 ff.). In diesem Streit kam dem Eingang der Reichsverfassung nur eine Hilfsfunktion zu; die Autoren argumentieren vor allem von ihrem jeweiligen Bundesstaatsbegriff aus (Laband, S. 55 ff., 88 ff.; Meyer ! Anschütz, S. 39 ff.). Für die Theorie vom Staatenbund war der Eingang eine normale Präambel zu einem völkerrechtlichen Vertrag. Von jenen Wissenschaftlern, die die Bundesstaatseigenschaft bejahten, hielten die einen den Eingang für eine vertraglich vereinbarte Einleitung der nachfolgenden Verfassung (vgl. Haenel, S. 96), die anderen sahen in der Präambel einen integrierenden Bestandteil der Verfassungsurkunde (so Haenel, S. 99). - Noch 1980 zog Ernst-Wolfgang Böckenförde die Präambeln von 1871 (und 1919) - freilich kontrastierend - bei der GG-Auslegung mit heran, vgl. seinen Beitrag: Sozialer Bundesstaat und parlamentarische Demokratie, in: Politik als gelebte Verfassung, FS für Friedrich Schäfer, Opladen 1980, S. 187 i. V . m. Anm. 35. - Eine Aktivierung der Präambel der RV von 1871 ("das Deutsche
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II. Inhalte
Die Weimarer Reichsverfassung von 1919 beginnt mit den Sätzen: "Das deutsche Volk, einig in seinen Stämmen und von dem Willen beseelt, sein Recht in Freiheit und Gerechtigkeit zu erneuern und zu festigen, dem inneren und äußeren Frieden zu dienen und den gesellschaftlichen Fortschritt zu fördern, hat sich diese Verfassung gegeben".
Auf der Ebene der deutschen Landesverfassungen nach 194516 bekennt Bayern (1946) ebenso feierlich, ja pathetisch wie emotional und engagiert im Vorspruch: "Angesichts des Trümmerfeldes, zu dem eine Staats- und Gesellschaftsordnung ohne Gott, ohne Gewissen und ohne Achtung vor der Würde des Menschen die Überlebenden des zweiten Weltkrieges geführt hat, in dem festen Entschluß, den kommenden deutschen Geschlechtern die Segnungen des Friedens, der Menschlichkeit und des Rechts dauernd zu sichern, gibt sich das Bayerische Volk, eimgedenk seiner mehr als tausendjährigen Geschichte, nachstehende demokratische Verfassung."
Bremen (1947) formuliert: "Erschüttert von der Vernichtung, die die autoritäre Regierung der Nationalsozialisten unter Mißachtung der persönlichen Freiheit und der Würde des Menschen in der jahrhundertealten Freien Hansestadt Bremen verursacht hat..."
Das Grundgesetz von 1949 hat auch der Form nach eine allseits bekannte Präambel. Und die Verfassungen von Rheinland-Pfalz (1947), WürttembergHohenzollern (1947), Baden (1947), Berlin (1950), Nordrhein-Westfalen (1950) und Hamburg (1952) normieren anspruchsvolle Präambeln17; namentlich die späte von Baden-Württemberg (1953) ist besonders ausführlich: Reich als Wohlfahrtsstaat") bei Hue des Grais (zit. nach O. Bachof, in: W D S t R L 30 [1972], S. 193 [208]). 16
Zit. nach: Die Verfassungen der deutschen Bundesländer, eingeleitet von Christian Pestalozza, 2. Aufl. München 1981. - Die Präambeln der Landesverfassungen in der Weimarer Zeit (zit. nach Otto Ruthenberg, Verfassungsgesetze des Deutschen Reiches und der deutschen Länder, Berlin 1926) beschränkten sich ganz technisch auf den bloßen Vorgang der Verfassunggebung, soweit sie überhaupt eine Präambel enthielten. - Ein radikal anderer "Geist" charakterisiert die Präambeln der beiden Verfassungen der DDR von 1949 bzw. 1974 (zit. nach Deutsche Verfassungen, hrsg. von Rudolf Schuster, 13. Aufl., München 1981): bürgerlich (wie die westdeutschen Landesverfassungen nach 1945) dort, revolutionär-sozialistisch ("revolutionäre Traditionen ... entwickelte sozialistische Gesellschaft ... weiter den Weg des Sozialismus und Kommunismus...") hier. Im Gegensatz zur Präambel 1974 beinhaltet die Präambel der DDR-Verf. von 1968 noch die Verantwortung für die "ganze deutsche Nation". 17 Verwandte Erscheinungsformen wie Ceselz&spräambeln (zu ihnen: Dietrich Rethorn, Verschiedene Funktionen von Präambeln, in: Jürgen Rödig [Hrsg.], Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung, Berlin u. a. 1976, S. 296 ff.) müssen hier ebenso ausgeklammert bleiben wie die reichhaltigen Präambeln von Staatskirchenverträgen, die eine gleiche Vielfalt charakteristischer Merkmale auszeichnet; als vorläufige Stichworte aus den Präambeln seien hervorgehoben (zit. nach Hermann Weber [Hrsg.], Staatskirchenverträge, München 1967): Anpassung an veränderte Verhältnisse (Konkordat Baden 1932 und Vertrag Badens mit der Vereinigten Evangelisch-protestantischen Landeskirche 1932), "das freundschaftliche Verhältnis" zwischen Land und Kirchen (Vertrag
8. Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen
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"Im Bewußtsein der Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, die Freiheit und Würde des Menschen zu sichern, dem Frieden zu dienen, das Gemeinschaftsleben nach dem Grundsatz der sozialen Gerechtigkeit zu ordnen, den wirtschaftlichen Fortschritt aller zu fördern, und entschlossen, ein neues demokratisches Bundesland als lebendiges Glied der Bundesrepublik Deutschland zu gestalten, hat sich das Volk von Baden-Württemberg in feierlichem Bekenntnis zu den unverletztlichen und unveräußerlichen Menschenrechten Und den Grundrechten der Deutschen kraft seiner verfassunggebenden Gewalt durch die Verfassunggebende Landesversammlung diese Verfassung gegeben."
Inkurs: Zur Verfassungsgeschichte
deutscher Präambeln
Eine deutsche Verfassungsgeschichte der Erscheinungsformen und Inhalte von Präambeln hätte zu erarbeiten, was und wieviel an Wünschen, Hoffhungen und Verheißungen einer Verfassungspräambel im Gang der Geschichte eingelöst wurde, wieviel Wirklichkeit der Präambel im geschichtlichen Prozeß "zugewachsen" ist. Die Verfassungstheorie der Präambeln wäre an der Verfassungsgeschichte zu überprüfen. Ließe sich etwa nachweisen, daß Präambeln nie ganz von der Wirklichkeit eingeholt worden sind, so darf dies noch kein endgültiges Votum gegen die Normierung sein: Eine Verfassung kann und darf der Wirklichkeit ein Stück voraus sein. Theoretisch könnte eine frühere Verfassung in Präambelform verheißen, was eine spätere dann in juristischer Artikelform einlöst. Sollten Präambeln sich aber weitgehend als leere Versprechungen erweisen, dann müßte die Theorie revidiert werden. Ähnliches gilt für die Vergangenheitsperspektive: Wo Präambeln als Propagandainstrument des Verfassunggebers geschichtliche Vergangenheit "bewältigen", indem sie sie (bewußt) verfälschen, sollten sie gestrichen werden. Wo sie jedoch eine mögliche Geschichtsdeutung und Geschichtsschreibung beinhalten, die noch ein Stück Wirklichkeit werden kann (wie etwa die "Annahme" des Grundgesetzes durch die Bundestagswahlen seit 1949 im Blick auf die "Fiktionen" in der Präambel), dort sollte die Verfassungstheorie dem Verfassunggeber
Niedersachsens mit den Evangelischen Landeskirchen 1955; ähnlich Hessen 1960), Fortbildung und dauerhafte Regelung fortgeltender Konkordate (Konkordat Niedersachsen 1965) oder die Anerkennung von Eigenständigkeit und Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen (Vertrag Rheinland-Pfalz mit den Evangelischen Landeskirchen 1962). Weitere Präambel-Zitate bei Alexander Höllerbach, Verträge zwischen Staat und Kirche in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt/M. 1965, S. 75. Reichhaltig ist der Vorspruch zur Grundordnung der EKD (1948, zit. nach dem gleichnamigen Buch von Heinz Βrunotte, Berlin 1954, S. 110). Er formuliert das allen Gliedkirchen gemeinsame reformatorische Schriftprinzip als Grundlage sowie eine Bekenntnisklausel. Eingangsformeln enthalten auch andere kirchliche Grundordnungen (z.B. A K U 1922; Vorspruch Badische Grundordnung vom 5. 5. 1972). Zu Vorsprüchen kirchlicher Verfassungen jetzt Christoph Link, Die "unbeschränkte" Glaubens-, Gewissens- und Lehrfreiheit der Gemeinden im bremischen Kirchenrecht, in: ZevKR 26 (1981), S. 217 (224 f.).
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II. Inhalte
die Präambel als ein legitimes Instrument belassen, um Vergangenheit und Zukunft zusammenzuführen. An einigen Beispielen sei die verfassungsgeschichtliche Dimension der Präambeln in Deutschland illustriert 18. Als eine inhaltliche Konstante entwickelt sich in der Form der Präambel die Idee des dauerhaften Bundes: Die deutsche Bundesakte vom 8. Juni 1815 formuliert: "Übereingekommen, sich zu einem beständigen Bunde zu vereinigen". Ähnlich findet sich in der Präambel der Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 16. April 1867 ("schließen einen ewigen Bund") eine Formel, die in der Präambel der Bismarck- Verfassung von 1871 wiederkehrt. Ein Moment dieses Bundes-Gedankens klingt in der Präambel der Weimarer Reichsverfassung nach ("Das Deutsche Volk, einig in seinen Stämmen"). Die Wiener Schlußakte von 1820 sprach von einem "Band, welches das gesamte Deutschland in Friede und Eintracht verbindet". - Die "Pflege der Wohlfahrt des Deutschen Volkes" findet sich 1867 ebenso wie 1871. Die Verfassungsurkunden des 19. Jahrhunderts lassen im Vergleich eine Reihe von weiteren Gemeinsamkeiten erkennen: Schon die erste Verfassung von Weimar-Sachsen-Eisenach (1816) enthält neben dem Gottesgnadentum (von Herzog Karl August) einen Bericht der Vorgeschichte des Verfassungswerks, eine "Gemeinwohlklausel" ("dauerhaftes Wohl unserer Lande") sowie die Qualifizierung als "landständische Verfassungsurkunde". Die Verfassungsurkunde Bayerns (1818) normiert neben ähnlichen Teilen subjektivierende Formeln wie "kräftigste Gewährleistung Unserer landesväterlichen Gesinnungen" und - vorweggenommen - Grundrechtsbestimmungen wie Meinungsfreiheit, Gleichheit etc. Die Präambel qualifiziert sich im vorletzten Absatz sogar selbst als ein "Grundsätze"-Programm, das nachstehend dann im einzelnen ausgeführt wird. Die Verfassungsurkunde des Großherzogtums Baden (1818) entwirft als zusätzliche Besonderheit eine Zukunftsperspektive: das Versprechen, die Verfassungsurkunde "für uns und unsere Nachfolger" "getreulich und gewissenhaft zu halten und halten zu lassen". Nach ähnlichem Schema ist die Verfassung Württemberg (1819) aufgebaut; von eigenem Charakter ist der Bericht über das vertragsmäßige Zustandekommen ("eine vollkommene beiderseitige Vereinigung"). - Weitere Besonderheiten formuliert die Verfassung Hessen (1831) mit dem "herzlichen Wunsch", daß die Verfassungsurkunde "als festes Denkmal der Eintracht zwischen Fürst und Untertanen noch in späten Jahrhunderten bestehen, und deren Inhalt sowohl die Staatsregierung in ihrer wohltätigen Wirksamkeit
18
Texte zit. nach Ernst Rudolf Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Stuttgart u. a. Bd. 1 (1961), Bd. 2 (1964), Bd. 3 (1966).
8. Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen
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unterstützen, als dem Volk die Bewahrung seiner bürgerlichen Freiheiten versichern, und dem gesamten Vaterlande eine lange segensreiche Zukunft verbürgen möge".
Der Vorspruch des Siebzehner-Entwurfs der Reichsverfassung von 1848 sei hier zitiert, weil die Paulskirchenverfassung selbst sich dann eine Präambel versagt: "Da nach der Erfahrung eines ganzen Menschenalters der Mangel an Einheit in dem Deutschen Staatsleben innere Zerrüttung und Herabwürdigung der Volksfreiheit, gepaart mit Ohnmacht nach Außen hin, über die Deutsche Nation gebracht hat, so soll nunmehr an die Stelle des bisherigen Deutschen Bundes eine auf Nationaleinheit gebaute Verfassung treten".
Preußens oktroyierte Verfassung von 1848 hat folgende Präambel-Inhalte: Gottesgnadentum, Bezugnahme auf "außerordentliche Verhältnisse, welche die beabsichtigte Vereinbarung der Verfassung unmöglich gemacht" haben, sowie auf die "dringenden Forderungen des öffentlichen Wohls". Wesentlich technischer klingt die Präambel der revidierten Verfassung von 1850: Sie formuliert nur das Gottesgnadentum und beschränkt sich im übrigen auf einen knappen Bericht des Weges der Verfassung(gebung) von 1848 bis 1850.
c) Andere westliche, besonders europäische Verfassungen ihre Völker(rechts-)offenheit
Die Verfassunggeber im Europa der Gegenwart bedienen sich auch in ihren jüngsten Werken des Stilmittels der Präambel. Während die Verfassung Griechenland (1975) nur formuliert: "Im Namen der Heiligen, Wesensgleichen und Unteilbaren Dreifaltigkeit" 19, entwirft Spaniens Verfassung von 1978 eine Prä19 Zit. nach der deutschen Übersetzung von Prodromos Dagtoglou, Athen 1976; Spanien zit. nach der offiziellen Übersetzung (Madrid 1979). - Während die ("Kelsen"-) Verfassung Österreichs von 1920 / 29 bzw. 1945 keine Präambel enthält - ebensowenig wie Verf. Norwegen (1814), das Niederländische Grundgesetz (1815), die Verf. Belgien (1831), die Verf. Luxemburg (1868), die Verf. Island (1944) oder die Verf. Italien (1947, diese normiert aber in Art. 1 - 1 2 einen präambelartigen Katalog von Grundprinzipien) - hatte die österr. Verf. von 1934 ebenso eine Präambel ("Im Namen Gottes, von dem alles Recht ausgeht" ... "christlicher deutscher Bundesstaat auf ständischer Grundlage") wie die Unabhängigkeitserklärung von 1945 und der Staatsvertrag von 1955 (zit. nach Felix Ermacora [Hrsg.], Österreichische Bundesverfassungsgesetze, 5. Aufl., Stuttgart 1974 bzw. Bodo Dennewitz, Die Verfassungen der modernen Staaten, Bd. III, Hamburg 1948, und MayerTasch\, Verfassungen [Anm. 13]. Die österreichischen Landes-Verfassungsgesetze enthalten keinerlei Präambel (zit. nach W. Brauneder / B. Bock, Landes-Verfassungsgesetze und LandtagsWahlordnungen, Eisenstadt 1979). Verf. Schweden 1975 (zit. nach JöR, N.F., 26 [1977], S. 369 ff.) formuliert zwar keine Präambel, indes Grundlagenartikel, die in Sprachform und Inhalt Präambelcharakter haben (bes. §§ 1,2). - Die Schweizer Kantonsverfassungen zeichnen sich durch eine große Variationsbreite "in Sachen Präambel" aus: neben Verf. ohne Präambeln (z.B. Luzern, 1875; Graubünden, 1892) finden sich solche, die in ihren Präambeln auf das "Selbstbestimmungsrecht" verweisen (z.B. Zürich, 1869; Bern, 1893) oder (so Uri, 1888) sich nach der invocatio dei auf ihr "mehr als halbtausendjähriges freies Selbstbestimmungsrecht" berufen. Inhaltlich weiter angereichert ist die Präambel der Verf., Obwalden (1968) und Nidwaiden (1965): "Absicht, Freiheit und
13 Häberle
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II. Inhalte
ambel, die klassische und neue Formen und Inhalte dieser Kunstform enthält und damit ein Stück des kulturellen Erbes und der Zukunft der westlichen Verfassungskunst bekräftigt und erneuert. Die inhaltlichen Grundsätze und Absichtserklärungen sind eine Art Essenz des anschließenden Verfassungstextes: "Die spanische Nation, von dem Wunsch beseelt, Gerechtigkeit, Freiheit und Sicherheit herzustellen und dem Wohl aller ihrer Bürger förderlich zu sein, verkündet in Ausübung ihrer Souveränität ihren Willen, das demokratische Zusammenleben im Schutze der Verfassung und der Gesetze und im Rahmen einer gerechten Wirtschafts- und Sozialordnung zu gewährleisten; einen Rechtsstaat zu konsolidieren, der die Herrschaft des Gesetzes als Ausdruck des Willens des Volkes gewährleistet; alle Spanier und Völker Spaniens bei der Ausübung der Menschenrechte und bei der Pflege ihrer Kultur und Traditionen, Sprache und Institutionen zu schützen; den Fortschritt von Wirtschaft und Kultur zu fördern, um würdige Lebensverhältnisse für alle zu sichern; eine fortgeschrittene, demokratische Gesellschaft zu errichten; bei der Vertiefung friedlicher und von guter Zusammenarbeit gekennzeichneter Beziehung zwischen allen Völkern der Erde mitzuwirken..."
Die Präambel zur Verfassung Portugal 20 enthält ebenfalls viele formale und inhaltliche Besonderheiten verfassungsstaatlicher Präambeln: die Feierlichkeit (etwa im Einleitungssatz: "Am 25. April 1974 krönte die Bewegung der Streitkräfte den langjährigen Widerstand des portugiesischen Volkes mit dem Sturz des faschistischen Regimes..."); sodann die historische Dimension in Vergangenheitsbewältigung wie Zukunftsorientierung 21 ("Portugal von Diktatur, Unterdrückung und Kolonialismus zu befreien, bedeutete einen revolutionären Wandel und den Anbeginn einer historischen Wende für die portugiesische Gesellschaft"), schließlich in der Vorformulierung der wichtigsten Verfassungsprinzipien, die der "eigentliche" Verfassungstext später ausgestaltet, ζ. B. den Vorrang der Rechtsstaatlichkeit.
Recht zu schützen und die Wohlfahrt aller zu fördern". Die höchste Steigerung des Präambelgehalts findet sich in der Verf. Jura (1977), vgl. den Passus: "inspiriert" von den Menschenrechten von 1789, der LWO-Erklärung von 1948 und der EMRK von 1950, aber auch das Bekenntnis zur "Zusammenarbeit" mit den Völkern. - Eindrucksvoll Präambel Verf. Aargau (1980): "Das Aargauer Volk in der Absicht die Verantwortung vor Gott gegenüber Mensch, Gemeinschaft und Umwelt wahrzunehmen, den Kanton in seiner Einheit und Vielfalt zu gestalten, Freiheit und Recht im Rahmen einer demokratischen Ordnung zu schützen, die Wohlfahrt aller zu fördern, die Entfaltung des Menschen als Individuum und Glied der Gemeinschaft zu erleichtern, den Stand zu einer aktiven Mitarbeit an der Festigung und am Ausbau der Schweizerischen Eidgenossenschaft zu verpflichten...". - Ähnlich Präambel Verfassungsentwurf Kanton Basel-Landschaft (1979), die noch zusätzlich auf die Absicht, "die Kultur aller zu fördern", verweist. 20 Zit. nach André Thomashausen, Verfassung und Verfassungswirklichkeit im neuen Portugal, Berlin 1981, S. 385 ff. 21 Vergangenheit und Gegenwart verschränken sich in dem beschreibenden Bekenntnis: "Die Revolution gab den Portugiesen die Grundrechte und Grundfreiheiten zurück".
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Die Präambeln nicht weniger westlicher Verfassungsstaaten normieren eine betont universel-menschliche bzw. völkerrechtsfreundliche Tendenz. Unter Bezug auf die Menschheit bzw. die Menschenrechte22 bekennen sie sich zur Zusammenarbeit zwischen den Völkern 23 u. ä. im Sinne von "kooperativen Verfassungsstaaten"24; Beispiele sind die Bezugnahme auf das "Selbstbestimmungsrecht der Völker" in der Präambel Verf. Frankreich (1958) oder die "Eintracht mit anderen Nationen" (Verfassung Irland von 1937)25. Hier läßt sich ein deutlicher Wandel beobachten. Die Schweizer Verfassung von 1874 ist sich noch insofern "selbst genug", als sie (nationalstaatlich) nur von sich selbst spricht; anders schon die Verfassung von Argentinien (1853)26: Garantien "to all men in the World", "Who wish to dwell on Argentine soil" oder Venezuela (1961: "cooperating"). Der Tschad (1962) bezieht sich auf die Menschenrechtserklärung von 1789. - Rheinland-Pfalz (1947) spricht vom Willen, "ein neues demokratisches Deutschland als lebendiges Glied der Völkergemeinschaft zu formen", und das Grundgesetz weiß das Deutsche Volk von dem Willen beseelt, "als gleichberechtigtes Mitglied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen"27. d) Europa- und Völkerrecht
Präambeln begegnen allenthalben im Europa- und Völkerrecht, z.B. in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten von 1950, in der es u. a. heißt: 22
S. ζ. B. das GG, Verf. Baden-Württemberg,
Verf.
Frankreich
1958, Republik Tschad (1962).
23
S. als jüngstes Beispiel Verf. Spanien (1978): "... bei der Vertiefung friedlicher und von guter Zusammenarbeit gekennzeichneter Beziehungen zwischen allen Völkern der Erde mitzuwirken". 24 Dazu Peter Häberle, Der kooperative Verfassungsstaat, jetzt in: ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, Berlin 1978, S. 407 ff. 25 Präambel Verf. Türkei (1973) spricht von ihrer Nation als "gleichberechtigtes und geachtetes Mitglied der Völkerfamilie der Welt" sowie von "Frieden im Land und Frieden in der Welt", die Verfassung Japans (1947) von "den Früchten friedlicher Zusammenarbeit mit allen Völkern", auch beruft sie sich auf ein "allgemein gültiges Prinzip der Menschheit" und sie anerkennt, daß "alle Völker der Welt das Recht haben, in Frieden und frei von Furcht und Not zu leben". 26 Zit. nach Amos J. Peaslee (Ed.), Constitutions of Nations, Rev. 3. ed., Volume I - IV, The Hague 1965 - 1970; I: Africa; II: Asia, Australia, Oceania; IV: The Americas in two parts. - Rev. 4. ed., The Hague 1974,1: Africa. 27 Bemerkenswert Thomas Oppermann, Europäische Integration und das deutsche Grundgesetz, in: Neue Entwicklungen im öffentlichen Recht, hrsg. von Thomas Berberich u. a., Stuttgart u. a. 1979, S. 85 (92 f.): "Diese grundlegende Bekundung der Präambel (sc. zur Aufgeschlossenheit für die Europäische Integration) ist für die Einzelauslegung der weiteren europabezogenen Verfassungsbestimmungen von Bedeutung. Sie setzt gewissermaßen den Ton für jene Interpretationen".
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II. Inhalte
"In Erwägung der Universellen Erklärung der Menschenrechte (von 1948) ... unter erneuter Bekräftigung ihres tiefen Glaubens an diese Grundfreiheiten ... entschlossen, als Regierungen europäischer Staaten, die vom gleichen Geiste beseelt sind und ein gemeinsames Erbe an geistigen Gütern, politischen Überlieferungen, Achtung der Freiheit und Vorherrschaft des Gesetzes besitzen..."
An dieser Umschreibung des - kulturellen - Erbes ist zweierlei bemerkenswert: Ihr Ensemble aus Rechtsgrundsätzen und anderen geistigen Gütern einschließlich politischer Überlieferungen geht nicht im bloß Rechtlichen auf; ferner geschieht dies nicht zufallig in der Präambel, die dem übergreifenden Kulturellen am ehesten Raum läßt und die Brücke zum rechtlichen Ausgeformten schlägt28. Die Europäische Sozialcharta von 1961 postuliert ähnlich vorweg: "In der Erwägung, daß es das Ziel des Europarates ist, eine engere Verbindung zwischen seinen Mitgliedern herzustellen, um die Ideale und Grundsätze, die ihr gemeinsames Erbe sind, zu wahren und zu verwirklichen und ihren wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt zu fördern, insbesondere durch die Erhaltung und Weiterentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten..."
Im Völkerrecht ist die Präambel eine traditionsreiche Institution29. Das Feierliche ihres Duktus und das Diplomatische sind sich ja ohnedies nicht fremd. Die Satzung des Völkerbundes von 1919 beginnt vor den Artikeln mit den Worten^: "In der Erwägung, daß es zur Förderung der Zusammenarbeit unter den Nationen und zur Gewährleistung des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit wesentlich ist, bestimmte Verpflichtungen zu übernehmen, nicht zum Kriege zu schreiten; in aller Öffentlichkeit, auf Gerechtigkeit und Ehre gegründete internationale Beziehungen zu unterhalten...; die Gerechtigkeit herrschen zu lassen..."
Die Charta der Vereinten Nationen von 1945 formuliert vorweg: "... fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren,... unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit... zu bekräftigen ... und für diese Zwecke Duldsamkeit zu üben und als gute Nachbarn in Frieden miteinander zu leben".
28 Vorangegangen war die Satzung des Europarates vom 5. 5. 1949, die in ihrer Präambel ebenfalls eine Brücke zwischen dem Geistigen und den Rechtsprinzipien schlägt: "... in unerschütterlicher Verbundenheit mit den geistigen und sittlichen Werten, die das gemeinsame Erbe ihrer Völker sind und der persönlichen Freiheit, der politischen Freiheit und der Herrschaft des Rechts zugrundeliegen, auf denen jede wahre Demokratie beruht...". 29 Was Sammlungen völkerrechtlicher Dokumente belegen, etwa: Karl Strupp, Urkunden zur Geschichte des Völkerrechts, Bd. I, II, Gotha 1911 (erfaßter Zeitraum: 406 v. Chr. bis 1911); aus dem Staatsverlag der DDR: Völkerrecht. Dokumente, Bd. 1-3, Berlin (Ost) 1980 (erfaßter Zeitraum: 1883 - 1 9 7 9 ) . S. auch Georg Dahn, Völkerrecht, Bd. III, Stuttgart 1961, S. 6 f., 72. 30
1967.
Zit. nach Friedrich
Berber (Hrsg.), Völkerrecht Dokumentensammlung, Bd. I, München
8. Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen
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Die Satzungen der großen UN-Organisationen (von 1945 / 46) erklären ihre hohen Ziele ebenfalls in Präambelform, ob die UNESCO die Schrecken des Krieges bzw. eine bessere Zukunft beschwört31, die Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit einer Legaldefinition der Gesundheit in Präambelform beginnt32, oder wenn die Satzung der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) mit dem Satz anfangt: "Der Weltfriede kann auf die Dauer nur auf sozialer Gerechtigkeit aufgebaut werden", und danach Ziele und Motive offenlegt: w... geleitet sowohl von den Gefühlen der Gerechtigkeit und Menschlichkeit als auch von dem Wunsche, einen dauernden Weltfrieden zu sichern". Viele völkerrechtliche Verträge verwenden in ihren Präambeln ähnliche Formeln, die die Bewußtseinslage der Partner sowie ihre gemeinsamen (Vertrags-) Ziele und Grundsätze (modern: ihr Selbstverständnis) umreißen. Fast läßt sich von einem "Schema" sprechen. So heißt es in der Satzung des Europarates von 1949: "in der Überzeugung", "in unerschütterlicher Verbundenheit mit den geistigen und sittlichen Werten, die das gemeinsame Erbe ihrer Völker sind,... in der Erwägung" usw. Ähnlich formulieren, nur in der Wortwahl unterschiedlich, der EURATOM-Vertrag von 1957, der Vertrag zur Gründung der EWG (1957) oder das 0£CI)-Übereinkommen von 1960 vorweg eine bestimmte "Überzeugung", "Erkenntnis", "Entschlossenheit", "Wunsch", "Absicht", "Bestreben" u. ä. der beteü igten Regierungen. Die einzelnen Willensbildungsstationen, Bewußtseinsformen und Bekenntnisarten finden sich auch im außereuropäischen Bereich33. Die Charta der OAU von 1963 etwa normiert einleitend: n ... Überzeugt, daß es das unveräußerliche Recht aller Menschen ist, ihr eigenes Schicksal zu bestimmen, ... bewußt, daß Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Würde die Hauptziele bei der Verwirklichung des berechtigten Strebens aller afrikanischen Völker sind ... Gewillt, die hart erkämpfte Unabhängigkeit sowie die Souveränität und territoriale Integrität unserer Staaten zu bewahren ..., Dem allgemeinen Fortschritt Afrikas verpflichtet...".
31 Es heißt u. a.: "... Daß die weite Verbreitung der Kultur und die Erziehung des Menschengeschlechts zur Gerechtigkeit, Freiheit und Friedensliebe für die Würde des Menschen unerläßlich sind und eine heilige Verpflichtung darstellen, die alle Völker im Geiste gegenseitiger Hilfsbereitschaft und Anteilnahme erfüllen müssen ..." 32 "Gesundheit ist der Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlebefindens und nicht nur des Freiseins von Krankheit und Gebrechen..." 33 Vgl. die beiden Menschenrechtspakte der UN von 1966, in denen sich ein Instrumentarium von Techniken findet, die die Präambel formal strukturieren und inhaltlich das subjektive Wollen und Hoffen, die Bewußtseinslage und Zukunftswünsche der "Urheber" bzw. "Vertragsstaaten" zum Ausdruck bringen.
188
II. Inhalte
2. Die normative Bewertung von Präambeln in Rechtsprechung und Literatur
Das Bundesverfassungsgericht hat in mehreren Entscheidungen über das Wiedervereinigungsgebot der Präambel des Grundgesetzes judiziert 34 und im KPD-Urteil 1956 Grund dafür gelegt: "Dem Vorspruch des Grundgesetzes kommt naturgemäß vor allem politische Bedeutung zu ... Er ist daher politisches Bekenntnis, feierlicher Aufruf des Volkes zu einem Programm der Gesamtpolitik, das als wesentlichsten Punkt die Vollendung der deutschen Einheit in freier Selbstbestimmung enthält. Darüber hinaus hat aber der Vorspruch auch rechtlichen Gehalt. Er beschränkt sich nicht auf gewisse rechtlich erhebliche Feststellungen und Rechtsverwahrungen, die bei der Auslegung des Grundgesetzes beachtet werden müssen. Vielmehr ist aus dem Vorspruch für alle politischen Staatsorgane der Bundesrepublik Deutschland die Rechtspflicht abzuleiten, die Einheit Deutschlands mit allen Kräften anzustreben, ihre Maßnahmen auf dieses Ziel auszurichten und die Tauglichkeit für dieses Ziel jeweils als einen Maßstab ihrer politischen Handlungen gelten zu lassen..." 35 ' 36
Vor dem KPD-Urteil des Bundesverfassungsgerichtes dominierte in der Literatur die Ansicht, der Präambel des Grundgesetzes wie schon der der Weimarer Reichsverfassung 37 sei eher keine oder nur eine begrenzte rechtliche Wirksamkeit zuzusprechen. G. Dürig etwa stellte fest, die Präambel enthalte zumindest teilweise ethische Deklamationen, die nicht zugleich auch Rechtsnorm
34 BVerfGE 5, 85 (127); 12, 45 (51 f.); 3 6 , 1 (16, 20). S. auch BVerfGE 31, 58 (75 f.) im Blick auf die "völkerrechtsfreundliche Tendenz" des GG. 35 BVerfGE 5, 85 (127). - Eine selbstverständliche Einbeziehung der Präambeln in die GGAuslegung in BVerfGE 31, 58 (75 f.). Den Präambeln der Römischen Verträge entnimmt BVerfGE 51, 222 (238 f.) eine "gesamteuropäische Idee". - Zurückhaltender BVerfGE 4,250 (287): Es bleibt dahingestellt, "ob aus einer Präambel mehr als eine Auslegungsregel für das geltende und eine Richtschnur für das künftige Recht entnommen werden kann". - Zu Präambelproblemen bei Gesetzen und Verordnungen: BVerfGE 2, 266 (283); 46, 73 (94 f.); 53, 366 (403). - Zur Präambel des Reichskonkordats: BVerfGE 6, 309 (336). - BVerfGE 51, 222 (238 f.) benutzt die Präambeln des EWG-, EGKS-, EAG- und Fusionsvertrags als Interpretationsargument. Kritisch zur "Präambeldiktion" der Verträge ("auch sachlich unergiebig") aber H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, Tübingen 1972, S. 989. - Im Klass-Urteil vom 6. Sept. 1978 (Publications de la Cour Européenne des Droits de l'homme, série A vol. 28) hat der EGMR (in § 59) die Präambel der EMRK ohne weiteres in die Auslegung des Kontextes von Art. 8 EMRK einbezogen. 36 Weiter aus der Judikatur zur Präambel des GG: BVerfGE 11, 9 (12 f.); zur Bayerischen Verfassungspräambel: BayVerfGHE, N.F., 9,147 (154); 22, 26. 37 Zur rechtlichen Einordnung der Präambel der Weimarer Reichsverfassung s. Hugo Preuß, Berichte und Protokolle des 8. Ausschusses über den Entwurf einer Verfassung des deutschen Reiches, Berlin 1920, S. 491; im übrigen s. Gerhard Anschütz, Die Verfassung des deutschen Reichs, 14. Aufl., Berlin 1933, S. 31; Ottmar Bühler, Die Reichsverfassung, 3. Aufl., Leipzig 1929, S. 37; Ludwig Gebhard, Handkommentar zur Verfassung des deutschen Reiches, München 1932, S. 58. S. auch Hermann Heller, in: VVDStRL 4 (1928), S. 98 (123: Präambel der RV als "unverbindlicher Gesetzesinhalt").
8. Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen
189
seien38. Ähnlich wie andere Autoren 39 sprach F. Giese davon, die Präambel enthalte nicht imperative, sondern nur aussagende Rechtsnormen, sie trage kaum dispositiven, sondern hauptsächlich deklamatorischen Charakter 40. Das KPD-Urteil bewirkte einen Meinungsumschwung in Richtung auf solche Ansichten, die in der Präambel mehr als nur einen pathetischen Vorspruch sahen, da sie die konstitutiven Faktoren aufzähle, die bei der Schaffung des Grundgesetzes wirksam geworden seien, und hierin rechtliche Feststellungen und Bewertungen, Rechtsveiwahrung und Anspruch zugleich enthielten41; in der Präambel liege ein Richtpunkt zur Beurteilung einer Fülle von schwierigen Problemen des Grundgesetzes; sie berge Auslegungsgrundsätze, die durchweg auf positive Sätze des eigentlichen Verfassungstextes hinwiesen42, oder gar maßgebliche Richtlinien für die zukünftige staatsrechtliche Regelung43. Die verfassungsrechtlichen Diskussionen um den Grundlagenvertrag mit der DDR 38
Günter Dürig, Die Menschenauffassung des Grundgesetzes, in: JR1952, S. 259 (260).
39
Wolfgang Abendroth, Deutsche Einheit und europäische Integration in der Präambel des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland, in: Europa-Archiv 1951, S. 4385 (4387); Hermann von Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz, Berlin, Frankfurt 1953, S. 30; ders. / Friedrich Klàn, Das Bonner Grundgesetz, Berlin, Frankfurt 1957, S. 41; Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Hamburg 1950 ff., Erläuterungen II, 1 h zu Art. 11 GG (Kurt Georg Wernicke ); Andreas Hamann, Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Berlin, Neuwied, Darmstadt 1956, Erläuterungen Β zur Präambel, S. 62. 40 Friedrich Giese, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949, 3. Aufl., Frankfurt 1953, Erläuterungen II, 1 zur Präambel. - Als ältere Dissertationsliteratur über Präambeln noch Karl Weber, Das Wiedervereinigungsgebot im GG für die BR Deutschland vom 23. Mai 1949, Diss. Marburg 1967, S. 7 ff. 41 So schon Karl Schmid, Die politische und staatsrechtliche Ordnung der Bundesrepublik, in: D Ö V 1949, S. 201. - S. ferner die Nachweise bei Peter Schoepke, Die rechtliche Bedeutung der Präambel des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, Diss. Tübingen 1965, S. 157 f., besonders auch bezüglich der ζ. T. in sich widersprüchlichen Aussagen der Kommentare. - Besonders eindeutig: Herbert Krüger, Verfassung, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 11, Göttingen 1961, S. 72 (81): "von höchster Verbindlichkeit". 42 Hamann, Grundgesetz (Anm. 39), S. 62; ähnlich Wilhelm Grewe, Die verfassungsrechtlichen Grundlagen der Bundesrepublik Deutschland, II. Das Grundgesetz, in: DRZ 1949, S. 313 (315). 43 Giese, Grundgesetz (Anm. 40), Erläuterungen II, 1 zur Präambel, S. 9; v. Mangoldt / Klein (Anm. 39), Erläuterungen II, 2 zur Präambel, S. 41. Auch Theodor Maunz, Deutsches Staatsrecht, 23. Aufl. 1980, § 6, vertritt seit der 6. Aufl. (München 1957) die Auffassung, daß die Präambel rechtserheblich sei. Anders aber nach wie vor: Helmut Rumpf, Der ideologische Gehalt des Bonner Grundgesetzes (= Juristische Studiengesellschaft Karlsruhe, Schriftenreihe Heft 36), Karlsruhe 1958, S. 16; Wilhelm Wertenbruch, Grundgesetz und Menschenwürde. Ein kritischer Beitrag zur Verfassungswirklichkeit, Köln, Berlin 1958, S. 154; Otto Model, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl., Moers 1960, Erläuterungen zur Präambel, S. 20; RolfQuist, Kennt das GG ein Wiedervereinigungsgebot?, in: Politische Studien, Heft 200, 1971, S. 614 ff.; s. im übrigen die ausführliche Darstellung des Meinungsstandes zur Präambel bei Schoepke, Präambel (Anm. 41), S. 156 ff.; Uwe Lehmann-Brauns, Die staatsrechtliche Bedeutung der Präambel des Grundgesetzes, Berlin 1964, S. 27 ff.; aus jüngster Zeit: Karl Doehring, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl., Frankfurt 1980, S. 119 f.
190
II. Inhalte
und die Polen-Verträge44 bestätigen dieses Bild 45 . Alle Ansätze sind indes über die Frage der Rechtswirksamkeit der konkreten Präambel des Grundgesetzes nicht wesentlich hinausgekommen46, auch wenn es vielleicht eine neue Sensibilität für die Präambel des Grundgesetzes gibt47. Die verfassungsstaatlich übergreifende Analyse von Präambeln muß neu anzusetzen versuchen.
Π Ι . Präambeln zwischen Alltagssprache und Rechtssprache
Die Beispiele illustrieren, daß sich Präambeln durch eine eigene Sprache und Form auszeichnen. Sie unterscheiden sich von der üblichen eher technischen, an den Fachmann gerichteten, abstrakten, jedenfalls nüchternen Rechtssprache, so unterschiedlich diese ist: man denke an die volksnahe plastische Sprache des Schweizer Zivilgesetzbuches einerseits, die höchst abstrakte verwissenschaftliche Juristensprache des Bürgerlichen Gesetzbuches andererseits. So sehr völkerrechtliche Verträge ihre eigene Feierlichkeit stilisieren, die Präambeln übertreffen auch hier den anschließenden Vertragstext noch beträchtlich, und auch bei den Verfassungen springt der Unterschied zwischen der Sprache der einzelnen Artikel und der Präambel ins Auge.
44 Zur Literatur zur Problematik der Ostverträge s. ζ. B. Everhardt Franßen, Grundgesetz und Ostverträge, in: DRiZ 1972, S. 114 ff.; Otto Kimminich, Deutschland als Rechtsbegriff und die Anerkennung der DDR , in: DVB1. 1970, S. 437 ff.; Walter Lewald, Verfassungsgebot der Wiedervereinigung, Die Bedeutung der Präambel des Bonner Grundgesetzes, in: NJW 1971, S. 89 ff.; Eberhard Menzel, Verfassungswidrigkeit der Ostverträge von 1970?, in: DÖV 1971, S. 361 ff.; Joachim Schweda, Verfassungsgebot der Wiedervereinigung, Die Bedeutung der Präambel des Bonner Grundgesetzes, in: MDR 1971, S. 440 ff.; Wilhelm Wengler, Justitiabilität der Wiedervereinigungsfrage, in: NJW 1971, S. 456 ff.; vgl. auch aus jüngster Zeit: G. Ress, Das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes, in: Gottfried Zieger (Hrsg.), Fünf Jahre Grundvertragsurteil des Bundesverfassungsgerichts, Köln u. a. 1979, S. 265 (270 ff. u. ö.); Rudolf Bernhardt, in: W D S t R L 3 8 (1980), S. 7 (10 ff., 24 ff.). 45 Einzig Lewald (Verfassungsgebot [Anm. 44], S. 90) macht sich Gedanken über die generelle Wirksamkeit der GG-Präambel mit dem Ergebnis, wie in der Weimarer Reichsverfassung entfalte auch sie mangels ausdrücklicher Entscheidung des Verfassunggebers keine Rechtswirkung. 46 Selbst Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1: Grundbegriffe und Grundlagen des Staatsrechts, Strukturprinzipien der Verfassung, München 1977, S. 104, hält die Präambel des GG einer selbständigen Diskussion nicht für bedürftig (s. noch Anm. 97). 47 Vgl. Hasso Hofmann, Rechtsfragen der atomaren Entsorgung, Stuttgart 1981, S. 270 ff. Eine bemerkenswerte interpretatorische Einbeziehung der Präambel im SV v. Schlabrendorff, in: BVerfGE 33, 35 (39 f.), der auch die "invocaiio dei" der Schweiz. BV (1874) mit auf das "Wesen" des Schweizer Staates zielenden Zitaten von M. Huber anreichert (S. 40 f.). Zur Präambel von Gesetzen als Interpretationsgesichtspunkt für das Schweiz. BG: René Rhinow, Rechtsetzung und Methodik, Basel u. a. 1979, S. 262 f.
8. Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen
191
In der Zusammenschau vieler Präambeln von Verfassungen fallen auf: das hohe Pathos, die Feierlichkeit48, das Barocke und Ornamentale, nicht selten Emotionale der Sprache der Präambeln, die von großem Engagement zeugen, ferner die Allgemeinheit der formulierten Inhalte, ihr Generalklauselcharakter, der ins Programmatische weist, sodann eine sehr idealistische, mitunter symbolhafte und -reiche Sprache. Dies kann freilich im einzelnen auch sehr realistisch werden - etwa in der Perhorreszierung früherer, jetzt überwundener Zustände wie des NS-Regimes (in deutschen Landesverfassungen wie Bayern und des Krieges allgemein (in völkerrechtlichen Verträgen, der Charta, der Präambel Verfassung Japan von 1947). Solche sehr konkreten Sätze stehen neben jenen abstrakten Prinzipien50 - ein derartiges Mischungsverhältnis dürfte typisch sein. Sprachanalytisch lassen sich im typologischen Vergleich verschiedener Präambeln drei "Sprachebenen" unterscheiden: (1) Die Feiertagssprache, die "Mehr-als-Hoch-Sprache", oft an altertümlichen, kaum mehr gebräuchlichen und festlichen Stilelementen erkennbar, die auf das Feiertägliche, Besondere an Geburt bzw. Erlaß von Verfassungen und an ihrer Geltung erinnern sollen. (2) Die Alltagssprache: Gemeint ist hier der Gebrauch durchaus üblicher Worte und Begriffe, die dem Bürger daher zunächst auch "näher" zu sein scheinen. (3) Dem Juristen geläufige Fachsprache mit ihrer eigentümlichen Begrifflichkeit. Zwar lassen sich alle drei Spracharten auch in den übrigen Verfassungstexten und -teilen nachweisen; in den Präambeln treffen sie aber meist gleichzeitig aufeinander. Das ist kein Zufall: Normieren Präambeln Wichtiges der Verfassung sozusagen "vor der Klammer", so liegt es nahe, daß alle drei Sprachebenen in dem positiven Verfassungstext "schon" in der Präambel erscheinen51. 48
Präambel Verf. 5. Republik Frankräch
49
S. auch: "Not der Gegenwart" (Verf. Nordrhein-Westfalen
1958: "feierlich". 1950).
50
Beispiele für abstrakte Prinzipien sind das "Bekenntnis zu den unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten" in Verf. Baden-Württemberg (1953), das Postulat des "wirtschaftlichen Fortschritts" (ebda), der Schutz des wirtschaftlich Schwachen vor Ausbeutung {Bremen 1947, ähnlich ebda, Art. 37-39, 52), die Forderung nach "Freiheit, Gerechtigkeit und Wohlstand" für alle (yeti. Nordrhein-Westfalen 1950) oder die "soziale Gerechtigkeit" (Rheinland-Pfalz 1947). 51 Diese "Dreischichtenlehre" - sie will keineswegs Glanz und Ganzheit von Präambeln zerstören - kann nur erste Orientierungen, keine absoluten Klassifizierungen vermitteln: Es gibt Übergänge und Zusammenhänge. - Vgl. allg. zur Rechtssprache: klassisch Ernst Forsthoff, Recht und Sprache, Halle 1940; ferner Helmut Hätz, Rechtssprache und juristischer Begriff, Stuttgart 1963;
49
)
192
II. Inhalte
Die Sprachform von Präambeln ist - wie die Rechtssprache allgemein52 vor allem eine Funktion der Inhalte. Die Feiertagssprache kann den Bürger auf ganz andere Weise "angehen1* und "packen" als dies die bloße Umgangssprache vermöchte; Umgangssprache und Bürgernähe sind also nicht gleichbedeutend! Von der (juristischen) Fachsprache darf gesagt werden, sie sei meist "bürgerfern"; auch in Präambeln sind manche Begriffe von vornherein nur als juristische Fachbegriffe sprachlich verwendbar. Sache der "Feiertagssprache" ist es, die identitätsbestimmende Ordnung für den Bürger wie das politische Gemeinwesen im ganzen zu bekräftigen und zu veranschaulichen. Die alltagssprachlichen Stilelemente in einer Präambel bezwecken, den Bürger nicht nur aus der "Ferne" und Distanz des Feiertäglichen, sondern in der Normalität "anzusprechen"; und die fachtechnischen Partien einer Präambel bringen schließlich zum Ausdruck, daß die Verfassung juristische Grundordnung ist, die den Rahmen und die Basis allen Rechts im Gemeinwesen darstellt, also vom Juristen praktisch gehandhabt werden muß. Der Symbolgehalt von Präambeln und ihr Grundsatzcharakter, ihr SowohlAls-Auch von Idealität und Realitätsnähe, von Feiertagscharakter und Alltagsorientierung können durch eine verfassungstheoretisch fortentwickelte Sprachtheorie entschlüsselt werden. Hier ist den verfassungstheoretischen - kulturellen und juristischen - Dimensionen jener Sprachformen näher nachzugehen; denn die Sprachkultur von Präambeln und ihre Lebenskraft im Alltag steht im Zusammenhang mit der Verfassungskultur eines Volkes. Eis Oksaar, Sprache als Problem und Werkzeug des Juristen, in: ARSP 53 (1967), S. 91 ff.; / . Schmidt, Einige Bemerkungen zur Präzision der Rechtssprache, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie udn Rechtstheorie 2 (1972), S. 390 ff.; Dieter Rave / Hans Brinckmann / Klaus Grimmer (Hrsg.), Paraphrasen juristischer Texte, Darmstadt 1971; Jânos S. Petöfi / Adalbert Podlech / Eike v. Savigny (Hrsg.), Fachsprache, Umgangssprache, Kronberg 1975; Hans Brinckmann, Juristische Fachsprache und Umgangssprache, in: ÖVD 2 (1972), S. 60 ff.; Adalbert Podlech, Rechtslinguistik, bzw. Hannes Rieser, Sprachwissenschaft und Rechtstheorie, in: Dieter Grimm (Hrsg.), Rechtswissenschaften und Nachbarwissenschaften 2., München 1976, S. 105 ff. bzw. 117 ff.; Theodor Viehweg/ Frank Rotter (Hrsg.), Recht und Sprache, Wiesbaden 1977; Waldemar Schreckenberger, Rhetorische Semiotik, Freiburg / München 1978 (dazu meine Besprechung, jetzt in: Peter Häberle, Die Verfassung des Pluralismus, Königstein 1980, S. 106 ff.); Schreckenberger erarbeitet zwar feine Instrumente zur sprachanalytischen Erschließung von Verfassungstexten (z. B. Art. 1 GG), indes wendet er sie leider nicht auf die GG-Präambel an; allgemein zu Sprache und Sprachtheorie vor allem: Karl Bühler, Sprachtheorie, Frankfurt 1978; s. auch Anton Peisl! Armin Möhler (Hrsg.), Der Mensch und seine Sprache, Frankfurt u. a. 1979. Vgl. auch Theo Bungarten (Hrsg.), Wissenschaftssprache, München 1981; J. Habermas, Kleine Politische Schriften (I - IV), Frankfurt 1981, S. 340 ff. 52
Vgl. Peter Noll, Gesetzgebungslehre, Reinbek 1973, S. 244 ff. (dazu meine Besprechung in: JZ 1981, S. 853 ff.); zur Gesetzessprache: Harald Kindermann, Ministerielle Richtlinien der Gesetzestechnik, Berlin u. a. 1979, S. 31 ff.; Hans Schneider, Stil und Sprache der Bundesgesetze, in: Im Dienste Deutschlands und des Rechts, FS für Wilhelm Grewe, Baden-Baden 1981, S. 539 ff.; s. Fiktionen im öffentlichen Recht, insbesondere im Beamtenrecht, Berlin auch Manfred Pfeifer, 1980, S. 196 ff.
8. Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen
193
IV· Verfassungstheoretische Analyse 1. Bürgernahe Sprachkultur als Verfassungskultur
Mehr oder weniger bewußt haben die Schöpfer verfassungsstaatlicher Verfassungen sprachlich das Richtige getroffen: Als "Einstimmung"53 auf den folgenden positiven Verfassungstext und als politische und kulturelle "Wegweisung" heben sich Präambeln sprachlich ab. Sie sind (wie der Verfassungsstaat) für den Menschen da, gehen auf ihn ein54, wollen ihn "gewinnen". Kommunikationen, Integration und Möglichkeiten der Identifikation ("Internalisierung") für den Bürger und damit Legitimation des Verfassungsstaates sind die Hauptfunktionen von Verfassungspräambeln. Für sie ist der Bürger, nicht der Jurist der "Ansprechpartner"; dem Bürger müssen sie Übersetzungsleistungen erbringen - mit den beschriebenen Konsequenzen einer bürgernahen, nicht "zunftmäßigen" Sprache: Die Präambel umreißt den Basiskonsens in einer direkt an alle Bürger (das ganze Volk) 55 gerichteten und darum möglichst allgemein verständlichen Weise. Dementsprechend kompromißhaft und harmonisierend sind Präambeln oft verfaßt: Gerade deshalb können sie sich an Bürger und Juristen wenden. Die nicht im engeren Sinne juristischen Inhalte und Formen von Präambeln und die Bürgerorientierung ihrer Aussagen geben den Blick frei für die oft verdeckten kulturellen Schichten eines Verfassungswerkes. Die - notwendige "Positivität" des Rechts - in Artikeln und Paragraphen - hat ihren kulturwissenschaftlich zu erschließenden Wurzelgrund in Höhen bzw. Tiefen der Präambeln56. Präambeln gehören zur sprachlichen "Schauseite" von Verfassungen. Gewiß wird sanktionsartig die Verpflichtung der Bürger durch die Präambel 53 Sprachlich verweist das Wort "Präambel" auf eine Art "Vorlauf", eine Art Einstimmung, Intonation. Die Grundstimmung des folgenden Werkes soll umschrieben werden: vgl. Duden, Fremdwörterbuch, 3. Aufl., Mannheim, Wien, Zürich 1974, S. 582: "1. Einleitung, feierliche Erklärung als Einleitung einer (Verfassungs-)Urkunde od. eines Staatsvertrages. 2. Vorspiel in der Lauten- und Orgelliteratur". -Brockhaus-Enzyklopädie, Bd. 15, Wiesbaden 1972, S. 75: "1. allgemein: Vorrede, Vorspruch. 2. evang. Kirchenverfassungen:... 3. Musik:... 4. Staatsrecht:...*. 54 Der universal-menschheitliche Aspekt (z.B. Japan 1947: "allgemein gültige Prinzip der Menschheit") findet sich meist bei verfassungsstaatlichen Grundsätzen, ζ. B. den Menschenrechten. Klaus Grimmer, Demokratie und Grundrechte, Berlin 1980, S. 15, sieht vor allem in der Präambel des GG und Art. 1 Abs. 1 GG das "Pathos eines Manifestes". 55 So wie der einzelne Mensch ein Stück seiner Identität in der Muttersprache findet, so kann ein ganzes Volk einen Teil seiner Identität in seiner Verfassung, und in ihr insonderheit in der Präambel fmden. 56 Zum kulturwissenschaftlichen Ansatz im Verfassungsrecht: Peter Häberle, in: W D S t R L 38 (1980), S. 114 ff.; ders., Buchbesprechung, in: AöR 106 (1981), S. 149 (152 ff.); ders., Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, Freiburg 1981, S. 40 ff.
194
II. Inhalte
letztlich erst über den Juristen und seine Interpretation eingelöst Ihre Kulfw/gehalte vermitteln den Präambeln aber eine tiefere Geltungsweise und einen auf eine Art höheren Verbindlichkeitsanspruch als dies der herkömmlich (verfassungs-)juristische Ansatz zu erkennen vermag. Neben den Erziehungszielen sind Präambeln das Erkenntnisfeld für kulturwissenschaftliches Denken im Verfassungsrecht. Prämisse ist ein bestimmtes Verständnis von Verfassung; es sei hier abgekürzt durch die Stichworte: Verfassung als rechtliche Grundordnung von Staat und Gesellschaft, Verfassung als öffentlicher Prozeß, als Rahmen für immer neues Sichvertragen der Bürger, der Legitimierung, Beschränkung und Rationalisierung staatlicher sowie gesellschaftlicher Macht und als Ausdruck des kulturellen Entwicklungszustandes eines Volkes57. Dieses juristische und kulturwissenschaftliche Verfassungsverständnis bewährt sich spezifisch in der Analyse von Präambeln.
2. Die Präambel als Grundlegung und Bekenntnis
Für den Inhalt von Präambeln sind charakteristisch die Formulierung von Werthaltungen, ("hohen") Idealen58, Überzeugungen, der Motivationslage, kurz des Selbstverständnisses der Verfassunggeber. Dieses itekenntnishafte, der "Glaube" (so ausdrücklich ζ. B. die Menschenrechtskonvention), tritt neben, gelegentlich an die Stelle von "Erkenntnissen". Mitunter finden sich euphorische, fast hymnische Züge, die den Charakter einer Einstimmung vermitteln und überhaupt "Glanz" ausstrahlen59. Wo auf diese Weise "letzte" und "erste" Dinge verhandelt werden, stellt sich naturgemäß sehr rasch ein Hauch von Pathos ein. Die hohe Wertintensität von Präambeln zeigt sich auch darin, daß sie gerne auf (ontologische) Vorgegebenheiten wie Gott oder Christus verweisen (ζ. B. Australien 1900, Indonesien 1945, Argentinien 1853)60 bzw. sie anrufen (ζ. B. Irland). Die - fast heilige - Selbstverpflichtung ihm gegenüber, gelegentliche
57 Elemente dieses Verfassungsverständnisses bei Peter Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, in: W D S t R L 30 (1972), S. 43 (56 f.); ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, Berlin 1978, S. 122 ff., 140 ff., 199 f. u. ö.; zuletzt ders., Verfassungsprinzipien als Erziehungsziele, in: Recht als Prozeß und Gefüge, FS für Hans Huber, Bern 1981, S. 211 (220 ff.) - hier Nr. 14. 58
Verf. Japan 1947, Verf. Frankreich
1958.
59
Z. B. Verf. Türkei (1961): "begeistert und beseelt vom türkischen Nationalismus", "... in der Überzeugung, daß ihre (sc. der Verfassung) Hauptgarantie im Herzen und Willen der Bürger liegt" - ein Beleg für den Bürgerbezug! 60
Zit. nach Peaslee (Ed.), Constitutions (Anm. 26).
8. Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen
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Beschwörungen bzw. Anrufungen 61 sind wiederkehrende formale und inhaltliche Elemente und Momente. Präambeln eiweisen sich also in Teilen als "Glaubenssätze" eines politischen Gemeinwesens, und zwar nicht nur bei Bezugnahmen auf Gott und die Verantwortung vor ihm und den Menschen62, sondern auch bei anderen Bekenntnisklauseln 6\ die ausdrücklich ihren "tiefen Glauben an diese Grundfreiheiten" bekräftigen (so Präambel Europäische Menschenrechtskonvention von 1950), bekenntnisnahe Willensbekundungen objektivieren 64 oder subjektive Wünsche und Hoffnungen (ζ. B. Verfassung Berlin 1950: "In dem Wunsche, die Hauptstadt eines neuen geeinten Deutschlands zu bleiben") bzw. Überzeugungen65 und Willensbekundungen66 normativieren. Das Bekenntnishafte, mitunter Fiktive führt in die Tiefenschichten eines verfaßten und auch nach der Verfassunggebung immer neu sich verfassenden Volkes. Rudolf Smend hat sie in seiner Lehre von der Integration auf seine Weise behandelt67. Der demokratische Verfassungsstaat kann auf diese mehr gefühlsmäßigen Bindungen seiner Bürger an ihn, auf die Schaffung von Identifikationsmöglichkeiten für den Bürger und auf seine eigene Bindung an und Verantwortung vor höheren Instanzen und Zusammenhängen nicht verzichten. Auch eine Verfassungstheorie des kritischen Rationalismus kann und will diese
61 Selten ist die Bezugnahme auf das Richteramt Gottes wie in Präambel Verf. WürttembergHohenzollern 1947, zit. nach Bodo Dennewitz (Hrsg.), Die Verfassungen der modernen Staaten, Bd. II, Hamburg 1948. 62
So beim GG (vgl. dazu Ethel Behrendt, Gott und Grundgesetz, München 1980), in der Bad.Württ. Verf. (1953), in Verf. JW?IV (1950); vgl. auch Verf. Bayern (1946) in kritischer Absetzung von einer "Staats- und Gesellschaftsordnung ohne Gott". - Besonders eindrucksvoll - und theologisch - ist hier der Vorspruch der Verf. Rheinland-Pfalz von 1947: "Im Bewußtsein der Verantwortung vor Gott, dem Urgrund des Rechts und Schöpfer aller menschlichen Gemeinschaft", vgl. dazu auch Adolf Süsterhenn / Hans Schäfer, Kommentar der Verfassung für Rheinland-Pfalz, Koblenz 1950, S. 22 ff., 62 f. (62: "Pflicht zur Unterwerfung unter Gottes Gebot auch für den staatlichen Bereich bejaht"). 63 Vgl. Verf. Bad-Württ chen Menschenrechten".
"in feierlichem Bekenntnis zu den unverletzlichen und unveräußerli-
64 Wie Vorspruch Verf. RheinL-Pfalz: "Von dem Willen beseelt, die Freiheit und Würde des Menschen zu sichern" etc.; s. auch Präambel EMRK von 1950: "... als Regierungen europäischer Staaten, die vom gleichen Geiste beseelt sind". 65 Vgl. Präambel Verf. Hessen von 1946: "In der Überzeugung, daß Deutschland nur als demokratisches Gemeinwesen eine Gegenwart und Zukunft haben kann...". 66 Vgl. Präambel Verf. Bremen: "... sind die Bürger dieses Landes willens, eine Ordnung des gesellschaftlichen Lebens zu schaffen, in der die soziale Gerechtigkeit, die Menschlichkeit und der Friede gepflegt werden". 67 Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), jetzt in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl., Berlin 1968, S. 119 (bes. 160 ff., 215 ff., zur Präambel etwa S. 216 f.); s. auch Hsü Dau-Lin, Formalistischer und antiformalistischer Verfassungsbegriff, in: AöR, N.F., 22 (1932), S. 27 (51).
196
II. Inhalte
eher irrationalen Bereiche nicht leugnen; sie liegen in der anthropologischen Prämisse begründet, daß der Mensch auch irrational strukturiert ist. Die offene Gesellschaft und der Verfassungsstaat grundieren und befestigen sich durch derartige inhaltliche Bekenntnisse, sofern nur Garantien wie Freiheit und Gleichheit, Toleranz und Offenheit bewahrt bleiben. Präambeln verweisen jedenfalls auf vorpositive Basis- und / oder GlaubensWahrheiten eines politischen Gemeinwesens; in manchem umschreiben sie ein Stück der "religion civile"68. Vermutlich enthalten auch Verfassungen ohne ausdrückliche Präambeln solche "Glaubenswahrheiten", die ihren Rechtssätzen vorausliegen, denn jede positive Rechtsordnung reicht in solche tieferen Schichten69. Präambeln suchen diese zu rationalisieren und zur Sprache zu bringen - teils in säkularisierter Form, teils in "nochtheologischer" Gestalt. Dieses Grundlegende im Selbstverständnis (in der Identität) eines politischen Gemeinwesens, das Konzentrat, ist das alle Bürger Verpflichtende - fast wie ein "Glaubensbekenntnis", das in den Präambeln sozusagen "vor die Klammer gezogen" und oft vertragsähnlich (im Sinne der Verfassung als Vertrag) formuliert ist.
3. Die Brückenfunktion in der Zeit
Regelmäßige Bauelemente von Präambeln sind Ausformungen der Zeitàìmension: einmal in der Abkehr von einer bestimmten Vergangenheit oder in der Wiederanknüpfung oder "Erinnerung" (z.B. Präambel Verfassung Irland) an bestimmte Überlieferungen und Perioden (Geschichtsbezug z. B. Türkei: "im Laufe ihrer Geschichte"; Bayern: "mehr als tausendjährige Geschichte"; Verfassung Bremen 1947: "jahrhundertealte Freie Hansestadt Bremen"); sie wollen die Vergangenheit negativ (polemisch) oder positiv beschwören70. Präambeln können sich ferner auf die Gegenwart beziehen, gelegentlich in Wunschorientierung, z. B. Berlin: "In dem Wunsch die Hauptstadt eines neuen geeinten Deutschlands zu bleiben". Sie können schließlich Gegenwart und Zu-
68 Vgl. auch die Deutung der Präambeln als Bestätigung eines durch Zivilreligion konstituierten "religiösen Staatsrechts" durch Hermann Lübbe, Staat und Zivilreligion, Ein Aspekt politischer Legitimität, in: N. Achterberg ! W. Krawietz (Hrsg.), Legitimation des modernen Staates, Wiesbaden 1981, S. 40 (46 ff.). 69 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Peter Saladin, Verfassungsreform und Verfassungsverständnis, in: AöR 104 (1979), S. 345 (376 ff.). 70 Vgl. Bayern: "Trümmerfeld", bzw. Verf. Baden von 1947: "Treuhänder der alten badischen Überlieferung"; s. auch Präambel EMRK 1950: "gemeinsames Erbe an geistigen Gütern und Überlieferungen, Achtung der Freiheit und Vorherrschaft des Gesetzes".
8. Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen
kunft als solche in den Blick nehmen71 oder gerade die Zukunft wollen72.
197 "gewinnen"
Soweit Präambeln "Geschichte" eizählen und Bekenntnisse zu ihr ablegen, möchten sie dem menschlichen Bedürfnis nach historischer Vergegenwärtigung und Identität Rechnung tragen, nicht im Sinne wissenschaftlicher Aufbereitung für ein Fachpublikum als vielmehr im Sinne einer Geschichte, "die sich dem Laien verpflichtet fühlt" 73. Hier kann es zwischen Bekenntnissen und Erkenntnissen in Präambeln zu Konflikten kommen: So hält etwa die Präambel des Grundgesetzes einer historisch-kritischen Überprüfung in manchen Partien nicht stand74. Soweit Präambeln sich der Zukunft zuwenden - so wie etwa die künftigen Generationen in der bayerischen Verfassung (1946) im Gesichts- und Verantwortungskreis des Verfassunggebers stehen75 - oder Wünsche und Hoffnungen ausdrücken, enthalten sie einen konkret-utopischen Überschuß: Insofern steckt in der Präambel ein (Zukunfts-)Entwurf 76. Er trägt ein Stück jener fruchtbaren Spannung zwischen Wunsch und Wirklichkeit in die Verfassung (und Politik), wie sie auch in anderen Partien eines Verfassungstextes, ζ. B. bei Verfassungsaufträgen, nachweisbar ist. Oft muß aber ein Volk Geduld haben im Blick auf 71 So Hessen, 1946; Nordrhein-Westfalen: "... die Not der Gegenwart in gemeinsamer Arbeit zu überwinden"; s. auch Präambel ESC von 1961: "Erhaltung und Weiterentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten". 72
Ζ. B. Rheinland-Pfalz, 1947: "ein neues demokratisches Deutschland als lebendiges Glied der Völkergemeinschaft zu formen"; ferner die Fortschrittsklausel: Verf. Baden-Württemberg 1953, £ WG-Vertrag 1957; Präambel Verf. Baden von 1947: "... beseelt von dem Willen, seinen Staat im demokratischen Geist nach den Grundsätzen des christlichen Sittengesetzes und der sozialen Gerechtigkeit neu zu gestalten"; vgl. auch Präambel EMRK ν on 1950: "die ersten Schritte auf dem Wege zu einer kollektiven Garantie". Präambel der USA von 1787: "... uns selbst und unseren Nachkommen". 73 Vgl. Gordon A. Craig, Das Gedächtnis der Welt am Leben erhalten. Der Historiker und sein Publikum: Plädoyer für eine Geschichte, die sich dem Laien verpflichtet fühlt, in: Die Zeit vom 13. 11.1981, S. 36. 74 Dazu Dietrich Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1978, S. 80 ff. 75
Auch die Hessische Verfassung (1946) läßt den Zukunftsaspekt schon in der Präambel und damit sehr grundsätzlich anklingen: "In der Überzeugung, daß Deutschland nur als demokratisches Gemeinwesen eine Gegenwart und Zukunft haben kann ..." - Schon die Präambel der hessischen Verfassungsurkunde von 1831 dachte in weiten Zukunftsräumen: "Als festes Denkmal..." "noch in späten Jahrhunderten bestehen ...," "segensreiche Zukunft". Ihr Schlußsatz spricht von "bleibender Grundverfassung, die zu allen Zeiten treu und unverbrüchlich beachtet werde". Solche Verheißungen von Dauerhaftigkeit in Präambeln werden geschichtlich oft widerlegt, in diesem Sinne: Ulrich Scheuner, Die Funktion der Verfassung für den Bestand der politischen Ordnung, in: Wilhelm Hennis / Peter Graf Kielmannsegg / Ulrich Matz (Hrsg.), Regierbarkeit, Bd. 2, Stuttgart 1979, S. 102 (113). 76
Vgl. Richard Bäumlin, Staat, Recht und Geschichte, Zürich 1961, S. 34.
198
II. Inhalte
die Wünsche und Hoffnungen der Präambel: Ein bitteres Beispiel ist die grundgesetzliche Hoffnung auf die "Einheit und Freiheit Deutschlands"77. Anders als beim rechtstechnischen Instrument der Fiktion78 darf der konkret-utopische Gehalt der Präambel nicht im schlechten Sinne abstrakt-utopisch, fiktiv, unerreichbar und damit auch für den Bürger ohne Überzeugungskraft sein (oder werden). Die Verfassung Spaniens (1978) bringt im Text der Präambel sowohl die traditionale Dimension wie die FortócAr/tts-Perspektive zum Ausdruck: "Pflege ihrer (sc. aller Spanier und Völker Spaniens) Kultur und Tradition" einerseits, "Fortschritt von Wirtschaft und Kultur zu fördern, um würdige Lebensverhältnisse für alle zu sichern, eine fortgeschrittene demokratische Gesellschaft zu errichten" andererseits. Durch die Plazierung in der Präambel ist der hohe Rang hinreichend dokumentiert: Sie zieht den "Geist" der nachfolgenden rechtlichen Normierung sozusagen vor die Klammer. - So gesehen formulieren Präambeln für den Bürger ein Stück politische und kulturelle Heimat, die sich aus dem Werden der Geschichte und den gemeinsamen Fortschritts-Hoffnungen für die Zukunft ergibt Präambeln sind folglich der Versuch, die Verfassung "in der Zeit" zu halten: zwischen kulturellem Erbe und Zukunft, zwischen Tradition und Fortschritt etc. Dieser "großen" Dimension entspricht eine "große" Sprache! Der Verfassunggeber ordnet sich dadurch in größere zeitliche Zusammenhänge ein und begreift sich insofern nicht als "autonom"79. Diese Verpflichtung mag theoretisch und formal eine Selbstbindung und Selbstverpflichtung sein; materiell und praktisch ist sie eine treuhänderische Einbindung80, ohne die die konkrete Verfassung nicht zu leisten gewesen wäre, und eine Umschreibung des kulturellen und historischen Kontextes der Verfassung: Präambeln sind also auch eine Essenz des Kontextes der Verfassung.
77 S. auch Verfassung Irland von 1937: "... auf daß die Würde und Freiheit des Individuums gewährleistet, eine gerechte soziale Ordnung erreicht, die Einheit unseres Landes wiederhergestellt und Eintracht mit anderen Nationen begründet werde ...". In Art. 3 wird "bis zur Wiedervereinigung" die Geltungskraft der Gesetze auf den Irischen Freistaat beschränkt. Diese Dissonanz zwischen Präambel und rechtlichem Verfassungsartikel (3) ist ein anschauliches Beispiel für eine fruchtbare Spannung zwischen konkreter Utopie in "idealistischen" Präambeln und der vorläufigen Selbstbeschränkung des "realistischen" nachfolgenden Verfassungsrechts. 78
Zu ihm s. meine Buchbesprechung in: D Ö V 1981, S. 809 f.
79
Vgl. auch Hofmann, Rechtsfragen (Anm. 47), S. 270 f.
80
Vgl. die Präambel der Verfassung des Landes Baden (1947), zit. nach Dennewitz, Verfassungen (Anm. 61): "Im Vertrauen auf Gott hat sich das badische Volk, als Treuhänder der alten badischen Oberlieferung beseelt von dem Willen, seinen Staat im demokratischen Geist nach den Grundsätzen des christlichen Sittengesetzes und der sozialen Gerechtigkeit neu zu gestalten, folgende Verfassung gegeben." - Eher beiläufig zu diesem Vorspruch: BVerfGE 1,14 (50 f.).
8. Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen
199
4. Inhaltliche K o n k o r d a n z e n m i t anderen Verfassungsnormen (insbesondere Erziehungszielen, Feiertagsgarantien, Eidesklauseln u n d Bekenntnisartikeln)
Auch "innerhalb" der Verfassungen gibt es Passagen, die in ihrer eher feierlichen Sprache eine spezifische Nähe zu Präambeln aufweisen, ebenfalls zur bürgernahen, primär kulturwissenschaftlich zu erschließenden "Schauseite" der Verfassungen gehören und die nicht-juristische (Ver-)Fassung des Gemeinwesens konstituieren. Gemeint sind vor allem Erziehungsziele und Feiertagsgarantien, Eidesklauseln und Bestimmungen über Flaggen, Wappen und Hymnen. Auch sie nehmen auf die Bewußtseins- und Seelenlage des Verfassunggebers bzw. des Volkes und der Bürger Bezug; auch sie spiegeln etwas von ihrer Psyche wider 81 und strukturieren Irrationales. Ihre parallelen Inhalte und ihr Bekenntnischarakter zeigen einen direkten Zusammenhang und Gemeinsamkeiten mit den Kulturgehalten der Präambeln: Sie sind aus demselben "Geist und Stoff, aus dem Präambeln stammen. Die Berufung auf eine bestimmte Geschichte des Volkes verbindet die Präambel innerlich mit bestimmten Feiertagen82 desselben Volkes. Feiertagsgarantiert sind sprachlich und sachlich in derselben kulturell-politischen Tie- so der fenschicht angelegt. Sie bleiben teils eher vergangenheitsorientiert noch heute in Belgien und seit Staatspräsident Mitterrand (1981) wieder in Frankreich gefeierte 11. November (als Tag des Waffenstillstands des 1. Weltkrieges); sie veranschaulichen wie Präambeln die geschichtliche Bewußtseinslage eines Volkes und zeigen, wie Geschichte in Völkern nachwirkt und kraft Verfassunggebung auch nachwirken soll: sie "transportieren" Geschichte, und sind, ebenso wie Erziehungsziele oder Flaggenartikel, geronnene und je neu gerinnende Geschichte. Feiertagsgarantien besitzen - wie Präambeln - auch eine zukunftsorientierte Dimension; sie zeigt sich am deutlichsten an einem Feiertag wie dem 1. Mai, der in sich Geschichte und Zukunft, Erbe und Auftrag verknüpft und Arbeiterbewegung bzw. freie Gewerkschaften stets neu in den Verfassungsstaat (mit-) integriert. Anschaulich formuliert Art. 32 Verfassung Hessen (1946): "Der 1. 81 Gerade die Präambeln gebrauchen immer wieder Wendungen wie "erschüttert" (Bremen, 1947), "willens" (Bremen, 1947), "beseelt" (ζ. B. Baden-Württemberg, 1953; Rheinland-Pfalz, 1947), "in der Überzeugung" (Hessen, 1946), "Entschluß" (Bayern, 1946). 82 Treffend W. Wiegand, im Blick auf Frankreich (FAZ vom 23. 7. 1981, S. 21): "Feste aber sind ritualisierte Ausnahmesituationen, sind Ausdruck der Freude über endlich versöhnte Gegensätze, sind Vergewisserungen der Gemeinsamkeit und im tiefsten Wesen wohl auch Eingeständnis der Vergänglichkeit". - Zu Sonn- und Feiertagen s. m. w. N. den gleichnamigen Beitrag von HansWolfgang Strätz, in: HdbStKirchR, Bd. 2, Berlin 1975, S. 801 ff.; jetzt Bayer. VerfGH, in: BayVBl. 1982, S. 273 ff.
14 Häberle
200
II. Inhalte
Mai ist gesetzlicher Feiertag aller arbeitenden Menschen. Er versinnbildlicht das Bekenntnis zur sozialen Gerechtigkeit, zu Fortschritt, Frieden, Freiheit und Völkerverständigung". Dies geschieht in einem von der Verfassung Hessen durchgehaltenen Gleichklang mit anderen Garantien; auch sie sind aus einem "Geist" gearbeitet: der Gedanke der "sozialen Gerechtigkeit" prägt nicht nur den Abschnitt "soziale und wirtschaftliche Rechte und Pflichten" der Hessischen Verfassung allenthalben (vgl. besonders Art. 28,30,38,47). Das Leitziel "Frieden" und "Völkerverständigung" bestimmt auch die Erziehungsziele in Art. 56 Verf. Hessen (besonders Absatz 4 und 5) ω . Eine ähnlich deutliche innere Verbindung zwischen Präambeln und Staatszielen, Erziehungszielen84 und Feiertagsbekenntnis läßt sich an der Verfassung Bremen (1947) belegen: Die Präambel formuliert auf dem Hintergrund der "autoritären Regierung der Nationalsozialisten", die Bürger des Landes seien "willens", eine Ordnung des gesellschaftlichen Lebens zu schaffen, "in der die soziale Gerechtigkeit, die Menschlichkeit und der Friede gepflegt werden, in der der wirtschaftlich Schwache vor Ausbeutung geschützt und allen Arbeitswilligen ein menschenwürdiges Dasein gesichert wird". Sofort in Art. 1 ist die Thematisierung von Menschlichkeit in der Präambel aufgegriffen (Bindung aller drei Gewalten an die "Gebote der Sittlichkeit und Menschlichkeit"). In den Erziehungszielen kehrt nicht nur die "Würde des Menschen" aus der Präambel wieder, der Friedensgedanke findet sich als Toleranzgebot wieder. Noch verblüffender ist die Konkordanz zwischen der Präambel und der Feiertagsgarantie bzw. den Staatszielen sowie den Erziehungszielen. Art 55 bestimmt den 1. Mai als "Bekenntnis zu sozialer Gerechtigkeit und Freiheit, zu Frieden und Völkerverständigung" - gerade die Völkerverständigung prägt auch Erziehungsziele von Art 26 Ziff. 1 und 4 Verf. Bremenl Art. 65 formuliert eine allgemeine Staatszielbestimmung in Gestalt des Bekenntnisses zu "Demokratie, sozialer Gerechtigkeit, Freiheit, Frieden und Völkerverständigung". Inhaltliche Konkordanzen zwischen Präambeln und anderen Normen wie Feiertagsgarantien und Erziehungszielen finden sich teils schon dem Wortlaut nach, teils in der Sache, auch in den Verfassungen von Baden-Württemberg (1953), Bayern (1946), Rheinland-Pfalz (1947) oder Nordrhein-Westfalen (1950). Ihre Themen und Ziele, die in Grundrechtsgarantien ebenso berührt werden wie in Erziehungszielen, in Normen zu "Arbeit und Wirtschaft" wie in den Feiertagsgarantien, belegen einen spezifischen Zusammenhang zwischen Präambeln einerseits, Erziehungszielen, Feiertagsgarantien sowie anderen Be83
Vgl. auch den ähnlichen Zusammenhang zwischen Art. 40 und Art. 26 Verfassung Baden
(1947). 84
Vgl. schon Häberle, Erziehungsziele (Anm. 56), S. 75 ff.
8. Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen
201
kenntnisartikeln (wie Flaggen, Hymnen) und Eidesklauseln (z. B. Art. 56 GG, Art. 48 Verf. Baden-Württemberg, Art 53 Verfassung Nordrhein-Westfalen) andererseits85. Gerade beim Amtseid des Lehrers auf die Verfassung, die er ζ. T. als Erziehungsziele) pädagogisch vermitteln soll (vgl. Art 36 Verfassung RheinlandPfalz), wird augenfällig, wie der Eid Verfassungsbewußtsein schafft, (Teil-) Identifikation mit der Verfassung - gerade in und für Krisenzeiten - feierlich aktualisiert und zur immer neuen Gewinnung der Jugend beitragen will, wie dies über Feiertage und Erziehungsziele geschehen soll.
V· Umrisse einer Theorie der Interpretation von Verfassungspräambeln So sehr Präambeln die "offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten" angehen und damit jeden Büiger, so sehr entfalten sie auch in der Hand des Verfassungsinterpreten im engeren Sinne normative Kraft 86. Im folgenden werden ergänzend die Umrisse einer eher juristischen Interpretationstheorie skizziert
1. Der innere Zusammenhang der verschiedenen Normierungstechniken
Ausgangspunkt ist der Tatbestand, daß die auf die Präambel nachfolgenden Verfassungsartikel oft inhaltlich Teile der Präambel ausformulieren, konkretisieren, positivieren, wenn man will: in juristisch-technische Form hinüberführen. Aus Bekenntnissen zu Menschenrechten werden konkret formulierte Menschenrechte und Erkenntnisse87, aus globalen Bekenntnissen zu Werten wie "Friede" werden einzelne Erziehungsziele wie Toleranz etc. Mit dem Anspruch der Präambel wird also schon im Verfassungstext ernst gemacht88. 85 Zum Eid: Ernst Friesenhahn, Der politische Eid, Bonn 1928 (Neudruck Darmstadt 1979); BVerfGE 33,23 (26 ff., 31). 86 Zur Terminologie Peter Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, in: JZ 1975, S. 297 ff., auch ders., in: Pluralismus (Anm. 51), S. 79 ff. 87 Die Menschenrechtspakte der UN von 1966 enthalten Erkenntniskfause)n, die sich ζ. T. auf dieselben Inhalte richten, die deutsche Verfassungen in Bekenntnisform und präambelhaft voranschicken ("In der Erkenntnis» daß sich diese Rechte aus der dem Menschen innewohnenden Würde herleiten"). Das GG enthält sogar in Art. 1 Abs. 2 eine Bekenntnisklausel (zu den Menschenrechten), ein Beleg für die Austauschbarkeit von Präambelinhalten und Artikeln. 88 Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte in der Französischen Verfassung von 1791 (zit. nach Franz, Staatsverfassungen [Anm. 14]) bildete noch einen selbständigen Vorspann vor der Verfassung und deren Präambel, während in der folgenden Verfassung von 1793 diese (nun um-
202
II. Inhalte
Beispiele sind der Menschenwürdesatz in der Präambel Verfassung Bayern und ihr Art. 100; nicht nur die Verfassung Berlin (1950) formuliert einen "Vorspruch", der im Grundrechtsteil (Art. 6 - 24) speziell geschützt wird; der "Friede" wird durch einen fast präambelartigen "Spezialartikel" (Art 21 Abs. 1) gesichert Ein Beispiel aus dem Grundgesetz ist der Auftrag zur deutschen Einheit in der Präambel und die Normierung in Art 146 Grundgesetz, die "zusammenzulesen" sind89. Auf andere Passagen der Präambeln wird mitunter in den anschließenden Verfassungsartikeln nicht eingegangen. Die Präambel der Verfassung Hamburg (1952) etwa normiert die sittliche Pflicht, für das Wohl des Ganzen zu wirken; auch ist die "Arbeitskraft" unter den Schutz des Staates gestellt. In den folgenden Verfassungsartikeln werden diese Gedanken aber nicht ausdrücklich aufgegriffen; es gibt insbesondere keinen Abschnitt über Grundrechte und Grundpflichten. Ein Vergleich mit Art 117, 151 Verfassung Bayern oder mit Art. 9, 38 Verf. Bremen zeigt indes, daß das, was Hamburg (nur) in (s)einer Präambel regelt, in anderen Verfassungen auch in den "eigentlichen" Verfassungsartikeln normiert sein kann. Umgekehrt enthalten manche deutsche Landesverfassungen gar keine Präambel, kommen aber gleichwohl zu Verfassungsgarantien, die das konkretisieren, was andere deutsche Länderverfassungen nach 1945 präambelartig voranschicken. Nach allem führt der gemeinsame kulturelle Regelungsgehalt zu unterschiedlichen Normierungstechniken, die teilweise vertauschbar erscheinen90. Dies wird etwa daran sichtbar, daß eine karge Präambel in späteren Teilen der Verfassung sehr grundsätzliche oder präambelartig gehaltene Artikel notwen-
formulierte) Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte zum alleinigen Vorspann und - obwohl in Artikel gegliedert - präambelartig erscheint. Diese historisch erklärbare Technik, die Menschenrechte, "nur" in der Präambel zu verankern, prägt die französische Tradition der Verfassunggebung ζ. T. bis heute (Verf. von 1958). - Eine ausführliche Präambel ("à toujours") enthält die charte constitutionnelle vom 4. Juni 1814: die französische Verfassung von 1848 normiert ausdrücklich eine in I bis V I I I gegliederte "Préambule", die folgenden Artikel greifen einzelne ihrer Prinzipien auf (die beiden letzten Zitate nach J. Godechot [Hrsg.], Les Constitutions de la France depuis 1789, Paris 1979). 89 S. schon Ulrich Scheuner, Art. 146 und das Problem der verfassunggebenden Gewalt, in: D Ö V 1953, S. 581 (581, 583); ferner Karl Doehring, Die Wiedervereinigung Deutschlands und die europäische Integration als Inhalte der Praämbel des Grundgesetzes, in: DVB1.1979, S. 633 ff., der (S. 635) einen "Hinweis" für den Rechtscharakter des Wiedervereinigungsgebots der Präambel in Art. 146 GG sieht und überdies die Integration Europas als "rechtliches" Ziel und Gebot der Präambel ansieht (s. noch Anm. 27). 90 Eine solche Vertauschbarkeit besteht mitunter auch zwischen dem ersten Artikel einer Verfassung und der Präambel, vgl. Art. 1 Abs. 1 Verf. Württemberg-Baden von 1946 (zit. nach Bennewitz, Verfassungen [Anm. 61]) mit der Verfassungspräambel von Hamburg (1952).
8. Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen
203
dig machen kann91. Auch das Denkspiel, Verfassungen ohne Präambel (ζ. B. von Schleswig-Holstein) eine adäquate Präambel vorauszuschicken oder umgekehrt bei Verfassungen mit Präambeln diese für Erziehungsziele fruchtbar zu machen, belegt jene Zusammenhänge erneut Charakteristisch für den inhaltlichen Zusammenhang sind sog. "Im GeisteKlauseln" (ζ. B. Präambel Abs. 1 und 5 Hamburg). Ihre Essenz der Einstellung und Werthaltung, aus der heraus das Verfassungs- oder Vertragswerk geburtsurkundenähnlich entworfen ist, soll seine späteren Einzelregelungen prägen. Doch auch ohne ihre ausdrückliche Verwendung sind Präambeln der Sache nach "Im Geiste-Klauseln" par excellence, insofern sie das Bewußtsein, die "Seelenlage", die Willensinhalte, auch Emotionen des konkreten Verfassunggebers zum Ausdruck bringen und den Brückenschlag zu dem aus diesem "Geist" positivierten Verfassungswerk leisten möchten92. Diese Suche nach normtechnischen Zusammenhängen und funktionalen Äquivalenten für Präambeln will nicht die je konkrete und höchst individuelle Architektur der einzelnen verfassungsstaatlichen Verfassungen vernachlässigen; sie vermag aber (vor allem "gemeindeutsch") weiterzuhelfen, soweit Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht überhaupt sinnvoll ist93: Diese kann hier ein Argument für die rechtliche Gleichrangigkeit unterschiedlicher Normierungstechniken sein.
2. Die normative Bindungswirkung von Präambeln
Ein Wort zur normativen Bindungswirkung von Präambeln94. Ihre wissenschaftliche Strukturierung muß differenzieren 95: zu unterschiedlich und reich gegliedert ist die "Landschaft" der einzelnen Präambeln. Generell haben sie Ähnlichkeit mit den Planungszielen96. Wie diese formulieren sie Zielvorgaben, die zum Teil so komplex sind, daß sie sich nicht in Wenn-Dann-Sätzen, also 91 Vgl. ζ. B. den "restraint" in Präambel-Poesie der Verf. Hessen 1946 mit der detaillierten Ausgestaltung von Grundrechten und Demokratieprinzip im Verfassungstext. 92
Vgl. auch Bay VerfGHE, N.F., 9,147 (154).
93
Vgl. bes. Jörg Manfred Mössner, Rechtsvergleichung und Verfassungsrechtsprechung, in: AöR 99 (1974), S. 193 ff. 94 Vgl. zuletzt Ingo von Münch, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 2. Aufl., München 1981, Präambel / Rdnr. 2 und 3 m. w. N.; ferner Dietrich Zais, Rechtsnatur und Rechtsgehalt der Präambel des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949, Diss. jur. Tübingen 1973, S. 9 ff., 31 ff. 95 Vgl. Lehmann-Brauns, Präambel (Anm. 43), S. 2 ff.; Zais, Rechtsnatur (Anm. 94), S. 118 ff.; v. Münch, Grundgesetz (Anm. 94), Rdn, 3; zust. Rethorn, Funktionen (Anm. 17), S. 309 f. 96
Dazu Walter Schmitt Glaeser, Konflikt und Planung, in: Die Verwaltung 15 (1981), S. 277 (289 ff.) m. w. N.
204
II. Inhalte
nicht konditional formulieren lassen97. Sie bedeuten aber kein Aliud gegenüber dem Normativen. Versteht man Verfassung als normativen Gesamtplan98, so fügen sich Präambeln in dieses Konzept durchaus ein: Sie sind "Leitmotiv der Verfassung" 99. Präambeln entziehen sich jedenfalls der für sie unangemessenen Alternative: Programmsatz oder unmittelbar bindendes positives Verfassungsrecht. Sie sind auch als "programmatische" Sätze "schon" von positiver Wirkung 100. Ihre je konkrete Ausformung in den nachfolgenden Verfassungsartikeln erschöpft nicht ihre Bedeutung. Es bleibt immer ein Stück "überschießender Tendenz" bei aller späteren Positivierung. So war ζ. B. das grundgesetzliche Gebot deutscher Einheit in manchen Perioden zum Teil eher im Schatten der öffentlichen Aufmerksamkeit, heute rückt es wieder stärker ins Bewußtsein. Diese rechtliche Bindung besteht unabhängig von den jeweiligen Sprachschichten in der Präambel und läßt sich als Tableau einer unterschiedlichen Intensität des normativen Wirkens und einer unterschiedlichen Geltungsebene von Präambeln zeichnen: (1) Manche (Teile von) Präambeln wirken in Verbindung mit nachfolgenden Verfassungsartikeln. Beispiele sind die Präambel des Grundgesetzes (Einheit Deutschlands) in Verbindung mit Art 146 Grundgesetz oder Präambel Verf. Bayern (Würde des Menschen) in Verbindung mit Art. 100 ebenda101. (2) Manche Präambeln entfalten allein und als solche ohne die Konkretisierung in nachstehenden Artikeln normative Kraft. Das gilt etwa für die Präambelteile der Verfassung Hamburg "Friede" und Völker-Mittlerin. Sie vermögen in Hamburg die Kraft von Erziehungszielen zu entfalten, und der hamburgische Schulgesetzgeber hat dies auch so verstanden102. Diese Präambelgehalte können 97
Vgl. auch Stern,, Staatsrecht, Bd. 1 (Anm. 46), S. 104.
98
Dazu Alexander Höllerbach, Ideologie und Verfassung, in: Werner Maihof er (Hrsg.), Ideologie und Recht, Frankfurt 1969, S. 37 ff. 99 So Bay VerfGHE, N. F., 9, 147 (194) im Anschluß an Hans Nawiasky 1 Claus Leusser, Die Verfassung des Freistaates Bayern, München 1948, Vorspruch / Erl. 3, S. 78; Theodor Meder, Die Verfassung des Freistaates Bayern, 2. Aufl., München 1978, Vorspruch / Rdnr. 2 (S. 61) entnimmt der Präambel für die Auslegung der Verfassung "rechtserhebliche Grundsätze".
100 Ygj fü r die Präambel des GG auch Wilhelm Wertenbruch, Grundgesetz und Menschenwürde, Köln, Berlin 1957, S. 154: Die Präambel enthalte keinen Rechtssatz, sei aber für die Gesetzesauslegung "allgegenwärtig". 101 S. auch Verf. Baden-Württemberg (Präambel: "Verantwortung vor Gott") in Verbindung mit dem Erziehungsziel "Ehrfurcht vor Gott" in Art. 12 Abs. 1; das Rechtsgut "Friede" in Präambel Bremen i. V. m. dem Erziehungsziel "friedliche Zusammenarbeit" (Art. 26 Ziff. 1) sowie dem Staatsziel "Frieden" (Art. 65).
102 Nachweise in Häberle, Verfassungsprinzipien (Anm. 57), S. 227 - hier Nr. 14.
8. Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen
205
ferner in den Ermessensbereich staatlichen Handelns determinierend hineinwirken, etwa bei der Subventionsvergabe im Kulturbereich. (3) Präambeln können Interpretationstopoi (ohne Zwischenschaltung von Verfassungsartikeln) für die Auslegung einfachen Gesetzesrechts sein und kombiniert mit Verfassungsartikeln und Gesetzesrecht auf den Interpretationsprozeß der Verwaltung und der Justiz wirken. (4) Gestaltungsspielräume des Staates in allen seinen drei Funktionen werden aus Präambeln inhaltlich gespeist Hier verbinden sich Momente "bloßer" Programmatik mit Positivität Selbst die Außenpolitik wird hier rechtlich gebunden (man denke für die Deutschlandpolitik an das Grundlagenvertragsurteil!). Bei den Adressaten von Präambeln ist zu differenzieren: Ohne zusätzlichen staatlichen Positivierungsakt, sei es des Gesetzgebers, sei es der Verwaltung oder des Richters, sind Präambeln für den Bürger "nur" moralischer Appell ohne unmittelbare rechtliche Verbindlichkeit 103 - so sehr sie ihn sprachlich in (sozial-)ethischer Hinsicht wie "soft law" "ansprechen" wollen. Präambeln sind im Blick auf den Bürger grundsätzlich nicht "seif executing", weil für ihn zu allgemein, zu politisch oder zu "kulturell". - Für die staatlichen Funktionen aber - also den verfassungsändernden Gesetzgeber ebenso wie den Gesetzgeber, die Exekutive wie die Rechtsprechung - besitzen die Präambeln in unterschiedlicher Intensität und mit unterschiedlicher Folgenwirkung die skizzierte normative Bindung: von der "bloßen Programmatik" über den Interpretationstopos und das Erziehungsziel bis zum Verfassungsauftrag 104 (wie dem Wiedervereinigungsgebot) und "positiven" Rechtssatz. Präambeln fundieren das geltende Verfassungsrecht, sie bekräftigen es, sie "dirigieren" das untergesetzliche Recht und sie determinieren flexibel politisches Handeln. Letztlich sind sie eine Art Normativitätsreserve.
103 Weitergehend aber Theodor Maunz, in: Maunz / Dürig, Kommentar zum GG, Präambel / Rdnr. 9 (betr. Wiedervereinigungsgebot). 104 Zu Verfassungsaufträgen Peter Lerche, Das Bundesverfassungsgericht und die Verfassungsdirektiven. Zu den "nicht erfüllten Gesetzgebungsaufträgen", in: AöR 90 (1965), S. 341 ff.; Ekkehard Wienholtz, Normative Verfassung und Gesetzgebung. Die Verwirklichung von Gesetzgebungsaufträgen des Bonner Grundgesetzes, Freiburg i. Br. 1968.
206
II. Inhalte
3. Die Einheit der Verfassung
Präambeln sind Bestandteil der Verfassung 105 und nach dem Grundsatz der "Einheit der Verfassung" entsprechend auszulegen. Sie bilden keine "Überverfassung"; bei Konflikten sind die bewährten Interpretationsmethoden anzuwenden, etwa die "praktische Konkordanz" (Konrad Hesse). Die Anrufung "Gottes" in Präambeln steht ζ. B. in Spannung mit grundsätzlichen Errungenschaften des westlichen Verfassungsstaates, insonderheit der Religionsfreiheit und der weltanschaulich-konfessionellen Neutralität. Darum ist hier von den Verfassungsartikeln wie Art4 und 140 Grundgesetz in Verbindung mit Art. 136 Abs. 1 Weimarer Reichsverfassung her die Präambel begrenzend zu interpretieren. Das Bundesverfassungsgericht weist in seinen Schulentscheidungen im übrigen auf die kulturelle Bedeutung des Christentums hin 106 . Diese "harmonisierende" Auslegung (U. Scheuner) von Präambeln und anschließendem Verfassungstext folgt oft schon aus dem inhaltlichen Zusammenhang von Präambel und Verfassungsartikeln. Es gibt keine "Zweireichelehre" zwischen Präambeln und übriger Verfassung: So sehr Präambeln die folgenden Verfassungsartikel kompromißhaft als Basiskonsens kulturell fundieren, so sehr müssen sie sich auch juristisch in das Gesamtbild einer Verfassung einfügen - ebenso wie eine "Übergangsbestimmung" wie die des Art 146 Grundgesetz! Dennoch lassen sich normative Wirkungen freilegen, die über das bislang im Schrifttum eher diffus und konfus Vertretene hinausgehen. Zum Beispiel können umgekehrt die Verfassungsartikel im Einzelfall auch einmal begrenzen. Wechselwirkungen sind denkbar. Präambeln vermögen in der Auslegung gemeinsam mit "technischen" Verfassungsartikeln zu wirken (etwa Präambel Grundgesetz in Verbindung mit Art. 146), sie können mehr oder weniger als spätere Verfassungsartikel enthalten. Präambeln sind kein "archimedischer Punkt", aus dem sich alle verfassungsrechtlichen Detailregelungen "ableiten" lassen, aber sie sind auch kein bloßer "Schmuck" oder Zierrat für Festtagsreden.
105 BVerfGE 1, 117 (142); 5, 85 (126 f.); 36, 1 (20); 55, 274 (300). - S. auch Art. 31 Abs. 2 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge (1969): Für die Auslegung eines Vertrages bedeutet der Zusammenhang außer dem Vertragswortlaut samt Präambel (!) und Anlagen ... - Die Präambeln völkerrechtlicher Verträge sind zweifellos Vertragsbestandteil und für die Vertragsauslegung heranzuziehen, vgl. etwa: Ignaz S ei dl -Hohen ve ldem, Völkerrecht, Köln u. a. 1975, S. 81; Friedrich Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. 1: Allgemeines Friedensrecht, München 1975, S. 480; Eberhard Menzel ! Knut Ipsen, Völkerrecht, München 1979, S. 315 (318). - Art. 2 Verf. Türkei (1961 / 73) bezieht sich ausdrücklich auf die "in der Präambel zum Ausdruck kommenden Grundprinzipien".
106 BVerfGE 41, 29 (51 f., 64); 41, 65 (78, 84 f.); 52, 223 (237, 239 f.); vgl. auch BVerfGE 33, 23 (28 ff.; SV 35 ff.); 35, 366 (373 ff.).
8. Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen
207
4. Präambeländerung ohne Verfassunggebung?
Ein Sonderproblem ist die Frage, ob Präambeln im Wege bloßer Verfassungsänderung modifiziert werden können oder ob sie wegen ihres Grundlagencharakters eigentlich nur in die Kompetenz des Verfassunggebers fallen. Aktuell könnte das Problem in Deutschland im Blick auf eine Streichung des Wiedervereinigungsauftrags des Grundgesetzes werden107. Anders als bei einem Gesetz ohne Präambel108 gilt für eine Verfassung mit Präambeln 109, daß hier der "ganze Unterbau von Absichten und Wünschen" des Verfassunggebers (zum Teil als "Überbau"!) in Gestalt eines Rechtstextes lebendig und manifest bleibt Sicher wül sich der Verfassunggeber durch die Wahl einer besonders feierlichen Sprache nicht nur selbst eine besondere Dignität und Weihe geben: Inhaltlich möchte er seinen Willen und sein Selbstverständnis verdeutlichen, um sie der weiteren Entwicklung der Verfassung als Mahnung und Verpflichtung, aber auch als Legitimation auf den Weg zu geben. Insofern stehen Präambeln "zwischen" dem subjektiven Willen und Bewußtsein des Verfassunggebers und dem objektivierten Verfassungstext: als
107
Es war schon aktuell bei der Aufhebung der Präambel der Verf. Saarland vom 15.12.1947 (ABl. S. 1077). "In Vollzug" der Volksbefragung vom 2. 10. 1955 hat der saarländische Landtag mit der für Verfassungsänderungen erforderlichen Mehrheit in § 1 des Gesetzes Nr. 548 vom 20. 12.1956 (ABl. S. 1657) kurzerhand normiert: "... Die Präambel kommt in Fortfall...". Diese voluminöse Präambel hielt sich sprachlich an das klassische Muster ("berufen", "durchdrungen", "vertrauend"). Inhaltlich betonte sie die Hinwendung nach Frankreich einerseits, die Abwendung von der Vergangenheit andererseits. Sie verankerte "Freiheit", "Menschlichkeit", "Recht und Moral" als "Grundlagen des neuen Staates" sowie Völkerverständigung, "Ehrfurcht vor Gott" und Friedensdienst. - In Portugal planen die Regierung Balsemao und die sozialistische Opposition die Streichung von Präambelsätzen, die für Portugal den Sozialismus als Endziel vorschreiben (zit. nach Archiv der Gegenwart 51 [1981], Folge 28, S. 24674). 108 Um mit Karl Binding, Handbuch des Strafrechts, Bd. 1, Leipzig 1885, S. 454, zu sprechen: "Mit dem Moment der Gesetzespublikation verschwindet mit einem Schlag der ganze Unterbau von Absichten und Wünschen des geistigen Urhebers des Gesetzes, ja des Gesetzgebers selbst; und das ganze Gesetz ruht von nun an auf sich, gehalten durch die eigene Kraft und Schwere, erfüllt von eigenem Sinn...". 109
Die Beratungen zu den deutschen Länderverfassungen nach 1945 zeigen, wie wichtig die Präambeln politisch und normativ genommen wurden, wie stark die Beteiligten um ein bestimmtes Staats- und Menschenbild in ihnen rangen und wie sehr das Ergebnis meist ein Kompromiß war, vgl. die Belege bei Bengt Beutler, Das Staatsbild in den Länderverfassungen nach 1945, Berlin 1973, S. 63 f., 84 f., 99 f., 112 f., 128 f., 148 f., 164 f., 179 f. Zu einigen dieser Präambeln als Ausdruck überpositiven Verfassungsdenkens ders., Die Länderverfassungen in der gegenwärtigen Verfassungsdiskussion, in: JöR, N. F., 26 (1977), S. 1 (7). Zu Hamburgs Präambel als "Verfassung in Kurzform" ders., ebda. S. 26. Inhaltlich und rechtlich folgt Beutler einer "mittleren Linie": Präambeln sollen allgemeine Grundsätze der Auslegung der Verfassung enthalten, die weder bloß unverbindliches Programm noch Rechtssätze sind, auf die sich der einzelne berufen könnte (ebda., S. 31, unter Hinweis u. a. auf BayVerfGHE, N. F., 9,147 [154]; 22, 26). - Die Landesverfassungen in Ostdeutschland nach 1945 (ζ. B. Brandenburg und Sachsen 1947) hatten keine Präambeln (zit. nach Dennewitz, Bd. I I [Anm. 61]).
208
II. Inhalte
eine Art "Urquelle" wie der "pouvoir constituant" überhaupt. Hier wird eine gewisse Nähe zu Art 79 Abs. 3 Grundgesetz sichtbar110. Gewiß "hält" die Verfassung wesentlich durch eigene Kraft und Schwere, hat sie ihre Wachstumsprozesse etc., aber sie lebt sie zusammen mit der Präambel und ihrer Geschichte. Die "Absichten" und "Wünsche" des Verfassunggebers werden der Verfassung in der Präambel spezifisch mit auf den Weg gegeben: sprachlich schon an Formulierungen wie "in der Absicht", "im Wunsche", "in der Erkenntnis" etc. erkennbar. Freilich: auch die Gehalte von Präambeln können sich im Kräfteparallelogramm der Zukunft wandeln111. Daraus ergibt sich für die Frage der Präambeländerung folgendes: Wo sich Abschnitte der Präambel klar unterscheiden lassen und sich nur auf ein bestimmtes Ziel ausrichten, mag man dem verfassungsändernden Gesetzgeber die Kompetenz zusprechen (Partialrevison!). Wo aber Präambeln in ihrer Eigenart als Quintessenz der Verfassung als Ganzes geändert oder gestrichen werden sollen, steht eine solche "Totalrevision" nur dem Verfassunggeber zu 112 .
VI. Verfassungspolitischer Ausblick Präambeln sind nach allem für verfassungsstaatliche Verfassungen grundsätzlich wünschenswert. Die Erarbeitung von Kriterien für ihre optimale Gestaltung und ihren überlegten Einsatz kann zwar nur kulturspezifisch gelingen, ζ. B. in Deutschland anders als in der Schweiz; dennoch läßt sich ein Modell oder Idealtypus der Präambel einer verfassungsstaatlichen Verfassung gewinnen, wenn man sich zunächst der Gefahren bewußt wird. Präambeln dürfen den nachfolgenden Verfassungstext nicht überwuchern und detailliert vorwegnehmen wollen. Sie dürfen, ja müssen oft Kompromisse formulieren, nicht aber ein Konglomerat letztlich unlösbarer Gegensätze. Vor 110 S. auch Grimmer, Demokratie (Anm. 54), S. 179. - Art. 129 Abs. 2, 136 Abs. 2 Verf. Rheinland-Pfalz wendet sich ausdrücklich gegen verfassungsändernde Gesetze, welche die im Vorspruch niedergelegten Grundsätze verletzen. 111 Bedenken gegen den Begriff "Verfassungswandel" bei Peter Häberle, Zeit und Verfassung (1974), jetzt in: ders., Verfassung (Anm. 24), S. 59 (82 f.). 112 Vgl. auch Horst Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung (1953), jetzt in: ders., Beiträge zur Verfassungstheorie und Verfassungspolitik, Königstein 1981, S. 95 f.: Das Wiedervereinigungsgebot in der Präambel des GG sei keine verfassungsimmanente Grenze der Verfassungsänderung. Der Wiedervereinigungsauftrag in der Präambel des GG kann m. E. nicht durch bloße Verfassungsänderung gestrichen werden: die Einheit Deutschlands ist als Ziel (nicht in den Methoden und Wegen) zu sehr Teil der Identität des GG (vgl. auch Art. 146 GG) und steht so in einer übergreifenden kulturellen Verfassungs- bzw. Präambeltradition seit dem 19. Jahrhundert bis 1919 (auch von den Landesverfassungen seit 1946 her). Die rechtstechnische Gestalt dieser (künftigen) Einheit bleibt dabei offen (der herkömmliche Bundesstaat ist nicht die einzig denkbare Form).
8. Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen
209
allem sollten Präambeln keine theologieähnlichen Ansprüche an die Verfassung und ihre Interpreten stellen: Gerade über Präambeln drohen Ideologisierungen des Rechts113. Totalitäre Staaten von rechts und links neigen nicht zufallig dazu, sich der Präambel in barocker Fülle zu bedienen114. Dadurch wird das übrige Recht potentiell aufgeweicht, auch verbogen und unsicher. Demgegenüber verlangt die Positivität des Verfassungsrechts als eine Errungenschaft des Verfassungsstaates, daß Willens- und Wunschkundgebungen, wie sie für Präambeln typisch sind, nur auf das für das politische Gemeinwesen Notwendige und Wichtige beschränkt bleiben. Barocke, "überladene", überfrachtete Präambeln wie etwa die der Verfassung Japans 115 sind zu vermeiden, ein Übermaß an Bekenntnissen und eine Überfülle von Postulaten kann verwirren und ihre Glaubwürdigkeit behindern, so wenn die Präambeln der Verfassung von Südafrika von 1961116 fast zur Hälfte aus Anrufungen Gottes besteht: Sie erschert es Nicht-Gläubigen, sich mit der Verfassung zu identifizieren, und die Religionsfreiheit ist ja eine wesentliche Errungenschaft des Verfassungsstaates117. Umgekehrt sollten Präambeln auch nicht zu spartanisch sein. Schon die der Verfassung Hessen (1946) ist vielleicht zu knapp geraten, zumal sie später an Bekenntnisartikeln und Erziehungszielen mit Recht nicht spart; die
113
Vgl. allg. Maihofer (Hrsg.), Ideologie (Anm. 98).
114 Vgl. d i e überlange, redefreudige und dadurch vage Präambel zu Francos Verfassungsgesetzen, abgedruckt bei Mayer-Tasch, Verfassungen (Anm. 13), oder die fast vier Seiten lange Präambel der neuen Verfassung der UdSSR (1977), s. die deutsche Fassung des Progress-Verlags, Moskau 1977. Auch die meisten neueren Verfassungen der übrigen kommunistischen Staaten (zit. nach der gleichnamigen Ausgabe von Georg Brunner und Boris Meissner, Paderborn u. a. 1980) enthalten überladene Präambeln bzw. "Einführungen" (ζ. B. Albanien, 1976; Bulgarien, 1971; Jugoslawien, 1974; Vietnam, 1959; Kambodscha, 1976; Kuba, 1976). Nur Rumänien (1965) beginnt seine Artikel ohne Vorspruch. - So sehr die Eigenart verfassungsstaatlicher Verfassungen Präambeln nahelegt, so zurückhaltend ist ihr Nutzen bei Gesetzen zu beurteilen. Ein abschreckendes Beispiel ist die Präambel des EnergiewirtschaftsG (1935), jetzt die der EG-KartVO Nr. 17 (1962). Präambeln sollte der demokratische Gesetzgeber je nach Sachgebiet und Adressatenkreis, wenn überhaupt so differenziert verwenden: Straf-, Steuer- und Polizeigesetze und zugehörige RVO sollten ohne Präambel sein, ebenfalls aus rechtsstaatlichen Gründen sollte das Privatrecht im ganzen präambellos bleiben. Für Plangesetze, auch programmatische Raumordnungs- und Sozialgesetze mag anderes gelten. Der Sache nach enthalten sie oft im Eingangsartikel bzw. -paragraphen Präambelartiges (vgl. das Beispiel bei Harro Höger, Die Bedeutung von Zweckbestimmungen in der Gesetzgebung der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1976, S. 31). Zweckbestimmungen vor oder in Gesetzen bleiben aber wegen ihrer Ideologisierungen latent gefährlich. Ausgefeilte Gesetzgebungskunst sollte sie nur selten und gezielt einsetzen. Siehe aber jetzt die ausladende Präambel des Gesetzentwurfs in Sachen "Startbahn West" von 1981 (zit. nach HessStGH, in: DVB1. 1982, S. 491 f.). 115
Zit. nach Franz, Staatsverfassungen (Anm. 14).
116
Zit. nach Peaslee (Ed.), Constitutions (Anm. 26).
117
Bemerkenswert aber der Generationsbezug: "... God, ... Who has guided them from generations to generations".
210
II. Inhalte
Niedersächsische Verfassung von 1951 enthält praktisch keine Präambel - aus ihrem Selbstverständnis als vorläufige Verfassung heraus mag dies erklärlich sein118. Ein sprachliches und inhaltliches Optimum ist die Präambel von A. Muschg für den Schweizer Verfassungsentwurf (1977); geglückt ist auch die Präambel der Verfassung Indiens von 1949119. Beide weisen auf positive Kriterien für "gute" Präambeln. Rechtstechnisch liegt die überlegte Verwendung von "Im Geiste-Formeln" nahe - zur Anknüpfung an fundierende Traditionen einerseits (kulturellesErbe-Klauseln), Hoffnungen und Wünsche eines Volkes andererseits ("Fortschritts- und Wunschklauseln). Ein Stück "konkreter Utopie" ist verfassungsadäquat: Es ist sogar gefordert! Der Auftrag zur deutschen Einheit in der Präambel des Grundgesetzes ist auch ein Stück solcher Utopie (geworden). "Sprachpolitisch" und sprachästhetisch sollten gute Präambeln am besten Stilemente aller drei Spracharten verbinden: entsprechend den verschiedenen Funktionen und Primäradressaten von Präambeln. Doch darf das Feiertags- und Alltagssprachliche im Vordergrund stehen; das zunftmäßig Juristische ist nicht zwingend geboten. Die Sache, die Verfassungspräambeln zur Sprache bringen, sind ein Stück "Botschaft" 120. Eine Annäherung der Präambelsprache an die juristisch-technische Fachsprache oder an eine gehobene mittlere Umgangsspra-
118 Ein Gegenbeispiel ist das GG, das sich in der Präambel nur "für eine Übergangszeit" postuliert, aber eben doch eine substanzhaltige Präambel geleistet hat. - Im Schlußbericht der Arbeitsgruppe für die Vorbereitung einer Totalrevision der Bundesverfassung, Bd. VI, Bern 1973, S. 59 ff., wird die Frage einer Präambel für die Schweiz eingehend erörtert. Ihre Neuformulierung (ebda, S. 61) lautet u. a.: "... entschlossen ... die Würde und die Rechte der Menschen zu wahren, bestrebt, einen dauernden Beitrag an die Förderung der Wohlfahrt und des Friedens im Lande und in der Völkergemeinschaft zu leisten ...". Einen Überblick über die weitere Diskussion gibt der Bericht der Expertenkommission, Bern 1977, S. 18 ff. Bemerkenswert ebda., S. 19: "Die Präambel nimmt in dieser Dialektik von Geist und Buchstaben eine Sonderstellung ein", "... Ziel der Präambel wird es sein müssen, einen Minimalkonsens auszudrücken ...". "Er ist die Basis und damit der Stolz eines freiheitlichen Staatswesens. Er verdient demzufolge eine Formulierung, die seiner besonderen Würde entspricht". Zur Diskussion der Präambel auch Peter Dürrenmatt, Die Totalrevision der Bundesverfassung, in: Verfassung mit halber Substanz..., Zürich ο J., S. 16 ff. 119 Zit. nach Peaslee, (Ed.), Constitutions (Anm. 26): "We, the People of India, having solemnly resolved to constitute India into a Sovereign Democratic Republic and to secure to all its citizens: Justice, social, economic and political; Liberty of thought, expression, belief, faith and worship; Equality of status and of opportunity; and to promote among them all Fraternity assuring the dignity of the individual and the unity of the Nation; In our Constituent Assembly this twenty-sixth day of November, 1949, do hereby Adopt, Enact and Give to Ourselves this Constitution". 120 Historisch mögen sich Verbindungslinien zu theologischen Texten ziehen lassen: oben Anm. 6 und die Vorrede zur Confessio Augustana (1530).
8. Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen
211
che brächte die Präambeln um ihr Proprium 121. Ihre bürgerintegrierende Funktion läßt sich gerade nicht dadurch erreichen, daß sie dem "banalen" Alltagsdeutsch folgt. Es ist dann Sache der Juristen, die inneren Verbindungslinien zwischen der Präambel als Essenz der Verfassung bzw. ihren Grundsätzen, Bekenntnissen, Wünschen und Hoffnungen einerseits und den übrigen juristischen Texten der Verfassung andererseits herauszuarbeiten. Der Einsatz von Präambeln ist mithin ein Stück rationaler Verfassungskunst, auch soweit es um Irrationales, um "Glaubensbekenntnisse" geht122. Er sollte sich kodifikatorisch und interpretatorisch an folgenden Anforderungen orientieren: (1) Präambeln wollen als "Orientierungsrahmen" die staatlichen Funktionen, den Bürger und das Gemeinwesen im ganzen je unterschiedlich in Pflicht nehmen. Empfehlenswert ist, die Präambel als Forum der Verantwortung zu gebrauchen: wenn nicht vor Gott, so doch vor vorstaatlich gedachten Prämissen. Mindestens eine Art "Selbstbindung" der staatlichen Gewalt und des Menschen bzw. Bürgers sollte formuliert werden: ein Minimum an Sozialethik gehört hierher. (2) Präambeln stehen wie jede Verfassung im Spannungsfeld von Geschichte, Gegenwart und Zukunft und sollten daher alle drei Zeit-Dimensionen - prägnant - ins Auge fassen 123. (3) Präambeln sollen thematisch eine Art Quintessenz einer Verfassung sein und die besonders wichtigen "Grundsätze" enthalten (z.B. ein Bekenntnis zu Menschenrechten, zur Einheit Deutschlands oder Irlands, die europäische Option), sich aber nicht in Einzelheiten verlieren. (4) Die Inhalte von Präambeln müssen in adäquater Form gefaßt sein: Ihrer spezifischen Aufgabe gemäß sollten Gesichtspunkte des Feierlichen, aber auch des Bürgernahen durch Verwendung von allen drei Sprachebenen des Feierlichen, des Alltäglichen und des Fachlich-Juris tischen berücksichtigt werden; Klang und "Wort-Laut" sind dabei sehr ernst zu nehmen.
121 Siehe auch die Präambel zum Entwurf einer Verfassung für Europa (1951), abgedruckt in Mayer-Tasch, Verfassungen (Anm. 13). 122 Im Kulturverfassungs- und Kulturrecht überhaupt können Präambeln eben wegen ihrer Kulturgehalte gesteigert verwendet worden sein. 123 Bemerkenswert der Präambel-Passus aus Verf. Bayern (1818): "Endlich eine Gewähr der Verfassung, sichernd gegen willkürlichen Wechsel, aber nicht hindernd das Fortschreiten zum Bessern nach geprüften Erfahrungen". Dazu Karl Möckl, Der Moderne Bayerische Staat, München 1979, S. 238; ebda., S. 152 auch zur Präambel der Konstitution von 1808.
212
II. Inhalte
Zusammenfassend: Präambeln sind ein Appell an alle Bürger und eine Weisung für den Juristen. Sie bilden ein Herzstück verfassungsstaatlicher Verfassungen, eine Verfassung (in) der Verfassung. Sie stellen der Theorie und Praxis noch viele Aufgaben 124. Sie sind aber auch eine große Chance: weil sie über scheinbar äußerliche Momente der Sprache zu tieferen Inhalten und Funktionen von Verfassungen führen. Präambeln gehören zum Feiertag und Alltag eines Verfassungsstaates. Daß sie der Sprache und dem Verständnis des Bürgers nahekommen, ist eine oft erfüllte Forderung. Daß sie gleichwohl für die Fachsprache und die praktische Aufgabe des Juristen ergiebig sind, suchte diese Arbeit zu belegen. So führen Präambeln in exemplarischer Weise alle Interpreten einer offenen Gesellschaft zusammen123.
124 Im Gegensatz zu Präambeln von Gesetzen wurden Verfassungspräambein als Grundproblem des Verfassungsstaates literarisch bis heute vernachlässigt. Dies dürfte u. a. ein Erbe des Positivismus sein: für das überpositive Verfassungsdenken vieler Präambeln hatte er nichts übrig. Hinzu kommt, daß der Typus des Verfassungsstaates (und als Teil von ihm die Präambel) erst im Wege innerdeutscher, europäischer und weltweiter Verfassungsvergleichung und kulturwissenschaftlichen Vorgehens sichtbar wird. Eine Verfassungslehre als Lehre von der "guten" Verfassung muß Präambeln als ein Kernstück aus verfassungsrechtlichen und -politischen Gründen behandeln. Nach Maßgabe des Textes sind verfassungsstaatliche Präambeln so notwendig wie andere Errungenschaften, ζ. B. Menschenwürdeklauseln und Grundrechte, Erziehungsziele, Gewaltenteilung im engeren und weiteren Sinne oder Verfahren (wie die Verfassungsänderung), die eine Verfassung dauerhaft und flexibel halten. - Zwei hintereinander geschaltete Präambeln enthält die Verf. Kanada vom Dezember 1981: neben der allgemeinen ("Considérant:... certains droits et libertés fondamentaux ...") auch eine dem Grundrechtskatalog vorangeschickte ("Attendu que le Canada est fondé sur des principes qui reconnaissent la suprématie de Dieu et la primauté du droit:"). 125
Bayreuther Antrittsvorlesung vom 8. Februar 1982.
9. "Gott" im Verfassungsstaat?L Problem, Gottes-Textbeispiele aus Gegenwart und Verfassungsgeschichte Das Thema "Gott" ist ein traditioneller und aktueller Bestandteil vieler älterer und neuerer Verfassungstexte. Das soll an einigen repräsentativen Beispielen gezeigt und dann kommentiert werden.
1. Geltende Verfassungen
"Gott"1 findet sich in Gestalt einer invocatio dei vornehmlich in den Präambeln oder er wird diesen bzw. den Verfassungen vorangestellt. So heißt es im Grundgesetz von 1949 gleich eingangs: "Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen ..."2. Die Präambel Verf. Bayern (1946) beginnt: "Angesichts des Trümmerfeldes, zu dem eine Staats- und Gesellschaftsordnung ohne Gott, ohne Gewissen und ohne Achtung vor der Würde des Menschen die
•
Festschrift für Wolfgang Zeidler, 1987, S. 3 ff.
1
E. L. Behrendt kommt mit ihrem Buch "Gott im Grundgesetz", 1980, das Verdienst zu, ein wichtiges Thema aufgegriffen zu haben, unbeschadet ihrer vielen kritikwürdigen Einzelthesen: Z. B. kann schwerlich der christliche Gott als "oberster Wert der Verfassung" qualifiziert werden (so aber dies., S. 132). Auch kann dem Schulgebetsurteil aus BVerfGE 52, 223 kein "Ja des BVerfG zum christlichen Gott als verfassungskonformem Gott entnommen werden" (so aber E. L. Behrendt, aaO, S. 248 ff.). Weitere Kritik unten Anm. 33, 53. - S. im übrigen die Besprechungen von C. Starck, JZ 1981, S. 456 und von T. Maunz, BayVBl. 1981, S. 381 f. - Der größere Rahmen des Themas des Buches von E. L. Behrendt spiegelt sich auch in den von ihr hrsgg. 2 Bänden, Rechtsstaat und Christentum, 1982 sowie in: G. Dilcher / /. Staff (Hrsg.), Christentum und modernes Recht, 1984. 2 Aus der Entstehungsgeschichte dieses Passus ist bemerkenswert, daß der Abg. Dr. Süsterhenn (CDU) die Einbeziehung der invocatio dei empfahl mit dem Hinweis auf die Auffassung der scholastischen Naturrechtslehre von der sog. vis directive eines guten Gesetzes, der Abg. Dr. Seebohm (DP) betonte, die "Verantwortung vor Gott" gehöre in die Präambel hinein, ferner sei Bezug zu nehmen auf die "guten und lebendigen Kräfte in der Tradition" des deutschen Volkes (JöR NF Bd. 1 [1951], S. 29f.). - Abgelehnt wurde ein Entwurf des Abg. Dr. Kroll (CDU) mit - der Bayer. Verf. - ähnlichen Sätzen wie "Eine Staats- und Gesellschaftsordnung ohne Ehrfurcht vor Gott... Getragen vom Vertrauen auf Gott..." (JöR NF 1 [1951], S. 31 0· - Aus der Interpretations-Literatur ist viel zitiert der Satz von W. Apelt, Betrachtungen zum Bonner Grundgesetz, NJW 1949, S. 481, mit der Beteuerung der Verantwortung vor Gott und den Menschen suche die Präambel zu Recht ein "ethisches Fundament absoluter Tragfähigkeit" (vgl. z. B. E. L. Behrendt, aaO, S. 42 f.).
214
II. Inhalte
Überlebenden des zweiten Weltkrieges geführt hat...*. Andere deutsche Länder nach 1945 ziehen in ähnlicher Weise "Gott" sozusagen "vor die Klammer" ihrer Verfassungstexte 3. Werfen wir einen Blick auf ausländische Verfassungsstaaten, zunächst auf neuere Texte, so ergibt sich folgendes Bild: Eine eigene Variante schuf jüngst die Verfassung Griechenland (1975), zu der bzw. in der es einleitend heißt: "Im Namen der Heiligen, Wesensgleichen und Unteilbaren Dreifaltigkeit" 4. - Die Canadian Constitution Act von 19815 lautet eingangs zur "Canadian Charter of Rights and Freedoms": "Whereas Canada is founded upon principles that recognize the supremacy of God and the rule of law." Auch in manchen neuen Kantonsverfassungen und kantonalen Verfassungsentwürfen der Schweiz kommt Gott in der Präambel vor (meist in Gestalt der Formel: "Verantwortung vor Gott und den Menschen")6. In der 2?u/u/esverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 29. Mai 1874 heißt es vorweg: "Im Namen Gottes des Allmächtigen."7
3 (1950): "In Verantwortung vor Gott und den Vgl. Präambel Verf. Nordrhein-Westfalen Menschen ..."; ebenso Vorspruch Verf. Baden-Württemberg (1953). - Besonders substantiell: Vorspruch Verf. Rheinland-Pfalz (1947): "Im Bewußtsein der Verantwortung vor Gott, dem Urgrund des Rechts und Schöpfer aller menschlicher Gemeinschaft ..." (zit. nach C. Pestalozza [Hrsg.], Verfassungen der deutschen Bundesländer, 2. Aufl., 1981); Verf. Württemberg-Hohenzollern von 1947 (zit. nach B. Dennewitz, Die Verfassungen der modernen Staaten, II. Band, 1948) formuliert einen besonders intensiven Gott-Bezug in ihrer Präambel: "Das Volk von Württemberg-Hohenzollern gibt sich im Gehorsam gegen Gott und im Vertrauen auf Gott, den allein gerechten Richter, folgende Verfassung:". - S. auch Verf. Baden von 1947 (zit. nach B. Dennewitz, ebd.): "Im Vertrauen auf Gott hat sich das badische Volk, als Treuhänder der alten badischen Überlieferung beseelt von dem Willen, seinen Staat im demokratischen Geist nach den Grundsätzen des christlichen Sittengesetzes ... neu zu gestalten ...". 4
Zit. nach JöR 32 (1983), S. 360.
5
Zit. nach JöR 32 (1983), S. 632.
6 Nachweise in JöR 34 (1985), S. 424 ff: ζ. B. Jura (1977), Aargau (1980); anders BaselLandschaft (1984): "Verantwortung vor Gott für Mensch, Gemeinschaft und Umwelt", ebenso Solothurn (1986). Eine eigene Variante in Verf. Uri (1984): "Im Namen Gottes! Das Volk von Uri, das sich in seiner großen Mehrheit zum christlichen Glauben bekennt..." - Auf Bundesebent: Präambel V E 1977: "Präambel: Im Namen Gottes des Allmächtigen!". Ebenso Privatentwurf Kölz / Müller (1984). 7 Zur "schweizerischen Gottesdebatte" im Rahmen der Diskussion um die Totalrevision der Bundesverfassung (1977): E. L. Behrendt, Gott im Grundgesetz, 1980, S. 167 ff. Eindrucksvoll: Expertenkommission für die Vorbereitung einer Totalrevision der Bundesverfassung, Bericht, 1977, S. 18: Die Anrufung Gottes weise auf die ungebrochene Tradition der Eidgenossenschaft seit ihrer Gründung im 13. Jahrhundert hin, in ihr liege "ein Bekenntnis zur Relativität aller staatlichen Macht", es zeige sich, "daß das Schweizervolk seinen Staat nicht als das Höchste betrachte, sondern daß es einen göttlichen Auftrag zur Verwirklichung einer menschenwürdigen Ordnung des Zusammenlebens anerkenne".
9. "Gott" im Verfassungsstaat?
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Im Rahmen der älteren geltenden Verfassungen in Europa fallt die Präambel der Verf. Irland (1937) besonders auf* Sie lautet: "Im Namen der Allerheiligsten Dreifaltigkeit, von der alle Autorität kommt und auf die, als unserem letzten Ziel, alle Handlungen sowohl der Menschen wie der Staaten ausgerichtet sein müssen, anerkennen Wir, das Volk von Irland, in Demut alle unsere Verpflichtungen gegenüber unserem göttlichen Herrn, Jesus Christus..."
Eine zweite "Fundstelle" von "Gottesklauseln" oder Gottesbezügen schon in den Texten der Verfassungen sind die Eidesklauseln, und zwar in der bekannten Wendung (die freilich auch entfallen kann): "So wahr mir Gott helfe." 9 Ein dritter Gottesbezug taucht, wenn auch etwas seltener, in den Erziehungszielen auf. Plastisch wirkt hier Art. 131 Abs. 2 Verf. Bayern (1946): "Oberste Erziehungsziele sind Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor religiöser Überzeugung und vor der Würde des Menschen..."10. Eine vierte Textgruppe mit greifbaren Gottesbezügen stellen die Feiertagsgarantien dar11. Auf sonstige "gottnahe" Texte sei pauschal verwiesen12. Allerdings, es gibt auch Verfassungen ohne "Gottes-Klauseln", aus neuerer Zeit etwa die beiden iberischen Beispiele Portugal und Spanien (1976 bzw. 1978), aus älterer etwa Norwegen (1814) oder Island (1944 / 1968) sowie Ita-
8 Zit. nach P. C. Mayer-Tasch, Die Verfassungen der nichtkommunistischen Staaten Europas, 2. Aufl., 1975, S. 261. - Wohl einzigartig auch Art. 6 Abs. 1 Verf. Irland (1937): "Alle Regierungsgewalt, die gesetzgebende, vollziehende und rechtsprechende, gehen nächst Gott vom Volke aus ..." 9 Z. B. Art. 56 S. 2 GG; ebenso Art. 53 S. 2 Verf. Nordrhein-Westfalen (1950), zit. nach Pestalozza, aaO. - S. auch Art. 140 GG i. V. m. Art. 136 Abs. 4 WRV, wonach niemand zur Benutzung einer religiösen Eidesform gezwungen werden darf. Dazu BVerfGE 33, 23 (26 f). 10 S. auch Art. 12 Abs. 1 Verf. Baden-Württemberg (1953): "Die Jugend ist in der Ehrfurcht vor Gott, im Geiste der christlichen Nächstenliebe, zur Brüderlichkeit aller Menschen ... zu erziehen." - Art. 33 Verf. Rheinland-Pfalz (1947): "Die Schule hat die Jugend zur Gottesfurcht und Nächstenliebe, Achtung ... zu erziehen." - Ähnlich Art. 30 Verf. Saar (1947). - Art. 36 Abs. 1 Verf. Württemberg-Baden von 1946 (zit. nach B. Dennewitz, ebd.): "Die Jugend ist in der Ehrfurcht vor Gott, im Geiste der Brüderlichkeit aller Menschen ... zu erziehen." - Verf. Württemberg-Hohenzollern von 1947 (zit. nach Dennewitz, ebd.): Art. 111 Abs. 2: "Die Jugend soll besonders zur Ehrfurcht vor Gott... angehalten werden." 11 Dazu die Beispiele unten in Anm. 46 sowie Art. 25 Abs. 1 Verf. Nordrhein-Westfalen (1950): ..."Tage der Gottesverehrung...". 12 Beispiele: Art. 1 Abs. 1 S. 1 Verf. Baden-Württemberg (1953): "Der Mensch ist berufen, in der ihn umgebenden Gemeinschaft seine Gaben in Freiheit und in der Erfüllung des ewigen Sittengesetzes ... zu entfalten." Ebenso Art. 1 Abs. 1 S. 1 Verf. Württemberg-Baden (1946). - Art. 120 Verf. Württemberg-Hohenzollern (1947): "Die Religionsgemeinschaften stehen unter den für sie gültigen göttlichen Geboten. In Erfüllung dieser religiösen Aufgabe entfalten sie sich frei von staatlichen Eingriffen." - In der alten Verf. der Niederlande (1815/1972, zit. nach Mayer-Tasch, aaO) findet sich sogar ein eigenes Kapitel mit der Bezeichnung "Der Gottesdienst", u. a. mit der Garantie "vollkommener religiöser Freiheit" und der Gleichheit für alle Religionsgemeinschaften.
15 Häberle
216
II. Inhalte
lien (1947) oder Frankreich 1972)14.
(mit Vorbehalten)13, auch Luxemburg (1868/
2. Beispiele aus der Verfassungsgeschichte
Ein Blick in die Vtriassungsgeschichte und zwar in Gestalt der Verfassungstetfgeschichte kann anhand nicht mehr geltender Verfassungstexte die kulturelle Tiefendimension des Problems und damit den historischen Wandel zum Ausdruck bringen15: Die frühkonstitutionellen Verfassungen in Deutschland bezogen sich auf Gott im Rahmen ihres "monarchischen Prinzips" in der Wendung vom "Gottesgnadentum" 16. So hieß es gleich eingangs der Verfassungsurkunde für das Königreich Bayern vom 26. Mai 181817: "Maximilian Joseph, von Gottes Gnaden König von Baiern."18 Ähnlich lautete die Verfassungsurkunde für das Großherzogtum Baden vom 22. August 1818 eingangs19: "Carl, von Gottes Gnaden Grossherzog von Ba-
13 Die Klausel aus der Einleitung der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (1789): "... l'Assemblée nationale reconnaît et déclare, en presence et sous les auspices de l'Etre suprême..." (zit. nach J. Godechot, Les Constitutions de la France depuis 1789, 1979, S. 33) entspricht schwerlich dem herkömmlichen christlichen Gottes-Bild (Friktionen mit dem Epitheton "République laïque" von Art. 2 Abs. 1 S. 1 Verf. 1958 liegen auf der Hand). Wenn die Verf. von 1958 ebenso wie die von 1946 in ihrer Präambel auf die Erklärung von 1789 Bezug nimmt, so ist auch die "Etre-Suprême-Klausel" mitrezipiert worden und geltendes Verfassungsrecht. Die "EtreSuprême-Klausel" kehrte wieder in den Erklärungen bzw. Verfassungen von 1793 (Godechot, aaO, S. 80) und von 1795 (Godechot, aaO, S. 101). Klassisch heißt es dann in der Präambel der Verf. 1848: "En présence de Dieu" (ιGodechot, aaO, S. 263). 14 Norwegen (§ 9 Abs. 1: "So wahr mir Gott der Allmächtige und Allwissende helfe") und Luxemburg (Art. 5: "So wahr mir Gott helfe") kennen den Gottesbezug freilich in ihren Herrschereiden (zit. nach P. C. Mayer-Tasch, aaO). 15 Die Deutsche Bundesakte vom 8. Juni 1815 (zit. nach E. R. Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, 1961, S. 75) beginnt mit dem Satz: "Im Namen der allerheiligsten und untheilbaren Dreyeinigkeit." - Zu methodischen Vorfragen einer Textstufenanalyse: P. Häberle, Die verfassunggebende Gewalt..., AöR 112 (1987), S. 55 (55 ff., 84 ff.) - hier Nr. 7. 16
Zur religiösen Begründung der Monarchie in der monarchischen Formel "von Gottes Gnaden": C. Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 282 f. S. aber auch O. Brunner, Vom Gottesgnadentum zum monarchischen Prinzip, in: ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, 2. Aufl., 1968, S. 160 ff., und F. Kern, Gottesgnadentum und Widerstandsrecht im frühen Mittelalter, 2. Aufl., 1954, S. 3 ff. 17
Zit. nach E. R. Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, 1961, S.
141. 18 In der Eidesklausel für den Fall der Regentschaft (§16) steht auch der Passus "so wahr mir Gott helfe". 19
Zit. nach E. R. Huber, aaO, S. 157.
9. "Gott" im Verfassungsstaat?
217
den..."20. Diese Gottesgnadentum-Formeln21 waren ein fester Bestandteil der folgenden frühkonstitutionellen Verfassungen (ζ. B. Württemberg [1819], Hessen [1831] und Sachsen [1831]22). Die "Gott-in-der-Verfassung-Tradition" ist in Deutschland freilich nicht ungebrochen. Gottes-Klauseln fehlen in der Paulskirchenverfassung (1849) - nur die Eidesformel soll nach ihr künftig lauten: "So wahr mir Gott helfe" (§ 149). Auch in der Bismarck-Verfassung (1871) kommt Gott "nicht vor". In der Weimarer RV (1919) findet sich keine gottbezügliche Präambel, und im Kontext der Eidesproblematik heißt es in ihrem Art 42: "Die Beifügung einer religiösen Beteuerung ist zulässig." Der Weg zum religiös "neutralen" Staat ist unverkennbar. "Gott" hat sich auf das Staatskirchenrecht im engeren Sinne zurückgezogen. Auch im sonst reichhaltigen, bahnbrechenden Erziehungszielekatalog des Art. 148 WRV* fehlt der textliche Gottesbezug. Die "Wiederaufnahme" Gottes in die bzw. in den westdeutschen Nachkriegsverfassungen erklärt sich aus der Erfahrung mit dem "gottlosen" totalitären NS-Staat24.
20
Im Eid der Mitglieder des Landtags fmdet sich ebenfalls der Satz: "So wahr mir Gott helfe"
(§69). 21 Wie sehr das "Gottesgnadentum" bzw. der Streit darüber in der späteren Verfassungsgeschichte noch bis heute nachwirkt, zeigt sich von der negativ-polemischen Seite her in der Kontroverse in den Verfassungsberatungen in Bayern (1946). Die CSU hatte eine Änderung des Satzes: "Alle Gewalt geht vom Volke aus" durchgesetzt zugunsten der Formulierung: "Träger der Staatsgewalt ist das Volk" (vgl. Art. 2 Abs. 1 S. 2 Bayer. Verf.); dies mit dem Argument: "nach christlicher Auffassung ist Ursprung und Norm allen Rechts und aller Pflicht schließlich Gott". Der Antrag von Dr. Dehler (FDP), es bei der alten Formulierung zu belassen, da diese klassisch sei und sich gegen das Gottesgnadentum wende, wurde abgelehnt (Belege bei B. Beutler, Das Staatsbild in den Länderverfassungen nach 1945, 1973, S. 130). M. E. tut sich bis heute das Volkssouveränitätsdenken schwer, rechtskulturell dem Volk vorausliegende Bindungen anzuerkennen. Die historische Alternative hieß "Gottesgnadentum" des Monarchen oder "Volkssouveränität". Verfassungstextgeschichtlich wurde der Durchbruch zu einem dem Volk vorausliegenden Gottesgnadentum nicht geleistet (s. aber Art. 6 Abs. 1 Verf. Irland, oben Anm. 8). 22
Zit. nach E. R. Huber, ebd., S. 171 bzw. 201 und 223.
23
Entsprechendes gilt für die deutschen Länderverfassungen nach 1918, in denen "Gott" textlich fast nicht mehr vorkommt. Wenn doch, so nur im Rahmen der Religionsfreiheit (ζ. Β. § IS Badische Verfassung von 1919) (zit. nach O. Ruthenberg, Verfassungsgesetze des Deutschen Reiches und der Deutschen Länder, 1926): "Jeder Landeseinwohner genießt der ungestörten Gewissensfreiheit und in Ansehung der Art seiner Gottesverehrung des gleichen Schutzes." S. auch den Schutz des "Bedürfnisses nach Gottesdienst" in Anstalten (z. B. Art. 99 Verf. Danzig von 1920 / 22). 24 Es ist kein Zufall, daß die Verfassungen der artdeutschen Länder nach 1945 weder in etwaigen Präambeln noch in Erziehungszielen und Eidesklauseln oder sonst Texte mit Gottesbezügen enthalten: vgl. Verf. Mark Brandenburg (1947), Verf. Mecklenburg-Vorpommern (1947), Verf. Sachsen (1947), Verf. Sachsen-Anhalt (1947) - (alle zit. nach B. Dennewitz, aaO). Nur im Staatskirchenrecht findet sich noch ein Text mit Gottesbezug (z. B. Art. 94 Verf. Sachsen, Art. 93 Abs. 2 Verf. Sachsen-Anhalt: "Verlangen nach Gottesdienst" - ganz in der Tradition von Art. 141 WRV).
218
II. Inhalte
Ein Blick in die Verfassungsgeschichte des europäischen Auslands stößt für Großbritannien schon in der Einleitung der "Magna Charta libertatum" (1215) auf das Gottesgnadentum und ergänzende Formeln23. Im Rußland des Zaren normierten die "Staatsgrundgesetze" (1906) sowohl das Gottesgnadentum26 als auch das klassische Staatskirchentum, ergänzt um "Glaubensfreiheit" für die "russischen Untertanen"27. Die Verfassungsgeschichte der USA hat ihren gottbezogenen Klassikertext und zwar schon im Gründungsstadium, freilich gerade nicht in Gestalt der europäischen Gottesgnadenklausel oder anderer Elemente von "Staatskirchentum", sondern in Gestalt grundrechtlicher - religiöser - Freiheit Die "Declaration of Rights of Virginia" (1776) lautet in ihrer Ziff. XVI: "Daß die Religion oder die Ehrfurcht, die wir unserem Schöpfer schulden, und die Art, wie wir uns dieser Pflicht entledigen, nur durch unsere Vernunft und Überzeugung bestimmt werden kann, nicht durch Machtspruch oder Gewalt; und daß daher alle Menschen zur freien Religionsausübung gleicherweise berechtigt sind, entsprechend der Stimme ihres Gewissens, und daß es gegenseitige Pflicht aller ist, christliche Milde, Liebe und Barmherzigkeit aneinander zu üben." 28
In Art. 1 der Amendments zur Verfassung der USA von 1787 (1790) ist dann jenes Trennungsprinzip ("wall of separation") normiert, das bis heute einen spezifischen Beitrag der USA zum Religionsverfassungsrecht bildet : "Der Kongress darf kein Gesetz erlassen, das die Einführung einer Religion betrifft oder die freie Ausübung einer Religion verbietet..."
- Auch die DDÄ-Verfassung von 1949 kennt Gottesbezüge nur noch anläßlich der Seelsorge in Anstalten (Art. 46, zit. nach Deutsche Verfassungen, hrsg. von R. Schuster, 13. Aufl. 1980). 25 Zit. nach B. Dennewitz, Die Verfassungen der modernen Staaten, I. Band 1947, S. 36: "Johannes von Gottes Gnaden König von England... Ihr möget wissen, daß wir im Angesicht Gottes und für unser Seelenheil... zur Ehre Gottes... vor allem mit Gottes Beistand bewilligt... haben...". 26 Zit. nach Β. Dennewitz, aaO, S. 154, Art. 4: "Dem Kaiser von Allrussland gehört die Oberste Selbstherrschende Gewalt. Seiner Gewalt nicht nur aus Furcht, sondern auch aus Gewissenspflicht zu gehorchen, befiehlt Gott selbst." - S. schon den fast gleichlautenden Passus aus Art. 1 des Staatsgrundgesetzes des Swod von 1832, zit. nach B. Dennewitz, aaO, S. 108. 27 S. das besondere Kapitel "Über den Glauben" mit Artikeln wie "Der im Russischen Reiche an erster Stelle stehende und herrschende Glaube ist der Christliche, Orthodoxe, Katholische, östlicher Konfessionen" (Art. 62), "Der Kaiser als christlicher Herrscher ist der oberste Verteidiger und Beschützer der Dogmen des herrschenden Glaubens..." (Art. 64). Die Texte sind zit. nach B. Dennewitz, aaO, S. 157. Der Satz "Die russischen Untertanen genießen Glaubensfreiheit" findet sich in Art. 81. 28
Zit. nach B. Dennewitz, aaO, S. 54.
9. "Gott" im Verfassungsstaat?
219
Π. Verfassungstheoretische und verfassungspolitische Überlegungen, Interpretationsfragen Der Überblick über ältere und neuere Verfassungstexte zu "Person und Sache Gott" verlangt von der Verfassungslehre eine Stellungnahme zu der Frage, wie sie "Gott" vor ihrem Forum theoretisch "behandelt" (1.), ob und wie sie sich vtxtàssungspolitisch, bei der Formulierung neuer Verfassungstexte des Typus Verfassungsstaat, auf ihn "einlassen" sollte (2.) und wie sie Gott "inter pretiert" (3.).
1. Verfassungstheoretische Überlegungen
Zunächst zur verfassungstheoretischen "Einordnung" der Gottes-Frage. Legitimation und Interpretation von "Gott-Klauseln" in verfassungsstaatlichen Ansatz29 bewältigen. Verfassungen lassen sich nur im kulturwissenschaftlichen Es hängt jeweils von der individuellen Kulturgeschichte eines Volkes ab, ob und wie es in seinen positiven Verfassungstexten auf Gott Bezug nimmt. Die Verfassungslehre als Wissenschaft vom Typus "Verfassungsstaat" kann schwerlich allgemein sagen, welches Gottes-Verständnis das "richtige", d. h. jeweils verfassungskonforme ist, wohl aber muß sie im Blick auf die "Essentialia" ihres Typus, nämlich Grundsätze wie Verfassungsstaat als "Heimstatt aller Bürger" (BVerfGE 19, 206 [216]), Verfassung als "Verfassung des Pluralismus" und der "Offenheit" 30, individuelle und korporative Religionsfreiheit (BVerfGE 24, 236 [246 f.]; 30,112 [120]; 70, 138 [160 f.]), einschließlich der dem Verfassungsstaat möglichen Modelle von "Staatskirchenrecht" (besser: "Religionsrecht der verfaßten Gesellschaft" bzw. "Religionsverfassungsrecht") 31, bestimmte Direktiven aufstellen: Will der Verfassungstypus als solcher seine Identität nicht verlieren, dürfen über Gottes-Klauseln, welcher Art auch immer, nicht bestimmte Inhalte und Zwänge ins Spiel kommen, die der Verfassungsstaat der heutigen Entwicklungsstufe gerade überwunden hat: in-
29
Dazu meine Schrift: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1982.
30
Vgl. BVerfGE 41, 29 (50): "Der 'ethische Standard1 des Grundgesetzes ist vielmehr die Offenheit gegenüber dem Pluralismus weltanschaulich-religiöser Anschauungen angesichts eines Menschenbildes, das von der Würde des Menschen und der freien Entfaltung der Persönlichkeit in Selbstbestimmung und Eigenverantwortung bestimmt ist. In dieser Offenheit bewährt der freiheitliche Staat des Grundgesetzes seine religiöse und weltanschauliche Neutralität." 31
Dazu mein gleichnamiger Beitrag in DÖV1976, S. 73 ff.
220
II. Inhalte
dem er die offene Gesellschaft konstituiert und "Toleranz" garantiert 32. Das schließt über Gottes-Klauseln grundierte Kulturgehalte und -traditionen nicht aus. Doch dürfen sie keine Wege öffnen für erklärte oder versteckte "Restaurationen" von Varianten des "christlichen Staates"33, von "Staatsreligionen", von Staatskirchentum ("Thron und Altar") etc. Daß im Rahmen der Verfassung des Pluralismus nach wie vor mehrere Modelle von "Staatskirchenrecht", besser Platz haben können, sei eigens in Erinnerung von "Religionsverfassungsrecht" gerufen 34.
2. Verfassungspolitische Überlegungen
Ein Wort zu den verfassungspolitischen Fragen: Es ist Sache des Verfassunggebers und das heißt der am Verfassungskompromiß pluralistisch Beteiligten, zu entscheiden, ob und an welchen "Stellen" ihres Verfassungstextes sie auf "Gott" Bezug nehmen wollen. Die Entstehungsgeschichte der deutschen Länderverfassungen nach 1945 belegt nachhaltig, wie intensiv zwischen den politischen Parteien und Gruppen (auch Kirchen) sowie Einzelpersönlichkeiten im Nachkriegs-Deutschland in diesen Fragen gerungen wurde35. Meist kam es 32 Vgl. BVerfGE 52, 223 (237): "Die Bejahung des Christentums in den profanen Fächern bezieht sich in erster Linie auf die Anerkennung des prägenden Kultur- und Bildungsfaktors, wie er sich in der abendländischen Geschichte herausgebildet hat, nicht auf die Glaubenswahrheit und ist damit auch gegenüber dem Nichtchristen durch das Fortwirken geschichtlicher Gegebenheiten legitimiert. Zu diesem Faktor gehört nicht zuletzt der Gedanke der Toleranz für Andersdenkende." S. auch E 41, 65 (84): "Zweifellos ist das Christliche - als Ganzes gesehen - ein Stück abendländischer Tradition. Die Werte, die den christlichen Bekenntnissen gemeinsam sind, und die ethischen Normen, die daraus abgeleitet werden, äußern aus der gemeinsamen Vergangenheit des abendländischen Kulturkreises eine gewisse verpflichtende Kraft." - Ein gelungenes Beispiel "praktischer Toleranz" in Verfassungstexthöhe findet sich in Art. 12 Abs. 6 Verf. Nordrhein-Westfalen (1950): "In Gemeinschaftsschulen werden Kinder auf der Grundlage christlicher Bildungs- und Kulturwerte in Offenheit für die christlichen Bekenntnisse und für andere religiöse und weltanschauliche Überzeugungen gemeinsam unterrichtet und erzogen." 33 Anders E . L. Behrendt, aaO, S. 286, die die "Wertgrundlage des christlichen Gottes von der Präambel an das gesamte Verfassungswerk vermittelt" sieht. Treffend BVerfGE 19, 206 (216): Das GG "verwehrt die Einführung staatskirchlicher Rechtsformen und untersagt auch die Privilegierung bestimmter Bekenntnisse (vgl. auch BVerfGE 12, 1 [4]; 18, 385 [386]...). Aus dieser Pflicht zur religiösen und konfessionellen Neutralität folgt...". S. auch v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Präambel Rdn. 25: "Mit der Formel als Motivation ist weder eine Verpflichtung auf das Christentum oder auf einen persönlichen Gott zum Ausdruck gebracht noch die Bundesrepublik als christlicher Staat charakterisiert." 34 Dazu mein Beitrag: Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz..., JöR 34 (1985), S. 303 (385 ff.). 35 So findet sich in einem Parteiprogramm der CDU der manche Präambel mitprägende Satz "Gott ist der Herr der Geschichte und der Völker" (Nachweise bei Beutler, aaO, S. 39), ist die Präambel der Verf. Württemberg-Baden von 1946 ein Kompromiß ("im Vertrauen auf Gott"), denn die CDU hat darüber hinaus beantragt, Gott als "die Quelle und den Hüter des Rechts" zu bezeich-
9. "Gott" im Verfassungsstaat?
221
gerade in der Formulierung der Gottesbezüge in der Präambel dieser Verfassungstexte zu einem Kompromiß zwischen den politischen Parteien36, aber auch die Fassung der Erziehungsziele hat n in Sachen Gott" Kompromißcharakter 37. Letztlich führt die Verantwortungsklausel direkt zur Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG38. Im geschichtlichen Kontext wird sehr wohl verständlich, daß die Berufung auf Gott (besonders in Präambeln) vor allem ein symbolisches und inhaltliches Mittel war, sich gegenüber dem vorangegangenen Nazi-Totalitarismus abzugrenzen39. Daraus darf aber nicht gefolgert werden, daß nun auch in Zukunft jeder Verfassungsstaat textlich Gottesbezüge herstellen muß, um sich gegen Nicht-Verfassungsstaaten abzusetzen: Daß die beiden iberischen Verfassungsstaaten mit ihren Verfassungen in der 2. Hälfte der 70er Jahre ohne GottesKlauseln auskommen, obwohl sie gegen Formen autoritärer bzw. totalitärer Herrschaft (Salazar-Portugal und France-Spanien) siegreich wurden, ist ein
nen (Beutler, ebd., S. 63); mit der endgültigen Fassung sollten jedoch nicht die Grundlagen eines christlichen Staatsbildes für die Verfassung präjudiziert werden (Beutler, ebd., S. 64, 66). - Auch in den Verfassungsberatungen in Württemberg-Hohenzollern von 1946 spielten Texte der CDU eine Rolle wie "Erziehung der Jugend in Ehrfurcht vor Gott", "Der Staat ist ein Bestandteil der göttlichen Weltordnung" (vgl. Beutler, aaO, S. 81). Demgegenüber brachte die SPD vor: "Nach unserer Auffassung ist der Staat keine göttliche Ordnung" (vgl. Beutler, aaO, S. 86). - In der Arbeit an der Präambel der Verf. Baden (1947) brachte ein Sprecher der SPD kritisch vor: "daß sich über den Begriff 'Gott* bekanntlich streiten lasse. Jeder stellt sich unter diesem Begriff etwas anderes vor. Wir haben keinen christlichen Staat heute ..., sondern einen weltlichen Staat" (zit. nach Beutler, aaO, S. 99). - In Rheinland-Pfalz wandten sich die kommunistischen Abgeordneten gegen die Zitierung von Gott in der Verfassung (Beutler, aaO, S. 112), während die Beiträge von Süsterhenn stark von der katholischen Soziallehre geprägt werden (Belege bei Beutler, aaO, S. 108 ff.). - In den Verfassungsberatungen Bayerns zeigt sich der Kompromißcharakter der gottbezüglichen Präambel im Blick auf die CSU einerseits, die anderen Parteien andererseits in der "nur" negativen Formulierung ("Trümmerfeld, zu dem eine Staats- und Gesellschaftsordnung ohne Gott... geführt hat...") (Belege bei Beutler, aaO, S. 128 f.). - In Baden-Württemberg (1953) kam es in der Intensität des Gottesbezugs in der Präambel ebenfalls zu einer "Abschwächung", ζ. B. gegenüber einem Vorschlag der Evangelischen Kirche: "Verantwortung vor Gott, dessen Herrschaft die Vollmacht des Staates begründet und begrenzt" (vgl. Beutler, aaO, S. 192). 36 Besonders greifbar für die Präambel Verf. Nordrhein-Westfalen aaO, S. 179 f.
von 1950, dazu Beutler,
37 Nachweise bei Beutler, aaO, S. 182 für den späteren Art. 7 Verf. Nordrhein-Westfalen: "Ehrfurcht vor Gott" einerseits, Erziehung zur "Achtung vor der religiösen Überzeugung" des anderen andererseits. 38 Dieser Zusammenhang mit Art. 1 Abs. 1 GG klingt an bei D. Blumenwitz, Gott und Grundgesetz, in: Behrendt (Hrsg.), Rechtsstaat und Christentum, Bd. 1,1982, S. 127 (135). 39 In den Verfassungsberatungen in Württemberg-Hohenzollern (1946) wurde die vergangene Katastrophe anläßlich der Arbeit an der Präambel ausdrücklich auf die "Gottesentfremdung" zurückgeführt (Beutler, aaO, S. 85); s. entsprechend für die Verfassungsberatungen in Bayern von 1946 (dazu Beutler, aaO, S. 138).
222
II. Inhalte
schlagender Beweis für die Vexzichtbarkeit von Gottes-Texten40. Gottes-Klauseln sind ein möglicher, aber nicht notwendiger Bestandteil von verfassungsstaatlichen Verfassungen. Es hängt von der jeweiligen kulturgeschichtlichen Tradition und Situation ab, ob und wie sie in ihren Verfassungstexten Gottesbezüge herstellen und wie sie diese interpretieren sollen. Für GG und deutsche Länderverfassungen bedeuten aber die Gottesbezüge in den Präambeln auch heute, daß damit kulturell dem totalitären Staatsmodell n ewig N und "symbolisch* eine Absage erteilt und das Recht in überpositive Zusammenhänge gerückt wird 41 , dies auch gegenüber einem voluntaristischen Volkssouveränitätsdenken. Im übrigen "transportieren" Gottestexte, wenn vorhanden, bestimmte Kulturgehalte, die je konkret zu ermitteln und auch wandelbar sind. Sie bilden ein Stück "Religionsverfassungsrecht" und stehen unter Vorbehalt des verfassungsstaatlichen "Toleranzgebots"42. Zugleich sind sie eine "Erinnerung" daran, daß der Mensch religiöse "Bedürfnisse", besser: Dimensionen43 hat, die der Verfassungsstaat als solcher respektiert, ohne daß er sich mit je einer Religion identifiziert und ohne daß er das Toleranzgebot des Typus Verfassungsstaat aufgibt Vordergründig mag man im Toleranzgebot eine "Relativierung" der Gottestexte erblicken, doch ist es auch denkbar, im heutigen Entwicklungszustand des Denkens über Religionen in der Toleranz die "Erfüllung" und eine "höhere Stufe" von Religionsverfassungsrecht zu sehen: weil sie dem Individuum die Freiheit läßt, sich auf Gott zu beziehen oder auch nicht Als verfassungspolitisch-systematische Maxime liegt es speziell im deutschsprachigen Bereich nahe, Gottesbezüge44, wenn überhaupt, so nur an vier "Stel40 Das Gesagte steht nicht im Widerspruch dazu, daß im Franco-Spanien (unter 1.3. Charta der Arbeit von 1938, zit. nach Mayer-Tasch, aaO, S. 682: "Das Recht auf Arbeit ist Ausfluß der dem Menschen von Gott aufgegebenen Pflicht..." sowie in den Grundsätzen der Nationalen Bewegung von 1958, zit. nach Mayer-Tasch, ebd., S. 703: "Ich, ... Franco ... verkünde im Bewußtsein meiner Verantwortung vor Gott und der Geschichte ...") und im Salazar-Portugal (Art. 45 Verf. 1933/71: "Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen sichert der Staat die Freiheit des Kultus ... zu ...", zit. nach Mayer-Tasch, aaO, S. 508) Gottestexte vorkamen: Vielleicht haben die iberischen verfassungsstaatlichen Verfassunggeber sie 1978 bzw. 1976/82 gerade deshalb nicht rezipiert, weil ihre Verwendung in den autoritären Vorgängertexten sie spezifisch diskreditiert hatte! 41 Treffend v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Präambel, Rdn. 25: "Der Staat soll begrenzt sein und soll nicht mehr über alles verfügen dürfen." Vgl. auch die parallelen Erörterungen in der politischen Philosophie, zuletzt etwa H. Scheit, "Zivilreligion" - Liberalitätsgarant des Staates?, PVS 25 (1984), S. 339 (344 f.), in Auseinandersetzung mit H. Lübbe. 42
Dazu BVerfGE 52, 223 (247,250 ff.); s. schon E 32, 98 (108); 41, 29 (51 f.); 47, 46 (75 ff.).
43
Ähnlich v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Präambel, Rdn. 26: Verbot einer Politik, "die den im Menschen steckenden homo religiosus nicht anerkennt, der nach Anfang, Ende oder Sinn des Daseins fragt, der rational nicht erklärbares Vertrauen und Hoffnung hat". 44
Bemerkenswert SV Dr. v. Schlabrendorff, BVerfGE 33, 35 (40): "Daraus (sc. aus dem Präambel-Passus 'Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen) ergibt sich: Auch unsere Verfassung kennt und bejaht Gott und damit das ganz Andere. Es ist also nicht so, daß die
9. "Gott" im Verfassungsstaat?
223
len" vorzusehen: in den Präambeln, im Kontext der Erziehungszielein Eidesklauseln und im "Staatskirchenrecht"Das Postulat des "weltanschaulich konfessionell neutralen Staates" verlangt indes, daß das Erziehungsziel "Ehrfurcht vor Gott" (i. S. deutscher Länderverfassungen, ζ. B. Art. 131 Abs. 2 Verf. Bayern) nicht religionsstaatlich im Geist einer bestimmten Gottesvorstellung indoktriniert werden darf und insbesondere der Religionsunterricht nicht obligatorisch ist; es verlangt ferner, daß (Amts-)Eide auch "ohne religiöse Beteuerung" möglich sind (vgl. Art 48 S. 3 Verf. Baden-Württemberg, 1953) oder ausdrücklich gesagt wird: "Die Beifügung einer religiösen Beteuerung ist zulässig" (vgl. Art. 42 Abs. 2 WRV). Im übrigen bilden verfassungstextliche Gottesbezüge eine mögliche Erscheinungsform von "Religionsverfassungsrecht" im Verfassungsstaat Verfassungspolitisch ist die Bandbreite denkbarer Normierungen groß. Wie der historische und kontemporäre Textvergleich gezeigt hat, reichen die Lösungen von in Quantität häufigen und in Qualität intensiven Gottesbezügen der Verf. Rheinland-Pfalz (1947) über restriktivere Beispiele (ζ. B. Baden-Württemberg, 1953) bis zum Fehlen von Gottes-Klauseln (ζ. B. in Hessen, 1946). Auf der Ebene nationalstaatlicher Verfassungen begegnen uns ebenfalls viele Varianten: vom Fehlen textlicher Gottesbezüge im "laizistischen" Frankreich (Verf. 1958)47 und den iberischen Ländern Portugal und Spanien (1976 bzw. 1978) bis zur "dosierten" Verwendung in Griechenland (1975) oder in Kanada« (1981). Zweierlei folgt aus diesem Vergleich. Zum einen: Das Fehlen textlicher Gottesbezüge schließt nicht aus, bestimmte Religionen, etwa das Christentum, als "Kulturfaktor" im Wege der Verfassungs interpretation zu berücksichtigen, solange nur die verfassungsstaatlichen Postulate der Offenheit und Toleranz im
Tendenz des Säkularismus in unseren Volke den Begriff Gott ausgelöscht hat." - Anders das Mehrheitsvotum BVerfGE 33, 23 LS 1: "Der ohne Anrufung Gottes geleistete Eid hat nach der Vorstellung des Verfassunggebers keinen religiösen oder in anderer Weise transzendenten Bezug." 45
Allgemein P. Häberle, Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1981.
46
Der Sache nach stehen hinter einzelnen Feiertagsgarantien religiöse, insbesondere christliche Traditionen. Plastisch Art. 3 Verf. Baden-Württemberg (1953): "(1) Die Sonntage und die staatlich anerkannten Feiertage stehen als Tage der Arbeitsruhe und der Erhebung unter Rechtsschutz. Die staatlich anerkannten Feiertage werden durch Gesetz bestimmt. Hierbei ist die christliche Oberlieferung zu wahren." - Art. 147 Verf. Bayern (1946): "Die Sonntage und staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der seelischen Erhebung und der Arbeitsruhe gesetzlich geschützt." - Ähnlich Art. 41 Verf. Saar (1947). - Zu den "Wurzeln" des "Sonn- und Feiertagsrechts" bzw. den "kirchenpolitischen Forderungen": G. Dirksen, Das Feiertagsrecht, 1961, S. 8 ff. 47
S. aber auch oben Anm. 13. - "Gott in Frankreich" ist auch insofern eine Pointe.
48
Dazu oben bei Anm. 4 f.
224
II. Inhalte
oben gekennzeichneten Sinne beachtet werden49. Und: Ausdrückliche Gottesklauseln im Text einer Verfassung wie des GG oder der deutschen Länderverfassungen, auch der Schweizer Bundesverfassung und der Kantonsverfassungen, dürfen und können die religiös-weltanschauliche Offenheit und Toleranz50 als essentielle kulturelle Errungenschaft des Verfassungsstaates nicht in Frage stellen.
3. Fragen der Verfassungs- bzw. Gottes-Interpretation
Ein letztes Wort zu dem Problem, welche "konkrete" Gottesvorstellung eine bestimmte Verfassung wie das GG meint und wie sie interpretativ zu erschließen ist. M. E. ist hier mit dem kulturwissenschaftlichen Ansatz51 ernst zu machen. Die Verfassungsinterpretation hat zu eraibeiten, ob Gottesvorstellungen einer, zweier oder aller drei monotheistischen Weltreligionen gemeint sind (Judentum, Christentum52, Islam) und ob auch anderen "Gottes-Verständnissen" Raum zu geben ist Mag herkömmlich in Deutschland das christliche "Gottesbild" das kulturell gemeinte sein53: In dem Maße, wie sich in der Bundesrepublik Deutschland dank der Zuwanderung ζ. B. von Moslems eine "multikulturelle Gesellschaft" zu entwickeln beginnt, wird sich das christliche Gottesverständnis des historischen Verfassunggebers von 1949 einer Vielfalt zu
49
I. S. der Rechtsprechung des BVerfG (oben Anm. 30, 32, 42).
50
Diese Toleranz als Verfassungsprinzip ist weniger eine solche christlicher Tradition und Lehre (so aber wohl Behrendt, z. B. S. 135) als vielmehr die von einem Voltaire (dazu K. R. Popper, Auf der Suche nach einer besseren Welt, 1984, S. 215 ff.) und Lessing als Klassiker der Aufklärung auf den Weg gebrachte. 51 Ähnlich wohl auch v. Mangoldt / Klein / Starck, GG (1985), Präambel, Rdn. 26: "Diese Absage an jeden prometheischen Größenwahn und Mahnung zur Bescheidenheit verbieten ζ. B. eine Politik, die den Menschen kulturrevolutionär verändern... will." 52 Eine Etappe auf diesem Weg ist die Formulierung in BVerfGE 52, 223 (241), die Schüler, die dies wollen, könnten "ihren religiösen Glauben - wenn auch nur in der eingeschränkten Form einer allgemein gehaltenen und überkonfessionellen Anrufung Gottes - bekennen". - Ferner BVerfGE 41, 29 (62 f.): "Das gemeinsame christliche Leitbild, welches das Schulleben bestimmt, ist geprägt durch die Anerkennung der Glaubensverschiedenheiten der beiden christlichen Konfessionen und die Offenheit sowie Toleranz gegenüber nichtchristlichen Religionen und Weltanschauungen." 53 Weitergehend und daher fragwürdig Behrendt, aaO, S. 159: "Der christliche Gott ist der integrierende Pol unseres pluralistisch verfaßten Staates." - Bemerkenswert für das gewandelte evangelische (Selbst-)Verständnis aber die Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland: "Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie", 1985, S. 12: "Die Verantwortung vor Gott und den Menschen (sc. laut GG-Präambel) gilt der in der Verfassung niedergelegten Ordnung der staatlichen Aufgaben" (es folgt ein Hinweis auf Art. 33 Abs. 3 und Art. 3 Abs. 3 GG!). S. ferner S. 14 ebd.: "Auch die Demokratie ist keine 'christliche Staatsform'."
9. "Gott" im Verfassungsstaat?
225
öffnen haben54. Der Verfassunggeber wollte nicht sein Gottesbild festschreiben und ζ. B. gegen veränderte Sichtweise der Theologien immunisieren. Freilich hat diese "Offenheit" des Gottesverständnisses ihre Grenzen: Eine "Theologie ohne Gott" kann die Gottesklauseln der Verfassungen (auch kulturell) zu Leerformeln degradieren und den Verfassungstext ad absurdum führen. Die Verfassungskultur des GG bezieht sich in ihren Gottestexten auch nicht auf passiven oder aggressiven (Staats-)Atheismus55, wohl aber läßt die "Verfassung des Pluralismus" Raum für negative Religionsfreiheit und damit auch für Atheismus als Form individueller oder korporativer Grundrechtsbetätigung. Ob der Verantwortungsformel in verfassungsstaatlichen Präambeln wie denen des GG oder der Schweizer Tradition seit dem Bundesbrief von 129156 im ganzen ein übergreifendes "Staatsprinzip Verantwortung" zu entnehmen ist 57 , bleibe hier offen.
ΠΙ. Zusammenfassung und Ausblick Im ganzen: Soweit textlich vorhanden, repräsentieren Verfassungsklauseln mit Gottesbezügen keineswegs eine "überwundene", anachronistische, "atypische" Entwicklungsstufe, sondern eine mögliche kulturelle Variante des Verund damit fassungsstaates. Sie sind Ausdruck von "Religionsverfassungsrecht" eines Bildes vom Menschen, das diesen - und auch das Volk (!) - historisch wie aktuell in höheren Verantwortungszusammenhängen sieht: Staat und Recht werden als begrenzte, ethisch fundierte Ordnungen bekräftigt, was ohnedies für den Typus Verfassungsstaat charakteristisch ist. So gesehen besteht ein innerer Zusammenhang zwischen den gottbezüglichen Verantwortungsklauseln und der Menschenwürde, aber auch dem verfassungsstaatlichen Toleranzprinzip, wie überhaupt die Gottestexte in die als Einheit verstandene Verfassung zu inte-
54
Dies kann etwa bei einer Bestimmung wie Art. 148 Abs. 1 Verf. Bayern (1946) praktisch werden: "Soweit das Bedürfnis nach Gottesdienst und Seelsorge in Krankenhäusern, Strafanstalten oder sonstigen öffentlichen Anstalten besteht, sind die Religionsgemeinschaften zur Vornahme religiöser Handlungen zuzulassen, wobei jeder Zwang ferazuhalten ist." Ähnlich Art. 48 Abs. 1 Verf. Rheinland-Pfalz (1947). 55 von Münch, Rdn. 7 zu Präambel, in: von Münch, GG-K., Bd. 1, 2. Aufl. 1981, spricht von "bekräftigter Absage an den Atheismus als Staatsreligion, was aber nicht als allgemeine prochristliche Auslegungsvermutung mißdeutet werden" dürfe. - Die Kulturgehalte der Anrufung Gottes übersieht wohl Zuleeg, AK-GG, Bd. I (1984), Β Rechtslage Deutschlands, Rdn. 21: "Die Formel leitet daher in die Irre und entbehrt eines rechtlichen Sinngehalts." 56 57
Dazu Expertenkommission, Bericht 1977, aaO, S. 18.
Dies ist die zentrale These des Buches von P. Saladin, Verantwortung als Staatsprinzip, 1984, S. 23 f., 38 f. und passim.
226
II. Inhalte
grieren sind38. Die epochale Entwicklung zum säkularisierten Verfassungsstaat wird damit nicht rückgängig gemacht, denn das Verfassungsrecht des Verfassungsstaates zwingt niemanden zum nGottesdiensttt via Gottes-Texte. Doch ist der Mensch als homo religiosus kulturell ernst genommen bis hin zur Garantie seiner Freiheit, sich a-religiös oder gar anti-religiös zu verhalten. Es ist dieser kulturelle Hintergrund, der Gottestexte im Verfassungsstaat historisch und aktuell rechtfertigt, freilich auch begrenzt Die Bandbreite verfassungspolitischer Gestaltungsmöglichkeiten ist groß: von Verfassungsstaaten mit klassischem "Staatskirchenrecht" hier (ζ. B. im Staats-Luthertum in Skandinavien) 59 bis zu Verfassungsstaaten, die im Rahmen der strikten Trennung von Staat und Kirche (ζ. B. in Frankreich) mit manchen Zwischenformen (ζ. B. in Gestalt der "hinkenden Trennung" i. S. der WRV und des GG), "Religionsverfassungsrecht" nur noch in Form der Garantie der Religionsfreiheit, "Verantwortung vor Gott-Klauseln", Eidesformeln mit der Möglichkeit religiöser Beteuerung und gottbezüglichen Erziehungszielen kennen. M. a. W.: Es gibt keine "Verfassungsstaaten" ohne jedes Religionsverfassungsrecht: Die Garantie individueller und kollektiver Religionsfreiheit ist eine historisch vielleicht "letzte", in der Sache aber erstrangige und unverzichtbare Erscheinungsform von "Religionsverfassungsrecht". Wohl aber gibt es Verfassungsstaaten ohne Gottes-Texte. Ausdrückliche Gottestexte sind eine mögliche, aber nicht unentbehrliche Form von Religionsverfassungsrecht Ob und wie sie vom Verfassunggeber gestaltet und danach allseits interpretiert werden, hängt von historischen und aktuellen Kulturzusammenhängen ab. Gottes-Texte, wenn positivrechtlich vorhanden, beruhen auf einer kulturanthropologischen Aussage und insoweit sind sie ernst zu nehmen. So wie die Garantie der Religionsfreiheit eine kulturanthropologische Dimension besitzt und zwingend aus der Menschenwürde als "Prämisse des Verfassungsstaates" folgt 60, so können ausdrückliche Gottes-Texte diese Dimension bekräftigen und spezifisch einfarben. Wenn islamische Staaten in ihren neueren Verfassungen Gottesbezüge fast demonstrativ einbauen61, so ist dies für die Verfassungslehre eine doppelte Her58 Dazu allgemein (d. h. ohne Zitierung der Gottestexte) K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 15. Aufl. 1985, S. 26 f. 59
Dazu Α. v. Campenhausen, Staatskirchenrecht, 2. Aufl. 1983, S. 222.
60
Dazu P. Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 1,1987, S. 815 ff. 61 Ζ. B. Verf. des Königreichs Marokko vom 15. März 1972, Art. 7: "...The Motto of the Kingdom shall be: GOD, COUNTRY, KING." - Ferner Verf. Pakistan (1973): "In the name of Allah, the Beneficent, the Merciful The constitution of the Islamic republic of Pakistan Preamble Whereas sovereignity over the entire Universe belongs to Almighty Allah alone ...". - Verf. Ägypten (1980): "... We, the Egyptian people, in the name of God and by his assistance...". - Verf. des Staates Ku-
9. "Gott" im Verfassungsstaat?
227
ausforderung: Zum einen kann und muß sie begründen, warum und inwieweit sich in ihrem Rahmen der Verfassungsstaat nicht mit einer bestimmten Religion identifiziert; anders die Islamischen Staaten mit ihrem typischen "Staatskirchentum"62. Das moslemische Verfassungsrecht von heute entspricht offenbar noch einer älteren Stufe des "Staatskirchenrechts" der deutschsprachigen christlichen Länder Europas. Dieser Differenzpunkt zum heutigen weltanschaulich konfessionell neutralen Verfassungsstaat mit seiner wachsenden Distanzierung vom "Staatskirchenrecht" und seiner Entwicklung in Richtung auf "Religionsverfassungsrecht" 63 kann gar nicht stark genug betont werden. Zum anderen hat der Typus "säkularer Verfassungsstaat" im Rahmen seiner "werdenden" multikulturellen bzw. multireligiösen Entwicklungen die religiösen Bezüge der Islamischen Staaten zur Kenntnis zu nehmen - in dem Maße, wie Moslems auch in ihm "Heimstatt" finden wollen und können, soweit sie dem Toleranzgebot des Typus "Verfassungsstaat" gerecht werden.
wait (1962): "In the name of Allah, the Beneficent, the M e r c i f u l - Die Verf. der Iranischen Republik (1980) ist besonders reich an Gottes-Texten: in der Präambel ("In the Name of God, The Merciful and the Beneficent"), Art. 2 ("One God ... and the exclusive sovereignity of God ... The Justice of God in creation and in Divine Law"), Art. 18 ("God is Great"), Art. 56 etc. (alle zit. nach Α. Ρ. Blaustein / G. H. Flanz, Constitutions of the countries of the world). 62 Z. B. Verf. Marokko, aaO: Präambel: "The Kingdom of Morocco, a sovereign muslim State." Art. 6 ebd.: "Islam shall be the religion of the State, which shall guarantee freedom of worship for all." Art. 19: "The King ... shall ensure that Islam and the Constitution are respected." Art. 101: "The State monarchy and the provisions relating to the Muslim religion may not form the subject of a revision of the Constitution." - S. auch Verf. Pakistan (1973), Art. 2: "Islam shall be the State religion of Pakistan." 63 Dazu mein Beitrag: Staatskirchenrecht als Religionsrecht der verfaßten Gesellschaft, D Ö V 1976, S. 73 ff., wiederabgedruckt in: P. Mikat (Hrsg.), Kirche und Staat in der neueren Entwicklung, 1980, S. 452 ff.
10. Artenreichtum und Vielschichtigkeit von Verfassungstexten, eine vergleichende Typologie· I. Problem Das Thema ist in doppelter Hinsicht der Schweiz zu verdanken. Es wurde pionierhaft in den zwei klassischen Aufsätzen von Hans Huber behandelt (1971 / 72)1, es gewann fast "kanonischen" Rang dank der Expertenkommission für die Vorbereitung einer Totalrevision der Schweizer BV (1977)2. Beides ermutigt dazu, es in der Festschrift für Ulrich Häfelin aufzugreifen, der die Rechtstexte besonders ernst nimmt3; umso mehr als neuere Verfassungen in der westlichen Welt, vor allem in Europa seit 1975, zahlreiche neue Texte geschaffen oder alte modifiziert haben und die vergleichende Textstufenanalyse ζ. B. bei der verfassunggebenden Gewalt des Volkes, den Präambeln, der Eigentumsgarantie, der Wissenschafts- und Kunstfreiheit, beim Thema "Staatsaufgaben" sowie "Arbeit" erprobt worden ist: mit dem Ergebnis der Beobachtung mannigfacher Differenzierungen 4. Da gerade die als Kulturwissenschaft verstandene Verfassungslehre die verfassungsstaatlichen Texte ernst nehmen muß5, ist eine Bestandsaufnahme des •
Festschrift für Ulrich Häfelin, 1989, S. 225 ff.
1
H. Huber, Über die Konkretisierung der Grundrechte, in: Der Staat als Aufgabe, Gedenkschrift für Max Imboden, 1972, S. 181 ff.; ders., Der Formenreichtum der Verfassung und seine Bedeutung für ihre Auslegung, ZBJV 107 (1971), S. 171 ff. - Für die Grundrechte vgl. C. Starck, Europas Grundrechte im neuesten Gewand, in: FS H. Huber, 1981, S. 467 ff.; P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 3. Aufl. 1983, S. 407 ff. 2 Vgl. ihren Bericht, 1977, bes. S. 14 f.: "Grundsätzliches zu Begriff, Form und Funktion der Verfassung". 3 Vgl. seine Arbeiten wie: Zur Lückenfüllung im öffentlichen Recht, in: FS H. Nef, 1981, S. 91 ff.; U. Häfelin / W. Haller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 2. Aufl. 1988, S. 21 ff. 4
P. Häberle, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes im Verfassungsstaat, AöR 112 (1987), S. 54 ff.; Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, in: FS J. Broermann, 1982, S. 211 ff.; Vielfalt der Property Rights und der verfassungsrechtliche Eigentumsbegriff, AöR 109 (1984), S. 36 ff; Die Freiheit der Wissenschaften im Verfassungsstaat, AöR 110 (1985), S. 329 ff.; Die Freiheit der Kunst im Verfassungsstaat, AöR 110 (1985), S. 577 ff.; Verfassungsstaatliche Staatsaufgabenlehre, AöR 111 (1986), S. 595 ff.; Aspekte einer Verfassungslehre der Arbeit, AöR 109 (1984) S. 630 ff. - hier Nrn. 7, 8, 20,18,19, 23, 21. 5 Dazu mein Beitrag: Textstufen als Entwicklungswege des Verfassungsstaates, in: FS K. J. Partsch, 1989, S. 555 ff. - hier Nr. 1.
10. Artenreichtum von Verfassungstexten
229
Formenreichtums dieser Texte, ihrer bereits sprachlich greifbaren Vielschichtigkeit und Funktionenvielfalt 6 erforderlich; überdies haben Handwerk und Kunst der Verfassungsinterpretation in den letzten eineinhalb Jahrzehnten Bibliotheken hervorgebracht 7. Die Verfassungslehre muß ihren Gegenstand, die Vielfalt der Texte, in ihre Fragen einbeziehen. Schon ein flüchtiger Blick auf die neueren verfassungsstaatlichen Verfassungen zeigt, wie sehr diese "gewachsen" sind und sich - gegenüber der Typik des älteren Verfassungsstaates formal und inhaltlich ausdifferenziert haben.
Π . Bestandsaufnahme in Auswahl, die Beispielsvielfalt
Die Bestandsaufnahme ringt um eine Aufbereitung der Verfassungstexte unter dem Gesichtspunkt der sprachlichen, der rechtstechnisch-dogmatischen und der Funktionen-Vielfalt. Diese Aspekte gehören zusammen, müssen aber zunächst getrennt aufgeschlüsselt werden. Auszugehen ist von der Kongruenz der Text-Formen und Text-Inhalte. Verfassungslehre als "juristische Text- und Kulturwissenschaft" knüpft präzise an die Texte an, greift aber auf ihre auch im Entstehungsprozess präsenten (!) kulturellen "Kontexte" zurück, um den ganzen - vielschichtigen - Inhalt der Texte zu gewinnen. Das ist keine Relativierung der Texte, sondern ihre Fundierung. Es wird sich zeigen, daß die Textformen höchst differenziert verwendete und entsprechend zu interpretierende Textinhalte indizieren. Der "Mikrokosmos" der einzelnen Textstellen ist ein Element im "Makrokosmos" des Ensembles des Verfassungsganzen. Das führt zur Forderung nach einem differenzierten Einsatz der Methoden der Verfassungsinterpretation. Die Vielfalt des scheinbar nur äußeren Text-"Gewandes" der Verfassungsinhalte deutet auf eine Vielfalt der Inhalte und Funktionen der Verfassungssätze hin. Die Auswahl ist insofern beschränkt, als das vielfältige ungeschriebene Verfassungsrecht 8 nicht untersucht wird. Hier herrscht ebenfalls großer Formenreichtum, der nur schwer zu fassen ist, da das "Ungeschriebene" ja des formalen verfassungsgesetzestextlichen "Gewands" entbehrt. Zu vermuten ist,
6 Einzelheiten im meinem Beitrag: Funktionenvielfalt der Verfassungstexte im Spiegel des "gemischten" Verfassungsverständnisses, in: FS D. Schindler, 1989, S. 701 ff. - hier Nr. 11. 7 Ζ. T. dokumentiert in dem von R. Dreier / F. Schwegmann herausgegebenen Band, Probleme der Verfassungsinterpretation, 1976; s. im übrigen: K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der BR Deutschland, 16. Aufl. 1988, S. 19 ff.; K. Stern, Das Staatsrecht der BR Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 123 ff. 8 Dazu H. Huber, Probleme des ungeschriebenen Verfassungsrechts (1955), jetzt in: ders., Rechtstheorie, Verfassungsrecht, Völkerrecht, 1971, S. 329 ff.
230
II. Inhalte
daß das Verfassungsgewohnheitsrecht, Richterrecht etc.9 große Formenvielfalt aufweist und in vielem dem "Geschriebenen11 parallel strukturiert ist. Die - differenzierte - Sprache vermittelt auch hier die unterschiedlichen Inhalte. Überdies sind die Übergänge zwischen der Auslegung geschriebenen Verfassungsrechts und der Entwicklung des ungeschriebenen fließend.
1. Die sprachliche Vielfalt
Viele Verfassungstexte unterscheiden sich schon sprachlich von Texten einfachen Rechts. Sie bieten außerdem in sich ein höchst differenziertes Bild. Man denke an die "Feiertagssprache" (vor allem in den Präambeln) und die eher rechtstechnisch-rational gehaltenen Organisations- und Kompetenznormen (etwa in Bundesstaatsverfassungen). Die spezifischen Präambelinhalte und funktionen ("Einstimmung" der Bürger und Gruppen bzw. des pluralistischen Volkes auf die Verfassung, "Verarbeitung" der Geschichte, Fundamentierung der nachfolgenden Verfassungstexte als "Konzentrat"10) fordern eine "eigene" Sprache mit spezifischen "Klangfarben". Weite und Unbestimmtheit, auch "Offenheit" der Verfassungssätze 11 sind fast schon ein Gemeinplatz; bei näherem Zusehen zeigt sich aber, wie unterschiedlich dieser "Generalklausel-Charakter" der Verfassungssätze 12 ist (bis hin zur technisch wirkenden Spezialnorm) und wie gezielt der Wortlaut in Sachen Bestimmtheit variiert. In sprachlicher Hinsicht lassen sich Verfassungstexte eher symbolisch-rhetorischen, edukatorischen, ja sogar irrationalen ("Glaubens-")Inhalts unterscheiden von den stärker "positivistischen", juristisch-dogmatisch rationalen: bei vielen Übergängen und Mischformen. Felder, in denen der Verfassunggeber symbolisch-rhetorisch, ja mitunter theatralisch und "suggestiv" arbeitet, sind neben den Präambeln andere Partien der Verfassung: vor allem die Artikel zu Flaggen, National färben, Hymnen, Sprachen, Erziehungszielen, auch Feierta-
9 Aus der Literatur C. Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht?, 1972; K. Stern, (Anm. 7), S. 109 ff.; B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982, S. 446 ff. 10 Dazu meine Bayreuther Antrittsvorlesung: Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, in: FS J. Broermann, 1982, S. 211 ff. - hier Nr. 8. 11 M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 1967, S. 197: Grundrechte als "lapidare Generalklauseln". 12
Ζ. Β. P. Häberle, Wesensgehaltgarantie (Anm. 1), S. 102, 168,186, 214, 218.
10. Artenreichtum von Verfassungstexten
231
gen13 als irrationalen Konsensquellen" (K. Eichenberger). Beispiele sind: Art. 131 Verf. Bayern von 1946 /1984 ("Die Schulen sollen nicht nur Wissen und Können vermitteln, sondern auch Herz und Charakter bilden"... "Oberste Bildungsziele sind Ehrfucht vor Gott... Aufgeschlossenheit für alles Wahre, Gute und Schöne und Verantwortungsbewußtsein für Natur und Umwelt..."), Art. 32 Verf. Hessen von 1946 ("Der 1. Mai ist gesetzlicher Feiertag aller arbeitenden Menschen. Er versinnbildlicht das Bekenntnis zur sozialen Gerechtigkeit, zu Fortschritt, Frieden, Freiheit und Völkerverständigung"), Art 139 der Weimarer-Reichsverfassung (WRV) bzw. Art. 140 GG ("Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt") und Art. 56 Verf. Spanien von 1978 ("Der König ist Oberhaupt des Staates, Symbol seiner Einheit und Dauer. Er wacht als Schiedsrichter und Lenker über das regelmäßige Funktionieren der Institutionen..."). Ein "rhetorisches" Element läßt sich sogar in manchen Partien der heute so verfeinerten Artikel zu den (wachsenden) Staatsaufgaben entdecken14. Schließlich greift dieser "Geist" und diese Sprache sogar in Grundrechtsgarantien hinüber15. Den Prototyp einer sprachlich "kultivierten" und inhaltsreichen Präambel hat die Verfassung Spaniens von 1978 geschaffen 16. Verf. Portugal (von 1976 / 82) beginnt ihre Präambel mit den großen Sätzen:
13 Dazu P. Häberle, Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1982; ders., Feiertagsgarantien als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, 1987; ders., Der Sonntag als Verfassungsprinzip, 1988. 14 Art. 81 Verf. Portugal von 1976/82: "Im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik hat der Staat vorrangig die folgenden Aufgaben: a) das Anwachsen des sozialen und wirtschaftlichen Wohlergehens und der. Lebensqualität des Volkes, insbesondere der am wenigsten begünstigten Schichten, zu fördern;..." (zit. nach JöR 32 [1983], S. 446 ff.). 15
Beispiele: Art. 22 Abs. 3 Verf. Niederlande von 1983 (zit. nach JöR 32 [1983]; S. 277 ff.): "Der Staat und die anderen öffentlich-rechtlichen Körperschaften schaffen Voraussetzungen für die soziale und kulturelle Entfaltung und für die Freizeitgestaltung". - Art. 19 Abs. 1 Verf. Kanton Jura von 1977: "Le droit au travail est reconnu". - § 25 Abs. 2 Verf. Kanton Aargau von 1980: "In Beachtung der Verantwortung des Einzelnen trifft er (sc. der Staat) ... Vorkehren, damit jedermann... c) eine angemessene Wohnung zu tragbaren Bedingungen finden kann..." (zit. nach JöR 34 [1985], S. 437 ff.). - Art. 25 Abs. 2 Verf. Griechenland von 1975: "Die Anerkennung und der Schutz der grundlegenden und immerwährenden Menschenrechte durch den Staat ist auf die Verwirklichung des gesellschaftlichen Fortschritts in Freiheit und Gerechtigkeit gerichtet" (zit. nach JöR 32 [1983], S. 360 ff.). 16
Zit. nach JöR 29 (1980), S. 252 ff.: "Die spanische Nation, von dem Wunsche beseelt, Gerechtigkeit, Freiheit und Sicherheit herzustellen und dem Wohl aller ihrer Bürger förderlich zu sein, verkündet in Ausübung ihrer Souveränität ihren Willen: das demokratische Zusammenleben zum Schutz der Verfassung und der Gesetze und im Rahmen einer gerechten Wirtschafts- und Sozialordnung zu gewährleisten; einen Rechtsstaat zu konsolidieren, der die Herrschaft der Gesetze als Ausdruck des Willens des Volkes sichert; alle Spanier und Völker Spaniens bei der Ausübung der Menschenrechte und bei der Pflege ihrer Kultur und Traditionen, Sprachen und Institutionen zu schützen...". 16 Häberle
232
II. Inhalte
"Am 25. April 1974 krönte die Bewegung der Streitkräfte den langjährigen Widerstand des portugiesischen Volkes mit dem Sturz des faschistischen Regimes und gab damit dem größten Wunsch des Volkes Ausdruck. Portugal von Diktatur, Unterdrückung und Kolonialismus zu befreien, bedeutete einen revolutionären Wandel und den Beginn einer historischen Wende für die portugiesische Gesellschaft. Die Revolution gab den Portugiesen die Grundrechte und Grundfreiheiten zurück...".
Pathos und Ethos sind hier schon sprachlich greifbar. Die Ausstrahlung der spanischen und portugiesischen Präambel auf neue lateinamerikanische Verfassungen ist evident: man vergleiche etwa Präambel der Verf. Guatemala von 198517: "... wir sind angeregt durch die Ideale unserer Vorfahren und erkennen unsere Traditionen und unsere kulturelle Erbschaft an...",
auch Perus von 19791». Eine in Rhythmus, Inhalt, Sprache und Form besonders "ansprechende", den Bürger "einstimmende" Präambel ist der Verf. Kanton Basel-Landschaft von 1984 gelungen19: "Das Baselbieter Volk, eingedenk seiner Verantwortung vor Gott für Mensch, Gemeinschaft und Umwelt, im Willen, Freiheit und Recht im Rahmen seiner demokratischen Tradition und Ordnung zu schützen, gewiß, daß die Stärke des Volks sich mißt am Wohle der Schwachen, in der Absicht, die Entfaltung des Menschen als Individuum und als Glied der Gemeinschaft zu erleichtern, entschlossen, den Kanton als souveränen Stand in der Eidgenossenschaft zu festigen und ihn in seiner Vielfalt zu erhalten..." 20.
Diese Feiertagssprache und -kultur der Präambeln hat ihre lange Tradition, sie repräsentiert nicht etwa eine neue Entwicklungsstufe des Verfassungsstaates. Das zeigen ältere Präambeln in der Schweiz (z. B. BV: "Im Namen Gottes des Allmächtigen! Die schweizerische Eidgenossenschaft, in der Absicht, den Bund der Eidgenossen zu festigen, die Einheit, Kraft und Ehre der schweizerischen Nation zu erhalten und zu fördern..." 21). Doch erlebt die Präambelkultur 17
Zit. nach JöR 36 (1987), S. 555 ff.
1« Zit. nach JöR 36 (1987), S. 641 ff. Die Präambel Verf. Peru von 1979 beginnt: "Wir, Abgeordnete der Verfassunggebenden Versammlung, Gottes Schutz anbefohlen und in Ausübung der souveränen Gewalt, die uns das Volk Perus übertragen hat; im Glauben an den Vorrang der menschlichen Person und daran, daß alle Menschen die Würde und Rechte universeller Gültigkeit besitzen, die vor dem Staat bestanden und diesem übergeordnet sind...". 19
Zit. nach JöR 34 (1985), S. 451 ff.
20
Préambule Vêrf. Kanton Jura von 1977 (zit. nach JöR 34 [1985], S. 424 ff.) lautet: "Le peuple jurassien s'inspire de la Déclaration des droits de l'homme de 1798, de la Déclaration universelle des Nations unies proclamée en 1948 et de la Convention européenne des droits de l'homme de 1950...". 21 Vgl. auch Präambel Verf. Irland von 1937 (zit. nach P. C. Mayer-Tasch [Hrsg.], Die Verfassungen Europas, 2. Aufl. 1975): "Im Namen der Allerheiligsten Dreifaltigkeit, von der alle Autorität kommt.., in Demut alle unsere Verpflichtungen gegenüber unserem göttlichen Herrn, Jesus Chri-
10. Artenreichtum von Verfassungstexten
233
heute einen starken "Wachstumsschub": vor allem im Blick aufwerthafte Anreicherungen ganz im Sinne des die Grundrechte einbeziehenden "Aufgabendenkens"22. Das zeigt sich jetzt sogar in Österreich 23 - auf dem Hintergrund seiner präambelfeindlichen, betont "formalen" Verfassungsstaatstradition (vgl. Verf. 1920). Repräsentativ für die drei Charakteristika verfassungsstaatlicher werteorientierter Präambeln (Feiertagssprache, "Verarbeitung" der Geschichte und Vorwegnahme der substantiellen Gehalte der Verfassung nach der Grundrechts» und Staatsaufgabenseite hin) ist die Präambel Verf. Bremen von 1947: "Erschüttert von der Vernichtung, die die autoritäre Regierung der Nationalsozialisten unter Mißachtung der persönlichen Freiheit und der Würde des Menschen in der jahrhundertealten Freien Hansestadt Bremen verursacht hat, sind die Bürger dieses Landes willens, eine Ordnung des gesellschaftlichen Lebens zu schaffen, in der die soziale Gerechtigkeit, die Menschlichkeit und der Friede gepflegt werden, in der der wirtschaftlich Schwache vor Ausbeutung geschützt und allen Arbeitswilligen ein menschenwürdiges Dasein gesichert wird." 2 4
2. Die rechtstechnisch-dogmatische Vielfalt
Die sprachlichen Differenzierungen bzw. die "Figuren-Viel fait" der Verfassungssätze - sie nehmen im Verlauf der Wachstumsprozesse des Typus Verfassungsstaat vor allem seit 1975 zu - sind kein Selbstzweck. Die Verfassunggeber haben sie um bestimmter Inhalte und Funktionen willen geschaffen. Freilich "entwickelt" die Dogmatik im Rahmen ihrer Kunstlehren aus groben, ggf. noch zu undifferenzierten Texten inhaltliche Vielfalt über den Text hinweg und hinaus. Doch dürfte es kaum eine Figur der Dogmatik geben, die heute nicht in irgendeinem verfassungsstaatlichen positiven Verfassungstexi schon Gestalt
stus... In dankbarer Erinnerung an ihren heldenhaften und unermüdlichen Kampf um die Wiedererlangung der rechtmäßigen Unabhängigkeit unserer Nation und in dem Bestreben, unter gebührender Beachtung von Klugheit, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit das allgemeine Wohl zu fördern, auf daß die Würde und Freiheit...". 22
Dazu unten sub II. 2b, bb).
23
Vgl. die 1980 in die Verf. Tirol \on 1953 eingefügte Präambel: "... im Bewußtsein, daß die Treue zu Gott und zum geschichtlichen Erbe, die geistige und kulturelle Einheit des ganzen Landes, die Freiheit und Würde des Menschen, die geordnete Familie als Grundzelle von Volk und Staat die geistigen, politischen und sozialen Grundlagen des Landes Tirol sind, die zu wahren und zu schützen oberste Verpflichtung der Gesetzgebung und Vollziehung des Landes sein muß...". Damit ist sprachlich eine Variante der verfassungsstaatlichen Präambeltradition und -kultur geglückt und inhaltlich die "Essenz" der Verfassung Tirols in Sachen Grundrechte und Staatsaufgaben erkennbar (dazu Art. 7, 9, 10, 11, 13 Verf. Tirol [1988/89]). 24
Zit. nach C. Pestalozza (Hrsg.), Verfassungen der deutschen Bundesländer, 3. Aufl. 1988.
234
II. Inhalte
angenommen hätte - so intensiv ist die internationale Zusammenarbeit in Sachen Verfassungsstaat 25. Unterscheiden26 läßt sich eine reiche Skala von der formalen Kompetenznorm über das "objektive" Verfassungsprinzip und den Verfassungsauftrag bis hin zum subjektiven (öffentlichen) Grund-Recht. Oft sind mehrere dieser Dimensionen in denselben Verfassungssätzen bzw. konstitutionellen Normenkomplexen enthalten bzw. von Lehre und Rechtsprechung entwickelt worden. Man denke an die viel zitierte "Mehrdimensionalität" von Grundrechten als objektiven Normen, "Prinzipien", subjektiven öffentlichen Rechten, Verfassungsaufträgen, Schutzgehalten, Teilhaberechten oder an die Mehrschichtigkeit des Sozialstaatsprinzips vom Programmsatz bis zum Auslegungstopos, vom subjektiven Mindestrecht (auf Sozialhilfe) bis zum Gesetzgebungsauftrag. Offenbar besteht heute eine Tendenz, Verfassungsnormen möglichst vielschichtig anzulegen und auszulegen, in ihnen nicht nur eine Geltungsdimension zu erschließen27 ("Optimierung"). Diese Verfeinerung ist zu begrüßen, sie ist vor allem in der Schweiz und in Deutschland28 nachweisbar. Auch "die Zeit" wird textlich unterschiedlich verarbeitet: von den bewahrenden Rezeptionsklauseln bis zum dynamischen Verfassungsauftrag. Insgesamt erweist sich die Rechts"quellen"-Lehre schon begrifflich-bildlich als fragwürdig. "Idealtypisch" sind 2 Grundmodelle nachweisbar:
a) Das Ermächtigungs- und Grenzziehungsmodell
Gemeint sind die - klassischen - organisations- und materiellrechtlichen Normen, bei denen der Ermächtigungs- und Grenzziehungscharakter im Vordergrund steht. Einerseits werden staatliche Oigane geschaffen ("Kreationsnormen"), Kompetenzen eingerichtet und Funktionen verteilt ("Kompetenznormen"), Befugnisse zuerkannt, Verfahren festgelegt und Zuständigkeitsbereiche abgegrenzt (ζ. B. zwischen Bund und Ländern, einzelnen Staatsorganen, Staat 25 Dazu die Belege in meinem Beitrag Textstufen als Entwicklungswege des Verfassungsstaates, in: FS J. Partsch, 1989, S. 555 ff. - hier Nr. 1. 26 K. Stern (Anm. 7), S. 117 ff. schlägt folgende Typisierung der Verfassungsrechtsätze vor: organisationsrechtliche und materiellrechtliche, Kompetenznormen, Kreationsnormen, Verfahrensnormen, Revisionsnormen, Normativbestimmungen, Grundrechtsnormen, Staatsstruktur- und Staatszielnormen, Verfassungsauftragsnormen, sonstige materiell-rechtliche und organisationsrechtliche Normen. Auch er beobachtet aber viele "Übergänge". 27 28
Repräsentativ ist BVerfGE 6, 55 (72); 7,198 (203 ff.); 3 9 , 1 (38).
Vgl. z. B. J. P. Müllers Lehre von den "Teilgehalten" der Grundrechte (Elemente einer schweizerischen Grundrechtstheorie, 1982, S. 46 ff.); K. Hesse (Anm. 7), S. 27 ("Optimierung").
10. Artenreichtum von Verfassungstexten
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und Kirche); andererseits wird in Gestalt der Grundrechte materiellrechtlich der gesellschaftlich-private Bereich des Bürgers bzw. der Gruppen von den staatlichen geschieden ("Einschränkungen" und "Eingriffe" als Ausnahmen). Diese Form- und Texttypik ist am reinsten in der Bismarck-Verfassung von 1871 durchgeführt: fast die ganze Verfassung gleicht einem "Organisationsstatut". Die Grundrechtskataloge im Stil der Erklärung Frankreichs von 178929 oder Belgiens (1831) repräsentieren das klassische Modell für den materiellrechtlichen bzw. Grundrechtsteil. Der "Dualismus" zwischen organisatorischem und Grundrechts-Teil war ein dogmatischer Ausdruck dieses Normierungs-Stils, ebenso das "Eingriffs- und Schrankendenken"30 bzw. die Überbetonung des Formalen und Technischen. Aufgaben-Normen fehlen oder sind nur vereinzelt anzutreffen, so in der Präambel der Bismarck-Verfassung von 1871 ("ewiger Bund zum Schutze des Bundesgebietes und des innerhalb desselben gültigen Rechts, sowie zur Pflege der Wohlfahrt des Deutschen Volkes") und in Gestalt der Bundeszwecke in Art. 2 Schweizer BV von 1874 ("Der Bund hat zum Zweck: Behauptung der Unabhängigkeit des Vaterlandes gegen außen, Handhabung von Ruhe und Ordnung im Innern, Schutz der Freiheit und der Rechte der Eidgenossen und Beförderung ihrer gemeinsamen Wohlfahrt" 31). Mit Verfassung als "Ermächtigung und Schranke" läßt sich stichwortartig der organisatorische und Grundrechtsteil dieses Typus kennzeichnen: Schranke im Verhältnis Staat / Bürger, Einschränkung aber auch im Verhältnis Bürger / Staat, wo dieser die grundrechtliche Freiheit begrenzt (im Interesse der anderen), sowie Grenzziehung zwischen Zentralstaat und Gliedstaat (in Bundesstaaten)32. 29
Anders die Präambel von 1789 ("feierliche Erklärung", "geheiligte Menschenrechte").
30
Dazu kritisch P. Häberle, Wesensgehaltgarantie (Anm. 1), S. V I I f., 136 ff. - S. auch Bericht der Schweizer Expertenkommission, 1977, S. 14: "Der bloß auf Staatsabwehr eingestellte Nachtwächterstaat des 19. Jahrhunderts mochte mit reinen Ermächtigungs- und Schrankennormen auskommen". 31 Vgl. aber auch die Feiertagsform, Bekenntnisstruktur und Inhaltsfülle der Bill of Rights von Virginia (1776): "I. Daß alle Menschen von Natur aus gleich frei und unabhängig sind und bestimmte angeborene Rechte besitzen, die sie ihrer Nachkommenschaft durch keinen Vertrag rauben oder entziehen können, wenn sie eine staatliche Verbindung eingehen; nämlich das Recht auf den Genuß des Lebens und der Freiheit...". US-Bundesverf. (1787): "Wir... in der Absicht, ...Gerechtigkeit zu befestigen, innere Ruhe zu gewährleisten, für die gemeinsame Verteidigung zu sorgen, die allgemeine Wohlfahrt zu fördern und die Segnungen der Freiheit uns und unseren Nachbarn zu sichern..." (zit. nach B. Dennewitz [Hrsg.], Die Verfassungen der modernen Staaten, I. Bd. 1947). 32
Auch die Verfassung Österreichs von 1920 bleibt im Kontext des staatsrechtlichen Positivismus von H. Kelsen in der Tradition des Verfassungstypus, der eher formal-technisch i. S. des Grenzziehungs- und Kompetenzverteilungsdenkens steht. Dieser "Stil" hat in den Verfassungen der Bundesländer nach 1945 zunächst "Schule" gemacht. Erst neuerdings finden sich inhaltliche Anreicherungen: z. B. in Gestalt des neuen Staatsaufgaben-Artikels in Art. 4 Verf. Niederösterreich (1979), des Staatsziel-Artikels 1 Abs. 1 Verf. Burgenland (1981) ("Burgenland ist ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat", "Burgenland gründet auf der Freiheit und Würde des Menschen; es schützt die Entfaltung seiner Bürger in einer gerechten Gesellschaft"), vor allem aber in den Be-
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II. Inhalte
b) Das Grundwerte-Modell
Das zweite "Modell" ist der Verfassungstypus, der textlich neben den Ermächtigungen und Grenzziehungen Inhaltliches, Werthaftes, Grundsätzliches, vor allem "Aufgaben" zum Ausdruck bringt. R. Smends Wort von der Verfassung als "Anregung und Schranke" faßt beide Aspekte zusammen, wobei die "Anregung" in den unterschiedlichsten Formen, Intensitäts- und Abstraktionsstufen bzw. "Dichtegraden" bis hin zur normativen Verpflichtung auftreten kann. Gingen schon die französischen Verfassungen nach 1791 diesen Weg der inhaltlichen Anreicherung 33, so verfolgen die neuen Verfassungen in Europa und Amerika seit 1975 verstärkt die Tendenz materieller "Aufladung". Das hat (partei-)politische Hintergründe - jeder am pluralistischen Prozeß und Kompromiß der Verfassunggebung Beteiligte möchte "seinen" Teil, seine "Politik" einbringen - , aber wohl auch wissenschaftliche. Das "materiale Verfassungsverständnis" beginnt den Textgeber zu beeinflussen. U. Scheuners Formel von der Verfassung als "Norm und Aufgabe" 34 liefert ein prägnantes Stichwort für diese Entwicklungstendenz. Die Steuerung bzw. Verarbeitung, auch "Beanspruchung" der Wirklichkeit ist eine schon textlich ablesbare Eigenheit der modernen Verfassunggeber (pionierhaft: Form und "Geist" des Zweiten Hauptteils der WRV von 1919, besonders Art. 119 -122,139,148,151,155)3*. Auffällig ist die materielle Anreicherung der Verfassung auf allen Problemfeldern und in allen Arten von Verfassungsnormen - wenngleich national und in der Zeitachse unterschiedlich: teils wird schon die Präambel um Aufgaben angereichert36, teils wird der (nicht nur bundesstaatlich bedingte) Kompetenzteil in die Aufgaben-Form gebracht, teils begegnen Grundrechte auch als Staatsaufgaben oder im Verfahrensgewand, teils werden ganz neue Normtypen
kenntnis- und Staatsaufgaben- bzw. Grundrechtsaufgaben-Artikeln der neuen Verfassung von Vorarlberg von 1984 (Art. 7, auch 8 [Ehe und Familie], 9 [Bildung und Kultur]). - Auch die Verfassungen der Deutschen Länder in der Weimarer Zeit (zit. nach O. Ruthenberg, 1926) waren denkbar karg, anders die nach 1945 ergangenen. 33 Man vergleiche ihre Texte, zit. nach J. Godechot, Les constitutions de la France depuis 1789, 1979. Stationen sind: Verf. von 1848 (z.B. Präambel und Art. 13), Art. 22 - 39 Verf. 1946. 34 U. Scheuner, Art. Verfassung (1963), jetzt in: ders., Staatstheorie und Staatsrecht, Ges. Schriften, 1978, S. 171 (172). 35
Dazu A. Hensely Grundrechte und politische Weltanschauung, 1931. - "Klassisch" gewordene Systematisierungen bei C. Schmitt, Freiheitsrechte und institutionelle Garantien (1931), jetzt in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 140 ff.; ders., Grundrechte und Grundpflichten, ebd., S. 181 ff. 36
Klassisch Präambel US-Bundesverfassung
von 1787 (oben Anm. 31).
10. Artenreichtum von Verfassungstexten
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geschaffen (etwa "Im Geiste-" oder "kulturelles-Erbe-Klauseln", Bekenntnisartikel oder Grundsatznormen)37. Überdies gibt es Mischformen. Diese "Modell-Lehre" bedarf der Relativierung: Je nach "Kodifikationsstil" und das heißt auch "Alter" einer Verfassungsurkunde bzw. ihrer Änderungen steht (in Europa) das Formale und Technische unterschiedlich stark im Vordergrund, neuere Verfassungen arbeiten gerne material und (wort-)"reich", ohne auf ältere Texte zu verzichten. Doch gibt es selbst heute Unterschiede. So ist etwa die Verfassung der Niederlande von 198338 mit "großen" Gehalten und Programmen eher sparsam und zurückhaltend, während die neuen Verfassungen der beiden iberischen Länder Portugal und Spanien 39 barocke, materiale, viele Differenzierungen andeutende Sätze bevorzugen. Und: Kaum ein inhaltliches Verfassungsthema ist auf nur eine Textgestalt fixiert. Im organisatorischen Teil der Verfassungen können sich starke materiale Elemente finden, im Grundrechtsteil auch formal-organisatorische. Die Teile wachsen zusammen. Schließlich: Es gibt viele "Mischformen": etwa kasuistische Aufgaben-Normen, Grundrechtsaufgaben-Normen ("soziale und kulturelle Grundrechte"), spezielle Schrankenklauseln, nur an den Gesetzgeber gerichtete Aufträge (Programm-Artikel). Die Texte können insofern verschieden "gearbeitet" sein, als der Verfassunggeber sie teils generalklauselartig offen, teils speziell und kasuistisch faßt; eine Mischform bilden die im Insbesondere- oder Beispielsstil "getexteten" Verfassungssätze (bei Grundrechten und ihren Schranken, bei allgemeinen Staatsaufgaben-Normen oder detaillierten). Der Formenreichtum manifestiert sich in der wechselnden Verwendung des "Katalogs" bestimmter Grundrechte bzw. Verfassungsgüter. Die Aufzählung kann "komprimierend" wirken, sie kann aber auch in Überfrachtung der Verfassungstexte umschlagen. Bald finden sich offene, d. h. nicht abschließend gemeinte Kataloge, bald "geschlossene", erschöpfend gemeinte Kataloge40.
37
Dazu unten sub II, 2b, aa).
38
Text in JöR 32 (1983), S. 277 ff. - Karg ist auch der Grundrechtskatalog der Verfassung von Island (1944 / 68), zit. nach P. C. Mayer-Tasch (Anm. 21), §§ 62 - 74. 39 40
Texte in JöR 32 (1983), S. 446 ff. bzw. 29 (1980), S. 209 ff.
Hier einige Beispiele: Art. 40 Abs. 6 Nr. 1 Verf. Irland von 1937 zählt Rechte des Bürgers auf (Meinungs-, Versammlungs-, Vereinigungsfreiheit), Art. 45 Abs. 2 ebd.: Politische Ziele ("insbesondere"). - Vgl. auch Kap. 2 § 1 Verf. Schweden von 1974 (zit. nach JöR 26 [1977], S. 369 ff.). - Besonders häufig setzt Verf. Portugal den Katalog als Stilmittel ein. Art. 9 Verf. Portugal (1976 / 82) zählt "wesentliche Aufgaben des Staates" auf (von der Gewährleistung der nationalen Unabhängigkeit und der Grundrechte bis zur Verteidigung des Kulturgutes oder den Schutz von Umwelt und Natur). Art. 81 normiert einen langen Katalog der "vorrangigen" Aufgaben im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik (lit. a bis η!). Art. 122 zählt auf, was im Amtsblatt zu veröffentlichen
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II. Inhalte
Konstitutionelle Legaldefinitionen, d. h. Begriffsbestimmungen auf Verfassungsebene bilden ein häufig eingesetztes Instrument. Die Verfassung ist hier um ein Höchstmaß an Präzision bemüht, die Prozesse der Verfassungskonkretisierung vereinfachen sich. Beispiele finden sich in Verfassungen sehr unterschiedlicher Entwicklungsstufen und in sehr verschiedenen Problemfeldern 41.
aa) Bekenntnis-Normen, Symbol- und Grundwerte-Klauseln, "Im-Geiste"- und "kulturelles-Erbe"-Artikel, Identitäts-, Grundsätze- und Vorrang-Klauseln
Diese Gruppe faßt Verfassungsnormen zusammen, die als ganzes oder in Teilen Uentitätselemente des jeweiligen Verfassungsstaates zum Ausdruck bringen, in Gestalt von: -
Bekenntnisnormen, Symbol- und Grundwerte-Klauseln "Im-Geiste-Artikeln" oder "kulturelles-Erbe"-Klausein sonstigen "pauschalen" Bezugnahmen der Verfassung auf sich selbst ("Schutz" der Verfassung) Grundsätze- und Vorrang-Klauseln.
-
Diese Klauseln sind Ausdrucksformen und Vehikel einer inhaltlichen werteorientierten Anreicherung, ja "Aufladung" der Verfassungen. Sie kommen an vielen Stellen vor, potentiell in allen Teilen der Verfassungsurkunde, sie sind in sich differenziert, auch zu Mischformen, und sie prägen die Verfassungen der einzelnen Länder verschieden stark. Im ganzen nehmen sie heute eher zu als ab. Sie spielen in die Gruppe der Aufgaben-Normen hinüber (ζ. B. in Art. 3 Abs. 1 und 2 Verf. Bayern oder in der GG-Formel vom "sozialen Rechtsstaat"), bleiben aber von dieser unterscheidbar. In älteren Verfassungen finden sie sich nur bruchstückhaft oder ansatzweise, erst in neueren, etwa in denen der iberischen Länder, sind sie oft gleichzeitig und "massenhaft" nachweisbar. Treten sie mit der Gruppe bb) (Aufgabennormen) und cc) (Mehrschichtig gewordene Grundrechtsnormen) gleichzeitig auf, liegt der Prototyp einer "materialen" Verfassung vor. ist. S. auch die langen Kataloge in Sachen Zuständigkeiten und Kompetenzen (Art. 164 bis 168, 200 bis 204), in Sachen nicht abänderbare Verfassungsprinzipien (Art. 290). - S. auch den Grundrechts-Katalog in Art. 2 Verf. Peru von 1979 (Ziff. 1 - 20) (zit. nach JöR 36 [1987], S. 641 ff.), und in § 6 Verf. Kanton Basel-Landschaft von 1984 (zit. nach JöR 34 [1985], S. 451 ff.). 41
Art. 81 Abs. 1 Verf. Spanien von 1978: "Organgesetze sind jene Gesetze, die sich auf die Entwicklung der Grundrechte und der öffentlichen Freiheiten beziehen...". - S. auch Art. 121 GG (Begriff der Mehrheit).-Art. 22 Abs. 1 Verf. Irland von 1937 (Definition der "Finanzgesetzvorlage"). - Art. 154 Verf. Hessen von 1946 ("Inländern"). - Art. 51 Verf. Schleswig-Holstein von 1949 ("Mehrheit").
10. Artenreichtum von Verfassungstexten
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"Bekenntnis-Normen" finden sich in vielen Bereichen. Sie dringen in neueren Verfassungstexten stärker nach vorn: etwa in Präambeln 42 in GrundlagenArtikeln 43, in Feiertagsgarantien 44, aber auch in anderen Partien der Verfassung45. Die "Bekenntnisform" ist ein Hinweis auf die große Bedeutung der Inhalte, auf ihre Qualifizierung als Grundwerte. Sie sucht objektiv vorhanden Gedachtes mit der höchsten Stufe der Identifizierung des Subjekts der verfassunggebenden Gewalt, des Volkes bzw. des einzelnen, zu verbinden (fast i. S. von "Glaubens"-Artikeln). Rationalität und subjektiv-irrationale Inhalte gehen eine denkbar enge Verbindung ein. Der Verfassunggeber schafft hier im Grunde eine Identitätsklausel; er trifft eine Aussage über sein Selbstverständnis46. Symbol-Artikel· 1 sind den Bekenntnisnormen eng verwandt. Ein gutes Beispiel ist Art. 2 Abs. 2 Verf. Frankreich von 195848: "L'Emblème national est le drapeau tricolore, bleu, blanc, rouge. L'hymne national est 'la Marseillaise'. La devise de la République est: Liberté, Egalité, Fraternité'. Son principe est: gouvernement du peuple, par le peuple et pour de peuple.",
42 Vgl. Vorspruch Verf. Baden-Württemberg von 1953 ("in feierlichem Bekenntnis zu den unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten und den Grundrechten der Deutschen..."). S. auch Präambel Verf. Frankreich von 1958: "Das französische Volk verkündet feierlich seine Verbundenheit mit den Menschenrechten und mit den Grundsätzen der nationalen Souveränität...". 43
Verf. Spanien von 1978, Vortitel, Art. 1 Abs. 1 (vgl. unten bei Anm. 54); Art. 1 Abs. 2 GG von 1949: "Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt". - S. den Bekenntnis-Artikel in der neuen Verfassung von Vorarlberg y on 1984: Art. 1 (1) "Vorarlberg... bekennt sich zu den Grundsätzen der freiheitlichen, demokratischen, rechtsstaatlichen und sozialen Ordnung. Die Bedeutung der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften für die Bewahrung und Festigung der religiösen und sittlichen Grundlagen des menschlichen Lebens wird anerkannt" (zit. nach LGB1.1984, S. 99 ff.). 44 Z. B. Art. 3 Abs. 2 S. 2 Verf. Baden-Württemberg von 1953: "Er (sc. der 1. Mai) gilt dem Bekenntnis zu sozialer Gerechtigkeit, Frieden, Freiheit und Völkerverständigung"; ähnlich schon Art. 25 Abs. 2 Verf. Nordrhein-Westfalen von 1950; Art. 55 Abs. 1 Verf. Bremen von 1947; Art. 32 Satz 2 Verf. Hessen von 1946: "Er (sc. der 1. Mai) versinnbildlicht das Bekenntnis zu sozialer Gerechtigkeit, zu Fortschritt, Frieden und Völkerverständigung" (zit. nach C. Pestalozza [Anm. 24]). Zu ihrer verfassungstheoretischen Einordnung: P. Häberle, Feiertagsgarantien als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, 1987. 45 Z. B. Art. 69 Abs. 1 Verf. Hessen von 1946 im Abschnitt "Völkerrechtliche Bindungen": "Hessen bekennt sich zu Frieden, Freiheit und Völkerverständigung". 46 Solche Bekenntnisnormen schließen die gleichzeitige Garantie der Bekenntnisfreiheit als Grundrechte (ζ. B. in Art. 4 GG oder Art. 8 Abs. 1 S. 1 Verf. Italien: "Alle religiösen Bekenntnisse sind vor dem Gesetz gleichermaßen frei") nicht aus. Vgl. auch Art. 5 Verf. Schleswig-Holstein von 1949: "Das Bekenntnis zu einer nationalen Minderheit ist frei; es entbindet nicht von den allgemeinen staatsbürgerlichen Pflichten". 47
Zu den "Symbolen", ζ. B. den Reichsfarben (Art. 3 WRV): R. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. AuH. 1968, S. 162 f., 260 ff. 48
Zit. nach J. Godechot (Hrsg.), Les Constitutions de la France depuis 1789, 1979.
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II. Inhalte
aber auch der Amtseid des Präsidenten der Republik Irland* 9. Nicht zufällig figurieren sie meist in den Grundlagen-Artikeln der Verfassung 50. Spanien (Verf. 1978) fixiert seinen Sprachen- und Flaggen-Artikel ebenfalls im "Vortiter (Art. 3 und 4). Und es verwendet (für den König) sogar ausdrücklich den Begriff "Symbol"«. Den Bekenntnis- und Symbol-Artikeln nahe kommen Grundwerte-Klauseln. Prägnantes Beispiel ist Art. 12 Abs. 6 Verf. Nordrhein-Westfalen: "In Gemeinschaftsschulen werden Kinder auf der Grundlage christlicher Bildungs- und Kulturwerte in Offenheit für die christlichen Bekenntnisse und für andere religiöse... Überzeugungen gemeinsam unterrichtet..." 52.
Sie überschneiden sich mit den auf die Grundsätze der Verfassung verweisenden Normen wie Art. 36 Verf. Rheinland-Pfalz 53. Den wohl prägnantesten Grundwerte-Artikel hat der Verfassunggeber Spaniens (1978) in den Worten des Art. 1 Abs. 1 geschaffen 54: "Spanien konstituiert sich als demokratischer und sozialer Rechtsstaat und bekennt sich zu Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit und politischem Pluralismus als obersten Werten seiner Rechtsordnung".
49 Art. 12 Abs. 8 Verf. Irland (zit. nach P. C. Mayer-Tasch [Anm. 21]): "In der Gegenwart des Allmächtigen Gottes verspreche und erkläre ich feierlich und aufrichtig...". 50 So in Verf. Italien (1947), Grundprinzipien, Art. 12: "Die Flagge der Republik ist die italienische Trikolore...". - Art. 11 Verf. Portugal (Flagge und Hymne); Art. 5 Verf. Berlin von 1950: Landessymbole: "Berlin führt Flagge, Wappen und Siegel mit dem Bären...". - Die neue Verfassung Burgenland (LGB1. Burgenland vom 22.12.1981) enthält einen Sprachenartikel in Art. 6 und einen Art. 8 über "Landessymbole" (Farben, Wappen, Siegel, Hymne). Beide figurieren in dem 1. Abschnitt "Allgemeine Bestimmungen". - Ähnlich ist Verf. Tirol von 1953 / 80 strukturiert: Allgemeine Grundsätze: § 4 (Deutsche Sprache als Landessprache), § 5 (Wappen und Farben). Gleiches gilt für Verf. Kärnten von 1974 (Art. 4, 5) oder Verf. Vorarlberg von 1984 (Art. 5, 6). - Vgl. noch den auf die "Symbole" bezüglichen Art. 68 Verf. Bremen von 1947: "Die Freie Hansestadt Bremen führt ihre bisherigen Wappen und Flaggen". 51 Art. 56 Abs. 1 : "Der König ist Oberhaupt des Staates, Symbol seiner Einheit und Dauer". Ähnlich arbeitet Art. 1 Verf. Japan (zit. nach R. Neumann, Änderung und Wandlung der Japanischen Verfassung, 1982, S. 185 ff.): "Der Tenno ist das Symbol Japans und der Einheit des japanischen Volkes". - Art. 4 Verf. Luxemburg von 1868 (zit. nach P. C. Mayer-Tasch [Anm. 21]): "Die Person des Großherzogs ist heilig und unverletzlich". - § 5 Verf. Norwegen: "Die Person des Königs ist heilig". - Art. 85 Verf. Peru von 1979: Flaggen, Wappen und Nationalhymne als "Symbole des Vaterlandes". 52 S. auch Art. 16 Abs. 1 Verf. Baden-Württemberg abendländischer Bildungs- und Kulturwerte"). 53
S. unten Anm. 71.
54
Zit. nach JöR 29 (1980), S. 252 ff.
von 1953 ("Grundlage christlicher und
10. Artenreichtum von Verfassungstexten
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Einen heute nicht seltenen Typus von Verfassungstexten bilden die "Im Geiste-Artikel". Sie finden sich in vielerlei Regelungsfeldern, so in Präambeln 55, in Erziehungszielenin Eidesklauseln 57 und im Dienst der Umschreibung des Rechtsprechungsauftrags 58 Die "Im Geiste-Klauseln"59 spiegeln den Versuch des Verfassunggebers, das Grundsätzliche seiner Inhalte, seiner Bewußtseinslage einzufangen und festzuhalten. Der Grundwerte-Bezug ist ebenso evident wie die juristische Positivität oder gar die Justitiabilität solcher Normen schwer erfaßbar bzw. durchsetzbar sind. Doch darf diese Normierungs- und (tendenziell auch) Positivierungstechnik als wichtiges Instrument im Arsenal des neueren Verfassunggebers gelten: an die Adresse aller drei Staatsfunktionen gerichtet und ggf. auch die Bürger verpflichtend. Die "kulturelles-Erbe-Klauseln" sind aus demselben "Stoff und Geist". Sie finden sich in ganz neuen Verfassungen, etwa in der Präambel Verf. Guatemala von 1985: "... wir sind angeregt durch die Ideale unserer Vorfahren und erkennen unsere Traditionen und unsere kulturelle Erbschaft an..."60. Auf weitere Text-Beispiele sei verwiesen61. 55 Präambel Verf. Hamburg von 1952 ("Die Freie und Hansestadt Hamburg ... will im Geiste des Friedens eine Mittlerin zwischen allen Erdteilen und Völkern der Welt sein... In diesem Geiste gibt sich die Freie und Hansestadt... durch ihre Bürgerschaft diese Verfassung"). - Präambel Verf. Berlin von 1950 ("In dem Willen..., dem Geiste des sozialen Fortschritts und des Friedens zu dienen..."). 56 Art. 33 Verf. Rheinland-Pfalz von 1947 ("... und in freier, demokratischer Gesinnung im Geiste der Völkerversöhnung zu erziehen"). - Art. 7 Abs. 2 Verf. Nordrhein- Westfalen von 1950: "Die Jugend soll erzogen werden im Geiste der Menschlichkeit, der Demokratie und der Freiheit...". Allgemein zu den Erziehungszielen meine Studie: Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1981. 57 Ζ. B. Art. 111 Verf. Hessen von 1946 ("... sowie Verfassung und Gesetze im demokratischen Geiste befolgen und verteidigen werde"). 58 Ζ. B. Art. 134 Verf. Bremen von 1947 ("Die Rechtspflege ist nach Reichs- und Landesrecht im Geiste der Menschenrechte und sozialer Gerechtigkeit auszuüben"). - Art. 110 S. 2 Verf. Saar von 1947: "In der Bindung an das Gesetz üben sie (sc. die Richter) ihr Amt im Geiste des demokratischen und sozialen Rechtsstaates aus". - Art. 62 Verf. Berlin (1950): "Die Rechtspflege ist im Geist dieser Verfassung und des sozialen Verständnisses auszuüben". 59 Das BVerfG verwandte sie im Lüth-Urteil: E 7, 198 (205): "Jede ... Vorschrift muß in seinem (sc. des Wertsystems) Geiste ausgelegt werden." - "Klassikertext" ist § 112 Abs. 1 Verf. Norwegen von 1814: "Geist dieser Verfassung". 60 S. auch Präambel Verf. Peru von 1979: "... ebenso des berühmten Erbes von Sanchez Carrion, Gründer der Republik..." (zit. nach JöR 36 [1987], S. 641 ff.). Ferner Präambel Verf. Tirol von 1980 ("geschichtliches Erbe"). 61 Z. B. Art. 46 Verf. Spanien: "Die Staatsgewalten garantieren die Erhaltung und fördern die Bereicherung des historischen, kulturellen und künstlerischen Erbes der Völker Spaniens und der darin enthaltenen Werte...". - Art. 78 Abs. 2c Verf. Portugal: "Das Kulturgut zu fördern und zu schützen, damit es zu einem erneuernden Element der gemeinschaftlichen kulturellen Identität werde". - Art. 36 Verf. Peru: "Die zum Kulturbesitz der Nation erklärten archäologischen Fundorte und Überreste, Bauten, Monumente, Kunstgegenstände und Zeugnisse von historischem Wert ste-
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II. Inhalte
Diese Klauseln stehen wohl in einer Verwandtschaft zu der berühmten Wortschöpfung des Maltesers A. Pardo (1967) vom "Gemeinsamen Erbe der Menschheit"62. Sie sind eine Bereicherung des Textbildes verfassungsstaatlicher Verfassungen. Prinzipien-Normtn bilden eine Parallelform 63. So stellt Verf. Guatemala von 1983 dem Abschnitt "Arbeit" den Satz vorweg: "Das Aibeitsleben des Landes muß in Übereinstimmung mit den Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit organisiert werden" (Art 101 S. 2)64. Im Textbild ähnlich arbeitet Verf. Peru (1979): Art. 110: "Die Wirtschaftsordnung der Republik fußt auf den Grundsätzen der sozialen Gerechtigkeit..." 65.
Und ganz im Sinne des "Schutzes" der Verfassung heißt es in Art. 277 Abs. 1 Verf. Portugal: "Verfassungswidrig sind alle Rechtsnormen, die die Bestimmungen der Verfassung oder die in ihr verankerten Grundsätze verletzen".
hen unter dem Schutz des Staates". - Art. 61 Verf. Guatemala: "Schutz des kulturellen Erbes". S. auch Art. 60 ebd. (zit. nach JöR 36 [1987], S. 555 ff.). - Vgl. Präambel Verf. Hamburg: "Als Welthafenstadt eine ihr durch Geschichte und Lage zugewiesene Aufgabe...". - Präambel Verf. Bayern: "Mehr als tausendjährige Geschichte". - Die vielleicht umfassendste, über das Juristische hinausführende Umschreibung des - kulturellen - Erbes fmdet sich in der Präambel der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) von 1950: "... entschlossen, als Regierungen europäischer Staaten, die vom gleichen Geiste beseelt sind und ein gemeinsames Erbe an geistigen Gütern, politischen Überlieferungen, Achtung der Freiheit und Vorherrschaft des Gesetzes besitzen...". Schon die vorangegangene Satzung des Europarates vom 5.5.1949 hatte in ihrer Präambel ebenfalls zwischen dem Geistigen und den Rechtsprinzipien Brücken geschlagen: "... in unerschütterlicher Verbundenheit mit den geistigen und sittlichen Werten, die das gemeinsame Erbe ihrer Völker sind und der persönlichen Freiheit, der politischen Freiheit und der Herrschaft des Rechtes zugrunde liegen, auf denen jede wahre Demokratie beruht". - Die Europäische Sozialcharta (ESC) von 1961 beschwört schon in ihrer Präambel die Ideale und Grundsätze, die der Mitglieder des Europarates "gemeinsames Erbe sind"; zugleich will sie aber auch die "Weiterentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten" (zit. nach P. C. Mayer-Tasch [Anm. 21]). 62 Dazu T. Oppermann, in: Lüneburger Symposion für H. P. Ipsen, 1988, S. 87; E. Riedel, Menschenrechte der dritten Dimension, EuGRZ 1989, S. 9 (15 f.). 63 Vgl. Art. 101 Abs. 2 Verf. Saar: "Die Änderung (sc. der Verfassung) darf den Grundsätzen des demokratischen und sozialen Rechtsstaates nicht widersprechen". - S. auch Art. 129 Abs. 2 Verf. Rheinland-Pfalz. 64 Art. 118 Abs. 1 ebd. lautet: "Die Wirtschafts- und Sozialordnung der Republik Guatemala basiert auf den Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit". 65 S. auch ebd. Art. 30 S. 3: "Jede natürliche oder juristische Person hat das Recht, ... unter Achtung der Verfassungsgrundsätze Bildungseinrichtungen zu gründen".
10. Artenreichtum von Verfassungstexten
243
Im Bereich der Erziehungsziele bedient sich Verf. Spanien von 1978 der Grundsätze-Figur66. Die allgemeinste Form schuf Art. 1 Verf. Portugal (1976 / 82)67: "Portugal ist eine souveräne Republik, die sich auf die Grundsätze der Menschenwürde und des Volkswillens gründet..." 68.
H. Hellers Theorie der "Rechtsgrundsätze"69 ist der klassische Rahmen für das Verständnis dieses Artikel-Typus. Bezugnahmen der Verfassung auf sich selbst sind eine charakteristische neue Artikel-Form. Sie findet sich ζ. B. in "Ewigkeitsklauseln"70 sowie in anderen Problemfeldern, etwa bei der Umschreibung der Treuepflicht der Lehrer 71. Sehr oft handelt es sich um Artikelgruppen zum "Verfassungsschutz" im tieferen und weiteren Sinne. Besonders klar wird dies in der Verf. Hessen von 194672. Ausländische Verfassungen wenden diese Artikel-Form auf weitere Bereiche an: etwa Art. 30 S. 3 Verf. Peru von 197973.
66 Art. 27 Abs. 2 lautet: "Ziel der Erziehung ist die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit unter Achtung der demokratischen Grundsätze des Zusammenlebens sowie der Grundrechte und Grundfreiheiten". 67
Zit. nach JöR 32 (1983), S. 446 ff.
68
S. auch ihren Prinzipienkatalog in Sachen Wirtschafts- und Sozialordnung: Art. 80: "Die Wirtschafts- und Sozialordnung beruht auf den folgenden Prinzipien: a) Unterordnung der wirtschaftlichen Macht unter die demokratische Staatsgewalt; b) Koexistenz der verschiedenen staatlichen, privaten und genossenschaftlichen Eigentumsbereiche...". - Spaniens Verf. von 1978 formuliert schon in einer Überschrift "Leitprinzipien der Sozial- und Wirtschaftspolitik" (Tit. 1, Kap. 3). 69
H. Heller, Staatslehre, 1934, S. 191 f., 222 ff., 255 ff.
70
Art. 75 Abs. 1 S. 2 Verf. Bayern von 1946: "Anträge auf Verfassungsänderungen, die den demokratischen Grundgedanken der Verfassung widersprechen, sind unzulässig". - Art. 20 Abs. 1 Verf. Bremen von 1947: "Verfassungsänderungen, die die ... Grundgedanken der allgemeinen Menschenrechte verletzen, sind unzulässig". - Ähnlich Art. 150 Abs. 1 Verf. Hessen von 1946 ("demokratischen Grundgedanken der Verfassung"). - Allgemeiner Textvergleich bei P. Häberle, Verfassungsrechtliche Ewigkeitsklauseln als verfassungsstaatliche Identitätsgarantien, in FS H. Haug, 1986, S. 81 ff.-hier Nr. 25. 71 Art. 36 Verf. Rheinland-Pfalz von 1947: "Lehrer kann nur werden, wer die Gewähr dafür bietet, sein Amt als Volkserzieher im Sinne der Grundsätze der Verfassung auszuüben". 72 73
S. Art. 146 Abs. 2 und 150 Abs. 1 im Rahmen des Abschnitts "Der Schutz der Verfassung".
Zit. nach JöR 36 (1987), S. 641 ff.: "Jede natürliche oder juristische Person hat das Recht, ohne das Ziel der Gewinnerzielung unter Achtung der Verfassungsgrundsätze Bildungseinrichtungen zu gründen". - S. auch Art. 277 Abs. 1 Verf. Portugal (1976/82): "Verfassungswidrig sind alle Rechtsnormen, die die Bestimmungen der Verfassung oder die in ihr verankerten Grundsätze verletzen". - Art. 290 ebd.: "Die Verfassungsrevisionsgesetze haben folgendes unberührt zu lassen: a) die nationale Unabhängigkeit und die Einheitlichkeit des Staates; b) die republikanische Regierungsform; c) die Trennung von Kirche und Staat; d) die Rechte, Freiheiten und Garantien der Bürger;...".
244
II. Inhalte
Häufiger werden "Vorrang-Artikel", d. h. Verfassungsnormen, die ein bestimmtes Rechtsgut besonders herausstellen und damit als hochrangig bewerten - die Verwandtschaft zu Schutzklauseln74 liegt auf der Hand. Auch die Verfassungsrechtsprechung postuliert oft einen "Vorrang" 75, eine gewiß nicht zufallige Parallelität. Ältere Beispiele sind etwa Art 125 Abs. 1 Verf. Bayern von 1946 ("Gesunde Kinder sind das köstlichste Gut eines Volkes"), auch Art 12 Abs. 1 Verf. Bremen von 1947 ("Der Mensch steht höher als Technik und Maschine") oder Art. 24 Abs. 1 S. 2 Verf. Nordrhein- Westfalen von 1950 ("Der Schutz seiner [sc. des Menschen] Arbeitskraft hat Vorrang vor dem Schutz materiellen Besitzes")76. Vor allem die neueren Umweltschutzklauseln wagen diesen Kodifikationsstil. Er ist einerseits ein Beleg für die Notwendigkeit und Unverzichtbarkeit von Abwägungsvorgängen bei der Konkretisierung von Verfassungsnormen, andererseits verrät er Unsicherheiten bzw. er führt zu solchen. Charakteristisch ist Art. 141 Verf. Bayern: "Es gehört auch zu den vorrangigen Aufgaben von Staat, Gemeinden und Körperschaften des öffentlichen Rechts, Boden, Wasser und Luft als natürliche Lebensgrundlagen zu schützen..." 77 .
Im Ausland fallt die einseitige Vorrangklausel in Art. 44 Abs. 2 Verf. Guatemala (1985) auf 78: "Sozialinteresse geht vor Individualinteresse" - freilich im Kontext eines Artikels "Naturrechte der Person". Und schon in ihrer Präambel heißt es vorweg (in gewissem Gegensatz hierzu): "Wir, die Vertreter des guatemaltekischen Volkes..., bekräftigen den Vorrang der menschlichen Person als Träger und Ziel der sozialen Ordnung"79. Die Problematik solcher Vorrangklauseln liegt auf der Hand: Sie drohen sich gegenseitig zu relativieren oder gar aufzuheben oder doch in Widerspruch mit-
74 Z. B. Art. 166 Abs. 1 Verf. Bayern von 1946: "Arbeit ist die Quelle des Volkswohlstandes und steht unter dem besonderen Schutz des Staates". 75 Ζ. B. BVerfGE 39, 1 (42): "Das menschliche Leben stellt... innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung einen Höchstwert dar". - E 33, 23 (29): Menschenwürde als "oberster Wert". 76 Art. 53 Abs. 1 Verf. Rheinland-Pfalz von 1947: "Die menschliche Arbeitskraft ist als persönliche Leistung und wertvollstes Wirtschaftsgut des Volkes gegen Ausbeutung... zu schützen." 77 Ähnlich Art. 1 la Abs. 1 S. 2 Verf. Bremen. - Art. 29a Abs. 2 Verf. Nordrhein-Westfalen hat eine Ausgleichsklausel gefunden ("Die notwendigen Bindungen und Pflichten bestimmen sich unter Ausgleich der betroffenen öffentlichen und privaten Belange"). - Art. 59a Abs. 1 S. 2 Verf. Saar: "Es gehört deshalb zu den erstrangigen Aufgaben des Staates - Boden, Wasser und Luft als natürliche Lebensgrundlagen zu schützen...". 78
Zit. nach JöR 36 (1987), S. 555 ff.
79
S. auch Art. 1 ebd.: die Verwirklichung des Gemeinwohls als "oberstes Ziel".
10. Artenreichtum von Verfassungstexten
245
einander zu treten. Besonders Guatemala ist ein Beispiel dafür 80. Die Verfassung von Peru (1979) formuliert in ihrer Präambel: "... Im Glauben an den Vorrang der menschlichen Person..." - und sie wiederholt diese Wertung in einem Grundlagenartikel (Art. 1 Satz 1) in den Worten: "Die menschliche Person ist der höchste Zweck der Gesellschaft und des Staates". Die Verf. Portugal (1976 / 82)81 bedient sich mehrfach der Vorrang-Figur: in Gestalt des Art. 68 Abs. 2 ("Die Mutterschaft und die Vaterschaft sind soziale Werte von überragendem Rang") - eine Klausel, die Unsicherheiten mit sich bringt, da sie nicht die rivalisierenden anderen Werte nennt, wohl auch nicht nennen kann; Präferenzregeln können sich nur allmählich im Prozeß der Interpretation entwickeln82. Verfassungspolitisch sollten Vorrang-Klauseln nur sehr zurückhaltend eingesetzt werden.
bb) Die Aufgaben-Normen
Die Aufgaben-Normen bilden heute das wohl reichste Feld verfassunggeberischer Innovation und Phantasie, Wortvielfalt und Differenzierungskunst, auch Ambivalenz. Sie erobern sich alle Teilbereiche und Problemfelder der Verfassung: von der Präambel über den Grundrechts- bis zum organisatorischen Teil. Sie wenden sich an die unterschiedlichsten Adressaten (Staatsfunktionen, Teilbereiche der Gesellschaft wie die Wirtschaft), und sie reichen von der bloßen "Sorge"-Klausel über "Schutz-" und "Förderungs"-Artikel bis zum erzwingbaren Verfassungsauftrag oder Gesetzgebungsbefehl. Sie sind in der Dogmatik ζ. T. als "Staatszielbestimmungen" (U. Scheuner)& oder "Staatsstrukturnormen"84 bekannt. Ihr normativer Bindungsgrad variiert. An der untersten Schwelle steht die bloß formale Kompetenz bzw. "Kann"-Ermächtigung, auch die rezipierende Status-Quo-Garantie. Ihre stärkste Form ist der "Verfassungsbefehl". Ihr häufiger Leitgrundsätze-Charakter macht sie den Identitäts- und Grundsätze-Artikeln verwandt. Inhaltlich sind sie weit gefächert: vom umfas80
«
Dazu oben bei Anm. 78 f. Zit. nach JöR 32 (1983), S. 446 ff.
82 Etwas präziser, aber ebenfalls noch allzu unbestimmt sagt Art. 64 Abs. 3 Verf. Portugal: "Zur Sicherung des Rechts auf den Schutz der Gesundheit obliegt es dem Staat vorrangig: a) Allen Bürgern unabhängig von ihrer wirtschaftlichen Lage..." - Art. 70 Abs. 2 ebd. bestimmt: "Vorrangige Ziele der Jugendpolitik müssen die Entfaltung der Persönlichkeit des Jugendlichen, die Freude an freiem Schaffen und das Gefühl für den Dienst an der Gemeinschaft sein". 83
U. Scheuner, Staatszielbestimmungen (1972), jetzt in ders., Staatstheorie (Anm. 34), S.
223 ff. 84
Dazu K. Stern (Anm. 7), S. 161, 551 ff.
246
II. Inhalte
senden Staatsziel "Gemeinwohl" bis zum speziellen Teilziel (ζ. B. der Familienförderung, dem Umweltschutz). Im einzelnen: Die zunehmende Verwendung von Aufgaben-Normen ist ein Charakteristikum der heutigen Entwicklungsstufe des Verfassungsstaates. Als Ausdruck des gewandelten Staats- bzw. Verfassungsverständnisses ("Staat und Verfassung als Aufgabe", auch als "Prozeß") geben sie diesem ihrerseits Nahrung. Die Figur des "Verfassungsauftrags" 85 ist nur eine Beispielsform, wenn auch die häufigste. Freilich begegnet sie in vielen Varianten: sie kann den Staat bzw. einzelne Funktionen und andere (etwa die "Wirtschaft" oder Einzelne) zum Adressaten haben86. Auffallig ist die wachsende Verschränkung bzw. Austauschbarkeit der Grundrechte und der Staatsaufgaben 87: Grundrechte treten als solche auf, aber auch im "Gewand" von Staatsaufgaben88. Umgekehrt erweisen sich Staatsaufgaben als objektivierte Grundrechtsgehalte89. Freilich gibt es zwischen den einzelnen Nationen in Sachen Aufgaben-Denken große Unterschiede: vgl. die eher zurückhaltenden "Sorge"-Artikel der Verf. der Niederlande (1983) einerseits90, die vielen Aufgabennormen in Por-
85
Aus der Literatur: P. Lerche, Das Bundesverfassungsgericht und die Verfassungsdirektiven, AöR 90 (1965), S. 241 ff.; E. Wienholtz, Normative Verfassung und Gesetzgebung, 1968. 86
Als "Grundpflichten" (z. B. Art. 120 Abs. 2 und 4 Verf. Griechenland von 1975).
87
Weitere Textbelege in: P. Häberle, Verfassungsstaatliche Staatsaufgabenlehre, AöR 111 (1986), S. 595 ff. - hier Nr. 23. 88 Z. B. Art. 9 Verf. Portugal: "Wesentliche Aufgaben des Staates sind: ... b) die Grundrechte und Grundfreiheiten zu gewährleisten und die Grundsätze des demokratischen Rechtsstaates zu achten...". - Eine enge Verschmelzung von Grundrechten und Staatsaufgaben findet sich in der neuen Verfassung von Vorarlberg ν on 1984: "Art. 7 Ziele und Grundsätze des staatlichen Handelns (1) Das Land hat die Aufgabe, die freie Entfaltung der Persönlichkeit des einzelnen sowie die Gestaltung des Gemeinschaftslebens nach den Grundsätzen der Subsidiarität und der Solidarität aller gesellschaftlichen Gruppen zu sichern. Selbstverwaltung und Selbsthilfe der Landesbürger sind zu fördern. (2) Jedes staatliche Handeln des Landes hat die Würde des Menschen, die Gleichheit vor dem Gesetz, die Verhältnismäßigkeit der angewandten Mittel und die Grundsätze von Treu und Glauben zu achten" (es folgen Schutzaufträge für Umwelt, Natur, Landschaft etc.) (zit. nach LGB1. 1984, S. 99 ff.). 89 Vgl. Kap. 1 § 2 Abs. 2 Verf. Schweden von 1974 (zit. nach JöR 26 [1977], S. 369 ff.): "Die persönliche, ökonomische und kulturelle Wohlfahrt des einzelnen soll grundsätzlich den Zweck der öffentlichen Wirksamkeit bestimmen. Es obliegt besonders dem Gemeinwesen, das Recht auf Arbeit, Wohnung und Ausbildung zu sichern und für soziale Fürsorge und Sicherheit und für einen guten Lebensstandard zu sorgen". 90
S. unten in Anm. 114.
10. Artenreichtum von Verfassungstexten
247
tugal und Spanien andererseits91. Die Schweiz verfolgt eine mittlere Linie, auch in ihren totalrevidierten Kantonsverfassungen 92. Vielleicht kehrt heute der Verfassunggeber zur klassischen Konzeption zurück, wonach der Staat und damit all seine Kompetenz instrumental in den Dienst der Grundrechte gestellt wird, so in Art. 2 Französische Menschenrechtserklärung von 1789: "Das Ziel jeder politischen Vereinigung ist die Erhaltung der natürlichen und unveräußerlichen Menschenrechte. Diese Rechte sind Freiheit, Eigentum, Sicherheit und Widerstand gegen Unterdrückung".
Der Staat besitzt keinerlei Eigenwert: Staatsaufgaben sind letztlich "Grundrechtsaufgaben" 93. Eine für Österreich kühne Staatszielnorm wagt Art. 4 der neuen Verfassung Niederösterreichs von 1979 (ähnl. später Art. 7 Verf. Tirol): "Lebensbedingungen: Das Land Niederösterreich hat in seinem Wirkungsbereich dafür zu sorgen, daß die Lebensbedingungen der niederösterreichischen Bevölkerung in den einzelnen Regionen des Landes unter Berücksichtigung der abschätzbaren wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse gewährleistet sind".
Staatsaufgaben finden sich in höchst konzentrierter Form schon in den Präambeln - dies selbst in traditionell organisationsrechtlich und eher formal konzipierten wie der der BismarcJc-Vtrf. von 1871 und der Schweizer Bundesverfassung von 187494, erst recht aber in neueren Verfassungen, sei es in Deutschland95, sei es im Ausland96. 91 Z. B. Art. 9 (Grundlegende Staatsziele), Art. 60 Abs. 2, 63 Abs. 2, 66 Abs. 2, 81 Verf. Portugal - Art. 9 ebd.: "Wesentliche Aufgaben des Staates sind: ...d)... die tatsächliche Gleichheit zwischen den Portugiesen und die Verwirklichung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu fördern...". - Zu Art. 9 Abs. 2 Verf. Spanien unten bei Anm. 142. 92 Ζ. B. Verf. Kanton Basel-Landschaft von 1984, (zit. nach JöR 34 [1985], S. 451 ff.) 6. Abschnitt: "Öffentliche Aufgaben", § 121 "Ziele der kantonalen Wirtschaftspolitik", aber zugleich häufige Verwendung von Formen wie "Der Kanton sorgt", "fördert" etc. (§§ 94, 102, 121); s. auch Verf. Kanton Aargau von 1980 (zit. nach JöR 34 [1985], S. 437 ff.): "§25 Staatsziele Ziff. 1 Der Staat fördert die allgemeine Wohlfahrt und die soziale Sicherheit." 93
Dazu P. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, W D S t R L 30 (1972), S. 43 (103 ff.).
94
Dazu oben nach Anm. 30.
95 Präambel Verf. Baden-Württemberg von 1953 ("von dem Willen beseelt, die Freiheit und Würde des Menschen zu sichern"). - Präambel Verf. Hamburg: "Die natürlichen Lebensgrundlagen stehen unter dem besonderen Schutz des Staates...". - Präambel Verf. Nordrhein-Westfalen von 1950: "...Freiheit, Gerechtigkeit und Wohlstand für alle zu schaffen...". - Präambel Verf. Rheinland-Pfalz von 1947: "...die Freiheit und Würde des Menschen zu sichern, das Gemeinschaftsleben nach dem Grundsatz der sozialen Gerechtigkeit zu ordnen". - Präambel GG: "...in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden". 96 Präambel-Beispiele: Verf. Irland von 1937: " . . . in dem Bestreben, ... das allgemeine Wohl zu fördern, auf daß die Würde und Freiheit des Individuums gewährleistet, eine gerechte soziale
17 Häberle
248
II. Inhalte
Manche Verfassungen wählen die Grundlagemriikti zum systematischen Ort der Staats- bzw. Grundrechtsaufgaben, so Art 1 Abs. 2 Verf. Baden-Württemberg von 1953: "Der Staat hat die Aufgabe, den Menschen hierbei (sc. bei der Freiheitsentfaltung) zu dienen. Er faßt die in seinem Gebiet lebenden Menschen zu einem geordneten Gemeinwesen zusammen, gewährt ihnen Schutz und Förderung und bewirkt durch Gesetz und Gebot einen Ausgleich der wechselseitigen Rechte und Pflichten" 97.
Ein weiteres prägnantes Beispiel liefert Art. 2 Abs. 1 Verf. Griechenland von 197598: "Grundverpflichtung des Staates ist es, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen"
- die "Patenschaft" von Art. 1 Abs. 1 GG ist unübersehbar. Das Aufgaben-Denken erobert verfassungstextlich sogar klassische Grundrechte wie die Pressefreiheit 99, auch Ehe und Familie100, den Gleichheitssatz101 oder neue kulturelle Teilhaberechte 102. Es kommt den "Grundpflichten" nahe103, und es findet sich in Erziehungszielen 104. Auf dem (Um)Weg über diese bricht Ordnung erreicht...". - Verf. Portugal von 1976 / 82: "... Entschlossenheit..., die nationale Unabhängigkeit zu verteidigen, die Grundrechte der Staatsbürger zu garantieren, den Vorrang der Rechtsstaatlichkeit zu sichern...". - Verf. Spanien von 1978: "... von dem Wunsche beseelt, Gerechtigkeit, Freiheit und Sicherheit herzustellen und das Wohl aller ihrer Bürger zu fördern...; den Fortschritt von Wirtschaft und Kultur zu fördern, um würdige Lebensverhältnisse für alle zu sichern". - Verf. Kanton Aargau: "... Freiheit und Recht im Rahmen einer demokratischen Ordnung zu schützen, die Wohlfahrt aller zu fördern, die Entfaltung des Menschen als Individuum und als Glied der Gemeinschaft zu erleichtern...". - Verf. Guatemala von 1985: "... wir erkennen den Staat als Verantwortlichen für die Förderung des Allgemeinwohls, als den Verantwortlichen für die Befestigung der Herrschaft des Rechts, der Sicherheit, der Gerechtigkeit, der Gleichheit, der Freiheit und des Friedens an;...". 97 S. auch Art. 1 Abs. 2 Verf. Rheinland-Pfalz von 1947: "Der Staat hat die Aufgabe, die persönliche Freiheit und Selbständigkeit des Menschen zu schützen sowie das Wohlergehen des einzelnen ... durch die Verwirklichung des Gemeinwohls zu fördern". 98 Zit. nach JöR 32 (1983), S. 360 ff. Vgl. meinen Athener Gastvortrag Menschenwürde und Verfassung am Beispiel von Art. 2 Abs. 1 Verf. Griechenland, in: Rechtstheorie 11 (1980), S. 389 ff. 99 Vgl. Art. 111 Verf. Bayern von 1946: "Die Presse hat die Aufgabe, im Dienst des demokratischen Gedankens über Vorgänge ... des öffentlichen Lebens wahrheitsgemäß zu berichten". 100 Art. 41 Abs. 3 Nr. 1 Verf. Irland von 1937: "Der Staat verpflichtet sich, die Institution der Ehe, auf die sich die Familie gründet, mit besonderer Sorgfalt zu bewahren und sie vor Angriffen zu schützen". - Art. 67 Abs. 1 Verf. Portugal: "Die Familie hat... ein Recht... auf die Verwirklichung aller Bedingungen für die Persönlichkeitsentfaltung aller Familienangehörigen." 101
Vgl. ζ. B. Präambel Verf. Guatemala von 1985 (Anm. 96).
102
Vgl. Art. 34 Abs. 2 S. 2 Verf. Saar: "Die Teilnahme an den Kulturgütern ist allen Schichten des Volkes zu ermöglichen". 103 Ζ. B. Art. 59a Abs. 1 S. 1 Verf. Saar: "Der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen ist der besonderen Fürsorge des Staates und jedes einzelnen anvertraut". 104 Vgl Art 26 Verf. Bremen: "Die Erziehung und Bildung der Jugend hat im wesentlichen folgende Aufgaben: 1. Die Erziehung zu einer Gemeinschaftsgesinnung... 2... zu einem Arbeitswil-
10. Artenreichtum von Verfassungstexten
249
das Aufgabendenken sogar in bezug auf den einzelnen Menschen durch 105. Adressat kann der Staat, aber auch die Wirtschaft 106 sein. Die Förderungs-Artikel sind eine Variante in der Entwicklung von der bloß formalen Kompetenz zur (Staats-)Aufgabe 107. Parallel zu diesem Terraingewinn der Verfassungsaufträge verläuft das Vordringen der (oft grundrechtsbezogenen) Schutzklauseln. Sie erobern sich immer mehr Themen und Problemfelder, vor allem im Bereich der Umwelt 108 und Kultur 109 , Arbeit 110 und Wirtschaft 111. Der Staat wird immer stärker für detaillierte Ziele in Dienst genommen. Auf die beliebte Indikativ- bzw. Gegenwartsform ("steht unter staatlichem Schutz") sei verwiesen112. len... 3. ...zum eigenen Denken... 4. ...zur Teilnahme am kulturellen Leben des eigenen Volkes und fremder Völker. 5. Die Erziehung zum Verantwortungsbewußtsein für Natur und Umwelt". 105 Vgl. Art. 26 Verf. Saar: "Unterricht und Erziehung haben das Ziel, den jungen Menschen so heranzubilden, daß er seine Aufgabe in Familie und Gemeinschaft erfüllen kann". 106 Z. B. Art. 51 Abs. 1 Verf. Rheinland-Pfalz: "Die Wirtschaft hat die Aufgabe...", Abs. 2: "Der Staat hat die Aufgabe...". - Art. 43 Abs. 1 Verf. Saar: "Die Wirtschaft hat die Aufgabe, dem Wohle des Volkes und der Befriedigung seines Bedarfes zu dienen". - Art. 41 Abs. 3 Verf. Italien: "Das Gesetz bestimmt die Programme und die zweckmäßigen Kontrollen, um die öffentliche und private Wirtschaftstätigkeit auf soziale Ziele auszurichten...". 107 Aus der Fülle der Beispiele: Art. 18 Abs. 1 Verf. Nordrhein-Westfalen von 1950: "Kultur, Kunst und Wissenschaft sind durch Land und Gemeinden zu fördern". - Art. 44 Abs. 1 Verf. Spanien: "Die Staatsgewalten fördern und schützen den Zugang zur Kultur, auf die alle Anspruch haben". - Art. 124 Abs. 1 S. 2 Verf. Peru: "Der Staat fördert den Zugang zum Eigentum in allen seinen Erscheinungsformen". - Art. 91 Verf. Guatemala: "Die Förderung der physischen Erziehung und des Sports ist Aufgabe des Staates". - § 101 Abs. 1 Verf. Kanton Basel-Landschaft: "Kanton und Gemeinden fördern das künstlerische und wissenschaftliche Schaffen sowie kulturelle Bestrebungen und Tätigkeiten". 108 Z. B. Art. 9 Abs. 2 Verf. Italien von 1947: "Sie (sc. die Republik) schützt die Landschaft und das historische und künstlerische Erbe der Nation." - Art. 86 Verf. Baden-Württemberg: "Die natürlichen Lebensgrundlagen, die Landschaft sowie die Denkmale der Kunst, der Geschichte und der Natur genießen öffentlichen Schutz und die Pflege des Staates und der Gemeinden." - Art. 3 Abs. 2 Verf. Bayern: "Der Staat schützt die natürlichen Lebensgrundlagen und die kulturelle Überlieferung". Art. 29a Verf. Nordrhein-Westfalen: "Die natürlichen Lebensgrundlagen stehen unter dem Schutz des Landes...". - Art. 22 Abs. 1 Verf. Saar von 1947: "Ehe und Familie genießen als die natürliche Grundlage des Gesellschaftslebens den besonderen Schutz und die Förderung des Staates" (zit. nach C. Pestalozza [Anm. 24]). 109 Art. 9 Verf. Vorarlberg von 1984: "Bildung und Kultur. Das Land bekennt sich zur Pflege von Wissenschaft, Bildung und Kunst sowie zur Heimatpflege. Es achtet die Freiheit, Unabhängigkeit und Vielfalt des kulturellen Lebens und das Recht eines jeden, am kulturellen Leben teilzunehmen". 110 Art. 49 Abs. 1 Verf. Bremen (1947): "Die menschliche Arbeitskraft genießt den besonderen Schutz des Staates". - Art. 40 Verf. Rheinland-Pfalz von 1947: "Schutz der geistigen Arbeit". 111 Art. 45 Abs. 4 Nr. 1 Verf. Irland: "Der Staat gelobt, die wirtschaftlichen Interessen der wirtschaftlich schwächeren Gruppen der Gemeinschaft mit besonderer Sorgfalt zu fördern...". 112
Art. 21 Abs. 1 Verf. Griechenland: "Die Familie als Grundlage der Aufrechterhaltung und Förderung der Nation sowie die Ehe, die Mutterschaft und das Kindesalter stehen unter dem Schutz des Staates". - Art. 24 Abs. 1 ebd.: "Der Schutz der natürlichen und der kulturellen Umwelt ist Pflicht des Staates". Abs. 6 ebd.: "Die Denkmäler und historischen Stätten und Gegenstände stehen
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II. Inhalte
Eine eigene (ebenfalls schwächere) Kategorie des Aufgaben-Denkens bilden die "Sorge "-Klauseln, etwa Art. 21 Abs. 3 Verf. Griechenland von 1975 ("Der Staat sorgt für die Gesundheit der Bürger"; s. auch Abs. 4 ebd: "Die Verschaffung von Wohnungen für Obdachlose... ist Gegenstand der besonderen Sorge des Staates"113). Sie sind ein wesentliches Bauelement in den Texten der Verf. der Niederlande von 1983114. Vor allem "soziale Grundrechte" (Teilhaberechte) treten in dieser Form auf - sie sind damit gegenüber der subjektiv öffentlichrechtlichen Gestalt abgeschwächt und auf das Objektive, bloß Programmatische zurückgenommen. Eine Parallelform bilden die in der Schweiz entwickelten Wendungen "Der Staat trifft Vorkehren" (ζ. B. zur Förderung der Familie115 oder sozialer Rechte). Der Wandel im Normierungsstil bzw. die Tendenz zum "Aufgaben-Denken" ist mitunter in derselben - geänderten - Verfassungsurkunde ablesbar, besonders prägnant in der Schweiz, auch wenn sich Mischformen zwischen bloßen Kompetenz- und Aufgaben-Normen (gelegentlich im gleichen Artikel [!]) feststellen lassen116. Es war ein Kennzeichen des Entwurfs einer totalrevidierten Bundesverfassung von 1977117, daß hier das Aufgabendenken (zu?) stark im Vordergrund stand118.
unter dem Schutz des Staates." - Art. 40 Abs. 3 Nr. 2 Verf. Irland (zit. nach P. C. Mayer-Tasch [Anm. 21]): "Insbesondere schützt der Staat... das Leben, die Person, den guten Namen und die Vermögensrechte eines jeden Bürgers...". 113 S. auch Verf. Luxemburg (zit. nach P. C. Mayer-Tasch [Anm. 21]): Art. 11 Abs. 5: "Das Gesetz trifft Vorsorge für die soziale Sicherheit, den Gesundheitsschutz und die Ruhe der Arbeiter und gewährleistet die gewerkschaftlichen Freiheiten". 114 Zit. nach JöR 32 (1983), S. 277 ff., Art. 19 Abs. 1: "Die Schaffung von genügend Arbeitsplätzen ist Gegenstand der Sorge des Staates...". - Art. 20 Abs. 1 ebd.: "Die Existenzsicherheit der Bevölkerung und die Verteilung des Wohlstandes..." - Art. 21: "Die Sorge des Staates... gilt der Bewohnbarkeit des Landes sowie dem Schutz und der Verbesserung der Umwelt". - Art. 22 Abs. 2: "Die Schaffung von genügend Wohnraum ist Gegenstand der Sorge des Staates...". 115
Vgl. § 38 Verf. Kanton Aargau von 1980 (zit. nach JöR 34 [1985], S. 437 ff.) bzw. § 25 Abs.
2 ebd. 116 Vgl. Art. 22 < i u a t c r Abs. 3 BV: "Er (sc. der Bund) berücksichtigt in Erfüllung seiner Aufgaben die Erfordernisse der Landes-, Regional- und Ortsplanung". In Abs. 2 ebd. heißt es: "Er fördert und koordiniert die Bestrebungen der Kantone...". - Art. 24®®"®* bestimmt in Abs. 1: "Der Natur- und Heimatschutz ist Sache der Kantone", in Abs. 2: "Der Bund hat in Erfüllung seiner Aufgaben...". Vgl. auch die Technik der Befugnis-Normen, ζ. B. in Art. 27, 27** 2 7 9 ™ ^ " , in die dann doch Förderungsaufgaben eingestreut sind: z. B. Art. 27 t e r Abs. l a ("filmkulturelle Bestrebungen zu fördern"), Art. 2 7 1 ™ ^ « Abs. 2 ("Der Bund fördert Turnen und Sport der Erwachsenen"). 117 118
Zit. nach JöR 34 (1985), S. 536 ff.
Vgl. Art. 2 ("Ziele"), Art. 3 ("Teilung der Aufgaben"), Art. 30 ("Eigentumspolitik"), Art. 36 ("Kulturpolitik") und vor allem beim Thema "Verantwortung von Bund und Kantonen" (Art. 48 ff., z. B. Art. 48 Abs. 1: "Die Staatsaufgaben stehen in der Verantwortung des Bundes oder der Kantone").
251
10. Artenreichtum von Verfassungstexten
Viele Themen, die in der älteren Entwicklungsstufe des Verfassungsstaates als bloße Kompetenz normiert sind, werden heute in die Gestalt von AufgabenKlauseln gebracht. Für die ältere Textstufe ist typisch das BV-G Österreichs von 1920119 Ein neues Terrain für Aufgabendenken erfindet Verf. Portugal bei der Umschreibung des Auftrags der Rechtsprechung 120.
cc) Mehrschichtig gewordene Grundrechtsnormen
Aus der klassischen Programmatik und (im Rückblick) "eindimensionalen" Normativität der Menschenrechtserklärung von 1789 ist die Mehr-, ja Vielschichtigkeit der Grundrechtsgehalte in neueren Verfassungen geworden. Schon textlich präsentieren sich die Grundrechte nicht nur als subjektive öffentliche Rechte i. S. des "status negativus", sondern als mehrdimensionales Ensemble mit vielerlei "Teilgehalten" (ganz abgesehen davon, daß ihre "Themen" zahlenmäßig zugenommen habeni21). Grundrechts/?c>/iiifc ist das Ziel der Verfassunggeber. In Wechselwirkung mit der gemeineuropäisch differenzierter gewordenen Grundrtchtsdogmatik sind die Verfassungstexte selbst vielgestaltig geworden. Umgekehrt regen die neueren Verfassungstexte bewußt oder unbewußt den Grundrechtsdogmatiker zu weiteren Verfeinerungen an. Die verschiedenen Schichten, Dimensionen und Funktionen (auch "Themen") der Grundrechte erscheinen im Text der Verfassungen nach wie vor oft fragmentarisch, ist die Entwicklung der Rechtsprechung, Dogmatik und Grundrechtswirklichkeit erst einmal über Jahre hin "in Gang" gekommen. Gleichwohl ist das Textbild vielfaltig genug. Die Grundrechte oder doch einzelne Momente von ihnen durchziehen alle Textteile der Verfassungsurkunde: von ihren Präambeln über den organisatorischen Teil bis zum Grundrechtsteil - wobei dieser in der Sache, ζ. T. auch textlich, den Staatsaufgaben "entgegenwächst" bzw. vice versa. Nach wie vor gibt es große Unterschiede zwischen den einzelnen Völkern, je nach ihrer nationalen Verfassungskultur. Tendenziell läßt sich indes eine starke Zunahme und Verfeinerung der Grundrechtsgehalte beobachten. 1 1 9 Zit. nach P. C. Mayer-Tasch (Anm. 21). Vgl. etwa Art. 10, 11, 12, 14: "Bundessache ist...". Auch das Staatsgrundgesetz von 1867 über die Allgemeinen Rechte der Staatsbürger ist im Geiste der klassischen Grundrechtskataloge (Grenzziehungen, Verbote, Gebote) konzipiert. 120 Art. 205 Abs. 2: "... haben die Gerichte die Wahrung der gesetzlich geschützten Rechte und Interessen der Bürger zu gewährleisten, die Verletzung der demokratischen Legalität zu ahnden und Konflikte öffentlicher und privater Interessen zu lösen". 121 Ein "neues" Grundrecht ist ζ. B. die Demonstrationsfreiheit, Jura, Art. 45 Abs. 2 Verf. Portugal, Art. 33 Verf. Guatemala.
vgl. Art. 8 lit. g. Verf. Kanton
252
II. Inhalte
Das sprachliche Gewand reicht von der eher symbolischen Verbürgung der Grundrechte in der Präambel bis zur normativ präzisen Garantie als subjektives Recht, als "Prinzip", Institution und als "Grundrechtsverwirklichung durch Organisation und Verfahren". Selten kommen alle denkbaren Schichten und Dimensionen beim einzelnen Grundrecht schon textlich zugleich zum Ausdruck. Doch sind oft interpretatorische Anleihen beim Nachbar-Grundrecht möglich. Zunächst zum systematischen Ort: Die Idee der Grundrechte hat sich in einigen neueren Verfassungen in deren "Herz" vorgeschoben, in die Präambeln, und dadurch aufgewertet Beispiele begegneten bei den "Aufgaben-Texten" 122 Oft sind die Grundrechte als Prinzipien in der Präambel vorweggenommen (sowohl im Ausland 123 als auch im deutschen Inland 124), obwohl oder gerade weil ein ausgefeilter Grundrechtskatalog folgt; oft sind sie direkt oder der Sache nach im Kompetenz- bzw. Staatsaufgabenteil formuliert. Mitunter sind die Grundrechte einzeln oder im ganzen schon in den Grundlagenteil der Verfassung vorgezogen125. Ein Wort zur wachsenden Vielfalt der Schichten, Zielrichtungen und Dimensionen: Die Form des klassischen Abwehrrechts behält ihren Platz auch in 122
Dazu sub II. 2b., bb).
123
Präambeln: Verf. Frankreich von 1958: "Das französische Volk verkündet feierlich seine Verbundenheit mit den Menschenrechten.., wie sie in der Erklärung von 1789 niedergelegt wurden...". - Verf. Portugal von 1976 / 82: "... Entschlossenheit.., die Grundrechte der Staatsbürger zu garantieren..., den Vorrang der Rechtsstaatlichkeit zu sichern...". - Verf. Spanien von 1978: "... alle Spanier und Völker Spaniens bei der Ausübung der Menschenrechte ... zu schützen; den Fortschritt von Wirtschaft und Kultur zu fördern, um würdige Lebensverhältnisse für alle zu sichern...". Verf. Kanton Jura von 1977: "Le peuple jurassien s'inspire de la Déclaration des Droits de l'homme de 1789...". - Verf. Kanton Aargau von 1980: "Freiheit und Recht im Rahmen einer demokratischen Ordnung zu schützen...". Ähnlich Präambel Verf. Kanton Basel-Landschaft von 1984 und Präambel Verf. Kanton Solothurn: von 1985. - Verf. Peru von 1979: "... einen demokratischen Staat zu begründen, ...durch stabile und legitime Institutionen die volle Geltung der Menschenrechte gewährleistet...". - Verf. Guatemala von 1985: "... wir sind entschlossen, die ganze Kraft der Menschenrechte für eine stabile institutionelle Ordnung auszuschöpfen...". 124 Präambeln: Verf. Nordrhein-Westfalen von 1950: "...Freiheit, Gerechtigkeit und Wohlstand für alle zu schaffen...". - Verf. Rheinland-Pfalz: "... die Freiheit und Würde des Menschen zu sichern". - Verf. Berlin: "In dem Willen, Freiheit und Recht jedes einzelnen zu schützen...". - Verf. Baden-Württemberg: "... feierliches Bekenntnis zu den unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten und den Grundrechten der Deutschen". 125 Z. B. Art. 2 Abs. 1 Verf. Griechenland: "Grundverpflichtung des Staates ist es, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen". - Art. 1 Verf. Portugal: "Grundsätze der Menschenwürde"; ebd. Art. 2: "Gewährleistung der Grundrechte und Grundfreiheiten, des Meinungspluralismus... ". - Art. 1 Verf. Spanien ("Vortitel"): "Bekenntnis zu Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit und politischem Pluralismus". Art. 9 Abs. 2 ebd.: "Den Staatsgewalten obliegt es, die Bedingungen dafür zu schaffen, daß Freiheit und Gleichheit des einzelnen und der Gruppen, in die er sich einfügt, real und wirksam sind...". - Verf. Kanton Uri: Art. 2 (Staatsziele): "Der Kanton und die Gemeinden streben insbesondere an... b) Rechte und Freiheiten des einzelnen und der Familie zu schützen und Grundlagen für deren Verwirklichung bereitzustellen...".
10. Artenreichtum von Verfassungstexten
253
neuen Texten126. Der objektivrechtlich-institutionelle Normierungsstil 127 begegnet ebenfalls häufig, wobei bald das individualrechtliche Element angedeutet ist, bald beide Aspekte verschränkt sind128. Die werthafte, prinzipienartige Gestalt ist dem Verfassunggeber ebenfalls geläufig 129. Die sozialstaatliche Version von Grundrechtsgehalten130 dringt sichtbar vor: in Gestalt von sozialen und kulturellen Grundrechten bzw. Teilhaberechten131. Die Garantie von Grund126 Z. B. Art. 5 Abs. 3 Verf. Griechenland: "Die Freiheit der Person ist unverletzlich". - Art. 45 Abs. 2 Verf. Portugal: "Das Recht der Demonstration ist für alle Bürger anerkannt". - Art. 38 Verf. Spanien: "Die Unternehmensfreiheit im Rahmen der Marktwirtschaft wird anerkannt". - Art. 2 Verf. Peru: "Jeder hat ein Recht 1. Auf Leben,... 9. Auf freie Wahl des Wohnorts,... 20. Auf persönliche Freiheit und Sicherheit" (Katalogform!). - Art. 4 Verf. Guatemala: "In Guatemala sind alle Menschen frei und gleich in ihrer Würde und in ihren Rechten". - § 6 Abs. 1 Verf. Kanton Basel-Landschaft: "Der Staat schützt die Freiheitsrechte". - Art. 10 Abs. 1 Verf. Niederlande: "Jeder hat ...das Recht auf Wahrung seiner Privatsphäre". 127 Zur Dogmatik: K. Hesse (Anm. 7), S. 112 ff., 118 ff.; P. Häberle, Wesensgehaltgarantie (Anm. 1), S. 70 ff., 332 ff. 128 Z. B. Art. 9 Abs. 1 S. 1 Verf. Griechenland: "Die Wohnung eines jeden ist eine Freistatt". Art. 16 Abs. 1 S. 1: "Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei; deren Entwicklung und Förderung sind Verpflichtung des Staates". - Art. 42 Abs. 1 Verf. Portugal: "Die geistige, künstlerische und wissenschaftliche Entfaltung sind frei". - Art. 43 Abs. 2 ebd.: "Der Staat darf sich nicht das Recht zusprechen, Bildung und Kultur nach den Maßstäben irgendwelcher philosophischer, ideologischer oder religiöser Richtlinien programmatisch festzulegen". - Art. 76 Abs. 2 Verf. Portugal: "Die Universitäten genießen, nach Maßgabe des Gesetzes, wissenschaftliche, pädagogische, verwaltungsmäßige und finanzielle Autonomie". - Art. 39 Abs. 1 Verf. Spanien: "Die Staatsgewalten sichern den sozialen, wirtschaftlichen und rechtlichen Schutz der Familie". - Ähnlich Art. 5 Abs. 1 Verf. Peru. - Art. 47 Verf. Guatemala: "Der Staat garantiert den sozialen, wirtschaftlichen und juristischen Schutz der Familie". Art. 39 Abs. 1 ebd.: "Privateigentum wird als ein natürliches Recht des Menschen anerkannt. Jede Person kann über ihr Eigentum in Übereinstimmung mit dem Gesetz verfügen". - § 14e), Verf. Kanton Aargau: "Die wissenschaftliche Lehre und Forschung sowie die künstlerische Betätigung sind frei". § 36 Abs. 3 ebd.: Der Kanton "unterhält Einrichtungen für die Pflege der Wissenschaften, der Künste und der Volkskunst." - § 6 Abs. 3 Verf. Kanton Basel-Landschaft: "Das Eigentum und Vermögenswerte Rechte sind geschützt. Kanton und Gemeinden fördern die Bildung von Privateigentum zur Selbstnutzung". 129 Z. B. Art. 21 Abs. 1 Verf. Griechenland: "Die Familie als Grundlage der Aufrechterhaltung und Förderung der Nation sowie die Ehe, die Mutterschaft und das Kindesalter stehen unter dem Schutz des Staates". - Art. 1 Abs. 1 Verf. Spanien: "Spanien bekennt sich zu Freiheit, Gleichheit und politischem Pluralismus als den obersten Werten seiner Rechtsordnung". Art. 10 Abs. 1 ebd.: "Die Würde des Menschen, die unverletzlichen Menschenrechte, die freie Entfaltung der Persönlichkeit... sind die Grundtagen der politischen Ordnung und des sozialen Friedens". - Art. 110 Verf. Peru: "Die Wirtschaftsordnung der Republik fußt auf den Grundsätzen der sozialen Gerechtigkeit, welche auf eine menschenwürdige Arbeit als Hauptquelle des Reichtums und als Mittel der Verwirklichung der menschlichen Person gerichtet sind." - Art. 58 Verf. Guatemala: "Der Staat erkennt das Recht der Person und der Gemeinschaft an einer Identität ihrer Kultur und an der Bewahrung ihrer Werte, ihrer Sprache und ihrer Gebräuche an." 130 Zur Dogmatik: P. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat (Anm. 93), S. 59 ff., 76 ff., 97 Anm. 232. 131 Z. B. Art. 16 Abs. 4 Verf. Griechenland: "Alle Griechen haben das Recht auf kostenlose Bildung...". Art. 22 Abs. 1 ebd.: "Die Arbeit ist ein Recht und steht unter dem Schutz des Staates, der für die Sicherung... der Vollbeschäftigung... sorgt". - Art. 65 Verf. Portugal: "Um das Recht auf Wohnung sicherzustellen, obliegt es dem Staat...". Art. 73 Abs. 1 ebd.: "Jeder hat das Recht auf
254
II. Inhalte
rechten im "Gewand", von Staatsaufgaben ist fast schon Legion132. Sogar die Dogmatik der Grundrechtsveiwirklichung "durch Organisation und Verfahren" 133 besitzt schon ihre Textspuren134. Vereinzelt greifen die Grundrechte bereits textlich in den Kanon der Bildungsziele hinüber135. Der Übergang zum Thema "Schutzpflichten™ des Staates" ist fließend 13?.
Bildung und Kultur...". - Art. 44 Verf. Spanien: "Die Staatsgewalten fördern und schützen den Zugang zur Kultur, auf die alle Anspruch haben". - Art. 12 Verf. Peru: "Der Staat garantiert das Recht aller auf soziale Sicherheit. Das Gesetz regelt die fortschreitende Teilhabe an ihr...". Art. 21 ebd.: "Das Recht auf Bildung und auf Kultur ist der menschlichen Person inhärent. Die Bildung hat die vollständige Entwicklung der Persönlichkeit zum Ziel". - Art. 57 Verf. Guatemala: "Jede Person hat das Recht, frei am kulturellen und künstlerischen Leben der Gemeinschaft teilzunehmen...". - § 16 Verf. Kanton Basel-Landschaft: "Jeder hat Anspruch auf Hilfe und Betreuung in Notlagen und auf die für ein menschenwürdiges Leben erforderlichen Mittel". - Art. 19 Abs. 1 Verf. Niederlande: "Die Schaffung von genügend Arbeitsplätzen ist Gegenstand der Sorge des Staates...". 132 S. oben bei Anm. 98 ff. sowie Art. 9 Verf. Portugal: "Wesentliche Aufgaben des Staates sind: ... b) die Grundrechte und Grundfreiheiten zu gewährleisten... d) ...die Verwirklichung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu fördern". Art. 66 ebd.: "Jeder hat das Recht auf eine menschenwürdige, gesunde und ökologisch ausgewogene Umwelt... Es ist Aufgabe des Staates...". - Art. 47 Verf. Spanien: "Alle Spanier haben das Recht auf den Genuß einer würdigen und angemessenen Wohnung. Die Staatsgewalten fördern die notwendigen Voraussetzungen und legen die entsprechenden Normen fest, um dieses Recht wirksam zu machen...". - Art. 18 Abs. 1 Verf. Peru: "Der Staat sorgt vorrangig für die Grundbedürfhisse des einzelnen und seiner Familie auf dem Gebiet der Ernährung, Wohnung und Erholung". Art. 124 Abs. 1 S. 2 ebd.: "Der Staat fördert den Zugang zum Eigentum in allen seinen Erscheinungsformen". - Art. 2 Verf. Guatemala: "Es ist die Pflicht des Staates, für seine Einwohner das Leben, die Freiheit, die Gerechtigkeit, die Sicherheit, den Frieden und die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit zu garantieren". - § 25 Verf. Kanton Aargau ("Staatsziele"), Abs. 2: Der Staat trifft "Vorkehren, damit jedermann... c. eine angemessene Wohnung... finden kann, d. die für seine Existenz unerläßlichen Mittel hat". - Verf. Kanton Uri: Art. 2 ("Staatsziele"): "Der Kanton und die Gemeinden streben insbesondere an, c) die Voraussetzungen für ein menschengerechtes Dasein herzustellen." - Art. 20 Abs. 2 Verf. Niederlande: "Vorschriften über den Anspruch auf soziale Sicherheit werden durch Gesetz erlassen". 133
Zur Dogmatik: K. Hesse, (Anm. 7), S. 144; P. Häberle (Anm. 93), S. 86 ff., 121 ff.
134
Z. B. Art. 38 Abs. 6 Verf. Portugal: "Die Pressefreiheit und die Unabhängigkeit der Informationsorgane von der staatlichen und wirtschaftlichen Macht.., wobei der Staat diese Freiheit und Unabhängigkeit zu gewährleisten, die Konzentration von Presseunternehmen... zu verhindern hat und verpflichtet ist, nicht diskriminierende Maßnahmen zur Förderung und Unterstützung der Presse zu ergreifen", zit. nach JöR 32 (1983), S. 446 ff. - Art. 20 Abs. 3 Verf. Spanien: "Das Gesetz regelt die Organisation und parlamentarische Kontrolle der vom Staat oder irgendeiner öffentlichen Einrichtung abhängigen sozialen Kommunikationsmedien und garantiert den bedeutenden sozialen und politischen Gruppen den Zugang zu genannten Medien, unter Achtung des Pluralismus der Gesellschaft". - Art. 43 Verf. Spanien: "Das Recht auf Schutz der Gesundheit wird anerkannt. Die Staatsgewalten sind zuständig für Organisation und Schutz der öffentlichen Gesundheit...". Art. 101 Verf. Guatemala: "Arbeit ist ein Individualrecht und eine soziale Verpflichtung. Das Arbeitsleben muß in Übereinstimmung mit den Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit organisiert werden". - § 14 Abs. 1 Verf. Kanton Basel-Landschaft: "Die Grundrechte müssen in der ganzen Rechtsordnung zur Geltung kommen". - Art. 24 Entwurf Bundesverfassung Schweiz (1977): "Die Grundrechte müssen in der ganzen Gesetzgebung, besonders auch in Organisations- und Verfahrensvorschriften zur Geltung kommen". 135 Z. B. Art. 22 Abs. 3 Verf. Peru: "Der Unterricht über die Verfassung und die Menschenrechte ist in den zivilen... Bildungseinrichtungen... obligatorisch". - Art. 72 Abs. 2 Verf. Gua-
10. Artenreichtum von Verfassungstexten
255
Offenkundig ist dem modernen Verfassunggeber das reiche Tableau der in Dogmatik und Rechtsprechung entwickelten Grundrechtsgehalte präsent Meist normiert er nur einzelne Dimensionen eines Grundrechts (etwa im Grundrechts· und Staatsaufgaben-Teil), oft nur eine einzige. Das schließt nicht aus, daß die weitere "Entwicklung" in der Zukunft noch andere Dimensionen entfaltet: sei es im Wege innerstaatlicher Rechtsvergleichung (Analogien zu Nachbargrundrechten), sei es im Wege der die Beispielsvielfalt anderer Verfassungsstaaten umgreifenden Rechtsvergleichung. So wie das BVerfG aus Art. 6 GG mindestens drei Dimensionen entwickelt hat (E 6,55), kann auch bei anderen textlich "nur" objektivrechtlich garantierten Grundrechten mehrdimensional und mehrfunktional gearbeitet werden. Jedenfalls ist die nur eindimensionale "punktuelle" Textgestalt einer Grundrechtsgarantie (etwa nur als Abwehrrecht oder als objektivrechtliche Garantie oder Schutzauftrag) nicht das "letzte Wort" oder gar ein Verbot, die sonst bekannten Schichten bzw. Dimensionen des Grundrechts zusätzlich zu erschließen. Es mag jeweils bestimmte nationale Traditionen geben, die den Verfassunggeber "grundrechtspolitisch" zu der einen oder anderen Textgestalt veranlaßt haben, darum ist auf der Basis dieses Textes behutsam zu arbeiten. Da aber den neueren Verfassungen alle Grundrechtsdimensionen bekannt sind, ihre textliche Kumulation die Verfassung indes überfrachtete, darf der "Entwicklung" anderer Dimensionen durch die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten das Wort geredet werden: im Dienste des jedem heutigen Verfassungstaat eigenen Prinzips der "Grundrechtseffektivierung" 138.
dd) Insbesondere: Grundrechtsverwirklichungs- und Entwicklungsklauseln
Die Wirklichkeit, genauer die Umsetzung der normativen Inhalte in entsprechende Wirklichkeit, ist ein die Verfassungen seit dem 2. Weltkrieg faszinierendes Thema. In dem Maße, wie die Staatslehre ihre eigene "wirklichkeitswis-
t emala: "Der Staat hat ein nationales Interesse an der Erziehung ... und der systematischen Einführung in die Verfassung des Staates und die Menschenrechte". 136
Zur Dogmatik: K. Hesse (Anm. 7), S. 139 f.
137
Z. B. Art. 43 Abs. 1 Verf. Spanien: "Das Recht auf Schutz der Gesundheit wird anerkannt". - Art. 49 Verf. Kanton Uri: "Der Kanton und die Gemeinden sorgen bei ihrer Tätigkeit für den Schutz des Menschen, seiner Umwelt und seines Lebensraumes". - Art. 7 Verf. Peru: "Die Mutter hat ein Recht auf Schutz durch den Staat...". - Art. 3 Verf. Guatemala: "Der Staat garantiert und schützt das Leben von der Empfängnis an und ebenso die Unantastbarkeit und Sicherheit der Person". 138 Zu diesem Ansatz: P. Häberle (Anm. 93), S. 69 ff.: "grundrechtssichernde Geltungsfortbildung"; ders., Wesensgehaltgarantie (Anm. 1), S. 280 u. ö.
256
II. Inhalte
senschaftliche" Dimension entdeckt hat, vor allem dank H. Heller 139, bringt der Verfassunggeber in seinen Texten zum Ausdruck, daß ihm deren "ideale" Normativität nicht genügt, daß er verfassungskonforme "gesellschaftliche Normalität", reale Grundrechtswirklichkeit will. Zwei Normierungstechniken kristallisieren sich in den Textbildern heute heraus: Zum einen die Grundrechtsverwirklichungsklauseln 1AOy zum anderen die Artikel, in denen der Verfassunggeber sonst seine normativen Direktiven in der Wirklichkeit "wiederfinden" will, vor allem bei den Staatsaufgaben: als Entwicklungsklauseln. Pionierhaft wirkte Art. 3 S. 2 Verf. Italien von 1947: "Es ist Aufgabe der Republik, die Hindernisse wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Art zu beseitigen, die die Freiheit und Gleichheit der Bürger tatsächlich begrenzen, und die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und die wirksame Teilnahme aller Arbeitenden an der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Gestaltung des Landes verhindern" 141 .
Art. 9 Abs. 2 Verf. Spanien" 2 (1978) normiert: "Den Staatsgewalten obliegt es, die Bedingungen dafür zu schaffen, daß Freiheit und Gleichheit des einzelnen und der Gruppen, in die er sich einfügt, real und wirksam sind, die Hindernisse zu beseitigen, die ihre volle Entfaltung unmöglich machen oder erschweren, und die Teilnahme aller Bürger am politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen" 143.
Eine frühe Vorform der Grundrechtsverwirklichungsklauseln ist Art. 42 Abs. 3 Nr. 2 Verf. Irland von 1937144. Entwicklungsklauseln finden sich in Art. 15 Abs. 2 Verf. Griechenland von 1975 ("Hörfunk und Fernsehen haben in ihren Sendungen einen ihrer sozialen Aufgabe entsprechenden Qualitätsstand zu wahren, um die kulturelle Entwicklung des Landes zu fördern") 145 und verallgemeinert in Art 25 Abs. 2 ebd. 139
H. Heller (Anm. 69), S. 37 ff.
14
Dazu C. Starck (Anm. 1), S. 481 f.
141 Zit. nach Mayer-Tasch (Anm. 21). - S. auch Art. 4 Abs. 1 ebd.: "Die Republik erkennt allen Staatsbürgern das Recht auf Arbeit zu und fördert die Voraussetzungen für die Verwirklichung dieses Rechts". 142
Zit. nach JöR 29 (1980), S. 252 ff.
143
Der Entwurf einer totalrevidierten Schweizer Bundesverfassung (1977) (zit. nach JöR 34 [1985], S. 536 ff.) läßt sich von diesem auf Verwirklichung gerichteten Denk- und Normierungsstil leiten. Art. 24: "Verwirklichung der Grundrechte. Die Grundrechte müssen in der ganzen Gesetzgebung, besonders auch in Organisations- und Verfahrensvorschriften zur Geltung kommen". Ihm folgt z. B. Art. 15 Verf. Kanton Uri (1984) (zit. nach JöR 34 [1985], S. 467 ff.): "Verwirklichung der Grundrechte". 144 Zit. nach P. C. Mayer-Tasch (Anm. 21): "Der Staat muß jedoch als Hüter des gemeinen Wohles im Hinblick auf die tatsächlichen Bedingungen fordern, daß die Kinder ein gewisses Minimum an moralischer, geistiger und sozialer Erziehung erhalten". 145 Art. 16 Abs. 2 ebd.: "Die Bildung ist eine Grundaufgabe des Staates und hat die sittliche, geistige, berufliche und physische Erziehung der Griechen sowie die Entwicklung ihres nationalen
10. Artenreichtum von Verfassungstexten
257
("Die Anerkennung und der Schutz der grundlegenden und immerwährenden Menschenrechte durch den Staat ist auf die Verwirklichung des gesellschaftlichen Fortschritts in Freiheit und Gerechtigkeit gerichtet")146. Auf weitere Beispiele sei verwiesen147.
3. Differenzierungs- und Wandlungsprozesse
Der Formenreichtum der Verfassungstexte und die ihm "entsprechende" dogmatische Vielfalt der Inhalte ist groß: wenn man wie hier vergleichend über die jeweils einzelstaatliche Verfassung eines Volkes hinausgreift und die Beispielsvielfalt aus möglichst vielen westlichen Demokratien anreichert. Beobachten läßt sich eine fortschreitende Differenzierung. Darauf deutet schon die zunehmende Quantität der Artikel einzelner Verfassungen; erst recht ergibt sie sich aus einer inhaltlichen Analyse. Die "Wachstumsprozesse" und "Entwicklungsstufen" des Typus Verfassungsstaat zeigen sich in einer Verfeinerung der textlichen Mittel und Möglichkeiten. Wo der Text ungenügend bzw. bruchstückhaft ist, tut überdies die spätere Vtriassvingsinterpretation ihr Werk, um aus anderen Textbeispielen eine Differenzierung zu "nehmen". Hier ein Beleg: Obwohl der Text von Art. 6 Abs. 1 GG objektivrechtlich gefaßt ist, werden ihm drei Schutzdimensionen entnommen (BVerfGE 6, 55) 148 : "Klassisches Grundrecht", "Institutsgarantien", "wertentscheidende Grundsatznorm". Diese sind ζ. T. bei anderen Grundrechten textlich zum Ausdruck gelangt. Insofern wirkt das textliche Differenzierungsmaterial des Verfassunggebers potentiell universal: es ist dem Interpreten selbst dort gegenwärtig, wo es der Verfassunggeber (noch) nicht eingesetzt hat. Die Idee der Effektivierung der Grundrechte hat eine solche Dynamik entfaltet, daß nahezu alle nur denkbaren Dimensionen bzw. "Schichten" entwickelt werden! und religiösen Bewußtseins und ihre Ausbildung zu freien und verantwortungsbewußten Staatsbürgern zum Ziel". 146 Ähnlich schon Art. 1 Verf. Irland von 1937: "Die irische Nation bekräftigt hiermit ihr unveräußerliches, ...Recht auf ... die Entwicklung ihres politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens...". 147 Art. 9 Abs. 1 Verf. Italien von 1947: "Die Republik fördert die kulturelle Enwicklung...". Art. 22 Abs. 3 Verf. Niederlande von 1983: "Der Staat und die anderen öffentlich-rechtlichen Körperschaften schaffen Voraussetzungen für soziale und kulturelle Entfaltung...". Ebd. Art. 90: "Die Regierung fördert die Entwicklung der internationalen Rechtsordnung". - Art. 81 Abs. 1 Verf. Spanien: "Organgesetze sind jene Gesetze, die sich auf die Entwicklung der Grundrechte und der öffentlichen Freiheiten beziehen...". - Art. 6 Abs. 1 Verf. Berlin: "Alle Männer und Frauen sind vor dem Gesetz gleich. Sie haben das Recht auf gleiche wirtschaftliche, soziale und geistige Entwicklungsmöglichkeiten". 148
Dazu P. Häberle, Verfassungsschutz der Familie, 1984, S. 28 ff.
258
II. Inhalte
Charakteristisch ist, daß sich die grundrechts- und (staats-)organisatorischen Teile in ihren "typischen" Elementen bei aller äußeren Trennung ("Zweiteilung der Verfassung") immer stärker miteinander verflechten: Formal-Organisatorisches findet sich auch im Grundrechtsteil ("Grundrechtsschutz durch Organisation und Verfahren"). Subjektive öffentliche Rechte verbergen sich auch in Staatszielnormen (Sozialansprüche aus Sozialstaatsklausel)149. Verfassungsaufträge und Programmatisches begegnen auch im Grundrechtsteil, eminent Materielles auch im scheinbar bloß formalen Organisationsrecht. Die "Einheit der Verfassung" tut auch hier ihr Werk: beide Verfassungsteile dienen letztlich der einen Res Publica. Die wachsende Verrechtlichung kommt hinzu. Die Staatsaufgaben werden (wieder) letztlich auf die Grundrechte hin gedacht. Versucht man, den wachsenden Formenreichtum der neueren Verfassungstext-Entwicklung auf Stichworte zu bringen und Tendenzen namhaft zu machen, so ergibt sich folgendes Bild: -
-
die Entwicklung von der bloß formalen Kompetenz zur inhaltlichen Aufgabe die gezielte Verwendung von Bekenntnis-Normen, Grundwerte- und Strukturnormen, insgesamt von Identitätsgarantien in vielerlei Bereichen und Varianten (ζ. B. die "Im Geiste-Klauseln") die Zunahme von Schutzklauseln in mannigfachen Varianten (einschließlich der "Kulturelles-Erbe"-Klauseln und der Verfassungsschutz-Normen) der Einbau von Abwägungs-, Rang- und Ausgleichsklauseln die Anreicherung der Verfassung in all ihren Teilen mit vielfaltigen Aufgaben-Normen (auch und schon in der Präambel) die Erweiterung vor allem der Grundrechte um Grundrechtsaufgaben-Normen.
Im Ergebnis führt dies zu einer großen, gelegentlich übergroßen Norm-, Wert- und Stoffülle der neueren Verfassungstexte (Beispiele: Portugal von 1976 / 82, auch Guatemala von 1983) - was sich schon an der Zahl der Artikel ablesen läßt (in Portugal 300). Die Verfassungen laden sich mit immer mehr Inhalten und immer differenzierter auf und drohen, sich mitunter zu überladen und programmatisch (auch politisch) zu übernehmen. ("Verfassungsrhetorik", die maßvoll eingesetzt, aber ihren guten Sinn hat.) Sie "versprechen" (zu) viel. Es kommt zu zahlreichen Zielkonflikten. Hier ist dann auf die drohenden Defizite an Normativität wegen inhaltlicher Überfrachtungen hinzuweisen: nicht i. S. eines "Zurück" zum rein instrumentalen, formalen, allein die SchrankenFunktion betonenden Verfassungs- und Staatsverständnis, sondern i. S. einer 149 Vgl. § 16 Abs. 1 Verf. Kanton Basel-Landschaft, malrechte").
Art. 102 Verf. Guatemala ("Soziale Mini-
10. Artenreichtum von Verfassungstexten
259
mittleren Linie des Sowohl-Als-auch von inhaltlichen Direktiven und eher formalen Grenzziehungen (Verfassung als "Anregung und Schranke" i. S. von R. Smend), von Status-quo bezogenen und "Entwurfs"-Normen ("kleinen Utopien"), von werthaltigen Prinzipien und "positivistischen" Eingrenzungen, von Appellen des Verfassunggebers an Vernunft und Gefühlswelt, ratio und emotio und damit an den ganzen Menschen und Bürger. Evident ist, wie die verschiedenen Funktionen der Verfassung auf ihre "äußere" Form zurückwirken und wie bereichsspezifisch zu arbeiten ist.
III. Folgerungen 1. Auf der Ebene der Verfassungs interpretation
Können die Methoden der Verfassungsinterpretation noch so "allgemein" wie bisher verstanden werden? Ist nicht weit stärker je nach Gegenstand bereichsspezifisch zu differenzieren? Präambeln sind zwar gewiß voll gültiges Verfassungsrecht (vgl. BVerfGE 36, 1 [16 f.]). Aber damit beginnen erst die Probleme. Ihre "Auslegung" muß spezifisch sein, kulturelle Tiefendimensionen erschließen; sie hat sich von anderen, stärker formalen Normenkomplexen zu unterscheiden, man denke an Kompetenznormen und das Organisationsrecht. Oder: Die "konstitutionelle Programmatik" etwa der Grundpflichten 150 oder Verfassungs auftrüge ζ. B. des Art. 6 Abs. 5 GG verlangen höchst "produktive" Auslegungsmethoden; anders als bei bloßen Rezeptionsklauseln, die Vorhandenes aufnehmen, etwa gemäß Art. 68 Verf. Bremen ("Die Freie Hansestadt Bremen führt ihre bisherigen Wappen und Flaggen") oder auch Art. 140 GG. Ihre klassische Form, die Status-Quo-Garantien151, sind zwar gewiß nicht i. S. der "Versteinerungstheorie" Österreichs auszulegen, doch dürfte der subjektiv historischen Auslegungsmethode besonderes Gewicht zukommen. M. E. ist stärker nach den "stofflichen Gegenständen" zu differenzieren, die ihrerseits meist ein unterschiedliches sprachliches Gewand haben. Die dem Interpreten abverlangte Konkretisierungsleistung ist - je nach dem Abstraktionsgrad der Normen - von großer Unterschiedlichkeit152.
150 Vgl. H. Hofmann , Grundpflichten als verfassungsrechtliche Dimension, W D S t R L 41 (1983), S. 42 (79 f.). 151
Ζ. B. Art. 150 Abs. 2 Verf. Bayern: "Die theologischen Fakultäten an den Hochschulen bleiben erhalten". Dazu schon H Huber, ZBJV 107 (1971), S. 172 (186 ff.).
260
II. Inhalte
2. Auf der Ebene der Verfassungstheorie Die Erkenntnis der Differenziertheit der Verfassungstexte in sprachlicher, inhaltlicher und funktioneller Hinsicht153 könnte manchen Streit entschärfen: etwa den zwischen einem "instrumentalen" und "materialen" Verfassungsverständnis, zwischen der Deutung der Verfassung als "formellem Grundbuch", "instrument of government" (W. Hennis) und ihrem Verständnis als "normativem Strukturplan" für die Rechtsgestalt eines Gemeinwesens (A. Hollerbach)154, zwischen ihrer Qualifizierung als bloßer "Rahmenordnung" und ihrer stärkeren Ausfüllung und Auffüllung, zwischen den Positionen des Dezisionismus und des Normativen, der "Schranke" und der "Aufgabe". Die Lösung ist in einem differenzierten Sowohl-Als-auch zu suchen. Es gibt Normen und Bereiche der Verfassung, die eher "instrumental", und solche, die eher "material" zu deuten sind, Felder, in denen die Verfassung mehr auf Organisation und Verfahren, andere, in denen sie auf inhaltliche Ziele setzt und setzen muß, Themen und Bereiche, die sie "ausgrenzt" (z. B. Art. 137 Abs. 3 WRV! 140 GG), und solche, die sie gezielt integriert. Im herkömmlichen Streit handelt es sich oft um die Verabsolutierung von Teilgesichtspunkten. Und es ist kein Zufall, daß die Schweiz, die auf kantonaler Ebene seit den 60er Jahren so viele geglückte Beispiele gut "getexteter" Verfassungen schafft 155, in ihrem oft berufenen "Pragmatismus" viele "gemischte" Text-Typen gewählt und sich darin nicht auf ein Verfassungsverständnis festgelegt hat. So ist die Schweiz wieder einmal Vorbüd in Sachen "Kompromiß".
3. Auf der Ebene der Verfassungspolitik
Die Verfassungspolitik darf sich ermutigt sehen: haben doch die vielen nationalen (bzw. gliedstaatlichen, ζ. B. kantonalen) Verfassunggeber einen großen Schatz, ja ein reiches Zeughaus unterschiedlicher Gestaltungsformen erarbeitet. Manches mag in politischen Kompromissen in dem Maße verwischt werden, wie Verfassunggebung in pluralistischen Demokratien ein kompromißhafter Vorgang ist und sein muß. Als Maxime sei aber den Verfassunggebern em-
153 154
Dazu mein Beitrag in: FS Schindler (Anm. 6) - hier Nr. 11.
A. Hollerbach, (1968), S. 37 (46).
Ideologie und Verfassung, in: Ideologie und Recht, hrsg. von W. Maihofer
155 Dazu mein Beitrag: Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, insbesondere auf kantonaler Ebene, JöR 34 (1985), S. 303 ff.
10. Artenreichtum von Verfassungstexten
261
pfohlen, die Unterscheidung, aber auch den Zusammenhang zwischen der sprachlichen Vielfalt seiner Texte, ihrer rechtstheoretisch-dogmatischen und Funktionenvielfalt bewußt einzusetzen. Das Rechtstechnisch-Formale, etwa im Parlamentsrecht, hat ganz bestimmte inhaltliche Hintergründe. Auch die irrationalen Sprachmöglichkeiten dürfen nur dosiert (aber sehr bewußt) eingesetzt werden. Schließlich muß der Verfassungspolitiker bei Verfassungsänderungen diese in ihrer Textgestalt sehr gezielt verwenden156.
IV. Ausblick So vielschichtig, gelegentlich "diffus", so formen- und inhaltsreich nicht nur jede Verfassung im ganzen, vielmehr der einzelne Verfassungssatz ist: Die Verfassung offenbart in dieser wachsenden Vielfalt ihre Vitalität, ihre Entwicklungsfähigkeit, ihre Aktualität und unverminderte Lebenskraft, d. h. auch ihre Normativität und Wirklichkeitsnähe. Georges Burdeau's Kassandra-Ruf (von 1956) "Une survivance: la Notion de constitution"157 hat sich nicht bewahrheitet. Im Gegenteil: Der Verfassungsstaat und das heißt auch die Res Publica geschriebener Verfassungstexte, nimmt an Anziehungskraft weltweit eher zu. Er hat auf neue Entwicklungen in Gestalt sensibler Fortschreibung und Differenzierung seiner Texte reagiert, und es gelingt ihm sogar zu agieren, d. h. die Wirklichkeit zu steuern. Die Staatsaufgabennormen jedweder Art zeigen das, auch die Grundrechtskataloge. Der Verfassungsstaat hat die gesellschaftliche "Wirklichkeit" (auch die Gesetzgebung) verarbeitet - in neuen oder modifizierten Texten. So sehr in jeder pluralistischen Demokratie mancher Verfassungstext ζ. T. noch "unerfüllt" ist, aufs Ganze des atlantisch / gemeineuropäischen Typus des Verfassungsstaates gesehen, spiegelt sich in den Verfassungstexten viel - gestaltende und gestaltete - Wirklichkeit. Diese "denunziert" die Texte nicht, vielmehr indizieren die Texte viel (Verfassungs-)Wirklichkeit, bei allen Defiziten im einzelnen. Die Erfindungsgabe der Verfassunggeber in Sachen Formenvielfalt und Funktionenreichtum, Sprachvariabüität und Vielschichtigkeit ihrer Texte sowie die Herausbildung vieler Mischformen kann in ihrer Bedeutung für die Legitimation des Verfassungsstaates kaum überschätzt 156 Das Thema "Umweltschutz" wurde jüngst teils in die Präambel (so Verf. Hamburg), teils in die Staatszielbesümmung (Art. 3 Abs. 2 Verf. Bayern), teils in die Erziehungsziele (Art. 131 Abs. 2 Verf. Bayern, Art. 30 Verf. Saar) aufgenommen. Dies hat noch nicht geklärte "Fernwirkungen" auf andere Teile der Verfassung, ζ. B. die Grundrechtskataloge. - Ein Beispiel für die Herabstufung eines Verfassungsen/frags zur Kompetenznorm ist die Änderung von Art. 29 Abs. 1 GG (von "Das Bundesgebiet ist... neu zu gliedern" zu "...kann neu gegliedert werden...") im Jahre 1976. 157 In: L'Evolution du Droit public, Etudes en l'honneur d'Achille Mestre, 1956, auch in: Der Staat 1 (1962), S. 389 ff.
262
II. Inhalte
werden. Von den Verfassungen wird heute eher zu viel erwartet als zu wenig, wobei es nationale Unterschiede gibt: Verfassung ist in der BR Deutschland fast "Religionsersatz", England hat andere Identifikationsmöglichkeiten, Österreich gibt der Verfassung eher weniger, die Schweiz hält die glückliche Mitte, nicht zuletzt dank ihrer Staatsrechtslehre! Aber auch die Unterschiede sind ein Beweis der Vitalität der Verfassung und ihrer Texte.
11. Die Funktionenvielfalt der Verfassungstexte im Spiegeldes "gemischten11 Verfassungsverständnisses* I . Problem
Die Funktionen der Verfassungen erschlossen zu haben, ist ein Verdienst der Schweizer Diskussion um die Totalrevision der Bundesverfassung (1977)1. Alle älteren und neueren Erörterungen über das "richtige" Verfassungs-, Staats- und Grundrecht^Verständnis treffen im Grunde Aussagen über die Funktion der Verfassungssäize, so pauschal sie oft bleiben: sei es in H. Ehmkes Verständnis der Verfassung als Beschränkung und Rationalisierung der Macht und Gewährleistung eines freien politischen Lebensprozesses2, in W. Kägis Deutung der Verfassung als rechtlicher Grundordnung des Staates3 oder in H. Hellers Betonung des Prozesses des bewußten, planmässigen, organisierten Zusammenwirkens4. So wie Κ Hesse einzelne Aspekte dieser Diskussion zu einem ausgewogenen Theorie-Ensemble zusammengefügt hat5, seien im folgenden stichwortartig die unterschiedlichen Arten bzw. Normgruppen von Verfassungstexten den verschiedenen Vtriassungsverständnissen zugeordnet. Umgekehrt sollte der Wandlungsprozeß der im Vergleich erarbeiteten Text-Typologie zu Annäherungen im Disput um das "richtige" Verfassungs Verständnis führen, et-
•
Festschrift für Dietrich Schindler, 1989, S. 701 ff.
1
Vgl. Arbeitsgruppe für die Vorbereitung einer Totalrevision der Bundesverfassung, Schlußbericht der Arbeitsgruppe, Bd. VI, 1973, S. 14 ff.; Expertenkommission für die Vorbereitung einer Totalrevision der Bundesverfassung, Bericht 1977, S. 14 ff.; Klaus Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl., München 1984, S. 82 ff., unterscheidet im Anschluß daran die Ordnungs- und Stabilisierungsfunktion der Verfassung, ihre Ausrichtung auf das Grundsätzliche, die einheitsstiftende, Macht begrenzende und kontrollierende Funktion, die Gewährleistung von Freiheit, Selbstbestimmung und Rechtsschutz des Individuums, die Festlegung der grundlegenden Organisationsstruktur des Staates sowie das Postulat, die Verfassung solle "Leitgrundsätze über die materialen Staatsziele und die Rechtstellung des Bürgers im und zum Staat enthalten". 2
Horst Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung, Berlin 1953, S. 88 ff.
3
Werner
Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, Zürich 1945,
S. 40 ff. 4
Hermann Heller, Staatslehre, Leiden 1934, S. 228 ff.
5
Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 16. Aufl., Heidelberg 1988, S. 4 ff. 18 Häberle
264
II. Inhalte
wa im Blick auf den kulturwissenschaftlichen Ansatz6. Die Vielfalt der Texte liefert m. E. genügend Beleg-Material für ein diesem entsprechendes "gemischtes" Verfassungsverständnis, das traditionelle Frontstellungen hinter sich läßt.
Π. Die einzelnen Funktionen der Texte im Rahmen eines anthropozentrischen Verfassungsverstandnisses 1. Das anthropozentrische Verfassungs Verständnis
Klassische und neuere Texte legen ein anthropozentrisches Verfassungsverständnis nahe. Es findet Ausdruck sowohl in der wichtig bleibenden Funktion der Grenzziehung, vor allem in den traditionellen Grundrechtstexten, als auch in der Fülle der dem Aufgabendenken verpflichteten neueren Verfassungstexte7. Denn diese Aufgaben stehen letztlich durchweg im Dienste des Menschen, seiner Würde und Freiheit, auch Gleichheit. Der neue Schutzauftrag in Sachen Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG, § 5 KV Basel-Landschaft) und der Klassikertext aus der Französischen Erklärung von 1789 (Art. 2: "Der Endzweck aller politischen Vereinigung ist die Erhaltung der natürlichen und unabdingbaren Menschenrechte"8) ordnen alle Verfassungstexte, alle von ihnen konstituierte und begrenzte Staatlichkeit, alle Arten von Organisation und Verfahren sowie alle Staatsaufgaben letztlich auf den Menschen hin. Die neuen 9 "Grundrechtsverwirklichungsklauseln" haben ebenso diese Intention wie die Erziehungsziele (Art. 26 Nr. 1 Verf. Bremen: "Achtung vor der Würde jedes Menschen") sowie alle neuen Dimensionen und Funktionen der Grundrechte, einschließlich ihrer sich im Gewand von (Staats-)Aufgaben entwickelnden (z. B. ihre Teilhabestrukturen).
6
Dazu Peter Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, Berlin 1982.
7
Einzelbelege in meinem Beitrag in: Festschrift für Ulrich Häfelin, Zürich 1989 - hier Nr. 10, sowie ders. in: Verfassungsstaatliche Staatsaufgabenlehre, Archiv des öffentlichen Rechts (AöR) 111 (1986), S. 595 (601 ff.) - hier Nr. 23. 8 Siehe auch Art. 1 Abs. 1 Verfassungsentwurf Herrenchiemsee (1948): "Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen", Entstehungsgeschichte der Artikel des GG, Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart (JöR) 1 (1951), S. 48. 9 Textbeispiel: Art. 3 S. 2 Verfassung Italien (1947), zit. nach Peter Cornelius Mayer-Tasch (Hrsg.), Die Verfassungen Europas, 2. Aufl., München 1975: "Es ist die Aufgabe der Republik, die Hindernisse wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Art zu beseitigen, die die Freiheit und Gleichheit der Bürger tatsächlich einschränken, und die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und die wirksame Teilnahme aller Arbeitenden an der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Gestaltung des Landes verhindern." Ähnlich Art. 9 Abs. 2 Verfassung Spanien (1978), zit. nach JöR 29 (1980), S. 252 ff. Aus der Literatur: Christian Starck, Europas Grundrechte im neuesten Gewand, in: Festschrift für Hans Huber, Bern 1981, S. 467 (481).
11. Funktionenvielfalt der Verfassungstexte
265
Das von der klassischen Grenzziehungsiuiikiion der Grundrechtstexte, ihrer neueren Aufgabenstruktur und den staatlichen Kompetenzen gebildete Ganze steht im Dienste des Menschen, auch Strukturnormen wie die "freiheitliche Demokratie" und der "soziale Rechts- und Kulturstaat". Dies gilt selbst und gerade auch für die neuen vielgestaltigen Umweltschutztexte: Sie entwickeln die Menschenwürde, die Prämisse des Verfassungsstaates, zu einem "gemäßigten Anthropozentrismus"; im Interesse einer menschenwürdigen Nachwelt wollen sie die heutige Umwelt schützen10. Die Menschenwürde wird im Blick auf spätere Generationen im Zeithorizont gesehen (vgl. Art. 141 Abs. 1 S. 1 n. F. Verf. Bayern: "auch eingedenk der Verantwortung fur die kommenden Generationen"11).
2. Ratio und Emotio
Erfüllen die Verfassungstexte je unterschiedliche Funktionen im Dienste am Menschen, so liegt es nahe, daß sie in einer Verfassung der Freiheit und des Pluralismus diesen Menschen zwar nicht "total" erfassen dürfen, indes in seinen für das politische Gemeinwesen wichtigen Aspekten "ansprechen" wollen, so kontrastreich diese sein mögen12. Dieses Eingehen auf den Menschen geschieht, verfassungstextlich nachweisbar, vor allem auf zwei Feldern: auf dem der ratio und dem der emotio. Daß der Verfassungsstaat auf den Menschen als "Vernunftswesen" setzt, ist ein Gemeinplatz und in vielen seiner älteren und neueren Texte erkennbar: im Prinzip der Gewaltenteilung13, im Verweis auf die gleichen Grundrechte anderer ("Goldene Regel" bzw. /. Kants "Kategorischer Imperativ"), schon in der "Konstruktion" von "Verfassung" überhaupt, in der Organisation ihrer Verfahren, der "Fiktion" des Gesellschaftsvertrages (von /. Kant bis J. Rawls) und in der Schaffung und Garantie von Verfassungsrec/tf sowie Rechtsstaatlichkeit
10 Vgl. Präambel K V Aargau von 1980: "Verantwortung vor Gott gegenüber Mensch, Gemeinschaft und Umwelt"; K V Basel-Landschaft von 1984 und K V Solothurn von 1985 (zit. nach JöR 34 [1985], S. 424 ff.). 11
Zit. nach Christian Pestalozza (Hrsg.), Verfassungen der deutschen Bundesländer, 3. Aufl.
1988. 12 13
Einzelheiten in meiner Studie: Das Menschenbild im Verfassungsstaat, Berlin 1988.
Vgl. Art. 16 französische Menschenrechtserklärung von 1789: "Eine jede Gesellschaft, in der weder die Gewährleistung der Rechte zugesichert noch die Trennung der Gewalten festgelegt ist, hat keine Verfassung." - Dieser Mindestgehalt des Typus "verfassungsstaatliche Verfassung" ist eine ungeschriebene "kulturelles-Erbe"-Klausel.
266
II. Inhalte
(vgl. Präambel Verf. Portugal: "Vorrang der Rechtsstaatlichkeit", Präambel Verf. Spanien: "Rechtsstaat zu festigen"). Die Seite der "emotio" ist verfassungstheoretisch bisher vernachlässigt worden, jedenfalls wurde sie nicht präzise den klassischen und neueren Verfassungstexten "entlang" vergleichend erarbeitet An der auch emotionalen Struktur des Menschen "rührt" ζ. B. die Gruppe von Verfassungsnormen, die sich als Bekenntnis-, Symbol- und Grundwerte-Klauseln klassifizieren lassen14. Ihre spezifische Funktion ist es, die "conditio humana" vom Emotionalen her zu erfassen und damit die res publica von dieser Seite aus ein Stück weit zu verfassen. Ob in Präambeln (Verf. Frankreich von 1958: "gemeinsames Ideal von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit") oder Erziehungszielen ("Aufgeschlossensein für alles Wahre, Gute und Schöne", Art. 131 Abs. 2 Verf. Bayern), ob in Feiertagsgarantien ("seelische Erhebung", Art. 139 WRV/ 140 GG) oder in Sprachen-, Flaggen- oder sonstigen Symbol-Artikeln, die Verfassunggeber gestalten ihre Texte sprachlich und inhaltlich im Blick auf diese Funktion: den Menschen auch vom Irrationalen, die Vernunft "übersteigenden" Emotionalen her für das Wichtige (der Verfassung) anzusprechen, sie "einzustimmen", ja zu "gewinnen". Selbst in den "Im-Geiste"-Artikeln 15 und "kulturelles-Erbe"-Kl Vgl. BVerfG 53, 257 (291 f.) m. w. Ν.; E 58, 81 (112 f.); für das geistige Eigentum ζ. Β. E 31,229 (243). - Umgekehrt ist das mit Hilfe abhängiger Arbeit genutzte Eigentum einer verstärkten Sozialbindung unterworfen, dazu F. Kübler / W. Schmidt / 5. Simitis, aaO (Anm. 77), S. 66. 91 Vgl. BVerfGE 31, 229 (244): Interesse der Allgemeinheit, Zugang zu den Kulturgütern zu haben, aber keine Unentgeltlichkeit; s. auch E 49, 382 (394 f.); 58,137 (148 ff.).
512 7.
II. Inhalte
Differenzierung im Laufe der Zeit: Hier ist das Problem neu entstandener Knappheiten gemeint, die das "schrankenlose" Eigentum von gestern zum beschränkten Eigentum von heute machen. Beispiele sind die Knappheit landschaftlicher Schönheit (Zugang zu Seenufern für die Allgemeinheit und auf Grundstücken Privater 92), die Knappheit an Lebensraum (Bodeneigentum, Wohnraum in Großstädten) sowie die Sonderbindung bei Knappheit in Zeiten der Krisen und Not93.
Die Reihenfolge der Differenzierungsmaximen ist nicht i. S. einer Hierarchie zu verstehen. Es handelt sich um Wertungsgesichtspunkte, die teils in gleicher Richtung laufen, teils gegenläufig sind und insgesamt in ganzheitlicher Verfassungsinterpretation den Gehalt der Eigentumsgarantie am konkreten Fall bestimmen. Die sieben Maximen stehen im Dienste des grundgesetzlichen Pluralismus der Eigentumsarten. Sie gleichen keinen Karten, die gegeneinander ausgespielt werden können, sondern sie sind Ausdruck der sinnhaften Eingebundenheit der Eigentumsarten in das soziale Ganze: Wo sie in Kollision geraten, wie etwa beim Konflikt zwischen Arbeit des Unternehmers und Arbeit der anderen beim selbst aufgebauten Unternehmen, gelten keine "Vorfahrtsregeln": beiden Maximen ist auch in ökonomisch sinnvoller Weise gerecht zu werden. So hat ζ. B. das geistige Eigentum wegen seiner kulturellen Einbindung eine zeitliche Grenze: Diese Grenze kann - und muß auch - nicht auf kulturell eingebundenes materielles Eigentum übertragen werden, da ζ. B. durch denkmalschützende Auflagen oder steuerliche Anreize das angestrebte Ziel - die "Verallgemeinerung" des Eigentums, soweit es Teil gemeinsamer Kultur ist - erreicht werden kann. Die sieben Differenzierungsmaximen reduzieren das Eigentum nicht, im Stile sozialistischer Verfassungen, auf ein persönliches Eigentum als unselbständigen Nebenzweig des umfassenden sozialistischen staatlichen Eigentums. Sie systematisieren nur in theoretischer Vereinheitlichung Gesichtspunkte, die verstreut in Gesetzgebung, Rechtsprechung und Rechtswissenschaft schon angedeutet werden; sie sind nur dann verfassungskonform, wenn jede einzelne Eigentumskategorie ihrer Eigenart gemäß interpretiert wird bzw. aus dem Gesamtzusammenhang des GG, insbesondere aus den Kompetenznormtn erschlossen wird (gerade diese - wie Art. 74 Ziff. 11, ζ. B. "Recht der Industrie" strukturieren und differenzieren das Eigentum i. S. des GG schon auf der Verfassungsebene, was Art 14 Abs. 1 S. 1 GG selbst textlich nicht wagte). Die Differenzierungsmaximen erfordern im übrigen, daß die ökonomisch kostengünstigste Lösung zumindest als Alternative erarbeitet wird: Vor ihr muß die 92
Vgl. Art. 141 Abs. 3 Verf. Bayern.
93
Vgl. BVerfGE 5 2 , 1 (30) für "Kriegs- und Notzeiten".
20. Property Rights und verfassungsrechtlicher Eigentumsbegriff
513
Rationalität der Verfassung gegebenenfalls die gefundene Entscheidung gerade in ihrer wirtschaftlichen "Fragwürdigkeit" rechtfertigen; bei der Feststellung der Kosten institutioneller Regelungen dürfte die Theorie der Verfügungsrechte mit den Möglichkeiten wirtschaftlichen Alternativendenkens eine große Hilfe sein94. Die sieben Differenzierungsmaximen mit ihrem Grundgedanken sinnhaftkontextueller Einbindung des Eigentums in gesellschaftliche Zusammenhänge sind Ausdruck eines ganzheitlichen Bezugsdenkens, in dem das Eigentumsproblem im Verfassungsstaat seinen Platz erhält: Der zunächst undifferenziert erscheinende Art. 14 GG erhält also im Wege der Interpretation eine reiche innere Architektur.
2. Die fünf Schutzrichtungen (Dimensionen) des Eigentums "i.S. des GG"
Mit den sieben Differenzierungsmaximen hängen die fünf Dimensionen des - buchstäblich "vielseitigen" - Eigentumsschutzes "i.S. des GG" eng zusammen. Die dogmatischen Figuren sind dabei nur Mittel zum Zweck der Optimierung der verfassungsrechtlichen Eigentuinsgarantie im Dienste des Menschen.
a) Eigentum Privater als subjektive Freiheit, der "status negativus", die "personale Funktion"
Die erste, klassische Seite der Eigentumsgarantie "i. S. der Verfassung" ist ihr Aspekt subjektiver Freiheit und eigener Verantwortung, ihr status negativus und Privatheitsschutz, ihre personale Funktion. Das BVerfG erarbeitet dies in immer neuen Wendungen. Die funktionale Betrachtung bildet den wohl traditionsreichsten "Einstieg" in den Schutzbereich des Art. 14 GG95. Konstituierend ist dabei der Schutz vermögenswerter, wirtschaftlicher Rechte oder Rechtspositionen. Die Verteidigung des personalen Gehalts, greifbar auch in der Formel
94 Zur verfassungstheoretischen Dimension des Alternativendenkens mein Aufsatz Verfassungstheorie ohne Naturrecht, AöR 99 (1974), S. 437 (458 ff.), wiederabgedr. in: M. Friedrich (Hrsg.), Verfassung, 1978, S. 418 (447 ff.) 95
Ζ. B. BVerfGE 51, 193 (217 f.): "Nach der Rechtsprechung des BVerfG muß bei der Beantwortung der Frage, welche Vermögenswerten Rechte als Eigentum im Sinne des Art. 14 GG anzusehen sind, auf den Zweck und die Funktion der Eigentumsgarantie unter Berücksichtigung ihrer Bedeutung im Gesamtgefüge der Verfassung abgestellt werden ... n , unter Hinweis auf E 24, 367 (389); 31, 229 (239); 36, 281 (290). Siehe auch E 42, 263 (292 f.); 53, 257 (290).
514
II. Inhalte
von der "Arbeit und persönlichen Leistung"96, ist eine der für die Verfassung wichtigsten Aufgaben jeder Eigentumsdogmatik, denn einseitige soziale Funktionalisierungen des Eigentums drohen, wie die Gegenwelt des "3. Reiches"97 und auch sozialistischer Länder zeigt, es rasch zu entleeren. Auch das hier und heute differenziert gesehene Eigentum, etwa am Großunternehmen und Großgrundbesitz, bleibt Eigentum einer bzw. mehrerer Personen (Privater). Die "personale Seite" und Funktion des Eigentums im verfassungsstaatlichen Sinne ist integrierender Bestandteil der Dogmatik des Art. 14 GG, sie geht bei keinem Eigentumsobjekt ganz verloren und bleibt korrelativ balanciert durch die "soziale Funktion". Das BVerfG spricht von der "sichernden und abwehrenden Funktion der Eigentumsgarantie"98; sie hängt mit der Formel von dem durch Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG gewährleisteten Eigentum "in seiner personenhaften Bezogenheit"99 zusammen. Dasselbe gilt für Dicta wie "Eigentum als Freiheitsraum für eigenverantwortliche Betätigung"100, als "elementares Grundrecht, das im engen inneren Zusammenhang mit der persönlichen Freiheit steht"101, die "Privatnützigkeit" und grundsätzliche Verfügungsbefugnis 102 sowie die "rechtsbewahrende Funktion" 103 . Der Begriff der personalen Funktion einerseits und der sozialen Funktion andererseits eröffnet dem BVerfG im Mitbestimmungsurteil eine zusammenfassende Differenzierung von Inhalt und Schranken des Eigentums i. S. einer Stufentheorie. Es baut hier eine Brücke zu "anderen Rechtsgenossen" als Mitbürgern, aber "Nicht-Eigentümern":
96 Vgl. E 31, 229 (239, 243); 50, 290 (340); 51, 193 (217); 53, 257 (291 f.); 58, 81 (112 f.). Zum Zusammenhang von Eigentum und Privatautonomie treffend H.-J. Papier, Unternehmen und Unternehmer in der verfassungsrechtlichen Ordnung der Wirtschaft, W D S t R L 35 (1977), S. 55 (82 f.). 97 Vgl. die Entpersonalisierung des Eigentums in der "Blut und Boden"-Ideologie der NS-Zeit, dazu G. Dürig, ZgesStW, aaO (Anm. 73 ), S. 347. 98 BVerfGE 31, 229 (239); 36; 281 (290 f.); 42, 263 (293). - E 58, 137 (146); 62, 169 (182): "elementare freiheitssichernde Bedeutung". - Zutreffende Betonung der abwehrrechtlichen Seite bei E. Schmidt-Aßmann, Die eigentumsrechtlichen Grundlagen der Umlegung (Art. 14 GG), DVB1. 1982, S. 152 (154). 99
BVerfGE 24,367 (400).
100
BVerfGE 24, 367 (400).
101
BVerfGE 24, 367 (389); 50,290 (339). Vgl. auch E 62,169 (182 f.).
102
BVerfGE 5 2 , 1 (30); 53, 257 (290); 58, 300 (345): "Privatnützigkeit und grundsätzliche Verfügungsbefugnis" . 103
BVerfGE 51,193 (218); s. auch E 53, 257 (309): "Rechtssicherheit" für den Bürger.
20. Property Rights und verfassungsrechtlicher Eigentumsbegriff
515
n
... umfaßt das grundgesetzliche Gebot einer am Gemeinwohl orientierten Nutzung das Gebot der Rücksichtnahme auf den Nicht-Eigentümer, der seinerseits der Nutzung des Eigentumsobjekts zu seiner Freiheitssicherung und verantwortlichen Lebensgestaltung bedarf." 104
Dieser Aspekt mitmenschlicher Solidarität und der Einbindung des Eigentümers in die offene Gesellschaft auch der Nicht-Eigentümer kann kaum überschätzt werden. Der Nicht-Eigentümer wird via "soziale Funktion", "Gemeinwohlorientierung" schon im verfassungsrechtlichen "status-negativus-Eigentumsverständnis" von vornherein mitgedacht. Eigentum und Arbeit rücken wieder in den manchen Klassikertexten seit 7. Locke geläufigen Zusammenhang. Dogmatisch kommt es zu einer größeren Nähe zwischen Art. 14 und Art. 12 GG (als Grundrecht der Arbeit). Theoretisch und politisch hat die sozialgerechte, sozialgebundene, gemeinwohlorientierte Eigentumsordnung eine Bewährungsprobe auch darin, wie sie mit der "Sache Arbeit" und der Menschenwürde der Person des Arbeit "Nehmenden" umgeht, also mit jenem Grundrecht des Art. 12 GG, von dem das BVerfG sagen konnte: "Die Arbeit als 'Beruf hat für alle gleichen Wert und gleiche Würde." 105
institutionelles Element b) Eigentum Privater als objektiv-rechtliches, im politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Ganzen die "soziale Funktion"
Der zweite Aspekt ist der objektiv-rechtliche, institutionelle. Früh heißt in BVerfGE 24, 367 (389): "Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleistet das Privateigentum sowohl als Rechtsinstitut wie auch in seiner konkreten Gestalt in der Hand des einzelnen Eigentümers ... Die Garantie des Eigentums als Rechtseinrichtung dient der Sicherung dieses Grundrechts. Das Grundrecht des einzelnen setzt das Rechtsinstitut Eigentum voraus."
Dabei ist bereichsspezifisch vorzugehen: Die "objektive Dimension" wirkt sich unterschiedlich aus, je nachdem, ob es um demokratisch-politische, wirtschaftliche oder kulturelle Zusammenhänge geht.
104
BVerfG 50, 290 (341); vgl. auch E 37, 132 (140); später E 52, 1 (32). I. S. von "Abstufungen innerhalb des Eigentumsschutzes" schon Rupp-von Brünneck: BVerfGE 32, 129 (143). 105 BVerfGE 7 377 (397); 50, 290 (362). - Aus der Lit.: P. Badura, Arbeit als Beruf (Art. 12 Abs. 1 GG), in: FS W. Herschel, 1982, S. 21 ff.; A. Baruzzi, Recht auf Arbeit und Beruf?, 1983; G. Hoffmann, Berufsfreiheit als Grundrecht der Arbeit, 1981; H. RyffeUJ. Schwartländer (Hrsg.), Das Recht des Menschen auf Arbeit, 1983; zuletzt mein Beitrag: Arbeit als Verfassungsproblem, JZ 1984, S. 345 ff.
516
II. Inhalte
Wir erinnern uns: "Personale Funktion" des Eigentums meint die Rückbezüglichkeit des Eigentums auf die Person, es meint das - enge - Verhältnis des Eigentums zu Freiheit und Menschenwürde. Auf der anderen Seite führt jetzt die Berufung auf die "soziale Funktion" 106 zu intensivierten inhaltlichen Bindungen des Eigentums in Konkordanz mit sozialen bzw. sozialstaatlichen Anforderungen der Verfassung ("ganzheitliches Bezugsdenken"). "Soziale Funktion" des Eigentums verweist auf die Gerechtigkeitspostulate und Gemeinwohlforderungen als Strukturprinzipien der Rechtsordnung. Da die "soziale Funktion", korrelativ mit der "personalen", gestuft verwendet wird, kommt es zu Differenzierungen nach Eigentumsarfó/ì. Grundeigentum etwa, Großeigentum an Produktionsmitteln, Presseeigentum hat eine andere soziale Funktion als persönlichkeitsbezogenes Eigentum, z. B. ein Handwerksbetrieb oder eine (private) wissenschaftliche Bibliothek. Mit anderen Worten: Die "soziale Funktion" macht aus dem verfassungsstaatlichen Eigentumsbegriff einen Plural von verschiedenen Eigentumsarten. "Soziale Funktion" erinnert auch daran, daß das Eigentum Privater einen gesamtgesellschaftlichen Nutzen hat, daß es letztlich eine Leistung für alle erbringt, daß die Garantie der "personalen Funktion" in der offenen Gesellschaft einen "Gesamterfolg" für alle bewirkt (hat) und bewirken soll. So wie selbst die Wissenschaftsfreiheit auch um der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung willen garantiert ist™, so ist das "Eigentum Privater" (BVerfGE 61, 82 [109]) auch Vehikel im größeren Zusammenhang. Dem erwähnten Zusammenhang mit der Freiheit parallel geschaltet ist die Nähe des Eigentums zur - personalen - Arbeit. Darum gehört die Eigentumsgarantie systematisch auch zu einem Abschnitt verfassungsstaatlicher Verfassungen, der sich mit Arbeit und Arbeitnehmern beschäftigt. Derselbe Personalbtzug ist es, der einerseits Eigentum und Freiheit, andererseits Eigentum und Arbeit miteinander verbindet. Er verbindet so auch Arbeit und Freiheit! In dieser Verknüpfung zwischen Arbeit und Eigentum ist ebenfalls nicht nur ein personaler Aspekt wirksam, auch hier zeigt sich ein sozialer Aspekt; ihn haben katholische Sozialenzykliken in ihrer Lehre von der "Doppelnatur der Arbeit" formuliert^.
106
Dazu BVerfGE 50, 290 (340 f.) m.w.N.; 52,1 (32 f.); 58,137 (147 f., 151).
107 BVerfGE 47, 327 (368). 108 Texte zur katholischen Soziallehre, 5. Aufl. 1982 mit einer Einführung von O. v. NellBreuning, Quadragesimo Anno, Ziff. 69: "Individual- und Sozial-Natur der Arbeit". Nell-Breuning (ebd. S. 27) hält "laborem exercens" (Joh. Paul II, 1981) für "eine Philosophie und Theologie, um nicht zu sagen ein Evangelium von der menschlichen Arbeit". A. Rauscher, Das Eigentum, Person-
20. Property Rights und verfassungsrechtlicher Eigentumsbegriff
517
c) Der "status corporativuseine Dimension der Verfassung des Eigentums i. S. des GG
Der status corporativus - je immer schon an der Wurzel grundrechtlicher Freiheit 109 - formt sich vor allem in der Eigentumsordnung aus: weil er in wachsender Effizienz wirtschaftliche Interessen mehrerer bündelt und Organisationen zu Rechtssubjekten macht (korporative Wirtschaftssubjekte). Die Eigentumsfähigkeit von Gruppen als Privaten (im Gegensatz zum Staat und zu staatsnahen öffentlich-rechtlichen Organisationen) spiegelt die Organisationsformen der Wirtschaft und ihrer Verbände; sie ist der verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie Privater, d. h. dem Art. 14 GG, ohne "Umweg" über Art. 19 Abs. 3 GG immanent.
d) Eigentumsschutz durch Verfahren, der eigentumsspezifische "status activusprocessualis"
Eine weitere wesentliche Schutzrichtung ist die prozessuale. Aus Art. 14 GG wurde eine ihm spezifische Rechtsschutzgarantie prätorisch entwickelt, beginnend mit dem Hamburger-Deich-Urteil des BVerfG, in dem es heißt: "Nach der grundgesetzlichen Konzeption ist hiernach ein effektiver - den Bestand des Eigentums sichernder - Rechtsschutz ein wesentliches Element des Grundrechts selbst." 110
Die Verallgemeinerung und Intensivierung dieses Gedankens für die Grundrechte insgesamt ist bekannt111. "Eigentumsschutz durch Verfahren" setzt ebenso wie die anderen Dimensionen vielfältige gesetzgeberische Ausgestaltung voraus. In Form der rechtsstaatlichen Garantien bei der Enteignung besitzt er eine schon klassische Ausprägung.
liches Freiheitsrecht und soziale Ordnungsinstitution, 1982, S. 21 f., wertet den "engen Zusammenhang zwischen Arbeit und Eigentum" als grundlegend. 109
Dazu P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 3. Aufl., 1983, S. 376 ff.
110
BVerfGE 24, 367 (401). Ferner E 52, 380 (389); 49, 220.
111
Ζ. Β. BVerfGE 35, 382 (401 f.); 42, 263 (310); 49, 244 (247 f.); 52, 380 (389 f.); 53, 30 sowie SV Simon / Heußner, ebd. S. 69. Vgl. ferner meinen "status activus processualis": W D S t R L 30 (1972), S. 43 (86 ff., 121 ff.).
518
II. Inhalte
e) Der leistungsstaatliche Eigentumsschutz, insbesondere: "Eigentumspolitik"
Die jüngste Dimension verfassungsrechtlichen Eigentumsschutzes ist die "leistungsstaatliche". Nach ihrer prozessualen Seite ist sie als verfahrensrechtlicher Eigentumsschutz bekannt, nach ihrer materiellen Seite ist sie, angesichts der Freiheitlichkeit des Gemeinwesens, nur in Ansätzen entwickelt. Gemeint ist Eigentum als Ergebnis von "Zugeteiltem". So wie es freies Leben aus dem "Eigenen" gibt; gibt es auch "Freiheit", "freies Leben aus dem Zugeteilten" (H. F. Zacher) 112. In Frage steht jenes Minimum, das der "soziale Rechtsstaat" seinen Bürgern als Freien und Gleichen um ihrer Menschenwürde wülen im Wege der Sozialhilfe (früher "Fürsorge") zuteilt 113 ; auch Arbeitslosenhilfe gehört hierher. Mag es dort an eigener "Arbeit und Leistung" als gängigen Anknüpfungspunkt für Eigentumsschutz fehlen: das Zugeteilte (bzw. Zuzuteilende) erwächst im Ergebnis in relatives "Eigentum", obwohl es (wie die erarbeitete Sozialrente) die Gestalt öffentlich-rechtlicher Positionen hat. Ein Moment der Teilhabe an vom Leistungsstaat mit zu verantwortenden, vom Bürger erarbeiteten Eigentumspositionen findet sich aber auch in rentenversicherungsrechtlichen Positionen, soweit sie Schutzobjekte des Art 14 GG (geworden) sind114. Dies liegt umso näher; als es hier auch um Anwartschaften geht und insgesamt der "Gedanke der Solidarität und des sozialen Ausgleichs"115 in den Vordergrund rückt, sogar der des Generationenvertrags 116: Er ist nichts anderes als ein in die Zeit projizierter Gesellschaftsvertrag! - Eine weitere Ausformung der leistungsstaatlichen Seite des Eigentums bildet die positive Eigentumspolitik i. S. aller leistungsstaatlichen Aufgaben, das Eigentum möglichst breit zu streuen: unter der Devise "Eigentum für alle", gerechte Verteilung des Eigentums für die Zukunft, Beteiligung der Arbeiter am Produktivkapital (Volkswagenprivatisierung)117. So wenig die "eigentumspolitische" Aufgabe dem einzelnen subjektive Ansprüche auf bestimmte Eigentumspositionen oder eigentumspolitische Aktivitäten des Verfassungsstaates gibt: Im Gesamtbild der Eigentumsproble112
H. F. Zacher, W D S t R L 39 (1981), S. 387 f. (Diskussion).
113
Vgl. BVerwGE 1,159 (161 f.).
114
Dazu aus dem Schrifttum zuletzt: Verfassungsrechtlicher Eigentumsschutz sozialer Rechtspositionen, Schriftenreihe des deutschen Sozialrechtsverbands Bd. X X I I I (1982), mit Beiträgen insbes. von R. Stober, M. Stolleis, E. Streissler, W. Rüfner, H.-J. Papier, F. Kubier, D. Grimm. - P. Krause, Eigentum an subjektiven öffentlichen Rechten, 1982. - Aus der Rspr.: BVerfGE 58, 81 (109 ff.); s. auch E 53, 257 (289 ff.); zuletzt BVerfG NJW 1983, S. 2433 ff. 115
BVerfGE 58, 81 (HO).
116
Vgl. BVerfGE 53, 257 (292 f., 295).
117
BVerfGE 12, 354 (369).
20. Property Rights und verfassungsrechtlicher Eigentumsbegriff
519
matik spielt sie - auch in Zukunft - eine nicht geringe Rolle. Positive Eigentumspolitik als Aufgabe der "Grundrechtspolitik" 118 ist systematisch von vornherein dem "Eigentum i. S. der Verfassung" zugeordnet - so groß die Gestaltungsfreiheit vor allem des Gesetzgebers bleiben muß. Eigentumspolitik richtet sich auf vorhandene Eigentumsarten, ζ. B. Grundund Wirtschaftseigentum, geistiges Eigentum, aber auch auf neue Eigentumsformen: eine weitere Ausdifferenzierung ζ. B. von neuen Nutzungsformen kann Effektivierung des - offenen - Eigentums i. S. des GG sein. Eigentumspolitik versucht, den "Status quo" der Habenden119/wr die Zukunft dadurch zu korrigieren, daß alle Bürger nicht nur die rechtliche, sondern auch die reale Chance der Eigentumsbildung gewinnen120; hier schließt sich der Kreis zur Einbeziehung der Arbeit
VI. Illustration an Beispielen In einem "besonderen Teil" wären jetzt die allgemeine Eigentumsdogmatik, vor allem die Differenzierungsthesen an einzelnen Eigentumsarten näher zu il- gekennzeichnet durch die lustrieren. Ergiebig ist das Wirtschaftscigcntum Sorge um das Offenhalten des wirtschaftlichen bzw. politischen Systems und
118 Zur "Grundrechtspolitik" mein Regensburger Koreferat: Grundrechte im Leistungsstaat, W D S t R L 30 (1972), S. 43 (66 f., 75,103 ff.). 119
Ausdruck bei G. Dürig, ZgesStW 109 (1953), S. 326 (346).
120 Zu diesem grundrechtstheoretischen und -praktischen Anliegen allgemein mein Regensburger Koreferat, aaO (Anm. 118), S. 43 (bes. 90, 96 ); aus der Lit. jetzt speziell für das Eigentum auch G. Müller, aaO, S. 42 ff. - Die Frage "Besteuerung und Eigentum " (dazu P. Kirchhof / H. H. von Arnim, VVDStRL 39 [1981), 213 ff.) läßt sich nur von einer ganzheitlichen, die Besteuerungskompetenz des Verfassungsstaates, seine rechts- (z. B. Übermaßverbot), sozial- und kulturstaatlichen Aufgaben und Bindungen, die Grundpflichtigkeit des Bürgers, seine Grundrechte und hier neben Art. 3 und 12 auch Art. 14 GG einbeziehenden Verfassungsinterpretation her behandeln. In diesem Rahmen sind auch aus Art. 14 GG unterschiedlich intensive Grenzen der Besteuerung zu entfalten, sofern aus dessen differenzierter Struktur funktionell gearbeitet wird. An dieser Stelle kann freilich nur auf die Entwicklungsetappen verwiesen werden, die in der Judikatur des BVerfG sichtbar werden: von E 4, 7 (17): "Einmütigkeit, daß Art. 14 GG nicht das Vermögen gegen Eingriffe durch Auferlegung von Geldleistungspflichten schützt", über die st. Rspr. nach E 30, 250 (272): "Ausnahme gilt nur dann, wenn die Geldleistungspflichten den Betroffenen übermäßig belasten und seine Vermögensverhältnisse grundlegend beeinträchtigen" (s. auch E 38, 61 [102]), zuvor E 27, 326 (343): Art. 14 GG "schützt nicht das Vermögen als solches") bis zur genauen Darstellung des Streitstandes in E 50, 57 (104 ff.). Das BVerfG dürfte auch hier auf dem Weg zu einem spezifisch verfassungsrechtlichen Eigentumsverständnis sein, auf dem von Art. 14 GG her "behutsam eine neue Front" gegen den Steuergesetzgeber aufgebaut wird (P. Häberle, VVDStRL 30 [1972], S. 43 [124]), wobei über Differenzierungen in der Schutzintensität schon nach den verschiedenen Eigentumsarten, -schutzdimensionen und -/Miktionen gearbeitet wird (teils über Art. 14 Abs. 1 S. 1, teils über Abs. 1 S. 2 und Art. 14 Abs. 2 GG). 34 Häberle
520
II. Inhalte
den Schutz der menschlichen Arbeitskraft (Badura spricht von "erheblicher Plastizität"121); das Eigentum an Grund und Boden - charakterisiert durch einen gemeindeutschen Bestand an Bodenreformartikeln, differenziert in land- und forstwirtschaftlichen bzw. urbanisierten Grund (Erwin Stein: Aufgabe der Gleichbehandlung von Grundstücken und beweglichen Sachen durch das soziale Boden-, Siedlungs- und Wohnrecht122); das geistige Eigentum - Stichwort: Einbettung in den Kulturzusammenhang der Generationen, Teilhabe der kulturellen Allgemeinheit123, Verzicht auf "Schrankendenken". Sie alle erweisen sich als spezielle Eigentumskategorien schon auf Verfassungshöhe. Reizvoll wäre auch eine Erarbeitung der Gemeinsamkeiten bei allen Unterschieden etwa für den Sonderfall des geistigen Eigentums (Stichwort: wirtschaftlicher Ansatz, "grundsätzliche Zuordnung des Vermögenswerten Ergebnisses der geistig-schöpferischen Leistung an den Urheber", funktionale, ganzheitliche Verfassungsinterpretation 124. Dabei erwiese sich die Richtigkeit des Satzes, im Verfassungsstaat gebe es in der Eigentumsgarantie so viel Differenzierung und Vielfalt wie möglich und so viel Einheit wie nötig.
VII. Exkurs: Das "optimale Modell" verfassungsrechtlicher Eigentumsgarantien, ihre dreifache Verankerung "Optimale" Eigentumspolitik auf Verfassungst bene - schließlich ist die Formulierung "guter" Normtexte vorrangige Juristenpflicht - sollte m. E. in dreifach differenzierter Gestalt geschehen: 1. Das Eigentum Privater hat seinen ersten Platz im klassischen Grundrech tsteil fast klassizistisch125 zu behaupten. Darin kommt sein personaler 121 P. Badura, 49. DJT (Anm. 75), Τ 18, für den auch das Wirtschaftseigentum "erhebliche Plastizität" hat. 122 Erwin Stein, Zur Wandlung des Eigentumsbegriffs, in: FS Gebh. Müller, 1970, S. 503 (504 f.). 123
Vgl. BVerfGE 31, 229 (242 ff.); 49, 382 (390 f.); 58,137 (149).
124
Vgl. BVerfGE 36, 281 (290): "Gesamtgefige der Verfassung", unter Hinweis auf E 31, 229 (238). - Zum wirtschaftlichen Ansatz bei der Konturierung des "geistigen Eigentums": BVerfGE 31, 229 (239): "wirtschaftliche Auswertbarkeit", E 49, 382 (394): "Zuordnung des Vermögenswerten Ergebnisses ..." - Das Urheberrecht ist eine Art Arbeitsrecht des Kulturschaffenden! - Als Autor hat sich jüngst H. Boll zur wirtschaftlichen Lage der Schriftsteller und ihrem "Eigentumsrecht" geäußert: "Was uns Autoren fehlt, ist Stolz", Die Zeit Nr. 51 vom 16.12.1983, S. 41 f. 125 "Klassizistisch" ist die Eigentumsplazierung im herkömmlichen Grundrechts- und neuen Wirtschafts-, Arbeits- und Kulturteil der Verfassungen (wie in Bayern, 1946, und im Saarland, 1947).
20. Property Rights und verfassungsrechtlicher Eigentumsbegriff
521
Aspekt in der Dimension von Menschenwürde und Freiheit zum Ausdruck ("Eigentum als Freiheit"), aber auch ein Verständnis von Verfassung als Normierung des politisch Wichtigen. Für eine Normierung des Eigentums "erst" am Schluß der anderen speziellen Freiheitsrechte (wie im GG) spricht die These vom Eigentum als (Auffang-)Garantie des wirtschaftlichen Erfolges (Ertrages) menschlichen Verhaltens. Rechtstechnisch gebührt dem Eigentum primär die Gestalt eines subjektiven Abwehrrechts bzw. einer objektiv-rechtlichen Garantieform, während die Gestalt des Eigentums als Verfassungsauftrag (i. S. von "breiter Eigentumsstreuung") eher in spätere Abschnitte (wie "Wirtschaft und Arbeit") gehört. 2. Ein zweiter Platz gebührt dem Eigentum seiner differenzierten Struktur und Funktion gemäß im Abschnitt "Wirtschaft und Arbeit". Vorbild ist hier die Bayerische Verfassung (1946: elementare Eigentumsregelung im Grundrechtsteil / spezielle Fragen im 4. Hauptteil "Wirtschaft und Arbeit"). Inhaltlich ist diese zweite Eigentumsplazierung aus doppeltem Grund geboten: zum einen, weil die Eigentumsgarantie auch Strukturnorm der Wirtschaft ist (i. S. G. 12< Müllers "Ansporn- und Dezentralisierungsfunktion" ^). Der andere Grund ist der Zusammenhang von Eigentum und Arbeit (Regelungen wie die Künstlersozialversicherung werden so verständlich)127. 3. Der dritte und (vorläufig) letzte Ort ist der Abschnitt "Kultur". Zwei Problemfelder sind zu unterscheiden: Zum einen der sinnvolle Schutz der "Kreativität", das geistige Eigentum (s. Art 40 Abs. 2 Verf. RhPf, Kap. "Kulturpflege"). Schon der zur Schutzfristengrenze des geistigen Eigentums verdichtete "Kulturvorbehalt" lenkt den Blick auf den anderen, nicht minder intensiven Zusammenhang von Eigentum Privater und Kultur. Das kulturell spezifisch geschützte bzw. eingebundene Eigentum als spezielle Eigentumsart verlangt einen "besonderen" Platz. Gemeint ist das Eigentum Privater an besonders exponierten Kulturgütern (ζ. B. Denkmalschutz, Schutz nationalen Kulturgutes gegen Abwanderung)128. Die Natur - heute selbst zum Kulturgut geworden -gehört in Gestalt von Natur- und Landschaftsschutz ebenfalls hierher. Nur diese dreifach differenzierte Verankerung des Eigentums wird seiner historischen Entwicklung, seinen mannigfachen Funktionen und heutigen Herausforderungen (etwa im Arbeits- und Kulturbereich) gerecht. Das hier entworfene "optimale" Modell sucht den Grundsatz der Differenzierung des Eigen126
G. Müller, Privateigentum heute, aaO (Anm. 89), S. 76 f.
127
Sie gehört in das Kraftfeld (geistiger) Arbeit, d. h. des Art. 12 und 5 Abs. 3 GG sowie der Kulturstaatsklausel einerseits, in ihrem wirtschaftlichen Substrat in das des Art. 14 GG i. V. m. Art. 20,28 GG (Sozialstaat) andererseits. 128
Vgl. Art. 141 Verf. Bayern, Art. 75 Ziff. 3 GG bzw. Art. 74 Ziff. 5 GG.
522
II. Inhalte
turns Privater, seine historisch beschreibbaren und wirtschaftswissenschaftlich erklärbaren Entwicklungen vom Eigentum im Singular zum Eigentum im Plural zu verbinden mit dem notwendigen Mindestmaß an Einheitlichkeit des Eigentums "i. S. der Verfassung". (Eine beispielhafte, nicht erschöpfende Aufzählung verschiedener Eigentumsarten empfiehlt sich.) Insgesamt im Rückgriff auf J. Locke weitergedacht: Property als Leben, Freiheit, Eigentum und Arbeit sowie als Teühabe an Natur und Kultur.
VIII. Schlußthesen und Schlußfragen: Ausblick Eigentum ist ein Ordnungsprinzip gesellschaftlichen Zusammenlebens von Menschen: Stellt man sich die Gesellschaft als tabula rasa vor und denkt man dementsprechend über Äquivalente des Ordnungsprinzips "Eigentum" nach, so wird offensichtlich, daß (ein) Kern des Problems die Zuordnung von Handlungsmöglichkeiten ist. Die Alltagsassoziation des Eigentums mit dem "Haben" erinnert, so gesehen, ein wenig an das Höhlengleichnis von Plato: Die soziale Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit läßt uns die Gestalt Eigentum / Handlungsmöglichkeiten auf dem Kopf stehend sehen. Es ist ein Verdienst der Theorie der Verfügungsrechte, ganz "unkompliziert" sich um das ökonomische Substrat des Eigentums zu bemühen und auch beiläufig einen Teil seines sozialen Substrats zu benennen. Als kostenlose und daher umso erfreulichere (!) Beigabe liefert sie uns die Möglichkeit, die gesamtgesellschaftlichen Kosten dieser Zuordnung von Handlungsmöglichkeiten zu bestimmen und, sofern keine anderen Gesichtspunkte dagegen streiten, entsprechend zu verteilen. Es scheint eine Eigenart der Juristen zu sein, oft das Richtige zu tun, ohne eigentlich zu wissen, warum: Die anwesenden (und abwesenden) Juristen mögen mir das Wort verzeihen. Für den verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriff gilt dies in mehrfacher Weise: Zum einen segelt unter der scheinbar falschen Flagge eines einheitlichen Eigentumsbegriffs ein Bündel je funktional sinnvoll eingebundener Handlungsmöglichkeiten; die Theorie der Verfügungsrechte liefert simultan eine rechtfertigende Genealogie der Flaggenbenutzung und eine ökonomisch rationale Konstruktion des schwimmfähigen Schiffskörpers. Zum anderen gilt das aber auch für die im weiten Sinne sozialen Unter-, Ober- und Nebentöne des verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriffs: Das Eigentumselement "Haben" ist, sicherlich geleitet vom für das Ungleichgewicht der sozialen Wirklichkeit sensiblen "Gerechtigkeitsjudiz", durch die Untertöne der Arbeit, die Obertöne der Kultur und die Zwischentöne von Umwelt und Natur sozial eingebunden und harmonisiert worden. Das so erreichte Gleichgewicht ist gewiß letztlich nicht völlig ausgewogen und durch die sozialen Probleme der Ge-
20. Property Rights und verfassungsrechtlicher Eigentumsbegriff
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genwart - vordergründig vor allem Arbeit und Umwelt, hintergründig die in der Moderne kaum noch zu lösende Sinn-Frage - immer neu bedroht Versteht man Verfassung als die Grundordnung von Staat und Gesellschaft, so ist der verfassungsrechtliche Eigentumsbegriff eine soziale Kategorie, die letztlich nur analytisch, nicht aber in der sozialen Wirklichkeit aus dem Gesamthandlungszusammenhang des Menschen herausdifferenziert werden kann. Als analytische Kategorie - und d. h.: als Grundrecht des homo oeconomicus und als Strukturnorm des Wirtschaftssystems - ist er das Feld, auf dem (auch) die Theorie der Verfügungsrechte der Rechtswissenschaft Fragen stellt und Antworten liefert; in seiner sozialen Eingebundenheit ist der verfassungsrechtliche Eigentumsbegriff allerdings jene Größe, die den homo oeconomicus wieder zum "homo socialis" macht und die Nationalökonomie als Gesellschaftswissenschaft durch den Mund des Verfassungsjurisitn neu fordert.
21. Aspekte einer Verfassungslehre der Arbeit*/·· I. Die Aktualität des Themas Arbeit " Das Thema "Arbeit" ist ebenso klassisch wie aktuell. Die große Politik und viele Einzelwissenschaften nehmen sich seiner heute immer intensiver an, und vielleicht wird seine politische, sozial- und individualethische Behandlung zu einer der Bewährungsproben für den Verfassungsstaat. Impulse zum Thema "Arbeit" kommen immer wieder aus der katholischen Soziallehre: Die Enzyklika "Laborem Exercens" Johannes Pauls II. (1981) entfaltet hier große Ausstrahlung, und der Nestor der katholischen Sozialwissenschaft in Deutschland, O. von Nell-Breuning, hat den arbeitenden Menschen nicht nur theoretisch zu seinem Lebens-Thema gemacht1, sondern jüngst sogar in die politische Auseinandersetzung um die 35-Stunden-Woche konkret handfest eingegriffen: mit der These vom "Klassenkampf der Arbeitsplatzbesitzer gegen die von Arbeitsplatz entblößten Nur-Arbeitslosen" 2; "Solidarität" wäre es, wenn Arbeitnehmer mit 40 Wochenstunden fünf davon nebst Lohn an arbeitslose Kollegen abtreten würden! In den Diskussionen im Vorfeld der Neufassung eines Grundsatzprogramms einer politischen Partei wie der FDP fallen Forderungen zur "Liberalisierung des Arbeitslebens" (gleitende Arbeitszeit, variable Regelungen bei der Jahres- und Wochenarbeitszeit, flexible Altersgrenzen mitfließenden Übergängen vom Erwerbsleben in den Ruhestand, die verschiedenen Formen der Teilarbeitszeit, aber auch eine Rückverlagerung von Arbeiten aus dem Betrieb in die Wohnung3), und ebenfalls in dieses politische Gesamtbild der Sache Arbeit in unserer Republik gehört ζ. B. eine Meldung, wonach in Berlin zwischen Juli 1983 und März 1984 9000 Sozialhilfeempfänger tatsächlich gemeinnützige Ar•
AöR 109 (1984), S. 630 ff.
M
Zugleich Besprechung von Ryffel, Menschen auf Arbeit, Straßburg 1983. 1
Hans / Schwartländer,
Johannes (Hrsg.), Das Recht des
S. jetzt O. von Nell-Breuning, Worauf es mir ankommt. Zur sozialen Verantwortung, 1983.
2
SZ vom 29. 3. 1984, S. 8. S. auch die Verlautbarung des Münchner Erzbischofs F. Wetter, das Doppelverdienen von Eheleuten sei angesichts der gegenwärtigen Arbeitsplatzsituation "nicht verantwortbar" (zit. nach Nordbayer. Kurier vom 4. 4. 1984). Ein Parallelproblem zur Doppelverdiener-Ehe ist die Frage, inwieweit Beamten in Zukunft Nebentätigkeit noch erlaubt sein soll. In der Republik Österreich wird ein Gesetzentwurf diskutiert, der den Nebenverdienst pensionierter Beamter einschränken will (FAZ vom 30. 3.1984, S. 4). 3
Zit. nach FAZ vom 28. 3.1984, S. 5.
21. Verfassungslehre der Arbeit
525
beiten geleistet haben4. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht das Thema "Arbeit" Schlagzeilen macht5, und der 9. Kongreß der deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (1984) in Kiel (Motto: "Arbeit - Bildung - Arbeitslosigkeit") hielt in seiner Mehrheit am Konzept der Arbeit als Voraussetzung und Medium für die Vergesellschaftung von Menschen fest 6. Ein Grundsatz-Thema wie die Sache Arbeit, das in vorletzte Fragen des Selbstverständnisses sowohl des einzelnen Bürgers als auch des politischen Gemeinwesens im ganzen führt, wird damit zu einer Verfassungsùage. Als solche ist es interdisziplinär anzugehen, zugleich "spezifisch verfassungsrechtlich", d.h. im Kontext einer ganzheitlich betrachteten Verfassung, die vom GG als Beispiel für den Typus "Verfassungsstaat" ausgeht. Während "Arbeit" als Thema der Verfassungslehre noch nicht behandelt ist, bereichern interdisziplinäre Bemühungen zunehmend das Bild: So kam es im Frühjahr 1983 an der Hochschule St. Gallen zu einem von Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlern gestalteten Seminar, dessen Ergebnisse unter dem Titel "Krise des Arbeitsmarkts Arbeitslosigkeit" von R. Zäch publiziert worden sind7, und in Deutschland ist jetzt dem hier anzuzeigenden Band ein interdisziplinärer Zugriff auf das Thema Arbeit geglückt Auch die speziell "nur" rechtswissenschaftliche Literatur zu Teilbereichen verdichtet sich immer stärker8.
II. Inhalte des Tübinger Bandes Der Band ist eine Etappe im Rahinen des langfristig angelegten Tübinger Forschungsprojekts "Menschenrechte", das bisher die Bände "Menschenrechte und Demokratie" (1981) sowie "Das Recht des Menschen auf Eigentum" (1983) hervorgebracht hat. In 13 Beiträgen und gegliedert in die Teile "Sozialund ideengeschichtliche Hintergründe", "Aspekte der rechtlichen Sicherung" sowie "Arbeit und Freiheit als Problem der modernen Gesellschaft" gehen die
4
Zit. nach FAZ vom 19.4.1984, S. 4.
5
Nachweise in meinem Besprechungsaufsatz "Arbeit als Verfassungsproblem", JZ 1984, S. 345 ff.; interdisziplinär jetzt W. Kärber (Hrsg.), Arbeitswelt im Umbruch, 1984. 6
Tagungsberichte in: Die Zeit vom 13. 4.1984, S. 34; FAZ vom 31.3.1984, S. 25.
7
Sonderheft der Zeitschrift "Wirtschaft und Recht", Heft 4, 1983.
8
Z. B. R. Pitschas, Mittelbare Wehrdienstverweigerung und Arbeitsförderungsrecht, NJW 1984, S. 889 ff.; H.-J. Friebe, Gemeinnützige und zusätzliche Arbeit in der Sozialhilfe (Bericht), D Ö V 1984, S. 243 ff.; aus der Rspr.: BVerwG, DÖV 1984, S. 249 ff. - Charakteristisch ist auch die J. Stingi gewidmete Festschrift, "Mensch und Arbeitswelt", 1984 (darin der Beitrag von E. Benda , Zur Berufsfreiheit der Arbeitnehmer, S. 35 ff.); zuletzt W. Däubler (Hrsg.), Arbeitskampfrecht 1984; R. Richardis Arbeitsrecht in der Kirche, 1984; H.-J. Papier, DÖV 1984, S. 536 ff.
526
II. Inhalte
mitwirkenden Philosophen, Soziologen und Juristen dem Thema "Das Recht des Menschen auf Arbeit" von ihren Einzeldisziplinen aus nach. Die Einleitung von J. Schwartländer und Schlußbetrachtungen von H. Ryffel, "Zur möglichen Einheit der Menschenrechte auf Eigentum und Arbeit", "umgeben" den Band, dem ein Personen- und Sachregister angefügt ist. Der Soziologe H. Klages beginnt mit einem Beitrag über die "Entwicklung der Industriegesellschaft und die Menschenrechte auf Eigentum und Arbeit" (S. 13-30). Während - nach Klages - das 19. Jahrhundert ein hartes "EntwederOder" im Verhältnis zwischen dem akkumulierten Eigentum und dem Zugang zur Arbeit überlieferte, zeigt sich heute eine andere Tendenz: Sie führt in Verbindung mit vielfältigen Veränderungen innerhalb der modernen Arbeitswelt zu einer "zunehmenden Verschränkung von Arbeit und Eigentum" auf der Grundlage der Arbeitstätigkeit (S. 18). Klages beobachtet ein "fortwährendes Zurücktreten der Sozialkategorie des Eigentümers aus der Steuerung und Leitung von Arbeitsprozessen" als Trend, und er fragt kritisch, ob die fortschreitende Humanisierung des Arbeitslebens durch ständige Reduktion wie Zurückschraubung der Arbeitszeit, durch eine "Minimierung der Bindung des einzelnen an die Arbeit" ein Fortschritt sei (S. 25). - H. Henning geht den sozio-ökonomischen Hintergründen der Realisierungsversuche des Rechts auf Arbeit nach (S. 31-52). Er beobachtet eine Steigerung der Diskussion um das Recht auf Arbeit in Deutschland und Frankreich immer dann, wenn Ansätze zu politischer Neuordnung mit wirtschaftlichen Krisenzeiten zusammenfielen, die eine große Arbeitslosigkeit befürchten ließen. Die neuere Einsicht, daß die formale Gleichheit der Individuen auch mit materiellem Inhalt zu erfüllen sei und die hinzukommende wirtschaftspolitische Globalsteuerung hätten heute dazu geführt, daß zwar kein justitiables Recht auf Arbeit bestehe, aber die "Existenz durch Arbeit" sozialstaatlich gesichert sei (S. 51 f.). - "Normative Aspekte moderner Berufswirklichkeit" untersucht der Soziologe i 7 . Fürstenberg. Seine Stichworte sind "Die funktionale Dimension des Berufs", die "Statusdimension des Berufs", "Normative Rahmenstrukturen", "Berufsentstehung als normativer Prozeß", "Stabilisierung und Entstabilisierung von Berufen". Nach Fürstenberg begründet "das verwirklichte Recht auf Arbeit nicht allein einen funktionalen Leistungszusammenhang, sondern zugleich ein soziales Austauschverhältnis mit Rollenerwartungen und Statusaspekten, d. h. es strukturiert und normiert einen wichtigen Abschnitt der Lebenswirklichkeit schlechthin" (S. 53). - Thilo Ramm behandelt in seinem großen Beitrag "Das Recht auf Arbeit und die Gesellschaftsordnung" (S. 65-96). Wie sehr es sich um "sein" Thema handelt, ergibt sich auch daraus, daß er in der Sachverständigenkommission "Staatszielbestimmungen / Gesetzgebungsaufträge" mitwirkte, die 1983 ihr Gutachten vorgelegt hat, in dem Ramm den Teil "Arbeit" (S. 67-84) verantwortet. Ramm
21. Verfassungslehre der Arbeit
527
qualifiziert das Recht auf Arbeit" als "Individualrecht", aber zugleich als "auf die Gesellschaft bezogen" (S. 65); er möchte es weit fassen: über seine Festlegung als subjektiv-öffentliches Anspruchsrecht hinaus. Ramm unterscheidet für die Bundesrepublik vier Ebenen: die internationale, die verfassungsrechtliche (d. h. landes- und bundesverfassungsrechtliche) sowie die gesetzliche. "Am auffälligsten" erscheint ihm die "internationale Durchsetzung des Rechts auf Arbeit" (S. 81); bei den Länderverfassungen nach 1945 beobachtet er ein "weites Spektrum der Formulierungen" (S. 83), während er dem GG "nur mittelbar" ein Recht auf Arbeit entnehmen kann (S. 85). Dabei gelangt er zu dem Satz, die Anerkennung oder Nichtanerkennung des "Rechts auf Arbeit" de constitutione lata wirke sich hinsichtlich der praktischen Ergebnisse nicht aus (S. 89). Ramm votiert für die Festlegung von sozialen Grundrechten oder Staatszielbestimmungen. "Die Freiheit zu arbeiten" ordnet Ramm der Persönlichkeitsentfaltung zu, sie bedeute das Bekenntnis zu einem "Ethos der Arbeit", dessen die moderne Gesellschaft bedürfe (S. 93). W. Thiele fragt nach "Konkretisierungen des Rechts auf Arbeit im Arbeitsrecht" (S. 97-110). Zwar kenne das geltende Recht ein Recht auf Arbeit mit dem Inhalt eines subjektiven Rechts gegen den Staat oder Private nicht. Es gebe aber eine "jedenfalls einfachgesetzliche objektivrechtliche Verpflichtung des Bundes, dafür zu sorgen, daß jeder die Möglichkeit hat, sich nach freier Willensentscheidung und im Rahmen der eigenen Fähigkeiten produktiv, vor allem zwecks Sicherung der eigenen materiellen Lebensexistenz, zu betätigen" (S. 110). Positivrechtliche Ausprägungen des Rechts auf Arbeit seien die "vom Arbeitsrecht vorgehaltenen Regelungen über die gerechten Arbeitsbedingungen", als weiterer Teilaspekt "die Sicherung des bestehenden Arbeitsverhältnisses vor beliebigen und willkürlichen Kündigungen". - "Freiheit des Berufs und Recht auf Arbeit im Verfassungsrecht" ist das sorgsam erkundete Thema von W. Brugger (S. 111-134). Die normative Kraft der Berufsfreiheit sieht er in drei Ebenen entfaltet: als individuelles Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe, als Garantie einer freiheitlichen Berufsordnung und als eventuelles Leistungsund Teilhaberecht (S. 115). Brugger qualifiziert Arbeit und Beruf von Art. 1 Abs. 1 GG aus "gleichzeitig als Existential- und Fundamentalinteresse bzw. -gut des Menschen" (S. 128). Rechtspolitisch votiert er für ein Recht auf Arbeit als Staatsziel oder Verfassungsauftrag und orientiert sich dabei an Art. 26 VE Schweiz9. Etwas bescheidener will er auch daran denken, die grundgesetzliche Verankerung des Rechts auf Arbeit in einer Neufassung der Art. 20, 28 GG zu "komplettieren" (S. 134). - K. Westen geht dem Recht auf Arbeit "in den Prämissen sozialistischer Verfassungen" nach (S. 135-151). Stichworte sind: 9
Abgedruckt in: AöR 104 (1979), S. 475 ff.
528
II. Inhalte
durchgängige Gewährung eines Rechts auf Arbeit, hoher politischer und anthropologischer Stellenwert von Arbeit, Recht auf Arbeit als Mittel der Existenzsicherung, Pflicht zu gesellschaftlich nützlicher Arbeit. Westen sieht im sozialistischen "einseitigen Abstellen der Arbeit und des Rechts auf die ökonomische Dimension" wenig Grund für Anregungen, doch bietet ihm die ursprüngliche marxistische Behandlung des Komplexes Arbeit mit ihrem anthropologischen Aspekt der Funktion von Arbeit sowie mit ihrem weit gefaßten Arbeitsbegriff "eher schon" einen Lösungssatz (S. 150 f.). Anregungen glaubt er vor allem den sog. "materiellen Garantien" in sozialistischen Verfassungen entnehmen zu können. - Das Problem "eines Rechts auf Arbeit bei Karl Marx" untersucht W. Schild (S. 153-179). In souveräner Marjc-Interpretation sucht er nach dem Zusammenhang von Freiheit und Arbeit, beschreibt er "Arbeit und Entfremdung", "lebende und tote Arbeit", "Lohnarbeit und Kapital", das "Verhältnis von Arbeit und Eigentum" sowie die "Selbstdifferenzierung der Arbeit". - Philosophisch, d. h. "in denkendem Fragen" geht K -Η. Volkmann-Schluck dem "Recht auf Arbeit im Horizont der modernen Gesellschaft" nach (S. 181-189), während A. Baruzzi unter dem Titel "Arbeit und Beruf" (S. 191-210) folgende drei Thesen erörtert 10: "Der Mensch ist zur Arbeit berufen", "Das neuzeitliche Berufsverständnis kommt auf, als es dem Menschen um Besitz geht", "Arbeit um des Besitzes, Beruf um der Praxis willen". Die beiden Herausgeber H. Ryffel und J. Schwartländer beschließen den Band. Ryffel schreibt über "philosophische Aspekte der Arbeit im Hinblick auf ein Menschenrecht auf Arbeit" (S. 211-231). Schlüsselsätze sind: "Auch die Arbeit ist im Rückgriff auf die Daseinsverfassung des Menschen zu bestimmen" (S. 212), "Der immanente Sinn der Arbeit kommt in dem zum Ausdruck, was man ihren menschenbildenden Charakter nennen kann" (S. 125), "ein Recht des Menschen auf Arbeit ist grundsätzlich begründet" (S. 228). - / . Schwartländer befaßt sich mit dem Recht auf Arbeit unter dem Stichwort "Leitidee der modernen Gesellschaft?" (S. 233-259). Nur wenige Aspekte können hier vermerkt werden: "Gesellschaftliche Arbeit als Grundbedingung des Menschen in der modernen Gesellschaft", "Arbeit in der Dialektik von Emanzipation und Entfremdung", "Das Recht des Menschen auf Teilhabe an der liberalen Arbeitsgesellschaft", "die gesellschaftliche Integration der Arbeit im modernen Berufswesen". H. Ryffel beschließt den Band11 mit dem Beitrag "Zur möglichen Einheit der Menschenrechte auf Eigentum und Arbeit" (S. 261-283). 10 Zu seinem Buch: Recht auf Arbeit und Beruf ?, 1983, mein Beitrag: Arbeit als Verfassungsproblem, JZ 1984, S. 345 ff. 11 Auch sonst finden sich Beispiele dafür, daß Herausgeber dazu übergehen, ihre Bände selbst zusammenfassend zu würdigen; vgl. ζ. B. die "abschließenden Äußerungen" der Herausgeber E. Benda , H.-J. Vogel und W. Maihofer, in: dies., Hdb. des VerfR, 1983, S. 1331 ff.
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21. Verfassungslehre der Arbeit
Ryffel spricht von einer "allgemeinen Aufwertung der Arbeit", sie führe zu einer "Gewichtsverschiebung vom Eigentum zur Arbeit" (S. 264). Die Menschenrechte auf Eigentum und Arbeit seien "grundsätzlich miteinander verträglich" (S. 276), ihre einheitliche Zielrichtung sei "normative Freiheit" (S. 280); darum sei politisch das Recht auf Arbeit in der Verfassung zusammen mit dem Recht auf Eigentum zu normieren (S. 281). Es sei ein Gebot elementarer Gerechtigkeit, vorhandene Arbeit auf alle Gesellschaftsglieder, also auch die Arbeitslosen, angemessen zu verteüen (S. 282).
ΠΙ. Auf dem Weg zu einer Verfassungslehre der Arbeit Über die Fragestellung des Bandes hinaus ist eine breitere Bestandsaufnahme verfassungsrechtlicher Normierungen des Problems Arbeit in Angriff zu nehmen12. Ein etwaiges "Recht auf Arbeit" kann nur im gesamten Kontext der jeweiligen Verfassungen konstituiert werden (so wie es sich im Kontrast zu "sozialistischen" Verfassungen konturiert). Anschließend sei im Gespräch mit den Autoren des verdienstvollen Bandes eine Theorie des Verfassungsrechts der Arbeit unternommen.
1. Entwicklungs- und Wachstumsprozesse des Verfassungs rechts der Arbeit
a) "Textstufen"
in historischer und kontemporärer
Verfassungsvergleichun
In historischer und kontemporärer Rechtsvergleichung anhand vieler Beispiele aus Geschichte und Gegenwart verfassungsstaatlicher Verfassungen lassen sich im Blick auf den Typus des Verfassungsstaates Entwicklungs- und Wachstumsprozesse des "Verfassungsrechts der Arbeit" beobachten: Die Verfassungsurkunden reichern sich mit immer mehr Teilaspekten der Sache Arbeit an und dies in den unterschiedlichsten Fonnen. Das "Verfassungsrecht der Arbeit" gewinnt intensivere und extensivere Gestalt: teils im Grundrechts-, teils im Kompetenzteil, teils an sonstigen "Plätzen"13. 12
T. Ramm, aaO, leistet hier manche Vorarbeit, doch argumentiert er nicht auf der ganzen Bandbreite verfassungsstaatlicher Verfassungen. - Einiges an Rechtsvergleichung findet sich in der Sachverständigenkommission "Staatszielbestimmungen ...", 1983, S. 74 f., doch ist ihr Beispielfeld zu schmal. 13 Ζ. B. in Präambeln oder Erziehungszielen oder auch in Form sozialethischer Aussagen über den Rang der Arbeit und dies jeweils in verschiedenen Techniken. Grundrechte und Kompetenzen (Staatsaufgaben, Verfassungsaufträge u. ä.) sind dabei die äußersten Pole, zwischen denen es viele Übergänge gibt: Gelegentlich erscheint das Grundrecht der Arbeit im Kontext von Staatsaufgaben,
530
II. Inhalte
Im folgenden seien typologisch die wichtigsten Erscheinungsformen und "Textstufen" dieser Vorgänge exemplarisch festgehalten. Das "Verfassungsrecht der Arbeit" gewinnt dabei vor allem in Konkurrenz und gelegentlich erkennbar auf Kosten des Verfassungsrechts "Eigentum" Konturen. Es kann teils eigene Abschnitte "erobern", teils sich an das materielle Eigentum "anlagern", etwa als "geistiges Eigentum". Unter den geltenden Verfassungen dürfte die des GG zu den an geschriebenem "Verfassungsrecht der Arbeit" relativ armen Beispielen gehören - ganz anders viele deutsche Landesverfassungen nach 1945 - 1 4 , doch haben Wissenschaft und Rechtsprechung vor allem des BVerfG und BAG viel ungeschriebenes Verfassungsrecht der Arbeit "heranwachsen" lassen15. Auf der anderen Seite der Skala steht die Verfassung Portugals (1976 / 82); sie nimmt sich des Verfassungsrechts der Arbeit in ihrer Urkunde besonders vielfältig an, wobei die Frage bleibt, was heute "lebende Verfassung" der Arbeit ist Beide Beispiele zeigen, welchen Spielraum der Typus des westlichen Verfassungsstaates "in Sachen Arbeit" hat und läßt. Dieser Spielraum muß auch bestehen bleiben; denn es hängt viel von der Individualität eines Volkes und seiner besonderen geschichtlichen Identität ab, auch von seiner konkreten Verfassungskultur, wie intensiv und extensiv es das Verfassungsrecht der Arbeit normiert und praktiziert Ein Minimum dürfte aber unverzichtbar sein: Der betreffende Verfassungsstaat vermöchte sonst nicht zu überleben, zu tief ist das Problem "Arbeit" mit dem im politischen Gemeinwesen vergesellschafteten Menschen und Bürger verknüpft und zu zentral ist es heute für Legalität und Legitimität des Verfassungsstaates in jedweder nationalen Erscheinungsform. Eine Geschichte des "Verfassungsrechts der Arbeit" bzw. eine "Verfassungsgeschichte der Arbeit" müßte herausfinden, welche Querverbindungen16 Staatszielen oder "bloßen" Kompetenzbestimmungen' (ζ. B. "Arbeitsrecht"), die es zum "Maßgabegrundrecht" machen, teils sind dem Grundrecht der Arbeit Staatsaufgaben bzw. Kompetenzen und Verfassungsaufträge "angelagert", teils verbinden sich mit der einen oder anderen Form Konnexgarantien (wie "Sozialversicherung"), teils ist eine Pflicht zur Arbeit normiert. Zu unterscheiden ist also zwischen den Orten, an denen die Sache Arbeit (oder der Status des Arbeitnehmers) oder Teilelemente von ihr in den Einzelverfassungen piaziert sind und den Techniken oder Kodifikationsformen, in denen sie auftreten. Auch das Grundrecht "der" Arbeit ist als solches noch recht selten ausdrücklich und im ganzen normiert. Meist sind nur einzelne Aspekte garantiert: das Abwehrrecht der Berufsfreiheit, das Teilhabegrundrecht auf Ausbildung, ein Element des Grundrechts "auf" Arbeit in Gestalt von Kündigungsschutz und damit zugleich ein objektivrechtlicher Aspekt, meist der "status corporativus" in Gestalt der Koalitionsfreiheit bis hin zu Arbeitskampfgarantien wie dem Streikrecht etc. 14
Dazu meine Nachweise in: JZ 1984, 345 (354 f.).
15
Ebd., S. 352.
16
Pionierleistungen sind hier der "Erklärung von Philadelphia" vom 10. Mai 1944 zu verdanken (zit. nach AR-Blan D I Internationale Arbeitsorganisation Anhang 1). Hier findet sich der große
21. Verfassungslehre der Arbeit
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zwischen den einzelnen Neuregelungen von Aspekten des Verfassungsrechts der Arbeit nachweisbar sind, etwa ob und wie die UN-Menschenrechtserklärung (1948) oder der UN-Menschenrechtspakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (1966) das innerstaatliche Verfassungsrecht der Arbeit "von außen" her beeinflußt haben: ganz i. S. des "kooperativen Verfassungsstaates"17. Als äußere Gestalt dieser Wachstumsprozesse des Verfassungsrechts der Arbeit kommen "Verfassunggebung" und "Verfassungsänderungen" in Frage. Verfassungswandel als solcher läßt sich hier nicht weiter verfolgen, so sehr er i.S. eines "Verfassungsrechts der Arbeit" durch Korrekturen am Privateigentum und Konkretisierung seiner Sozialpflichtigkeit effektiv geworden ist. Innerhalb der Bundesstaaten sind die Prozesse wechselseitiger Beeinflussung der gliedstaatlichen Verfassungen untereinander, aber auch im Verhältnis zum Bund besonders intensiv18. Zu prüfen wäre, auf wessen "Kosten" (in einem vordergründigen Sinne) sich das Verfassungsrecht der Arbeit durchsetzte; passiv betroffen sind vor allem die klassische Eigentumsgarantie, aber auch die Grundrechte der Handels- und Gewerbefreiheit.
Satz: "Arbeit ist keine Ware" (I a), wird das "Hauptziel" der "sozialen Gerechtigkeit" formuliert (II), werden Programme gefordert, die Ziele wie "Vollbeschäftigung", "gerechter Anteil an den Früchten des Fortschritts hinsichtlich der Löhne", das "Recht zu Kollektivverhandlungen", soziale Sicherheit, Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer etc. anstreben. 17 Dazu mein gleichnamiger Beitrag in FS Schelsky, 1978, S. 141 ff. - Wesentliche Elemente des in neueren westlichen Verfassungsstaaten "Wachsenden" Verfassungsrechts der Arbeit finden sich in internationalen Menschenrechtstexten (zit. nach F. Berber / A. Randelzhofer, Völkerrechtliche Verträge, 2. Aufl. 1979). So enthält die Allg. Erklärung der Menschenrechte (1948) Dimensionen der Grundrechte der Arbeit im "Recht auf Arbeit", "auf angemessene und befriedigende Arbeitsbedingungen sowie auf Schutz gegen Arbeitslosigkeit" (Art. 23 Ziff. 1), auf Lohngleichheit, Freizeit und Urlaub (Art. 23 Ziff. 2, 3 und Art. 24), auf soziale Sicherheit (Art. 25 Ziff. 1). Der korporative Aspekt ist als "Recht, zum Schutz seiner Interessen Berufsvereinigungen zu bilden und solchen beizutreten" geschützt (Art. 23 Ziff. 4). Das Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (1951) enthält Artikel zur "Erwerbstätigkeit", insbesondere die "nichtselbständige Arbeit" (Art. 17) sowie zu "Arbeitsrecht und sozialer Sicherheit" (Art. 24). Der internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (1966) regelt im Kontext des Rechts, "sich frei mit anderen zusammenzuschließen", das Recht, "zum Schutz seiner Interessen Gewerkschaften zu bilden und ihnen beizutreten" (Art. 22 Abs. 1), und im Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (1966) figuriert als erstes Grundrecht in Teil III das "Recht auf Arbeit", das von programmatischen Staatszielen (wie Vollbeschäftigung) flankiert wird, die diesem Recht zur vollen Verwirklichung verhelfen sollen (Art. 6 Abs. 1). Im übrigen kehren die bekannten arbeitsverfassungsrechtlichen Themen der Erklärung von 1948 wieder, wobei das Recht der und zu Gewerkschaften ausgebaut ist und das Streikrecht genannt wird (Art. 8). Zur ESC (1961) vgl. deren Art. 1 (Teil II): "Recht auf Arbeit" oder Art. 6: "Das Recht auf Kollektivverhandlungen". 18
Zum Problem meine Besprechung in AöR 107 (1982), 640 (645 ff.).
532
II. Inhalte
b) Eine typologische Einzelanalyse aa) Texte der französischen Verfassungsgeschichte
Die französische Verfassungsgeschichte wurde für das "Verfassungsrecht der Arbeit" in vielem folgenreich: sowohl in den Normierungstechniken als auch inhaltlich19. Schon in der Verfassung von 1793 erscheint die Sache Arbeit, bezeichnenderweise zuerst im Kontext des Eigentums™. Aber auch die Fürsorge für den Arbeitslosen ist bereits normiert 21. Ins Zentrum der Verfassung und des Staates rückt "Arbeit" in der Verfassung von 1848. In ihrer Präambel heißt es: (sub IV Abs. 2): "Elle (La république) a pour base la Famille, le Travail, la Propriété, l'Ordre public". Damit wird, soweit ersichtlich, Arbeit erstmals in einer Verfassungspräambel vorangestellt! Im übrigen garantiert Art 13 "aux citoyens la liberté du travail et de l'industrie". In der Vichy- Verfassung (1940) wird diese Tradition insofern übernommen, als ihr (erster) "Article unique" in Satz 2 normiert: "Cette Constitution devra garantir les droits du Travail, de la Famille et de la Patrie". Art. 4 legitimiert den Eigentumsschutz von der Arbeit her ("Acquise par le travail et maintenue par l'épargne familiale, la proprietié est un droit inviolable justifié par la fonction sociale qu'elle confère a son détenteur"). Im Verfassungsentwurf vom April 1946 finden sich im Abschnitt "wirtschaftliche und soziale Rechte" Pflicht und Recht auf Arbeit (Art 26) sowie aibeitsverfassungsrechtliche Konnexgarantien zum Arbeitsschutz (Art 27: "vie familiale du travailleur"; Lohngleichheit, Mitbestimmung [Art. 31], Arbeitslosenunterstützung [Art. 34]). Arbeit erscheint aber auch als "Zugangsrecht" zum Eigentum (Art. 35 S. 2: "Tout homme doit pouvoir y accéder par le travail et par l'épargne"). Die Verfassung vom Okt. 1946 sieht Pflicht und Recht zur Arbeit im Rahmen ihrer in der Präambel enthaltenen wirtschaftlichen und sozialen Prinzipien vor, auch Gewerkschaften, Streikrecht und Mitbestimmung. Die Verfassung von 1958 knüpft daran in ihrer Präambel an. Im Rahmen der in Art. 34 umschriebenen Gesetzgebungsmaterien tauchen u. a auf: die fundamentalen Grundsätze "du droit du travail, du droit syndical et de la sécurité sociale"22. 19
Text zit. nach J. Godechot, Les Constitutions de la France depuis 1789,1979.
20
Art. 16: "Le droit de propriété est celui qui appartient à tout Citoyen de jouir et de disposer à son gré ses biens, de ses revenus, du fruit de son travail et de son industrie." 21 Art. 21 S. 2: "La société doit la subsistance aux citoyens malheureux, soit en leur procurant du travail, soit en assurant les moyens d'exister à ceux qui sont hors d'état de travailler". 22 In den USA ist das Thema "Arbeit" in den einzelstaatlichen Verfassungen z. B. wie folgt behandelt: Maryland, Constitution of 1864, "Declaration of Rights", Art. 1: "... unalienable rights, among which are life, liberty, the enjoyment of the proceeds of their own labor ..." (zit. nach W. F. Swindler (ed.), Sources and documents of United States Constitutions, 1975, Bd. 4, S. 417). Ähn-
21. Verfassungslehre der Arbeit
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bb) Die arbeitsverfassungsrechtlichen Bestimmungen der W R V
Die arbeitsverfassungsrechtlichen Bestimmungen der WRV (1919) seien im folgenden nach Normierungstechniken und -inhalten so aufgeschlüsselt, wie dies im Rahmen einer Verfassungslehre der Arbeit möglich wird, die sich an unterschiedlichen Beispielen aus Geschichte und Gegenwart "sättigt". Dabei sollte auch die verfassungsstaatliche Entwicklungsgeschichte des Verfassungsrechts der Arbeit sichtbar werden: zumal vieles an dieser "Verfassungsgeschichte der Arbeit" auf arbeitsrechtswisseiischaftlicher bzw. -dogmatischer Ebene, auf der Ebene der Rechtsprechung und in den Texten deutscher Bundesverfassungen, aber auch im "einfachen" Arbeitsrecht sehr lebendig ist. (1) Zunächst ein Wort zu den Normieruhgsorterij d. h. zur systematischen Plazierung der Sache "Arbeit" im Rahmen der Gesamtverfassung. Vorweg ist festzustellen, daß Arbeit nicht in der Präambel (wie in einigen französischen Texten) auftaucht und daß sie in den klassischen Grundrechtsteil nur insofern einrückt, als Art. 118 S. 2 von der Meinungsfreiheit sagt, an diesem Recht dürfe den Deutschen "kein Arbeits- oder Anstellungsverhältnis hindern". Eine bedeutsame mittelbare Aussage liegt darin, daß die Eigentumsgarantie aus dem klassischen Grundrechtsteil herausgenommen und in den Abschnitt "das Wirtschaftsleben" verlagert ist (Art. 153), wo sie sich zusammen mit vielen "Atbeits-Artikeln" findet. Bereits in den Eigentumsartikeln selbst machen sich Elemente des "Verfassungsrechts der Arbeit" geltend23, die das Eigentum i. S. der Verfassung begrenzend treffen. Schon insofern wird die Komplementarität von Arbeit und von Eigentum "als Verfassungsprobltm" sichtbar. Schließlich fehlt eine auf den 1. Mai bezogene Feiertagsgarantie wie sie viele spätere (Landes-)Verfassungen kennzeichnet - der "Tag der Arbeit" ist in der kulturellen
lieh North Carolina Constitution of 1868, Art. 1. "Declaration of Rights", Sec. 1: "... life, liberty, the enjoyment of the fruits of their own labor ..." (zit. nach Swindler , aaO, Bd. 7, 1978, S. 414). Georgia , Constitution of 1868, Art. 1 "Declaration of Fundamental Principles", Sec. 30: "Mechanics and laborers shall have liens upon the property of their employers for labor performed or material furnished, and the legislature shall provide for the summary enforcement of the same" (zit. nach Swindler , aaO, Bd. 2, 1973, S. 499). - Wyoming , Constitution of 1889, Art. 1, Sec. 22: "The rights of labor shall have just protection through laws calculated to secure to the laborer proper rewards for his service and to promote the industrial welfare of the State" (zit. nach Swindler, aaO, Bd. 10, 1979, S. 470). Ein besonders detaillierter Arbeitsartikel findet sich in der Verfassung Utah (1895): Art. X V I : "Labor" (zit. nach Swindler, aaO, Bd. 9 (1979], S. 462) ζ. B. mit Sätzen wie "The legislature shall provide by law for a board of labor, conciliation, and arbitration, which shall fairly represent the interests of both capital and labor". 23 Art. 155 Abs. 3 S. 2: Die Wertsteigerung des Bodens, die ohne Arbeits- oder Kapitalaufwendung auf das Grundstück entsteht, "ist für die Gesamheit nutzbar zu machen"; Art. 156 Abs. 2: gemeinwirtschaftliche Zusammenschlüsse mit dem Ziel, "die Mitwirkung aller schaffenden Volksteile zu sichern, Arbeitgeber und Arbeitnehmer an der Verwaltung zu beteiligen...".
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II. Inhalte
Tiefendimension ein wesentliches Stück "Verfassungsrecht der Arbeit". Nur mittelbar klingt das Problem in Art. 139 WRV an24. (2) Sodann zu den Normierungstechiken
und -inhalten:
a) Vom "Grundrecht der Arbeit" her gedacht25 lassen sich viele seiner derzeit entfalteten fünf Schutzdimensionen in nuce schon ausmachen: Der Abwehraspekt bricht in Art. 161 mit"unmittelbarer Drittwirkung" durch. Gleiches gilt für die Freistellung im Interesse öffentlicher Ehrenämter (Art. 160); er zeigt sich auch in der "Freiheit des Handels und Gewerbes" (Art. 151 Abs. 3). institutionelle Aspekt des Grundrechts der Arbeit Der objektivrechtliche, wird in Schutzaufträgen des Arbeitsrechts greifbar 26, beim - geistigen - Eigentum erweitert in Gestalt des Staatsziels in Sachen "geistige Arbeit" 27. Eine institutionelle Konnexgarantie steckt in dem Verfassungsauftrag nach Art. 161, "ein umfassendes Versicherungswesen" zur "Erhaltung der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit" zu schaffen. TeiUuibeaspekte mit Tendenzen zum'Grundrecht auf Arbeit hat die Arbeitslosenversicherung in Art. 163 Abs. 2 28 . Während Elemente des Grundrechts der Arbeit in seiner organisatorisch-prozessualen Dimension noch nicht normiert sind (in nuce allenfalls in Art. 165 "versteckt"), ist die gruppenrechtliche Dimension ausgebaut: als Koalitionsfreiheit in Art. 159 WRV 29 . ß) Die kompetentielle Seite der Arbeit als Staatsaufgabe kommt an mehreren Stellen zum Ausdruck, direkt etwa im Auftrag nach Art. 162, wonach das Reich für eine zwischenstaatliche Regelung der Rechtsverhältnisse der Arbeitnehmer eintritt, "die für die gesamte arbeitende Klasse der Menschheit ein allgemeines Mindestmaß der sozialen Rechte erstrebt" - ein bemerkenswerter Entwurf im Blick auf ein universales Verfassungsrecht der Arbeit, das dem heutigen kooperativen Verfassungsstaat entspricht! Aber auch in den Normierungen des Grundrechts der Arbeit stecken mitunter Staatsziele im Interesse
24 "Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe ...". G. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches, 14. Aufl., 1933, Ziff. 1 zu Art. 139 WRV: "sozialpolitische Erwägungen". 25
Dazu P. Häberle, Arbeit als Verfassungsproblem, JZ 1984,345 (350 ff.).
26
Art. 157: "Die Arbeitskraft steht unter dem besonderen Schutz des Reichs".
27 Art. 158 Abs. 1: "Die geistige Arbeit, das Recht der Urheber, der Erfinder und der Künstler genießt den Schutz und die Fürsorge des Reichs". 28 "Soweit ihm angemessene Arbeitsgelegenheit nicht nachgewiesen werden kann, wird für seinen notwendigen Unterhalt gesorgt". 29 Die "sittliche Pflicht zur Arbeit" (Art. 163 Abs. 1) sei als Teil der "konstituionellen Programmatik" (//. Hof mann) nicht vergessen.
21. Verfassungslehre der Arbeit
535
der Arbeit! Gesetzgebungsaufträge verbergen sich in den arbeitsverfassungsrechtlichen Schutzaufträgen, die bereits dem "Grundrecht der Albeit" zugeordnet wurden30, und die Arbeit als Staatsauigabe ist schließlich in Art. 163 Abs. 2 S. 2 greifbar 3!. γ) An die Grundlagen des rechtlichen und kulturellen Selbstverständnisses eines Verfassungsstaates führen seine ausdrücklichen Erziehungsziele 32. So wie die Arbeit in einer Reihe von Erziehungszielkatalogen deutscher Länderverfassungen nach 1945 ihren Platz hat33, so figuriert modellhaft ein Stück Verfassungsrecht der Arbeit schon in Art. 148 WRV 34 . (3) Im ganzen zeigt sich, daß die Wachstumsprozesse des Verfassungsrechts der Arbeit in der WRV eine "schulbildende Etappe" erreicht haben. Der Regelungsgegenstand "Arbeit" ist in einer für spätere verfassungsstaatliche Verfassungen (vor allem der deutschen Länder nach 1945) vorbildlichen Weise erweitert und vertieft worden: Die Instrumente sind verfeinert, neue Bereiche wie Erziehungsziele, Grundrechte und Staatsaufgaben (bzw. Kompetenzen) erschlossen. Das "Verfassungsrecht der Arbeit" hat sich intensiviert und ist in neue Bereiche expandiert - ohne den Verfassungsstaat als Typus zu verlassen, so unverkennbar mittelbare und unmittelbare Korrekturen an anderen Prinzipien etwa dem "Eigentum" "i. S. der Verfassung" textlich sind. Bemerkenswert "arm" an Aspekten des Verfassungsrechts der Arbeit sind die Verfassungsurkunden der deutschen Landesverfassungen der Weimarer Zeit35; zum Teil erklärt sich dieses "Aschenputteldasein" wohl aus dem großen 30 Art. 157: Besonderer Schutz der Arbeitskraft, Schaffung eines einheitlichen Arbeitsrechts; Art. 158: Schutz der geistigen Arbeit. 31 Art. 163 Abs. 2: "Jedem Menschen soll die Möglichkeit gegeben werden, durch wirtschaftliche Arbeit seinen Unterhalt zu erwerben". 32 Dazu P. Häberle, Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1981; ders., Verfassungsprinzipien als Erziehungsziele, in: FS H. Huber, 1981, S. 211 ff. - hier Nr. 14. 33
Nachweise in meinem Beitrag "Arbeit als Verfassungsproblem", JZ 1984, 345 (354 Anm.
84). 34 "In allen Schulen ist ... persönliche und berufliche Tüchtigkeit im Geiste des deutschen Volkstums und der Völkerversöhnung zu erstreben". 35 Zit. nach O. Ruthenberg, Verfassungsgesetze des Deutschen Reiches und der deutschen Länder, 1926. Die Sache Arbeit bzw. die Person des Arbeiters ist geregelt ζ. B. in Verf. Bremen (1920) in § 84: "Als Vertretung der Arbeiter besteht die Arbeiterkammer"; Art. 66 Abs. 1 Verf. Hessen (1919): "Zur Ausführung der reichsrechtlichen Vorschriften werden ein Arbeiterrat ... gebildet." - Relativ eingehend normiert die Verfassung des Freistaats Mecklenburg-Schwerin (1920): § 14 Abs. 1: "Frei ist das Recht staatsbürgerlicher Betätigung für alle Beamten, Angestellten und Arbeiter in Staat oder Selbstverwaltung". Abs. 2 S. 2: "Insbesondere ist ein Kündigungsrecht wegen der politischen Gesinnung des Arbeitnehmers ausgeschlossen". - § 15: "Frei sind Arbeit und Erwerb. Nur das Gesetz darf sie beschränken". - Die Verf. Württemberg (1919) nimmt sich der Arbeit in ihrem Abschnitt "Wirtschaftsleben" an: § 61: "Die Arbeitskraft der Arbeiter und Angestellten ist
35 Häberle
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II. Inhalte
Engagement, mit dem sich die WRV des Themas annimmt (Art. 157-163,165). In den ersten ostdeutschen Verfassungen nach 1945 deuten sich symptomatische Akzentverlagerungen in Sachen "Verfassungsrecht der Arbeit" an36. Es wächst seiner Bedeutung nach und zwar in "intensiver" und "extensiver" Weise, hält sich aber textlich noch im Rahmen des Typus westlicher Verfassungen.
Exkurs I: Die DDR-Verfassungen
von 1949 und 1968 / 74
Ein Vergleich der beiden Verfassungen der DDR von 1949 bzw. 1968 / 7437 ist unter dem Aspekt des Umschlagens eines verfassungsstaatlichen "Verfassungsrechts der Albeit" in die Dominanz der "Arbeit" i. S. sozialistischer Staaten höchst aufschlußreich. 1949 rückt zwar die Sache Arbeit in den 1. Teil "Die Rechte des Bürgers" vor, während die Eigentumsgarantie nach "Π. Wirtschaftsordnung" "verschoben" wird. Im übrigen hält sich aber die Akzentuierung der Arbeit noch im Rahmen des Spielraums westlicher Verfassungen. In den Arbeitsartikeln finden sich im Grunde die Elemente wieder, die aus der WRV bekannt sind und auch die westdeutschen Länderverfassungen nach 1945 prägen38. Die Sache Arbeit dringt aber auch in die Eigentumsartikel vor: eigen-
gegen Ausbeutung und Gefahrdung sicher zu stellen". - Intensiv und extensiv befaßt sich Verf. Danzig (1920/22) mit Aspekten des Verfassungsrechts der Arbeit: "Invaliden der Arbeit" sind bei dem zu schaffenden Heimstättenrecht "ganz besonders zu berücksichtigen" (Art. 111 Abs. 1 S. 2), "Die Vereinigungsfreiheit zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet" (Art. 113 Abs. 1 S. 1), "Zur Erhaltung der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit ... schafft der Staat ein umfassendes Versicherungswesen ..." (Art. 114), "Betriebsausschüsse" für Arbeiter und Angestellte zur "Mitwirkung an den Lohn- und Arbeitsbedingungen" (Art. 115 Abs. 1 S. 1), Bildung einer "Kammer der Arbeit" für Arbeiter und Angestellte zur "Wahrnehmung ihrer sozialen und wirtschaftlichen Interessen und zwecks Förderung der gesamten wirtschaftlichen Entwicklung der produktiven Kräfte" (Art. 115 Abs. 3 ebd.). 36 Texte zit. nach B. Dennewitz, aaO. - In Verf. Mark Brandenburg (1947) sind die Mitbestimmungsrechte in Art. 5 noch vor dem Grundrechtskatalog in Art. 6 piaziert; dieser enthält auch die "Freiheit des Streikrechts". Noch anschaulicher ist der Text der Verfassung Mecklenburg-Vorpommern (1947). In ihrem Katalog der Grundrechte und Grundpflichten ist in Art. 15 das Recht jeden Bürgers auf Arbeit vor die Freiheit der Berufswahl gerückt. Als S. 3 folgt das Staatsziel, "durch Wirtschaftslenkung jedem Bürger Arbeit und Lebensunterhalt zu sichern". Art. 16 handelt von den Konnexgarantien wie Recht auf Urlaub und Erholung sowie von der Staatsaufgabe Sozialversicherung. In Art. 75 Abs. 3 geht es um Schutz und Fürsorge für die "geistige Arbeit". Parallel strukturiert ist die Verfassung Sachsen (1947, Art. 16-18, 22). 37 38
Zit. nach R. Schuster (Hrsg.), Deutsche Verfassungen, 13. Aufl., 1980.
Art. 14: Koalitionsfreiheit, Streikrecht der Gewerkschaften; Art. 15: Recht auf Arbeit, Absicherung durch staatliche Wirtschaftslenkung, Arbeitslosenversicherung, Schutz der Arbeitskraft; Art. 16: Urlaubs- und Versorgungsanspruch, umfassende Sozialversicherung im Interesse der "arbeitenden Bevölkerung"; Art. 17: Mitbestimmung; Art. 18: Arbeitsschutz und das Postulat, die
21. Verfassungslehre der Arbeit
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turns stärkend, ja -begründend, insofern die "geistige Arbeit" unter den Schutz und die Fürsorge des Staates gestellt wird (Art. 22 Abs. 3) und bei der Besteuerung auf erarbeitetes Vermögen und Einkommen besonders Rücksicht zu nehmen ist (Art. 29 Abs. 2), begrenzend, insofern nach Art. 26 S. 2 die "Wertsteigerung des Bodens, die ohne Arbeits- und Kapitalaufwand für das Grundstück entsteht", für die Gesamtheit nutzbar zu machen ist. Gesetzgebungsaufträge finden sich ζ. B. in bezug auf die Schaffung "einheitlichen Arbeitsrechts und einheitlicher Arbeitsgerichtsbarkeit" (Art. 18). Immerhin ist das Feiertagsrecht nicht zuletzt im Blick auf den 1. Mai als Tag der Arbeitsruhe in den Kontext der Arbeitsartikel gerückt (Art. 16 Abs. 2), während die WRV das Feiertagsrecht (ohne 1. Mai) im Kontext des Staatskirchenrechts piazierte (Art. 139). - Ganz anders der Geist, aus dem heraus die DDR-Verfassung von 1974 konzipiert ist. Schon in der Präambel wird die Geschichte im Blick auf die "revolutionären Traditionen der deutschen Arbeiterklasse" umgeschrieben; es folgen der sozialistische Staatsbegriff (der "Arbeiter und Bauern": Art. 1 Abs. 1), die Reduzierung des Eigentums Privater auf das "persönliche Eigentum" (Art. 11), die Normierung des Grundsatzes "Arbeite mit, plane mit, regiere mit" (Art. 21 Abs. 2 S. 2), des Rechts auf Arbeit (Art. 24), des Schutzes der Arbeitskraft (Art. 35 Abs. 1) sowie ein ausführliches Kapitel zu den Gewerkschaften und ihren Rechten (Art. 44 f.) 39.
ce) Geltende Verfassungen im Überblick
Im folgenden seien einige Beispiele zum "Verfassungsrecht der Arbeit" westlicher Verfassungsstaaten, vor allem aus der Zeit nach 1945 gebracht. Eine Auswahl muß genügen. Belegen lassen sich, wie schon in der "Verfassungsgeschichte der Arbeit", bestimmte im Grundtypus parallele, aber variationenreiche Normierungstechniken und -inhalte40. (1) Die Verfassung des Königreichs Dänemark (1953) verknüpft eine Staatszielbestimmung mit einem Aspekt des Grundrechts der Arbeit 41. Die Verfassung Finnlands (i. d. F. von 1972) geht ebenfalls von der staatlich kompe-
Arbeitsbedingungen müßten "so beschaffen sein, daß die Gesundheit, die kulturellen Ansprüche und das Familienleben der Werktätigen gesichert sind". 39 40
Einzelheiten im Exkurs II.
Texte, soweit nichts anderes vermerkt, zit. nach P. C. Mayer-Tasch Verfassungen Europas, 2. Aufl., 1975.
(Hrsg.), Die
41 § 75 Abs. 1: "Zwecks Förderung des Gemeinwohls ist anzustreben, daß jeder arbeitsfähige Bürger die Möglichkeit hat, unter Bedingungen zu arbeiten, die sein Dasein sichern."
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II. Inhalte
tenziellen Seite aus42. Die Verfassung Irland (1937/ 1972) postuliert im Rahmen der "Leitsätze zur Sozialpolitik" die Aufgabe des Staates (Art. 45 Abs. 4 Ziff. 2) sicherzustellen, "daß die Kraft und die Gesundheit der männlichen und weiblichen Arbeitskräfte ... nicht mißbraucht werden und daß die Bürger nicht aus wirtschaftlicher Not gezwungen werden, Berufe auszuüben, für die sie ... ungeeignet sind". Die Verfassung Italiens (1947 / 1967) behandelt das Thema "Arbeit" besonders vielseitig und vielfältig. Schon in ihren einleitenden "Grundprinzipien" kommt die Teilhabeseite des Grundrechts der Arbeit zur Sprache (Art. 3: "Es ist Aufgabe der Republik ... die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und die wirksame Teilnahme aller Arbeitenden an der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Gestaltung des Landes"). Art. 4 wagt ein "Recht auf Arbeit" 43. Im Titel III ("Wirtschaftliche Beziehungen") nimmt sich die Verfassung zuerst der Arbeit und erst dann des Eigentums an. Umfassend geschützt wird die Arbeit gleich eingangs44. Im übrigen begegnen die bekannten Teilelemente des Grundrecht der Arbeit mit ihren verschiedenen Schutzdimensionen45. (2) Die neueren verfassungsstaatlichen Verfassungen nehmen sich des Themas Arbeit zunehmend an. Sie werden hier untersucht, um etwaige Wand-
42 § 6 Abs. 2 (im Anschluß an Absatz 1, der Leben, ihre persönliche Freiheit und Eigentum schützt!): "Die Arbeitskraft des Staatsbürgers steht unter dem besonderen Schutz des Reichs. Die Staatsgewalt muß bei Bedarf dafür Sorge tragen, daß für einen finnischen Staatsbürger die Möglichkeit besteht, einer Arbeit nachzugehen ...". 43 Abs. 1: "Die Republik erkennt allen Staatsbürgern das Recht auf Arbeit zu und fördert die Voraussetzungen für die Verwirklichung dieses Rechts." Abs. 2 verpflichtet den Staatsbürger auf eine Tätigkeit, "die zum materiellen oder geistigen Fortschritt der Gesellschaft beiträgt". 44 45
Art. 35 Abs. 1: "Die Republik schützt die Arbeit in allen ihren Formen und Anwendungen."
Art. 36 Abs 1: "Jeder Arbeitende hat das Recht auf eine Entlohnung, die ... in jedem Fall ausreichen muß, ihm und seiner Familie ein freies und menschenwürdiges Dasein zu sichern"; Abs. 3 ebd.: Recht jedes Arbeitenden auf Urlaub; Art. 37: Lohngleichheit von Mann und Frau; Art. 38: Recht jedes Arbeitenden auf Sozialversicherung (Invalidität, Arbeitslosigkeit etc.); die korporative Seite ist in Art. 39 (Gewerkschaften) und Art. 40 (Streikrecht) garantiert. - Die "soziale Funktion" des nachrangig piazierten Eigentums (Art. 42 Abs. 2) ist gewiß auch von diesen Elementen des Verfassungsrechts der Arbeit her zu erfüllen! - Luxemburg (1868/ 1972) nimmt sich des Verfassungsrechts der Arbeit im Grundrechtskatalog noch vor der Handels- und Eigentumsfreiheit an (Art. 11 Abs. 4: "Der Staat gewährleistet das Recht auf Arbeit"; Abs. 5: "Das Gesetz trifft Vorsorge für die soziale Sicherheit, den Gesundheitsschutz und die Ruhe der Arbeiter und gewährleistet die gewerkschaftlichen Freiheiten".). Damit sind im selben Artikel das Grundrecht der Arbeit und Gesetzgebungsaufträge normiert. - Verf. Norwegen (1814 /1967) nimmt sich erst am Schluß der Grundrechte der Arbeit an: § 110: "Es obliegt den Behörden des Staates, derartige Verhältnisse zu schaffen, daß jeder Arbeitsfähige sich sein Auskommen durch seine Arbeit schaffen kann."
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lungen in Kodifikationsstil, -technik und -inhalten des "Verfassungsrechts der Arbeit" zu erkennen. Art 22 Verf. Griechenland (1975)46 lautet in Abs. 1: "Die Arbeit ist ein Recht und steht unter dem Schutz des Staates, der für die Sicherung der Vollbeschäftigung und für die sittliche und materielle Förderung der arbeitenden ländlichen und städtischen Bevölkerung sorgt."
Damit ist der klassische Doppelweg: grundrechtliche und kompetenzielle Seite beibehalten. Abs. 4 lautet: "Der Staat sorgt für die Sozialversicherung" das ist mehr als bloße Kompetenz, es ist Verfassungsauftrag. Art. 23 gewährleistet die Koalitionsfreiheit (Abs. 1); die Garantie des Streikrechts (Abs. 2) ist insofern besonderer Art, als von "allgemeinen Arbeitsinteressen der Arbeitenden" die Rede ist, also nicht nur von wirtschaftlichen Interessen47. In der neuen Verfassung Spanien (1978)48 ist das Thema Arbeit auf verschiedene Artikel "verteilt". Im Abschnitt "Die Grundrechte und die öffentlichen Freiheiten" finden sich "das Recht auf literarische, künstlerische, wissenschaftliche und technische Produktion und Schöpfung" (Art. 20 Abs. 1 Ziff. b), das Recht aller "auf freie Bildung von Gewerkschaften" (Art. 28 Abs. 1 S. 1) sowie das "Recht der Arbeitnehmer auf Streik zur Verteidigung ihrer Interessen" (Abs. 2), "die Pflicht zu arbeiten und das Recht auf Arbeit, auf die freie Wahl des Berufes oder Gewerbes, auf sozialen Aufstieg mittels der Arbeit" (Art. 35 Abs. 1 S. 1). Nach Art. 37 Abs. 1 gewährleistet das Gesetz "das Recht auf kollektive Arbeitsverhandlung zwischen den Vertretern der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber". Abs. 2 anerkennt das Recht der Arbeitnehmer und Arbeitgeber auf "kollektive Arbeitskampfmaßnahmen" - Ausprägung des status corporativus oder collectivus! Von der staatlichen kompetenziellen Seite her sind Aspekte des "Verfassungsrechts der Arbeit" geregelt im Kapitel III (Leitprinzipien der Sozial- und Wirtschaftsspolitik). Eigentums- bzw. Einkommenspolitik und "Arbeitspolitik" stehen speziell in Art. 40 im gebotenen Zusammenhang, so sehr man zweifeln mag, ob Vollbeschäftigungspolitik als solche heute noch, das "richtige" Staatsziel ist49. *
Zit. nach JöR 32, (1983), S. 360 ff.
47
Abs. 2: "Der Streik ist ein Recht und wird zur Bewahrung und Förderung der wirtschaftlichen und allgemeinen Arbeitsinteressen der Arbeitenden von den gesetzmäßig gebildeten Gewerkschaften geführt." Der grundrechtliche status corporativus der Arbeit ist hier insofern verstärkt! 48 49
Zit. nach JöR 29 (1980), S. 252 ff.
Art. 40 Abs. 1: "Die Staatsgewalten fördern im Rahmen einer wirtschaftlichen Stabilitätspolitik die für den sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt günstigen Bedingungen und eine gerechte Verteilung des regionalen und persönlichen Einkommens. Ganz besonders führen sie eine auf Vollbeschäftigung ausgerichtete Politik durch." Abs. 2: "Die Staatsgewalten fördern gleichfalls eine auf die Gewährleistung der Berufsausbildung und -umschulung zielende Politik; sie sorgen für Ar-
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II. Inhalte
Ein neuer, durch die Gastarbeiter-Bewegung entstandener Aspekt ist geregelt in Art. 42: "Der Staat wacht besonders über die Wahrung der wirtschaftlichen und sozialen Rechte der spanischen Arbeitnehmer im Ausland und orientiert seine Politik auf deren Rückkehr."
Die Verfassung der Niederlande (1983)50 befaßt sich mit dem Thema Arbeit in der Weise, daß der staatlich kompetenzielle und der grundrechtliche Aspekt im selben Artikel normiert sind: Staatszielbestimmung und Grundrecht wachsen zusammen, nachdem sie in vielen neueren Verfassungen getrennt sind51. Die (revidierte) Verfassung von Portugal (1976 / 82)52 ist in "Sachen Arbeit" ergiebig wie kaum eine andere neuere westliche Verfassung. Das zeigt sich in der Systematik und in den Überschriften ebenso wie in der Sache selbst. So hat die Eigentumsgarantie ihre herkömmliche Vorrangstellung aufgeben müssen; sie erscheint nicht mehr im Kapitel "Rechte, Freiheiten und Garantien", sondern figuriert fast als eine Art Appendix im Kapitel "Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und Pflichten" im Abschnitt "Wirtschaftliche Rechte und Pflichten" am Schluß als Art. 62. Stattdessen ist dem Kapitel "Rechte, Freiheiten und Garantien" ein neuer Abschnitt "Freiheiten und Garantien der Arbeitnehmer" hinzugefügt mit den Themen "Sicherung des Arbeitsplatzes", "Arbeiterausschüsse", "Gewerkschaftsfreiheit", "Rechte der gewerkschaftlichen Vereinigungen und Tarifverträge" sowie "Streikrecht und Aussperrungsverbot". Das Kapitel III "Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und Pflichten" wird in Art. 59 vom "Recht auf Arbeit" eröffnet, die "Pflicht zur Arbeit" ergänzt und durch detaillierte Staatsziele angereichert (ζ. B. Vollbeschäftigungspolitik, "kulturelle, fachliche und berufliche Ausbildung der Arbeiter"); ein großer Katalog zu den Rechten der Arbeiter (ζ. B. auf Erholung und Freizeit) und zu weiteren Staatsaufgaben (ζ. B. auf Begrenzung der Arbeitszeit) kommt hinzu. Ein Gharakteristikum der portugiesischen Verfassung ist schließlich die beitssicherheit und -hygiene und garantieren die notwendige Ruhezeit durch Arbeitsbegrenzung sowie regelmäßig bezahlten Urlaub und die Förderung entsprechender Erholungsstätten." Art. 41: "Die Staatsgewalten unterhalten ein öffentliches System der sozialen Sicherheit für alle Bürger, das im Bedarfsfall ausreichenden Beistand und soziale Leistungen garantiert, vor allem im Falle der Arbeitslosigkeit." 50 51
Zit. nach JöR 32 (1983), S. 277 ff. Art. 19 lautet:
"1. Die Schaffung von genügend Arbeitsplätzen ist Gegenstand der Sorge des Staates und der anderen öffentlich-rechtlichen Körperschaften. 2. Vorschriften über die Rechtsstellung derjenigen, die Arbeit verrichten, über den Arbeitsschutz und über die Mitbestimmung werden durch Gesetz erlassen. 3. Das Recht jedes Niederländers auf freie Wahl der Arbeit wird anerkannt, unbeschadet der Einschränkung durch Gesetz oder Kraft eines Gesetzes." 52
Zit. nach JöR 32 (1983), S. 446 ff.
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mehrfache besondere Herausstellung des Arbeiters als solchen: vor allem im Zusammenhang mit kulturellen Rechten53. Die Verfassung der türkischen Republik (1982)54 ragt durch eine besonders intensive und extensive Regelung der "Sache Arbeit" aus dem typischen Bild westlicher Verfassungsstaaten heraus. Soweit ersichtlich kommt ihr textlich nur die revidierte Verfassung Portugals nahe. Im Abschnitt "Soziale und wirtschaftliche Rechte und Pflichten" findet sich ein eigener Artikel (48) unter der Überschrift "Arbeits- und Vertragsfreiheit" in der thematisch sehr weiten Fassung: "Jedermann besitzt die Freiheit, auf dem von ihm gewünschten Gebiet zu arbeiten und Verträge abzuschließen". Der neue Unterabschnitt "Vorschriften über die Arbeit" gliedert sich in "Recht und Pflicht zur Arbeit" 55, ferner in "Arbeitsbedingungen und Recht auf Arbeitsruhe", "Recht auf Gründung von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden" und "Gewerkschaftliche Betätigung". Weitere Partien befassen sich mit "Gesamtarbeitsvertrag, Streikrecht und Aussperrung" sowie mit der "Gewährleistung der Lohngerechtigkeit" (Art. 53-55). Ein Abschnitt über "Soziale Sicherheitsrechte" flankiert dieses türkische Verfassungsrecht der Arbeit. Ein Blick auf die Normierungsinhalte des Verfassungsrechts der Arbeit in Schweizer Kantonsverfassungen ergibt ein facettenreiches Bild 56 . Dabei wäre es von eigenem Reiz zu untersuchen, wie sich die innerschweizer Prozesse der Verfassungsgebung und -änderung hier gegenseitig beeinflußt haben. Erst allmählich entwickelten sich Teilthemen des Verfassungsrechts der Arbeit. Herkömmlich gab es nur die klassischen Eigentums-, Handels- und Gewerbefreiheitsgarantien. So finden sich als Teilelemente eines Grundrechts der Arbeit jetzt Aspekte des "Schutzes der Arbeiter" 57.
53 Art. 78 Abs. 2: "In Zusammenarbeit mit allen Kulturträgern obliegt dem Staat: a) Den Zugang aller Bürger, insbesondere der Arbeiter, zu den Möglichkeiten und Mitteln kultureller Betätigung zu gewährleisten...". S. auch Art. 70: Jugendliche, vor allem jugendliche Arbeiter ..., ferner Art. 76: Anregung und Begünstigung des Hochschulzugangs von "Arbeitern und Kindern von Arbeitern". 54
Zit. nach JöR 32 (1983), S. 552 ff.
55
Bemerkenswert ist die Aussage, der Staat treffe die erforderlichen Maßnahmen zur Erhöhung des Lebensstandards der Arbeitenden, zum Schutz der Arbeitenden hinsichtlich der Entwicklung ihres Arbeitslebens, zur Herstellung einer Atmosphäre, die geeignet ist, die Arbeitsmöglichkeit zu fördern und der Arbeitslosigkeit vorzubeugen, auch wird der "Arbeitsfriede" als Schutzgut genannt. 56 57
Zit. nach "Systematische Sammlung des Bundesrechts".
K V Appenzell A. Rh.: Art. 30 Ziff. 4; Art. 13 Abs. 1. KV St. Gallen: "Der Staat schützt die Arbeitskraft, insbesondere auch diejenige von Frauen und Kindern,...".
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II. Inhalte
Am weitesten in Richtung auf ein "Recht auf Arbeit" stößt die KV Jura (1977) vor 58. Primär von der staatlich-kompetenziellen Seite her findet sich die Skala von der bloßen Kompetenznorm in Sachen Arbeit 59 über den Verfassungsauftrag 60 bis zur Garantie von Institutionen wie der Arbeitsgerichte 61 oder der "Bestände der Arbeiter-Krankenkassen" 62. Mitunter gehen der primär grundrechtliche und der primär kompetenzielle Aspekt des VerfassuUgsrechts der Arbeit eine eigene Synthese ein63. Verfassungspolitisch ist hier einiges in Gang gekommen64.
58 Im Abschnitt "La sécurité sociale" normiert Art. 19 ("Droit au travail"): "(1) Le droit au travail est reconnu." (2) Avec le concours des communes, l'Etat s'efforce de promouvoir le plein emploi. (3) Chaque travailleur a droit au salaire qui lui assure un niveau de vie décent. (4) L'Etat encourage le reclassement professionnel. (5) Il favorise l'intégration économique et social des handicapés. Art. 20 ("Protection des travailleurs") enthält einen ganzen Katalog von Staatsaufgaben (ζ. B. Arbeitslosenversicherung, Mitbestimmung, Lohngleichheit etc.). 59 Ζ. B. K V Zürich: Art. 23 S. 2: "Er (der Staat) erläßt auf dem Weg der Gesetzgebung die zum Schutz der Arbeiter nötigen Bestimmungen". - KV Bern: "Der Staat trifft ... schützende Bestimmungen gegen gesundheitsschädliche Arbeitsüberlastung". - KV Solothurn: Art. 63: "Abweichung von den ordentlichen Steuergrundsätzen zur Erfüllung außerordentlicher Aufgaben der Arbeitsbeschaffung in Zeiten der Not". 60 Z. B. Art. 30 Ziff. 4 K V Appenzell A. Rh: "öffentliche Arbeitsbeschaffung"; § 27 Abs. 1 K V Thurgau: "das Wohl und die Gesundheit der arbeitenden Klassen zu schützen und zu fördern" als Aufgabe der Gesetzgebung. 61
Z.B. KV Solothurn: Art. 40 Abs. 2.
62
K V Solothurn: Art. 71 Abs. 4.
63
So in Art. 14 K V Wallis: "Der Staat erläßt Vorschriften betreffend Arbeiterschutz und Sicherung der ArbeiterfSreiheit". Einen besonderen Aspekt trifft KV Uri. Im Rahmen seines Gemeinwohlartikels 44 werden als Ziele u. a. genannt: "Verhaltung arbeitsscheuer und liederlicher Personen zur Zwangsarbeit". 64 So findet sich in § 18 Verfassung des Kantons Basel-Landschaft (Entwurf 1979) im Rahmen der "Sozialrechte" ein "Recht auf Bildung, Arbeit und Wohnung" in Gestalt eines an den Staat gerichteten Verfassungsauftrags. Das subjektive Jedermann-Grundrecht in Sachen Arbeit ist in einen Verfassungsauftrag eingeschmolzen, dies aber so, daß zwar kein Recht auf Arbeit, aber wohl Aspekte des Grundrechts der Arbeit sichtbar werden (Urlaubsanspruch, Lohngleichheit etc.). Manche Parallelen, aber auch Varianten finden sich im V E Solothurn (1984). Ein Stück Verfassungsrecht der Arbeit klingt schon in der Präambel an ("... Gesellschaftsordnung anzustreben, die der Entfaltung und der sozialen Sicherheit des Menschen dient"). Weitere Aspekte kommen in Gestalt klassischer Grundrechtsgarantien ins Blickfeld (Art. 18 Abs. 1: "Jeder kann seinen Beruf, seine Ausbildungsstätte und seinen Arbeitsplatz frei wählen"; Abs. 3: "Die Ausübung des Streikrechts ist im Rahmen der Rechtsordnung gewährleistet"), aber auch in typisch leistungsstaatlicher Formulierung in Maßgabe-Form; so wenn es in Art. 25 heißt: "In Ergänzung der persönlichen Verantwortung und Initiative des einzelnen strebt der Kanton danach, daß im Rahmen seiner Zuständigkeit und der verfügbaren Mittel ... jeder seinen Unterhalt durch Arbeit zu angemessenen Bedingungen bestreiten kann und gegen willkürliche Entlassung geschützt ist, jeder für gleichwertige Arbeit gleichen Lohn erhält und in den Genuß bezahlter Ferien und ausreichender Erholungsmöglichkeiten gelangt". Obwohl hier schon der Staatsaufgaben-Aspekt angelegt ist, kehrt das Thema Arbeit im
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Exkurs II: Die Sache "Arbeit" in sozialistischen Verfassungen - ein Gegenbil
(l)Als "Kontrastprogramm" zu verfassungsstaatlichen Normierungen der Sache Arbeit liefern die sozialistischen Verfassungen reiches Anschauungsmaterial. Bei aller Notwendigkeit für westliche Verfassungsstaaten, sich in ihren Urkunden und ihrer lebenden, materiellen Verfassung der vielseitigen Aspekte der Arbeit bewußt zu werden: Arbeit ist nur ein Gesichtspunkt. Andere Strukturprinzipien verfassungsstaatlicher Verfassungen bleiben gleichermaßen wesentlich: etwa Freiheit, andere Aspekte der Menschenwürde, Pluralismus, Kunst, Wissenschaft und Kultur im ganzen, so offenkundig ihr Zusammenhang mit "Arbeit" ist Für die Texte sozialistischer Verfassungen ist demgegenüber kennzeichnend, daß Arbeit zum "allgegenwärtigen" Strukturelement, ja "Supertitel" wird. Sie überzieht und durchdringt fast alle Regelungsbereiche der Verfassungsurkunden: von der Präambel über die Staatsform- und Staatszielbestimmungen sowie die Grundrechte bis zu den Erziehungszielen. Viele Einrichtungen des westlichen Verfassungsstaates, etwa die Volkssouveränität, der Staatsbegriff etc. werden auf die "Arbeit" hin umgedacht und umgeschrieben bzw. "umgebogen". Arbeit wird zu einem archimedischen Punkt der Gesamtverfassung der sozialistischen Länder stilisiert: auf Kosten des status negativus grundrechtlicher Freiheiten (Arbeit wird zur Pflicht), auf Kosten auch des politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Pluralismus, auf Kosten vor allem des Eigentums Privater, das zu bloß "persönlichem Eigentum" degradiert und den sozialistischen Eigentumsformen nachgeordnet wird. Der Titel "Arbeit" vagabundiert nahezu in allen Regelungsbereichen der Verfassung, er wird - vom marxistisch-leninistischen Ansatz her konsequent - zu einer Art Superverfassung und durchdringt "totalitär" fast alle Teilbereiche. Gerade dies aber ist nicht Anliegen der hier verfolgten Aktualisierung des "Verfassungsrechts der Arbeit". Es soll nur in seiner heutigen wirklichen Bedeutung offengelegt, aber nicht verabsolutiert werden: Das Verfassungsrecht der Arbeit nach Maßgabe verfassungsstaatlicher Verfassungen bleibt in Text und Kontext in unüberbrückbarer Distanz zu sozialistischen Regelungen! Die folgende Detailanalyse mag insofern als "Warnung" dienen: das "Verfassungsrecht der Arbeit" ist ernst
Rahmen des Abschnitts "Staatsaufgaben" bzw. des Unterabschnitts "Soziale Sicherheit" noch einmal wieder: Art. 98 Arbeit: "Abs. 1 Der Kanton erläßt im Rahmen des Bundesrechts Vorschriften über das Arbeitsverhältnis und den Schutz der Arbeitnehmer. Abs. 2 Er trifft Vorkehren zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit und zur Milderung ihrer Folgen. Abs. 3 Das Gesetz regelt den Anspruch auf bezahlte Ferien." Spätestens hier wird erkennbar, daß im Begriff der "sozialen Sicherheit" i. S. der Präambel auch das lliema "Arbeit" enthalten ist. Zu "Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen" meine Bayreuther Antrittsvorlesung, in: FS Broermann, 1982, S. 211 ff. - hier Nr. 8.
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II. Inhalte
zu nehmen, aber es darf andere Strukturprinzipien und Verfassungsgüter nicht verdrängen und es darf nicht die offene Gesellschaft freier und gleicher Bürger zur geschlossenen privilegierten Gruppe allein der "Werktätigen" pervertieren. (2) Im einzelnen: (a) Schon in den Präambeln mancher sozialistischer Verfassungen 65 wird Arbeit, werden die Arbeiter als "Werktätige" zum übergeordneten Bezugspunkt bzw. "Subjekt" gemacht. Gemäß der Präambel Albaniens ζ. B. ist "im sozialistischen Albanien die Arbeiterklasse die führende Klasse des Staates und der Gesellschaft", ist die "freie Arbeit freier Menschen der entscheidende Faktor der Blüte des sozialistischen Vaterlandes geworden". Mitunter wird in den Präambeln Geschichte dargestellt66 oder die Zukunft entworfen 67. (b) Die klassische Volkssouveränität wird "umgeschrieben": so wenn gem. Art. 5 Verf. Albanien die gesamte Staatsmacht in der Sozialistischen Volksrepublik Albanien vom werktätigen Volk ausgeht und ihm gehört, es in Art. 1 Abs. 2 Verf. Polen heißt: "In der Volksrepublik Polen gehört die Macht dem werktätigen Volk in Stadt und Land", oder nach dem Einführungsteü der Verf. Jugoslawiens von der "sozialistischen föderativen Gemeinschaft der arbeitenden Menschen" die Rede ist, was als Hinweis auf die Arbeit als Legitimationsgrundlage für die politische Machtausübung zu sehen ist68. 65
Zit. nach G. Brunner / B. Meissner (Hrsg.), Verfassungen der kommunistischen Staaten,
1980. 66
Ζ. B. Bulgarien: Sieg, errungen durch die "Arbeiterklasse", Aufbau durch die "heldenhafte Arbeit des freien Volkes". - Präambel DDR (1974): "In Fortsetzung der revolutionären Traditionen der deutschen Arbeiterklasse". - Präambel Kuba: "Wir, Kubanische Bürger, Erben und Fortführer der schöpferischen Arbeit unserer Vorfahren ..." - Präambel Polen: "Das polnische werktätige Volk kämpfte ... gestützt auf das Bündnis der Arbeiter und Bauern". 67 Präambel Bulgarien: "... durch unsere Arbeit das sozialistische Eigentum vermehrt wird". Präambel Volksrepublik China: "Wir müssen die ... auf dem Bündnis der Arbeiter und Bauern beruhende revolutionäre Einheitsfront konsolidieren und entwickeln". - Der lange Einführungsteil der Verf. Jugoslawien nimmt fast in jedem Absatz der "Grundsätze" auf die "Gemeinschaft der arbeitenden Menschen", die Arbeiterklasse, Fragen der Arbeit, die Arbeiter Bezug. - Gelegentlich findet sich ein präambelartiger Satz in einem Verfassungsartikel (z. B. Art. 27 Abs. 1 Nordkorea: "Die werktätigen Massen sind die Schöpfer der Geschichte"). 68 C. Höcker-Weyandy in: Brunner / Meissner, aaO, S. 126. Vgl. auch Art. 1 Jugoslawien: "... gegründet auf die Macht und die Selbstverwaltung der Arbeiterklasse und aller arbeitenden Menschen". S. auch Art. 88 Jugoslawien: "Die Arbeiterklasse und alle arbeitenden Menschen sind die Träger der Macht und der Verwaltung der übrigen gesellschaftlichen Angelegenheiten". - Art. 1 Kuba: "Die Republik Kuba ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern sowie aller Handund Geistesarbeiter". Art. 4 ebd.: "In der Republik Kuba gehört alle Gewalt dem arbeitenden Volk, das sie durch die Versammlungen der Volksmacht und weitere Staatsorgane, die sich von ihnen ableiten, oder unmittelbar ausübt." - Der arbeitende Mensch, die Arbeiterklasse dominiereren auch Geschichte, Gegenwart und Zukunft der UdSSR, wie sie deren Verfassungspräambel von 1977 sieht. Gleiches gilt für die Vorweg-"Erklärung" in der Verf. der Tschechoslowakei ("Die Gesellschaftsordnung, für die ganze Generationen unserer Arbeiter und übrigen Werktätigen gekämpft
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Der Staat wird von den Werktätigen bzw. der "Partei der Arbeit" her konzipiert 69. Das wirkt sich auch auf die Staatsziele aus70. Vereinzelt ist sogar die Verfassung im ganzen in den Dienst des arbeitenden Volkes gestellt71 oder die Gesetzgebung wird an den Interessen der Werktätigen ausgerichtet72, ähnlich die Gerichtsbarkeit 73. (c) Vor allem aber wird der Grundrechtskatalog im ganzen oder in Teilen "umgeschrieben" auf die Sache Arbeit. Zum einen in Gestalt einer Normierung des nRechts auf Arbeit" 1* - es figuriert sogar vor dem "Recht auf freie Berufswahl"75 - , oft hinzugefügt ist aber auch die Pflicht zur Arbeit 16: "Die Arbeit ist Recht, Pflicht und Ehrensache eines jeden Bürgers" (Art. 19 Ziff. 1 Polen). Die Präponderanz der Arbeit formuliert Art. 19 Abs. 2 S. 2 CSSR: "Daher ist Arbeit zum Wohl der Gesamtheit die wichtigste Pflicht und das Recht auf Arbeit das wichtigste Recht jeden Bürgers". Als Konnexgarantien figurieren das "Recht auf Erholung nach der Arbeit" 77, die Rechtegarantie für Gewerkschaften (ζ. B. Art. 44 DDR [1974]), das sozialistische Arbeitsrecht 78, Arbeitsschutz und Arbeitssicherheit (Art. 18 Abs. 2 Rumänien), Entlohnung nach "Quantität und Qualität der geleisteten Arbeit" (§ 55 Abs. 1 Ungarn). Speziell das - persönli-
haben". Bildung und Kultur werden Gemeingut aller Werktätigen. "... Die befreite menschliche Arbeit wurde zum Grundfaktor in unserer ganzen Gesellschaft"). 69 Albanien, Art. 2: "Die Sozialistische Volksrepublik ist ein Staat der Diktatur des Proletariats, der die Interessen aller Werktätigen vertritt und verteidigt". Art. 3 ebd.: "Die Partei der Arbeit Albaniens, die Vorhut der Arbeiterklasse, ist die alleinige führende politische Kraft des Staates und der Gesellschaft". - Ähnlich Art. 1 und 2 Volksrepublik China. - Art. 1 Abs. 2 Rumänien: "Staat der Werktätigen in Stadt und Land"; Art. 2 Abs. 2: "Die Macht des Volkes gründet sich auf das Arbeiter- und Bauern-Bündnis". - § 2 Abs. 2 Ungarn: "In Ungarn gehört alle Macht dem werktätigen Volk". 70 Ζ. B. Art. 8 Kuba: "Der sozialistische Staat a) verwirklicht den Willen der arbeitenden Bevölkerung ... schützt die schöpferische Arbeit des Volkes". - Art. 28 Abs. 2 Nordkorea: Verstärkung der "Arbeitsdisziplin". - Art. 48 Nordkorea: Festigung der "Gesundheit der Werktätigen". Art. 5 Ziff. 6 Polen: Beseitigung der Unterschiede zwischen körperlicher und geistiger Arbeit. 71 Art. 9 Abs. 1 Kuba: "Die Verfassung und die Gesetze des sozialistischen Staates sind juristischer Ausdruck der sozialistischen Produktionsverhältnisse und der Interessen des Willens der arbeitenden Bevölkerung". 72 Nach Art. 17 Korea spiegeln die Gesetze der koreanischen Demokratischen Volksrepublik "den Willen und die Interessen der Arbeiter, Bauern und des ganzen werktätigen Volkes wider". Art. 20 Ziff. 2 Polen: "Der Sejm als höchster Willensträger des werktätigen Volkes in Stadt und Land verwirklicht die souveränen Rechte des Volkes". 73
Z. B. Art. 217, 218, 229 Jugoslawien.
74
Z. B. Art. 44 Albanien; Art. 24 Abs. 1 DDR (1974).
75
So in Art. 40 Abs. 1 und 2 Bulgarien; Art. 56 Abs. 1 und 2 Nordkorea.
76
Z. B. Art. 44 Abs. 2 Albanien; Art. 59 Bulgarien; Art. 69 Nordkorea.
11
Art. 44 Abs. 1 Albanien.
78
Art. 68 Ziff. 2 S. 3 Polen.
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II. Inhalte
che - Eigentum wird wesentlich von der Arbeit her gedacht79. Manche Grundrechte werden von der Arbeit her konzipiert, etwa allgemein von vornherein nur den "Werktätigen" zugesprochen bzw. nur "im Einklang mit den Interessen des werktätigen Volkes" gewährleistet80 oder speziell auf die Arbeit umgeschrieben, so die Handels- und Gewerbefreiheit^\ so nach Art. 64 Verf. Jugoslawien die "Freiheit der selbständigen persönlichen Arbeit mit Mitteln im Eigentum von Bürgern" 82. Mitunter wird der ganze Mensch von der Arbeit her determiniert 83»84 oder Einzelgrundrechte, so nach Art. 168 Abs. 1 Verf. Jugosla("von Interesse für sein Leben und seine Arwien die Informationsfreiheit 85 beit") . (d) Wie zentral die Arbeit in sozialistischen Verfassungen wird, zeigt die Rolle, die sie als Erziehungsziel der Form und Sache nach spielt86. Sogar die 79 Art. 23 Abs. 2 Albanien: "Persönliches Eigentum sind: die Einkünfte aus Arbeit und aus anderen gesetzlichen Quellen, das Wohnhaus ...". - Art. 21 Abs. 4 Bulgarien: "Das durch Arbeit und auf andere gesetzmäßige Weise erworbene persönliche Eigentum, einschließlich der Ersparnisse, genießt den Schutz des Staates". - Art. 22 Abs. 2 Nordkorea: "Das persönliche Eigentum der Werktätigen bildet sich durch sozialistische Verteilung nach der geleisteten Arbeit...". Art. 12 S. 2 Kambodscha: "... jeder Arbeiter ist Eigentümer der Fabriken, jeder Bauer ist Eigentümer der Felder ... Arbeitslosigkeit existiert im demokratischen Kambodscha nicht". - Art. 31 Jugoslawien: "Die arbeitenden Menschen, die in persönlicher Arbeit selbständig und berufsmäßig eine künstlerische oder eine andere kulturelle Tätigkeit ausüben, haben im Prinzip die gleiche gesellschaftlich-ökonomische Stellung und grundsätzlich die gleichen Rechte und Pflichten wie die Arbeiter in Organisationen der assoziierten Arbeit". - Art. 13 Abs.l UdSSR· "Die Grundlage des persönlichen Eigentums der Bürger der UdSSR bilden die Arbeitseinkommen". - Art. 10 Abs. 1 CSSR: "Das persönliche Eigentum der Bürger an Gebrauchsgegenständen ... sowie an Ersparnissen, die durch Arbeit erworben wurden, ist unverletzlich". 80
So Art. 28 CSSR.
81
Vgl. Art. 25 Bulgarien: "Bürger dürfen mittels ihrer persönlichen Arbeit und der Arbeit ihrer Familienangehörigen unter den gesetzlich festgelegten Bedingungen eine landwirtschaftliche, gewerbliche oder andere wirtschaftliche Tätigkeit ausüben". 82 Art. 22 Abs. 1 Kuba: "Das persönliche Eigentum an den aus eigener Arbeit herrührenden Einkünften und Ersparnissen, an der rechtmäßig erworbenen Wohnung sowie an anderen Gütern und Gegenständen ..., wird garantiert". 83 Art. 11 Jugoslawien: "Die Arbeit und die Arbeitsergebnisse bestimmen auf der Grundlage gleicher Rechte und Verantwortung, die materielle und gesellschaftliche Stellung des Menschen oder Eigentümers". 84
S. auch Art. 31 Jugoslawien.
85
S. auch Art. 53 Kuba: "Rechte der Versammlung, Kundgebung und Vereinigung werden durch die Hand- und Geistesarbeiter, die Bauern ... und andere Schichten der arbeitenden Bevölkerung ausgeübt". Nach Art. 67 Ziff. 1 Polen stärkt und erweitert die Volksrepublik Polen die "Rechte und Freiheiten der Bürger, indem sie die Errungenschaften des werktätigen Volkes festigt und mehrt". - § 14 Abs. 3 Ungarn: "Die Staatsbürger dienen durch ihre Arbeit, durch ihre Teilnahme an Arbeitswettbewerben, durch Steigerung der Arbeitsdisziplin und durch Vervollkommnung der Arbeitsmethoden, der Sache des sozialistischen Aufbaus." 86
Nach Art. 32 Albanien entwickelt der Staat "eine breite ideologische und kulturelle Tätigkeit zur kommunistischen Erziehung der Werktätigen, zur Heranbildung des neuen Menschen". - Art. 39 Abs. 2: "Erziehung zur Arbeit"; Art. 25 UdSSR: Vorbereitung der Jugend auf die Arbeit; Art. 24
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Erwachsenen sind via Gerichte Gegenstand der Erziehung87. Arbeit prägt die ganze Sozialethik 88 Die Kultur wird voll auf die Arbeiter hin instrumentalisiert 89. (e) Die Wirtschaft wird ganz von der Arbeit her strukturiert. Das zeigen die Texte: Art. 29 Verf. Albanien: HDas gesamte wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben des Landes hat die Arbeit zur Grundlage. Die Arbeit ist die Hauptquelle zur Sicherung des Lebensunterhalts für jeden Staatsbürger". - Art 32 Verf. Bulgarien, Abs. 1: "Die Arbeit ist ein gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Grundfaktor". - Art. 19 Abs. 1 Verf. Kuba: In der Republik Kuba herrscht der sozialistische Grundsatz: "Von jedem nach seiner Leistungsfähigkeit; jedem nach seiner Arbeit" 90.
2. Die wissenschaftliche Integration der Beiträge des Tübinger Bandes in eine
M
Verfassungslehre der Arbeit"
Die historische und kontemporäre Rechtsvergleichung weit über das "Recht der Arbeit" hinaus bestätigt und verfeinert in vielem die soziologischen, wirtAbs. 3 CSSR: "Die gesamte Erziehung und das ganze Unterrichtswesen beruhen auf der wissenschaftlichen Weltanschauung und auf einer engen Verbindung der Schule mit dem Leben und der Arbeit des Volkes". 87
Vgl. Art. 125 Abs. 2 Bulgarien: "Die Gerichte erziehen die Bürger im Geiste ... der pflichtbewußten Einhaltung der Gesetze und der Arbeitsdisziplin". - Art. 34 CSSR verpfliehtet die Bürger, die Interessen des sozialistischen Staates und der Gesellschaft der Werktätigen wahrzunehmen. 88 Art. 10 Volksrepublik China: "Der Staat verwirklicht das sozialistische Prinzip: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen". Art. 13: Bildungsziel: "gebildeter Werktätiger mit sozialistischem Bewußtsein". - Art. 24 Abs. 3 DDR: "ständige Bildung und Weiterbildung der Bürger durch das einheitliche sozialistische Arbeitsrecht". - Art. 63 Kuba: "Jedermann ... ist verpflichtet, sich der Arbeitsdisziplin zu unterwerfen". 89 Art. 14 Abs. 1 S. 2 China: "Alle kulturellen Unternehmungen müssen den Arbeitern, Bauern und Soldaten und dem Sozialismus dienen". 90 Art. 16 Abs. 1 Jugoslawien: "Die Arbeiter in Organisationen der assoziierten Arbeit, die Tätigkeiten im Bereich der Erziehung und Bildung, der Wissenschaft, der Kultur, des Gesundheitsschutzes ... erwerben ein Einkommen durch den freien Austausch ihrer Arbeit mit der Arbeit der arbeitenden Menschen, deren Bedürfnisse und Interessen sie in diesem Bereich befriedigen". - Art. 64 Abs. 1 Jugoslawien: "Grundsatz des Eigentumserwerbs nach der Arbeit". - Art. 14 UdSSR: "Die Quelle des Wachstums des gesellschaftlichen Reichtums, des Wohlstandes des Volkes und jedes einzelnen Sowjetmenschen ist die von Ausbeutung freie Arbeit des Sowjetmenschen". - Art. 7 Abs. 3 CSSR: "Arbeit ist in der sozialistischen Gesellschaft Arbeit zum Vorteil des Ganzen und gleichzeitig zum Vorteil des Werktätigen selbst". - § 14 Ungarn: "Die Arbeit ist die Grundlage der Gesellschaftsordnung der Ungarischen Volksrepublik". - Ähnlich Art. 21 Abs. 1 Vietnam: "Arbeit ist die Grundlage der Entwicklung der Volkwirtschaft und des Anstiegs des wirtschaftlichen und kulturellen Lebensstandards". Abs. 3 ebd.: "Der Staat unterstützt die Erfindungsgabe und den Enthusiasmus im Schaffen der Arbeiter der Faust und der Arbeiter der Stirn".
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II. Inhalte
schaftsgeschichtlichen und philosophischen Ergebnisse dieses Bandes. Das sei in Stichworten zusammengefaßt: a) Arbeit und Eigentum stehen im inneren und äußeren, sachlichen und funktionellen Zusammenhang, so gegensätzlich sie sich in der Verfassungsund Sozialgeschichte oft darstellen {Schwartländer, S. 3; Klages, S. 18; Ryffel, S. 212). Kulturell gehören beide in einen großen Kontext, teils in Rivalität, teils in Konkurrenz, teils in Komplementarität. Die Kulturgeschichte variiert dieses Verhältnis ständig neu. Das Verfassungsrecht, mit dem einfachen Recht zusammengesehen, spiegelt wichtige Aspekte dieses Zusammenhangs91. b) In einem Verfassungsstaat wie der BR Deutschland intensiviert sich dieser Zusammenhang92. Eigentum "i. S. der Verfassung" und Arbeit "i. S. der Verfassung" konstituieren sich wechselseitig mit. Die Gegensätze und "Konkurrenzverhältnisse" zwischen Eigentum und Arbeit (stellvertretend für den "Kontrast" zwischen Individual- und Sozialrecht, dazu H. Henning, S. 42 ff.) werden abgebaut. Beide wachsen schon textlich zusammen. Verschränkungen werden sichtbar in Gestalt von "neuem" oder "Quasi-Eigentum" (Schwartländer, S. 3; Klages t S. 23) einerseits, dem besonderen Verfassungsschutz "erarbeiteten" Eigentums andererseits (Beispiele dazu in Anm. 91). Die Sozialbindungen des Eigentums verstärken sich im Interesse von Arbeitneh-
91 Der Zusammenhang von Eigentum und Arbeit (als "Arbeit" im Eigentum) kommt auch verfassungstextlich gelegentlich zum Vorschein: Art. 8 Verf. Württemberg-Baden (zit. nach B. Dennewitz [Hrsg.], Die Verfassungen der modernen Staaten, II. Bd., 1948), der Eigentumsartikel, lautet in Abs. 2: "Durch Arbeit und Sparsamkeit erworbenes Eigentum genießt besonderen Schutz". Das korrespondiert mit der hohen Bewertung der Sache Arbeit im Rahmen des Abschnitts "Sozial- und Wirtschaftsordnung". Hier wird Arbeit zur "sittlichen Pflicht" erklärt, unter den besonderen Schutz des Staates genommen, wird die Lohngleichheit garantiert (Art. 20). Art. 22 verlangt Schaffung eines Arbeitsrechts, das dem Arbeitnehmer einen "gerechten Lohn, ausreichende Freizeit und Urlaub gewährleistet". Die korporativen Aspekte (Mitwirkung und Streikrecht, Art. 23) und die staatlichinstitutionellen (Sozialversicherung, Art. 24) sind eingehend geregelt. Nach dem gleichen Grund(1947, Art. 89 ff.) strukturiert. Noch profilierter in muster war die Verf. Württemberg-Hohenzollern Sachen Verfassungsrecht der Arbeit ist die Verfassung Baden (1947). Nachdem schon in der Präambel das Leitziel "soziale Gerechtigkeit" vorangestellt ist, findet sich bereits im ersten Hauptabschnitt "Grundrechte" ein "Recht auf Hilfe" für den Arbeitsunfähigen oder Arbeitslosen (Art. 14 Abs. 1). Im Eigentumsartikel 15 wird das "durch Arbeit und Sparsamkeit erworbene Eigentum" unter besonderen Schutz gestellt und im Abschnitt "Arbeit und Wirtschaft" finden sich die seit Weimar klassischen Normierungen: Recht auf Arbeit und sittliche Pflicht zur Arbeit (Art. 37 Abs. 1, 2), aber auch: "volkswirtschaftliches und soziales Ziel", allen Schaffensfähigen und Schaffenswilligen eine für sie geeignete und auskömmliche Arbeit zu sichern (Art. 37 Abs. 3), ferner Arbeitsschutzartikel (Abs. 4), die korporative Seite (Koalitionsfreiheit, Streikrecht der Gewerkschaften, Mitbestimmung: Art. 38 und 39) sowie der Gesetzgebungsauftrag, ein Arbeitsrecht nach bestimmten Maximen zu schaffen (Art. 41: gerechter Lohn, ausreichende Freizeit und Urlaub). Die "Arbeitsbedingungen" (Art. 41 Abs. 2) müssen "so beschaffen sein, daß sie die Gesundheit, das Familienleben und die kulturellen Ansprüche des Arbeitnehmers sichern...". 92 Vgl. schon F. Böhm, Der Zusammenhang zwischen Eigentum, Arbeitskraft und dem Betreiben eines Unternehmens, in: FS Kronstein, 1967, S. 11 ff.
21. Verfassungslehre der Arbeit
549
mern, zugleich kommt es zu Formen von "mehr Eigentum für alle" aus Arbeit. Verfassungsstaatliche Verfassungen bringen diesen Zusammenhang von Arbeit und Eigentum zunehmend dadurch zum Ausdruck, daß sie beide im selben Abschnitt regeln, wobei mitunter der Eigentumsartikel aus dem klassischen Grundrechtskatalog zum Arbeits-Verfassungsrecht "wandert". Zum Teil figuriert die Sache Arbeit, dann hier sogar "aufgewertet", vor dem Eigentum (Beispiele bei Anm. 52). Das "Verfassungsrecht der Arbeit" "wächst", ohne jedoch wie in sozialistischen Verfassungen (dazu Westen, S. 135 ff.) "allgegenwärtig" zu werden - und werden zu dürfen: es sprengte sonst die "Verfassung des Pluralismus". c) Nicht nur Eigentum, auch und gerade die "Arbeit" ist mit "menschlichen Wesensbestimmungen" (so Klages, S. 18, unter Hinweis auf/. Locke) in Verbindung zu bringen. Beide, Eigentum und Arbeit, gehören zur "conditio humana" {Schwartländer, S. 3, zur personalen Freiheit und Menschenrechtswürde - Freiheit zu arbeiten als "Persönlichkeitsentfaltung", Ramm, S. 93, s. auch Brugger, S. 128; "menschenbildender Charakter der Arbeit": Ryffel, S. 215); darum ist für beide nach einer "möglichen Einheit" als Menschenrecht zu fragen (H. Ryffel, S. 261 ff.). Der kulturanthropologische Ansatz ist heute letztlich auf der Ebene einer als Kulturwissenschaft entwickelten (aber ideal- und realtypisch von sozialistischen Verfassungen unterschiedenen) Verfassungslehre zu erfüllen 93. Die wechselvolle "Verfassungsgeschichte der Arbeit und des Eigentums" allein sozia/wissenschaftlich "nachzuschreiben", wäre zu eng: zu wenig Gewicht hätten dabei die folgenreichen religiösen und theologischen Berufsauffassungen (dazu Fürstenberg, S. 56 f., auch Β aruzzi, S. 192 ff., zugleich mit einem "theologischen Berufsschema", S. 194 ff., zu eindimensional würde die "idealistisch-ganzheitliche Berufsauffassung" "erklärt", die die "gesamte Bildungsschicht der deutschen Gesellschaft" beeinflußt und bis heute fortwirkt {Fürstenberg, S. 57). d) Ist Arbeit - zusammen mit dem Eigentum - in dieser Weise im Zentrum der Identität des heutigen Menschen und Bürgers und seiner Freiheit angelegt, so hat dies im Verfassungsstaat Konsequenzen für viele Teilbereiche der Verfassungstexte und für die Verfassung im ganzen. Es ist also nicht nur punktuell nach der Normierung eines Rechts auf Arbeit zu fragen, sondern ganzheitlich (entsprechend variationenreich sollten die Normierungstechniken und -inhalte gestaltet sein): Arbeit - von vorneherein im kulturellen Zusammenhang bzw. "Kon-Text" mit Menschenwürde, Freiheit und Eigentum zu sehen - hat einen
93 Dazu meine Studie "Verfassungslehre als Kulturwissenschaft", 1982. Eine Ausarbeitung für Eigentum und Arbeit auch in meinem Baseler Vortrag (1983): Vielfalt der Property Rights und der verfassungsrechtliche Eigentumsbegriff, AöR 109 (1984), S. 36 ff. - hier Nr. 20.
550
II. Inhalte
Platz im Rahmen der Erziehungsziele und der Staatsaufgaben, d. h. kompetenziell einerseits, grundrechtlich in Gestalt eines (vieldimensionalen) Grundrechts der Arbeit mit wKonnexgarantienH wie Gesundheitsschutz, gerechte Arbeitsbedingungen etc. (vgl. auch Ramm, S. 96) andererseits. Die Konzeption eines komplex strukturierten Grundrechts der Arbeit 94 relativiert die (vermeintlich "klassische") Dichotomie von Freiheitsrechten und sozialen Grundrechten95, so wie Aspekte der Staatsaufgabe "Arbeit" und "Arbeitsschutz" in grundrechtliche Dimensionen hinüber reicht. Dieses Verständnis des Grundrechts der Arbeit und der Staatsaufgabe Arbeit als "Etappen" oder "Stadien" auf einer ganzen Skala von Normierungsinhalten und -techniken ermöglicht letztlich auch eine differenzierte Zusammenschau der Sache Arbeit mit anderen "Themen" verfassungsstaatlicher Verfassungen (insonderheit mit Menschenwürde, Freiheit und Eigentum) sowie des Arbeiters als Menschen mit seinen und seiner Mitmenschen "Parallel-Grundrechten" (ζ. B. denen des Eigentümers). Dieser "Verbund" ist letztlich (und erstlich!) in dem auf Freiheit, Eigentum und Arbeit gerichteten Gesellschaftsvertrag hergestellt und immer neu zu schaffen 96. Sozialethisch wird die viel berufene "Solidarität" so eingelöst: ebenso "praktisch" wie "theoretisch". e) So hoch die Sache Arbeit und die Person des Arbeitnehmers damit verfassungstheoretisch piaziert wird und so hochrangig alle über die einzelnen Verfassungstextstellen verteilten Aspekte des Verfassungsrechts der Arbeit heute entwickelt sind (von den Präambeln über Erziehungsziele, - sie enthalten ein "Ethos der Arbeitsgesellschaft", vgl. die Formel von Ramm, S. 90), über Grundrechtskataloge, Staatsaufgabennonnen und Abschnitte zu Wirtschaft über Kultur (dies beim "geistigen Eigentum" bzw. bei geistiger Arbeit!) - die auf Eigentum und Arbeit bezogene Leistung im verfassungsstaatlichen Alltag wird vor allem vom einfachen Recht und seinen Interpreten erbracht: "Konkretisierungen des Rechts auf Arbeit" finden sich so im Arbeitsrecht (Thiele, S. 97) höchst vielfaltig, aber auch im sonstigen einfachen Recht, ζ. B. im Sozialrecht, Steuerrecht, etc. Beteiligt hieran sind alle in der "offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten". Daß sie es sind und in einer zukunftsweisenden Art sein können, belegt der treffliche vorliegende Band, der viele Einzelwissenschaften über die "Sache Eigentum und Arbeit" in ein weiterführendes Kulturgespräch gebracht hat
94
Dazu mein Beitrag "Arbeit als Verfassungsproblem", JZ 1984, S. 345 (350 ff.).
95
S. schon meinen Regensburger Mitbericht: Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 43 bes. 90 ff. 96
Dazu mein Vorschlag in JZ 1984, S. 345 ff. und in JIR1983, S. 474 (482).
21. Verfassungslehre der Arbeit
551
Ob dieses Kulturgespräch dazu führt, einen Weg zu finden aus der im 17. Jahrhundert begonnenen theoretischen Verherrlichung 97, ja Verabsolutierung der Arbeit, die· jetzt als "Krise der Arbeitsgesellschaft" an ihre Grenzen stößt98, bleibe hier offen. Sicherlich muß das Bewußtsein dafür wachsen, daß es auch "höhere" und "sinnvolle" Tätigkeit jenseits bezahlter Arbeit gibt. Der westliche Verfassungsstaat steht hier vor noch kaum erkennbaren Herausforderungen, aber auch Chancen. Eine kulturell bedingte Wandlung des Arbeitsbegriffs könnte so just in dem Augenblick akut werden, da die Verfassungslehre Arbeit als 7ei/problem formuliert hat.
97
Ein oft zitierter Klassikertext zur "Theologie der Arbeit" ist ein dictum von Zwingli, in: "Ermahnung an die Eidgenossen" (1524): "Und doch ist die Arbeit ein so göttlich Ding; hütet vor Mutwillen und Lastern, gibt gute Frucht, daß der Mensch ohne Sorgen seinen Leib reichlich speisen mag, nicht fürchten muß, daß er sich mit dem Blut der Unschuldigen speise und beflecke. Sie macht den Leib frisch und stark und verzehrt die Krankheiten, so aus dem Müßiggang erwachsen". 98 Dazu H. Arendt, Vita activa, 1960 bes. S. 11 f. - Ein Klassiker seines Gegenstands ist auch das Buch von T. Vehlen, Theorie der feinen Leute, 1958 ("The Theory of Leisure Class").
36 Häberle
22. "Wirtschaft als Thema neuerer verfassungsstaatlicher Verfassungen* Vorbemerkung Eine interdisziplinäre "Grundwerte-Diskussion" in Sachen "Wirtschaft und Verfassung" kommt in unseren Tagen nur mühsam in Gang. Indes hätten Staatsrechtslehre und Nationalökonomie auf der Basis der Klassikertexte von A. Smith bis W. Röpke, F. Böhm und A. Miiller-Armack allen Grund hierzu, zumal die zeitgenössischen Werke eines M. Olson, /. M. Buchanan und F. A. v. Hayek ebenso neue Chancen eröffnen wie die Bemühungen um eine "ökonomische Analyse des Rechts" und die "Wirtschaftsethik". Die westlichen Demokratien bzw. Verfassungsstaaten stehen ihrerseits weltweit vor der Herausforderung "Ökologie und Ökonomie" sowie der Armut der Entwicklungsländer und ihrem Ruf nach einer "neuen Weltwirtschaftsordnung", und selbst die sozialistischen Staaten des Ostblocks ringen um die Sache Wirtschaft in Gestalt "kleiner" Wirtschaftsreformen. Nicht nur in der bundesdeutschen öffentlichen Meinung, auch in den Einzelwissenschaften gibt es Beispiele für "Ökonomismus", d.h. eine "materialistische" Überschätzung der Bedeutung von Wirtschaft und Wirtschaften für den Menschen und den demokratischen Verfassungsstaat bzw. seiner Kultur einerseits und einer "idealistischen" Geringschätzung des Ökonomischen andererseits. Hier ist ein Mittelweg zu suchen. Der viel bemühte "homo oeconomicus" kann nur ein Aspekt des "Menschenbildes" eines Verfassungsstaates wie des GG sein, doch setzt dieser auch auf den "Eigennutz" des Bürgers. "Verfassungsstaat als Typus" ist dabei die Res Publica, die auf der Menschenwürde als Prämisse aufbaut und die sich demokratisch legitimiert (u.a. mit den Elementen: Grundrechte, Gewaltenteilung, sozialer Rechts- und Kulturstaat, Mehrparteiensystem). Er bildet die "Quintessenz" einer Jahrhunderten zu verdankenden Entwicklung, in der er sich in Nordamerika und Alteuropa als "kulturelle Errungenschaft" ersten Ranges herausgebildet hat. Klassische Namen und Daten grundieren und symbolisieren ihn: J. Locke, Montesquieu, die "Federalist-Papers" der USA, Rousseau und L Kant bzw. die Verfassungstexte von 1776, 1789, 1848/49, 1919 etc. Die damals und bis heute geschriebenen
*
JURA 1987, S. 577 ff.
22. "Wirtschaft"neueren Verfassungen
553
Verfassungen, Ergebnis weltweiter Vorgänge kultureller Produktion und Rezeption, sind Ausdruck einer teils schon erreichten, teils erhofften Entwicklung der "Verfassung als Kulturzustand". Die Staatsrechtslehre - juristische Text- und Kulturwissenschaft - tut gut daran, ihre Grundsatzfragen immer wieder vergleichend an den gewandelten Verfassungstexien aufzuarbeiten, auch am Beispiel "Wirtschaft". Wie die meisten Probleme des Verfassungsstaates präsentiert sich das Thema "Wirtschaft" im "Laufe der Zeit" in verändertem Text-Gewand: gemäß der heutigen Entwicklungsstufe des Verfassungsstaates. Ehe die Staatsrechtslehre und Nationalökonomie, vielleicht in Erinnerung an die Tradition der "Staatswissenschaften", über ihre Theoriefragen erneut ins Gespräch kommen, muß der ihnen gemeinsame "Boden", das reiche Entwicklungsbild der miteinander verglichenen neueren positiven Verfassungstexte freiheitlicher Demokratien "in Sachen Wirtschaft" analysiert und kommentiert werden. Die Verfassungsentwicklungen auf diesem Feld sind mehr als nur "Stoff" für weitere Forschungen, die ein Stück "Einheit" der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, nicht nur in Bayreuth, (wieder)begründen könnten.
I. Bestandsaufnahme Der Vergleich der Verfassungstexte in Sachen Wirtschaft: extensive und tensive Wachstums- und Differenzierungsprozesse, Mischstrukturen
1. Die - variantenreiche - systematische Plazierung von
M
Wirtschaftsartikeln M
Die Systematik, in der verfassungsstaatliche Verfassungen Aussagen zur Sache Wirtschaft piazieren, bildet einen ersten, formalen, bei näherer Betrachtung auch inhaltlich ergiebigen "Schlüssel" mit Hilfe dessen dem diffus erscheinenden "wachsenden" Textmaterial eine Strukturierung abgerungen werden kann. Dabei ist der Begriff "Wirtschaft" weit zu nehmen bzw. zu verfolgen, ζ. B. bis ins Finanz- und Steuerverfassungsrecht hinein. Im ganzen ergibt sich ein variantenreiches Bild der wachsenden Anreicherung der Verfassungstexte um wirtschaftsrechtliche und -politische Themen. Die neuen Verfassungen nach 1945, vor allem in den (west)deutschen Ländern, nehmen die "Sache Wirtschaft" in einer im Vergleich mit den Weimarer
554
II. Inhalte
Zä/uferverfassungen 1 auffälligen Weise ernst - freilich wirkt sich hier das Textbild schon der WRV (1919) aus*. So reichert die Verfassung Bremen (1947)3 bereits ihre Präambel mit dem Satz an, die Bürger dieses Landes seien "wülens, eine Ordnung des gesellschaftlichen Lebens zu schaffen, in der der wirtschaftlich Schwache vor Ausbeutung geschützt und allen Arbeitswilligen ein menschenwürdiges Dasein gesichert wird". Die Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg (1952)4 baut das Thema "Wirtschaft" in ihrem 'Vorspruch" in den Worten aus: "Durch Förderung und Lenkung befähigt sie (sc. die Freie und Hansestadt Hamburg) ihre Wirtschaft zur Erfüllung dieser Aufgaben (sc. "besondere Aufgaben gegenüber dem deutschen Volk", "Mittlerin zwischen allen Erdteilen und Völkern im Geiste des Friedens") und zur Deckung des wirtschaftlichen Bedarfs aller. Auch Freiheit des Wettbewerbs und genossenschaftliche Selbsthilfe sollen diesem Ziele dienen."5 Ein besonders hohes Ziel gießt der Vorspruch in den Satz: "Um die politische, soziale und wirtschaftliche Gleichberechtigung zu verwirklichen, verbindet sich die politische Demokratie mit den Ideen der wirtschaftlichen Demokratie". Nimmt man diesen Vorspruch normativ so ernst wie dies eine Verfassungslehre der Präambeln6 nahelegt, so könnte das Thema "Wirtschaft" in seinen Verbindungen zu den Grundstrukturen verfassungsstaatlicher Verfassungen (nämlich Demokratie, Gleichheit, soziale Gerechtigkeit, Sozialstaat i. S. der "Hilfe dem Schwachen") nicht stärker in den Kernbereich des Typus Verfassungsstaat integriert werden. Hamburg zeichnet sich hier vor anderen
1 Texte nach O. Ruthenberg (Hrsg.), Verfassungsgesetze des Deutschen Reiches und der Deutschen Länder, 1926. 2 S. ihren großen vorbildlichen Fünften Abschnitt "Das Wirtschaftsleben": Art. 151 bis 165, mit einer Menschenwürdeklausel in Art. 151 Abs. 1, wirtschaftlichen Grundrechten wie Handelsund Gewerbefreiheit bzw. Vertragsfreiheit in Art. 151 Abs. 3 bzw. Art. 152 Abs. 1, mit der "Wanderung" der Eigentumsgarantie aus dem klassischen Grundrechtskatalog in den Teil Wirtschaft ( Art. 153), mit Bodenreformartikel (Art. 155), Arbeitskraftschutz (Art. 157), einem Urheberrechtschutz (Art. 158), Koalitionsfreiheit (Art. 159) und einer Mittelstandsförderung (Art. 164). S. auch Art. 163 Abs. 1 mit dem Satz 1: "Die Arbeiter und Angestellten sind dazu berufen, gleichberechtigt in Gemeinschaft mit den Unternehmern an der Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen sowie an der gesamten wirtschaftlichen Entwicklung der produktiven Kräfte mitzuwirken." 3
Zit. nach C. Pestalozza (Hrsg.), Verfassungen der deutschen Bundesländer, 2. Aufl. 1981.
4
Ebenso wie die folgenden geltenden Landesverfassungen zit. nach C. Pestalozza, ebd.
5
Derselbe Vorspruch stellt fest: "Die Allgemeinheit hilft in Fällen der Not den wirtschaftlich Schwachen und ist bestrebt, den Aufstieg der Tüchtigen zu fördern. Die Arbeitskraft steht unter dem Schutz des Staates". 6
Vgl. meinen Beitrag: Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, FS Broermann, 1982, S. 211 ff.-hier Nr. 8.
22. "Wirtschaft"neueren Verfassungen
555
(west)deutschen Länderverfassungen aus, obgleich sich auch bei ihnen Elemente von Wirtschaftsverfassungsrecht schon in den Präambeln finden 7. Im Ausland gibt es weitere neuere Beispiele für die hochrangige Plazierung des Themas "Wirtschaft" schon in Präambeln: so in Frankreich (Präambel Verf. vom 27.10.1946)8 in Gestalt der Verkündung "politischer, wirtschaftlicher und sozialer Grundsätze" wie der Pflicht und des Rechts der Arbeit, des Rechts von jedermann, "seine Rechte und Belange durch gewerkschaftliche Tätigkeit zu verteidigen" und des Streikrechts, auch der Sozialisierung9, und in der Präambel der Verf. Spanien (1978)10, in der die spanische Nation ihren Willen verkündet: "das demokratische Zusammenleben im Schutz der Verfassung und der Gesetze und im Rahmen einer gerechten Wirtschafts- und Sozialordnung zu gewährleisten" bzw. den "Fortschritt von Wirtschaft und Kultur zu fördern, um eine würdige Lebensqualität für alle zu sichern". Zum Teil wählen die Verfassunggeber den Weg, in Grundlagenartikeln am Anfang (und insoweit formal und inhaltlich "präambelnah") Aspekte der Wirtschaft zu normieren. Ζ. B. bringt Verf. Schweden (1974/76)11 eine generelle Staatszielbestimmung mit Grundrechtselementen (Kap. 1 § 2 Abs. 2: "Die persönliche, ökonomische und kulturelle Wohlfahrt des einzelnen soll grundsätzlich den Zweck der öffentlichen Wirksamkeit bestimmen"), und die Verfassung Portugals (1976 / 82)12 normiert in ihren einleitenden "grundsätzlichen Bestimmungen" als Ziel des Pluralismus (Art. 2), "den Übergang zum Sozialismus durch die Verwirklichung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Demokratie" zu gewährleisten13. 7 Vgl. Präambel Verf. Nordrhein-Westfalen (1950): "...erfüllt von dem Willen, die Not der Gegenwart in gemeinsamer Arbeit zu überwinden..., Freiheit, Gerechtigkeit und Wohlstand für alle zu schaffen..." - Vorspruch Rheinland-Pfalz (1947): "... von dem Willen beseelt, ... den wirtschaftlichen Fortschritt aller zu fördern". - Verf. Berlin (1950): "In dem Willen, ... Gemeinschaft und Wirtschaft demokratisch zu ordnen, dem Geist des sozialen Fortschritts ... zu dienen." - Verf. Baden-Württemberg (1953): "... von dem Willen beseelt, ... das Gemeinschaftsleben nach dem Grundsatz der sozialen Gerechtigkeit zu ordnen, den wirtschaftlichen Fortschritt aller zu fördern...". 8
Zit. nach P. C. Mayer-Tasch (Hrsg.), Die Verfassungen der nicht-kommunistischen Staaten Europas, 2. Aufl. 1975, S. 212 f. 9 "Jedes Vermögen und jedes Unternehmen, dessen Betrieb den Charakter eines nationalen öffentlichen Dienstes oder eines faktischen Monopols trägt oder erhält, muß Eigentum der Gesamtheit werden."
Zit. nach JöR 29 (1980), S. 252 ff. 11 Zit. nach JöR 26 (1977), S. 369 ff. 12 3
Zit. nach JöR 32 (1983), S. 446 ff.
1 S. auch Art. 9 (Grundlegende Staatsziele): u. a.: die zur Förderung der nationalen Unabhängigkeit erforderlichen "politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Voraussetzungen zu schaffen", "die Verwirklichung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte".
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II. Inhalte
Auf die iberischen Länder dürften Passagen der "Grundprinzipien" der Verfassung der italienischen Republik (1947)14 nicht ohne Eindruck geblieben sein15. Unbeschadet etwaiger in Präambeln bzw. einleitenden Grundsatzbestimmungen plazierter Aussagen zu Wirtschaftsfragen gibt es sowohl in deutschen als auch in ausländischen Verfassungen westlicher Demokratien Beispiele, die das Thema "Wirtschaft" allein oder im Verbund mit anderen Themen (wie "Arbeit" und "Soziales", später auch Umweltschutz, Gesundheitsrecht, Verbraucherschutz) in eigenen Abschnitten normieren. Die (westdeutschen Länderverfassungen nach 1945 sind hier besonders konsequent und einfallsreich. So kennt Verf. Bremen (1947) einen reichhaltigen Abschnitt ("Arbeit und Wirtschaft", Art. 37 bis 58) mit Bestimmungen zum staatlichen Arbeitssschutz (Art. 37 S. 2: "Jede Arbeit hat den gleichen sittlichen Wert"), zur Aufgabe der Wirtschaft (Art. 38 Abs. 1: Dienst am "Wohl des ganzen Volks"), zur Mittelstandsförderung (Art. 40), zum Verbot von Monopolen (Art. 41), zur Sozialisierung (Art. 42), zur Bodenreform (Art. 45), zum Streikrecht (Art. 51), zur Sozialversicherung (Art. 57) und zur Garantie des notwendigen Lebensunterhalts (Art. 58). Fällt hier schon auf, daß das Thema "Arbeit" der Wirtschaft vorangestellt ist16, so zeigen sich insofern Varianten, als dieser Teil bald in grundrechtlichem Gewand (so in Hessen 1946: "Soziale und wirtschaftliche Rechte und Pflichten"), teils im Rahmen der "Ordnung des sozialen Lebens" (so in Bremen) plaziert ist. Ein Blick in ausländische Verfassungsstaaten verrät ebenfalls eine Variabilität in der Systematik der Einordnung des Themas "Wirtschaft" in das Ganze und die Teile der Verfassungsurkunde 17. Die beiden neuen iberischen Verfas14
Zit. nach Mayer-Tasch, aaO, S. 314 ff.
15
Art. 1 Abs. 1: "Italien ist eine demokratische, auf die Arbeit gegründete Republik". Art. 3 Abs. 2: "Es ist die Aufgabe der Republik, die Hindernisse wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Art zu beseitigen, die die Freiheit und Gleichheit der Bürger tatsächlich begrenzen und die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und die wirksame Teilnahme aller Arbeitenden an der politischen und wirtschaftlichen Gestaltung des Landes verändern". S. auch die Grundpflicht politischer, wirtschaftlicher und sozialer Solidarität (Art. 2). 16 Anders Verf. Bayern (1946), vierter Hauptteil: "Wirtschaft und Arbeit", Art. 151 bis 177; demgegenüber Verf. Bremen (1947): "Arbeit und Wirtschaft". 17
Die Verfassung Italiens (1947) bringt im Rahmen von "Teil I Rechte und Pflichten der Staatsbürger" einen eigenen Untertitel "Wirtschaftliche Beziehungen", in dem sich teils Schutzklauseln (Art. 35: Arbeitsschutz), teils Grundrechte (Art. 38 Abs. 1: Sozialfürsorge; Art. 39: Streikrecht; Art. 41 Abs. 1: Freiheit der privatwirtschaftlichen Initiative; Art. 42: Eigentumsgarantie), teils Sozialisierungs- und Bodenreformbestimmungen (Art. 42 f.) oder Wirtschaftsförderungsartikel (Art. 45: Genossenschaftswesen; Art. 47: Förderung von Wohnungseigentum und landwirtschaftli-
22. "Wirtschaft"neueren Verfassungen
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sungen bauen das Thema "Verfassungsrecht der Wirtschaft" besonders stark aus. Die Verfassung Portugals setzt gleich zwei systematische Textschwerpunkte: In "Teil I Grundrechte und Grundpflichten" figuriert als Kapitel ΙΠ das Thema "Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und Pflichten", Stichworte sind hier das Recht auf Arbeit, Rechte der Arbeitnehmer, freie Entfaltung der Wirtschaftsinitiative von Privaten und Privateigentum (Art 59 bis 62) damit steht der grundrechtliche Aspekt des Wirtschaftsverfassungsrechts im Vordergrund; als großer eigener "Teil II - Wirtschaftsordnung" ist überdies ein eher objektivrechtlicher stark programmatischer Aspekt des Verfassungsrechts der Wirtschaft mit großer Bandbreite normiert 18. Die Verfassung Griechenlands (1975)19 formuliert in den "Übergangs- und Schlußbestimmungen" der Sache nach einen Wirtschaftsartikel (Art. 106) mit einem an den Staat gerichteten Auftrag, "die wirtschaftliche Tätigkeit im Lande" zu koordinieren und "die wirtschaftliche Entwicklung in allen Bereichen der nationalen Wirtschaft zu sichern". Eigenen Charakter hat der Satz (Art. 106 Abs. 2): "Die private wirtschaftliche Initiative darf nicht zu Lasten der Freiheit und der Menschenwürde oder zum Schaden der Volkswirtschaft entfaltet werden." So "mager" die Suche nach Wirtschaftsverfassungsrecht unter dem systematischen Aspekt ist: inhaltlich hat Art. 106 großes Gewicht, sucht er doch private wirtschaftliche Initiative, Freiheit, Menschenwürde und Volkswirtschaft auf einen "Nenner" zu bringen, in Konkordanz mit parallelen Grundsatzaussagen der Verfassung (zur Menschenwürde in Art. 2 2 0 und zur Freiheit21). Etwas zurückgenommen ist dieses im allgemeinen expandierende Textbild zur Wirtschaft in der neuen Verfassung der Niederlande (1983)22. chem Eigentum "durch die kleinen Sparer") finden - der klassische Grundrechtskätalog hat seinen eigenen, vorweg gezogenen Platz (Art. 13 bis 28). 18 In Stichworten greifbar wie "Allgemeine Grundsätze", ζ. B.: "Unterordnung der wirtschaftlichen Macht unter die demokratische Staatsgewalt", "Koexistenz der verschiedenen, staatlichen, privaten und genossenschaftlichen Eigentumsbereiche", "System des Eigentums an den Produktionsmitteln", "Wirtschaftsplan", "Agrarpolitik und Agrarreform", "Finanz- und Steuersystem", "Handelssystem" (Art. 80 bis 110, zuletzt Verbraucherschutz!). 19
Zit. nach JöR 32 (1983), S. 360 ff.
20
Dazu mein Athener Gastvortrag: Menschenwürde und Verfassung am Beispiel von Art. 2 Abs. 1 Verf. Griechenland, 1975, Rechtstheorie 11 (1980), S. 389 ff. 21 S. auch das Recht von jedermann auf die Teilnahme am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Leben des Landes (Art. 5 Abs. 1). 22 Zit. nach JöR 32 (1983), S. 277 ff.: Kein eigener Abschnitt zur Wirtschaft, aber in den Grundrechtsteil eingewebte wirtschaftliche Teilziele (ζ. B. Art. 19 Abs. 1: "Die Schaffung von genügend Arbeitsplätzen ist Gegenstand der Sorge des Staates..."; Art. 20 Abs. 1: "Die Existenzsicherheit der Bevölkerung und die Verteilung des Wohlstandes sind Gegenstand der Sorge des Staates...").
558
II. Inhalte
Mögen all diese Verfassungen zunächst keine "sicheren" Aussagen zum IstZustand der Wirtschaft, Wirtschaftspolitik und wirtschaftlichen Freiheiten machen, so umschreiben sie doch Perspektiven des So//-Zustandes. Da die jüngeren Verfassungstexte im Rahmen der allgemeinen Textstufenentwicklung des Typus Verfassungsstaat dank der Rechtsvergleichung der modernen Verfassunggeber auch "Spiegelcharakter" der Verfassungswirklichkeit älterer Verfassungen der westlichen Demokratien haben, ist mittelbar doch eine Aussage zum Ist·Zustand der Sache Wirtschaft in diesem Verfassungsstaat als Typus erkennbar - das gilt etwa für die viel beschriebene Ausweitung der Staatstätigkeit im wirtschaftlichen Bereich.
2. A l t e r e und neuere Konnex- u n d Konfliktthemen i m K o n t e x t des Verfassungsrechts der W i r t s c h a f t
Als zweiter "Schlüssel" zur vergleichenden "Textverarbeitung" der Sache Wirtschaft im heutigen Fntwicklungsstadium des Verfassungsstaates wirkt die Frage nach den Sachthemen, die schon verfassungs textlich in engem Konnex bzw. Kontext mit ihr stehen bzw. denkbare Konfliktfelder erkennen lassen. So gesellen sich zur "Wirtschaft" immer mehr andere Themen hinzu: sei es, daß die Verfassungen schon als Titelüberschrift und damit systematisch eine gemeinsame eigene Artikelgruppe formulieren, so vor allem in den (westdeutschen Länderverfassungen nach 1945 in Gestalt von Abschnitten "Wirtschaft und Soziales"23 bzw. "Wirtschaft und Arbeit" 24 oder umgekehrt "Arbeit und Wirtschaft" 25, sei es, daß der klassische Katalog grundrechtlicher Freiheiten um solche auf dem Gebiet der Wirtschaft und Arbeit erweitert wird 26 oder "Wanderungsprozesse" aus diesem Katalog in die Abschnitte "Wirtschaft und Arbeit" hinein stattfinden 27. Damit sind Konflikte vorprogrammiert und i. S. "praktischer Konkordanz" (K. Hesse) zur Schlichtung aufgegeben. Die ausländischen Verfassungen lassen hier prägnante Wandlungsprozesse erkennen. So regelt Verf. Italien (1947) die "bürgerlichen Freiheiten" vorweg (Art. 13 bis 28) und nimmt sich der "wirtschaftlichen Beziehungen" später an
23
So Verf. Saar.
24
So Verf. Bayern.
25
So Verf. Bremen; Verf. Nordrhein-Westfalen.
26
So in Verf. Hessen: "Soziale und wirtschaftliche Rechte und Pflichten".
27
So häufig beim Eigentum, z. B. Art. 158 bis 162 Verf. Bayern; vgl. die Nachweise in meinem Basler Vortrag: Vielfalt der Property Rights und der verfassungsrechtliche Eigentumsbegriff, AöR 109 (1984), S. 36 (52 ff.) - hier Nr. 20.
22. "Wirtschaft"neueren Verfassungen
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(Art. 35 bis 47). Hier finden sich neue Bestimmungen wie der Arbeitsschutz, das Streikrecht, die privatwirtschaftliche Initiative, aber auch eine klassische wie das Eigentum (Art. 42). Eigene Wege suchen die beiden iberischen Verfassungen. Verf. Spanien (1978) bringt in ihrem Abschnitt "Die Leitprinzipien der Sozial- und Wirtschaftspolitik" das neue "Recht auf Schutz der Gesundheit" unter (Art. 43), aber auch den Umwelt- und Verbraucherschutz (Art. 45 bzw. 51). Ein sehr allgemein gehaltener Förderungsartikel bezieht sich auf den "sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt" (Art. 40 Abs. I) 2 8 . Eine weitere Anreicherung verfassungsstaatlicher Verfassungstexte ist in der Weise "unterwegs", daß neue Themen normiert werden, die in einem mehr oder weniger offenen Konfliktsvcrhältnis zur Sache Wirtschaft stehen. Ein Beispiel bildet das immer stärker in wirtschaftsverfassungsrechtliche Texte und Kontexte hineinwachsende Thema des Umweltschutzes 29 Mag der Verfassungstheorie und -praxis, der Politik und Wissenschaft mittelfristig eine "praktische Konkordanz" zwischen Ökonomie und Ökologie gelingen (müssen) und suchen schon manche Parteiprogramme einen solchen Weg: Zunächst kommt es zu "Reibungen" und Konflikten zwischen den verschiedenen Verfassungszielen, die allenfalls verbal überbrückt werden. Besonders profiliert gibt sich die Verfassung Portugals in ihrem großen Teil "Wirtschaftsordnung" (Art 80 bis 110) insofern, als sie wie keine andere westliche Demokratie Prioritäten setzt und die Wirtschaft "in Dienst" nimmt. Ein breiter - "Wunschzettel" programmiert eine Fülle von Konflikten, die wohl an die Grenze dessen gehen, was ein verfassungsstaatlicher Verfassunggeber textlich normieren darf und eine "freie Wirtschaft" verkraften kann30.
28
Eine besonders starke Relativierung bzw. Instrumentalisierung der Eigentumsgarantie bzw. Wirtschaftsfreiheit kommt schon der Systematik und der inhaltlichen Formulierung nach in der Verf. Portugals (1976/82) zum Ausdruck: Diese Grundrechte finden sich nicht mehr im klassischen Katalog, der ζ. B. um die neue "Medienfreiheit" angereichert ist (Art. 38), sondern im Abschnitt "Wirtschaftliche Rechte und Pflichten". Art. 62 Abs. 2: "Allen ist nach Maßgabe der Verfassungsbestimmungen das Recht auf privates Eigentum gewährleistet" bzw. Art. 61 Abs. 1: "Innerhalb des in der Verfassung und im Gesetz festgelegten Rahmens kann sich die Wirtschaftsinitiative von Privaten frei entfalten, solange sie als Instrument dem kollektiven Fortschritt dient". 29 30
Nachweise unten Anm. 48.
So lautet Art. 80 (Grundlegende Prinzipien): "Die Wirtschafts- und Sozialordnung beruht auf den folgenden Prinzipien: a) Unterordnung der wirtschaftlichen Macht unter die demokratische Staatsgewalt; b) Koexistenz der verschiedenen, staatlichen, privaten und genossenschaftlichen Eigentumsbereiche; c) Überführung der wichtigsten Produktionsmittel, des Grund und Bodens und der Naturschätze in Gemeineigentum; d) demokratische Wirtschaftsplanung..."
560
II. Inhalte
Als "Aufgaben des Staates" nennt Art. 81 u. a. das Anwachsen des sozialen und wirtschaftlichen Wohlergehens und der Lebensqualität des Volkes, insbesondere der am wenigsten begünstigten Schichten, zufördern, die "vollständige Nutzung der Produktivkräfte zu gewährleisten", den "ausgewogenen Wettbewerb zwischen den Unternehmen" sicherzustellen, "die Agrarreform durchzuführen", "den Verbraucher zu schützen", eine bestimmte "Forschungs- und Technologiepolitik zu entwickeln". Weitere Stichworte sind: Genossenschaft und Versuchsformen der Arbeiterselbstverwaltung (Art. 84) und Schutz der kleineren und mittleren Betriebe (Art. 85)31.
3. Die E r w e i t e r u n g bzw. Anreicherung der Grundrechtsteile u m Wirtschaftsthemen; neue wirtschaftliche Freiheiten bzw. Intensivierung d e r Bindungen
Wachstums- und Differenzierungsprozesse der Verfassungsstaaten "in Sachen Wirtschaft" schlagen sich textlich zum einen in Gestalt neuer oder veränderter wirtschaftlicher Freiheiten oder doch wirtschaftlich relevanter Grundrechte nieder. Zum anderen kommt es zu intensivierten Bindungen grundrechtlicher Freiheiten. So bauen etwa die (westdeutschen Länderverfassungen nach 1945 gemäß dem Vorbüd der WRV 32 die Vertragsfreiheit in ihrem Abschnitt "Wirtschaft und Arbeit" ein, freilich nicht "absolut", sondern als Maßgabegrundrecht von vorneherein "relativ". Repräsentativ ist Art. 151 Verf. Bayern, der in Abs. 1 die "gesamte wirtschaftliche Tätigkeit" in den Dienst des Gemeinwohls stellt ("insbesondere der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle und der allmählichen Erhöhung der Lebenshaltung aller Volksschichten"), in Abs. 2 wird dann Vertragsfreiheit "innerhalb dieser Zwecke" garantiert. Mitunter ist die "Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung" als ähnliches Maßgabegrundrecht gewährleistet33. Art. 52 Abs. 1 Verf. Rheinland-Pfalz zählt "Vertragsfreiheit, Gewerbefreiheit, die Freiheit der Entwicklung persönlicher Entschlußkraft und die Freiheit selbständiger Betätigung des einzelnen" auf und will sie "in der Wirtschaft erhal31 Bemerkenswert ist der Einbau des "Finanz- und Steuersystems" in den Teil "Wirtschaftsordnung" (Art. 104 bis 110). Stichworte sind: "egalitäre Vermögens- und Einkommensverteilung", "progressive Erbschafts- und Schenkungssteuer", "soziale Gerechtigkeit", etc. - Demgegenüber piaziert Verf. Spanien ein Stück Steuerverfassungsrecht schon im Grundrechtsteil: Art. 31 Abs. 1: "Alle tragen zur Unterhaltung der öffentlichen Ausgaben bei, gemäß ihrer wirtschaftlichen Fähigkeit und vermittels eines gerechten Steuersystems, das an den Grundsätzen der Gleichheit und der Progression ausgerichtet ist...". 32
Art. 152 Abs. 1: "Im Wirtschaftsverkehr gilt Vertragsfreiheit nach Maßgabe der Gesetze".
33
Vgl. Art. 39 Abs. 2 Verf. Bremen; Art. 38 Abs. 2 Verf. Hessen.
22. "Wirtschaft"neueren Verfassungen
561
ten" wissen. Die Bindungsseite der wirtschaftlichen Freiheit ist in den Worten "Rücksicht auf die Rechte des Nächsten und auf die Erfordernisse des Gemeinwohls" intensiviert (Art. 52 Abs. 2 S. 1 ebd.). Klauseln zum Verbot jeden "Mißbrauchs wirtschaftlicher Freiheit und Macht" (Art 52 Abs. 2 S. 2 ebd.) sind besonders häufig 34. Die Unzulässigkeit von Monopolen wird oft ausgesprochen35. Am Beispielsmaterial in ausländischen Verfassungen läßt sich diese Entwicklungstendenz des Typus Verfassungsstaats ebenfalls belegen. Teils wird eine neue Grundrechtsdimension erschlossen - die Teilhabe 36 teils die spezielle Ausformung der Wirtschafts- bzw. Vertragsfreiheit, die Unternehmensfreiheit, garantiert 37. Ein weiteres Element der Textstufenentwicklung des Verfassungsrechts der Wirtschaft besteht darin, daß die Wirtschaft in neue Problem- und Konfliktfelder hineinwächst bzw. Themen aufkommen, die ihr neue Bindungen bringen. Das gilt für die großen, sich der Wirtschaft anfügenden oder sie abschließenden Themen "Arbeit und Soziales", sei es in Gestalt von sog. "sozialen Grundrechten", wie dem Recht auf Arbeit oder "Sozialrechten"38, aber auch Grundrechten und dem Streikrecht 39 - sie sind wirtschaftliche wie der Gewerkschaftsfreiheit Grundrechte der Arbeitnehmer (!) - , sei es in Gestalt von Verfassungsaufträgen und Schutzartikeln40. All diese Bestimmungen haben eine begrenzende Feraund Nahwirkung in bezug auf klassische Wirtschaftsfreiheiten. Sie leisten ein Stück Integration der Arbeiterschaft in den Verfassungsstaat bzw. sie bauen
34 Vgl. auch Art. 151 Abs. 2 S. 4 Verf. Bayern; Art. 27 Abs. 2 Verf. Nordrhein-Westfalen; Art. 44 S. 2 Verf. Saar; Art. 16 Verf. Berlin. 35
Ζ. B. Art. 41 Verf. Bremen; Art. 39 Verf. Hessen; Art. 156 Verf. Bayern.
36
So erfindet die Verf. Spaniens die neue Staatsaufgabe, "die Teilnahme aller Bürger am politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen" (Art. 9 Abs. 2)· 37 Art. 38 Verf. Spanien: "Die Unternehmensfreiheit im Rahmen der Marktwirtschaft wird anerkannt. Die Staatsgewalten garantieren und schützen deren Ausübung und die Erhaltung der Produktivität, im Einklang mit den Erfordernissen der allgemeinen Wirtschaft und gegebenenfalls der Planung". 38 Z. B. Art. 166 Abs. 2 Verf. Bayern; Verf. Portugal ordnet das Recht auf Arbeit (Art. 59), die Wirtschaftsinitiative von Privaten und das Recht auf Privateigentum gleichermaßen in den Teil "Wirtschaftliche Rechte und Pflichten" ein. - Zu "Sozia Irechten": § 16 Abs. 1 Verf. Basel-Landschaft (Existenzgarantie); s. schon Art. 58 Verf. Bremen. 39 40
Schon Art. 39, 40 Verf. Italien; Art. 36 Verf. Hessen; Art. 48 Verf. Bremen.
Z. B. Art. 35 Abs. 1 Verf. Italien: "Die Republik schützt die Arbeit in allen ihren Formen und Anwendungen". - Prägnant Art. 167 Abs. 1 Verf. Bayern: "Die menschliche Arbeitskraft ist als wertvollstes wirtschaftliches Gut des Volkes gegen Ausbeutung ... geschützt". Ähnlich Art. 53 Abs. 1 Verf. Rheinland-Pfalz.
562
II. Inhalte
den Sozialstaat aus und versehen das Verfassungsrecht der Wirtschaft mit einem Element sozialer Gerechtigkeit, so wie dies die sich seit Weimar in den deutschen Länderverfassungen durchsetzenden Menschenwürde-Bindungen der Wirtschaft 41 bzw. ihre Gemeinwohlverpflichtung 42 tun. Was in den Verfassungstexten an Arbeitsrecht und Arbeitsschutz (im ganzen als "Arbeitsverfassungsrecht"43), an Sozialrecht44 integriert ist und harmonisiert erscheint, spiegelt in der Sache einen tiefgehenden Wandlungsprozeß des Verfassungsrechts der Wirtschaft und des Verfassungsstaates als Typus insgesamt wider: in Richtung auf eine "gemischte Wirtschaftsordnung" 45. Übergeordnete Gesichtspunkte bilden die vom Verfassungsstaat anerkannte Schutzbedürftigkeit wirtschaftlich Abhängiger46 und der Versuch, durch gewaltenteilende Strukturen den Umschlag wirtschaftlicher zu politischer Macht zu verhindern 47.
41
Repräsentativ z. B. Art. 151 Abs. 1 Verf. Bayern; s. auch Art. 106 Abs. 2 Verf. Griechenland: "Die private wirtschaftliche Initiative darf nicht zu Lasten der Freiheit und der Menschenwürde oder zum Schaden der Volkswirtschaft entfaltet werden". - Art. 27 Verf. Hessen; Art. 51 Abs. 1 S. 2 Verf. Rheinland-Pfalz. 42
Ζ. B. Art. 43 Abs. 1 Verf. Saar.
43
Besonders weitgehend Art. 59 Abs. 3 Verf. Portugal: "Der Staat ist verpflichtet, durch die Anwendung wirtschafts- und sozialpolitscher Pläne das Recht auf Arbeit zu garantieren, indem er gewährleistet...". 44 Auch Gesundheitsschutzartikel, z. B. Art. 43 Verf. Spanien, Art. 64 Verf. Portugal, Art. 22 Verf. Niederlande und schon manche deutsche Landesverfassung (ζ. B. für die Gesundheit der Arbeitnehmer: Art. 52 Abs. 2 Verf. Bremen; Art. 30 Abs. 1 Verf. Hessen). Wenn Art. 53 Abs. 3 Verf. Rheinland-Pfalz eine "dem ganzen Volk zugängliche Sozial- und Arbeitslosenversicherung" ins Auge faßt, so hat auch dies Auswirkungen auf die Wirtschaft bzw. ist als Institutionalisierung der Sozialversicherung (vgl. auch Art. 35 Verf. Hessen; Art. 46 Verf. Saar; Art 57 Verf. Bremen) eine Veränderung des klassischen Verfassungsrechts der Wirtschaft! 45 Dazu E. R. Huber, Der Streit um das Wirtschaftsverfassungsrecht, DÖV 1956, S. 97 ff., 135 ff., 172 ff., unten II.2. 46
Prägnant schon Art. 45 Abs. 4 Ziff. 1 Verf. Irland von 1937/72 (zit. nach P. C. MayerTasch, aaO, S. 261 ff.): "Der Staat gelobt, die wirtschaftlichen Interessen der wirtschaftlich schwächeren Gruppen der Gemeinschaft mit besonderer Sorgfalt zu schützen sowie, wo es notwendig ist, zum Unterhalt der Kranken, Witwen, Waisen und Alten beizutragen". 47 Plastisch Art. 39 Abs. 1 Verf. Hessen: "Jeder Mißbrauch der wirtschaftlichen Freiheit insbesondere zu monopolistischer Machtzusammenballung und zu politischer Macht - ist untersagt".
22. "Wirtschaft"!!! neueren Verfassungen
563
Eine neue Variante steuert Verf. Spanien zu dem Versuch bei, Wirtschaft und Umweltschutz zu harmonisieren48. Der Verbraucherschutz kommt in seiner Konfliktlage mit der Wirtschaft ebenfalls zum Ausdruck49.
4. Das Thema "Wirtschaft" in Gestalt von Staatszielen, Verfassungsaufträgen und Kompetenznormen
Der skizzierten Erweiterung der Grundrechte um das Thema "Wirtschaft" (auf der Freiheits- und Schrankenseite) steht eine andere Entwicklungstendenz gegenüber: Der Verfassungsstaat engagiert sich "kompetenziell" in der Sache Wirtschaft weit intensiver als der klassische Eingriffs- und Ordnungsstaat. Das vielzitierte "Wachstum" der Staatsaufgaben, die Entwicklung zum sozialen Leistungs-, ja zum "Wirtschaftsstaat", wird schon verfassungs textlich greifbar, so sehr manches "Programmatik", ja Wunschbild sein bzw. bleiben mag. Freilich ist die Fülle der Texte noch kein Beleg für ihre "Umsetzung" in Verfassungswirklichkeit, um so weniger, als im Bereich "wirtschaftspolitische Leitsätze", "Leitprinzipien der Sozial- und Wirtschaftspolitik" u. ä. vieles als "bloßes Programm" eingeordnet wird, als "soft law" gilt und die Zielkonflikte so intensiv sind, daß die wirtschaftlichen Einzelaufträge bzw. -kompetenzen sich gegenseitig zu blockieren drohen: "Magische Vierecke"50 drohen die Verfassungstexte in die Unverbindlichkeit von "Lippenbekenntnissen" aufzulösen. Dennoch sind die folgenden Verfassungssätze Teil einer "konstitutionellen Programmatik" und ein Stück Legitimation des heutigen Verfassungsstaates von der in sozialer Verantwortung stehenden Wirtschaft her. Sie normieren teils "nur" Mögliches (etwa die Sozialisierung), teils "schon" Wirkliches (ζ. B. die "das gesamte Volk verbindende Sozialversicherung" i. S. von Art. 57 Abs. 1 Verf. Bremen), teils Notwendiges (wie die Förderung des Mittelstandes oder den Abbau der Arbeitslosigkeit51).
48 Art. 45 Abs. 2: "Die Staatsgewalten überwachen die rationale Nutzung aller Rohstoffe und Bodenschätze, mit dem Ziel, die Lebensqualität zu schützen und zu bessern und die Umwelt zu erhalten...". S. auch 42 Abs. 1 Verf. Aargau; § 112 Verf. Basel-Landschaft. 49 Art. 51 Abs. 1 Verf. Spanien: "Die Staatsgewalten garantieren den Schutz der Verbraucher und Benutzer, indem sie deren Sicherheit, Gesundheit und legitime wirtschaftliche Interessen durch wirksame Maßnahmen schützen". 50 In Anlehnung an das "magische Viereck" in § 1 StabG, dazu aus der Lit.: Κ. Stern / P. Münch /K.-H. Hansmeyer, Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft, 2. Aufl. 1972, S. 117 ff. 51 Zu diesen drei Denkdimensionen mein Beitrag Demokratische Verfassungstheorie im Lichte des Möglichkeitsdenkens (1977), in: Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978, S. 17 ff.
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II. Inhalte
Gerade die Vielfalt der Wirtschaftsziele verschafft der Wirtschaftspolitik des Gesetzgebers und der Exekutive einen Gestaltungsspiehaum, der die Wirtschaftspolitik nicht zum bloßen "Verfassungsvollzug" degradiert - er würde das Proprium von (auch "experimenteller") Wirtschaftspolitik im Verfassungsstaat verfehlen! Im einzelnen lassen sich folgende "Textgestalten" unterscheiden52:
a) Allgemeine Wirtschaftsförderungsklauseln
Im Rahmen globaler Staatsaufgabennormen bzw. Staatszielbestimmungen wird die Wirtschaft oft sehr allgemein genannt. So finden sich - heute fast naiv klingende - Fortschrittsklauseln in Präambelgestalt53. Ähnlichen Gehalt haben wirtschaftliche Entwicklungsklauseln 54 Sehr allgemein formuliert Art. 20 Abs. 1 Verf. Niederlande 55: "Die Existenzsicherheit der Bevölkerung und die Verteilung des Wohlstands sind Gegenstand der Sorge des Staates...". Einen zugleich allgemeinen und speziellen facettenreichen Wirtschaftsförderungsauftrag schafft Art. 39 Abs. 1 Verf. Bremen: "Der Staat hat die Pflicht, die Wirtschaft zu fördern, eine sinnvolle Lenkung der Erzeugung, der Verarbeitung und des Warenverkehrs durch Gesetz zu schaffen, jedermann einen gerechten Anteil an dem wirtschaftlichen Ertrag aller Arbeit zu sichern und ihn vor Ausbeutung zu schützen". - Eine allgemeine Wohlfahrtsklausel (wie Präambel Verf. Aargau 56) schließt auch die Wirtschaft ein57. - Auf den einzelnen hin formuliert ist die Grundlagennorm des Kap. 1 § 2 Abs. 2 Verf. Schweden: "Die persönliche, ökonomische und kulturelle Wohlfahrt des einzelnen soll grund52
Zum Erscheinungsbild, zu Aufgaben und Funktionen der Staatszielnormen zuletzt: P. Häberle: Verfassungsstaatliche Staatsaufgaben lehre, AöR 111 (1986), S. 595 (605 ff.) - hier Nr. 23; R. Wahl, Grundrechte und Staatszielbestimmungen im Bundesstaat, AöR 112 (1987), S. 26 ff. 53 Präambel Rheinland-Pfalz: "...den wirtschaftlichen Fortschritt aller zu fördern..."; s. auch Vorspruch Verf. Baden-Württemberg; Präambel Verf. Spanien: "Fortschritt von Wirtschaft und Kultur zu fördern". 54 Ζ. B. Art 106 Abs. 1 Verf. Griechenland: "... dabei sucht er (sc. der Staat) die wirtschaftliche Entwicklung in allen Bereichen der nationalen Wirtschaft zu sichern". Art. 47 Abs. 1 Verf. Jura (1977): "L'état encourage le développement économique du canton"; § 121 Abs. 1 Verf. BaselLandschaft: "Der Kanton fördert in Zusammenarbeit mit den Gemeinden eine ausgewogene Entwicklung der Volkswirtschaft". Ähnlich Art. 51 Abs. 1 Verf. Uri (zit. nach JöR 34 (1985), S. 467 ff.). 55
Zit. nach JöR 32 (1983), S. 277 ff.
56
"...die Wohlfahrt aller zu fördern" (zit. wie Anm. 54).
57
S. auch § 25 Abs. 1 ebd.: "Der Staat fördert die allgemeine Wohlfahrt und die soziale Sicherheit."
22. "Wirtschaft"neueren Verfassungen
565
sätzlich den Zweck der öffentlichen Wirksamkeit bestimmen. Es obliegt besonders dem Gemeinwesen, das Recht auf Arbeit, Wohnung und Ausbildung zu sichern und für soziale Fürsorge und Sicherheit und für einen guten Lebensstandard zu sorgen".58
b) Wirtschaftliche
Teilziele
Wirtschaftliche Teilzitlt finden sich in den unterschiedlichsten Abschnitten und Problembereichen neuerer Verfassungstexte. So können sie im "Insbesondere-Stil" an das allgemeine StaatsZiel der "ausgewogenen Entwicklung der Volkswirtschaft" angefügt sein59; ein beachtliches, als Text neues Schutzgut formuliert § 50 Abs. 1 Verf. Aargau 60. Sie können aber auch in Grundrechtsgarantien integriert sein61.
c) Wirtschaftsbezogene
Kompetenzen für den Verfassungsstaat
Während die bisher erwähnten allgemeinen und speziellen wirtschaftsbezogenen Staatsziele Aufgaben, d. h. Sollforderungen formulieren, begnügt sich diese Kategorie mit der bloßen Kompetenz. Die hinter solchen Kompetenznormen stehende Verfassungs Wirklichkeit an Wirtschaftstätigkeit und -politik braucht freilich darum keineswegs weniger gewichtig und dynamisch zu sein als die von Aufgabennormen angeregte bzw. geforderte. Das deutsche Grundgesetz nennt wirtschaftliche Themenfelder ζ. B. in seinen Kompetenzkatalogen: etwa Art. 74 Ziff. 12 - Arbeitsrecht, Betriebsverfassung, Arbeitsschutz, Sozialversicherung - ; ebd. Ziff. 16 - "Verhütung des Mißbrauchs wirtschaftlicher Machtstellung"; ebd. Ziff. 19a - "wirtschaftliche
58 S. auch Art. 81 lit. a Verf. Portugal: Vorrangige Aufgabe des Staates, "das Anwachsen des sozialen und wirtschaftlichen Wohlergehens und der Lebensqualität des Volkes, insbesondere der am wenigsten begünstigten Schichten zu fördern". Hochgesteckte Ziele nennt Art. 2 Verf. Portugal in dem Wort von der Verwirklichung der "wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Demokratie" der Wirtschaftsdemokratieaspekt findet sich schon im Vorspruch Verf. Hamburg (1952). 59 So in § 121 Verf. Basel-Landschaft: Der Kanton "strebt insbesondere die Erhaltung einer vielseitigen Wirtschaftsstruktur und die Vollbeschäftigung an". 60 "Der Kanton strebt in Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern die Wahrung des sozialen Friedens und die ausgeglichene Entwicklung der Wirtschaft an". 61 Vgl. Art. 17 Abs. 3 Privatentwurf Kölz / Müller im Rahmen der Wirtschaftsfreiheit: "Der Bund sorgt für die Erhaltung des wirtschaftlichen Wettbewerbs" (zit. nach JöR 34 (1985), S. 551 ff.).
566
II. Inhalte
Sicherung und Krankenhäuser"62. Denkbar ist freilich eine interpretatorische Umdeutung der reinen Kompetenznorm in Staatszielbestimmungen: i. S. eines "positiven Kompetenzverständnisses"63. Die geltende Schweizer Bundesverfassung wechselt in ihren durch Teilrevisionen eingefügten verschiedenen Wirtschaftsartikeln 64 zwischen bloßen Kompetenz· 65 und Aufgabennormen 66. Mitunter findet sich eine Zwischenform, die, im Präsens formuliert, kaum erkennen läßt, ob die Beschreibung eines Istzustandes oder die Forderung nach einem wirtschaftspolitischen Sollzustand gemeint ist67.
5. Verfassungsstaatliche Sollforderungen an die Wirtschaft Aspekte einer Wirtschaftsethik?
Eigenen Zuschnitt haben die von den wirtschaftsbezogenen Staaisaufgabenund Siaatezielnormen zu unterscheidenden Verfassungsbestimmungen, die nicht dem Staat sondern der Wirtschaft selbst bzw. den in ihr Tätigen als Adressaten bestimmte Aufgaben stellen. Hier zeichnen sich besonders die (west)deutschen Landesverfassungen nach 1945 aus - in der Nachfolge von Art. 151 Abs. 1 S. 1 WRV