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German Pages 422 Year 2004
Schriften zur Rechtstheorie Heft 224
Rechtssprache Europas Reflexion der Praxis von Sprache und Mehrsprachigkeit im supranationalen Recht
Herausgegeben von Friedrich Müller Isolde Burr
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Müller / Burr (Hrsg.) · Rechtssprache Europas
Schriften zur Rechtstheorie Heft 224
Rechtssprache Europas Reflexion der Praxis von Sprache und Mehrsprachigkeit im supranationalen Recht
Herausgegeben von Friedrich Müller Isolde Burr
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2004 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten (Allgäu) Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 3-428-11580-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Inhaltsverzeichnis I. Fragen der Theorie Ralph Christensen und Friedrich Müller Mehrsprachigkeit oder das eine Recht in vielen Sprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Peter Schiffauer Leviathan oder Hydra. Versuch über Staatlichkeit und Europäische Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Felix Hanschmann Sprachliche Homogenität und europäische Demokratie. Zum Zusammenhang von Sprache, Öffentlichkeit und Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Probleme der Mehrsprachigkeit Ralph Christensen und Michael Sokolowski Juristisches Entscheiden unter der Vorgabe von Mehrsprachigkeit . . . . . . . . . . . 113 Peter Sandrini Transnationale interlinguale Rechtskommunikation: Translation als Wissenstransfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Gérard Caussignac Empirische Aspekte der zweisprachigen Redaktion von Rechtserlassen . . . . . . 157 Pascale Berteloot Die Europäische Union und ihre mehrsprachigen Rechtstexte . . . . . . . . . . . . . . . 179 Isolde Burr und Tito Gallas Zur Textproduktion im Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Pierre Pescatore Zu Rechtssprache und Rechtsstil im europäischen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243
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Inhaltsverzeichnis III. Zur sprachpraktischen Methodik des Europäischen Gerichtshofs
Thomas Groh Methodenrelevante Normtexte im Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Mariele Dederichs und Ralph Christensen Inhaltsanalyse als methodisches Instrument zur Untersuchung von Gerichtsentscheidungen, vorgeführt am Beispiel der Rechtsprechung des EuGH . . . . . 287 Mariele Dederichs und Ralph Christensen Die Rolle der Beobachtung zweiter Ordnung in der Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Tilman Kuhn und Ralph Christensen Was heißt individuelle Betroffenheit des Klägers oder wie behandelt man einen Konflikt um die Lesart des Gesetzes? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 Wolfgang Buerstedde Der Schlussantrag am Anfang. Zur Rolle des Schlussantrags in einer juristischen Methodik des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421
I. Fragen der Theorie
Mehrsprachigkeit oder das eine Recht in vielen Sprachen Ralph Christensen und Friedrich Müller Die europäische Idee ist bereits Realität, aber zugleich auch noch Versprechen: „Den einen verspricht sie immer noch eine Zukunft, andere halten die europäische Epoche schon für ein weltgeschichtlich abgeschlossenes Kapitel. Die einen erhoffen sich Schutz von einer erst noch herzustellenden ,Festung Europa‘, andere halten das Versprechen, das Europa qua Idee der Welt seit mehr als zwei Jahrtausenden in Aussicht stellte, im Grundsatz für eingelöst und sprechen daher vom Ende der Geschichte: Europa als hegemoniales Zentrum sei zwar am Ende, aber nicht das Abendland sei untergegangen, sondern die Welt sei europäisiert. Wieder andere meinen, Europa als Moderne sei ein bloßes Versprechen gewesen, das in der Geschichte gescheitert sei oder sich sogar in sein Gegenteil verkehrt habe. Schließlich glauben einige, dass es sich bei den Bestimmungen Europas oft genug um verzeihliche oder unverzeihliche ,Versprecher‘, um Irrtümer oder Irrwege gehandelt habe und handele, etwa wenn man aus allerlei, oft genug nur propagandistischen Motiven ganze Nationen und Kontinente aus dem Projekt einer gemeinsamen europäischen Kultur ausschloss oder sich selbst zum zentralen Träger dieser Idee erklärte und damit eigenmächtig ins Zentrum des Weltgeistes bzw. der Weltgeschichte setzte.“1 Als Zentrum der Entwicklung kann Europa nicht mehr fungieren. Aber vielleicht lässt sich aus dem Scheitern des Zentrums eine Idee entwickeln, wie ein dezentrales Entwicklungsmanagement aussehen könnte. Unsere Frage ist, wie dieses „Vielleicht“2 in der Entwicklung des europäischen Rechts offen gehalten werden kann. I. Die Entwicklung des europäischen Rechts Das europäische Recht ist in einer Phase beschleunigter Expansion. Die Entscheidungssammlung von EuG und EuGH innerhalb eines Jahres überschreitet inzwischen den Umfang von zwei Regalmetern. Quantitativ lässt sich der unaufhörliche Strom von Sekundärrecht kaum noch überblicken. Die Frage nach den Rechtsgebieten, die vom Europarecht beeinflusst und geformt werden, muss 1 G. Lambrecht/D. Losurdo/G. Stekeler-Weithofer, editorial in: Dialektik, Heft 2, 1997, S. 7 ff., 8. 2 Vgl. zum „Vielleicht“ als Kategorie J. Derrida, Politik der Freundschaft, Frankfurt am Main 2000, Kap. 2, insbesondere S. 53 ff.
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man mittlerweile mit „alle“ beantworten. Qualitativ stehen wir vor einem weiteren wichtigen Einschnitt in der Verfassungsgebung der Gemeinschaft. Wenn es auch momentan eine Krise gibt, so ist Europa noch immer der Hoffnungsträger für die beteiligten Nationen. Was ist die Logik dieser Entwicklung? Erfolgt sie als hierarchische Überordnung des Gemeinschaftsrechts über die nationale Rechtskultur oder entwickelt es sich eher als ungeregelte Folge der Interaktionen verschiedener Rechtskulturen? Baum oder Rhizom sind Metaphern, welche die Philosophie bereitstellt, um die Extrempunkte eines Spektrums zu bezeichnen.“3 Die Entwicklungen verlaufen dazwischen. Das europäische Recht entsteht nicht allein dadurch, dass man eine Verfassung formuliert und die Produktion von Sekundärrecht intensiviert. Verfassung und Sekundärrecht müssen in der Wirklichkeit ankommen. Sonst teilen sie das Schicksal mancher Gemeinschaftsverordnung, welche von der Praxis einfach vergessen wurde. Um in der Wirklichkeit anzukommen, bedarf das Gemeinschaftsrecht einer gemeinsamen Sprache. Nur dann ist es praktikabel. Aber gleichzeitig muss es die Nationalsprachen respektieren. Nur dann ist es für seine Bürger verständlich. Die Sprache wird damit zum entscheidenden Punkt für die Wirkung des Gemeinschaftsrechts. Es muss seine eigene Sprache finden, ohne sich von der seiner Bürger abzukoppeln. Auch hier trifft man wieder auf den Gegensatz von Baum und Rhizom. Eine gemeinsame Sprache kann in der hierarchischen Logik des Baumes als Kunstsprache von oben den Nationalsprachen übergestülpt werden. Aber die von Legaldefinitionen geschlagenen Schneisen werden von der praktischen Kreativität des Sprechens schnell wieder geschlossen. Deswegen ist es vielleicht realistischer, Trampelpfaden zu folgen. Die wirkliche Sprache ist ein Phänomen der dritten Art und entsteht als unbeabsichtigte Nebenfolge aus konkreten Verständigungsoperationen. Ein solcher Trampelpfad könnte die von den Gerichten aus dem Konflikt gegenläufiger Rechtskonzeptionen entwickelte autonome oder gemeinschaftsbezogene Bedeutung von Begriffen sein. Dieser Pfad könnte in einem offenen Prozess der Schaffung einer Sprache des europäischen Rechts einmünden. Einer Sprache, die nicht künstlich hergestellt oder erfunden werden kann, sondern die Nebenfolge einer Interaktion unterschiedlicher Rechtskulturen in konkreten Konfliktfällen wäre. II. Erschwerungen der Entwicklung des Gemeinschaftsrechts durch Mehrsprachigkeit Die Unterscheidung von Recht und Unrecht als Grundoperation des Rechtssystems erfolgt in der Sprache. Jede Unterscheidung setzt viele Gemeinsamkei3 Vgl. G. Deleuze/F. Guattari, Rhizom, Berlin 1977, S. 8 ff. Vgl. dazu auch M. Stingelin, Das Netzwerk von Deleuze, Berlin 2000, insbesondere S. 15 ff.
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ten voraus, vor allem in der Sprache, welche die Unterscheidung formulieren soll. Auch wenn man weiß, dass Sprache Sprachen heißt,4 bleiben in einer Nationalsprache hinreichend viel Gemeinsamkeiten, um die Unterschiede zu artikulieren. Wie kann aber eine Rechtsordnung unter der Bedingung von Mehrsprachigkeit funktionieren? „Mit der Europäisierung der nationalen Rechte kommen zusätzliche Sprachund Verständnisprobleme auf uns zu. Damit verbunden ist auch die Gefahr einer Beeinträchtigung, um nicht zu sagen Zerstörung nationaler Rechtstradition.“5 Durch die Gleichberechtigung verschiedener Sprachfassungen ist für Divergenzen tatsächlich eine hohe Wahrscheinlichkeit gegeben. Denn verschieden sind ja nicht nur die Sprachen, sondern auch die jeweiligen Rechtskulturen.6 Der aus der Übersetzungswissenschaft bekannte Umstand, dass der entsprechende Begriff in der Zielsprache ganz andere Entgegensetzungen hat als in der Ausgangssprache, verschwindet ja nicht einfach, wenn man die verschiedensprachlichen Texte jeweils als Original nimmt. Dieser Unterschied wird vielmehr in der Situation juristischer Entscheidung überhaupt erst zum wirklichen Problem. Die Verschiedenheit der begrifflichen Oppositionen befindet sich in jeder der beteiligten Sprach- und Rechtskulturen in beständigem Fluss, und es muss dennoch entschieden werden; und dies sogar ohne die Möglichkeit, Original und Übersetzung in ein hierarchisches Verhältnis zu setzen. Damit sind die Erschwerungen aber noch nicht erschöpft. Eine weitere Komplikation liegt darin, dass jedenfalls im Primärrecht eine Vielzahl politischer Formelkompromisse enthalten ist und die Verträge häufig unter starkem zeitlichem Druck redigiert wurden.7 Tatsächlich wirft die Sprachenvielfalt vielerlei praktische Probleme sowohl für die Institutionen der Gemeinschaft als auch für die Rechtsunterworfenen auf. Hinsichtlich finanzieller Konsequenzen der Vielsprachigkeit nennt die Kommission 2004 für die Übersetzungskosten für alle EU-Einrichtungen das Zahlenvolumen von 550 Mio. A, das nach der Erweiterung auf 808 Mio. A er4
Vgl. dazu H. Weinrich, Sprache, das heißt Sprachen, Tübingen 2001. Schubarth, M., Die Bedeutung der Mehrsprachigkeit der schweizerischen Gesetze für die höchstrichterliche Rechtsprechung, in: LeGes 2001/3, S. 49 ff., 55. 6 Vgl. dazu Everling, U., Der Gerichtshof als Entscheidungsinstanz, in: Schwarze, J. (Hrsg.), Der Europäische Gerichtshof als Verfassungsgericht und Rechtsschutzinstanz, 1983, S. 137 ff., 139; Hilf, M., Die Auslegung mehrsprachiger Verträge, 1973, S. 20 ff.; Weber, A., in: Groeben, H. v. d./Thiesing, J./Ehlermann, C.-D., Kommentar zum EU-, EG-Vertrag, Bd.4: Art. 189–248, 5. Aufl., 1997, Art. 248, Rn. 6. 7 Vgl. Ophüls, C. F., Über die Auslegung der Europäischen Gemeinschaftsverträge, in: Greiß, F./Meyer, S. W. (Hrsg.), Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur. Festgabe für Alfred Müller-Armack, 1961, S. 279 ff., sowie Smit, H./Herzog, P., The law of the European Communities, 1993, Art. 248, Rn. 4; Ginsbergen, G. v., Enkele opmerkingen over de terminologie van de Nederlands tekst van het EEG-Verdrag, N. J. B. 1966, S. 129 ff. 5
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höht werden muss8. Außerdem zeigt sich das Risiko, dass neben das schon bekannte „Forumshopping“ noch ein „Languageshopping“ tritt, was der einen Partei eventuell Verfahrensvorteile verschaffen kann. Schließlich ergeben sich auch für die Bürger der Gemeinschaft Sprachlasten, welche die Rechtsverfolgung erschweren können. So hat der EuGH entschieden, dass ein Unternehmen, welches einen Übersetzungsfehler leicht hätte erkennen können, sich nicht im Wege des Vertrauensschutzes auf die zu seinen Gunsten falsche Fassung einer Gemeinschaftsrechtsnorm berufen könne;9 und dies obwohl das beklagte Hauptzollamt die Fehlübersetzung eines die Einfuhr von Sauerkirschen beschränkenden Textes in Süßkirschen ebenso wenig bemerkt hatte wie die Importeurin. Es ergeben sich also praktische Nachteile sowohl für die Gemeinschaft als auch für den Bürger. Fraglich ist, ob diese Nachteile durch einen Gewinn an Rationalität im mehrsprachigen Recht ausgeglichen werden. „Die Erkenntnis, dass die Sprachenvielfalt in einem Europa des offenen Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs auch zu entsprechend vielfältigen kulturellen Kontakten führt, ist sicher als Chance zu sehen, aus der eigenen Herkunftswelt in eine (zunächst fremde) Ankunftswelt zu wechseln, was neue Perspektiven und Entwicklungsmöglichkeiten eröffnen kann. Im Bereich des Rechts dürfte der Risikofaktor allerdings überwiegen, da hier vor allem nach Rechtssicherheit – was auch Sicherheit bezüglich sprachlicher Bedeutungen meint – gestrebt wird. Sicherheit ist jedoch umso weniger zu haben, je mehr gleichwertige Sprachen bezüglich der ,richtigen‘ Interpretation des Rechts konkurrieren.“10 Diese Schwierigkeiten begünstigen in der juristischen Literatur ein Fluchtverhalten: man dürfe das Prinzip der sprachlichen Gleichberechtigung nicht überbewerten, „weil es linguistischen Erkenntnissen offenbar nicht ausreichend zu genügen vermag“.11 Bei dieser Äußerung wird auf die Arbeit der Sprachwissenschaftlerin Petra Braselmann Bezug genommen.12 Tatsächlich wird dort aber nur gezeigt, dass eine gemeinschaftsbezogene Bedeutung nicht einfach aufgefunden werden kann, etwa als das Gemeinsame der verschiedenen Nationalsprachen. Und es wird deutlich, dass die Maßstäbe, mit denen Juristen Bedeutungs8 Memo/04/34 der Kommission: „EU-Kommission baut Übersetzungskapazitäten im Hinblick auf die Erweiterung aus“, vom 17. Februar 2004, veröffentlicht durch das Pressereferat der Kommission und die Direction Générale de Traduction. 9 EuGH, Slg. 1996, S. 5105 ff. (Konservenfabrik Lubella). 10 Baumann, M., Europäische Sprachenvielfalt und das Recht oder der Vormarsch des Englischen und der Bilder, in: Der Einfluss des europäischen Rechts auf die Schweiz. Festschrift zum 60. Geburtstag von Roger Zäch, 1999, S. 15 ff., 21. 11 Weber, A., in: Groeben, H. v. d./Thiesing, J./Ehlermann, C.-D., Kommentar zum EU-, EG-Vertrag, Bd. 4: Art. 189–248, 5. Aufl., 1997, Art. 248, Rn. 16. 12 Braselmann, P., Übernationales Recht und Mehrsprachigkeit. Linguistische Überlegungen zu Sprachproblemen in EuGH-Urteilen, in: Gemeinschaftsrecht 1992, S. 55 ff.
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konflikte entscheiden, gerade keine Direktiven sind, die von der Sprache her vorgegeben wären. Als einzige Möglichkeit einer sprachlichen Hierarchie bei Bedeutungskonflikten bietet Braselmann das Verhältnis von Urfassung und abgeleiteter Fassung in der Übersetzungssituation an. Diesen Weg verbietet aber Art. 314 für das Gemeinschaftsrecht. Deswegen kann nicht die Sprache, sondern müssen die Juristen mit ihren spezifischen Argumenten die Verantwortung für die Entscheidung des Bedeutungskonfliks übernehmen. Das heißt nun aber nicht, dass das Vorgehen der Juristen in irgendeiner Weise sprachwissenschaftlich illegitim wäre. Bedeutungskonflikte sind in vielen Bereichen der Sprache ein alltägliches Phänomen und von Linguisten immer wieder untersucht worden.13 Illegitim aus Sicht der Sprachwissenschaft wird die Entscheidung eines Bedeutungskonfliktes erst dann, wenn die Autorität der Sprache in Anspruch genommen wird, wo eigentlich Sachargumente stehen müssten. Insoweit kann man nicht sagen, Art. 314 EG genüge nicht linguistischen Erkenntnissen. Ganz im Gegenteil: Er ist sogar eine Konsequenz aus ihnen. Denn ein Wertunterschied zwischen Einzelsprachen lässt sich sprachwissenschaftlich nicht begründen. Allerdings zwingt Art. 314 EG die Juristen zur Übernahme ihrer Verantwortung für die Entscheidung von Sprachkonflikten. III. Die Notwendigkeit zur Schaffung einer Sprache des europäischen Rechts Vor den Schwierigkeiten der Mehrsprachigkeit kann man also nicht in eine Leitsprache ausweichen. Man muss diese Schwierigkeiten vielmehr praktisch lösen. Institutionell versucht die Europäische Union des Problems der Mehrsprachigkeit durch die Einrichtung diverser Übersetzungsdienste Herr zu werden. An erster Stelle steht hier etwa der in Gestalt des European Commission’s Translation Service (STD) weltweit größte Übersetzungsdienst. Mehr als 1300 Fachleute, unterstützt durch einen Stab von 500 Mitarbeitern, bewältigen hier die in den 11 offiziellen Sprachen der EU täglich anfallenden Aufgaben der Übersetzung schriftlicher Texte. Hinzu kommen noch die Dolmetscher, die die mündliche Kommunikation zwischen den Angehörigen der unterschiedlichen Mitgliedsnationalitäten zu gewährleisten haben, in den verschiedenen Institutionen, die, wie das Europäische Parlament und der EuGH, zudem noch eigene Übersetzungsdienste unterhalten. Übergreifend zuständig für die mündliche Kommunikation ist der Joint interpreting and conference service, der nicht nur im Engeren die offiziellen Sprachen bedient, sondern zudem auch etwa die Sprachen der potentiellen Beitrittsländer für die entsprechenden Verhandlungen. 450 Dolmetscher leisten hier die Übersetzungen zwischen mehr als 24 Spra13 Vgl. dazu nur Wimmer, R., Überlegungen zu den Aufgaben und Methoden einer linguistisch begründeten Sprachkritik, in: Heringer, H. J. (Hrsg.), Holzfeuer im hölzernen Ofen, 1982, S. 290 ff. m. w. N.
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chen.14 Flankiert wird die Arbeit insgesamt durch die Website der Europäischen Union, die insbesondere „information about legible writing campaigns, translation theory and practice and style guides“ bereit stellt.15 Außerdem steht mit Eurodicautom eine Terminologiedatenbank zur Verfügung.16 Mit all diesem gewaltigen Aufwand wird das Problem der Mehrsprachigkeit17 praktisch bearbeitet. Das europäische Recht muss einen Ausgleich finden zwischen der verfassungsrechtlich gebotenen Gleichrangigkeit der Sprachen der Mitgliedsstaaten und der ebenso verfassungsrechtlich gebotenen Verständlichkeit. „Law and Language are interacting partners all over the world. But due to the European Union it is also a very specific problem for European lawyers and translators/interpreters. Translators must translate written law into the official languages of the European Union. Spoken language must be interpreted, in order to have a common understanding of official speeches within the European Union’s institutions. Inside the European Union the use of different languages is one of the obstacles to the integration process.“18 Die fast schon „klassische“ Lösung des Konflikts zwischen Praktikabilität und Verständlichkeit besteht in der Terminologisierung.19 Das heißt konkret, „legal harmonisation can only be attained by standardising legal terms within the European Union.“20 Ganz allgemein besteht eine solche Standardisierung eines Ausdrucksgebrauchs auf dem Wege der Terminologisierung in der expliziten Definition eines bestimmten Ausdrucksgebrauchs. Zudem werden dabei weiter meist für ein Anwendungsgebiet ganze Terminologiesysteme festgelegt und die Bildung von Termini vereinheitlicht. 21 Für die Sprache des Europarechts können so zwei Vorteile erwartet werden: Erstens bleibt das Gewicht der Nationalsprachen erhalten. Zweitens kann über die explizite Festlegung die Be14 Zu alledem Heutger, V., Law and Language in the European Union, in: Global Jurist Topics, Vol. 3, Issue 1, 2003, Article 3, S. 1 ff., 13 f. 15 Heutger, V., Law and Language in the European Union, in: Global Jurist Topics, Vol. 3, Issue 1, 2003, Article 3, S. 1 ff., 14. Siehe dann http://europa.eu.int/comm/ translation/. 16 Siehe http://europa.eu.int/eurodicautom/Controller. 17 Vgl. Art. 314 EG. Dazu Buerstedde, W./Christensen, R./Sokolowski, M., Leaving Babel. Die Aufgabe des Übersetzens als Chance für die Arbeit des EuGH, in: Müller, F./Wimmer, R. (Hrsg.), Neue Studien zur Rechtslinguistik, Berlin 2001, S. 119 ff., 120 f. 18 Heutger, V., Law and Language in the European Union, in: Global Jurist Topics, Vol. 3, Issue 1, 2003, Article 3, S. 1 ff., 1. 19 Linguistisch grundlegend dazu Hoffmann, L., Kommunikationsmittel Fachsprache, Berlin 1976; sowie im besonderen auch Engberg, J., Juristische Textsorten – Konventionen – Das Lehren fachsprachlicher Normen, I, Fremdsprachen und Hochschule 2000, S 75 ff. 20 Heutger, V., Law and Language in the European Union, in: Global Jurist Topics, Vol. 3, Issue 1, 2003, Article 3, S. 1 ff., 1 f. 21 Siehe etwa die Festlegungen durch die DIN 2342.
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deutung in jeder Nationalsprache transparent gemacht werden. Gleichberechtigung der Sprachen und Verständlichkeit wären so also mit dem einen Schlag der reglementierten Ausdrücklichkeit gewährleistet. Für das Gemeinschaftsrecht ist dabei natürlich auch der Effekt der damit verbundenen Harmonisierung von Bedeutung. Die zu Missverständnissen und subkutanen Konflikten führenden Differenzen im Verständnis einzelner Rechtsbegriffe kommt natürlich nicht von ungefähr. Vielmehr wurzelt sie in unterschiedlichen Rechtsauffassungen und -systemen, die sich bezogen auf bestimmte Regelungsphänomene dann unterschwellig in die scheinbare Klarheit der Benennung einer Streitfrage einschreiben, so dass „both parties will have complete different concepts in mind“.22 Hinzu kommt der in der Besonderheit des jeweiligen Rechtssystems wurzelnde Gebrauch von spezifischen Ausdrucksformen. Ein bundesrepublikanischer Anwalt wird nicht sofort wissen, um was es geht, wenn in einem österreichischen Schriftsatz beispielsweise von „Präsenzdiener“, „Landeshauptmann“, „Aufsandungsurkunde“ oder „Superädifikat“ die Rede ist.23 Dies gilt auch für scheinbar ganz selbstverständliche Begriffe wie dem des Besitzes, mit dem je nach Herkunft und über der Ausdrucksgleichheit unter Umständen unbemerkt recht unterschiedliche Rechtsüberzeugungen in die Debatte eingebracht werden können. „When a German speaks of Besitz, he means factual possession. However, an Austrian lawyer understands Besitz as the factual possession including the animus domini. What a German understands under Besitz, is for an Austrian Innehabung.“24 Ein weiteres Beispiel ist der Begriff des Verbrauchers, den das Gemeinschaftsrecht besonders schützen will.25 „Different directives have as their objective the protection of the consumer. But these directives do not offer a common definition of what can be understood by a consumer. Is it only a natural person? Are small and medium-sized businesses also protected? All these problems remain unclear. Consumer protection is a very touchy issue in the European Union as well as in the Member States. One of the obstacles to trade within Europe is that the rules protecting consumers are different in different countries. This is also true for the areas of consumer law where Directives exist. One reason for this is of course that the Directives include minimum clauses giving the Member states the right to adopt or retain stricter or more consumer-friendly rules.“26 22 Heutger, V., Law and Language in the European Union, in: Global Jurist Topics, Vol. 3, Issue 1, 2003, Article 3, S. 1 ff., 1, Anm. 1. 23 Zu diesen Beispielen Heutger, V., Law and Language in the European Union, in: Global Jurist Topics, Vol. 3, Issue 1, 2003, Article 3, S. 1 ff., 1, Anm. 2. 24 Heutger, V., Law and Language in the European Union, in: Global Jurist Topics, Vol. 3, Issue 1, 2003, Article 3, S. 1 ff., 7. 25 Vgl. Heutger, V., Law and Language in the European Union, in: Global Jurist Topics, Vol. 3, Issue 1, 2003, Article 3, S. 1 ff., 8 ff. 26 Vgl. Heutger, V., Law and Language in the European Union, in: Global Jurist Topics, Vol. 3, Issue 1, 2003, Article 3, S. 1 ff., 8. Siehe dazu dann etwa im Vergleich
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Die Europäische Kommission hat im Februar 2003 auf diese Situation mit ihrem „Aktionsplan“ für ein einheitlicheres Vertragsrecht reagiert.27 Generelles Ziel ist es, auf dem Weg der Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Rechtssprache.28 Dabei soll der Aktionsplan einen Bezugsrahmen bieten. „One of the official aims will be the preparation of a common frame of reference, providing a pan-European terminology and rules.“29 Mit diesem Bezugsrahmen wird dabei zugleich Öffentlichkeit und Optimierung im Hinblick auf eine gemeinsame Rechtssprache angestrebt.30 Auf diese Weise hofft man, ein ganzes Bündel von Problemen auf einen Streich lösen zu können. Zum Ersten ist da das Problem des Rechtsvergleichs:31 über die gemeinsame Terminologie könnte der Einstieg in den Vergleich erleichtert werden. Differenzen in den europäischen Rechtskulturen sollen damit nicht zum Verschwinden gebracht werden. Sie werden im Gegenteil dadurch besser sichtbar und artikulierbar. Zum Zweiten ist da das Problem der Verständlichkeit und vor allem auch Nachvollziehbarkeit für den Rechtsunterworfenen in den verschiedenen Nationen. Hier kann und sollte eine harmonisierende Terminologisierung zur Transparenz beitragen und so der Forderung nach einer „europäischen Rechtskultur“32 durch eine sprachliche Fassung von Recht entgegen kommen, „that can be understood not only by legal experts but also even by laymen without any legal skills. Therefore in expanding the European Union it is important to create law that concentrates on the needs of the audience. The audience will vary with the circumstances. So a judge will primarily decide a case for the benefit of the parties in a case. He/she therefore has to use a language, which is comprehensible to the parties.“33 Weiterhin soll das Problem der Übersetzung gelöst werden. Hier die Festlegungen zum Begriff des Verbrauchers durch Art. 1(2) Council Directive 85/ 577/EEC (Tür zu Tür Verkauf); Art. 1, (2), Council Directive 87/02/EEC zusammen mit Council Directive 90/88/EEC (Verbraucherkredite); Art. 2 (b) Council Directive 93/13/EEC (Unfairer Vertrag); Art 2(e) Directive on Electronic Commerce 2000/31/ EC; Art. 2 (b); Directive 94/47/EC (Timesharing); Directive 98/6/EC (Preisauszeichnung). Insgesamt auch das Green Paper on European Union Consumer Protection (COM(2001)531 final); sowie Abbamonte, G., The harmonisation options. Hearing on the Green Paper on Consumer Protection, 7 December 2001, unter: http:// europa.eu.int/search/s97.vts. 27 Informationen unter http://europa.eu.int/comm/consumers/cons_int/safe_shop/ fair_bus_pract/cont_law/oper_results_en.htm; dazu auch Heutger, V., Ein kohärenteres europäisches Vertragsrecht, in: Jusletter 17.2.2003 (www.jusletter.ch), v. a. Rn. 14 f. 28 Siehe Heutger, V., Law and Language in the European Union, in: Global Jurist Topics, Vol. 3, Issue 1, 2003, Article 3, S. 1 ff., 2 f. 29 Heutger, V., Law and Language in the European Union, in: Global Jurist Topics, Vol. 3, Issue 1, 2003, Article 3, Abstract. 30 Vgl. Heutger, V., Law and Language in the European Union, in: Global Jurist Topics, Vol. 3, Issue 1, 2003, Article 3, S. 1 ff., 2. 31 Dazu Sacco, R., Einführung in die Rechtsvergleichung, Baden Baden 2001, v. a. S. 33 ff. 32 Dazu Hesselink, M., The new European legal culture, Deventer 2001.
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könnte eine Terminologisierung Orientierungen und Anhaltspunkte für die Textnähe der Übersetzungen zu ihren Ausgangstexten liefern. Allerdings darf man hier weder in die Illusion verfallen, so ein Original in der Zielsprache nachschaffen zu können.34 Noch kann hier auf jene Freiheiten der Übertragung verzichtet werden, die es erlaubt, auch sprachlich flexibel auf ein Recht im Wandel zu reagieren so, wie es das europäische Recht in besonderer Weise darstellt. Eine Definition im Dienste der harmonisierenden Terminologisierung „should not be seen as everlasting defined terms. I ask for a more open system where definitions are used as a sort of commentary for specific use in a specific legal field. So the terminology and meaning of terms may differ in consumer contract law from the use of the same terminology in banking law.“35 Die Übersetzung wird durch die gemeinsame Terminologie erleichtert. Man kann zwischen den expliziten Definitionen Verknüpfungen herstellen und sich daran ein Stück entlang hangeln. Aber Übersetzung wird nie zur mechanischen Transformation. Sie bleibt riskante Interpretation. Nur ihr Risiko lässt sich durch eine breitere Basis von Gemeinsamkeit mindern. Der Aktionsplan der Europäischen Kommission für ein kohärentes Vertragsrecht und der Aktionsplan zum E-Commerce ist ein weiteres Beispiel. Allerdings so weit auch noch nicht mehr als ein erster Schritt. Denn auch er selbst konnte sich noch nicht ganz von den in sprachlichen Inkonsistenzen und Indifferenzen befreien. Für den Begriff „general contract term“ etwa werden im Deutschen zwei Übersetzungen angeboten, die untereinander nicht so ohne weiteres in Einklang zu bringen sind, nämlich „Allgemeine Geschäftsbedingungen“ und „Standardvertragsklauseln“.36 Allgemein gilt immer noch, dass „efforts to strengthen the use of harmonized legal language in all the European Union Member States must be seen in a critical light. The databases provided to date are not sufficient to offer adequate means to provide guidance to the citizens of the European Union. Nearly no official paper or database is dealing with the linguistic problems of an enlarging Union.“37 Dennoch scheinen diese Bemühungen einen Schritt in die richtige Richtung zu weisen, zumal sie mit dem „Sixth Framework Programme for research and technological development (FP6)“38 erst einen Anfang eines umfangreichen, in der Planung bis in das Jahr 33 Heutger, V., Law and Language in the European Union, in: Global Jurist Topics, Vol. 3, Issue 1, 2003, Article 3, S. 1 ff., 5. 34 Allgemein dazu Buerstedde, W./Christensen, R./Sokolowski, M., Leaving Babel. Die Aufgabe des Übersetzens als Chance für die Arbeit des EuGH, in: Müller, F./Wimmer, R. (Hrsg.), Neue Studien zur Rechtslinguistik, Berlin 2001, S. 119 ff., 129 ff. 35 Heutger, V., Law and Language in the European Union, in: Global Jurist Topics, Vol. 3, Issue 1, 2003, Article 3, S. 1 ff., 7. 36 Vgl. Heutger, V., Law and Language in the European Union, in: Global Jurist Topics, Vol. 3, Issue 1, 2003, Article 3, S. 1 ff., 6. 37 Heutger, V., Law and Language in the European Union, in: Global Jurist Topics, Vol. 3, Issue 1, 2003, Article 3, S. 1 ff., 14.
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2007 reichenden Programms sind. Gestützt werden können diese durch das Internet und den Zugang zu entsprechenden Datenbanken. Es soll durch eine zunehmende Kohärenz des Gebrauchs von Rechtsbegriffen auch eine zunehmende Transparenz erreicht werden.39 Eine Grundlage dafür bieten nicht nur die Website der Europäischen Union für Übersetzungsfragen40, über die eine Fülle von Dokumenten zugänglich ist, oder die Terminologiedatenbank Eurodicautom41, sondern auch nationale Bemühungen in dieser Richtung wie etwa die Richtlinien zu einer bürgernahen Verwaltungssprache, die das Bundesverwaltungsamt veröffentlicht hat.42 Bemerkenswert ist vor allem der Perspektivenwechsel, der sich hier andeutet. Mit den Bemühungen um eine rechtssprachlich terminologische Kohärenz, Harmonisierung und Standardisierung wird rechtliche Kommunikation tendenziell nicht mehr allein vom nationalen Interesse her gedacht. Vielmehr zeigt sich in der Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Rechtssprache das Ziel der europäischen Integration gerade im Recht an. „Such a common legal language will not be based on national legal concepts, but will be drafted with a view to the needs of the citizens of the European Union. The recent approach of the Commission on providing a common frame of reference is a step forwards to a pan-European legal language.“43 IV. Die gemeinsame Sprache als Kommunikation der Unterschiede Im Gemeinschaftsrecht wird unübersehbar, was in nationalen Rechtsordnungen durch Einschüchterungssemantik und entsprechendes Verhalten noch versteckt werden kann: im Recht wird mehr als eine Sprache gesprochen. Ohne eine fraglos gemeinsame Sprache44 stellt sich für die Kommunikation das Problem der Übersetzung.45 Es stellt sich aber nicht erst im Gemeinschaftsrecht, 38 Siehe auch die Proklamierung des Jahres 2001 zum Europäischen Jahr der Sprachen, dazu http://eurolang2001.org. 39 So Vgl. Heutger, V., Law and Language in the European Union, in: Global Jurist Topics, Vol. 3, Issue 1, 2003, Article 3, S. 1 ff., 12. 40 Siehe http://europa.eu.int/comm/translation/index_en.htm. 41 Siehe http://europa.eu.int/eurodicautom/Controller; dazu Heutger, V., Law and Language in the European Union, in: Global Jurist Topics, Vol. 3, Issue 1, 2003, Article 3, S. 1 ff., 12 f. 42 Zu finden über http://www.bundesverwaltungsamt.de. 43 Heutger, V., Law and Language in the European Union, in: Global Jurist Topics, Vol. 3, Issue 1, 2003, Article 3, S. 1 ff., 11. 44 Grundlegend zum Problem der Mehrsprachigkeit im Recht: Burr, I., Amtssprachenregelungen in Finnland und in der Habsburger Monarchie 1848–1918, in: Babylonia, 1996/4, S. 48 ff. sowie dies., Auslegung mehrsprachiger juristischer Texte: die Rolle des Italienischen in Urteilen des Schweizerischen Bundesgerichts, in: Veronesi, D. (Hrsg.), Rechtslinguistik des Deutschen und Italienischen, 2000, S. 179 ff.; Giordan, H. (Hrsg.), Les minorités en Europe. Droit linguistiques et droit de l’homme, 1992.
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sondern es stellt sich, genau genommen, bereits in der Einzelsprache.46 Schon die Einzelsprache ist inhomogen47 und existiert nur in einer Vielzahl von Soziolekten und Ideolekten. Auch für das Wort „Sprache“ gilt die nominalistische Einsicht, dass sie nur in einer Vielzahl von spezifischen Ausprägungen vorhanden ist. Es ist also bereits in der Einzelsprache eine grobe Vereinfachung, von der Sprache zu reden. Sie existiert nur in individuellen Ausprägungen. Sich zwischen dieser Vielzahl von Sprachen zu bewegen, ist besonders wichtig für Juristen, denn sie entscheiden über Sprachkonflikte. Schon der Sachverhalt, der zu Grunde gelegt werden soll, wird in diversen Varianten erzählt, und auch die relevanten Normtexte existieren in verschiedenen Lesarten. Trotzdem muss der Richter entscheiden. Darin liegen Chance und Risiko. Das Risiko realisiert sich, wenn der Richter eine Sprachvariante zur einzig verbindlichen erklärt und dafür die Autorität der Sprache in Anspruch nimmt. Die vom Richter ausgeübte Gewalt und seine Verantwortung verschwinden dann hinter der Sprache als Legitimationsinstanz. Die Chance sprachlicher Vielfalt im Gemeinschaftsrecht liegt nun darin, dass die sprachnormierende Tätigkeit des Richters und damit auch die Begründungslasten seines Tuns deutlich sichtbar werden. Gerade dem EuGH ist der Einsturz der Einschüchterungsarchitektur der angeblich einen und für alle verbindlichen Sprache Alltag. Er ist von Anfang an mit Rechtstexten konfrontiert, die in verschiedenen Sprachen vorkommen. Damit wird die Entscheidung über die sprachliche Fassung von Recht zu einem
45 Es gibt eine Vielzahl von wissenschaftlichen Arbeiten zum Problem der Übersetzung in der Literatur, der Wirtschaft und der Religion. Nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ findet der Interessierte schnell eine ausbaufähige Grundlage. Gerade im Bereich des Rechts mit seiner großen gesellschaftlichen und politischen Relevanz fehlt dagegen eine solche Basis leider fast völlig. (Vgl. dazu Frosini, V., Gesetzgebung und Auslegung, 1995, S. 130.) Jetzt aber zu dieser Thematik: Ars Interpretandi, Heft 5, 2000 mit dem Thema „Übersetzung im Recht“. Weder die Übersetzungswissenschaft (vgl. dazu Wilss, W., Übersetzungswissenschaft. Probleme und Methoden, 1977 oder Mounin, G., Die Übersetzung. Geschichte, Theorie, Anwendung, 1968, der dem Rechtsproblem immerhin eine Seite widmet, sowie Megale, F., Il traduddore di libri nel diritto d’autore italiano, in: Diritto e società, 1992, Nr. 3, S. 521 ff.), noch die Rechtstheorie (mit der rühmlichen Ausnahme von Frosini, V., Gesetzgebung und Auslegung, 1995, S. 128 ff.) haben dieses Problem bisher angemessen aufgenommen. Vgl. zum Problem aus neuerer Zeit Bocquet, C., Pour une méthode de traduction juridique, 1994; Sacco, R., Langue et droit, in: Langue et droit, XVe congrès international de droit comparé, 1998, S. 224 ff.; Schroth, P. W., Language and Law, in: Langue et droit, XVe congrès international de droit comparé, 1998, S. 153 ff. Weitere Literatur findet sich bei Gémar, J.-C., Le discours du législateur en situation multilingue: Traduire ou corédiger les lois?, in: LeGes 2001/3, S. 13 ff., 31. 46 So auch Quines berühmtes Diktum. Dazu Quine, W. v. O., Unterwegs zur Wahrheit, 1995, S. 68 f. Zur Ausarbeitung dieses Gedankens Davidson, D., Radikale Interpretation, in: ders. Wahrheit und Interpretation, 1990, S. 183 ff. 47 Vgl. dazu die ganz kurze, aber ausgesprochen erhellende Urteilsanalyse von Nußbaumer, M./Pantli, A.-K., In der Rechtsprechungsübersicht der AJP 1998/1, S. 112 ff.
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eigenen Problem.48 Das Problem der Übersetzung zwingt den EuGH, das Modell juristischer Entscheidungen als Bedeutungserkenntnis zu überschreiten. Die einzig tragfähige methodische Regel zur Einlösung der von Art. 314 EG statuierten Gleichwertigkeit aller Sprachen ist die Entwicklung einer gemeinschaftsbezogenen Bedeutung. Dabei werden die verschiedenen Sprachen in ihrer Bedeutungsvielfalt zunächst einmal dargestellt. Dann werden in einem zweiten Schritt die Bedeutungsdivergenzen klar herausgehoben. In einem dritten wird dann schließlich eine Entscheidung zwischen den divergierenden Bedeutungen getroffen. Diese Entscheidung wird aber im Gemeinschaftsrecht weder über Genauigkeit,49 Mehrheitsprinzip50, noch gemeinsames Minimum erreicht. Denn jede Entscheidung von der Sprache her wäre nur dadurch möglich, dass man den die Entscheidung tragenden Gesichtspunkt wie Genauigkeit usw. zunächst in die Sprache hineinprojiziert. Aber außer über Verständlichkeit entscheidet die Sprache nichts. Sie liefert vor allem keine Rangfolge zwischen verschiedenen Verständnisweisen. Die Sprache kann also keinen Bedeutungskonflikt entscheiden. Und wegen der von Art. 314 EG statuierten Gleichwertigkeit aller Sprachen darf sie das auch nicht. Wenn aber nicht durch die Sprache entschieden wird, dann kann eben nur in der Sprache entschieden werden, und zwar mit Hilfe spezieller juristischer Argumentationsfiguren. Erst diese erlauben es dann, Lesarten zu verknappen und Bedeutungsdivergenzen zu entscheiden. Die Entscheidung mittels spezieller juristischer Argumente ist die Möglichkeit, die Art. 314 EG für die Gerichte offen lässt. Das ist auch genau der Weg, den der EuGH geht, wenn er Bedeutungsdivergenzen herausarbeitet und diese im Hinblick auf den allgemeinen Aufbau und den Zweck der Regelung entscheidet.51 Smit formuliert dies folgendermaßen: „In interpreting the Treaty, the 48 Vgl. dazu aus der Sicht der Gesetzesredaktion sehr erhellend: Gallas, T., La rédaction législative multilingue dans l’Union européenne: bilan et perspectives, in: LeGes 2001/3, S. 115 ff., 116 f. 49 Die Einheitlichkeit der Auslegung kann sogar dazu führen, strengere Anforderungen an die Bestimmtheit zugunsten einer einheitlichen Auslegung zurückzustellen. Vgl. dazu EuGH, Slg. 1967, S. 461 ff., 473 (Vecht/Soc. Verzekeringsbank); EuGH, Slg. 1973, S. 301 ff. (Mij./Hoofdproduktschap); EuGH, Slg. 1974, S. 1287 ff. (Molijn/ Kommission); EuGH, Slg. 1977, S. 1999 ff., 2010 (Bouchereau). 50 Vgl. dazu wieder den Begriff „öffentliche Ordnung und Sicherheit“, in: EuGH, Slg. 1977, S. 1999 ff., 2010 (Bouchereau). 51 Vgl. dazu etwa EuGH, Slg. 1986, S. 795 ff. (Röser). Vgl. zu dieser Problematik auch Riese, O., Das Sprachenproblem in der Praxis des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, in: Caemmerer, E. v. u. a. (Hrsg.), Festschrift für Hans Dölle, Band II, 1963, S. 507 ff., 517 ff.; Dickschat, Problèmes d’interprétation des traités européen résultant de leus plurilinguisme, in: Revue belge de droit international 1968, S. 40 ff., 49 ff.; Stevens, L., The principle of linguistic equality in judicial proceedings and in the interpretation of plurilingual legal instruments: The régime linguistique equality in judicial Justice of the European Communities, in: North Western University Law Review 62 (1967), S. 701 ff., 724 ff.
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Court has generally been concerned with its broad purposes, rather than narrow wording.“52 Bedeutungsdivergenzen werden damit nicht sprachlich, sondern mit Hilfe juristischer Argumente entschieden. Das Ergebnis dieser Rechtsarbeit in der Sprache ist die Festsetzung einer Bedeutung im Hinblick auf die Einheitlichkeit der Gemeinschaft. Manchmal wird das Ergebnis dieser Festsetzung als autonome Bedeutung bezeichnet. Autonom heißt hier: unabhängig von der nationalen Bedeutung des Gesetzestextes. Die Wirkung auf das gesamte Recht in der Europäischen Union ist sehr groß. Die „autonome“ Bedeutung gilt in allen Mitgliedstaaten und führt in deren Recht zu Bedeutungsverschiebungen. Der Begriff der Autonomie in seiner gemeinschaftsrechtlichen Bedeutung überzeugt aber nicht. Die Bedeutung des Gemeinschaftsbegriffs entsteht nämlich nicht aus dem Nichts; ihm gehen vielmehr die sprachliche Analyse sämtlicher Wortlaute voraus. Sie geben die rechtsstaatlichen Plausibilitätsräume vor. Das heißt zwar nicht, dass eine bestimmte nationale Bedeutung inhaltlich unbedingt befolgt werden müsse. Aber sie ist in die Argumentation einzubeziehen. V. Eine Vielzahl neuer Probleme In der Perspektive einer Entwicklung der europäischen Rechtssprache stellt sich eine Vielzahl neuer Probleme für die Jurisprudenz, die Übersetzungswissenschaft und die Linguistik. Ein Teil dieser Probleme wird hier angesprochen, und zwar in interdisziplinärer Zusammenarbeit von Vertretern der genannten drei Disziplinen. Außerdem vereint das hier dokumentierte Arbeitsprojekt nicht nur Wissenschaftler, sondern fast zur Hälfte auch Praktiker aus den europäischen Institutionen. Die Entwicklung einer neuen europäischen Ordnung wird zunächst auf der Ebene der Verfassung und Verfassungstheorie untersucht. Ein weiterer Schwerpunkt liegt bei den Problemen der Mehrsprachigkeit. Schließlich wird im letzten Teil die Frage geprüft, inwieweit in der praktischen Arbeit der Gemeinschaftsgerichte die Umrisse einer gemeineuropäischen Methodik erkennbar sind. Wir halten die aufgeworfenen Fragen nicht schon für beantwortet, hoffen aber, sie ein gutes Stück weiter präzisiert zu haben.
52 Smit, H./Herzog, P., The law of the European Communities, 1993, Art. 248, Rn. 5. Die Bedeutung des teleologischen Arguments für die Überwindung sprachlicher Differenzen betont auch Dumon, F., The Case-law of the Court of Justice – A critical examination of the methods of interpretation in Court of Justice of the European Communities Judicial and Academic Conference, 27.–28. Sept. 1976, part. III, 1976.
Leviathan oder Hydra Versuch über Staatlichkeit und Europäische Integration Peter Schiffauer* I. Entfaltung der Frage aus dem Mythos1 Der Weg zum Menschen führt über die Bezwingung der Ungeheuer. Dies lehrt uns der Mythos. Nach Bändigung der existenziellen Bedrohung wird das Bild des Ungeheuers im Schatz der Erzählungen aufbewahrt, bildet ein Wegmal und wird für Übertragungen verfügbar. Die Bedrohung nicht nur einzelner Menschen, sondern geschichtlich gewordener Völker und ihrer Tradition durch akkumulierte menschliche Macht vergegenwärtigt der Apostel Johannes im Bild des Leviathan,2 das er von dem im Buche Hiob beschriebenen Ungeheuer, dem „Gewundenen“,3 auf das römische Imperium der Zeit Neros überträgt. Im hellen Lichte der Insel Patmos, wo die Offenbarung des Johannes vielleicht entstanden ist, im Inbegriff der Tradition des hellenischen und des jüdischen Volkes, erschien jene ungezügelte politische Macht als existenzielle Bedrohung, gleich dem Untier aus dunkler Zeit. Mit dem Hervortreten des Staates der Neuzeit, dem Überwinder der europäischen Religionskriege, hat Thomas Hobbes dies Bild erneut übertragen, die sich herausbildende absolute Staatsmacht als bedrohliches Ungeheuer gebannt. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts war der Glaube weit verbreitet, dass dies Ungeheuer in Gestalt des totalitären Staates niedergekämpft sei. Doch schon drängt die Frage, ob die neuen Ordnungen, die geschaffen werden, um Frieden, * Der nachstehende Text gibt die persönlichen Auffassungen des Verfassers wieder und kann in keiner Weise dem Generalsekretariat des Europäischen Parlaments zugerechnet werden, dessen Beamter er ist. 1 Überlegungen zur Entfaltung der Frage aus den Sprachspielen der Philosophie finden sich in P. Schiffauer, Versuch über die Transformation des Staates in der Europäischen Union, in: P. Häberle/M. Morlok/V. Skouris (Hrsg.), Festschrift für D. Tsatsos, Baden-Baden 2003. 2 Zur Verbindung des modernen Rechtsstaats zum Hobbe’schen Leviathan vgl. N. Campagna, ARSP 3, 1993, S. 340. 3 Leviathan wörtlich „Gewundener“.
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Freiheit und dauerhaften Wohlstand zu sichern, uns nicht als neu erstandener Leviathan entgegentreten werden? Oder führt das vorgestellte Bild in die Irre? Was veranlasst uns, die Ausübung von Macht mit Bildern eines übermächtigen Untiers zu assoziieren, das selbst Heroen weder mit dem Schwert noch mit Haken und Schnur bezwingen können? Können wir jene bedrohliche, noch nicht verstandene, komplexe gewundene Gestalt anders deuten als nach dem männlichen Prinzip der Macht, des lebensbedrohenden Untiers? Jene vielköpfige Figur, die aus alten Bildern des Zweistromlandes in unsere Erinnerung hineinragt, ursprünglich den Tod bedeutete4, wird in der mosaischen Überlieferung männlich interpretiert. In der griechischen Mythologie wird die gleiche Figur, nach Dazwischentreten der aus Ägypten geflohenen Danaiden, die der ausgebrannten Argolis Leben spendendes süßes Wasser bringen, weiblich entfaltet als Wasserschlange „Hydra“5. Sie ist – wie ihre Vorgänger – von riesiger Gestalt, vielköpfig bedrohlich, an der Schwelle zur Unterwelt hausend, zurückgezogen in eine hohle Platanenwurzel neben der Quelle Amyone in den Sümpfen von Lerna. Die Fähigkeit, jeden ihr abgeschlagenen Kopf durch einen neu nachwachsenden zu ersetzen, macht sie stark genug, jeden Angreifer abzuwehren. So hütet jene weibliche Gestalt an der Grenze von Leben und Tod das fruchtbringende Nass, Inbegriff des Fortbestands der Menschheit. Die Gestalt der Hydra entspringt dem Verrat. Begangen von fünfzig Töchtern der Danaiden, Amazonen angelangt in Argolis auf der Flucht aus Ägypten vor ihren Brautwerbern, die, bereit ihre Pläne durch Gewalttat und Krieg durchzusetzen, sie über das Meer verfolgten. Um dem König und dem Volk von Argos, ihren Asylgebern, solche Übel zu ersparen, willigen die Geflohenen in die Hochzeit ein. Doch in der Nähe der Brautnacht durchschneiden neunundvierzig von ihnen dem Gemahl die Kehle. Aus den abgetrennten, in den Sümpfen von Lerna versenkten Köpfen erwächst die Hydra. Welcher neue Verrat ist notwendig, damit in den Vorstellungen der Gegenwart das Bild der Hydra die Stelle des Leviathan einnehmen kann? Welches männliche Prinzip, welche geronnene Gestalt von Macht wäre zu überwinden, damit in künftiger Gegenwart, wo immer die Grenze zwischen Tod und Leben verläuft, das Wasser des Lebens weiter fließt? Gewendet auf unsere Vorstellungen über politische Ordnungen6 wäre zu fragen: Kann eine nach dem Bild der vielköpfigen Hydra gedachte politische Ord4
K. Kerenyi, Griechische Mythologie, München 1966, S. 119. Siehe auch G. Teubner, Die vielköpfige Hydra, in: W. Krohn/G. Küppers (Hrsg.), Emergenz und Selbstorganisation, Frankfurt/Main 1990. 5
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nung die historisch als Machtpyramiden gewachsenen Staaten der Neuzeit stabil integrieren? Welche Transformation muss Staat durchlaufen, um zentrische Macht in einer polyzentrischen Struktur fest einzubinden? Welche Opfer müssten hierzu gebracht werden? Kann die neu heranwachsende Struktur in der Form eines ,polykephalen‘ Staates begriffen werden? Die nachstehenden Überlegungen versuchen, einige Klüfte und Falten auszuleuchten, die mit einem solchen Umdenken von Staatlichkeit verbunden wären. Ihre Relevanz wird von den Antworten abhängen, die in der politischen Geschichte des europäischen Integrationsprozesses auf die Herausforderungen einer künftigen Verfassung der Europäischen Union7 und einer möglichen Verdoppelung der Zahl der Mitgliedstaaten der Union8 gegeben werden. Der Verfasser wagt die – von der Geschichte widerlegbare – These, dass nach den bisherigen Erfahrungen der ,polykephale‘ Staat diejenige föderale Form ist, auf die hin die Schere zwischen politischen Wunschvorstellungen und politischen Möglichkeiten mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit und Aussicht auf Erfolg konvergieren könnte. II. Demokratie in der Dialektik von Freiheit und Notwendigkeit Einen Blick der vom Tschador umhüllten Augen erhaschen. Der Sittenstrenge ein köstliches Lächeln abstibitzen. Ein schmaler Raum, den im Angesicht der Notwendigkeit Eros uns eröffnet. In diesem schmalen Raum der Freiheit von mesopotamischer Strenge wirkt das Momentum, das Roberto Calasso einer genuinen Leistung des Griechentums in der Zeit zwischen Homer und Platon zuschreibt, das einzige Momentum das, wenn überhaupt, Grundlage einer europäischen Identität bilden könnte. Die Dialektik zwischen Regel, Bindung und dem bescheidenen Freiraum, den Eros uns auf der Suche des Schönen öffnet, wird das einzige Axiom für unser 6 Siehe P. Schiffauer, Versuch über die Transformation des Staates in der Europäischen Union, in: P. Häberle/M. Morlok/V. Skouris (Hrsg.), Festschrift für D. Tsatsos, Baden-Baden 2003. 7 Siehe den Entwurf eines Vertrags über eine Verfassung für Europa, angenommen am 13. Juni und 10. Juli vom Europäischen Konvent, zusammengesetzt aus Vertretern des Europäischen Parlaments, der Regierungen und der Parlamente der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. 8 Am 16. April 2003 wurden in Athen die Beitrittsverträge unterzeichnet, durch die die Europäische Union von 15 auf 25 Mitgliedstaaten erweitert würde. Weitere europäische Staaten stehen in Beitrittsverhandlungen, haben einen Beitrittsantrag gestellt oder erwägen einen solchen.
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Suchen bilden, mit dem wir den Raum der Freiheit bei der Ordnung der öffentlichen Angelegenheiten aufzeigen wollen. Veranlasst wird der Aufbruch zur Suche durch die Absolutsetzung eines Begriffes von Staat, der als Maßstab an eine geschichtlich-politische Evolution angelegt wird, die den Horizont jener Form von Staat schon längst überschritten hat. In seiner absolut gesetzten Form erscheint der Staat als notwendige Voraussetzung von Demokratie. Seine Form9 wird zum Prokrustes-Bett, dem jede politische Gestaltung zwanghaft anzupassen wäre. Für den Prozess der Integration von Staaten in die Europäischen Union hätte diese Denkweise die Konsequenz, dass sie nur entweder als Bildung eines neuen (übergeordneten föderalen) Staates oder als „Verbund“ souverän fortbestehender Staaten gedacht werden kann. Doch wird die Theorie der Staatslehre kaum die Kraft haben, der praktischpolitischen Entwicklung eine solche Grenze zu setzen. Sie wird sich vielmehr der Frage stellen müssen, mit welchen thematischen Modellen der real sich vollziehende geschichtlich-politische Integrationsprozess adäquat begriffen werden kann, so dass es möglich wird, die Frage nach seiner Legitimation korrekt zu stellen. Die gestellte Frage ist eine des Selbstbewusstseins von Demokratie. Demokratie in Europa lässt sich nicht reduzieren auf eine Definition. Der klassische Diskurs über Demokratie entfaltet das Thema der Selbstbestimmung der Völker, denkt aber dessen ungeachtet in Kategorien des auf sich allein gestellten freien Individuums. Demokratie wäre stattdessen zu denken als Selbstbestimmung eines verfassten Demos. Bezogen auf den Prozess der europäischen Integration lautete die Frage also präziser: können in einer Gesellschaft vereinigte Individuen von einem Zusammenschluss zu einem erweiterten Verbande eine wirksamere Selbstbestimmung erwarten? Und wenn ja, unter welchen Bedingungen? Ein in der Gegenwart verbreitetes Meinungsbild weist in die entgegengesetzte Richtung. Der Glaube an eine Maximierung der Selbstbestimmung durch Verkleinerung des Gefäßes demokratischer Willensbildung korrespondiert dem individualistischen Paradigma der Demokratietheorie. Kollektive, nach demokratischen Verfahren gefasste Beschlüsse werden aufgrund statistischer Wahrscheinlichkeit individuelle Freiheit umso geringer einschränken je kleiner das Kollektiv ist. Gegenüber dieser Evidenz gelangt die Machtlosigkeit kleiner Kollektive solange nicht ins Bewusstsein, wie sie den Anschein aufrechterhalten können, dass sie die Überlebensbedingungen ihrer Mitglieder sichern können.
9 Näheres bei P. Schiffauer, Politische Parteien in einer immer engeren Union der Völker Europas, Mitteilungen des Instituts für Deutsches und Europäisches Parteienrecht, Hagen 1/1996, S. 80 ff., insb. S. 92 f.
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Ein solches Trugbild entsteht auch durch die Zusammenlegung bestimmter Souveranitätsrechte der Europäischen Staaten in der Europäischen Union. Die Staaten überwinden ihre isolierte Handlungsunfähigkeit durch Zusammenschluss und erweisen gerade dadurch gegenüber ihren Angehörigen die eigene Effizienz. Indem die europäische Integration in ihrem heutigen Stand wesentliche Handlungsdefizite der europäischen Staaten kompensiert, erzeugt sie in den Bürgern dieser Staaten die Illusion, dass ein größerer Verband als der eigene Staat nicht notwendig sei. Mit anderen Worten: der Erfolg des Integrationsprozesses auf dem Weg der pragmatischen Schritte vereitelt die Entstehung einer kollektiven Überzeugung von der Notwendigkeit einer europäischen Neugründung. Es gibt also triftige Argumente für die Annahme, dass der von historischer Notwendigkeit zugelassene Gestaltungsfreiraum im Falle einer friedlichen Integration von Staaten mit gleichem Recht und Rang den Weg einer föderalen Neugründung (Verfassung eines europäischen Bundesstaats) nicht zulässt, sondern zu einer neuen Form von Staatlichkeit führt, falls der politische Wille zur Integration ernsthaft und über genügend lange Zeit vorhanden ist. Diese in der politischen Geschichte noch niemals und nirgends verwirklichte Form der Staatlichkeit nenne ich den polykephalen Staat. Meine These ist, dass die Europäische Union sich auf dem Weg zu solcher Staatlichkeit befindet. Der Typus einer polykephalen Staatsform lässt sich beschreiben als eine Pluralität (Vielfalt) von durch eigene Machtzentren integrierte Gesellschaften (= Staaten), die untereinander durch eine einzige Rechtsordnung integriert sind. In polykephalen Modellen wird die vom Staat erwartete Integrationsleistung10 zweistufig erbracht: die Integration einer Gesellschaft durch Macht und Recht auf der Ebene der einzelnen Staaten und die Integration der Gesellschaften und der Staaten durch eine dieser Ebene übergeordnete Rechtsordnung. Aus historisch-politischer Perspektive muss dieser Entwurf an einer für Staatlichkeit zentralen Frage gemessen werden. Sie lautet: kann sich nach dem polykephalen Modell eine stabile Form politischer Organisation herausbilden, ein „Staat“ im Sinne von „stato“11, einer in sich ruhenden Ordnung, und wenn ja, unter welchen Bedingungen ist dies möglich? Die Beantwortung dieser Frage wird von verschiedenen Faktoren abhängen, die wir einzeln untersuchen müssen:
10 Siehe hierzu die Lehre zur „Integration“ in R. Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, 3. Aufl., Berlin 1944, insb. S. 475 ff. u. S. 482 ff. 11 Siehe M. Cacciari, Geo-Filosofia dell’Europa, Milano 1994.
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a) Reicht die Bindekraft des gemeinsam gesetzten Rechtes aus, um autonome Machtzentren in einer gemeinsamen Ordnung zusammenzuhalten, und wenn ja, unter welchen Bedingungen? b) Ist der durch das gemeinsame Recht verfasste Verband ausreichend handlungsfähig, um die an ihn gestellten Aufgaben zu bewältigen und Gefahren für seinen Fortbestand abzuwehren, und wenn ja, unter welchen Bedingungen? c) Kann eine Integration von Staaten durch Recht zu einer Integration der Gesellschaften (der Völker) führen und wenn ja, unter welchen Bedingungen? d) Ist ein polykephaler Staat ein akzeptabler Partner in der internationalen Gemeinschaft der Staaten und wenn ja, unter welchen Bedingungen? In einer theoretischen Sprache werfen diese vier Faktoren folgende Themen auf: a) das Verhältnis von Macht und Recht, b) die Notwendigkeit von Macht zur Integration, c) die Akzeptanz von Integration durch die Bürger, d) die Bedingungen einer globalen Friedensordnung. Zu a) Recht wurzelt in Herrschaft und im Sakralen. „Du sollst“ erscheint als Befehl des Königs oder Priesters, der keinen Widerspruch duldet. Widerspruch käme einem Todesurteil gleich. Geschlossenheit durch Unterdrückung jeden Widerspruchs bedeutet für archaische Gesellschaften einen Vorteil im Selektionsprozess der Evolution. Geschlossenheit stärkt den Gesellschaftskörper wie sie im Chor schwache Stimmen zum Tönen bringt. Militärisches Exerzieren ist ein Relikt jenes archaischen Mechanismus. Der Diskurs um das Recht erscheint mit Antigone. Unter Gefahr des eigenen Untergangs erhebt sie Widerspruch gegen den Befehl des Machthabers unter Berufung auf eine Regel, die in der Gemeinschaft durch Königs- und Priesterspruch bis dahin anerkannt war. Der entscheidende Denkschritt: eine gesellschaftlich anerkannte Gewohnheit, ein gleichförmiges Handeln in einer Vielzahl von Fällen als allgemeine Regel fassen und diese gegen den Machtspruch wenden: nur so kann eine eigenständige Sphäre des Rechts als Sphäre des Widerspruchs zur Macht entstehen. In dem geringen Gestaltungsraum, den Eros gegenüber der Notwendigkeit erringen kann, lässt sich Recht als Kategorie der Freiheit im Widerspruch zu Herrschaft und Macht entfalten. In der politischen Geschichte der Neuzeit wird dieses dialektische Verhältnis, das den Menschen in Freiheit und Verantwortung für seine Entscheidung stellt, in die Form der politischen Ordnung selbst integriert, nämlich in Gestalt des Prinzips der Gewaltenteilung. Es organisiert innerhalb des Herrschafts- und
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Machtkörpers den für die Generierung von Freiheitsräumen unverzichtbaren Widerspruch, verweist das Widerstandsrecht des einzelnen auf extreme Situationen einer Degenerierung der politischen Ordnung. In dem Raum, der durch das Prinzip der Gewaltenteilung eröffnet wurde, entwickelte sich in den Staaten der Neuzeit unter dem Dach des Gewaltmonopols des Staates die Sphäre des Rechts als kraftvolle Struktur, die ungekannte Freiheitsräume eröffnet und auf staatliche Macht nur zurückgreifen muss, wenn die Freiheitsräume überschritten werden. Das Recht entwickelt sich zu einem autonomen Subsystem und es hat nicht an Versuchen gemangelt, seine Geltung aus sich selbst heraus zu begründen. Die Ausübung von Macht hat sich damit abgefunden, durch das Recht gebrochen zu sein. Die Prüfung der Rechtmäßigkeit eines Vorgehens ist zwar durchaus noch nicht immer handlungsleitendes Kriterium für die Mächtigen. Aber keiner von ihnen kann es mehr wagen, im öffentlichen Diskurs seinen Machtwillen einem Gebot des Rechts überzuordnen. In einer solchen Phase der Entfaltung der Sphäre des Rechts ist die Schaffung einer Rechtsordnung, die nicht auf einen eigenen Machtkörper gegründet ist, sondern eine Pluralität gleichberechtiger Machtkörper überwölbt, eine zwar noch riskante, nicht aber aussichtslose Option. Das Risiko einer solchen Konstruktion ist umso geringer, je größer die faktischen Nachteile sind, die ein Machtkörper bei einer Sezession vom übergeordneten Rechtssystem zu erwarten hätte. Da die öffentliche Verteidigung eines Rechtsbruchs nicht mehr möglich ist, werden Rechtsbrüche in einem Rahmen bleiben, wie wir ihn aus dem Verhältnis zwischen Staat und Individuum kennen. Sie sind Teil der Realität, stellen die Geltung der Rechtsordnung aber nicht in Frage. Zu b) Handlungsfähigkeit ist Bedingung von Überlebensfähigkeit in der Evolution von Gesellschaften. Nur Pflanzen können dank eines andersartigen Stoffwechselsystems auf Handlungsfähigkeit verzichten. In der Evolution von Gesellschaften hat sich die Hierarchie, die Substitution der Entscheidung eines Mitglieds für alle, als Handlungsfähigkeit sicherndes Strukturelement herausgebildet. In Gesellschaften der Moderne wird dies Strukturelement zunehmend modifiziert: Repräsentation tritt an die Stelle der Substitution, der Wille der Mehrheit an die Stelle des Willens des Einen. Diese Modifizierung mag zwar den Entscheidungsprozess etwas verlangsamen. Im Überlebenskampf scheint aber der Nachteil komplexerer Entscheidungsverfahren durch den Vorteil aufgewogen zu werden, dass der Gesellschaftskörper mit größerer Kraft hinter den getroffenen Entscheidungen steht. Diese Kraft hängt maßgeblich von zwei Faktoren ab: von der Effizienz des Entscheidungsverfahrens und seiner Fähigkeit zur Integrierung der überstimmten Minderheit. Die Handlungsfähigkeit der demokratischen Staaten der Moderne wird gesichert durch ein System, das Hierarchie und Mehrheitsentscheidung vermittelt. Wenn einige dieser Staaten zu einer neuen politischen Form zusammenwachsen,
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in der sie gleiches Recht und gleichen Rang untereinander wahren und sich nicht einem neuen Machtkörper unterordnen wollen, so wird die Handlungsfähigkeit der neuen Form von zwei Faktoren abhängen: – von der Überwindung der im konstituierendem Prozess angelegten Einstimmigkeit auf der Ebene der politischen Entscheidungsprozesse; – von der effektiven Übertragung gewisser Exekutivbefugnisse an eine rechtlich übergeordnete Instanz ohne eigenen Machtkörper. Die Gründung der neuen politischen Form durch Vertrag gleichberechtigter und gleichrangiger Staaten impliziert das Erfordernis der Einstimmigkeit unter den Mitgliedstaaten für die konstitutionelle Gestaltung und Weiterentwicklung. Je größer die Zahl der Mitgliedstaaten, desto schwieriger werden konstitutionelle Reformen. Die Notwendigkeit von Konsens in Verfassungsfragen mag in bestimmten Problemsituationen einen schnellen Ausweg versperren, hat jedoch die Stärke, dass sich eine solide Basis bildet, um die bei Mehrheitsentscheidungen unterlegene Minderheit zu integrieren. Denn sie hat in jedem Fall schon der Kompetenznorm und dem Entscheidungsverfahren zugestimmt, das ihre Abstimmungsniederlage zu Folge hatte. Handlungsfähigkeit eines Systems ohne übergeordneten Machtkörper setzt deshalb folgendes voraus: in einem Stadium seiner konstitutionellen Entwicklung, in dem die „kritische Zahl“ von Mitgliedstaaten noch nicht erreicht ist, die einstimmige Entscheidungen praktisch kaum mehr möglich macht, müssen die konstitutionellen Regeln so reformiert werden, dass in allen politischen Prozessen mit Mehrheit entschieden werden kann und die notwendigen Exekutivbefugnisse von gemeinsamen Instanzen wahrgenommen werden. Die Fähigkeit eines ausreichend handlungsfähigen Verbands zur Erfüllung der an ihn gestellten Aufgaben hängt ab von den ihm übertragenen Befugnissen. Kompetenznormen haben institutionellen Charakter. Die für den Verband notwendigen Handlungsbefugnisse sollten deshalb vor dem oben erwähnten „kritischen“ Zeitpunkt geklärt sein. Zu c) Für die Völker der Mitgliedstaaten der Union sind die Errungenschaften der Integration fast zur Selbstverständlichkeit geworden. Trotzdem vorhandene, in Zeiten schwieriger wirtschaftlicher Verhältnisse nicht seltene Zweifel an der Akzeptanz lassen erahnen, welche Wegstrecke noch zurückzulegen sein wird. Identitätsstiftende Symbole, allen voran eine Verfassung für Europa, können weiterführen, wenn sie nicht mit Erwartungen überfrachtet werden. Zu d) An der Aufgabe, die Europäische Union in das Geflecht der völkerrechtlichen Beziehungen einzuweben, arbeitet die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Konkrete Ergebnisse gibt es vor allem bei den externen Aspekten der Gemeinschaftspolitiken. Prüfstein könnte sein, ob eines Tages die Europäische Union, vielleicht gemeinsam mit ihren Mitgliedstaaten, als Partner in der Völkergemeinschaft der Vereinten Nationen akzeptiert wird.
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Der Umstand, dass – wie man sieht – noch nicht alle Aspekte ausdefiniert sind, ist der offenen Finalität des Prozesses der europäischen Integration angemessen. III. Transformation der Staatslehre Ist ein juristischer Diskurs vom Staat denkbar? Die Antwort setzt eine Theorie rechtswissenschaftlicher Arbeit voraus. Die Rechtstheorie der Gegenwart ist so sich mit sich selbst beschäftigt, dass eine in etwa akzeptierte Aussage hierüber kaum gefunden werden kann. Von den Ergebnissen Friedrich Müllers übernehme ich, dass es sich um Arbeit an und mit Normtexten handelt. Systematisierung, Bestimmung ihrer Beziehungen untereinander, ihres Verhältnisses zu Aussagesätzen über das Verhalten von Menschen. Bei den Normtexten soll es sich um „Rechtsnormen“ handeln, unschwer zu fassen bei gesetztem Recht im Rahmen verfasster Ordnungen. Der Diskurs vom Staat überschreitet notwendigerweise diese Grenze. Ausübung der verfassungsgebenden Gewalt, die Staat konstituiert, ist politischer Akt jenseits des Rechts. Der durch politischen Akt konstituierte Staat ist so nicht nur Quelle, sondern wird zugleich Gegenstand des Rechts: und zwar genau dann, wenn er sich zum Rechtsstaat entwickelt. Weder die absolute Monarchie noch der totalitäre Staat verdienen das Prädikat Rechtsstaat, denn in einer nach solcher Art verfassten Ordnung steht der „Staat“ vollständig außerhalb des Rechts. Bricht staatliche Ordnung zusammen, zerbricht auch das Recht. Zwar verlieren „gesicherte“ Normtexte nichts von ihrer Überzeugungskraft. Sie verletzendes Handeln kann unschwer als Unrecht identifiziert werden. Solche Diskurse haben aber aus sich selbst heraus nicht die Kraft, sich dem Unrecht entgegenzustellen, Recht durchzusetzen. Das kann nur der Staat, das ist seine spezifische Leistung, die sein Handeln aus der Sicht der Juristen als rechtsstaatliches legitimiert. Aus der Sicht der Evolutionstheorie wird dagegen die Überlebenssicherung einer Population als vorrangige Leistung des Staates erscheinen. Den Nichtjuristen ist das Recht dem Staat akzessorisch, für den Juristen wird es zu seinem zentralen Legitimationsfaktor. Nach der Herausbildung des absoluten Staates, der Überwindung feudaler und religiöser Bindungen, werden in der Geschichte des modernen Staates zwei Funktionen der Hegung öffentlicher Gewalt erkämpft: die Möglichkeit geordneten Machtwechsels („Demokratie“) durch zeitlich begrenzte Verleihung von Herrschaftsmacht und die Bindung der Ausübung von Herrschaftsmacht an das Recht. Je nach Tradition in unterschiedlichen Formen und Graden entwickelt, bilden beide Funktionen zusammen die Garanten von persönlicher Freiheit in den europäischen rechtsstaatlichen Demokratien.
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Für Juristen kommt der Staat zuerst in den Blick nach dem Bild, das die als Staat verfasste politische Ordnung von ihrer Gesolltheit entwirft, in einem Verfassungstext oder in autorisierten Texten über die verfassungsmäßige Ordnung (Parlamentsbeschlüsse, Urteile hoher Gerichte, Erklärungen von Staatsoberhäuptern oder Regierungschefs). Aus diesem Blickwinkel erfasst die Staatsrechtslehre je ein besonderes, historisches Staatswesen in seinem hier und jetzt. Es ist eine Tautologie, dass eine sich als Staat verfassende politische Ordnung sich als stabil, bestandhaft in der Zeit wollen muss. Normative Sätze aus einer verfassungsmäßigen Ordnung werden regelmäßig das Ziel umfassen, dieser Ordnung Bestand zu verleihen. Jede juristische Vorstellung von Staat wird deshalb auf die Erhaltung seines Bestands gerichtet sein. Alles andere hieße, an relevanten normativen Elementen der materiellen Verfassung vorbeizugehen. In der Verfassungslehre von Carl Schmitt12 erscheint der Staat als die „politische Einheit eines Volkes“. Als verfassungsgebende Gewalt erscheint dann der politische Wille eines Volkes, als Verfassung die durch ihn getroffene Gesamtscheidung über die Art und Form der eigenen politischen Existenz. Demokratische Legitimation beruht also auf dem Willen eines Volkes, als Staat zu existieren. Unter diesen Prämissen setzt Demokratie den Staat voraus. Die Formen des Rechts erscheinen demgegenüber im Verhältnis zu den politischen Kategorien nur als äußerliches Darstellungsmittel. Die Verfassung kann in Gestalt von Verfassungsgesetzen formuliert sein, muss es aber nicht. Nach einem rein juristischen Selbstverständnis des bürgerlichen Rechtsstaates haben die politischen Prozesse nur in ihrer juristischen Verfasstheit statt. Staat geschieht nur in den Begriffen des Rechts, der Begriff des Staats ist von dem des Rechts nicht mehr trennbar. Für Vittorio Hösle13 ist Recht entscheidendes Strukturmerkmal des Staates. Dagegen lässt sich argumentieren, der absolute Monarch („L’Etat c’est moi“) brauche kein Recht, die Lehnsherrschaft brauche kein „Recht“ (im Sinne eines durch öffentliche Macht bewehrten Normenkatalogs), Recht entstehe vielmehr erst aus den Legitimationsversuchen solcher Herrschaftsausübung. Carl Schmitt nimmt die überschießende Macht politischer Prozesse wahr. Die erste Frage geht danach, worauf politischer Wille gerichtet ist. Lässt sich das Ziel in den Formen des Rechts verwirklichen, schlüpft der politische Wille in das Kleid der Verrechtlichung, erleichtert die Durchsetzung der Macht sich durch die Berufung auf Autorität.14 12 13
C. Schmitt, Verfassungslehre, 8. Aufl., Berlin 1993, S. 3; S. 75; S. 90. V. Hösle, Moral und Politik, München 1997, S. 547.
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Die Kettung der Demokratie an einen Staat bei Carl Schmitt folgt aus dem axiomatischen Gebrauch von „ein Volk“ bei der Definition des Staates. In der Auseinandersetzung mit der amerikanischen und französischen Tradition anerkennt Carl Schmitt, dass die „Nation“ als Subjekt der verfassungsgebenden Gewalt prägnanter und weniger missverständlich ist als „Volk“. Nation bezeichnet ein Volk mit dem Bewusstsein seiner politischen Besonderheit und dem Willen zur politischen Existenz“15, d.h. ein Volk, das sich als ein Staat verfasst hat. Die auf diese Weise immer wieder zirkulären Definitionen kreisen um die Elemente der „Einheit“, des „Politischen“ und des „Volkes“. Während die ersten beiden Elemente deskriptiv erläutert werden können: – Abgrenzung von Politik und Clan (Aristoteles),16 – Einheit und Vielheit (Parmenides – Heraklit) ist das dritte Element romantisch germanisierend besetzt, antizipiert es mit einer semantischen Leerformel schon das Bild des hierarchischen, ethnisch homogenen Machtsstaates, das am Ende der Deduktion dann herauskommt. Das Problem einer Verfassungstheorie nach Carl Schmitt, die von dessen romantisch-germanisierenden Vorstellungen befreit ist, ist die Vorstellung vom verfassungsgebenden Subjekt. Die individualistischen Theorien einer vertraglichen (oder gewaltsamen Zusammenfassung von Individuum und Personen sind unangemessen. Möglicher Ausweg wäre die Kategorie der „Intersubjektivität“, die in der Erkenntnistheorie an die Stelle des Subjekts getreten ist. Warum soll sie es nicht in der Theorie des Staates tun? In den juristischen Erörterungen über den Staat erscheint der Staat unlösbar mit dem Recht verknüpft. Als höchste Körperschaft des öffentlichen Rechts scheint seine Existenz die Formen des Rechts vorauszusetzen. Dies gipfelt in der Lehre Hans Kelsens17, die den Staat als juristisches Konstrukt versteht und im Satz von Peter Häberle, es gebe nicht mehr Staat als Verfassung. Das Verständnis von Recht in solchen Auffassungen schillert beträchtlich. Sie verweist zuweilen auf – die politische Gestaltung durch Normtexte, – die Denkbarkeit juristischer Entitäten als Zurechnungspunkte für überpersonale Beziehungen, – ein der Ausübung von Macht entgegengesetztes diskursives Prinzip von Recht. 14 15 16 17
Siehe C. Schmitt, Verfassungslehre, 8. Aufl., Berlin 1993, S. 75. Siehe C. Schmitt, Verfassungslehre, 8. Aufl., Berlin 1993, S. 79. Siehe U. Wesel, Geschichte des Rechts, München 1997, insb. S. 29 ff., S. 55 ff. H. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, Berlin 1966.
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In letzterem Sinn setzt Staat das Recht nicht voraus. Das geschichtliche Beispiel des als juristische Körperschaft konstituierten, mittels Normtexten agierenden Unrechtsstaats beweist es. Ein Willkürstaat könnte zur Steuerung auch auf Normtexte verzichten. Die Ausdifferenzierung als juristische Körperschaft ist historisch der Personifizierung der Staatsgewalt und ihrer Ausübung in interpersonalen Verhältnissen (Feudalsystem) abgerungen. Politische Form ist also denkbar ohne Recht. Andererseits ist die Verrechtlichung der politischen Form in den oben beschriebenen Aspekten eine Errungenschaft der Geschichte, die Normativität entfaltet. Hinter den Rechtsstaat führt kein Weg mehr zurück; aber er wird nicht zur Totalität des Staats. Politischer Wille erwächst in seinen eigenen Formen und hat eine überschießende Tendenz gegenüber seiner rechtlichen Verarbeitung. Das wird im juristischen Verständnis des Rechtsstaates18 in der Regel nicht gewürdigt. Intersubjektivität in der Theorie des Staates bedeutet:19 Subjekt verfassungsgebender Gewalt ist die politische Intersubjektivität einer Menge von Menschen. Die Menge kann, muss aber nicht abgeschlossen sein, ihre Definition wird durch die Intersubjektivität konstituiert. Die Intersubjektivität muss politisch, das heißt auf ein Zusammenleben von Menschen gerichtet sein, das nicht auf Verwandtschaftsbeziehungen beruht und durch sie geregelt ist20. Entscheidend für die Möglichkeit der Verfassungsgebung, d.h. der Staatswerdung, sind also die Voraussetzungen, unter denen aus der Vielheit subjektiver politischer Einzelwillen die Einheit eines intersubjektiven politischen Willens wird. Eine zentrale Voraussetzung ist die von Rudolf Smend21 erkannte Integrationsleistung. Die Evidenz des Volksbegriffes (bzw. desjenigen der Nation) beruhte darauf, dass Volksgemeinschaften häufig diese Integrationsleistung erbrachten, durchaus aber nicht immer (vgl. die zahlreichen „peuples sans Etat“). Ähnlich wie die ursprüngliche Akkumulation im Kapitalverwertungsprozess wird auch die ursprüngliche Integration nicht-familiengebundener Menschenmengen mit gewaltsamen Mitteln erfolgt sein (bzw. der zur „Macht“ transfor-
18
K. Sobota, Das Prinzip des Rechtsstaats, Tübingen 1997. Zur Intersubjektivität im öffentlichen Recht siehe M. Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, Tübingen 1993. 20 Siehe in diesem Zusammenhang die interessante Beobachtung des Verhaltensforschers Meinardi der Universität Venedig, dass unter bestimmten Umweltbedingungen manche höhere Wirbeltierarten Formen des Zusammenlebens entwickeln, die neben dem dominierenden Männchen andere männliche Tiere zulässt. 21 Siehe R. Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, 3. Aufl., Berlin 1994, insb. S. 475 ff., S. 482 ff. 19
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mierten Gewaltdrohung). In bereits integrierten Gesellschaften werden dann auch andere Integrationsfaktoren denkbar (Religion, Ideologien). Die politische Gegenwart Westeuropas hat es mit im geschichtlichen Prozess zu Staaten integrierten Völkern bzw. Nationen zu tun, die ihrerseits den Willen manifestiert haben, sich untereinander weiter zu integrieren. Basis für diese weitere Integration sind die von der Union anerkannten Werte (Art. 5 EUV). Die Integrationsleistung („Identität“) der Staaten soll durch diese weitere Integration aber nicht in Frage gestellt werden. Es tritt hier also zusätzlich zu der auf Gewalt oder Macht beruhenden ursprünglichen Integrationsebene eine weitere Integrationsebene hinzu, die auf den Werten der europäischen Aufklärung (von Logos bis Vernunft) aufbaut. Durch solche Integration untereinander verbundene Staaten müssen zwangsläufig ihre Verfassung ändern: der manifestierte Wille der politischen Intersubjektivität geht auf Gründung einer integrierten Einheit, die in sich eine Vielheit ursprünglich integrierter Einheiten in der Weise erhält, dass die Machtzentren bei den letzteren verbleiben, während auf der neu integrierten Ebene ein Handlungszentrum geschaffen wird, überwiegend in den Formen des Rechts, embryonal auch in Formen administrativ-exekutiver Befugnisse. Beide Handlungsformen stellen Beziehungen rechtlicher und tatsächlicher Art von der neuen integrierter Ebene sowohl zu den einzelnen Staaten als auch zu ihren Bürgern her. Dementsprechend ist die Intersubjektivität der neuen Ebene doppelt zu denken: als Repräsentation der Staaten und Repräsentation der Bürger. Erstere verweist auf das Modell des Verfassungsvertrags (wie von Carl Schmitt beschrieben), letztere auf die Erforderlichkeit der Zustimmung eines Repräsentationsorgans, zum Beispiel des Europäischen Parlaments, zu einzelnen Schritten der Verfassungsentwicklung. Das Apriori bei Carl Schmitt ist der „Staat, d.h. die politische Einheit des Volkes“.22 Der Akt, durch den „das Volk sich eine Verfassung gibt“, also die „bewusste Entscheidung für eine bestimmte Art und Form [der politischen Existenz], „setzt also den Staat . . . voraus“.23 Geschaffen wird dieser Staat durch militärische und in der Folge zunehmend auch zivile Integrationsleistungen (das steht so nicht bei Carl Schmitt, drängt sich aber auf, wenn man seine positive Reaktion auf die Smend’sche Lehre heranzieht, deren Anspruch auf objektive Sinnerkenntnis ihm aber zuwider gegangen sein muss). „Volk“ ist für Carl Schmitt „eine irgendwie ethnisch oder kulturell zusammengehörige, aber nicht notwendig politisch existierende Verbindung von Men22 23
Siehe C. Schmitt, Verfassungslehre, 8. Aufl., Berlin 1993, S. 21. Siehe C. Schmitt, Verfassungslehre, 8. Aufl., Berlin 1993, S. 79.
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schen“.24 Entwickelt es sich zu „politisch-aktionsfähiger Einheit mit dem Bewusstsein seiner Besonderheit und dem Willen zur politischen Existenz“, so findet es seine Form als Nation. („Das französische Volk fand erst in seiner politischen Existenz seine Form der Nation.“) Die „ethnisch-kulturelle Zusammengehörigkeit“ wird so als Voraussetzung in den Volksbegriff hineingesteckt und kommt am Ende der begrifflichen Transformationen unverdaut als Merkmal des Staates wieder heraus. Carl Schmitt denkt den Staat von der Einheit her – dies ist eine parmenidische Konzeption des Staates. Das ewige Sein des Einen wird säkularisiert zur Einheit des Staates, des Volkes. Dagegen ließe sich ein heraklitisches Konzept denken, das die Vielheit in ihrem geschichtlichen Werden und Vergehen erfasst. Weder für das Volk noch für den Staat entsteht ein Problem, wenn es bzw. er als Konglomerat begriffen wird. Das Verhältnis von Macht und Recht in den Staaten der Neuzeit lässt sich vielleicht am besten durch eine Metapher beschreiben. Recht ist das Gewand, in das sich die Ausübung der Macht im Rechtsstaat kleidet.25 Wie die Schönheit eines wohlgeformten Körpers durch ein gut geschneidertes Gewand noch hervorgehoben werden kann, so kann die Ausübung von Macht durch einen maßvollen politischen Willen in den Formen eines entfalteten und widerspruchsfreien Rechtssystems ein Erlebnis der Harmonie von individueller Freiheit und gesellschaftlicher Bindung entstehen lassen. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch im Rechtsstaat politischer Wille immer wieder Gefahr läuft, das Recht zu instrumentalisieren. Der Entscheidungsprozess verläuft häufig so, dass der politische Wille schon festliegt und die rechtliche Form, eine mit dem Rechtssystem vereinbare Ausgestaltung erst gesucht wird. Das rechtsstaatliche Gewand kann somit für den politischen Willen durchaus zur Zwangsjacke werden: im Rechtsstaat werden der Ausübung von Macht durch das Recht Grenzen26 gesetzt. Es wäre aber Illusion zu glauben, das Recht allein, und sei es auch zugespitzt bis zum Recht auf Widerstand, könne sich einer Entartung der Macht im Staat wirksam entgegenstellen.
24
Siehe C. Schmitt, Verfassungslehre, 8. Aufl., Berlin 1993, S. 79. Anders die Ideologie vom Rechtsstaat, die sein juristisches System als „Souverän“ setzt (siehe C. Schmitt, Verfassungslehre, 8. Aufl., Berlin 1993, S. 131). 26 Siehe C. Schmitt, Verfassungslehre, 8. Aufl., Berlin 1993, S. 131: Grenzen durch Messbarkeit, Gesetzmäßigkeit, Kompetenzmäßigkeit, Kontrollierbarkeit und Justizmäßigkeit. 25
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Kommt ein politischer Wille zur Herrschaft, der die Werte des Rechtsstaates missachtet, so degeneriert der Rechtsstaat zur leeren Form, denn punktuelle Aufhebung einzelner rechtswidriger Maßnahmen vermag eine generelle Aushöhlung rechtlichen Denkens nicht aufzuwiegen. Politische Willensbildung im Rechtsstaat kann daher nicht völlig frei sein – sie muss von den Prinzipien des Rechts durchdrungen sein, auch und gerade da, wo sie gegenüber einzelnen Normtexten souverän ist. Paradigmatisch für die Kultur eines Rechtsstaats ist der Umgang der Mehrheit mit Minderheiten. In der Geschichte der okzidentalen Gesellschaften, deren Staatsformen dieser Untersuchung als Ausgangsbasis dienen, war der Antisemitismus das wohl nachhaltigste und tragischste Phänomen der Ausgrenzung einer Minderheit. Stein (Universität Jerusalem) stellt hierzu fest, dass zwischen den Wellenbewegungen des Antisemitismus (gemessen an Wahlergebnissen der extremen Rechten und an Gewaltakten gegenüber jüdischen Personen und Objekten) vor und nach dem zweiten Weltkrieg wenige Unterschiede bestehen. Antisemitismus sei nicht durch die Shoah, durch die Erfahrung der Geschichte überwunden. Das verweist auf die Frage, wie Antisemitismus in der Gesellschaft wirkt. Dazu lässt sich in dem hier betrachteten Zusammenhang folgende These entfalten: Im Antisemitismus bekämpft ein archaischer Teil einer Gesellschaft einen modernen Teil derselben. Die jüdische Gemeinschaft ist essentiell modern, weil aus einer Gesetzesreligion hervorgegangen und in der Diaspora, d. h. ohne das Machtinstrument eines Staates, ihr Zusammenhalt durch das Gesetz organisiert wurde. Die Existenzform des „citoyen“, des Rechtssubjekts des Rechtsstaats, ist in ihr auf die Spitze getrieben: für sie wäre nicht einmal ein Staat erforderlich, und seine Bindungen an einem Staat, soweit vorhanden, sind rein rationaler Natur. Die europäischen Gesellschaften dagegen werden immer noch essentiell durch Machtstrukturen zusammengehalten. Die Erfahrung des Rechts wird seit dem Mittelalter allenfalls in der Organisation der Kirche und durch die Rezeption des Römischen Rechts durch Eliten (Schule von Bologna) in die Gesellschaft eingebracht, bleibt aber gegenüber den Mechanismen der Bindung, Treue, Pflicht, Gemeinschaft etc., marginal. Erst seit der französischen Revolution und der anschließenden Entwicklung der Idee des bürgerlichen Rechtsstaats bricht die Idee des freien Rechtssubjekts in europäisches Denken ein. Freies Denken wird jedoch allemal durch Hindernisse eingegrenzt, dafür sorgen schon die Kooptationsmechanismen der Akademien. Auch die geistige Ebene bleibt vermachtet, Gefolgschaft und Respekt von Autoritäten sind wichtiger als Brillanz und Einfälle. Die Ausnahmefälle freigeistigen „Judentums“ bestätigen die Regel: Wer sich außerhalb der Macht- und Dogmenstränge stellt, wird angegriffen.
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Primitiver Antisemitismus findet sich heute in Inseln der Gesellschaft, die die bürgerliche Sozialisierung auch noch nicht ansatzweise vollzogen haben – bezeichnend dafür autoritätsfixierte Jugendbanden. Weiter verbreitet ist allerdings jener Antisemitismus, der durch die Anfänge einer bürgerlich-rechtsstaatlichen Sozialisierung verdeckt wird und erst dann zum Tragen kommt, wenn freies Denken gegen vermachtete Sprachregelungen anlöckt: dann schlägt solcher Antisemitismus gewaltsam zurück, um die Homogenität der Sprechblasen zu erhalten. Opfer des Antisemitismus kann heute jeder werden, der außerhalb der Kraftfelder der Machtsstrukturen unserer Gesellschaft agiert, sei es, weil er durch seine Sozialisation außerhalb dieser Kraftfelder aufgewachsen ist, sei es dass er sich durch einen Akt der Auflehnung von ihnen befreit hat. Die jüdische Gemeinschaft als modernste Gesellschaftsform erhält so nicht auf religiösen, aber auf säkularem Gebiet neuen Zuwachs. Überwindung des Staates, nicht im anarchischen oder kommunistischen, sondern im Sinne der Erringung einer verfassungsmäßigen Ordnung höherer Stufe, kann aus normaler juristischer Perspektive, aus der Perspektive des Staatsrechts, nicht als ein Ziel, sondern nur als abzuwehrendes Unrecht erfasst werden. Die Erringung einer verfassungsmäßigen Ordnung höherer Stufe ist juristisch zu denken als Überschreitung des Horizonts des Normalen, in dem alle Begriffe feste Bezüge haben. Eben deshalb muss juristisches Denken, um in der Zeit zu bleiben, von Zeit zu Zeit sich öffnen, um Erweiterungen/Veränderungen des Zeit-/Sinn-/Raumes zu verarbeiten. Ist jenseits der Vielheit des Staatsrechts der historisch existierenden Staaten eine juristische allgemeine Staatslehre denkbar? Sie müsste den Anspruch erheben, über den Rechtsvergleich der Vielheit des Staatsrechts hinauszugehen, normative Sätze zu bearbeiten, die Geltung für alle Formen des Staates beanspruchen. Hier befinden wir uns an einem ersten Scheideweg. Formen des Staates wie der absolute oder totalitäre Staat, die ihren Ort jenseits des Rechts haben und dieses nur als Mittel zum Zweck einsetzen, entziehen sich dem Geltungsanspruch normativer Sätze, die Gegenstand einer allgemeinen Staatslehre sein könnten. Diese kann nur eine allgemeine Lehre vom Rechtsstaat sein, der die Verbindlichkeit sowohl staatlich gesetzten wie vorstaatlich anerkannten Rechts akzeptiert. In einer allgemeinen (Staats-)Lehre vom Rechtsstaat ist der Staat an der Schwelle zwischen dem machbaren und dem nicht verfügbaren Recht zu verorten. Jenseits der Perspektive des Rechts kann die politische Wissenschaft den Staat als Gewalt- und Machtmonopol, die Soziologie ihn als Organisationsform einer Gesellschaft, die Evolutionslehre ihn als Überlebensbedingung einer Population beschreiben.
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Eine allgemeine Staatslehre, die den Horizont juristischer Normalität überschreitet, müsste demnach normative Sätze sammeln und ordnen, die an der Schwelle zwischen dem machbaren und dem nicht verfügbaren Recht die Ausübung von Herrschaft durch öffentliche Gewalt hegen. Der von Carl Schmitt erkannten Leistung des neuzeitlichen Staats, den Krieg zu hegen, muss für eine allgemeine Staatslehre des Rechtsstaats hinzugedacht werden die Leistung, die Ausübung jeglicher Gewalt zu hegen. Der Rechtsstaat hegt die Ausübung individueller Gewalt durch das Strafrecht und das Privatrecht, er hegt die Ausübung öffentlicher Gewalt durch das öffentliche Recht, soweit die Machbarkeit des Rechts reicht. Soweit das Recht sich der Machbarkeit entzieht, richten sich seine Sätze seit je auf die Negation von Gewaltausübung durch Logos. Die Wahrnehmung und Beschreibung von Gewalt wird somit zu einem tragenden Pfeiler der gedanklichen Erfassung von Recht überhaupt. In diesem – und nur in diesem Punkt ist die allgemeine Form des Rechtsstaats mit der allgemeinen Form der Demokratie verknüpft: mit beiden Formen wird eine Hegung von Gewalt versucht. Der Rechtsstaat hegt Gewalt in zwei Ringen, in einem äußeren die Ausübung individueller Gewalt, in einem inneren die Ausübung öffentlicher Gewalt. Das Recht verbietet nicht schlechthin die Ausübung von Gewalt. In Verhältnis zwischen Individuen gibt es eine Sphäre, in der gewisse Formen der Gewaltausübung in bestimmten Formen als legitim anerkannt (elterliche Gewalt, Selbsthilferecht) oder toleriert sind. Das Privatrecht selbst und die aus ihm fließenden Ansprüche können als Druck- oder Herrschaftsmittel zum Instrument privater Gewaltausübung werden. Im Bereich des Öffentlichen lässt das Recht eine ausgedehnte Sphäre, in der die Organe der öffentlichen Gewalt nach politischen Kriterien handeln können und müssen, weil das Recht für diese Handlungsbereiche keine normativen Sätze bereit hält, sei es, weil es sich um typische Formen der Exekutive handelt (Außenpolitik, Durchführung der Gesetze im Inneren), sei es, weil zu einer Situation, einem Problem, einer Frage, die im Prinzip einer Lösung durch normative Sätze zugänglich und bedürftig ist, noch keine hinreichend konsensfähige normative Lösung erarbeitet worden ist. Auch in einer solchen Lage ist die Entscheidung Sache des Politischen, sei es tastend von Fall zu Fall, sei es durch einen normativen Entwurf im Wege der Gesetzgebung. Rechtsstaat und Demokratie ergänzen sich in der Hegung der Ausübung öffentlicher Gewalt. Soweit die Herrschaft des Rechts reicht, muss jede politische Herrschaft sich ihr unterordnen. Jenseits der Herrschaft des Rechts wird die Ausübung öffentlicher Gewalt gehegt durch die Regeln der Demokratie, durch Bindung von politischer Herrschaft an legitimierende Akte (Wahlen) und durch zeitliche Begrenzung der verliehenen Herrschaftsmacht.
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Welche normativen Sätze kann das Recht über die gesollte Gestalt politischer Form formulieren? Welche Sätze über mögliche politische Formen sind durch historische Erfahrung des politischen Lebens der Menschheit in so starken Maße gesichert, dass wir sie als gesollt wahrnehmen und fordern können? Diese Frage stellt sich als Praxis der These von Themistokles Tsatsos, dass Sollen durch die Vermittlung der Geschichte aus dem Sein fließe.27 1. Verfasstheit
Aus der Sicht des Hier und Jetzt erscheint als der normative Grund-Satz politischer Formgebung schlechthin die Forderung der Verfasstheit: das Zuhandensein von autoritativen Texten, die die Einrichtungen des politischen Lebens ordnen (politische Ordnung generiert durch Normtexte). Verfasstheit wird vermittelt durch Text, nicht notwendig Normtext im technischen Sinne, nicht notwendig, doch in der Schriftkultur der Gegenwart praktisch ausschließlich durch schriftlich fixierten Text: – Verfassungstexte im engeren Sinne („Verfassungstexte“), – Normtexte mit Verfassungsqualität („Verfassung in weiteren Sinne“), – anerkannte dogmatische Texte („nicht schriftlich fixierte Verfassung“). Die Vermittlung von Verfasstheit durch Normtexte (als positive Normen gesetzte oder dogmatische Texte) darf nicht so verstanden werden, als ob Verfasstheit allein durch Normtexte hergestellt würde; dies kann und sollte auch nicht der Fall sein. Herstellung von Verfasstheit ist primär politischer Akt,28 dessen Formgebung in Normtexten bis zu einem gewissen Grade speicherbar ist und aus ihnen wieder erarbeitet werden kann. Herstellung von Verfasstheit erscheint somit als Grund-Akt politischer Formgebung, in dem politischer Wille und normative Bindung ineinander fließen. Ein solcher Grundakt ist möglich unter Bedingungen rechtlicher Kontinuität und rechtlicher Diskontinuität. Beide Möglichkeiten sind in der Verfassungsgeschichte real geworden und werden von Carl Schmitt treffend beschrieben. Herstellung von Verfasstheit unter Bedingungen rechtlicher Diskontinuität lässt sich juristisch erfassen mit der Theorie der verfassungsgebenden Gewalt: ein juristischer Grenzbegriff, der das Normensystem dem Willen der Macht öffnet, in der Hoffnung dass die Haber von ihrer Macht im Bewusstsein ihrer Verantwortung gegenüber dem System anerkannter Normen Gebrauch machen. 27 Siehe P. Schiffauer, Versuch über die Transformation des Staates in der Europäischen Union, in: P. Häberle/M. Morlok/V. Skouris (Hrsg.), Festschrift für D. Tsatsos, Baden-Baden 2003. 28 C. Schmitt, Verfassungslehre, 8. Aufl., Berlin 1993, S. 21 ff.
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Eine Garantie hierfür gibt es nicht. Verfassungsgebende Gewalt verbraucht sich mit ihrer Ausübung: die von ihr gesetzte Verfasstheit kann nur nach von ihr selbst bestimmten Regeln verändert werden, solange sich nicht eine neue verfassungsgebende Gewalt zur Existenz aufschwingt. Politisch hat die Herstellung von Verfasstheit unter Bedingungen juristischer Diskontinuität den Charakter einer Revolution. Die Verbindlichkeit von Normtexten wird ausgesetzt, zumal von denjenigen, die die bis dahin bestehende Verfasstheit vermitteln. Revolution mit allen Chancen und Risiken, denn der Umfang der Aussetzung von Verbindlichkeit lässt sich nicht im Voraus eingrenzen, normativieren. Wenn Revolution die Chance einer politisch formierten Gesellschaft ist, aus der Verkrustung und den Fesseln ihrer gegenwärtigen Verfasstheit auszubrechen, so impliziert sie gleichzeitig und unaufhebbar das Risiko des Jakobinismus oder Bolschewismus, dass keinem der anerkannten, auch der rechtlich normierten Werte mehr Beachtung verschafft werden kann und dass die politische Formgebung durch revolutionären Akt weit hinter das zurückfällt, was in kritischer Auseinandersetzung mit der politischen Geschichte als Norm politischer Formgebung postuliert werden kann (hier und jetzt z. B. Menschenrechte, Demokratie, Rechts- und Sozialstaatlichkeit). Herstellung von Verfasstheit unter Bedingungen juristischer Kontinuität lässt sich nur denken nach dem Modell des Vertrags. Vertrag ist die genuin juristische Erfindung der Schöpfung von Normativität durch übereinstimmenden Willen. Es kann dies freilich nur eine sekundäre Schöpfung von Normativität sein, weil ihre Geltung den Bezug auf ein in der Geschichte gewachsenes System des Sollens, der Geltung von Recht voraussetzt. In der Rückbindung an dieses geschichtlich gewachsene System normativer Geltungsansprüche besteht gerade die Kontinuität, in ihr liegen die Garantien einer Herstellung von Verfasstheit durch Vertrag. Als theoretische Figur überzeugend und von großer retrospektiver Legitimationswirkung („Verfassungsvertrag“, „contrat social“), ist Verfasstheit durch Vertrag in der Praxis des hier und jetzt freilich nur schwer zu erringen. Die Herstellung der Übereinstimmung des Willens einer unbestimmten Masse von Rechtssubjekten ist ein praktisch nicht lösbares Problem und die Regeln der Mehrheitsentscheidung entfalten dort keine Legitimationswirkung, wo es um die Voraussetzungen für ihre Anwendung, die Herstellung des politischen Grund-Konsenses geht. Herstellung von Verfasstheit durch Vertrag kann daher nur praktisch werden, wenn die handelnden Subjekte nicht Individuen, sondern selbst bereits verfasste politische Formen sind. In dem Maße, wie diese ihrerseits in einer Weise verfasst sind, dass ihr Handeln im Verhältnis zu den sie konstituierenden Individuen legitimiert ist, kann die Herstellung von Verfasstheit durch übereinstimmenden Willen politischer Körperschaften und durch dessen Fixierung in der juristischen Form des Vertrags eine Legitimationswirkung entfalten, deren Überzeugungskraft diejenige der „verfassungsgebenden Gewalt“ bei weitem übersteigt und die zudem die Risiken eines revolutionären politi-
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schen Akts ausschließt. Diese Vorteile gibt es aber nur um den Preis eines langjährigen Prozesses mühsamer Arbeit zur Herstellung des erforderlichen Konsenses und des Verzichts auf eine dem Schöpfergott nachempfundene endgültige Formgebung im Hier und Jetzt zugunsten einer graduellen, in ihren Einzelheiten nicht vorhersehbaren, Entwicklung in einem evolutionären Prozess politischer Geschichte. 2. Demos
Wer ist verfasst und wozu? Im klassischen Denken des Staates (exemplarisch bei Carl Schmitt) verfasst sich die Einheit des Volkes zum Staat. Ohne menschliches Substrat ist keine Verfasstheit denkbar. Verfasstheit setzt strukturiertes gesellschaftliches Leben (z. B. in Verbänden von Familien) voraus. Familiäre Ordnungen brauchen keine Verfasstheit; sie erhalten ihre Form durch die Autorität des Patriarchen. Dynastische Monarchie ist die naive Übertragung der familiären Herrschaftsstruktur auf interfamiliäre Verbände. Wenn diese sich zu Gesellschaft strukturieren, wird patriarchalische Herrschaft fragwürdig. Theologische Legitimationsversuche können allenfalls die Institution des dynastischen Königtums rechtfertigen; strukturierte Gesellschaft fordert Verfasstheit: Institutionen, Ämter, Zuständigkeiten, Pflichten, Rechte (in der Moderne: den Raum des öffentlichen Rechts). Verfasste Ordnungen setzen eine gesellschaftliche Basis denknotwendig voraus. Klassische Staatslehre benennt sie als „das Volk“, die „Einheit des Volkes“, das Verfasstheit setzt, indem es seinen politischen Willen zur Staatswerdung manifestiert. Das Postulat der Einheit des Volkes sperrt die Staatslehre in eine Zwangsjacke, die es ihr unmöglich macht, die politische Geschichte der Gegenwart juristisch adäquat zu erfassen. In der juristischen Staatslehre ist der Begriff des Volkes, ähnlich wie der der Verfasstheit, ein Grenzbegriff, an der Schwelle von der vorrechtlichen zur rechtlichen Konzeption. Mit dem Terminus „Volk“ wird ein vorrechtlicher Bezug gesetzt auf eine strukturierte Gesellschaft, die eine politische Einheit sein will und sich als solche verfasst. Doch sollte man nicht übersehen, dass alle existierenden Völker, auf die die juristische Staatslehre Bezug nehmen konnte, bereits durch Recht und zum Staat verfasste Völker waren. Wenn normative Sätze aufgrund geschichtlicher Erfahrung proponiert werden können, ist es naheliegend, dass für die Staatslehre des 19. und 20. Jahrhunderts das „Volk“ und jene „Einheit“ vom vorrechtlichen Bezug zum normativen Kriterium staatlichen Seins aufstieg. Die Analyse der politischen Geschichte der Gegenwart und ihres Potentials zeigt, zu welcher Verengung der Auffassung vom Staat jene Umbesetzung führt. Wenn geschichtliche Erfahrung Normativität legitimieren kann, so kann sie sie auch in Frage stellen. Das von der Staatslehre postulierte juristische Kriterium der „Einheit des Volkes“ wird nachhaltig erschüttert durch die
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politische Geschichte der Gegenwart, die das Heraufkommen neuer, nicht von der Einheit eines Volkes getragener politischer Ordnungen wahrnimmt. Ist die Einheit des Volkes nicht länger ein geeignetes juristisches Kriterium für das gesellschaftliche Substrat einer verfassten politischen Ordnung, welches Kriterium lässt sich für eine juristische Staatslehre entwickeln, das sie von ihrer Zwangsjacke befreit? Joseph Weiler schlägt vor, den Terminus „Demos“ zu verwenden.29 Diese Wortwahl erscheint mir als äußerst glücklich, denn sie erzeugt einen etymologischen Bezug zu einem anderen Grundbegriff der Staatslehre, der Demokratie gedacht als Volkssouveränität. Wenn wir diese geglückte Wortwahl von Jopseph Weiler übernehmen, so ist damit aber noch lange nicht das aufgeworfene juristische Problem der Staatslehre gelöst. Der Terminus „Demos“ enthält nicht bereits in sich einen juristischen Gehalt, normative Kriterien die mit hohepriestlichem Pathos ausgelegt und verkündet werden müssten. Vielmehr liegt die juristische Herausforderung darin, einen normativen Gehalt des Begriffes „Demos“ für die Staatslehre des 21. Jahrhunderts in einer Weise zu konstruieren, dass er die politische Praxis adäquat umgreifen und normieren kann. Aus dem bisherigen ergibt sich, dass für „Demos“ ein Kriterium nicht relevant sein kann, das für aristotelische Begriffsbildungen regelmäßig verwendet wird: das Kriterium der Einheit. Es fließt aus dem Denken des Parmenides, dem Postulat, der Vielheit des Seienden eine Idee, ein geistiges Konstrukt entgegenzusetzen, das die Einheit des Seins repräsentiert, das bei aller Vielheit und Veränderlichkeit des Seienden selbst unveränderlich bleibt. Dieser Gedenke hat in der Moderne in seiner Auslegung durch Martin Heidegger neue Kraft gewonnen. Seine Größe liegt in der geistigen Anstrengung, von dem Unvorstellbaren und Unendlichen, das unserem Sprachvermögen sich entzieht, dennoch mit Mitteln des Denkens in der Sprache zu handeln. Auf dieser von Heidegger anvisierten Höhe vermag das Denken in der Sprache andere Gründungen zu weisen als diejenigen der europäischen Metaphysik nach Platon und Aristoteles. Dies Denken der Einheit des Seins auf Begriffsbildungen der politischen Geschichte oder der Rechtswissenschaft ummünzen zu wollen, wäre der Versuch, aus Juwelen Kleingeld zu schlagen. Die Kostbarkeit der Größe des Gedankens wäre zerschlagen und der Wert des geschlagenen gerade groß genug, um die Bedürfnisse des Tages zu decken; für Investitionen in die schon nahe Zukunft bliebe kein Rest. Für die Begriffsbildungen des Hier und Jetzt unserer politischen Geschichte und ihrer Normierung durch das Recht, wenn sie nicht zur Verkrustung des Standes von gestern führen30 und eine Perspektive für die Zukunft lassen soll, 29 Siehe J. H. H. Weiler, The Constitution of Europe, „Do the new clothes have an emperor“, Cambridge 1999, S. 238 ff.
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ist dies Kriterium der Einheit ungeeignet. „Demos“ kann nicht als Einheit gedacht werden, also auch nicht als Einheit einer Gesellschaft, sondern muss entworfen werden als Zusammensein einer Vielheit, verbunden durch Bindekräfte zivilen Lebens, die den Zusammenhalt dieser Vielheit organisieren. Versuchen wir, einige dieser Bindekräfte zu nennen und anschließend ihre Wirkungsweise zu beschreiben. Sie sind weithin, aber nicht ausschließlich, was wir gemeinsame Werte zu nennen gewöhnt sind. Zuallererst steht die Bindekraft des Rechts, ein Zusammenhalt durch Unterworfenheit der Vielheit unter die Geltung einer Anzahl anerkannter Normtexte. Die Arbeit an und mit diesen Normtexten kann in einer Vielheit, und in einer Vielheit von Sprachen zumal, durchaus in einzelnen Fällen zu unterschiedlichen Resultaten führen, aber noch in dieser Unterschiedlichkeit ist ein Zusammenhalt organisiert durch die Arbeit am gleichen Text, deren Resultat sie ist. Zum Zweiten steht das Prinzip der Demokratie, gemäß dem die als Demos organisierte Vielheit ihre politischen Angelegenheiten selbst bestimmt. Zum Dritten steht das Prinzip der Freiheit, das dem Individuum in einer als Demos organisierten Vielheit die Erarbeitung seiner Identität nach autonomen Entscheidungen des einzelnen im Rahmen der Regeln des Rechts und der Demokratie ermöglicht. Zum Vierten steht das Prinzip der Solidarität, des Einstehens des einen für unverschuldete Not des anderen, ohne das eine Vielheit nicht als Demos organisiert werden kann, ohne von inneren Spannungen zerrissen zu werden. Zum Fünften stehen die Prinzipien, die in der okzidentalen Tradition der Grund- und Menschenrechte invariant geworden sind und als durch die politische Geschichte legitimierte Normierungen anerkannt werden können. Eine Vielheit von Menschen, deren Zusammenhalt durch diese fünf Elemente organisiert ist, lässt sich als „Demos“ ansprechen, der Substrat einer politischen Form, einer organisierten politischen Ordnung sein kann. Wenn die juristische Staatslehre nicht in den Begriffsbildungen des 19. Jahrhunderts verkrusten will, wird sie anerkennen müssen, dass ein Staat in Entstehung begriffen ist, wenn sich ein „Demos“ erfolgreich organisiert. Ein solcher Staat ist nicht notwendigerweise ein Nationalstaat im Sinne der europäischen Neuzeit, nicht notwendigerweise ein Superstaat wie die Vereinigten Staaten von Amerika oder die zerfallene Sowjetunion, sondern möglicherweise eine neue Form von Staat, die aus der Transformation der bestehenden Staaten in dem Maße entsteht, wie ihre „Völker“ zu der organisierten Vielheit eines (europäischen) „Demos“ zusammenwachsen. 30 Historische Beispiele für solche Verkrustungen, die zum Niedergang ganzer Kulturkreise führen können, gibt es genug. Man denke an die islamische Welt, die seit der Eroberung von Bagdad und Alessandria bis zum Ende des Mittelalters kulturell führend war und die dann den Start in die Neuzeit verpasst hat.
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Das Problem der Demokratie in einer so entstehenden politischen Form neuen Typs ist damit nicht mehr ein grundsätzliches, sondern nur noch eines des Willens und der Zeit. Europäische Wahlen, Europäische Politische Parteien, Europäische Öffentlichkeit können die Orte werden, in der der Europäische Demos gemäß den fünf Prinzipien seinen Zusammenhalt organisiert, vorausgesetzt, der Wille zu solchem Tun kann sich unter den politischen Führungsschichten durchsetzen und wird von einem Basiskonsens in der Vielheit der Individuen getragen. Die institutionelle Basis für die Organisierung des Zusammenhalts des Europäischen Demos ist seine gewählte politische Repräsentation. Eine Besonderheit der europäischen Zeitgeschichte ist es, dass ein solches politisches Repräsentationsorgan geschaffen wurde, ehe die politische Selbstorganisation des Demos in einer strukturierten politischen Öffentlichkeit ihren Anfang nahm. Der politische Wille der sich in der Union zusammenschließenden Völker und Staaten hat vielmehr im direkt gewählten Europäischen Parlament den Ort geschaffen, an dem, vermittelt durch seine politische Repräsentation, der europäische Demos seine Selbstorganisation in Angriff genommen hat und eine politische Öffentlichkeit setzt, die in einem graduellen Prozess die bestehenden politischen Öffentlichkeiten durchwirkt. Die Entwicklungslinien dieses Prozesses wirken nicht auf ein mögliches Aufgehen der nationalen politischen Öffentlichkeiten in einer europäischen hin, nicht auf eine Substituierung jener durch diese. Im Verhältnis zu dieser wird die europäische politische Öffentlichkeit ein komplementäres aliud bleiben, der nationalen durch politische Familienverwandtschaften verbunden, aber von ihr unterschieden durch andere Themen, andere Gleichgewichte. Der entscheidende Unterschied ist in der institutionellen Basis dieser Öffentlichkeit angelegt. Repräsentiert das Europäische Parlament den europäischen Demos, so repräsentiert es diesen nicht als Souverän, sondern als Teilhaber an Souveränitätsrechten. In der Union der Gegenwart üben die Mitgliedsstaaten Teile ihrer Souveränitätsrechte in den Institutionen der Gemeinschaft gemeinsam aus. An einem durch die Verträge von Amsterdam und Nizza beträchtlich vergrößerten Teil dieses Teils verfügt das Europäische Parlament über echte Mitentscheidungsrechte, wird die gemeinsame Ausübung jener Souveränitätsrechte geteilt zwischen Organen, die die Staaten und Organen, die den Demos repräsentieren, mit der Besonderheit des Initiativmonopols einer Exekutive, deren Ernennung wiederum in geteilter Verantwortung zwischen Repräsentanten der Staaten und des Demos stattfindet. Die Repräsentation des Europäischen Demos verfügt heute demnach über geteilte Souveränität in Bezug auf einen Teil desjenigen Teils der Souveränitätsrechte der Mitgliedsstaaten, die diese in der Union gemeinsam ausüben. Dieser Jetztzustand ist nicht endgültig, doch andererseits lassen sich verfestigende Prinzipien des Integrationsprozesses und die
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politische Eigenart einer Union, die die Identität ihrer Mitgliedstaaten wahren will, gewisse Grenzen für künftige Transformationen vermuten. Die Grundsätze der Subsidiarität und der Bürgernähe haben zur Folge, dass ein substantieller Teil der Souveränitätsrechte, die heute von den Mitgliedsstaaten und den sie konstituierenden politischen Körperschaften ausgeübt werden, auch in Zukunft bei ihnen verbleiben muss. Die Zuständigkeit der Union, der Gemeinschaft, ist eine am Anfang schmale, im Integrationsprozess sich ständig verbreiternde Brücke zwischen der Souveränität der Mitgliedsstaaten, sie kann sich im Endstadium zu einer diese überspannenden Kuppel aufwölben, doch ist es unwahrscheinlich dass sie sich zu einer souveränen Allzuständigkeit entwickeln wird, selbst wenn diese mit einem konkreten Katalog von den Mitgliedstaaten vorbehaltenen Zuständigkeiten versehen wäre. Es wird deshalb vermutlich dabei bleiben, dass die Mitgliedstaaten in der Union nur einen Teil ihrer Souveränitätsrechte gemeinsam ausüben, einen anderen Teil aber jeder in eigener Verantwortung im Rahmen des gemeinsamen Rechts der Union. Die Wahrung der Identität der Mitgliedsstaaten, zumal die ihrer politischen Identität verlangt, dass die Ausübung von Souveränitätsrechten durch Organe der Union von solchen Organen mitgetragen wird, in denen die Mitgliedsstaaten über eine politische Repräsentation verfügen. Die vom Vertrag von Amsterdam neu gestalteten Verfahren der Mitentscheidung (Art. 251 EGV) in der Gemeinschaftsgesetzgebung und der Ernennung der Kommission (Art. 214 EGV), das Erfordernis der Zustimmung des Rates bzw. der Mitgliedstaaten und des Europäischen Parlaments zu internationalen Verträgen, zu konstitutionellen Akten und zu Änderungen der Gründungsverträge setzen dieses erforderliche Gleichgewicht in institutionelle Regeln um, die im weiteren Integrationsprozess wohl noch in Einzelheiten, in den Grundzügen vermutlich aber nicht mehr geändert werden können. Der Vertrag von Nizza bestätigt dies. Er enthält Feinarbeit bei der Austarierung der inneren Strukturen der Organe. Die großen Gleichgewichte bleiben unverändert. Künftige Demokratisierung der Union wird deshalb denjenigen Teil der in der Union gemeinsam ausgeübten Souveränitätsrechte zum Gegenstand haben, für den heute noch keine geteilte Verantwortung zwischen der Repräsentation des Demos und der Repräsentation der Staaten besteht. Mit anderen Worten, die Asymptote, auf die hin künftige institutionelle Reformen der Union, wahrscheinlich tendieren werden, kann beschrieben werden durch die Formel der geteilten Verantwortung (zwischen der Repräsentation des europäischen Demos und der der Staaten der Union) für einen Teil der Souveränitätsrechte (der in der Union gemeinsam ausgeübten im Gegensatz zu den von den Staaten in eigener Verantwortung ausgeübten). Darin liegt der spezifische Unterschied europäischer Demokratie zur Demokratie auf der Ebene des Nationalstaats: Letztere gründet auf der Volkssouveränität und verleiht dem Souverän, in Praxis seiner
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politischen Repräsentation, Herrschaftsmacht, die nur durch das Recht eingeschränkt ist. Europäische Demokratie ermöglicht prinzipiell nur geteilte Herrschaft, ein Zusammenwirken der politischen Repräsentation des europäischen Demos mit der der Staaten der Union. Die Frage der Souveränität und des Souveräns der Union ist deshalb unergiebig: Souveränität und Souverän sind in der Union unaufhebbar geteilt. Das kann, muss aber nicht die Handlungsfähigkeit der Union beeinträchtigen. Es wird noch zu untersuchen sein, durch welche institutionellen Regeln die politische Basis geteilter Souveränität am besten funktionsfähig gemacht werden kann. Hier bleibt festzuhalten: der europäische Demos und seine politische Repräsentation ist nicht Souverän, und wird es voraussichtlich nicht werden können. Er ist Teil des Souveräns einer Union, in der Teile der Souveränitätsrechte ihrer Mitgliedstaaten zusammengefasst sind. Bleibt die Frage, ob eine Staatslehre, die den juristischen Horizont des Nationalstaates zu transzendieren beansprucht, eine politische Ordnung mit geteilter Souveränität als Staat ansehen kann, unterstellt dass diese Ordnung von ihrem jetzigen Entwicklungsstand in einen Zustand gelangt ist, der ihr Entwicklungspotential ausschöpft. Die Frage ist, ob für die Anerkennung von Staatlichkeit Souveränität als Inbegriff unabgeleiteter, unteilbarer oberster Herrschaftsmacht gefordert werden muss oder ob diese Forderung nur auf einer Verfestigung historischer Begriffsbildungen beruht, die einer Öffnung zugänglich sind, wenn andere konstruktive Elemente ihre tragende Aufgabe übernehmen.
a) Unabgeleitetheit der Souveränität Der Gedanke unabgeleiteter, in sich selbst wurzelnder Souveränität entsteht mit der Theorie des modernen Staates und ihrer privilegierten Herrschaftsform, der absoluten Monarchie. Im europäischen Mittelalter war Herrschaft abgeleitet von göttlicher Gnade (und damit nicht nur inhaltlich eingeschränkt, sondern unter bestimmten Umständen „päpstlicher Bann“ auch zeitlich begrenzbar). Sie ruhte darüber hinaus auf einem Gegenseitigkeitsverhältnis von Treue und Pflichten, dem Lehnsystem, das den Souverän machtlos werden ließ, befolgte er selbst nicht seine lehnrechtlichen Pflichten. Erst die Theorie des neuzeitlichen Staates setzte den Herrscher bindungsfrei, vor allem Recht („princeps legibus solutus“) und vor aller religiösen Bindung (die Formel „von Gottes Gnaden“ verkommt zur bloßen Legitimationsfigur für die Herrscherdynastie, ohne Herrschaft noch begrenzen zu können). Der so möglich gewordene absolute Staat war der kriegerischste und aggressivste der Geschichte. Kriege wurden geführt, wenn diese im privaten Interesse der Herrscherdynastien gewinnbringend erschienen. Innerhalb von 3 Jahrhunderten eroberten die so militarisierten Staaten Europas den Rest der Erde oder un-
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terwarfen ihn jedenfalls ihrer Kontrolle. Die ständige militärische Anspannung beförderte die rapide Entwicklung von Technik und Industrie auf immer neue Höchststände, und parallel dazu wurden kommerzielle Strategien und Techniken entwickelt, die die wirtschaftliche Kontrolle und Ausbeutung von nicht eroberten Gebieten ermöglichten (Eroberung mit „friedlichen“ Mitteln). Die Frage ist, ob dieser absolute Staat der Prototyp der Staatslehre sein soll? Alternativen wären Formen von Staat, die statt auf Welteroberung auf beständige Entwicklung im Gleichgewicht mit anderen Staaten angelegt sind, deren innere Ratio nicht der von Elias beschriebene „Königsmechanismus“, sondern die dauerhafte friedliche Koexistenz zivilisierter Menschen ist, Formen in denen Staat beständig, „stato“, Staat in direkten Sinne der Etymologie dieses Wortes würde31. Der tragende Grundsatz der modernen Demokratien ist die Volkssouveränität. Versteht man diese mit Carl Schmitt als die unteilbare höchste Herrschaftsmacht, so ist der Weg zum Jakobinismus, Bolschewismus, zum totalitären Staat vorprogrammiert. Die Gefahr besteht, dass die Bindekräfte des Rechts (ähnlich wie beim Übergang zur Neuzeit die Bindekräfte der Religion) zur reinen Legitimationsformel degenerieren würden. Die Ablösung der Herrschaftsmacht im vorbestimmten zeitlichen Rhythmus läuft Gefahr, zum Ritual einer Fernsehdemokratie zu verkommen, bei dem der Bürger nur noch die Wahl zwischen „Dash“ und „Omo“ hat und sein Interesse an solcher Wahl durch entsprechenden Eifer beim Urnengang zum Ausdruck bringt. Wer der Totalisierung des Staats und dem Verfall der Demokratie ernsthaft Widerstand entgegensetzen will, muss deshalb im Bereich der Staatslehre das Dogma der Unabgeleitetheit der Souveränität, auch der Volkssouveränität, in Frage stellen. Souveränität, auch Volkssouveränität kann auf der Höhe demokratischer und zivilisierter Staaten des ausgehenden 20. Jahrhunderts nur noch als abgeleitete Souveränität gedacht werden. b) Unteilbarkeit der Souveränität Das Unteilbarkeitsdogma scheint aus der Begrifflichkeit der Souveränität notwendig zu folgen. Für Carl Schmitt und seine Auffassung von Souveränität steht dies außer Frage. Doch viele der in politischer Geschichte wirklich gewordenen Formen von Souveränität scheinen diesem Dogma zu widersprechen. Stefan Oeter hat illustrative Beispiele32 zusammengestellt, besonders beeindru31
Siehe M. Caccari, Geo-Filosofia dell’Europa, Milano 1994. S. Oeter, Souveränität und Demokratie als Probleme in der „Verfassungsentwicklung“ der Europäischen Union, Zaörv 3, 55 (1995), S. 659 ff. 32
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ckend die Verfassung des wilhelminischen deutschen Reiches. War dieses nur ein unvollkommener, noch auf dem Weg zu seiner Vollendung begriffener Staat, weil die Souveränität zwischen dem Reich und den Ländern geteilt war? Ohne Zustimmung der Länder im Bundesrat konnte das Reich weder über Krieg und Frieden noch über den Notstand entscheiden. Selbst unter Zugrundelegung von Carl Schmitts zugespitzter Definition von Souveränität kann die wilhelminische Reichsverfassung nur in der Weise beschrieben werden, dass die äußerste Entscheidungsgewalt zwischen dem Kaiser (mit Gegenzeichnung des Reichskanzlers) und dem Reichsrat (dem Repräsentationsorgan der Länder) aufgeteilt war. Stefan Oeter trägt beachtliche Argumente vor, die die Schlüssigkeit des Unteilbarkeitsdogmas in Frage stellen. Die von ihm entwickelten Umbesetzungen des Souveränitätsbegriffs weisen einen Weg aus der Sackgasse. Aus der hier entwickelten Perspektive einer den Horizont des Nationalstaates überschreitenden juristischen Staatslehre kann Folgendes hinzugefügt werden: In dieser Perspektive gründet (Volks-)Souveränität auf einem Ableitungszusammenhang in einem Beziehungsdreieck aus in der Geschichte stabil gewordenen, politischem Willen nicht mehr verfügbaren Rechtsnormen,33 dem aktuellen politischen Willen eines Demos zu seiner Verfasstheit und der durch Repräsentationsorgane vermittelten Selbstbestimmung der Individuen. (Volks-)Souveränität wird in dieser Perspektive nicht mehr als absolut, sondern als in sich strukturiert gedacht. Die innere Strukturierung dieser Begriffsbildung zeichnet die Linien vor, entlang denen so gedachte Souveränität teilbar ist. (Volks-)Souveränität ist nicht mehr absolut. Der Souverän hat Gesetzgebungsmacht, steht aber in den Bindungen des Rechts („legibus at non iure solutus“). (Volks-)Souveränität äußert ihren Willen nicht notwendig in einem unitarischen Akt. Volksversammlung und Akklamation (von Carl Schmitt als Prototyp demokratischer Willensäußerung gedacht) sind archaische und nicht paradigmatische Formen der politischen Willensäußerung zur Setzung von Verfasstheit. Politische Willensäußerung durch Repräsentationsorgane ist der Königsweg von Volkssouveränität, der die Gefahren des Totalitarismus und Jakobinismus ebenso wie die der Macht charismatischer Führerpersönlichkeiten bändigt und somit einer der Voraussetzungen für die Beständigkeit von Volkssouveränität ist. Durch Repräsentationsorgane vermittelte Volkssouveränität wird nach institutionellen Regeln ausgeübt, die ein Gleichgewicht und eine Aufteilung der souveränen Macht auf verschiedene Organe vorsehen können. Diese Organe kön33 Die konsensfähigen Werte haben eine darüber hinausgehende Legitimationsfunktion, doch sie können, solange sie nicht in die Normativität des Rechts Eingang gefunden haben, nicht Teil als Ableitungszusammenhangs von Souveränität sein.
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nen (in einem unitarischen Staat, der von einem einheitlichen Demos verfasst wurde) alle auf einer Ebene stehen und somit ein System horizontaler Gewaltenteilung bilden. Sie können auch in einem vielheitlichen Demos die auf verschiedenen Stufen konstruierten politischen Identitäten repräsentieren, (mit oder ohne Staatsqualität, wie Kommunen, Länder, autonome Regionen, Staaten) und somit ein System vertikaler Gewaltenteilung bilden. Für die Frage nach dem Ort der Volkssouveränität entscheidend ist, ob Systeme der horizontalen oder vertikalen Gewaltenteilung nur eine organisatorische Verteilung der Ausübung einer einheitlichen Souveränitätsmacht darstellen oder ob die Souveränitätsmacht selbst eine Teilung erfahren hat. Zur Beantwortung dieser Frage ist das C. Schmitt’sche Kriterium der Macht, über letzte, existentielle politische Dinge zu entscheiden, ein vielleicht brauchbares Hilfsmittel. Wenn das von einem Demos verfasste System die letzten Entscheidungen einem einzigen Organ zuweist, ist die Souveränität unitarisch ausgeprägt. Weist die Verfassung diese Entscheidungen dem Zusammenwirken mehrerer Organe auf der gleichen Stufe zu, können wir von geteilter Souveränität in einem föderalen Staat sprechen. Weist die Verfassung diese Entscheidungen dem Zusammenwirken von Organen unterschiedlicher Stufe zu, so schlage ich vor, von geteilter Souveränität in einem polykephalen Staat zu sprechen. Aus den dargelegten Gründen gibt die Transformation des Staates, die sich in der Geschichte der Gegenwart vollzieht, Anlass, auf die Dogmen der Unteilbarkeit und Unabgeleitetheit der Souveränität zu verzichten, die auf den Nationalstaat der Neuzeit bezogen und den in der Postmoderne als politische Reaktion auf die Vernichtungskriege des 20. Jahrhunderts entwickelten politischen Formen nicht mehr angemessen sind. Die Transformation des Staates vollzieht sich durch eine Öffnung und neue Bindung von Souveränität. In dem Maße, wie der Souverän bereit ist, seine Einheit aufzugeben und seine Souveränität in Bindungen einzustellen, in dem Maße ist der Staat strukturell daraufhin angelegt, mit anderen Staaten in Frieden zusammenzuleben. Die entwickelten drei normativen Elemente (Verfasstheit, Demos, Souveränität) erscheinen hinreichend, um eine adäquate Transformation für alle Elemente angeben zu können, an deren Vorhandensein die klassische Staatslehre die Anerkennung von Staatlichkeit knüpft. Nehmen wir als Ausgangspunkt die klassische drei Elemente-Lehre von Georg Jellinek,34 die die Anerkennung von Staatlichkeit knüpft an das Vorhandensein von Staatsgebiet – Staatsvolk – Staatsgewalt. Dabei sollen hier nicht die Schwächen dieser Lehre diskutiert werden.35 Es soll vielmehr gezeigt werden, dass man die Staatlichkeit überstaatlicher politi-
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G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., Darmstadt 1959.
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scher Ordnungen erkennen kann, selbst wenn man die konzeptionellen Prägungen der drei-Elemente-Lehre nicht aufzugeben bereit ist. An der Schwelle zum 21. Jahrhundert drängen sich die im Folgenden erläuterten Transformationen auf, die die Jellinekschen Begriffe aus der Enge einer tautologischen Prägung befreien. Diese legte mit der Vorsilbe „Staats-“ unausdrücklich und unerklärt normative Elemente in das Kriterium hinein, nach denen Staatlichkeit beurteilt wurde und die aus dem Bild des „Staats“ abgezogen waren, den man schon kannte. Verzichtet man auf die Dogmatisierung der zuhandenen Vorstellung vom Staat, gelangt man zu den folgenden Transformationen der Jellinekschen Elemente, die ihre gegenseitige Bezüglichkeit sichtbar machen. – Gebiet eines Staates ist das Gebiet, auf dem ein verfasster Demos Souveränität ausübt, sei es durch ursprüngliche Landnahme36 oder durch abgeleiteten Erwerb von Souveränitätsrechten. – Volk eines Staates ist eine Vielheit von Menschen, deren Zusammenhalt durch die Souveränität eines verfassten Demos vermittelt wird, im Rechtsstaat hervorragend durch die Bindekräfte des Rechts, im demokratischen Staat hervorragend durch die Selbstbestimmung über politische Angelegenheiten, im Sozialstaat zudem durch die Bande der Solidarität. – Gewalt eines Staates ist die Form von Souveränität, die ein verfasster Demos auf einem abgrenzbaren Gebiet über einen abgrenzbaren Personenkreis (sich selbst und andere auf dem seinem Gebiet weilende Personen) ausübt. Sie impliziert eine oberste Herrschaftsmacht, die autonom oder abgeleitet, einheitlich oder geteilt sein kann und die über die Mittel zur Durchsetzung ihres Machtanspruchs verfügt. Diese Transformation der Jellinek’schen Kriterien lässt bewusst die Normativität des Rechts im Vagen.37 Sollte einer der real existierenden Staaten die Bindungen des Rechts missachten und sich, zum Beispiel, zu einem totalitären Staat entwickeln, es hülfe nichts, wenn die Staatslehre seine Staatlichkeit bestritte, da der Abweg in den Totalitarismus ja gerade in der Verachtung jeder rechtlichen Legitimation und 35 Rechtstheoretisch ist diese Konzeption bereits seit der Verfassungslehre von Carl Schmitt erledigt, aber ihre Wirkung in den Köpfen von Juristen ist nach wie vor beträchtlich; siehe P. Schiffauer, Versuch über die Transformation des Staates in der Europäischen Union, Versuch über die Transformation des Staates in der Europäischen Union, in: P. Häberle/M. Morlok/V. Skouris (Hrsg.), Festschrift für D. Tsatsos, BadenBaden 2003. 36 C. Schmitt, Nomos der Erde, Berlin 1988. 37 Sie ist im Konzept des Demos zwar mitgedacht (vgl. oben die fünf entwickelten normativen Elemente), gibt aber keine Garantie, dass real existierende politische Ordnungen nicht den Boden jener 5 Elemente verlassen.
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Bindung besteht, die allenfalls als leere Form beibehalten wird, um bei günstiger Gelegenheit vollends kassiert zu werden. Der politische Kampf gegen den Totalitarismus muss an anderem Ort als in der Staatslehre organisiert werden, Sache der Staatslehre ist es jedoch, Warnsignale aufzurichten, normative Elemente aufzustellen, die deutlich werden lassen, wenn ein Staat dabei ist, den Boden des Rechts zu verlassen. Wird ein Überschreiten jener normativen Grenze erkennbar, ist es Sache des Demos, seine Verfasstheit im Recht zu verteidigen, sei es durch Mittel des Rechts, wo diese noch zuhanden sind38, sei es durch revolutionäre Mittel, wo der totalitäre Staat sich die Formen des Rechts schon vollends gefügig machen konnte. Aus diesen Gründen wird die juristische Staatslehre den totalitär gewordenen Staat zwar als Staat ansprechen, jedoch gleichzeitig deutlich machen, dass seine Verfasstheit sich von den Bindungen des Rechts gelöst und sich selbst als einzige Autorität gesetzt hat. Der totalitäre Staat ist Staat, jedoch kein Rechtsstaat. Ähnlich wird es zu beurteilen sein, wenn eine real existierende politische Ordnung die Normen der Demokratie nicht mehr beachtet, sei es, dass politische Herrschaft auf Lebenszeit beansprucht und verliehen wird, sei es, dass die repräsentativen Mechanismen politischer Selbstbestimmung zu leeren Formen verkommen, weil politische Entscheidungen an anderen Orten getroffen und sie in den Repräsentationsorganen nur rituell abgesegnet werden. Wenn solche Fehlentwicklungen Normen des Staatsrechts verletzten, kann dieses seine Alarmfunktion wahrnehmen. Vollziehen sich solche Fehlentwicklungen jenseits der Normativität, aber der Form nach unter Beachtung der institutionellen Regeln, ist es schwieriger für den Juristen, Alarm zu geben, weil er eine den positiven institutionellen Regeln zugrunde liegende Normativität geltend machen muss, deren allgemeiner Anerkennung er nicht mehr sicher sein kann, wenn Fehlverhalten zur politischen Gewohnheit geworden sind. Das gleiche gilt bei einer Abkehr von den Prinzipien der Freiheit, der Solidarität und von Bestand der Grund- und Menschenrechte. Wenn Staat in der juristischen Staatslehre verstanden werden kann als eine souveräne politische Form, zu der sich ein Demos verfasst, mit den erläuterten Transformationen der Begriffe der Souveränität, des Demos und der Verfasstheit, dann sind im Begriff des Demos die fünf Prinzipien des demokratischen Rechts- und Verfassungsstaates zwar mitgedacht, aber nicht in Form einer abso38 Interessant in diesem Zusammenhang der durch den Vertrag von Amsterdam neu geschaffene Art. 8 EUV, der den Repräsentationsorgan des europäischen Demos, zusammen mit dem Repräsentationsorgan der europäischen Staaten, ein solches rechtlichen Mittel verleiht, wenn ein Mitgliedstaat der Union den Boden der Rechtsstaatlichkeit verlässt, sowie die Ergänzung dieses Instruments durch das im Vertrag von Nizza eingeführte „Frühwarnsystem“.
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luten Garantie, die man in einen Tresor einschließen und erforderlichenfalls herausholen könnte, sondern in Form einer normativen Forderung, deren Verwirklichung der gesellschaftlichen, juristischen und politischen Praxis aufgegeben und in ihr immer neu erkämpft werden muss. Sie sind gemeinsamer geistiger Schatz europäischer Zivilisation, der aber nur erhalten werden kann, wenn jede Generation wieder aufs Neue sich diese Überzeugungen erwirbt und an ihrer Verwirklichung mit Ernsthaftigkeit und Entschlossenheit arbeitet. Im Lichte dieser Ausführungen erhellt sich die These, dass in der Europäischen Union die Staaten, die ihre Mitglieder sind, in einen Transformationsprozess eingetreten sind, der nicht notwendig ihre Staatlichkeit in Frage stellen muss, sondern vielmehr auf die mögliche Herausbildung einer neuen Form von Staatlichkeit hinweist, die bestehende nationale Identitäten in der organisierten Vielheit eines europäischen Demos aufhebt. In ihrem jetzigen Entwicklungsstand hat die Union diese Transformation noch nicht abgeschlossen, ihre Staatlichkeit ist noch nicht real, sondern noch virtuell. Wenn man, wie von mir vorgeschlagen, die Form von Staatlichkeit, auf die sich die Union hinentwickelt, als polykephal bezeichnet, so wäre die Union in ihrem hier und jetzt ein virtuell polykephaler Staat.
c) Das institutionelle Gleichgewicht des polykephalen Staates Die Formen des Staates verändern sich nur in den langsamen Transformationen notwendig kleiner Schritte geschichtlicher Evolution. Sie bleiben mithin gegenüber zahlreichen institutionellen Neuerungen invariant. Gewisse ausgezeichnete institutionelle Veränderungen transzendieren dagegen historisch gewachsene Formen des Staates und erschließen eine neue Dimension der politischen Existenz der Menschen. In den demokratischen Staaten der westlichen Hemisphäre erscheinen die institutionellen Strukturen im 20. Jahrhundert weitgehend gefestigt. Anders als in den politischen Verfassungskämpfen des 19. Jahrhunderts fließen verfassungsgebende Akte in diesem Zeitraum nicht aus dem normalen politischen Leben, sondern aus der Überwindung existentieller Krisen und Bedrohungen, insbesondere von Krieg (2. Weltkrieg in Italien, Deutschland, Österreich, Algerienkrieg und 5. Republik in Frankreich), von totalitären Diktaturen (Griechenland, Portugal, Spanien) und Systemen (mittel- und osteuropäische Staaten nach dem Zerfall der Sowjetunion). Der Versuch, ein Kriterium zu entwickeln, um kontingente institutionelle Reformen von solchen zu scheiden, die die Form des Staates berühren, wird ansetzen bei der in Auseinandersetzung mit der juristischen Staatslehre entwickelten Definition des Staates. Wenn wir den Staat verstehen als eine souveräne politische Form, zu der sich ein Demos verfasst, so impliziert ein solcher Sprachge-
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brauch das Zuhandensein der Optionen autonomer und abgeleiteter, monolitischer und geteilter Souveränität sowie die entwickelten fünf normativen Prinzipien. IV. Zeitgeschichtliche Optionen Der Versuch, öffentliche Ordnung aus der Perspektive der Freiheit zu beschreiben, muss nach der Setzung des Axioms der Freiheit, die die Freiheit sich zu binden einbegreift, das Reich der Notwendigkeit ins Auge fassen, das den Bezugsrahmen möglicher Freiheit allerest bildet. Jeder Versuch, das Leben des Menschen in Freiheit vom Individuum her zu denken, muss scheitern, weil er die Notwendigkeit gesellschaftlicher Existenz missachtet. Alle Ideen vom Gesellschafts- oder Staatsvertrag, gegründet auf hypothetisch freie Entscheidungen von Individuen, sind deshalb falsche Theorie. Sie verfehlen jeden sinnvollen Bezugsrahmen menschlicher Freiheit; ihr Verständnis von Freiheit entartet zwangsläufig zu Jakobinismus, zu einer Diktatur der Masse oder zum Anarchismus, zur Beliebigkeit des „anything goes“. Apostel einer objektiven Moral wie Vittorio Hösle,39 der in der geistigen Verzweiflung des postmodernen Gedankenpotpourris einen Weg zu weisen suchen, kämpfen auf verlorenen Posten. Wer den Menschen zuerst als freies Individuum setzt, nach dem Modell der christlichen Schöpfungsgeschichte als fertig und mit Würde versehen, sucht in jenem vorgestellten luftigen Raum der Freiheit vergebens nach festen Punkten, an denen Bindungen zu verankern wären. Jede postulierte Objektivität kann geglaubt werden oder auch nicht. Dagegen ist zu erinnern: Die Denkfigur des freien Individuums, das die Würde, die es für sich selbst beansprucht, ohne sich selbst zu negieren dem Anderen nicht verweigern kann, erscheint erst spät in der Evolutionsgeschichte des Menschen. Wenig wissen wir über die Mechanismen, die Verbände beweglicher Lebewesen zusammenhalten und ihre Führung organisieren. Die Ethologie hat bei höheren Wirbeltierarten Machtpyramiden beschrieben, wie wir sie auch in menschlichen Gesellschaften kennen. Den Mechanismus, auf dem ihre Wirkungsweise beruht, hat Elias Canetti40 ans Licht gehoben: die nicht vollzogene, aber jederzeit vollziehbare Todesdrohung. Auf diesen Mechanismus gegründete Herrschaft hat menschliche Gesellschaften organisiert. Organisierte Gesellschaften haben sich im Überlebenskampf gegen nichtorganisierte behauptet. Der Evolutionsprozess hat bis zur Gegenwart Machtpyramiden selektiert. Die existierenden Staaten sind die evolutionäre Form, die Machtpyramiden in der Ge39 40
V. Hösle, Moral und Politik, München 1997. E. Canetti, Masse und Macht, Düsseldorf 1960.
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genwart angenommen haben. In ihren vielfach unterschiedlichen Gestalten sind sie Ergebnis eines geschichtlichen Prozesses der Notwendigkeit. Das bedeutet nicht, dass ihre jeweilige Gestalt eine notwendige oder gar unveränderliche wäre. Die existierenden Staaten sind notwendig in dem Sinne, dass in ihnen Kräfte zur Produktion und Reproduktion gebündelt sind, die ohne solche Organisation die Existenz der sie bildenden Individuen bedrohen würden. Die Integrationskraft der Staaten weist jedem Individuum seine Stelle in der Gesellschaft zu, sei es zu Recht oder zu Unrecht, sei es in Freiheit oder Unterdrückung, und an der ihm zugewiesenen Stelle hat das Individuum Anspruch auf den Schutz des Staates, den er ihm sei es kraftvoll, oder sei es auch nur unzureichend gewährt. Die existierenden Staaten und ihre inneren Ordnungen stehen auf dem Fundament der Notwendigkeit. In der Evolutionsgeschichte geformte Gefüge menschlicher Machtkämpfe, sind sie nicht unveränderlich, setzen aber jeder Veränderung erhebliche Trägheitskräfte entgegen, die sich nähren aus den Machtansprüchen all jener, deren Behauptungschancen eine Veränderung bedrohen könnte. Mit der Herausbildung der Form des neuzeitlichen Staates haben gewaltsame Revolutionen, beginnend mit dem Sturm auf die Bastille, immer wieder versucht, die auf geschichtlicher Notwendigkeit aufruhenden Staaten umzustürzen. Sie sind aber sämtlich an jener Trägheit gescheitert, die Staatlichkeit eben nur in den geschichtlich zuhandenen Formen sich ausbilden lässt. Das gilt selbst für solche Revolutionen, die wie die französische auf lange Sicht Neues generieren konnten. Mit derartigen Gegenkräften rechnen muss jede politische Initiative, die sich die Veränderung der politischen Verfassung der bestehenden Staaten zum Ziel setzt. Je geringer die Veränderung, desto größer die Aussicht, Gegenkräfte einbinden zu können. Auf dem Felde der Integrationspolitik für Europa spricht dies für die pragmatische Methode von Jean Monnet41 und Robert Schuman und gegen die Verfassungskonzeption von Paul Henry Spaak42 und Altiero Spinelli. Die europäische Integrationsgeschichte bis zu den Verträgen von Amsterdam und Nizza scheint den ersteren zwar Recht zu geben, doch wird das Erreichte und noch Erreichbare von den Schülern der letzteren immer wieder an dem imaginären Maß gemessen, was mit „mutigeren“, „entschlosseneren“ Schritten zu erreichen gewesen wäre, und dann nicht selten für zu gering befunden. Solche Kritik scheint ihre Rechtfertigung aus der Tradition europäischen akademischen Denkens zu ziehen. Das Handlungsmuster vom Entwurf eines Planes, seiner Weiterentwicklung und Bewährung in kritischer Diskussion und 41 42
J. Monnet, Mémoires, Paris 1976. P. H. Spaak, Combats inachevés, Paris 1969.
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schließlich seiner Umsetzung in Realität entspricht einem Erfolgsrezept des modernen Europa. Die Handelnden können sich auf eine klare, möglicherweise mehrere Etappen vorgebende Orientierung stützen und ein präzises Ziel beschreiben. In ihren Denkformen steht dieses Vorgehen in platonischer Tradition. Schöpfer des Planes ist zwar nicht mehr der einsame Denker, der Demiurg, der an ewigen Ideen arbeitend, die gute Ordnung für das öffentliche Leben entwirft, sondern vielleicht ein demokratischer Prozess, in dem die Schwierigkeit, alle überzeugende Kriterien für das Gute aufzufinden, durch die Legitimität der Mehrheitsentscheidung überwunden wird. Nicht überwunden aber wird der Abgrund, der durch Frage entsteht, was an öffentlicher Ordnung nach einem Plan überhaupt gestaltet werden kann. Wenn Verfassungen den Sockel geschichtlicher Notwendigkeit verlassen, bleiben sie tote Buchstaben, oder es bilden sich in ihren Schatten Strukturen heraus, die den Verfassungstext Lügen strafen. Platons Schritt vom vorgestellten Guten zum guten Handeln führt geradewegs in den Abgrund. In der Geschichte des vergangenen Jahrhunderts hat dies mit größter Eindringlichkeit die Oktoberrevolution gezeigt. Im festen Glauben an ihr objektives Wissen von den Gesetzen der Geschichte und den wahren Interessen der alle Menschen gleich machenden Arbeiterklasse führten die russischen Revolutionäre, viele von ihnen mit den ehrenhaftesten Motiven und Absichten, die Menschen aus dem Zarenreich in einen Gulag von kontinentalem Ausmaß und verpulverten bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion die Wirtschaftskraft des Staates in einem gigantischen strategischen Technologie- und Rüstungswettlauf. Platons Models hatte immer den Mangel dass ein Kriterium für die Richtigkeit der Normen, nach denen man die öffentliche Ordnung einrichten solle, nicht angegeben werden konnte. Plato schöpfte es letztlich aus der Achtung, der man seiner Weisheit entgegengebrachte. Doch hat keiner der Mächtigen der Erde versucht, im Vertrauen auf die Richtigkeit von Platos Thesen die Ordnung seines Herrschaftsbereichs umzugestalten. Im Licht dieser Analyse stellt sich nicht so sehr die Frage, ob die Europäische Union in ihrem jetzigen Stadium der politischen Evolution einer Verfassung bedarf. Die entscheidende Frage wird nicht gern gestellt, weil es auf sie keine sinnvolle, aber zahllose desintegrierende Antworten gibt. Sie lautet: sollten die in der Europäischen Union vereinigten Staaten und Völker die Gründung eines europäischen Staates anstreben? Diese Frage soll hier nur ein kurzes Stück weiter verfolgt werden mit einer Nachfrage: Und wenn sie es sollten, wie könnten sie es?
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Wenn die These richtig ist, dass die existierenden europäischen Staaten auf einem Sockel geschichtlicher Notwendigkeit aufruhen, wäre die Zustimmung der Völker für einen solchen Gründungsakt kaum vorstellbar, allenfalls ein Machtspruch von Diktatoren, von denen jeder bei seiner Zustimmung zur Vereinigung meint, den anderen schlucken zu können. Für solche Vereinigungen von Staaten gibt es in der neueren Geschichte Beispiele, die aber alsbald wieder zerfallen sind. Erfolgreiche Staatenvereinigungen erfolgten bis heute stets nach dem Muster von Annexion oder Unterwerfung. Das muss zu denken geben. Verfassungen von Staaten sind wie eine sichtbare Normstruktur, oberhalb einer „Wasserlinie“. Unterhalb dieser Linie liegt der „Rumpf“ der Staaten, ihre gesellschaftliche Verfasstheit, die durch die Normstruktur nur schwerfällig und über lange Zeiträume planend steuerbar ist. Wenn es in irgendeiner Zukunft einen Gründungsakt für einen europäischen Staat geben sollte, wie musste er heute angesteuert werden, so dass nicht nur die konstitutionellen Normstrukturen, sondern auch die Rümpfe der gesellschaftlichen Verfasstheit eine solche Gründung zu tragen vermögen? Diese Frage verweist auf den Unterschied zu den in der Geschichte vollzogenen Staatenvereinigungen durch Annexion oder Unterwerfung. Die europäische Integration kann, wenn überhaupt, einen Gründungsakt nur als Novum einer gleichberechtigten Gründung anstreben. Doch diese so einleuchtende und einfache Vokabel vom gleichen Recht führt sofort in auswegloses Gestrüpp, wenn die Frage dahin weiterverfolgt wird, ob die Gleichberechtigung (der Staaten) nur beim Gründungsakt oder aber im politischen Leben der neuen Gründung auf Dauer gesichert sein müsse. Für die erste Alternative spricht die Zäsur des Gründungsaktes, der eine neue Qualität schafft, die die bisherige Gleichheit der Staaten zwar nicht aufhebt, jedoch deutlich relativiert. Der Schritt erscheint folgerichtig, aber er greift so weit aus, dass mit Zustimmung kaum zu rechnen ist. In der Gegenwart zählt zum Sockel gesellschaftlicher Notwendigkeit auch die Funktion der Staaten als Gefäß von Demokratie, verstanden als Selbstbestimmung der Völker. Zustimmung zu einem Gründungsakt, der zu einer Relativierung staatlicher Gleichheit führt, wird erst dann wahrscheinlich, wenn sich in einem Volk die öffentliche Überzeugung herausgebildet hat, dass es seine Selbstbestimmung trotz verringertem Einfluss wirksamer in einem größeren Verband organisieren kann. Das verweist auf die Frage nach den Bedingungen für die Herausbildung einer solchen Überzeugung.
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V. Ein Staat ohne Souverän und ohne Souveränität Können wir den Staat begreifen als fortschreitende Verrechtlichung von Macht, dann von Herrschaft? Wäre der jetzige Schritt dann der zur Verrechtlichung der Souveränität des Souveräns? Ist er nicht mehr dem nur schwachen Netz des Völkerrechts, sondern den Zwängen einer sich neu entfaltenden rechtlichen Ebene (des polykephalen Staats) unterworfen? Eine solche Form zu denken scheint humane Vorstellungskraft zu überfordern. Seit Menschengedenken zeigt sich Macht in Form von Pyramiden. Nur die am weitesten entfernten mythischen Bilder lassen ahnen, dass die Pyramide nicht zwingende Form, sondern geschichtliches Ereignis ist, entstanden nach der ersten Abdankung von der Macht. „Da quando Fanes si era ritirato . . . gli eventi avevano cominciato a somigliarsi. Ogni volta c’era un sovrano.“43 „Col nome di Fanes la figura brahmanica44 del re che non vuole regnare riappare nella mitologia greca.“45 „Si tratta, forse, di un motivo di spiritualità molto remoto, l’abbandono del potere in quanto negazione di ogni logos.“
Die Aussage der mythischen Bilder sei erhellt durch den folgenden Exkurs über eine von genetischer Archäologie belehrte Lektüre der großen Mythen der Menschheit46. Sicher kann sie nicht den kaum nachprüfbaren Anspruch erheben, zu erzählen, wie es wirklich gewesen ist. Doch mag sie uns helfen, alte Bilder in veränderter Gegenwart sinnvoll zu deuten. Der in italienischer Sprache verfasste Exkurs hat in etwa in folgenden Inhalt: Mit genetisch-historischen Belegen vertritt Luigi Cavalli-Sforza die These, der Neandertaler sei während der Eiszeit/Sintflut (im italienischen das gleiche Wort) ausgestorben, nachdem er vor allem im nordafrikanischen Raum und im mittleren Osten für einen längeren, mit dem vereinzelten Auftreten des homo sapiens beginnenden Zeitraum dessen direkter Konkurrent bei der Landnahme war. Auf dem Hintergrund des Textes von Mario Brelich47 ließe sich die biblische Geschichte vom Überleben Noahs dank der Arche als epische Überlieferung 43
Siehe R. Calasso, Nozze di Cadmo e Armonia, Milano 1988, S. 230. Siehe R. Calasso, Ka, Milano 1996. „Pensarono tanto alla sovranità che non osarono più esercitarla. La loro storia fu una progressiva abdicazione“. 45 Siehe R. Calasso, Nozze di Cadmo e Armonia, Milano 1988, S. 229. 46 Siehe L. Cavalli-Sforza, Geni e popoli, Milano 1996, und M. Brelich, Navigatore del diluvio, Milano 1979. 44
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eines vor unserer direkten Erinnerung liegenden Geschehens verstehen. Vor dem Hintergrund der Beobachtungen von Cavalli-Sforza könnte Brelichs Geschichte dann etwa so nacherzählt werden. Eiszeit oder Sintflut nennt man einen Abschnitt der jüngeren Erdgeschichte mit deutlichen Klimaveränderungen, gebietsweise weiträumigen Gletscherbildungen oder heftigen Niederschlägen, die Veränderungen der natürlichen Lebensumwelt für Fauna und Flora bedingen. Nicht alle Arten können sich an die veränderten Bedingungen anpassen oder in lebensfreundlichere Gebiete auswandern; sie sind zum Aussterben verurteilt. Vielleicht war dies das große, in der Geschichte von der Sintflut überlieferte Aussterben. Anthropologisch gewendet können wir vermuten, dass homo sapiens, das Geschlecht Noahs, in der Lage war, Mittel und Wege zur Anpassung an die veränderten Bedingungen zu finden, während sein direkter Konkurrent der Neandertaler, unfähig JHW wahrzunehmen, also konzeptionell, geistig unterlegen, im Überlebenskampf scheiterte, sei es aus Mangel oder wegen Unterlegenheit im Gefecht mit dem heranwachsenden Gegner. Die biblische Überlieferung spricht kaum von Waffengewalt, auch wenn solche stattgefunden hat (siehe die Geschichten des Exodus, des Falls von Jericho, des Siegs von David über Goliath, die göttlichem Eingriff und nicht dem Kampfgeschehen zugeschrieben werden). Eine Stütze für diese Hypothese ist dagegen die Beobachtung von Luigi Cavalli-Sforza, wonach in dem betreffenden geographischen Raum der Neandertaler zu Beginn der Eiszeit erheblich zahlreicher gegenwärtig war als sein Wettbewerber homo sapiens. In der epischen Erzählung taucht diese numerische Unterlegenheit wieder auf in der Form der „Sterilität“ Noahs während der längsten Zeit seines Lebens. Die Vorstellung, dass das Überleben einer kleinen Menschengruppe auf dem Erwähltsein durch JHW beruhen könne, ließe sich als Beleg für die anthropologische Vermutung deuten, dass die Fähigkeit, ein abstrakt-generelles Konzept wie JHW zu entwickeln, eine der wesentlichen Voraussetzungen in der Evolution war, die es der Spezies homo sapiens erlaubte, die geistige Kraft zu entwickeln, um aus der Gebundenheit animalischen Daseins herauszuwachsen. War es also die auf dem Konzept JHW aufbauende Konstruktion seiner selbst, die homo sapiens in die Lage versetzte, die technischen Mittel zu ersinnen und zu gebrauchen, die ihm ein Überleben der Sintflut ermöglichten?48 In dieser Welt wirkt der Gott als das Gefäß der Form einer Macht („un involucro di potenze raccolte in una figura“).49 Die mythischen Bilder vor diesem Gott,50 vor Zeus, vor Chronos, noch vor dem Chaos selbst, der Vorgriff auf eine Welt, früher als die unsere, lassen die Möglichkeit einer Ordnung erahnen, die nicht als Pyramide gebaut ist: Was 47 48 49
Siehe M. Brelich, Navigatore del diluvio, Milano 1979. Siehe R. Calasso, Nozze di Cadmo e Armonia, Milano 1988, S. 232. Siehe R. Calasso, Nozze di Cadmo e Armonia, Milano 1988, S. 274.
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liegt vor Chronos? Zeit ohne Alter und Notwendigkeit, das unbewegliche Paar des Ursprungs:51 „Tempo senza Vecchiaia e Ananke“. Forma e simulacro: „A un capo dell’immagine mentale è lo stupore per la forma, per la sua esistenza autosufficiente e sovrana. All’altro capo è lo stupore dinanzi alla catena dei nessi, che riproducono nella mente la necessità della materia. Difficile è vedere quei due spicchi esterni nel ventaglio del simulacro, insostenibile è vederli simultaneamente“. 52
Welcher Raum aber öffnet sich für die Gestaltung gesellschaftlichen Lebens in der Spannung zwischen Wahrnehmung zeitloser Form und Notwendigkeit? Nach Dimitris Tsatsos53 ist politische Gestaltung gebunden durch die Geschichtlichkeit der Entwicklung, in der sie steht. Wer diese Bindung verkennt, den straft die Geschichte. Wie können wir diesen Satz besser verstehen? Er besagt nicht, dass menschliches Handeln in geschichtlichen Prozessen über keinen Freiraum verfügte. Solches behauptet nur die vulgärste Form von Materialismus. Eines der Felder, in denen menschliches Wissen sich aufbaute, war die Beobachtung des Laufs der Gestirne. Sie ermöglichte eine erste Transzendierung des Reiches von Kronos. Wer den Lauf der Gestirne lange genug beobachtet hatte, konnte mit Gewissheit vorhersagen, welche Bilder am Himmel zu bestimmter künftiger Zeit erscheinen werden. Die Evolution der Bilder am Himmel ist bestimmt von Ananke, der Notwendigkeit. Heute sprechen wir von Naturgesetzen. Menschliche Erkenntnis hat analogische Form.54 Die Übertragung des Konstrukts der Notwendigkeit vom Lauf der Gestirne auf den Lauf der menschlichen Dinge ist kein großer Schritt. Er ermöglicht für den, der zu wissen vorgibt, den Aufbau eines Machtpotentials55. Die Mächtigen haben dies gespürt, wohl aber auch die Prekarität aller Vorhersagen. Sterndeuter und andere Vorhersager der Zukunft wurden zu Handlangern der Macht. 50 Siehe R. Calasso, Nozze di Cadmo e Armonia, Milano 1988, S. 160. Er unterscheidet im Folgenden vier Reiche: „Il regno della metamorfosi, il regno della sostituzione, il regno dell’unico, il regno di Zeus (di cui ancora facciamo parte)“. 51 Siehe R. Calasso, Nozze di Cadmo e Armonia, Milano 1988, S. 228. 52 Siehe R. Calasso, Nozze di Cadmo e Armonia, Milano 1988, S. 157. 53 Diesen Gedanken hat D. Tsatsos in vielen Gesprächen mit dem Verfasser entwickelt. Soweit ersichtlich, ist er in seinen Schriften nicht ausgeführt. Der Verfasser dankt D. Tsatsos für seine zahlreichen Anregungen und Ermunterungen, ohne die der vorliegende Text nicht entstanden wäre. 54 Siehe A. Kaufmann, Analogie und Natur der Sache, Karlsruhe 1965. Er hat dies sehr schön gezeigt; seine Einsicht gilt auch dann, wenn man der Ontologie, auf der er aufbaut, nicht folgt. 55 Eindrucksvoll beschrieben von in der von Frobenius aufgezeichneten Erzählung „Der Untergang von Kasch“ (vgl. L. Frobenius, Märchen aus Kordofan, Jena 1923). Die Bedeutung dieser Geschichte für politische Philosophie hat Calasso ins Licht zurück gebracht (vgl. R. Calasso, La rovina di Kasch, Milano 1983).
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Die Geistesgeschichte des menschlichen Individuums ist eine Geschichte der Erringung von Freiheit. Die Heroen der Ilias wähnten sich nicht frei, wenn sie handelten, sondern ergriffen von einem Gott,56 gebunden von einer Notwendigkeit. Gebunden, wie wir uns heute das Handeln eines Richters vorstellen, der scheinbar frei, unabhängig von allen anderen Menschen entscheidet und in dieser Freiheit doch fester gebunden ist als jeder Gefangene, durch das Gesetz. Die europäische Geistesgeschichte des freien Individuums gipfelt in Descartes und Kant. Solche Freiheit bis in alle Verzweigungen der menschlichen Existenz konnte nur gedacht werden als verliehene und in der Verantwortung vor dem Schöpfergott. In den Denkwegen der Späteren, für die die Evidenz dieses Gottes nicht mehr greifbar war, musste die von ihm besetzte Rolle der absoluten Notwendigkeit durch andere Konstruktionen ersetzt werden: durch die Dialektik des objektiven Geistes bei Hegel, die objektiven Werte für die Neukantianer, durch das Prinzip der Verantwortung bei Hans Jonas.57 Mit der Kritik der Unglaubwürdigkeit solcher Glaubenssätze bricht seit Darwin Ananke in neuer Gestalt in die Diskurse der Neuzeit ein. Evolutionstheorien, gestützt durch Erkenntnisse der Physik, Biochemie, Neurologie58 beschreiben das Wirken von Notwendigkeit in einem System aus Myriaden prinzipiell offener (freier oder zufälliger) Ereignismöglichkeiten. Einen Raum, der wie bescheiden auch immer sich öffnet über der Notwendigkeit der Materie, Natur, Evolution, danken wir Eros. Eros und Thanathos bewahren das Leben vor der Erstarrung in zeitloser Identität. „Eros e Thanathos ci portano al discioglimento finale della separazione tra le cose e noi stessi, all’abbandono di ogni volontà di avere e di distinguere, attraverso lo stretto corridoio di una frenetica lotta estrema la quale per chi ha la fede o la visione culmina in un punto morto che gli antichi solevano chiamare paradiso.“
Eros allein vermag die Starre zu überwinden und Leben in neue Form hineinwachsen zu lassen. Leben erneuert sich in der geringfügigen Abweichung von der Regel: so gering, dass die Veränderung nicht sogleich von der Notwendigkeit erstickt wird und im Keime doch die Möglichkeit des ungeahnt Neuen, des Schönen enthält. Das Schema wirkt bis in die Verästelungen unseres Empfindens: Nicht die geometrisch perfekte, unendlich reproduzierbare Linie, sondern die imperfekt von Hand gezogene in ihrer Einzigkeit enpfinden wir als schön. 56 Vgl. B. Snell, Die Entdeckung des Geistes bei den Griechen, 5. Aufl., Göttingen 1980, S. 12 ff., insb. S. 28; R. Calasso, Nozze di Cadmo e Armonia, Milano 1988, S. 114. 57 H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt/Main 1979. 58 Siehe A. Damasio, Descartes’ Error. Emotion, Reason and the Human Brain, New York/London 1994 (italienische Übersetzung Milano 1995).
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Eros, die geringfügige Abweichung von der Notwendigkeit, wird zur Beschreibung des Raums des Möglichen, auch in der Politik. Versuchen wir die Schönheit der krummen Linie des gewachsenen Baumes zu sehen, statt uns zu sehnen nach der Kälte eines Planes, in dessen Ausführung Technokraten Betonburgen bauen, in denen kein Mensch leben will. Erwachen wir aus den Träumen des Konstruktivismus und erkennen die Schönheit, aber auch die Kraft des Wachsens einer Verfassung. Und im Recht: unser Regelwerk passt sich immer neuen Situationen dadurch an und überlebt, dass wir, an feste Regeln gebunden, uns doch gestatten, geringfügig von ihnen abzuweichen. Recht wird angesehen als entscheidendes Strukturmerkmal des Staates.59 Aber: der absolute Monarch braucht kein Recht. Die Lehensherrschaft braucht kein „Recht“ im Sinne einer durch öffentliche Macht bewehrten Menge abstrakt genereller Normen. Das Bestreben zur Herausarbeitung abstrakt-genereller Normen resultiert aus Versuchen, die Ausübung solcher Herrschaft zu legitimieren. Der Legitimationsversuch gelingt aber erst, indem die abstrakt generelle Norm nach einem Modus demokratischer Selbstbestimmung gesetzt wird. Nicht die pyramidale Form des Staates, sondern das rechtsstaatliche Prinzip60 und die demokratische Selbstbestimmung61 sind Errungenschaften der Geschichte, die Normativität beanspruchen.
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Siehe die Argumentation bei V. Hösle, Moral und Politik, München 1997, S. 547. K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, Tübingen 1997. 61 Einige Überlegungen hierzu bei P. Schiffauer, Politische Parteien in einer immer engeren Union der Völker Europas, Mitteilungen des Instituts für Deutsches und Europäisches Parteienrecht, Hagen 1/1996, S. 80 ff. insb. S. 92 f. 60
Sprachliche Homogenität und europäische Demokratie Zum Zusammenhang von Sprache, Öffentlichkeit und Demokratie* Felix Hanschmann „Und der Herr sprach: Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen, und dies ist der Anfang ihres Tuns; nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun. Wohlauf, lasst uns herniederfahren und dort ihre Sprache verwirren, dass keiner des andern Sprache verstehe! So zerstreute sie der Herr von dort in alle Länder, dass sie aufhören mussten, die Stadt zu bauen. Daher heißt ihr Name Babel, weil der Herr daselbst verwirrt hat aller Länder Sprache und sie von dort zerstreut hat in alle Länder.“ (Erstes Buch Mose 11/1 ff.1)
I. These: „Demokratie setzt sprachliche Homogenität voraus“ Ob die sprachliche Heterogenität Europas nun unmittelbare Folge eines Eingreifen Gottes ist oder andere Ursachen hat, spielt für die juristische Diskussion, die jene Vielfalt der Sprachen erörtert und in Beziehung bringt zur Frage der Möglichkeit von Demokratie auf supranationaler Ebene, eine eher unbedeutende Rolle. Ausgangspunkt ist eine demokratietheoretisch inspirierte und die Bedeutung von Öffentlichkeit hervorhebende Begründung, die das Teilen einer gemeinsamen Sprache als unerlässlichen oder zumindest eminent wichtigen Faktor für die Verwirklichung von Demokratie thematisiert. In der Diskussion * Ich danke Timo Tohidipur und Andreas Fischer-Lescano für die gemeinsamen Diskussionen über das Thema sowie für die Kritik, die sie am Text geübt haben. 1 Zur Übersetzung des Textes siehe die Beiträge in dem von Antoine Berman u. a. herausgegebenen Band „Les tours de Babel. Essais sur la traduction“, Paris 1985, besonders „L’atelier de Babel“ von Henri Meschonnic, 15 ff. Auf die zahlreichen Interpretationen des Textes geht Jacques Derrida, Babylonische Türme, in: Hirsch, Alfred (Hrsg.) Übersetzung und Dekonstruktion, Frankfurt a. M. 1997, 119–165, ein. Joseph H. H. Weiler, Der Staat „über alles“, JöR 44 (1996), 91, 122, erörtert die „Turm zu Babel“-Metapher im Rahmen der Auseinandersetzung mit dem Begriff der Nation und dem hierin enthaltenen Gedanken der Originalität: „In dieser Lesart war der Turm zu Babel keine Sünde gegen Gott, sondern eine Sünde gegenüber dem Potential der Menschen; und die darauffolgende Zerstreuung war nicht Strafe, sondern göttlicher Segen. So gesehen ist die Nation, wie sie mit ihrer unendlichen Vielzahl an Eigentümlichkeiten Seite an Seite mit anderen Nationen existiert, das Medium, um menschliches Potential auf ganz unterschiedlichen Wegen zu verwirklichen, und die Menschheit wäre insgesamt ärmer, würden wir die Unterschiedlichkeit der Wege nicht kultivieren.“
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um die Implementierung einer europäischen Verfassung und ausgehend von der Frage, ob eine auf ein europäisches Volk zurückgehende Verfassung die empfundenen Mängel der demokratischen Legitimation von Hoheitsakten europäischer Institutionen beheben kann, war es zuerst Dieter Grimm, der die Zusammenhänge zwischen Sprache, Öffentlichkeit und Demokratie ausführlich erörtert und im Ergebnis die Notwendigkeit sprachlicher Homogenität betont hat.2 1. Sprache, Öffentlichkeit und Demokratie: Die Argumentation Dieter Grimm’s
Grimm stellt nach der Klärung des Begriffs und der Funktion von Verfassungen zunächst fest, dass es der Europäischen Gemeinschaft, die „von den Mitgliedstaaten mit Hoheitsrechten ausgestattet worden [ist], die sie nun an deren Stelle, aber mit derselben Wirkung, also insbesondere mit unmittelbarer innerstaatlichen Geltung ausübt“3, an einer hinreichenden eigenen demokratischen Legitimation mangelt und auf europäischer Ebene ein Demokratiedefizit besteht. Nach Grimm kann das europäische Primärrecht, obwohl es Elemente einer Verfassung (Normen über die Einrichtung und Ausübung von Hoheitsgewalt im Sinne einer Organisation der Gemeinschaftsorgane und Regelung des Verhältnisses der Organe zueinander sowie Kompetenzzuweisungen und Verfahrensbestimmungen, Änderungs- und Vorrangsregelungen für die Rechtsetzung („secondary rules“ i. S. H. L. A. Harts), Festlegung von Zielbestimmungen, umfassender Geltungsanspruch) aufweist4, den Anspruch, „Verfassung“ zu sein, nicht erheben, weil es „nicht auf ein europäisches Volk, sondern auf die einzelnen Mitgliedstaaten zurück[geht] und auch nach seinem Inkrafttreten von diesem abhängig“ bleibt.5 Im Unterschied zu Nationen, die „sich selbst eine Verfassung geben“, sei „die europäische öffentliche Gewalt [. . .] keine vom Volk 2 Grimm, Dieter, Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 1995, 581–591. Seine Thesen wiederholt Grimm in: ders., Vertrag oder Verfassung, Staatswissenschaft und Staatspraxis 1995, 509–531, allerdings ergänzt um „Konsequenzen für die gegenwärtige Reformdiskussion über Legitimationsgrundlage, Institutionenordnung und Kompetenzverteilung in der Union“. Bereits im Jahre 1992 führte Grimm in einem Essay im SPIEGEL seine Auffassung in Ansätzen aus: Grimm, Dieter, Der Mangel an europäischer Demokratie, SPIEGEL Nr. 43/1992 vom 19.10.1992, 57. Ansatzweise hat Albert Bleckmann bereits 1990 den Zusammenhang zwischen Demokratie auf europäischer Ebene, Öffentlichkeit und gemeinsamer Sprache betont: Bleckmann, Albert, Chancen und Gefahren der europäischen Integration, JZ 1990, 301–306. 3 Grimm, Dieter, Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 1995, 581, 585. 4 Grimm, Dieter, Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 1995, 581, 585 f. Zum Verfassungscharakter des europäischen Primärrechts, siehe auch: Bogdandy, Armin von, Skizzen einer Theorie der Gemeinschaftsverfassung, in: Danwitz, Thomas von (Hrsg.), Auf dem Wege zu einer europäischen Staatlichkeit, Stuttgart 1993, 9–29; Piris, JeanClaude, Hat die Europäische Union eine Verfassung? Braucht sie eine?, EuR 2000, 311–350, besonders 317 ff. 5 Grimm, Dieter, Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 1995, 581, 586.
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abgeleitete, sondern eine staatenvermittelte. Da die Verträge auf diese Weise keinen internen, sondern einen externen Zurechnungspunkt haben, sind sie auch nicht Ausdruck der Selbstbestimmung einer Gesellschaft über Form und Ziel ihrer politischen Einheit.“6 Die Frage, ob die „demokratische Kluft“7 über die Implementierung einer auf ein europäisches Volk zurückführbaren „Verfassung, die den Verträgen die fehlenden Elemente hinzufügte“, geschlossen werden kann, führt Grimm zu einer Untersuchung der „meist stillschweigend unterstellten Demokratiefähigkeit der Europäischen Union“8. Grimm legt mit einer demokratietheoretisch anspruchsvollen Argumentation überzeugend dar, dass sich die Verwirklichung demokratischer Strukturen nicht in der regelmäßig stattfindenden Wahl von Repräsentanten des Volkes sowie der Tätigkeit dieser Volksvertreter in einem Parlament erschöpft. Vielmehr seien zusätzliche Organisationen und Einflusswege erforderlich, damit der Einzelne seine Interessen und Meinungen wirksam geltend machen könne und die Vielfalt der unterschiedlichen Interessen und Meinungen im politischen System ausreichend widergespiegelt werde. Dabei seien Meinungs- und Interessenvermittlung zwischen Gesellschaft und staatlichen Organen sowie Willensbildung, Entscheidungsfindung, Stabilitäts- und Legitimitätssicherung auf einen öffentlichen Kommunikationsprozess angewiesen, der wiederum maßgeblich von bestimmten Kommunikationsmedien geprägt und strukturiert ist, „die jene Öffentlichkeit herstellen, durch welche allgemeine Meinungsbildung und demokratische Teilhabe erst möglich werden.“9 Intermediäre Strukturen der Gesellschaft in diesem Sinne werden durch Parteien, Verbände, Assoziationen, Bürgerbewegungen und Kommunikationsmedien gebildet. Weil es auf europäischer Ebene bisher weder ein europäisiertes Parteiensystem noch europäische Verbände und Bürgerbewegungen gebe und auch keine europäischen Funk- oder Printmedien auszumachen seien, fehlt es nach Grimm an der „demokratischen Substanz“, die „sich auch nicht ohne weiteres schaffen“10 lasse. Die Forderung nach sprachlicher Homogenität führt Grimm über eine Analyse des europäischen Kommunikationssystems ein, das nur über europaweit angebotene und nachgefragte Zeitungen und Zeitschriften, Hörfunk- und Fernsehprogramme, die zum Herausbilden eines nationenübergreifenden europäischen Publikums und eines europäischen Diskurses führen, entstehen kann.11 Dies sei allerdings nur „dann der Fall, wenn jeder Publizist sich seiner eigenen Sprache bedienen könnte und doch sicher sein dürfte, allge6
Grimm, Dieter, Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 1995, 581, 586. Grimm, Dieter, Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 1995, 581, 587. 8 Grimm, Dieter, Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 1995, 581, 587 und 590. 9 Grimm, Dieter, Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 1995, 581, 587. 10 Grimm, Dieter, Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 1995, 581, 588 und 590 f.: „Das heißt freilich, dass das europäische Demokratiedefizit strukturell bedingt ist. Daher kann es auch durch institutionelle Reformen nicht kurzfristig behoben werden.“ 11 Grimm, Dieter, Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 1995, 581, 588. 7
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mein verstanden zu werden, oder – realistischer – wenn sich neben den Muttersprachen eine europäische lingua franca wie ehedem das Lateinische, doch nicht auf die Gebildetenschicht begrenzt, durchsetzen vermöchte.“12 In der sprachlichen Heterogenität Europas liegt damit für Grimm das „größte Hemmnis für eine Europäisierung der politischen Substruktur, von der das Funktionieren eines demokratischen Systems und das Leistungsvermögen eines Parlaments abhängt“.13 Wenn sowohl der für die Verwirklichung von Demokratie erforderliche Kommunikationsprozess, in dem sich die Bürger über Ziele und Probleme diskursiv verständigen, als auch „Information und Partizipation als Grundbedingung demokratischer Existenz“14 gebunden sind an eine von allen Bürgern geteilte Sprache, dann fehlt der Europäischen Union das „vorgängige soziale Substrat“15 bzw. „der politisch-soziale Unterbau“16 und ihre Demokratisierung scheint auf lange Sicht nicht möglich.17 Im Ergebnis kommt Grimm über eine im Ansatz überzeugende und zustimmungswerte, die Kommunikationsstrukturen betonende demokratietheoretische Argumentation, welche stark motiviert ist durch die berechtigte Sorge um Transparenz, Machtbegrenzung und Machtkontrolle sowie die Sorge um die demokratische Legitimation der Institutionen und Akte der Europäischen Union zu einem nicht zustimmungswerten Resultat: die Forderung nach einer vorpolitischen und außerrechtlichen Substruktur, die bezogen auf das Merkmal der Sprache homogen sein soll. Tragendes Element seiner Argumentation bleibt, dass es entweder eine europäische Sprache gibt oder zumindest jeder Angehörige eines Mitgliedstaates neben der Sprache seines jeweiligen Landes die noch zu definierende offizielle Amtssprache der Europäischen Union spricht. Allein unter 12
Grimm, Dieter, Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 1995, 581, 588. Grimm, Dieter, Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 1995, 581, 588. Grimm verweist an dieser Stelle auf Jürgen Habermas, nach dem es letztlich das „linguistische Band“ sei, das jede Kommunikationsgemeinschaft zusammenhalte. Siehe: Habermas, Jürgen, Faktizität und Geltung, Frankfurt a. M. 1998, 372. Dabei ist allerdings zu beachten, dass sich diese nicht nur bei Grimm zitierte Stelle am Ende eines Abschnitt befindet, in dem Habermas lediglich den Begriff deliberativer Politik bei Joshua Cohen referiert. Unmittelbar im Anschluss an den zitierten Satz, beginnt Habermas mit der Kritik jenes Modells deliberativer Politik. 14 Grimm, Dieter, Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 1995, 581, 588. 15 Grimm, Dieter, Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 1995, 581, 585: „Die Gemeinschaft existiert mangels eines vorgängigen sozialen Substrats, dem sie ihre Einheit verdankte, überhaupt nur als Rechtsgemeinschaft.“ 16 Grimm, Dieter, Der Mangel an europäischer Demokratie, SPIEGEL Nr. 43/1992 vom 19.10.1992, 57: „gesellschaftlicher Unterbau“: ders., Vertrag oder Verfassung, Staatswissenschaft und Staatspraxis 1995, 509, 526. 17 „Dagegen hat das vor allem in der Sprachenvielfalt begründete Fehlen eines europäischen Kommunikationssystems zur Folge, dass es auf längere Sicht weder eine europäische Öffentlichkeit noch einen europäischen politischen Diskurs geben wird“. Und: „Der europäischen Politik fehlt die Öffentlichkeitsentsprechung“: Grimm, Dieter, Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 1995, 581, 589. 13
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der Voraussetzung einer sprachlichen Homogenität innerhalb der Europäischen Union kann es demzufolge überhaupt eine der europäischen Politik entsprechende Öffentlichkeit geben, die den politischen Willen der Entscheidungsträger beeinflusst und kontrolliert und demokratische Legitimation verschafft. Eine kollektive Identität im Sinne eines Bewusstseins der Zusammengehörigkeit, das gewährleistet, dass die Bürger einer politischen Einheit „ihre Konflikte gewaltlos austragen, sich auf die Mehrheitsregel einlassen und Solidarleistungen üben“ wurzelt nach Grimm in einer „übernationalen Diskursfähigkeit“,18 die wiederum auf das Teilen einer gemeinsamen Sprache angewiesen ist. Im Ergebnis bleibt die Verwirklichung demokratischer Strukturen auf die politische Einheit des Nationalstaates, in dem allein die für das Demokratieprinzip essentielle außerrechtliche Verwirklichungsbedingung der sprachlichen Homogenität nachzuweisen ist, beschränkt. Die Demokratisierung supranationaler Einrichtungen scheitert an dem empirischen Befund der sprachlichen Heterogenität ihrer Bevölkerungen.19
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Grimm, Dieter, Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 1995, 581, 589 und 590. Zur Argumentation Dieter Grimms, siehe auch: Griller, Stefan, Ein Staat ohne Volk? Zur Zukunft der Europäischen Union, IEF Working Paper Nr. 21 (1996), 3 (Fn. 13); Pernice, Ingolf, Maastricht, Staat und Demokratie, Die Verwaltung 1993, 449, 452, 475 ff. Aus politikwissenschaftlicher Sicht: Meyer, Christoph O., Europäische Öffentlichkeit als Kontrollsphäre: Die Europäische Kommission, die Medien und politische Verantwortlichkeit, Berlin 2002, 56 ff.; Kraus, Peter A., Kultureller Pluralismus und politische Integration: Die Sprachfrage in der Europäischen Union, Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 1998, 443, 444 ff. Die Bedeutung der Forderung nach sprachlicher Homogenität in der Argumentation Grimms wird von denjenigen Autoren, die auf seine Argumentation explizit eingehen, meist unterschätzt und mit der Hoffnung auf Herausbildung einer öffentlichen Meinung auf europäischer Ebene „beantwortet“. Nach Jürgen Schwarze, Das Staatsrecht in Europa, JZ 1993, 585, 589, beispielsweise ist es „keineswegs auszuschließen, vielmehr zu hoffen, dass sich bei einer Erweiterung europäischer Entscheidungszuständigkeit auch allmählich eine europäische Öffentlichkeit“ bilden wird. Andere Autoren gehen zwar auf die Forderung nach sprachlicher Homogenität ein, weisen diese aber ohne nähere Begründung und unter Hinweis auf Gegenbeispiele wie die Schweiz, Finnland, Belgien oder die USA zurück: Classen, Claus Dieter, Europäische Integration und demokratische Legitimation, AöR 116 (1994), 238, 256; Bleckmann, Albert, Chancen und Gefahren der europäischen Integration, JZ 1990, 301, 301 f.; Pernice, Ingolf, Maastricht, Staat und Demokratie, Die Verwaltung 1993, 449, 479 f.; Schwarze, Jürgen, Europapolitik unter deutschem Verfassungsrichtervorbehalt, NJ 1994, 1, 4. Habermas, Jürgen, Die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie, in: ders., Die postnationale Konstellation, 154 f., verbleibt ebenfalls weitgehend im Bereich der zukünftigen Erwartungen und setzt der Argumentation Grimms’s ein Szenario entgegen, „wonach sich verschiedene Antizipationen in einem Kreisprozess wechselseitig stützen und stimulieren.“ Auf die linguistische Heterogenität Europas antwortet Habermas mit der Hoffnung auf eine sich in der Zukunft realisierende „gemeinsame (Fremd-)Sprachenbasis“, a. a. O., 155. oder mit einem Verweis auf den „gegenwärtigen Stand der formalen Schulbildung“, in der sich „Englisch als second first language“ durchsetze: ders., Braucht Europa eine Verfassung? Eine Bemerkung zu Dieter Grimm, in: ders. Die Einbeziehung des Anderen, Frankfurt a. M. 1996, 185, 191. 19
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Ausführungen zu den Interdependenzen zwischen Sprache, Öffentlichkeit und Demokratie finden sich bereits im Maastricht-Urteil20, in dem das BVerfG über den Vertrag von Maastricht und damit über die Verfassungsmäßigkeit der Beteiligung Deutschlands an einer weiteren europäischen Integration zu entscheiden hatte. Der Senat geht auf den Zusammenhang zwischen Öffentlichkeit und Demokratie ein, stellt diesbezügliche Anforderungen auf und entwirft Projektionen für eine fortschreitende europäische Integration: „Demokratie [. . .] ist vom Vorhandensein bestimmter vorrechtlicher Voraussetzungen abhängig, wie einer ständigen freien Auseinandersetzung zwischen sich begegnenden sozialen Kräften, Interessen und Ideen, in der sich auch politische Ziele klären und wandeln [. . .] und aus der heraus eine öffentliche Meinung den politischen Willen verformt. [. . .] Derartige tatsächliche Bedingungen können sich, soweit sie noch nicht bestehen, im Verlauf der Zeit im institutionellen Rahmen der Europäischen Union entwickeln. [. . .] Parteien, Verbände, Presse und Rundfunk sind sowohl Medium als auch Faktor dieses Vermittlungsprozesses, aus dem heraus sich eine öffentliche Meinung in Europa zu bilden vermag.“21 Darüber hinaus, so der Senat, sei es für eine Demokratie essentiell, „dass der wahlberechtigte Bürger mit der Hoheitsgewalt, der er unterworfen ist, in seiner Sprache kommunizieren kann“22. Ob diese Formulierung „die Brücke schlagen [soll] zwischen diesem kommunikationstheoretischen Verständnis von Demokratie und der ansonsten für notwendig gehaltenen Homogenität des Staatsvolkes“23, kann angesichts der nur sehr spärlichen Ausführungen des Gerichts zu der Frage, ob die Herausbildung „vorrechtlicher Voraussetzungen“ auf einen homogenen Sprach-
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BVerfGE 89, 155 ff. BVerfGE 89, 155, 185. 22 BVerfGE 89, 155, 185. Pernice, Ingolf, Carl Schmitt, Rudolf Smend und die europäische Integration, AöR 120 (1995), 100, 108 (Fn. 39), hält bezüglich dieser Passage des Gerichts fest: „Diese Forderung ist schon jetzt erfüllt.“ Ebenso: Schilling, Theodor, Die Verfassung Europas, Staatswissenschaft und Staatspraxis 1996, 387, 401 (Fn. 163): „Diese Forderung von BVerfGE 89, 155, 185, war also in der E(W)G von jeher erfüllt.“ Gemäß der Verordnung Nr. 1 vom 15. April 1958, ABl. EWG 1958, 358 f., zuletzt geändert durch Ratsbeschluss vom 1.1.1995 (ABl. EGL I/1995 S. 1, 218), muss sichergestellt sein, dass grundsätzlich alle für die Bürger relevanten Texte der Gemeinschaft in allen Sprachen, die in den Mitgliedstaaten Amtssprachen sind, abgefasst werden und der Bürger mit der Gemeinschaft in jeder dieser Sprachen kommunizieren kann. Umgekehrt kann sich die Gemeinschaft nur in der Sprache des Mitgliedstaates an den Bürger richten, dem der Bürger angehört. Die Verordnung ist abgedruckt bei: von der Groeben, Hans/Thiesing, Jochen/Ehlermann, Claus-Dieter, Handbuch des Europäischen Rechts, Bd. 17 (Stand 1994) I A 93/2.1. 23 Dies vermutet Habermas, Jürgen, Inklusion – Einbeziehen oder Einschließen? Zum Verhältnis von Nation, Rechtsstaat und Demokratie, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen, Frankfurt a. M. 1996, 154, 184 (Fn. 54). 21
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raum angewiesen ist, kaum beantwortet werden. Diesbezüglich lesen sich die Ausführungen des Gerichts im Vergleich mit Grimm jedenfalls wesentlich zurückhaltender und kompromissbereiter. Sehr viel deutlicher findet sich die Forderung nach sprachlicher Homogenität als Voraussetzung supranationaler Demokratie hingegen sowohl in der juristischen als auch in der politologischen Literatur. So verneint beispielsweise Fritz Ossenbühl nicht allein die Herausbildung einer Infrastruktur, die man als europäische Öffentlichkeit bezeichnen könnte, unter Verweis auf die Vielfalt der in Europa gesprochenen Sprachen, sondern darüber hinaus auch die Entstehung eines europäischen Volkes als „Bezugsund Ausgangspunkt einer europäischen demokratischen Legitimation“. Angesichts „der vorhandenen kulturellen und sprachlichen Unterschiede“ bestünden Zweifel, ob es „zu einer solchen Volksbildung überhaupt kommen wird“, denn „um von einem Volk sprechen zu können, das seinerseits demokratische Legitimation zu spenden vermag, ist [. . .] mehr erforderlich als eine Summe von subjektiven Rechten der einzelnen Bürger. Erforderlich ist eine innere Verbundenheit der Staatsbürger, die durch Kommunikation, gemeinsame Erfahrungen, kulturelle Gemeinsamkeiten und einen gemeinsamen Wertkonsens getragen wird. Nur auf dem Humus einer solchen Minimalhomogenität kann die der Demokratie eigene Mehrheitsregel auf Akzeptanz stoßen. [. . .] Die sprachlichen Unterschiede [. . .] stellen – auch auf Dauer – kaum allgemein überwindbare Barrieren dar, die sich bei den geplanten Erweiterungen der Gemeinschaft noch potenzieren werden.“24 Nach Udo di Fabio basiert der „für demokratische Politik unverzichtbare Resonanzboden“ auf „lebensweltlich geteilten Selbstverständlichkeiten und gemeinsamer Sinnorientierung einer öffentlichen Meinung.“ An jenen „selbstreferentiellen Funktionsbedingungen parlamentarischer Demokratie“ fehle es aber gerade der Europäischen Union, da die „Völker der Mitgliedstaaten [. . .] weder voluntativ noch sprachlich-kulturell noch auch nur institutionell amalgamiert“ seien, sich die öffentlichen Meinungen der Mitgliedstaaten durch ihre Disparität auszeichneten und „wegen der Sprachgrenzen in überschaubaren Zeiträumen auch kaum integrierbar“ wären. Im Zentrum der Argumentation steht eine „kaum beeinflussbare langsame kulturelle Entwicklung einer homogenen europäischen öffentlichen Meinung“,25 ohne die Demokratie 24 Ossenbühl, Fritz, Maastricht und das Grundgesetz – eine verfassungsrechtliche Wende?, DVBl. 1993, 629, 634. 25 Di Fabio, Udo, Der neue Art. 23 des Grundgesetzes, Der Staat 32 (1992), 191, 203 f. Di Fabio verweist (Fn. 48 und 50) diesbezüglich auf Jürgen Habermas’ politisch-philosophische Diskurstheorie, hält dieser aber entgegen, dass sie „wegen des Fehlens einer europäischen Öffentlichkeit in einen heillosen Erklärungsnotstand [kommt], weil auch sie der herrschenden euronationalen Zeitströmung folgt und deshalb ihr Demokratiekonzept hochzonen will, dies aber nicht vermag.“ Auch für Habermas dränge sich „die bange Frage auf, ob der von ihm zu Recht in den Vordergrund gestellte interaktive Zusammenhang von öffentlicher Meinung und institutionalisiertem Entscheiden nicht auf europäischer Ebene an Komplexitäts- und Sprachproblemen scheitern muss.“
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auf europäischer Ebene auf absehbare Zeit als defizitär gelten muss und von einer Vertiefung der europäischen Integration abzuraten ist. Das Dilemma supranationaler Demokratie liege darin begründet, dass ein Staatsvolk im Sinne der Definitionen Ossenbühls oder Di Fabios nicht auszumachen ist, d.h. sich keine „kulturell durch Geschichte, Sprache und Zusammengehörigkeitsgefühl verbundene Gemeinschaft“ finden lässt.26 Die europäische Kommunikationsgemeinschaft oder – stärker formuliert – die „einheitliche öffentliche Meinung“27, welche als wesentliches Element demokratischer Strukturen behauptet wird, scheitere bereits im Ansatz an der sprachlichen Fraktionierung der europäischen Völker und der dadurch bedingten Nationalisierung der Öffentlichkeiten. Die Bürger der jeweiligen Mitgliedstaaten nutzten mangels der Existenz einer „gleichzeitig in allen Sprachen der EG erscheinenden, also wirklich europäischen Presse“28 jeweils die in ihren Sprachen erscheinenden Medien und trügen so dazu bei, dass Öffentlichkeit auf europäischer Ebene nach Nationalstaaten getrennt bliebe.29 Politologische Untersuchungen scheinen diese Thesen zu stützen, wenn für die mangelnde Demokratiefähigkeit der Union vor allem das „Sprachenproblem“ bzw. die „linguistischen Spaltungen“ innerhalb Europas, die das Entstehen einer Kommunikationsgemeinschaft verhindern, verantwortlich gemacht werden. Integrationsprozesse, so sagen uns politikwissenschaftliche Stimmen, seien darauf angewiesen, dass gewisse „negative Bedingungen“ erfüllt würden, zu denen unter anderem die Abwesenheit sprachlicher Heterogenität zählt.30 In Übereinstimmung mit den Ausführungen Grimms verhindert die 26
A. a. O. Bleckmann, Albert, Chancen und Gefahren der europäischen Integration, JZ 1990, 301, 301 und 303. 28 Bleckmann, Albert, Chancen und Gefahren der europäischen Integration, JZ 1990, 301, 303. 29 Alexander von Brünnecks Analyse zufolge liegt das Defizitäre gerade darin, dass es „viele unterschiedliche nationale öffentliche Meinungen in zur EG“ gibt. Jedoch scheint von von Brünneck nicht das Erfordernis einer gemeinsamen Sprache aufzustellen; Sprache und Kommunikationsmedien werden jedenfalls nicht explizit als Grund für das Fehlen einer europäischen Öffentlichkeit genannt. Zur nationalen Zersplitterung der Öffentlichkeit aus juristischer Perspektive, jedoch explizit auf den Faktor Sprache abstellend: Kirchner, Christian/Haas, Joachim, Rechtliche Grenzen für Kompetenzübertragungen auf die Europäische Gemeinschaft, JZ 1993, 760, 767. Der Soziologe Jürgen Gerhards, Westeuropäische Integration und die Schwierigkeiten der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit, in Zeitschrift für Soziologie 22 (1993), 96, 100, führt die Defizite medialer Strukturen auf europäischer Ebene ebenfalls deutlich auf „Sprache“ zurück, wenn er darauf hinweist, dass „Presse und vor allem Tagespresse [. . .] auf geschriebener Sprache“ basiert, demnach „eine europaweite Zeitung [. . .] übersetzt werden [müsste], wollte man eine breite Leserschaft erreichen.“ Und weiter: „Die Alternative, eine Zeitung in der noch von den meisten Europäern gesprochenen Fremdsprache Englisch zu produzieren und zu vertreiben, hat wenig Chancen, von einer breiten Leserschicht rezipiert zu werden. Die Sprachkompetenz und die Motivation des Publikums in einer fremden Sprache zu lesen, sind gering.“ 30 Scharpf, Fritz W., Europäisches Demokratiedefizit und deutscher Föderalismus, Staatswissenschaft und Staatspraxis 1992, 293, 296 ff. 27
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linguistische Pluralität, dass sich mediale Strukturen im Sinne eines Raumes der Publizität, Responsivität und Diskursivität auf transnationaler Ebene etablieren können und infolgedessen Träger politischer Auseinandersetzungen sowie das Gemeinwesen integrierende Kräfte fehlen: „Democracy needs a shared language. The populations of the fifteen member states which constitute the European electorate cannot constitute the European demos if there is no forum in which European public life can be played out in an exchange of views, persuasion and debate. [. . .] The EU’s lack of a democratic forum for debate is not often mentioned, but it is arguably one of the factors that differentiates the EU’s political process from traditional democratic practice. The great problem is, of course, that there is no language in which Europeans could decide to have a Europe-wide debate.“31 Schließlich weisen auch Soziologen, die sich intensiv mit Medien und Öffentlichkeit auf nationaler und transnationaler Ebene auseinandersetzen, darauf hin, dass es infolge des Sprachenproblems an europäischen Massenmedien mangelt und eine Europäisierung und Internationalisierung höchsten bei Zeitschriften stattfindet, die auf andere als sprachliche Signifikanten ausweichen und mit einem hohen Anteil an Bildern arbeiten können (z. B. Mode- und Fachzeitschriften). 32 Dies hänge mit den Restriktionen zusammen, denen Fernsehsender ausgesetzt sind, die eine Vielzahl von Personen erreichen wollen, denn zu diesen Restriktionen gehöre, dass „das Programm in der Muttersprache der Rezipienten ausgestrahlt werden muss. Programme in anderen Sprachen haben kaum eine Chance, rezipiert zu werden. Selbst Programme in der lingua franca Englisch haben nur begrenzten Erfolg. Die Fremd31 So: Wright, Sue, A Community that can Communicate: the Linguistic Factor in European Integration, in: Smith, Dennis/Wright, Sue (Hrsg.) Whose Europe? The Turn Towards Democracy, Oxford 1999, 79, 92. Siehe zur beschriebenen Argumentation aus politologischer Perspektive auch: Mandt, Hella, Bürgernähe und Transparenz im politischen System der Europäischen Union, Zeitschrift für Politik 1997, 1, 14 und 16; Scharpf, Fritz W., Europäisches Demokratiedefizit und deutscher Föderalismus, Staatswissenschaft und Staatspraxis 1992, 293, 296 ff.; Beierwaltes, Andreas, Demokratie und Medien. Der Begriff der Öffentlichkeit und seine Bedeutung für die Demokratie in Europa, Baden-Baden 2000, 214; Grundmann, Reiner, The European public sphere and the deficit of democracy, in: Smith, Dennis/Wright, Sue, Whose Europe? The turn towards democracy, Oxford 1999, 125, 136; Kielmansegg, Peter Graf, Integration und Demokratie, in: Jachtenfuchs, Markus/Kohler-Koch, Beate (Hrsg.), Europäische Integration, Opladen 1996, 47, 54 f., 57 und 58. 32 Eder, Klaus/Hellmann, Kai-Uwe/Trenz, Hans-Jörg, Regieren in Europa jenseits öffentlicher Legitimation? Eine Untersuchung zur Rolle von politischer Öffentlichkeit in Europa, in: Kohler-Koch, Beate (Hrsg.), Regieren in entgrenzten Räumen, Opladen 1998, 321, 326; Eder, Klaus/Kantner, Cathleen, Transnationale Resonanzstrukturen in Europa, in: Bach, Maurizio (Hrsg.), Die Europäisierung nationaler Gesellschaften, Wiesbaden 2000, 306, 312; Gerhards, Jürgen, Westeuropäische Integration und die Schwierigkeiten der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit, in Zeitschrift für Soziologie 22 (1993), 96, 100 (Fn. 14); ders., Europäisierung von Ökonomie und Politik und die Trägheit der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit, in: Bach, Maurizio (Hrsg.), Die Europäisierung nationaler Gesellschaften, Wiesbaden 2000, 277, 291.
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sprachenkompetenz der Bürger Europas ist zu gering, die Motivation, sich Programme in anderen Sprachen anzusehen, in nur geringem Maße vorhanden.“33 II. Zur Diagnose 1. Sprachliche Heterogenität Europas
Außer Frage steht die Richtigkeit der Analyse Grimms bezogen auf die sprachliche Heterogenität Europas: Wir leben – um auf die am Anfang zitierte Bibelstelle zurückzukommen – nach Babel. Innerhalb der 25 Mitgliedstaaten der Europäischen Union werden eine Vielzahl von Sprachen gesprochen, von denen keine als vorherrschend bezeichnet werden kann. Allein als offizielle Amtsprachen gelten Dänisch, Deutsch, Englisch, Estnisch, Finnisch, Französisch, Griechisch, Italienisch, Lettisch, Litauisch, Maltesisch, Niederländisch, Polnisch, Portugiesisch, Schwedisch, Slowenisch, Slowakisch, Spanisch, Tschechisch und Ungarisch, hinzu kommen eine Vielzahl von Minderheitensprachen, die in Teilen der jeweiligen Mitgliedstaaten gesprochen werden und in unterschiedlichem Maße anerkannt und geschützt sind (z. B. Baskisch, Friesisch, Gälisch, Katalanisch, Letzebuergsch, Saamisch, Sorbisch oder Walisisch).34 Selbst unter Berücksichtigung der zunehmenden Fremdsprachenkompetenz vor allem in den jüngeren Generationen stellen die beiden am weitesten verbreiteten und die Institutionen der EU dominierenden Sprachen Französisch und Englisch weiterhin für ca. 80% der Unionsbevölkerung eine Fremdsprache dar. Englisch, das viele als künftige oder bereits existierende „lingua franca“ sehen, mag sich über den ökonomischen, wissenschaftlichen und technischen Sektor hinaus stärker verbreiten, wird aber zur Zeit und wohl auch in naher Zukunft bei weitem nicht in dem Maße beherrscht, um eine passive Aufnahme fremdsprachiger Kommunikationsinhalte oder gar eine aktive Kommunikation mit anderen Unionsbürgern unproblematisch zu gewährleisten.35 Aus rechtlichen und tatsäch33 Gerhards, Jürgen, Westeuropäische Integration und die Schwierigkeiten der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit, in Zeitschrift für Soziologie 22 (1993), 96, 101; ders., Europäisierung von Ökonomie und Politik und die Trägheit der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit, in: Bach, Maurizio (Hrsg.), Die Europäisierung nationaler Gesellschaften, Wiesbaden 2000, 277, 290 f. Siehe auch: Kraus, Peter A., Political unity and linguistic diversity in Europe, Archives Européennes de Sociologie, XLI, 1, 2000, 138, 140 und 141. 34 Zu den Amtssprachen der Union, siehe Art. 1 der bereits erwähnten (Fn. 22) Verordnung Nr. 1/1958 zur Regelung der Sprachenfrage. Die Zahl der Minderheitensprachen gibt Beierwaltes, Andreas, Sprachenvielfalt in der EU – Grenze einer Demokratisierung Europas?, Bonn 1998, 9, mit 33 an. Siehe auch: Kraus, Peter A., Von Westfalen nach Kosmopolis? Die Problematik kultureller Identität in der europäischen Politik, in: Berliner Journal für Soziologie, 2000, 203, 209; ders., Kultureller Pluralismus und politische Integration: Die Sprachfrage in der Europäischen Union, Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 1998, 443, 449.
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lichen Gründen erscheint es andererseits nahezu ausgeschlossen, dass sich Europa in absehbarer Zeit zu einem homogenen Sprachraum entwickelt und es zu einer nennenswerten Reduktion des bestehenden Multilingualismus kommt oder dass sich analog zu prä-nationalistischen mittelalterlichen Zuständen eine für einen gewissen Zeitabschnitt dominierende europäische lingua franca herausbilden wird.36 Und dies gilt selbst unter der Annahme, dass, wie Sue Wright in einem bemerkenswerten Aufsatz überzeugend nachgewiesen hat, linguistische Entwicklungen an politische, ökonomische und kulturelle Vorherrschaften gebunden sind und diesen nachfolgen.37 Naiv dürfte es auch sein, auf eine der zahlreichen zum Universalismus neigenden Kunstsprachen, die seit der Antike immer wieder entworfen wurden (z. B. Esperanto oder Volapük), zu vertrauen. Angesichts des geringen Erfolges, die diese „versponnenen Gedankenspiele“38 35 Insofern scheint es unzureichend, wie Sue Wright, Jürgen Habermas oder Christoph O. Meyer, hoffnungsvoll darauf hinzuweisen, dass sich das Problem der sprachlichen Heterogenität Europas durch die Zunahme der Fremdsprachenkenntnissen der Bevölkerung lösen wird: Habermas, Jürgen, Die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie, in: ders., Die postnationale Konstellation, Frankfurt a. M. 1998, 155; Meyer, Christoph O., Europäische Öffentlichkeit als Kontrollsphäre: Die Europäische Kommission, die Medien und politische Verantwortlichkeit, Berlin 2002, 57 und 62; Wright, Sue, A Community that can Communicate: the Linguistic Factor in European Integration, in: Smith, Dennis/Wright, Sue (Hrsg.) Whose Europe? The Turn Towards Democracy, Oxford 1999, 79, 91, 92 und 95. Indiskutabel und der Argumentation Dieter Grimms in keiner Weise angemessen, ist schließlich die Aussage von Pernice, Ingolf, Maastricht, Staat und Demokratie, Die Verwaltung 1993, 449, 480: „Sprachen werden gelernt und übersetzt.“ 36 Zur sprachlichen Heterogenität Europas, zu den Zahlen sowie zu den sich daraus ergebenden Folgen: Augustin, Angela, Das Volk der Europäischen Union, Berlin 2000, 141; Beierwaltes, Andreas, Demokratie und Medien. Der Begriff der Öffentlichkeit und seine Bedeutung für die Demokratie in Europa, Baden-Baden 2000, 220; Gerhards, Jürgen, Europäisierung von Ökonomie und Politik und die Trägheit der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit, in: Bach, Maurizio (Hrsg.), Die Europäisierung nationaler Gesellschaften, Wiesbaden 2000, 277, 290; ders., Westeuropäische Integration und die Schwierigkeiten der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit, in Zeitschrift für Soziologie 22 (1993), 96, 100; Grimm, Dieter, Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 1995, 581, 588 f.; Kielmansegg, Peter Graf, Integration und Demokratie, in: Jachtenfuchs, Markus/Kohler-Koch, Beate (Hrsg.), Europäische Integration, Opladen 1996, 47, 55; Leggewie, Claus, Europa beginnt in Sarajevo. Gegen den Skeptizismus in der europäischen Wiedervereinigung, Aus Politik und Zeitgeschichte B 42/ 1994, 24, 29; Martiny, Dieter, Babylon in Brüssel? Das Recht und die europäische Sprachenvielfalt, ZeuP 1998, 227, 228; Schilling, Theodor, Die Verfassung Europas, Staatswissenschaft und Staatspraxis 1996, 387, 400. Ernüchternde Zahlenangaben zu Englischkenntnissen in europäischen Ländern finden sich bei: Große-Peclum, MarieLuise, Gibt es den europäischen Zuschauer? – Fernsehnutzung in einem internationalisierten Programmangebot, Zeitschrift für Kultur-Austausch 1990, 185, 193. 37 Wright, Sue, A Community that can Communicate: the Linguistic Factor in European Integration, in: Smith, Dennis/Wright, Sue (Hrsg.) Whose Europe? The Turn Towards Democracy, Oxford 1999, 79, 82 ff., 91: „History teaches us that language practices change when the political situation changes“. 38 Martiny, Dieter, Babylon in Brüssel? Das Recht und die europäische Sprachenvielfalt, ZeuP 1998, 227, 235.
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in den vergangenen Jahrhunderten hatten, ist es kaum wahrscheinlich, dass sich auch nur eine von ihnen über einen sehr begrenzten Kreis von begeisterten Aktivisten hinaus ausdehnen wird.39 Schließlich kann auch der Vorschlag, sich innerhalb der europäischen Institutionen auf eine, zwei oder maximal drei Sprachen zu beschränken, nicht überzeugen.40 Es geht weder in der Problemanalyse Grimms noch bei dem Begriff der Öffentlichkeit, unabhängig davon, wie stark oder gering dieser normativ aufgeladen wird, um die Verständigungsmöglichkeiten eines elitären politischen und administrativen Personals europäischer Institutionen, sondern vielmehr um die Kommunikationsmöglichkeiten und Kommunikationsfähigkeiten von BürgerInnen. Neben der Tatsache, dass die aus zahlreichen historischen Beispielen bekannten Maßnahmen zur Sprachstandardisierung weder wünschenswert noch wahrscheinlich sind, zeigen vor allem die teilweise skurril anmutenden, aber vehementen Versuche einzelner Mitgliedstaaten der EU, ihre jeweilige Nationalsprache zu schützen41, dass der Sprachenplu39 Ein in der Antike beginnender historischer Überblick über die zahlreichen und erfolglosen Versuche, eine „Weltsprache“ zu kreieren und zu etablieren, findet sich bei: Haarmann, Harald, Die Sprachenwelt Europas, Frankfurt a. M. 1993, 318–324. Die Ansicht, dass keine der sog. Kunstsprachen zur „lingua franca“ werden wird, teilen auch: Spillner, Bernd, Ein Europa – viele Sprachen, in: Mattheier, Klaus J. Ein Europa – Viele Sprachen, Frankfurt a. M. u. a. 1991, 19; Schröder, Konrad, Zur Problematik von Sprache und Identität in Westeuropa. Eine Analyse aus sprachenpolitischer Perspektive, in: Ammon, Ulrich/Mattheier, Klaus J./Nelde, Peter H. (Hrsg.), Europäische Identität und Sprachenvielfalt, Sociolinguistica 9, Tübingen 1995, 56, 62; Martiny, Dieter, Babylon in Brüssel? Das Recht und die europäische Sprachenvielfalt, ZeuP 1998, 227, 235. Ebenfalls sehr skeptisch und mit viel Ironie: Eco, Umberto, Auf der Suche nach der vollkommenen Sprache, München 1994, 324 ff., 328 ff. und 342 ff. 40 Zu diesen Vorschlägen: Kraus, Peter A., Kultureller Pluralismus und politische Integration: Die Sprachfrage in der Europäischen Union, Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 1998, 443, 452 ff.; Haarmann, Harald, Die Sprachenwelt Europas, Frankfurt a. M. 1993, 326 ff. 41 So ist es Ziel der sog. „Loi Toubon“, englische Ausdrücke durch entsprechende französische zu ersetzen. Siehe hierzu das Gesetz Nr. 94-665 vom 4. August 1994 über den Gebrauch der französischen Sprache und die hierzu ergangene Rechtsverordnung Nr. 95-240 vom 3. März 1995. Etwas skurriler noch ist das anlässlich des Beitritts Österreichs zur EU entworfenes „Protokoll Nr. 10“, mit dem u. a. sichergestellt werden soll, dass aus Lungenbraten nicht Filet, aus Topfen kein Quark, aus Powidel nicht Pflaumenmus und aus Paradeisern nicht Tomaten werden. Das genannte Protokoll ist abgedruckt im Handbuch des Europäischen Rechts, Bd. I A 0 – I A 9, I A 7/ 8, S. 75 und 76. So skurril diese Beispiele anmuten, sind sie doch nur der Beweis dafür, dass sich Sprache nicht darauf reduzieren lässt, „technisches Kommunikationsmittel“ zu sein. Sprache, als „bevorzugter Gegenstand von Anerkennungskämpfen“, kann sowohl Instrument der kommunikativen Integration „nach innen“ als auch der kommunikativen Ausschließung „nach außen“ sein, mit ihr können sozio-ökonomische oder politische Differenzen sichtbar gemacht und kulturelle Identitäten akzentuiert werden. Hierzu: Kraus, Peter A., Kultureller Pluralismus und politische Integration: Die Sprachfrage in der Europäischen Union, Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 1998, 443, 454; Martiny, Dieter, Babylon in Brüssel? Das Recht und die europäische Sprachenvielfalt, ZeuP 1998, 227, 229, 231 und 235; Schröder, Konrad,
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ralismus auch zukünftig „eines der Hauptcharakteristika kultureller Heterogenität in Europa“42 sein wird. Trifft dies zu, dann muss – um die These Dieter Grimms zu widerlegen – der Nachweis erbracht werden, dass sich europäische Öffentlichkeit auch unter der Bedingung sprachlicher Heterogenität herausbilden kann. 2. Gegenbeispiele: Schweiz, Belgien etc.
Um diesen Nachweis ohne besonderen intellektuellen Aufwand zu erbringen, weisen die meisten Autoren schlicht auf Länder hin, die eine multilinguale Sprachstruktur aufweisen, gleichwohl aber von außen stehenden Beobachtern eine funktionierende bis lebhafte Öffentlichkeit attestiert bekommen und als demokratische Staaten angesehen werden. Mit dem Hinweis auf Länder wie die Schweiz, Finnland, Belgien, Indien, Kanada oder Spanien sei belegt, dass „Demokratie weder kulturelle Homogenität noch eine einheitliche Sprache“43 voraussetze. So reagierte beispielsweise Jürgen Schwarze auf das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in dem er dem Senat vorwarf, dass „die Urteilsgründe insbesondere dort einen provinziellen Zuschnitt verraten, wo der Senat die Kommunikation des Bürgers mit der Hoheitsgewalt in der ihm eigenen Sprache zum Demokratiegebot erhebt“ und fügte hinzu: „Als ob der vielfach gepriesene Schweizer Bundesstaat gerade an seiner Sprachenvielfalt litte.“44 Stefan Griller nennt als „Gemeinschaften“, denen „wohl kaum jemand ihre Staatlichkeit absprechen [wird], obgleich sie die hier zur Debatte stehenden Homogenitätsanforderungen offensichtlich nicht erfüll[t]en“, die „USA, Kanada, Belgien oder die Schweiz“.45 Nahezu übereinstimmend, allerdings das Prinzip der Demokratie explizit nennend, schreibt Ingolf Pernice, dass es Staaten gebe, Zur Problematik von Sprache und Identität in Westeuropa. Eine Analyse aus sprachenpolitischer Perspektive, in: Ammon, Ulrich/Mattheier, Klaus J./Nelde, Peter H. (Hrsg.), Europäische Identität und Sprachenvielfalt, Sociolinguistica 9, Tübingen 1995, 56 und 61. Haarmann, Harald, Die Sprachenwelt Europas, Frankfurt a. M. 1993, 80 ff., 280 ff., 327 ff., gelangt aufgrund der kulturellen Bedeutung der Sprache zu der Schlussfolgerung, dass „der Sprachnationalismus bis weit ins nächste Jahrhundert überleben wird.“ 42 Kraus, Peter A., Von Westfalen nach Kosmopolis? Die Problematik kultureller Identität in der europäischen Politik, in: Berliner Journal für Soziologie, 2000, 203, 209. Zum „babylonischen Sprachengewirr Europas“ siehe auch die aufschlussreichen Angaben über die „Verteilung der Sprachen und ihrer Sprecher in den Staaten Europas“ bei: Haarmann, Harald, Die Sprachenwelt Europas. Geschichte und Zukunft der Sprachnationen zwischen Atlantik und Ural, Frankfurt a. M. 1993, 65–73. 43 Fastenrath, Ulrich, Die Struktur der erweiterten Europäischen Union, EuR-Beiheft 1/1994, 101, 117. 44 Schwarze, Jürgen, Europapolitik unter deutschem Verfassungsrichtervorbehalt, NJ 1994, 1, 4. 45 Griller, Stefan, Ein Staat ohne Volk? Zur Zukunft der Europäischen Union, IEF Working Paper Nr. 21 (1996), 6.
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„wie die Schweiz, Belgien oder die USA, die je auf ihre Weise mehrere Sprachen und Kulturen verbinden und denen die Qualität einer funktionsfähigen Demokratie schwerlich abgesprochen werden“46 könne. Umgekehrt gebe es, so wird gegen die behaupteten Interdependenzen zwischen Sprache, Öffentlichkeit und Demokratie geltend gemacht, Länder wie z. B. Österreich und Deutschland, die, obwohl sie territorial aneinander angrenzen und über eine gemeinsame Sprache verfügen, voneinander getrennte, je eigenständige Öffentlichkeiten bilden.47 Noch ohne ausdrücklichen Bezug auf Entstehung und Existenz von Öffentlichkeiten, hatte bereits Ernest Renan den Hinweis auf die in der aktuellen Diskussion genannten Länder genutzt, um darzulegen, dass die sprachliche Homogenität nicht das die Nation bestimmende Kriterium sein könne: „La langue invite à se réunir; elle n’y force pas. Les États-Unis et l’Angleterre, l’Amérique espagnole et l’Espagne parlent la même langue et ne forment pas une seule nation. Au contraire, la Suisse, si bien faite, puisqu’elle a été faite par l’assentiment de ses différentes parties, compte trois ou quatre langues. Il y a dans l’homme quelque chose de supérieur à la langue: c’est la volonté. La volonté de la Suisse d’être unie, malgré la variété de ses idiomes, est un fait bien plus important qu’une similitude souvent obtenue par des vexations.“48 Ob die genannten Beispiele die behauptete These, dass sich eine europäische Öffentlichkeit infolge der sprachlichen Zersplitterung Europas nicht herauszubilden vermag und die EU damit an einem strukturellen Demokratiedefizit leidet, widerlegen, ist umstritten. Grimm selbst scheint die Einwände beim Verfassen seines Aufsatzes antizipiert zu haben, wenn er schreibt, dass „Mehrsprachenstaaten wie die Schweiz, Belgien oder Finnland oder [. . .] multinationale Einwanderungsländer wie die U.S.A.“ kaum mit der EU verglichen werden 46 Pernice, Ingolf, Maastricht, Staat und Demokratie, Die Verwaltung 1993, 449, 479 f. Ähnliche Hinweise auf multilinguale Länder kommen von: Bleckmann, Albert, Chancen und Gefahren der europäischen Integration, JZ 1990, 301, 301 f.; Classen, Claus Dieter, Europäische Integration und demokratische Legitimation, AöR 116 (1994), 238, 256; Beierwaltes, Andreas, Demokratie und Medien. Der Begriff der Öffentlichkeit und seine Bedeutung für die Demokratie in Europa, Baden-Baden 2000, 236 ff.; Fastenrath, Ulrich, Die Struktur der erweiterten Europäischen Union, EuRBeiheft 1/1994, 101, 117; Weiler, J. H. H., Der Staat „über alles“, JöR 44 (1996), 91, 112; ders./Haltern, Ulrich R./Mayer, Franz C., European Democracy and Its Critics – Five Uneasy Pieces, Harvard Jean Monnet Working Paper 1/95, 13. Bereits Walter Hallstein, der erste Präsident der Kommission, sah die sprachliche Vielfalt Europas nicht als Begrenzung und Hemmnis, sondern als Bereicherung und Ansporn. „Die Schweiz“, so Hallstein, „liefert uns das klassische Beispiel dafür“: Hallstein, Walter, Die Europäische Gemeinschaft, Düsseldorf 1973, 12. 47 So: Meyer, Christoph O., Europäische Öffentlichkeit als Kontrollsphäre: Die Europäische Kommission, die Medien und politische Verantwortlichkeit, Berlin 2002, 57. 48 Renan, Ernest, Qu’est-ce qu’une nation ? et autres écrits politiques, Paris 1995. Eine deutsche Übersetzung ist bei Jeismann, Michael/Ritter, Henning (Hrsg.), Grenzfälle. Über neuen und alten Nationalismus, Leipzig 1993, 290–311, abgedruckt. Die zitierte Stelle findet sich dort auf S. 303.
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können. Zum einen, so Grimm, sei die Anzahl der in den genannten Ländern gesprochenen Sprachen wesentlich geringer als die Anzahl der Sprachen in der EU und zum anderen müsse jede Analogie bereits an der quantitativen Differenz der zu integrierenden Bevölkerung scheitern. Dem häufigen Rekurs auf die Schweiz setzt er darüber hinaus entgegen, dass diese „schon lange vor der Konstitutionalisierung eine nationale Identität ausgebildet hatte und seinen mehrsprachigen politischen Diskurs darauf bezieht.“49 Die USA schließlich, die mit ihren ca. 250 Millionen Einwohnern der Europäischen Union mit einer Bevölkerung von 450 Millionen Menschen zumindest in diesem Punkt vergleichbar sei, habe im Unterschied zu Europa „ihren nationalstaatlich geprägten Zusammenhalt aber gerade aufgegeben und sich auf eine neue politische Heimat mit einer Mehrheitssprache und landesweiter Kommunikation eingelassen.“50 Geht man auf die genannten Länder näher ein, ergeben sich in der Tat erhebliche quantitative und qualitative Differenzen, die an einer Vergleichbarkeit mit der Europäischen Union zweifeln und fraglich erscheinen lassen, ob sie tatsächlich geeignet sind, die These der unabdingbaren Verknüpfung zwischen dem Teilen einer Sprache und der Entstehung von Öffentlichkeit zu widerlegen. So ist die häufig erwähnte Schweiz zwar offensichtlich ein multilinguales Land. Allerdings wird dort „nur“ die im Vergleich zur Europäischen Union geringe Anzahl von vier Sprachen gesprochen, wobei das Deutsche mit einem Anteil von ca. 66% gegenüber 19% französisch, 8% italienisch und 1% rätoromanisch sprechender Bevölkerung deutlich überwiegt.51 Das offiziell dreisprachige und ebenfalls oft gegen Grimms These angeführte Finnland kann nur schwer als sprachlich heterogen bezeichnet werden kann, da 95% aller finnischen StaatsbürgerInnen Finnisch als Muttersprache sprechen.52 Belgien, in dem Niederländisch, Französisch und Deutsch als offizielle Amtssprachen anerkannt sind, weist eine nahezu paritätische Verteilung zwischen Niederländisch und Französisch auf, wohingegen Deutsch nur eine marginale Rolle spielt.53 In allen diesen 49 Grimm, Dieter, Braucht Europa eine Verfassung?, NJW 1995, 581, 589. Es ist hier nicht der Platz, um der Frage nachzugehen, wie es der Schweiz möglich war, trotz ihrer sprachlichen Heterogenität jene kollektive Identität auszubilden, für die doch die gemeinsame Sprache und der dadurch ermöglichte Prozess einer in der Öffentlichkeit stattfindenden politischen Auseinandersetzung eine unabdingbare Voraussetzung sein soll. 50 Grimm, Dieter, Braucht Europa eine Verfassung?, NJW 1995, 581, 589. 51 Coenen-Huther, Jacques, Zwei mehrsprachige Länder im Vergleich: Belgien und die Schweiz, in: Hettlage, Robert/Deger, Petra/Wagner, Susanne (Hrsg.), Kollektive Identität in Krisen. Ethnizität in Region, Nation, Europa, Opladen 1997, 142–148, charakterisiert die Schweiz daher als „deutschsprachiges Land mit verschiedenen Minderheiten“. 52 Hierzu: Haarmann, Harald, Die Sprachenwelt Europas, Frankfurt a. M. 1993, 101 f. 53 Coenen-Huther, Jacques, Zwei mehrsprachige Länder im Vergleich: Belgien und die Schweiz, in: Hettlage, Robert/Deger, Petra/Wagner, Susanne (Hrsg.), Kollektive Identität in Krisen. Ethnizität in Region, Nation, Europa, Opladen 1997, 142–148.
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Ländern genügt demnach für die Verständigung mit allen anderen Staatsangehörigen und für die Partizipation am öffentlichen Kommunikationsprozess das Erlernen von einer, maximal zwei Fremdsprachen.54 Meistens unerwähnt bleibt schließlich auch, dass die Sprachenvielfalt in einigen der als Gegenbeispiele angeführten Ländern zu erheblichen Problemen führt, die man in komplexen, die Autonomie der einzelnen Sprachgemeinschaften sichernden, allerdings nicht immer erfolgreich funktionierenden Organisationsstrukturen zu lösen versucht.55 Wichtiger ist aber, dass der Einwand, die sprachliche Heterogenität Europas könne durch die diffizile Austarierung eines föderalen politischen Systems und die Gewährung von Autonomierechten bearbeitet werden, ebenso an der Argumentation Grimms vorbeigehen, wie der oben erwähnte Vorschlag, sich innerhalb der europäischen Institutionen auf eine, zwei oder maximal drei Sprachen zu beschränken. Streitpunkt ist weder die Toleranz gegenüber einzelnen Sprachgemeinschaften oder der ihnen zu gewährende Respekt noch der Umfang der Autonomie, die diese innerhalb eines föderalen politischen Systems genießen sollen, sondern die Frage, ob sich in einem multilingualen politischen System eine Öffentlichkeit herausbilden kann. 3. Europäische Öffentlichkeit?
Es spricht viel dafür, dass die Strukturen europäischer Öffentlichkeit gegenüber dem supranationalen politischen System, dem sie korrespondieren sollen, defizitär sind. Gemessen an Bedeutung und Macht, die der Europäischen Union zukommt, hinkt die transnationale Öffentlichkeit hinterher und erscheint angesichts des andauernden Transfers von Kompetenzen, Kontrollen und Ressourcen von den Nationalstaaten zur supranationalen Organisation als zu schwach, um 54 Ebenfalls sehr skeptisch hinsichtlich der Vergleichbarkeit der genannten Länder mit der EU: Kraus, Peter A., Kultureller Pluralismus und politische Integration: Die Sprachfrage in der Europäischen Union, Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 1998, 443, 445; Kielmansegg, Peter Graf, Integration und Demokratie, in: Jachtenfuchs, Markus/Kohler-Koch, Beate (Hrsg.), Europäische Integration, Opladen 1996, 47, 56. 55 Eine drastische Darstellung der belgischen Sprachprobleme findet sich bei Lauermann, Manfred, Der Nationalstaat – Ein Oxymoron, in: Gebhardt, Jürgen/SchmalzBruns, Rainer (Hrsg.), Demokratie, Verfassung und Nation. Die politische Integration moderner Gesellschaften, Baden-Baden 1994, 33, 37: „Der Staat ist von seinen Nationen aufgelöst worden“. Zur Schweiz und Belgien, siehe auch: Coenen-Huther, Jacques, Zwei mehrsprachige Länder im Vergleich: Belgien und die Schweiz, in: Hettlage, Robert/Deger, Petra/Wagner, Susanne (Hrsg.), Kollektive Identität in Krisen. Ethnizität in Region, Nation, Europa, Opladen 1997, 142–148. Zum Zusammenhang zwischen Sprachenpluralismus und Föderalismus: Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Die Schweiz – Vorbild für Europa?, in: ders., Staat, Nation, Europa, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 2000, 25, 30 ff.; Beierwaltes, Andreas, Demokratie und Medien. Der Begriff der Öffentlichkeit und seine Bedeutung für die Demokratie in Europa, Baden-Baden 2000, 237.
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die ihr zugeschriebenen Funktionen erfüllen zu können. Analysiert man das empirische Material, dann entspricht der Verlagerung von Hoheitsbefugnissen und Herrschaftsrechten auf die Union offensichtlich keine erhöhte Aufmerksamkeit der Medien, weder für die Übertragungsprozesse selbst noch für die politischen Entscheidungen, die auf europäischer Ebene getroffen werden.56 Der Europäisierung der Politik steht ein weitgehend auf nationale Politik konzentriertes und den nationalstaatlichen Strukturen verhaftetes Mediensystem gegenüber57, während man europäische Massenmedien, „die in der Lage sind, über ein Zeitungswesen und Hörfunk- und Fernsehkanäle ein europäisches Publikum zu adressieren“58, welches zur gleichen Zeit über die gleichen Themen informiert wird und diese simultan diskutiert, vergeblich sucht bzw. nur in Ansätzen vorhanden sind.59 So existiert einzelnen Untersuchungen zufolge zwar ein begrenzter, in 56 Timo Tohidipur hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass hinsichtlich der Aufmerksamkeit zwischen den Übertragungsprozessen und den politischen Entscheidungen europäischer Organe differenziert werden muss: während erstere durchaus zunehmend beachtetet und öffentlich thematisiert werden, bleiben letztere hingegen weitgehend ohne Resonanz. Ich stimme dem zu, mache allerdings den Einwand, dass gerade die Übertragungsprozesse ja nicht aus europäischer, sondern evident aus nationaler Perspektive behandelt werden. 57 Meyer, Christoph O., Europäische Öffentlichkeit als Kontrollsphäre: Die Europäische Kommission, die Medien und politische Verantwortlichkeit, Berlin 2002, 56 ff. hält bezogen auf die Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten, d.h. die vermehrte Berichterstattung über europäische Politik in nationalen Medien, fest, dass die Frage „ob und inwieweit eine transnationale Öffentlichkeit besteht, [. . .] eine empirisch offene Frage“ ist, kommt aber dennoch zu einem optimistischen Ergebnis. Ebenso Huber, Peter M., Demokratie ohne Volk oder Demokratie der Völker? – Zur Demokratiefähigkeit der Europäischen Union, in: Drexl, Josef u. a. (Hrsg.), Europäische Demokratie, Baden-Baden 1999, 27, 47 f., der für die vergangenen Jahre „wenn auch statistisch nur schwer zu belegen – eine vermehrte Inanspruchnahme demokratisch bedeutsamer Schutzgüter – wie der Meinungs-, Presse-, Rundfunk- und Versammlungsfreiheit – durch die Unionsbürger“ feststellt. Gerhards, Jürgen, Das Öffentlichkeitsdefizit der EU im Horizont normativer Öffentlichkeitstheorien, in: Kaelble, Hartmut/ Kirsch, Martin/Schmidt-Gernig, Alexander (Hrsg.), Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2002, 135, 142 und 145, hält zwar ebenfalls fest, dass die Frage, „ob sich die Öffentlichkeit in ihrer Berichterstattung, ähnlich wie die Politik, europäisiert hat, [. . .] eine empirisch offene und strittige Frage“ ist, hält aber im Gegensatz zu Meyer und Huber eine pessimistische Sichtweise sowohl für die letzten zehn Jahre als auch für die Zukunft für angebracht. Siehe auch: ders., Europäisierung von Ökonomie und Politik und die Trägheit der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit, in: Bach, Maurizio (Hrsg.), Die Europäisierung nationaler Gesellschaften, Wiesbaden 2000, 277, 299: „Auch wenn die empirische Datenlage hier [bei der Entwicklung einer medialen Öffentlichkeit, F. H.] dürftiger ist, sprechen die Befunde für eine nationale Verhaftung der medialen Öffentlichkeit: Über Europa wird in der medialen Öffentlichkeit der Bundesrepublik im Zeitverlauf nicht zunehmend mehr berichtet, europäische Institutionen spielen als mediale Sprecher kaum eine Rolle.“ 58 Eder, Klaus/Hellmann, Kai-Uwe/Trenz, Hans-Jörg, Regieren in Europa jenseits öffentlicher Legitimation? Eine Untersuchung zur Rolle von politischer Öffentlichkeit in Europa, in: Kohler-Koch, Beate (Hrsg.), Regieren in entgrenzten Räumen, Opladen 1998, 321, 326.
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einigen Segmenten auch wachsender europäischer Medienmarkt. Dieser bedient sich jedoch durchgängig der englischen Sprache und zielt darüber hinaus vornehmlich auf eher marginale und elitäre Fachöffentlichkeiten, nicht jedoch auf ein europäisches Massenpublikum.60 Transnationale Fernsehprogramme, wie das von deutschen, niederländischen, italienischen, portugiesischen und irischen Sendern ins Leben gerufene „Europa-TV“, wurden entweder wegen des ungelösten Sprachenproblems nach kurzer Zeit wieder eingestellt oder erreichen, wie das lediglich zweisprachige „Arte“ (Französisch und Deutsch) oder der in sieben Sprachen (Englisch, Französisch, Deutsch, Italienisch, Portugiesisch, Spanisch und Russisch) sendende Nachrichtenkanal „EuroNews“, der von einem Konsortium europäischer öffentlicher Sendeanstalten gegründet wurde und seit Januar 1993 auf dem Markt ist, nur ein sehr begrenztes Publikum.61 Bei den 59 Neuere Angaben und Zahlen finden sich bei: Sievert, Holger, Europäischer Journalismus. Theorie und Empirie aktueller Medienkommunikation in der Europäischen Union, Opladen 1998; Hodess, Robin B., News Coverage of European Politics: A Comparison of Change in Britain and Germany, in: Jopp, Mathias/Maurer, Andreas/ Schneider, Heinrich (Hrsg.), Europapolitische Grundverständnisse im Wandel, Bonn 1998, 449–472; Stegg, Marianne van de, An Analysis of the Dutch and Spanish Newspaper Debates on EU Enlargement with Central and Eastern European Countries to Suggest Elements of a Transnational European Public Spere, in: Baerns, Barbara/ Raupp, Juliana (Hrsg.), Transnational Communication in Europe. Research and Practice, Berlin 2000, 61–87; Grundmann, Reiner, The European public sphere and the deficit of democracy, in: Smith, Dennis/Wright, Sue (Hrsg.), Whose Europe? The turn towards democracy, Oxford 1999, 125, 138 ff. 60 Siehe beispielsweise: Wright, Sue, A Community that can Communicate: the Linguistic Factor in European Integration, in: Smith, Dennis/Wright, Sue (Hrsg.) Whose Europe? The Turn Towards Democracy, Oxford 1999, 79–104; Kevin, Deirdre/Schlesinger, Philip, Can the European Union Become a Sphere of Publics?, in: Eriksen, Erik Oddvar/Fossum, John Erik (Hrsg.), Democracy in the European Union: Integration through Deliberation?, London 2000, 206–229; Blumler, Jay G./Hoffmann-Riem, Wolfgang, New Roles for Public Television in Western Europe: Challenges and Prospects, Journal of Communication 41, 20–35; Meyer, Christoph O., Europäische Öffentlichkeit als Kontrollsphäre: Die Europäische Kommission, die Medien und politische Verantwortlichkeit, Berlin 2002, 57, nennt die Financial Times, den Economist, Euronews oder die European Voice und zudem spezielle Nachrichtendienste und Internetportale wie Agence Europe, Afra Europe oder EurActiv. 61 Erfolgreicher sind sog. Sprachraumprogramme, die in einer Sprache gesendet werden, meist von mehreren öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten betrieben und zusammengestellt werden und für die Bewohner der jeweiligen Sprachregion konzipiert sind. Beispiele sind das für Deutschland, die Schweiz und Österreich produzierte 3-SAT oder der frankophone Sender TV 5, der von französischen, belgischen, schweizerischen und kanadischen Fernsehanstalten betrieben wird. Zu den Konzepten der Mehrsprachen-, Sprachraum- und Lingua-franca-Programmen, siehe: Gellner, Winand, Sprachregion, Mehrsprachigkeit, Lingua Franca. Konzepte für europäisches Fernsehen, Medium 1989, 18–21; Augustin, Angela, Das Volk der Europäischen Union, Berlin, 2000, 150 ff.; Requate, Jörg/Schulze Wessel, Martin, Europäische Öffentlichkeit: Realität und Imagination einer appellativen Instanz, in: dies. (Hrsg.), Europäische Öffentlichkeit. Transnationale Kommunikation seit dem 18. Jahrhundert, 11, 29 f.; Beierwaltes, Andreas, Sprachenvielfalt in der EU – Grenze einer Demokratisierung Europas?, Bonn 1998, 23 f. Unter besonderem Bezug auf den Fernsehsender „Arte“, der das
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Printmedien, die zudem noch viel stärker national oder regional gebunden sind, scheiterte schließlich der Versuch, mit der Zeitschrift „The European“ ein europaweit erscheinendes Printmedium zu installieren, schon nach kurzer Zeit.62 Selbst wenn es zutrifft, dass „transnationale Formen von öffentlicher Meinungsbildung und Kontrolle schon heute wirksam sind – trotz kultureller Vielfalt, Mehrsprachigkeit und vornehmlich national vermarkteten Medienprodukten“63, wird man doch feststellen müssen, dass politische Entscheidungen europäischer Organe nur selten breitere Aufmerksamkeit finden, sie infolgedessen kaum kritisch erörtert werden und im Ergebnis einer öffentlichen Kontrolle weitgehend entbehren. Besteht für Politker „no requirement [. . .] to perform according to the expectation of a ,European‘ constituency“64, dann kann es nur zu einer sehr begrenzten Einflussnahme europäischer Öffentlichkeit auf Entscheidungsprozesse der Unionsorgane kommen.65 Sprachproblem durch Synchronisation, Untertitelung bzw. 2-Kanal-Tontechnik zu lösen versucht, informiert Hahn, Oliver, Arte – der europäische Kulturkanal. Eine Fernsehsprache in vielen Sprachen, Bochum 1997, über die Möglichkeiten von sog. Mehrsprachenprogrammen. 62 Siehe mit weiteren Nachweisen: Gerhards, Jürgen, Westeuropäische Integration und die Schwierigkeiten der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit, in Zeitschrift für Soziologie 22 (1993), 96, 100; Beierwaltes, Andreas, Demokratie und Medien. Der Begriff der Öffentlichkeit und seine Bedeutung für die Demokratie in Europa, Baden-Baden 2000, 224 f. Zum Internet als sich anbietendes globales Netzwerk: Leggewie, Claus, NETIZENS oder: Der gut informierte Bürger heute, Transit 13 (1997), 3, 12 ff. 63 So Meyer, Christoph O., Europäische Öffentlichkeit als Kontrollsphäre: Die Europäische Kommission, die Medien und politische Verantwortlichkeit, Berlin 2002, 10, der diese Aussage unter Rückgriff auf empirisches Material in beeindruckender Weise darlegt. 64 Grundmann, Reiner, The European public sphere and the deficit of democracy, in: Smith, Dennis/Wright, Sue (Hrsg.), Whose Europe? The turn towards democracy, Oxford 1999, 125, 136. 65 Im Ergebnis einer defizitären europäischen Öffentlichkeit stimmen die folgenden Analysen weitgehend überein: Kaelble, Hartmut/Kirsch, Martin/Schmidt-Gernig, Alexander, Zur Entwicklung transnationaler Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert: Eine Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2002, 7, 27; Kaelble, Hartmut, Das europäische Selbstverständnis und die europäische Öffentlichkeit im 19. und 20. Jahrhundert, in: a. a. O., 85, 105 f.; Imhof, Kurt, Öffentlichkeit und Identität, in: a. a. O., 37, 51; Gerhards, Jürgen, Westeuropäische Integration und die Schwierigkeiten der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit, in Zeitschrift für Soziologie 22 (1993), 96 ff.; ders., Europäisierung von Ökonomie und Politik und die Trägheit der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit, in: Bach, Maurizio (Hrsg.), Die Europäisierung nationaler Gesellschaften, Wiesbaden 2000, 277, 293 ff.; v. Brünneck, Alexander, Die öffentliche Meinung in der EG als Verfassungsproblem, EuR 1989, 249, 257. Medien- und Kommunikationswissenschaftler kommen zu ähnlichen Schlussfolgerungen: Glotz, Peter, Integration und Eigensinn: Kommunikationsraum Europa – eine Chimäre?, in: Erbring, Lutz (Hrsg.), Kommunikationsraum Europa, Konstanz 1995, 17, 19, 21 und 22; Beierwaltes, Andreas, Sprachenvielfalt in der EU – Grenze einer Demokratisierung Europas?, Bonn 1998, 22.
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III. Zum Begriff der Öffentlichkeit Ob, wie die oben dargelegte These behauptet, für den defizitären Zustand eines europäischen Kommunikationsraumes, der die Funktionen einer Öffentlichkeit erfüllen könnte, indes die linguistische Pluralität verantwortlich ist oder anders formuliert, diese die Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit auf Dauer verhindert, bleibt die entscheidende Frage.66 Um hierauf eine Antwort zu finden, empfiehlt es sich zu klären, welche strukturellen Bedingungen die Entstehung von Öffentlichkeiten bedingen und/oder befördern. 1. Nationalismus, Sprache und Öffentlichkeit
Hierfür soll, da dies nicht nur Aufklärung über die Entstehungsbedingungen zusammenhängender Kommunikationsräume verspricht, sondern womöglich auch die enormen Schwierigkeiten erklärt, die das Denken transnationaler Öffentlichkeiten offensichtlich begleiten67, zunächst kurz auf die Herausbildung europäischer Nationalstaaten eingegangen werden. Zahlreiche, hauptsächlich historische Arbeiten haben in den vergangenen Jahren nachgewiesen, dass die Entstehung und Verbreitung des Phänomens Nationalismus sowie die Konstituierung der europäischen Nationalstaaten eng verbunden sind mit der „Entdeckung“, Konstruktion, Festigung, Schließung und Emanzipation von Sprachgemeinschaften und der Verdichtung von Kommunikationsräumen. In gegenseitiger Beeinflussung und Durchdringung gingen diese Prozesse einher mit dem Entstehen eines ebenfalls dichter werdenden und verbesserten Verkehrsnetzes, mit rasanten Entwicklungen in der Nachrichtentechnik, dem Ausbau logistischer und journalistischer Netzwerke sowie der Entstehung politischer Parteien und 66 Beierwaltes, Andreas, Sprachenvielfalt in der EU – Grenze einer Demokratisierung Europas?, Bonn 1998, 10, 22 f., 25, 26, nennt neben der sprachlichen Heterogenität z. B. die unterschiedliche zeitliche und inhaltliche Konsumgewohnheiten oder differierende Aufmerksamkeitsstrukturen. Zu anderen möglichen Gründen, siehe auch: Gerhards, Jürgen, Westeuropäische Integration und die Schwierigkeiten der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit, in Zeitschrift für Soziologie 22 (1993), 96, 100 ff.; Große-Peclum, Marie-Luise, Gibt es den europäischen Zuschauer? – Fernsehnutzung in einem internationalisierten Programmangebot, Zeitschrift für Kultur-Austausch 1990, 185, 187 ff.; Eder, Klaus/Kantner, Cathleen, Transnationale Resonanzstrukturen in Europa, in: Bach, Maurizio (Hrsg.), Die Europäisierung nationaler Gesellschaften, Wiesbaden 2000, 306, 312. 67 Im Vorwort des Bandes „Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert“ stellen die Herausgeber in Bezug auf den Begriff der Öffentlichkeit fest, dass „transnationale Prozesse des 20. Jahrhunderts eine ganz besondere Herausforderung für die modernen Gesellschaften darstellen, gerade weil diese in so starkem Maße seit dem 19. Jahrhundert durch das nationale Prinzip und die Dominanz nationaler Identitäten geprägt worden waren.“ Siehe: Kaelble, Hartmut/Kirsch, Martin/ Schmidt-Gernig, Alexander, Zur Entwicklung transnationaler Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert: Eine Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2002, 7, 13.
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gesellschaftlicher Verbände und Vereine. Einsetzende Urbanisierung und zunehmende Alphabetisierung führten zur Expansion neuer Leserschichten.68 Jenes bürgerliche, politisch erwachende und sich seiner gesellschaftlichen Bedeutung stärker bewusst werdende Publikum, wurde im 18. Jahrhundert von einem in dieser Größe und Dynamik bisher unbekannten, stark expandierender Buchund Zeitschriftenmarkt, mit Literatur in deutscher Sprache versorgt.69 Spielte die Nationalsprache sowohl in den sog. Staats- als auch in den Kulturnationen70 eine bedeutende Rolle im Prozess der Konstituierung und Konsolidierung des politischen Systems, so erlangte die Sprache bei letzteren doch insofern eine besondere Bedeutung, als hier die nationalen Kräfte, lange bevor sie politische Wirksamkeit entfalteten, mangels eines bereits existierenden Machtzentrums zunächst als linguistisch-kulturelle Bewegungen begannen und die gemeinsame Sprache zum Mittelpunkt ihrer Argumentation machten.71 Die von diesen Be68 Hier sind vor allem die Arbeiten von Deutsch, Karl W., zu nennen, beispielsweise: Nationalism and Social Communication. An Inquiry into the Foundation of Nationality, Cambridge 1966; Nationenbildung, Nationalstaat, Integration, Düsseldorf 1972. Zu den Interdependenzen zwischen Nationalstaat, Kommunikationsverdichtung und nationaler Öffentlichkeit, siehe aus historischer Perspektive auch: Schulze, Hagen, Staat und Nation in der europäischen Geschichte, München 1999, 147, 160 ff.; Dann, Otto, Nation und Nationalismus in Deutschland 1770–1990, 2. Aufl., München 1994, 30, 34 f., 67, 103, 134, 165, 211, 251, 319. Nach Langewiesche, Dieter, Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München 2000, 29 (Anm. 44) und 32, war es die „Kommunikationsrevolution des 19. Jahrhunderts“, die „die gesellschaftlichen Voraussetzungen für den modernen Nationalismus“ schuf und „eine ,Nationalisierung der Massen‘ bewirkte.“ Aus linguistischer Sicht, siehe: Haarmann, Harald, Die Sprachenwelt Europas, Frankfurt a. M. 1993, 248–271, 279 ff.; ders., Europeaness, European Identity and the role of language. Giving profile to an anthropological infrastructure, in: Ammon, Ulrich/Mattheier, Klaus J./Nelde, Peter H. (Hrsg.), Europäische Identität und Sprachenvielfalt, Sociolinguistica 9, Tübingen 1995, 1–55, vor allem 31 ff. 69 Dann, Otto, Nation und Nationalismus in Deutschland 1770–1990, 2. Aufl., München 1994, 35. 70 Zur Differenz zwischen Kulturnationen und Staatsnationen, siehe: Schulze, Hagen, Staat und Nation in der europäischen Geschichte, München 1999, 126–150. Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Die Schweiz – Vorbild für Europa?, in: ders., Staat, Nation, Europa, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 2000, 25, 28; ders., Die Nation – Identität in Differenz, in: a. a. O., 34, 45, weist darauf hin, dass auch der subjektiv-politische Nationenbegriff zu Sprachenkonformität und Sprachenuniformität neigt. Und Thomas Schmitz, Integration in der Supranationalen Union, Baden-Baden 2001, 39, erinnert daran, dass auch „diejenigen Staaten, in denen traditionell die Lehre von der Staatsnation beheimatet ist, an einer einheitlichen kulturnationalen Schul-, Hochschul- und Kulturpolitik festhalten, die Verbreitung ihrer Nationalsprache im Ausland fördern oder die Sprachen regionaler Bevölkerungsmehrheiten allenfalls als Minderheitensprachen dulden, nicht aber als regionale Amtssprachen zulassen.“ Zu dem „französischen Bestehen auf sprachlicher Einheitlichkeit seit der Revolution“, siehe auch: Hobsbawm, Eric J., Nationen und Nationalismus, Frankfurt a. M. 1991, 32 f.; Haarmann, Harald, Die Sprachenwelt Europas, Frankfurt a. M. 1993, 93 f. 71 Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Die Schweiz – Vorbild für Europa?, in: ders., Staat, Nation, Europa, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 2000, 25, 27; Haarmann, Harald, Die Sprachenwelt Europas, Frankfurt a. M. 1993, 73, 261 und 262; Kraus, Peter A., Von
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wegungen in den Blick genommenen Spracheinheiten bestanden indes nicht als organische, aus der Geschichte vorgegebene Wesen, vielmehr bedurfte es in nahezu allen europäischen Staaten erheblicher Standardisierungs- und Homogenisierungsmaßnahmen, die über die Einführung von offiziellen Amtssprachen, die Durchsetzung der Nationalsprache in den Schulen bis hin zur massiven Unterdrückung von Minderheitensprachen reichten.72 Gerade sie begünstigten und unterstützen aber auch gerade jene Verdichtung und Bündelung der Kommunikation, die sich innerhalb des jeweiligen Nationalstaates realisierte, sich auf dessen politischen Geltungsbereich bezog und innerhalb seiner territorialen Grenzen das generierte, was wir als Öffentlichkeit bezeichnen. Gerade diese Begrenzung auf den Nationalstaat erweist sich jedoch am Anfang des 21. Jahrhunderts als ein enormes Problem. Während sich politische Systeme zunehmend transnationalisieren und sich die Nationalstaaten in internationale und supranationale Organisationen einbinden, um dem Verlust der Steuerungsfähigkeit zu begegnen, den sie dadurch erleiden, dass sich andere gesellschaftliche Teilsysteme nicht mehr an die traditionellen politischen Grenzen halten, bleibt die Frage offen, wie Demokratiemodelle zu konzipieren sind, die auch außerhalb des nationalstaatlichen Rahmens effektiv umgesetzt werden können.73 Verbinden wir aber das Demokratieprinzip mit der Existenz einer Öffentlichkeit, ungeachtet der Frage, wie diese strukturiert sein soll oder welche Funktionen sie erfüllen kann, dann sehen wir uns u. a. mit dem „Problem konfrontiert, wie angesichts übergreifender Problemlagen, Globalisierungs- und Migrationseffekten, dieses nationalstaatliche Korsett politischer Öffentlichkeit erweitert werden kann.“74 Westfalen nach Kosmopolis? Die Problematik kultureller Identität in der europäischen Politik, in: Berliner Journal für Soziologie, 2000, 203, 209 f.; ders., Kultureller Pluralismus und politische Integration: Die Sprachfrage in der Europäischen Union, Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 1998, 443, 449. 72 Siehe hierzu: Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Die Schweiz – Vorbild für Europa?, in: ders., Staat, Nation, Europa, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 2000, 25, 28; Scheuner, Ulrich, Nationalstaatsprinzip und Staatenordnung, in: ders., Staatstheorie und Staatsrecht – Gesammelte Schriften, Berlin 1978, 105 und 106; Kraus, Peter A., Kultureller Pluralismus und politische Integration: Die Sprachfrage in der Europäischen Union, Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 1998, 443, 446. 73 Zu den beschriebenen Prozessen, siehe: Zürn, Michael, Über den Staat und die Demokratie im europäischen Mehrebenensystem, Politische Vierteljahresschrift 1996, 27, 28 ff.; ders., Jenseits der Staatlichkeit: Über die Folgen der ungleichzeitigen Denationalisierung, Leviathan 1992, 490–513. 74 Imhof, Kurt, Öffentlichkeit und Identität, in: Kaelble, Hartmut/Kirsch, Martin/ Schmidt-Gernig, Alexander (Hrsg.), Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2002, 37, 40 f. sowie die Einleitung von Hartmut Kaelble, Martin Kirsch, Alexander Schmidt-Gernig in diesem Band. Hans-Jörg, Trenz, Korruption und politischer Skandal in der EU. Auf dem Weg zu einer europäischen politischen Öffentlichkeit, in: Bach, Maurizio (Hrsg.), Die Europäisierung nationaler Gesellschaften, Wiesbaden 2000, 332, 333, zufolge, droht der „Versuch, politische Öffentlichkeit als die sich im Zuge der Entstehung moderner Herrschaftsformen heraus-
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2. Entstehungsbedingungen europäischer Öffentlichkeit
Um die Europäisierungs- und Transnationalisierungsmöglichkeiten von Öffentlichkeit beurteilen und die hier im Zentrum stehende Frage nach dem Zusammenhang zwischen Sprache, Öffentlichkeit und Demokratie beantworten zu können, sollen nunmehr diejenigen Faktoren herausgearbeitet werden, die das Entstehen und Funktionieren von Öffentlichkeit ermöglichen und positiv beeinflussen. a) Übersetzungsleistung der Medien Zunächst ist festzustellen, dass eine europäische Öffentlichkeit auf zwei Weisen Realität werden kann. Zum einen kann sich eine eigenständige, die nationalstaatlichen Öffentlichkeiten überlagernde oder ergänzende europäische Öffentlichkeit herausbilden. Eine solche, über die Ländergrenzen hinausgehende mediale Integration, müsste aus europäischen Medien bestehen, die in jedem Mitgliedstaat verfügbar sind und deren Inhalte von den Unionsbürgern gleichermaßen rezipiert werden. Für diesen Weg stellt die sprachliche Heterogenität Europas neben anderen strukturellen Barrieren in der Tat ein kaum zu überwindendes Problem dar. Die europaweit erscheinenden Medien müssten sich, wenn sie ihr Produkt nicht zeitgleich in mehreren Sprachen konzipieren und verfügbar machen wollen, für eine Sprache entscheiden. Für die zweite Möglichkeit der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit gilt dies nicht. Sie bestünde in der Europäisierung der nationalen Öffentlichkeiten, d.h. in einer vermehrten Berichterstattung verbunden mit einer Synchronisierung öffentlicher Debatten über europäische Politik entlang thematisch-inhaltlicher Kriterien.75 Entscheidend dabildende Sphäre der Kommunikation von für politisch relevant erachteten Inhalten, Meinungen und Stellungnahmen territorial (oder staatlich) einzugrenzen bzw. auf eine bestimmte politische oder kulturelle Gemeinschaft festzulegen, [. . .] durch die politische Räume und Verständigungshorizonte durchdringende Dynamik öffentlicher Kommunikationsprozesse beständig unterlaufen zu werden.“ 75 Zu diesen beiden Möglichkeiten, siehe: Gerhards, Jürgen, Westeuropäische Integration und die Schwierigkeiten der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit, in Zeitschrift für Soziologie 22 (1993), 96, 100; ders., Europäisierung von Ökonomie und Politik und die Trägheit der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit, in: Bach, Maurizio (Hrsg.), Die Europäisierung nationaler Gesellschaften, Wiesbaden 2000, 277, 288 ff.; ders., Das Öffentlichkeitsdefizit der EU im Horizont normativer Öffentlichkeitstheorien, in: Kaelble, Hartmut/Kirsch, Martin/Schmidt-Gernig, Alexander (Hrsg.), Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2002, 135, 142; Eder, Klaus/Kantner, Cathleen, Transnationale Resonanzstrukturen in Europa, in: Bach, Maurizio (Hrsg.), Die Europäisierung nationaler Gesellschaften, Wiesbaden 2000, 306, 311 ff.; Meyer, Christoph O., Europäische Öffentlichkeit als Kontrollsphäre: Die Europäische Kommission, die Medien und politische Verantwortlichkeit, Berlin 2002, 55 ff.; Trenz, Hans-Jörg, Korruption und politischer Skandal in der EU. Auf dem Weg zu einer europäischen politischen Öffentlichkeit, in: Bach, Maurizio (Hrsg.), Die Europäisierung nationaler Gesellschaften,
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für, dass Sprachgrenzen nicht zu Kommunikationsgrenzen werden und politische Meinungsbildung auf nationalstaatliche Politik konzentriert bleibt, ist dann die „Fähigkeit der Medien [. . .], politische und soziale Diskurse in andere Sprachräume zu übersetzen und zu vermitteln.“76 Informieren sie zeitgleich über identische politische Inhalte europäischer Politik, über die Arbeit europäischer Institutionen und über deren Entscheidungsträger, dann entsteht ein über die Grenzen der Nationalstaaten hinausgehender europäischer Kommunikationsraum, der potentiell in der Lage ist, die dem Begriff der Öffentlichkeit zugeschriebenen Funktionen (Legitimation, Kontrolle, Er- und Vermittlung von Interessen) zu erfüllen.77 Infolge der Eigenschaft der nationalen Medien, als Transmissionsriemen fungieren zu können, wird es möglich, dass europäische Politik synchron Aufmerksamkeit in allen Mitgliedstaaten der Union findet, „vor Ort“ in der jeweiligen Nationalsprache debattiert und kritisiert werden kann und es im Ergebnis zur Neutralisierung sprachlicher Barrieren kommt. Visualisierung und massenmediale Repräsentation europäischer Politik wäre Wiesbaden 2000, 332, 336 ff.; Grundmann, Reiner, The European public sphere and the deficit of democracy, in: Smith, Dennis/Wright, Sue, Whose Europe? The turn towards democracy, Oxford 1999, 125, 136. Habermas, Jürgen, Braucht Europa eine Verfassung? Eine Bemerkung zu Dieter Grimm, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen, Frankfurt a. M. 1996, 185, 190, fordert „eine politische Öffentlichkeit, die den Bürgern ermöglicht, zur gleichen Zeit zu gleichen Themen von gleicher Relevanz Stellung zu nehmen.“ 76 Meyer, Christoph O., Europäische Öffentlichkeit als Kontrollsphäre: Die Europäische Kommission, die Medien und politische Verantwortlichkeit, Berlin 2002, 30. 77 Zu Begriff, Geschichte und Funktion der „Öffentlichen Meinung“ bzw. „Öffentlichkeit“, siehe: Hölscher, Lucien, Öffentlichkeit und Geheimnis. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung zur Entstehung der Öffentlichkeit in der frühen Neuzeit, Stuttgart 1979; ders., Öffentlichkeit, in: Brunner, Otto/Conze, Werner/Koselleck, Reinhard (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 4, Stuttgart 1975, 413–468; Wehler, Hans-Ulrich, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Band 1, München 1987, 303–331 und ders., Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Band 2, 520–546. Siehe auch: Gerhards, Jürgen/Neidhardt, Friedhelm, Strukturen und Funktionen moderner Öffentlichkeit: Fragestellungen und Ansätze, in: Müller-Doohm, Stefan/Neumann-Braun, Klaus (Hrsg.), Öffentlichkeit, Kultur, Massenkommunikation, Oldenburg 1991, 31–89; Habermas, Jürgen, Faktizität und Geltung, Frankfurt a. M. 1998, 399 ff, 435 ff. Aus systemtheoretischer Perspektive: Luhmann, Niklas, Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2002, 274–318; ders., Die Beobachtung der Beobachter im politischen System: Zur Theorie der öffentlichen Meinung, in: Wilke, Jürgen (Hrsg.), Öffentliche Meinung, München 1994, 77, 83 ff. Siehe auch die Beiträge in dem von Friedhelm Neidhardt herausgegebenen Band „Öffentlichkeit, Öffentliche Meinung, Soziale Bewegungen“, Sonderheft 34 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen 1994, insbesondere die Beiträge von Neidhardt (7 ff.) und Peters (42 ff.). Zu den Funktionen von Öffentlichkeit mit besonderem Bezug auf die europäische Integration, siehe: Gerhards, Jürgen, Europäisierung von Ökonomie und Politik und die Trägheit der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit, in: Bach, Maurizio (Hrsg.), Die Europäisierung nationaler Gesellschaften, Wiesbaden 2000, 277, 288 ff.; ders., Westeuropäische Integration und die Schwierigkeiten der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit, in Zeitschrift für Soziologie 22 (1993), 96, 97 ff.; Beierwaltes, Andreas, Sprachenvielfalt in der EU – Grenze einer Demokratisierung Europas?, Bonn 1998, 12 ff.
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demnach nicht gebunden an die Existenz einer einheitlichen Arena in Gestalt eines eigenständigen europäischen Kommunikationssystems, das auf die Voraussetzung einer einheitlichen Sprache oder entsprechende qualifizierte Fremdsprachenkenntnisse angewiesen ist. Europäische Diskurse können sich mittels der Übersetzungsleistungen der nationalen Medien realisieren, so dass „die Mindestbedingungen einer funktionierenden politischen Kommunikation über Themen der europäischen Politik auch durch den Einsatz nationaler Medien gesichert“ erscheint.78 Die in allen Mitgliedstaaten der Union geführten Debatten um die Einführung einer europäischen Währung, den Rücktritt der Kommission wegen Korruptionsvorwürfen oder die BSE-Krise haben gezeigt, dass es zu einer Synchronisierung nationaler Medien und zur Herausbildung eines europäischen Publikums, das gegenüber dem politischen System über ein Druckpotential verfügt, kommen kann79 Vor diesem Hintergrund will es nicht einleuchten, warum Dieter Grimm die Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten grundsätzlich als unzureichend bezeichnet und bezweifelt, dass dadurch ein europäisches Publikum erzeugt und europäische Diskurse initiiert werden können.80 b) Stärkung von Einflussmöglichkeiten Zutreffend ist allerdings, dass sich die Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten nicht von selbst einstellen wird. Sie ist angewiesen auf das Vorliegen bestimmter Faktoren. Von ganz entscheidender Bedeutung für eine intensivierte und synchronisierte Berichterstattung über europäische Politik in nationalen Öffentlichkeiten dürfte zunächst sein, dass den UnionsbürgerInnen wirksame Partizipations- und Einflussmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Öffentlichkeit, so lässt die Beobachtung nationalstaatlicher Kommunikationssysteme vermuten, wird generiert, wenn BürgerInnen Einfluss nehmen können auf Organe, die relevante, d.h. die Lebenszusammenhänge der BürgerInnen betreffende Entschei78 So: Kluth, Winfried, Die demokratische Legitimation der Europäischen Union, Berlin 1995, 62. Zu potentiellen Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten, siehe auch: Eder, Klaus/Kantner, Cathleen, Transnationale Resonanzstrukturen in Europa, in: Bach, Maurizio (Hrsg.), Die Europäisierung nationaler Gesellschaften, Wiesbaden 2000, 306, 312; Trenz, Hans-Jörg, Korruption und politischer Skandal in der EU. Auf dem Weg zu einer europäischen politischen Öffentlichkeit, in: a. a. O., 332, 336 ff. 79 Siehe hierzu die Fallanalysen bei: Meyer, Christoph O., Europäische Öffentlichkeit als Kontrollsphäre: Die Europäische Kommission, die Medien und politische Verantwortlichkeit, Berlin 2002; Grundmann, Reiner, The European public sphere and the deficit of democracy, in: Smith, Dennis/Wright, Sue (Hrsg.), Whose Europe? The turn towards democracy, Oxford 1999, 125, 137 ff. 80 „Ein europäisiertes Kommunikationssystem darf nicht mit vermehrter Berichterstattung über europäische Themen in den nationalen Medien verwechselt werden. Diese richten sich an ein nationales Publikum und bleiben damit nationalen Sichtweisen und Kommunikationsgewohnheiten verhaftet. Sie können folglich auch kein europäisches Publikum erzeugen und keinen europäischen Diskurs begründen.“ Siehe: Grimm, Dieter, Braucht Europa eine Verfassung, NJW 1995, 581, 588.
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dungen treffen. Andererseits kann so gegenüber den politischen Entscheidungsträgern, die zur Umsetzung ihrer politischen Programme und vor allem hinsichtlich ihrer Wiederwahl auf öffentliche Unterstützung angewiesen sind und es sich infolgedessen nicht erlauben dürfen, den Bildschirm Öffentlichkeit nicht zu beobachten, öffentlicher Druck erzeugt werden. Die Intensivierung der Kommunikationsdichte wäre danach zum einen die Folge der Wahrnehmung kompetenter politischer Zentren und zum anderen der gleichzeitig gewährleistete Einfluss der von den Entscheidungen betroffenen BürgerInnen auf diese Zentren.81 Der Vorschlag, europaweit stattfindende Referenden durchzuführen, in denen europapolitische Themen thematisiert und folgenträchtige Entscheidungen getroffen werden, wäre eine weitere Alternative, Öffentlichkeit herzustellen. Wie die von starken Mitbestimmungsmöglichkeiten der BürgerInnen gekennzeichneten Referenden über den Vertrag von Maastricht in einigen europäischen Ländern gezeigt haben, beschränkt sich in Referenden die Kommunikation keinesfalls auf den Akt der Stimmabgabe. Vielmehr wird schon im Vorfeld die Aufmerksamkeit des Publikums geweckt und öffentliche Kommunikation angeregt.82 c) Registrierung von Betroffenheiten Dass BürgerInnen aufmerksam werden in Bezug auf Operationen der europäischen Institutionen, hängt wiederum davon ab, ob ihnen bewusst wird, dass die Entscheidungen der supranationalen Ebene die eigenen Lebensverhältnisse und -bedingungen tangieren. Wenn es stimmt, dass „Nahes eher Aufmerksamkeit findet als Fernes“83 und diese Aufmerksamkeitsregel die Selektionen der Medien hinsichtlich der von ihnen transportierten Information prägt, dann kann sich der Schwerpunkt der Berichterstattung nationaler Medien in dem Maße verlagern, in dem deutlich wird, dass das Ferne nah ist.84 So ist bereits heute zu beobach81 Dass dies möglicherweise einen „institutionellen Vorlauf“ bedeuten würde, dazu siehe unten. 82 Gerhards, Jürgen, Das Öffentlichkeitsdefizit der EU im Horizont normativer Öffentlichkeitstheorien, in: Kaelble, Hartmut/Kirsch, Martin/Schmidt-Gernig, Alexander (Hrsg.), Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2002, 135, 152; ders., Europäisierung von Ökonomie und Politik und die Trägheit der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit, in: Bach, Maurizio (Hrsg.), Die Europäisierung nationaler Gesellschaften, Wiesbaden 2000, 277, 301. Zürn, Michael, Über den Staat und die Demokratie im europäischen Mehrebenensystem, Politische Vierteljahresschrift 1996, 27, 49 schreibt europaweiten Referenden gar ein „gemeinschaftsschaffendes Potential“ zu und erhofft sich von ihnen die Herausbildung einer kollektiven europäischen Identität. 83 Luhmann, Niklas, Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2002, 308. 84 Siehe auch: Gerhards, Jürgen, Das Öffentlichkeitsdefizit der EU im Horizont normativer Öffentlichkeitstheorien, in: Kaelble, Hartmut/Kirsch, Martin/Schmidt-Gernig, Alexander (Hrsg.), Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2002, 151; ders./Neidhardt, Friedhelm, Strukturen und Funktionen moderner Öffentlichkeit: Fragestellungen und Ansätze, in: Müller-Doohm, Ste-
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ten, dass die Schaffung europäischer Institutionen, die auf bestimmten Sektoren mit Kompetenzen und Entscheidungsbefugnissen ausgestattet sind, zur Folge hat, dass die von diesen Entscheidungen betroffenen Interessenverbände ihre Orientierung von den nationalen auf die europäischen Zentren umstellen und versuchen, sich in die entsprechenden Entscheidungsprozesse einzuschalten. Ebenso befinden sich zivilgesellschaftliche Organisationen, die als Akteure der Öffentlichkeit fungieren, die Protest zunehmend auf europäischer Ebene und über Massenmedien mobilisieren, die Einfluss auf Entscheidungsprozesse zu gewinnen versuchen und für bestimmte Themen Öffentlichkeit herstellen, in einem Transnationalisierungsprozess, weil sie realisieren, dass die sie und ihre Klientel betreffenden Entscheidungen (auch und zunehmend) auf der supranationalen Ebene getroffen werden.85 Die geschilderten Prozesse entsprechen zum einen der Beobachtung, dass die Etablierung überstaatlicher Institutionen wie der Europäischen Union die Ausbildung zivilgesellschaftlicher transnationaler Netzwerke nach sich zieht oder gar bewusst fördert, die verstärkte Organisation auf europäischer Ebene mithin als Reflex auf veränderte institutionelle Rahmenbedingungen der EG-Politik gedeutet werden kann86, und zum anderen der Erfan/Neumann-Braun, Klaus (Hrsg.), Öffentlichkeit, Kultur, Massenkommunikation, Oldenburg 1991, 31, 72: „Ein Problem lässt sich konkretisieren durch die Herstellung eines lebensweltlichen Bezugs zwischen dem Problem und den alltäglichen Erfahrungen der Bürger. [. . .] Die Nähe eines Problems zu den eigenen lebensweltlichen Erfahrungen erhöht die Einsicht in die „Aufdringlichkeit“ des Problems, die individuelle Betroffenheit steigt.“ 85 Siehe: Meyer, Christoph O., Europäische Öffentlichkeit als Kontrollsphäre: Die Europäische Kommission, die Medien und politische Verantwortlichkeit, Berlin 2002, 60. Gerhards, Jürgen, Westeuropäische Integration und die Schwierigkeiten der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit, in Zeitschrift für Soziologie 22 (1993), 96, 102, stellt bezogen auf das Korrespondentenheer in Brüssel darüber hinaus fest, dass die „Korrespondenten der Medien in Brüssel selbst als ausdifferenzierte europäische Vorposten bereits eine Antwort der nationalen Öffentlichkeiten auf die Bedeutungszunahme der EG“ sind. 86 Ausführlich hierzu die Beiträge von Thomas Fetzer (355–392), Alexander Schmidt-Gernig (393–421) und Hans Peter Schmitz (423–443) in: Kaelble, Hartmut/ Kirsch, Martin/Schmidt-Gernig, Alexander (Hrsg.), Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2002, 355, 363. Siehe auch: Günther, Klaus, Rechtspluralismus und universaler Code der Legalität: Globalisierung als rechtstheoretisches Problem, in: Wingert, Lutz/Günther, Klaus (Hrsg.) Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit, Frankfurt a. M. 2001, 539–567; Heins, Volker, Weltbürger und Lokalpatrioten – Eine Einführung in das Thema Nichtregierungsorganisationen, Opladen 2002; Jordan, Lisa/von Tuijl, Peter, Political Responsibility in Transnational NGO Advocacy, in: World Development 2000, 2051– 2065; Keck, Margaret E./Sikkin, Kathryn, Activist Beyond Borders: Advocacy Networks in International Politics, Ithaca 1998. Am Beispiel der Europäisierung der Migrationspolitik beschreiben schließlich Klaus Eder, Kai-Uwe Hellmann und Hans-Jörg Trenz, Regieren in Europa jenseits öffentlicher Legitimation? Eine Untersuchung zur Rolle von politischer Öffentlichkeit in Europa, in: Kohler-Koch, Beate (Hrsg.), Regieren in entgrenzten Räumen, Opladen 1998, 321, 329 ff. die Transnationalisierung von entsprechenden Organisationen. Hierzu auch: Eder, Klaus/Kantner, Cathleen, Transna-
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wartung, dass die in den letzten Jahren zu beobachtende Vertiefung der europäischen Integration sowie die Erweiterung der Kompetenzen der Union, die sich auf immer mehr Lebensbereiche beziehen, zu einer Steigerung der Aufmerksamkeit für europäische Politik führen wird: „Betroffenheit motiviert zum Eintritt ins Publikum“.87 Die skizzierten Wege weisen hin auf Möglichkeiten, wie die Mechanismen und Auswahlkriterien der Massenmedien, „die aufgrund der Überfülle von Nachrichten nur über Themen berichten, die von politischer Tragweite und den Themen der nationalen Politik jedenfalls gleichwertig sind“88, aktiviert werden. Eine Europäisierung nationaler Öffentlichkeit wäre die Folge.89 d) Transparenz Betroffenheit zu registrieren und aufmerksam zu werden setzt indes voraus, dass das Publikum überhaupt Einblick in die entsprechenden Entscheidungsverfahren erlangen und sich mit Informationen über europäische Politik versorgen kann. Nur dann ist potentiell gewährleistet, dass öffentliche Arenen überhaupt reagieren, Willensbildungsprozesse diskutieren und politische Entscheidungen kritisieren können. Schon Carl Schmitt wusste, dass „das Postulat der Öffentlichkeit seinen spezifischen Gegner in der Vorstellung [hat], dass zu jeder Politionale Resonanzstrukturen in Europa, in: Bach, Maurizio (Hrsg.), Die Europäisierung nationaler Gesellschaften, Wiesbaden 2000, 306, 318 ff. Huber, Peter M., Demokratie ohne Volk oder Demokratie der Völker? – Zur Demokratiefähigkeit der Europäischen Union, in: Drexl, Josef u. a. (Hrsg.), Europäische Demokratie, Baden-Baden 1999, 27, 48, empfiehlt einen Blick in die Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments, um festzustellen, wie intensiv bereits heute „sich die Unionsbürger zur gemeinsamen Interessendurchsetzung zusammenschließen und über Parteien und Lobbies Einfluss auf die europäischen Entscheidungen nehmen.“ 87 Neidhardt, Friedhelm, Die Rolle des Publikums, in: Derlien, Hans-Ulrich/Gerhard, Uta/Scharpf, Fritz W. (Hrsg.), Systemrationalität und Partialinteresse, Baden-Baden 1994, 315, 318. Siehe auch: Eder, Klaus/Kantner, Cathleen, Transnationale Resonanzstrukturen in Europa, in: Bach, Maurizio (Hrsg.), Die Europäisierung nationaler Gesellschaften, Wiesbaden 2000, 306, 323; Gerhards, Jürgen, Das Öffentlichkeitsdefizit der EU im Horizont normativer Öffentlichkeitstheorien, in: Kaelble, Hartmut/ Kirsch, Martin/Schmidt-Gernig, Alexander (Hrsg.), Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2002, 135, 151. Auch der frühere Richter am Europäischen Gerichtshof, Manfred Zuleeg, ist der Auffassung, dass „das Interesse an der europäischen Politik in dem Maße [wächst], in dem Entscheidungen auf die europäische Ebene verlagert werden“: Zuleeg, Manfred, Demokratie ohne Volk oder Demokratie der Völker? – Zur Demokratisierung der Europäischen Union, in: Drexl, Josef u. a. (Hrsg.), Europäische Demokratie, Baden-Baden 1999, 11, 20. 88 Kluth, Winfried, Die demokratische Legitimation der Europäischen Union, Berlin 1995, 61 f. 89 Eder, Klaus/Kantner, Cathleen, Transnationale Resonanzstrukturen in Europa, in: Bach, Maurizio (Hrsg.), Die Europäisierung nationaler Gesellschaften, Wiesbaden 2000, 306, 328, fassen kurz und prägnant zusammen: „Öffentlichkeit – im normativen Vollsinn des Wortes – gibt es erst, wenn Partizipationsmöglichkeiten etabliert sind.“
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tik Arcana gehören, politisch-technische Geheimnisse, die in der Tat für den Absolutismus ebenso notwendig sind, wie Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse für ein auf Privateigentum und Konkurrenz beruhendes Wirtschaftsleben.“90 Jedoch ist eine „Arkanstrategie“ der politischen Entscheidungsträger nur solange möglich und durchführbar, wie eine „schweigende Zustimmung“ unterstellt werden kann. Detaillierte Untersuchungen europäischer Skandale haben gezeigt, dass in dem Moment, in dem konkrete Betroffenheiten registriert werden, der Rückzug in eine Arkanstrategie kontraproduktiv ist, weil dadurch die sich formierende und Legitimationsdruck erzeugende Öffentlichkeit herausgefordert wird.91 Ob und in welchem Maße eine europäische Öffentlichkeit in der Lage ist, die ihr zugeschriebenen Funktionen zu erfüllen und dafür zu sorgen, dass das politische System sich auch aus diesem Gesichtspunkt heraus genötigt sieht, den Bildschirm Öffentlichkeit zu beobachten, sich daran zu orientieren und diese eventuell institutionell einzubinden, hängt demnach nicht unwesentlich von der Transparenz des politischen Prozesses ab.92 Aus demokratietheoretischer Perspektive ist Transparenz „die grundlegende Voraussetzung dafür, dass „Publizität“ und damit auch der bedeutsame und fundamentale Vorgang der Kontrollwahrnehmung durch ein „europäisches Volk“ in Gang gesetzt werden kann“.93
90 Schmitt, Carl, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 8. Aufl., Berlin 1996, 48. 91 Siehe vor allem: Meyer, Christoph O., Europäische Öffentlichkeit als Kontrollsphäre: Die Europäische Kommission, die Medien und politische Verantwortlichkeit, Berlin 2002. Mit speziellem Bezug auf eine sog. Arkanstrategie: Eder, Klaus, Zur Transformation nationalstaatlicher Öffentlichkeit in Europa. Von der Sprachgemeinschaft zur issuespezifischen Kommunikationsgemeinschaft, Berliner Journal für Soziologie 2000, 167, 180 f. 92 Zur Bedeutung von Transparenz für die Herstellung europäischer Öffentlichkeit: Lodge, Juliet, Transparency and Democratic Legitimacy, Journal of Common Market Studies 1994, 343–368; Mandt, Hella, Bürgernähe und Transparenz im politischen System der Europäischen Union, Zeitschrift für Politik 1997, 1–19; Augustin, Angela, Das Volk der Europäischen Union, Berlin, 2000, 152; Oeter, Stefan, Souveränität und Demokratie als Probleme in der „Verfassungsentwicklung“ der Europäischen Union, ZaöRV 55 (1995), 659, 703; Glotz, Peter, Integration und Eigensinn: Kommunikationsraum Europa – eine Chimäre?, in: Erbring, Lutz (Hrsg.), Kommunikationsraum Europa, Konstanz 1995, 17, 20 f. 93 Beierwaltes, Andreas, Demokratie und Medien. Der Begriff der Öffentlichkeit und seine Bedeutung für die Demokratie in Europa, Baden-Baden 2000, 240. Den Zusammenhang zwischen Transparenz und der Kontrollfunktion von Öffentlichkeit betont auch: Huber, Peter M., Demokratie ohne Volk oder Demokratie der Völker? – Zur Demokratiefähigkeit der Europäischen Union, in: Drexl, Josef u. a. (Hrsg.), Europäische Demokratie, Baden-Baden 1999, 27, 38 und 49 f.
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e) Personalisierung und Verantwortungszuschreibung Ein weiterer Faktor, der die Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten oder gar das Entstehen einer eigenständigen europäischen Öffentlichkeit positiv beeinflussen kann, liegt in der Möglichkeit, Politik konkreten Personen oder Verbänden zurechnen, d.h. Verantwortung für bestimmte Politiken zuordnen zu können. Es entspricht den Aufmerksamkeitsregeln von Massenmedien und Öffentlichkeiten, dass beide sich auf Personen, die mit spezifischen Programmen oder Entscheidungen verbunden werden, konzentrieren. Bei Niklas Luhmann findet sich der Satz, dass „Personen, vor allem bekannte Persönlichkeiten ein bevorzugter Kristallisationspunkt für Selektion und Darstellung von Nachrichten“ sind.94 Unter Berücksichtigung der Bedeutung der Personalisierung von Sachfragen und inhaltlichen Positionen und mit Bezug auf die Smend’sche Integrationslehre, sieht Ingolf Pernice das Exponieren einzelner Politiker gar als einen „Faktor der persönlichen Integration“. Dadurch, dass die Fraktionen des Europaparlaments sich zunächst auf einen Kandidaten einigen müssen, um anschließend „ihren Wunschkandidaten mit seinem Programm europaweit in Auseinandersetzung mit dem Gegenkandidaten propagieren“ zu können, d.h. eine „Verbindung von Person und politischem Programm im Wahlkampf“ hergestellt wird, sei man auf dem „Weg zur Bildung einer öffentlichen europäischen Meinung“.95 Unbestritten dürfte jedenfalls sein, dass die Frage, ob europäische Themen, die mit regionalen, nationalen und globalen Nachrichten um die begrenzte Aufmerksamkeit der Medien und des Publikums konkurrieren, in den Selektionsmechanismen der Medien ausgesondert werden, von der Personalisierungsmöglichkeit europäischer Politik abhängt.96 Unter diesem Gesichtspunkt verursacht der Charakter der Europäischen Union als Mehrebenensystem im Sinne einer Pluralisierung von Steuerungsebenen Schwierigkeiten, da ein solches 94
Luhmann, Niklas, Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt a. M., 2002, 308. Pernice, Ingolf, Carl Schmitt, Rudolf Smend und die europäische Integration, AöR 120 (1995), 100, 119. 96 Zur Bedeutung der Prominenz von Personen oder Institutionen für die Herstellung von Öffentlichkeit: Gerhards, Jürgen, Das Öffentlichkeitsdefizit der EU im Horizont normativer Öffentlichkeitstheorien, in: Kaelble, Hartmut/Kirsch, Martin/SchmidtGernig, Alexander (Hrsg.), Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2002, 135, 151; ders., Europäisierung von Ökonomie und Politik und die Trägheit der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit, in: Bach, Maurizio (Hrsg.), Die Europäisierung nationaler Gesellschaften, Wiesbaden 2000, 277, 298; ders./Neidhardt, Friedhelm, Strukturen und Funktionen moderner Öffentlichkeit: Fragestellungen und Ansätze, in: Müller-Doohm, Stefan/Neumann-Braun, Klaus (Hrsg.), Öffentlichkeit, Kultur, Massenkommunikation, Oldenburg 1991, 31, 67 f.; Peters, Bernhard, Der Sinn von Öffentlichkeit, in: Neidhardt, Friedhelm (Hrsg.), Öffentlichkeit, Öffentliche Meinung, Soziale Bewegungen, Opladen 1994, 42, 52 f. Augustin, Angela, Das Volk der Europäischen Union, Berlin, 2000, 152, schreibt bezogen auf die EU knapp: „wegen der mangelnden Personalisierung von Sachfragen und inhaltlichen Positionen fehlen wichtige Nachrichtenwertfaktoren.“ 95
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System „keinen eindeutigen Akteur, der für Entscheidungen zuständig ist und dem Verantwortung zugerechnet werden kann, erkennen“97 lässt und „eine für eine Medienresonanz so wichtige Personalisierung der Politik dadurch erschwert“ wird. Eine „strukturelle Verantwortlichkeitslücke“98 bzw. ein System „organisierter Verantwortungslosigkeit“99 generiert keine Öffentlichkeit und wenn doch, dann reagiert das Publikum im besseren Fall mit Desinteresse, im schlechteren mit Aversionen gegenüber einem unpersönlichen und amorphen Politkapparat. Die Möglichkeit, dass über Personalisierung Öffentlichkeit hergestellt wird, verbaut man sich jedoch schon im Ansatz, wenn man sich, wie Dieter Grimm, in eine zirkuläre Argumentation begibt, nach der „das Amt eines Unionspräsidenten einen Grad an Einheit vorspiegeln [würde], der auf absehbare Zeit nicht erreichbar ist und deswegen auch keiner Repräsentation in einer Person bedarf. Einem solchen Amt würde vielmehr die nur auf einer europäischen Identität beruhende innere Legitimation gerade fehlen.“100 Liest man diese Aussage im Kontext mit anderen Ausführungen Grimms, würde sie bedeuten, dass es eine politische Identifikationsfigur auf europäischer Ebene, die einen Beitrag zur Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit leisten könnte, nicht geben darf, weil es einer solchen Figur an dem ihre Stellung legitimierenden Unterbau, der wiederum maßgeblich aus eben jener europäischen Öffentlichkeit bestünde, mangelt. Wir stoßen hier auf das Problem des „institutionellen Vorlaufs“. f) Institutioneller Vorlauf Es ist ein besonderes Kennzeichen derjenigen Positionen, die in nicht unerheblichem Maße die Bedeutung vor-politischer bzw. vor-rechtlicher Demokratievoraussetzungen herausstellen, dass sie die Demokratisierung der Europäischen Union entweder unter Verweis auf das nur sehr langsame Entstehen solcher Voraussetzungen in eine ferne Zukunft verlagern oder die Demokratiefähigkeit der Europäischen Union kategorisch verneinen. Sowohl bei der Bildung kompetenter politischer Zentren als auch bei der Personalisierung europäischer 97 Gerhards, Jürgen, Das Öffentlichkeitsdefizit der EU im Horizont normativer Öffentlichkeitstheorien, in: Kaelble, Hartmut/Kirsch, Martin/Schmidt-Gernig, Alexander (Hrsg.), Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2002, 151 f. 98 Grande, Edgar, Demokratische Legitimation und europäische Integration, Leviathan 24/1996, 339, 352. 99 Weber, Max, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, Schutterwald/Baden 1995, 80 ff., beschrieb mit diesem Terminus im Jahre 1918 den außenpolitischen Apparat des Deutschen Reiches vor und im Ersten Weltkrieg. Hierzu auch: Oeter, Stefan, Souveränität als Probleme in der „Verfassungsentwicklung“ der Europäischen Union, ZaöRV 55 (1995), 659, 694 ff. 100 Grimm, Dieter, Vertrag oder Verfassung, Staatswissenschaft und Staatspraxis 1995, 509, 525.
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Politik haben wir gesehen, dass das „vorgängige soziale Substrat“101 bzw. „der politisch-soziale Unterbau“102 größere Chancen hat, sich herauszubilden, wenn ein gewisser institutioneller Vorlauf gewährt wird. Wie Dieter Grimm zutreffend erkennt, „besteht zwischen gesellschaftlichen Strukturen und politischen Institutionen kein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis. Institutionelle Vorgriffe können auch gesellschaftliche Entwicklungen anstoßen.“ Allerdings, so Grimm, müssten „unter den gegebenen Bedingungen [. . .] dafür aber lange Entwicklungszeiträume veranschlagt werden“ und „der institutionelle Vorgriff [. . .] deshalb nicht überdehnt werden.“103 Zumindest für die Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit scheint aber genau jener institutionelle Vorlauf positive Effekte auslösen und die zirkuläre, in sich selbst fest hängende Argumentation aufbrechen zu können. Betrachtet man sich die Entstehungsprozesse europäischer Nationalstaaten, dann fällt auf, dass in vielen Fällen „der Aufbau von landesweiten politischen Institutionen der Ausbildung einer nationalen Identität voraus[ging].“104 Ein institutioneller Vorlauf wäre demnach keine Unmöglichkeit, sondern in begrenztem Maße unter der Bedingung zu gewähren, dass man beobachtet, ob es tatsächlich zur Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit kommt. Stimmt die Analyse der Aufmerksamkeitsregeln und Selektionskriterien von Massenmedien und Publikum, dann spricht viel dafür, dass dies der Fall sein wird.105 3. Nationale und europäische Öffentlichkeit
Dass die europäische Öffentlichkeit von der rechtswissenschaftlichen Literatur als defizitär beschrieben wird, hängt indes nur bedingt mit der Rezeption der einschlägigen soziologischen, politologischen und kommunikationswissenschaftlichen Arbeiten zusammen. Diagnosen und Prognosen beruhen häufig, und dies lässt auch für die Zukunft keine Abkehr von der pessimistischen Grundhaltung erwarten, auf der simplen Übertragung nationalstaatlicher Mo-
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Grimm, Dieter, Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 1995, 581, 585. Grimm, Dieter, Der Mangel an europäischer Demokratie, SPIEGEL Nr. 43/1992 vom 19.10.1992, 57. 103 Grimm, Dieter, Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 1995, 581, 590 f. 104 Zürn, Michael, Über den Staat und die Demokratie im europäischen Mehrebenensystem, Politische Vierteljahresschrift 1996, 27, 44 f. und 49. 105 Zu den politischen, ökonomischen, technischen, sozialen und rechtlichen Rahmenbedingungen eines europäischen Kommunikationsraumes aus medien- und kommunikationswissenschaftlicher Sicht, siehe schließlich noch die Beiträge in dem von Lutz Erbring herausgegebenen Band „Kommunikationsraum Europa“, Konstanz 1995. Interessant ist, dass keiner der AutorInnen der zahlreichen Aufsätze dieses Bandes das Erfordernis einer homogenen Sprachstruktur als unabdingbare Voraussetzung der Entstehung eines europäischen Kommunikationsraumes behauptet. 102
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delle auf die Europäische Union einerseits und einer Idealisierung nationalstaatlicher Öffentlichkeit andererseits. a) Übertragung nationaler Modelle Es erscheint wenig überraschend, dass, nachdem man das gewohnte Modell einer nationalstaatlich verfassten Öffentlichkeit auf das politisch verfasste Europa übertragen und anschließend danach gefragt hat, in welchem Umfang die Merkmale und Strukturen des nationalstaatlichen Modells auch auf europäischer Ebene anzutreffen sind, erhebliche Öffentlichkeitsdefizite auf europäischer Ebene konstatiert werden. Man sollte jedoch bedenken, dass es bei der Analyse einer neuen Form politischer Organisation nicht darum gehen kann, diese als Abziehbild der Strukturen des Nationalstaates zu konzipieren. Die folgenden Ausführungen, die Joseph Weiler, Ulrich Haltern und Franz Mayer über das Maastricht-Urteil im besonderen und über Teile der deutschen Staatslehre im allgemeinen gemacht haben, können auch als Warnung vor einem Denken verstanden werden, das in nationalstaatlich geprägten Begriffswelten und Strukturmustern gefangen ist, und sich dadurch selbst in die Lage bringt, auf Phänomene, die von traditionellen und bekannten Denkweisen abweichen, nur noch durch das Aufzeigen von Defiziten reagieren zu können: „At the root of the No Demos thesis is ultimately a world view which is enslaved to the concepts of Volk, Staat and Staatsangehöriger and cannot perceive the Community or Union in anything other than those terms. This is another reason why the Union may appear so threatening since the statal vision can only construe it in oppositional terms to the Member State. But that is to impose on the Community or Union an external vision and not an attempt to understand (or define it) in its own unique terms. It is a failure to grasp the meaning and potentialities of supranationalism.“106. Bezogen auf das Entstehen einer europäischen Öffentlichkeit hat Hartmut Kaelble diese Gedanken konkretisiert: „Misst man die europäische Öffentlichkeit an den nationalen Öffentlichkeiten in Europa und erwartet man, dass die Geschichte der europäischen Öffentlichkeit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Art spätes Replay der Geschichte der nationalen Öffentlichkeiten seit dem 19. Jahrhundert war, so kommt man notgedrungen zu dem Schluss, dass sie in der jüngeren Geschichte und auch in der näheren Zukunft schwach entwickelt und diese Schwäche sogar ein dauerhaftes, in der Natur Europas liegendes Hindernis für eine volle demokratische Kontrolle der europäischen Entscheidungen ist.“107 Sinnvoller scheint es demgegenüber, der „eta106 Weiler, Joseph H. H./Haltern, Ulrich R./Mayer, Franz C., European Democracy and Its Critics – Five Uneasy Pieces, Harvard Jean Monnet Working Paper 1/95, 16. 107 Kaelble, Hartmut, Die europäische Öffentlichkeit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – Eine Skizze, in: Grüttner, Michael/Hachtmann, Rüdiger/Haupt, HeinzGerhard (Hrsg.), Geschichte und Emanzipation, Frankfurt a. M. 1999, 651, 655 f.
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tistischen Verengung“ im Sinne einer „alternativlosen, geschlossenen Staatsund Föderationsmodellierung“108 die Suche nach funktionalen Äquivalenten entgegenzusetzen, d.h. in unserem Fall nach den „funktionale[n] Äquivalent[en] zum Volk des Nationalstaats als dem Träger einer Öffentlichkeit, die eine selbstgesetzte Herrschaft unter Kontrolle hält“109, zu suchen. Stellt man dieEigenheiten Europas und der Europäischen Union in Rechnung und versucht diesen gerecht zu werden, indem man einen an diesen Eigenheiten orientierten Begriff von Öffentlichkeit konzipiert, wird man einige allzu pessimistische Schlussfolgerungen möglicherweise revidieren müssen. b) Idealisierung nationaler Öffentlichkeit Gravierender als die Übertragung nationaler Modelle auf neuartige politische Strukturen ist jedoch die idealisierende Konzeptionalisierung einer nationalen Öffentlichkeit, die der soeben geschilderten Übertragung vorausgeht. Abstrakt wird die „normative Komponente von Öffentlichkeit zum Kriterium von Öffentlichkeit und die ideale Selbstbeschreibung von Öffentlichkeit zum empirischen Maß ihrer Existenz“ gemacht, um sodann dieses idealtypische normative Modell von Öffentlichkeit mit Ansätzen einer europäischen Öffentlichkeit zu vergleichen. Dann handelt man sich in der Tat das Risiko ein, „ein Nichts dort sehen zu müssen, wo sich abweichend von der idealen Beschreibung reale Wirklichkeiten öffentlicher Kommunikation ausmachen lassen.“110 aa) Inhaltliche Restriktionen nationaler Öffentlichkeiten Auffällig oft wird in den Schriften, die sich zur defizitären europäischen Öffentlichkeit äußern, entweder überhaupt keine nähere Spezifizierung des eigenen Begriffs von Öffentlichkeit vorgenommen oder aber ein unterkomplexer, emphatischer bzw. idealisierter Begriff von Öffentlichkeit verwendet. Letzteres ignoriert, dass auch im nationalen Raum, Öffentlichkeit Restriktionen unterworfen ist und Mängel aufweist.111 So erscheint es bereits im Nationalstaat unwahrscheinlich, „dass sich in der Öffentlichkeit Allgemeinheit auch nur annähernd 108 Ipsen, Hans Peter, Europäische Verfassung – Nationale Verfassung, 195, 200– 204, 211 f. 109 Eder, Klaus, Zur Transformation nationalstaatlicher Öffentlichkeit in Europa. Von der Sprachgemeinschaft zur issuespezifischen Kommunikationsgemeinschaft, Berliner Journal für Soziologie 2000, 167, 168 und 171 f. 110 Eder, Klaus/Kantner, Cathleen, Transnationale Resonanzstrukturen in Europa, in: Bach, Maurizio (Hrsg.), Die Europäisierung nationaler Gesellschaften, Wiesbaden 2000, 306, 325 f. 111 Zum Folgenden, siehe nur: Peters, Bernhard, Der Sinn von Öffentlichkeit, in: Neidhardt, Friedhelm (Hrsg.), Öffentlichkeit, Öffentliche Meinung, Soziale Bewegungen, Opladen 1994, 42–76.
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repräsentativ unmittelbar zu Sprache bringen kann“.112 Vertritt man implizit oder explizit einen Öffentlichkeitsbegriff, der den allgemeinen Zugang jeder Person unter grundsätzlich gleichen Bedingungen einschließt, und beharrt man aus diesem Grund auf dem Erfordernis einer gemeinsamen Sprache, dann wird übersehen, dass jener idealisierte Kommunikationszusammenhang schon auf nationaler Ebene erheblich relativiert werden muss. Bei Zugrundelegung eines Begriffs von Öffentlichkeit, der die allgemeine Diskursfähigkeit der Akteure voraussetzt, bleibt unter anderem unberücksichtigt, dass die gesellschaftliche Verteilung kognitiven Wissens, „das angesichts zunehmender sozialer Problemkomplexität für den Beitrag zur Lösung dieser Problemlagen oder aber auch für das Verständnis (und damit der Kontrolle) der angebotenen Problemlösungen von eminent wichtiger Bedeutung ist“, ungleich verläuft. Vor dem Hintergrund einer funktionalen Differenzierung der Gesellschaft geht es dabei nicht allein um den Erwerb von Wissen in einem inhaltlichen Sinne, sondern auch und gerade um den Erwerb derjenigen Kenntnisse, die jemanden dazu befähigen, „erfolgreich“ an spezifischen Sprachspielen teilzunehmen.113 Schließlich sehen sich aber auch andere Merkmale, die einer „Öffentlichkeit im emphatischen Sinne“114 zugeschrieben werden, wie Gleichheit und Reziprozität oder Offenheit und adäquate Kapazität, strukturellen Beschränkungen ausgesetzt, die etwa auf sozialen Stratifikations- und Machtstrukturen, internen Differenzierungen 112 Gerhards, Jürgen/Neidhardt, Friedhelm, Strukturen und Funktionen moderner Öffentlichkeit: Fragestellungen und Ansätze, in: Müller-Doohm, Stefan/NeumannBraun, Klaus (Hrsg.), Öffentlichkeit, Kultur, Massenkommunikation, Oldenburg 1991, 31, 64. 113 Peters, Bernhard, Der Sinn von Öffentlichkeit, in: Neidhardt, Friedhelm (Hrsg.), Öffentlichkeit, Öffentliche Meinung, Soziale Bewegungen, Opladen 1994, 42, 51 ff., der ausführlich auf die „kommunikativen Asymmetrien in modernen Öffentlichkeiten“ eingeht. Peters zufolge, a. a. O., 55, geht es „nicht um die bloße Verteilung des Wissens in einem quantitativen Sinn. Es geht auch um unterschiedliche Formen des Wissens oder des Umgangs mit Wissen, um unterschiedliche kognitive Stile und Relevanzsysteme. Es handelt sich um den Erwerb von Spezialsprachen im weitesten Sinn, um die Sozialisation in Sprachspiele, welche die Kenntnisse von Begriffssystemen ebenso voraussetzen wie Wissensbestände, in welche diese Begriffe eingebettet sind, und praktische Fertigkeiten sowie bestimmte praktische Interessenrichtungen und Erfolgskriterien.“ Davon gehen auch Gerhards, Jürgen/Neidhardt, Friedhelm, Strukturen und Funktionen moderner Öffentlichkeit: Fragestellungen und Ansätze, in: Müller-Doohm, Stefan/Neumann-Braun, Klaus (Hrsg.), Öffentlichkeit, Kultur, Massenkommunikation, Oldenburg 1991, 31, 66, aus, wenn sie schreiben: „Kommunikationsbereitschaft in der Öffentlichkeit setzt bestimmte Fertigkeiten (z. B. Ausdrucksfähigkeit) und Motive (z. B. politische Interessen) voraus. Diese sind aber über die unterschiedlichen Kategorien der Bevölkerung nicht gleich verteilt. Deshalb gibt es soziostrukturell begründete und sozialstrukturell vermittelte Ungleichheiten hinsichtlich der allgemeinen Öffentlichkeitsbereitschaft der Bürger. Dies führt – ceterus paribus – zu einer selektiven Rekrutierung und zu weiteren Repräsentationsverzerrungen des Öffentlichkeitssystems – zum Beispiel im Hinblick auf Bildungsschichten, Geschlechtergruppen etc.“ Zur allgemeinen Diskursfähigkeit als normativem Ideal, siehe schließlich auch: Beierwaltes, Andreas, Sprachenvielfalt in der EU – Grenze einer Demokratisierung Europas?, Bonn 1998, 19.
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der öffentlichen Sphäre oder auf damit verbundenen, aber weitgehend diffus bleibenden Selektionsmechanismen beruhen.115 bb) Segmentierung und Fragmentierung Zutreffend ist, wie oben gezeigt wurde, dass es starke Interdependenzen zwischen der Entstehung der Nationalstaaten und der Herausbildung nationaler Öffentlichkeiten gegeben hat. Fraglich ist aber, ob es sich hierbei um eine einheitliche Öffentlichkeit gehandelt hat und ob darüber hinaus Öffentlichkeit heute als „homogener, eigenständiger Akteur“116 gesehen werden kann. Sollten sich nationale Öffentlichkeiten nicht als einheitliche erweisen, sondern vielmehr als ein Kommunikationszusammenhang vielfältiger und segmentierter Öffentlichkeiten, dann wäre dies ein starkes Argument gegen die Forderung nach sprachlicher Homogenität als Voraussetzung des Entstehens einer europäischen Öffentlichkeit. Und tatsächlich wird bereits für das Entstehen nationaler Öffentlichkeiten Mitte des 18. Jahrhunderts von einer intern stark differenzierten, aus mehreren Teilöffentlichkeiten bestehenden Öffentlichkeit ausgegangen: „Eine breite Teilöffentlichkeit konsumiert Reiseberichte, Modenachrichten, Korrespondenzreportagen; daneben bildete sich eine politische Publizistik aus. Ferner entwickelt sich ein Publikationszusammenhang, der auf pragmatisch-wissenschaftliche Themen bezogen war, bezogen auf die beginnende Auffächerung der Disziplinen in den Wissenschaften; schließlich [. . .] ist die [. . .] literarische Öffentlichkeit zu nennen.“117 Auch wenn die nationalen Öffentlichkeiten schon damals nicht den aufklärerischen Vorstellungen einer allgemeinen, gebildeten, politisierenden und objektiven Instanz eines universalen Vernunftwillens entsprachen, umspannten sie quantitativ doch die jeweilige Sprachgemeinschaft und integrierten die vielfältigen Teilöffentlichkeiten jedenfalls in stärkerem Maße zu einer Öffentlichkeit als dies heute der Fall ist.118 Unsere nationalen Öffentlichkeiten lassen sich, wenn man nicht vollständig die Realität ignorieren 114 So: Peters, Bernhard, Der Sinn von Öffentlichkeit, in: Neidhardt, Friedhelm (Hrsg.), Öffentlichkeit, Öffentliche Meinung, Soziale Bewegungen, Opladen 1994, 42, 45. 115 Zu den Schwierigkeiten von Öffentlichkeit auf nationaler Ebene, siehe neben den bereits erwähnten Arbeiten von Bernhard Peters sowie Jürgen Gerhards und Friedhelm Neidhardt: Frankenberg, Günter, Die Verfassung der Republik, Frankfurt a. M. 1997, 36 ff.; Habermas, Jürgen, Faktizität und Geltung, Frankfurt a. M. 1998, 402 ff. Dass der Begriff der Öffentlichkeit bereits im 19. Jahrhundert ein im hohen Maße idealisierter und mit Pathos aufgeladener Begriff war, der die realen Verhältnisse kaum passend widerspiegelte, zeigt eindrucksvoll Schulz, Andreas, Der Aufstieg der „vierten Gewalt“. Medien, Politik und Öffentlichkeit im Zeitalter der Massenkommunikation, Historische Zeitschrift 270/2000, 65. 73 ff. 116 Requate, Jörg, Öffentlichkeit und Medien als Gegenstände historischer Analyse, Geschichte und Gesellschaft 1999, 5, 7. 117 Fuchs, Peter, Die Erreichbarkeit der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1992, 150 f.
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will, mit dem Bild einer einheitlichen und infolgedessen Gemeinschaft erzeugenden Öffentlichkeit nicht mehr adäquat beschreiben. Tatsächlich ist dieses Bild in den europäischen Nationalstaaten bereits eine Fiktion119, die sich als „Mythos eines gemeinsamen Trägers öffentlicher Kommunikation nur mehr kontrafaktisch durchhalten“120 lässt, zugleich aber keinen Anlass gibt, an der Demokratiefähigkeit dieser Staaten zu zweifeln. Wir werden auch im Nationalstaat keinen alle BürgerInnen umfassenden Kommunikationszusammenhang finden, weil dies die Existenz eines monolithischen, auf ganz wenige Multiplikatoren reduzierten Mediensystems voraussetzen würde, das von allen BürgerInnen genutzt würde. Mediale Öffentlichkeiten sind aber gerade nicht durch ein solches singuläre Forum gekennzeichnet. Sie bestehen vielmehr aus einer ausdifferenzierten pluralen Medienlandschaft und einem komplexen, vielfältigen, und segmentierten Geflecht von Teilöffentlichkeiten, die „zu einem Teil kommunikativ, zu einem weiteren Teil durch Themengleichheit und zum Teil aber auch symbolisch zusammengehalten werden.“121 Die Nation versammelt sich nicht mehr zur gleichen Zeit vor dem Fernseher, über den das einzige öffentlichrechtliche Programm, das den Kommunikationsstoff für den nächsten Tag generiert, empfangen wird. Spätestens seit der Einführung des Privatfernsehens kann aus einer Vielzahl unterschiedlicher Programme und Programmangebote ausgewählt werden. Thomas Vesting stellt fest, dass „an die Stelle des öffentlichrechtlichen Integrationsrundfunks mit einer universalistischen Programmphilosophie inzwischen unterschiedliche Anbieter getreten [sind], die auf der Grundlage divergierender Unternehmensverfassungen mit immer neuen Programmen und Programmformen auf die steigende Varietät des Geschmacks, der Vorlieben und persönlichen Nutzungsmuster ihrer Zuschauer und Hörer zu reagieren versuchen (und diesen Prozess dadurch selbst beschleunigen).“122 Ähnliche Entwicklungen können für den Bereich des Hörfunks und der Printmedien festgestellt werden.123 In der Differenziertheit der Medien spiegelt sich die Pluralität 118 Zur Herausbildung von Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert, siehe aus historischer Perspektive: Requate, Jörg, Öffentlichkeit und Medien als Gegenstände historischer Analyse, Geschichte und Gesellschaft 1999, 5, 7 f. Schulz, Andreas, Der Aufstieg der „vierten Gewalt“. Medien, Politik und Öffentlichkeit im Zeitalter der Massenkommunikation, Historische Zeitschrift 270/2000, 65, 73 f. 119 Andreas Beierwaltes, Sprachenvielfalt in der EU – Grenze einer Demokratisierung Europas?, Bonn 1998, 11 und 209. 120 Eder, Klaus, Zur Transformation nationalstaatlicher Öffentlichkeit in Europa. Von der Sprachgemeinschaft zur issuespezifischen Kommunikationsgemeinschaft, Berliner Journal für Soziologie 2000, 167, 177. 121 Beierwaltes, Andreas, Demokratie und Medien. Der Begriff der Öffentlichkeit und seine Bedeutung für die Demokratie in Europa, Baden-Baden 2000, 235. Siehe auch: a. a. O., 209, 235 und 236; Schilling, Theodor, Die Verfassung Europas, Staatswissenschaft und Staatspraxis 1996, 387, 402. 122 Vesting, Thomas, Soziale Geltungsansprüche in fragmentierten Öffentlichkeiten. Zur neueren Diskussion über das Verhältnis von Ehrenschutz und Meinungsfreiheit, AöR 122 (1997), 337, 353 f.
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einer komplexen Gesellschaft, deren Interessenvielfalt, Widersprüche und Antagonismen die aufklärerische Idee einer einheitlichen Öffentlichkeit und die Vorstellung einer einheitlichen öffentlichen Meinung sprengen.124 Mit dem Hinweis auf die mediale Pluralität ist die Diagnose der Fragmentierung nationaler Öffentlichkeit allerdings noch lange nicht erledigt. Empirisch lässt sich sehr gut nachweisen, dass man einer adäquaten Beschreibung der Wirklichkeit näher kommt, wenn man von „Teilöffentlichkeiten [. . .] mit porösen Grenzen“125, „sektorale[n]“126, „vielfältigen“ 127, „ständig wechselnde[n] Teilöffentlichkeiten“128, „einer sektoral vielfach unterteilten öffentlichen Sphäre“129 oder von „segmentierten Öffentlichkeitsebenen“ im Sinne einer „Vielzahl strukturell mehr oder weniger stark verbundener Öffentlichkeitsforen“130 ausgeht.131 Auch wenn das Bild einer einheitlichen Öffentlichkeit eher Stabilität und Ruhe signalisieren mag, schädlich ist die Fragmentierung und Segmentierung nicht. Im Gegenteil sorgt die Pluralität der öffentlichen Agenden zum einen dafür, dass potentiell alle Themen eine realistische Chance haben, öffentlich gemacht zu werden und zum anderen ermöglicht sie „spezielle Kompetenzsteigerungen durch intensive Beschäftigung mit bestimmten Themengebieten.“ 132 Dementsprechend findet auch die öffentliche Kontrolle des politischen Systems nicht durch eine allumfassende Öffentlichkeit, sondern dezentralisiert statt.133 Die 123 Eder, Klaus/Kantner, Cathleen, Transnationale Resonanzstrukturen in Europa, in: Bach, Maurizio (Hrsg.), Die Europäisierung nationaler Gesellschaften, Wiesbaden 2000, 306, 312 f.; Augustin, Angela, Das Volk der Europäischen Union, Berlin, 2000, 151. 124 Hierzu: von Brünneck, Alexander, Die öffentliche Meinung in der EG als Verfassungsproblem, EuR 1989, 249, 250. 125 Peters, Bernhard, Der Sinn von Öffentlichkeit, in: Neidhardt, Friedhelm (Hrsg.), Öffentlichkeit, Öffentliche Meinung, Soziale Bewegungen, Opladen 1994, 42, 56. 126 Trenz, Hans-Jörg, Korruption und politischer Skandal in der EU. Auf dem Weg zu einer europäischen politischen Öffentlichkeit, in: Bach, Maurizio (Hrsg.), Die Europäisierung nationaler Gesellschaften, Wiesbaden 2000, 332, passim. 127 Requate, Jörg, Öffentlichkeit und Medien als Gegenstände historischer Analyse, Geschichte und Gesellschaft 1999, 5, 14. 128 Vesting, Thomas, Soziale Geltungsansprüche in fragmentierten Öffentlichkeiten. Zur neueren Diskussion über das Verhältnis von Ehrenschutz und Meinungsfreiheit, AöR 122 (1997), 337, 353 f. 129 Requate, Jörg, Öffentlichkeit und Medien als Gegenstände historischer Analyse, Geschichte und Gesellschaft 1999, 5, 14. 130 Beierwaltes, Andreas, Sprachenvielfalt in der EU – Grenze einer Demokratisierung Europas?, Bonn 1998, 14 ff. 131 Siehe hierzu auch: Frankenberg, Günter, Die Verfassung der Republik, Frankfurt a. M. 1997, 37. 132 Peters, Bernhard, Der Sinn von Öffentlichkeit, in: Neidhardt, Friedhelm (Hrsg.), Öffentlichkeit, Öffentliche Meinung, Soziale Bewegungen, Opladen 1994, 42, 62. Vesting, Thomas, Soziale Geltungsansprüche in fragmentierten Öffentlichkeiten. Zur neueren Diskussion über das Verhältnis von Ehrenschutz und Meinungsfreiheit, AöR 122 (1997), 337, 353 f., weist jedoch auf die negativen Folgen hin, wenn er den beschriebenen Prozessen eine „dissoziierende, desintegrierende Drift“ zuschreibt.
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Bandbreite der Akteure und der Öffentlichkeitsebenen ist ebenso groß, wie ihre strukturellen, organisatorischen und quantitativen Differenzen. Bezogen auf die Ebenen gehen Jürgen Gerhards und Friedhelm Neidhardt von einfachen Interaktionssystemen („Encounters“ oder „Kommunikation au trottoir“134), öffentlichen Veranstaltungen und Massenmedienkommunikation aus. Unterschiede ergeben sich hinsichtlich der Menge der jeweiligen Kommunikationsteilnehmer, der Kommunikationsdichte, der Ausdifferenzierung und Professionalisierung, dem Grad der strukturellen Verfestigung, der möglichen Wirkungskraft und der spezifischen Art der Informationssammlung, -verarbeitung und -verwendung.135 Teilöffentlichkeiten können sich innerhalb bestimmter gesellschaftlicher Subsysteme (z. B. Wirtschaft, Kirche, Wissenschaft) entfalten oder sich im Hinblick auf spezifische Themen konstituieren, sie können lokal, regional, national oder global organisiert sein und ihrer Arbeit auf eine dieser räumlichen Ebenen konzentrieren. Auf den verschiedenen Ebenen agieren wiederum ebenso vielfältige und unterschiedliche interessierte Akteure wie Parteien, Verbände, Nichtregierungsorganisationen, Interessengruppen und soziale Bewegungen jeglicher Art, Bürgerinitiativen, Vereine und sonstige Gruppen sowie Einzelpersonen.136 Von dem Kollektivsingular „Öffentlichkeit“ muss man sich demnach verabschieden und an dessen Stelle das Bild eines komplexen (aber auch diffusen) Systems mehr oder weniger intensiv miteinander verbundener und sich gegenseitig beeinflussender Öffentlichkeiten setzen.137 Zutreffend stellen Klaus Eder, KaiUwe Hellmann und Hans-Jörg Trenz fest, dass spätestens die „Entstehung transnationaler Politikfelder [. . .] die Homogenität von Öffentlichkeit auf[löst]“ und 133 Beierwaltes, Andreas, Sprachenvielfalt in der EU – Grenze einer Demokratisierung Europas?, Bonn 1998, 16 f. 134 Luhmann, Niklas, Ökologische Kommunikation: Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Risiken einstellen?, 3. Aufl. Opladen 1990, 75. Siehe auch: ders., Einfache Sozialsysteme, in: ders., Soziologische Aufklärung 2, 4. Aufl., Opladen 1991, 21–38. 135 Das von vielen Autoren übernommene Modell wurde von Gerhards, Jürgen/ Neidhardt, Friedhelm, erstmals in: Strukturen und Funktionen moderner Öffentlichkeit: Fragestellungen und Ansätze, in: Müller-Doohm, Stefan/Neumann-Braun, Klaus (Hrsg.), Öffentlichkeit, Kultur, Massenkommunikation, Oldenburg 1991, 31, 49 ff., entwickelt und ausführlich dargestellt. 136 Siehe hierzu vor allem den bereits erwähnten Aufsatz von Jürgen Gerhards und Friedhelm Neidhardt, a. a. O., 49 ff. Des weiteren: Habermas, Jürgen, Faktizität und Geltung, Frankfurt a. M. 1998, 451 f.; Kaelble, Hartmut, Die europäische Öffentlichkeit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – Eine Skizze, in: Grüttner, Michael/ Hachtmann, Rüdiger/Haupt, Heinz-Gerhard (Hrsg.), Geschichte und Emanzipation, Frankfurt a. M. 1999, 651, 653 ff.; Peters, Bernhard, Der Sinn von Öffentlichkeit, in: Neidhardt, Friedhelm (Hrsg.), Öffentlichkeit, Öffentliche Meinung, Soziale Bewegungen, Opladen 1994, 42, 56. 137 Luhmann, Niklas, Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt a. M., 2002, 282 und 284, spricht vom „semantische[n] Problem des Begriffs der öffentlichen Meinung“ und sieht dieses in „dessen Singularfassung“ und in der mit dem Begriff verbundenen „Prämisse einer mehr oder weniger monolithischen Einheit der öffentlichen Meinung“.
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„sich heterogene Öffentlichkeiten, die sich voneinander abgrenzen und die Ausbildung von Teilöffentlichkeiten vorantreiben“ bilden. Damit, so die Autoren, wird „die Homogenität der Kommunikationsgemeinschaft vom „Volk“ abgekoppelt und als Pluralität von Teilöffentlichkeiten je nach Sach- und Interessenlage neu konstruiert.“138 4. Europäische Öffentlichkeiten unter der Bedingung sprachlicher Heterogenität
Wenn diese Analyse zutrifft, dann ist nicht zu begründen, warum es ein „einheitliches europäisches Fernsehprogramm“139 oder die „EG-einheitliche öffentliche Meinung“140, die auf einen homogenen Sprachraum angewiesen wären, geben soll. Die Forderung, man müsse „versuchen, zu einer einheitlichen europäischen Meinung vorzustoßen“141 ist entweder nur ein Vorwand wider besseren Wissens, um gegen die europäische Integration zu mobilisieren, oder – dies ist wahrscheinlicher – sie basiert auf der Unkenntnis der soziologischen, politologischen und kommunikationswissenschaftlichen Literatur zum Begriff der (nationalen) Öffentlichkeit. Die Schlussfolgerung, „kommunikative Homogenität sei auch eine allgemeine und notwendige Voraussetzung der Demokratie, resultiert letztlich aus einem irreführenden Verständnis von dem Ort, an dem Kommunikation bzw. Sprache eine herausragende Bedeutung einnimmt: der Öffentlichkeit.“142. Wenn die Analyse stimmt, dass Öffentlichkeit nicht einheitlich, sondern als vernetztes System vielfältiger und dezentraler Teilöffentlichkeiten zu denken ist, dann verliert die Forderung nach sprachlicher Homogenität an Bedeutung. Europaweit stattfindende Kommunikation ist in diesem Fall nicht auf zentralisierte Medien angewiesen, wie es die oben angesprochen Herausbildung einer eigenständigen europäischen Öffentlichkeit indiziert. Europäische Kommunikation kann sich situieren in einem verzweigten Netzwerk von vielfältigen Foren und Agenden und kann geführt werden von ebenso zahlreichen Akteuren. Jene Konzeption von Öffentlichkeit lässt sich darüber hinaus leicht kombinieren mit dem, was wir oben als die Übersetzungsleistung der na138 Eder, Klaus/Hellmann, Kai-Uwe/Trenz, Hans-Jörg, Regieren in Europa jenseits öffentlicher Legitimation? Eine Untersuchung zur Rolle von politischer Öffentlichkeit in Europa, in: Kohler-Koch, Beate (Hrsg.), Regieren in entgrenzten Räumen, Opladen 1998, 321, 325. 139 Gerhards, Jürgen, Westeuropäische Integration und die Schwierigkeiten der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit, in Zeitschrift für Soziologie 22 (1993), 96, 101. 140 von Brünneck, Alexander, Die öffentliche Meinung in der EG als Verfassungsproblem, EuR 1989, 249, 252. 141 Kirchner, Christian/Haas, Joachim, Rechtliche Grenzen für Kompetenzübertragungen auf die Europäische Gemeinschaft, JZ 1993, 760, 767. 142 Beierwaltes, Andreas, Sprachenvielfalt in der EU – Grenze einer Demokratisierung Europas?, Bonn 1998, 5.
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tionalen Medien angesprochen haben. Innerhalb des Netzwerks wird wechselseitig aufeinander Bezug genommen, Nachrichten, Kommentare, Einstellungen und Meinungen werden übersetzt, übermittelt, wiedergegeben, ausgetauscht, kritisiert und in Frage gestellt. Es entstehen verdichtete Kommunikationszusammenhänge. Weder für die Existenz einer Kommunikationsgemeinschaft noch für die Verwirklichung demokratischer Verfahren ist erforderlich, „dass jeder mit jedem reden kann“143 und jeder „dieselben Medien nutzt oder die Nachrichten zur gleichen Uhrzeit sieht.“144 Es mag sein, dass „die Probleme mit der Zahl der Sprachen [wachsen]“145 und „die Sprachenproblematik [. . .] die wichtigen auf Europa hin orientierten Verbindungen der jeweiligen Teilöffentlichkeiten nicht gerade leichter [macht]“, [. . .] aber die Vielfalt der Sprachen macht diesen Prozess nicht unmöglich.“146 Legt man zum einen die Übersetzungsmöglichkeiten der Medien und zum anderen die „Abkehr von der Funktionslogik einer einheitlichen und homogenen öffentlichen Sphäre“ zugrunde, dann ergibt sich das Bild eines „polyzentrische[n] Ensemble[s] thematisch miteinander verschränkter und mehrsprachiger Teilöffentlichkeiten“.147 Dass das Entstehen einer Öffentlichkeit auf bestimmte Faktoren angewiesen ist und durch deren Vorliegen gefördert werden kann, wurde gezeigt. Ein homogener Sprachraum im dem Sinne, dass die Angehörigen eines bestimmten politischen Verbandes eine gemeinsame Sprache sprechen, gehört nicht zu diesen Faktoren. Öffentlichkeiten, die die ihnen zugeschriebenen Funktionen erfüllen, können sich auch unter der Bedingung sprachlicher Heterogenität herausbilden. Mit dem Argument der sprachlichen Heterogenität Europas im Sinne einer vorrechtlich-sozialen Voraussetzung kann die Demokratieunfähigkeit der Europäischen Union daher nicht begründet werden.
143 Fastenrath, Ulrich, Die Struktur der erweiterten Europäischen Union, EuR-Beiheft 1/1994, 101, 117 f. 144 Eder, Klaus/Kantner, Cathleen, Transnationale Resonanzstrukturen in Europa, in: Bach, Maurizio (Hrsg.), Die Europäisierung nationaler Gesellschaften, Wiesbaden 2000, 306, 312. Siehe auch: Augustin, Angela, Das Volk der Europäischen Union, Berlin, 2000, 151. 145 Fastenrath, Ulrich, Die Struktur der erweiterten Europäischen Union, EuR-Beiheft 1/1994, 101, 117 f. 146 Beierwaltes, Andreas, Demokratie und Medien. Der Begriff der Öffentlichkeit und seine Bedeutung für die Demokratie in Europa, Baden-Baden 2000, 235. Auf S. 11, a. a. O., schreibt Beierwaltes: „Meine These ist vielmehr, dass zwar eine gemeinsame Sprache die kommunikative Integration einer Gemeinschaft stärken kann, aber ein solches Maß an Homogenität ist nicht Voraussetzung für eine europäische Öffentlichkeit und damit für die Demokratie in Europa.“ 147 Kraus, Peter A., Kultureller Pluralismus und politische Integration: Die Sprachfrage in der Europäischen Union, Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 1998, 443, 455 f. Siehe auch: Eder, Klaus, Zur Transformation nationalstaatlicher Öffentlichkeit in Europa. Von der Sprachgemeinschaft zur issuespezifischen Kommunikationsgemeinschaft, Berliner Journal für Soziologie 2000, 167, 177.
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Literaturverzeichnis Augustin, Angela, Das Volk der Europäischen Union, Berlin 2000 Beierwaltes, Andreas, Sprachenvielfalt in der EU – Grenze einer Demokratisierung Europas?, Bonn 1998 – Demokratie und Medien. Der Begriff der Öffentlichkeit und seine Bedeutung für die Demokratie in Europa, Baden-Baden 2000 Berman, Antoine (Hrsg.), Les tours de Babel. Essais sur la traduction, Paris 1985 Bleckmann, Albert, Chancen und Gefahren der europäischen Integration, JZ 1990, 301–306 Blumler, Jay G./Hoffmann-Riem, Wolfgang, New Roles for Public Television in Western Europe: Challenges and Prospects, Journal of Communication 42/1 (1992), 20–35 Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Die Schweiz – Vorbild für Europa?, in: ders., Staat, Nation, Europa, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 2000, 25–33 – Die Nation – Identität in Differenz, in: ders., Staat, Nation, Europa, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 2000, 34–67 Bogdandy, Armin von, Skizzen einer Theorie der Gemeinschaftsverfassung, in: Danwitz, Thomas von (Hrsg.), Auf dem Wege zu einer europäischen Staatlichkeit, Stuttgart 1993, 9–29 Brünneck, Alexander von, Die öffentliche Meinung in der EG als Verfassungsproblem, EuR 1989, 249–261 Classen, Claus Dieter, Europäische Integration und demokratische Legitimation, AöR 116 (1994), 238–260 Coenen-Huther, Jacques, Zwei mehrsprachige Länder im Vergleich: Belgien und die Schweiz, in: Hettlage, Robert/Deger, Petra/Wagner, Susanne (Hrsg.), Kollektive Identität in Krisen. Ethnizität in Region, Nation, Europa, Opladen 1997, 142–148 Dann, Otto, Nation und Nationalismus in Deutschland 1770–1990, 2. Aufl., München 1994 Derrida, Jacques, Babylonische Türme. Wege, Umwege, Abwege, in: Hirsch, Alfred (Hrsg.) Übersetzung und Dekonstruktion, Frankfurt a. M. 1997, 119–165 Deutsch, Karl W., Nationalism and Social Communication. An Inquiry into the Foundation of Nationality, Cambridge 1966 – Nationenbildung, Nationalstaat, Integration, Düsseldorf 1972 Di Fabio, Udo, Der neue Art. 23 des Grundgesetzes, Der Staat 32 (1992), 191–217 Eco, Umberto, Auf der Suche nach der vollkommenen Sprache, München 1994 Eder, Klaus, Zur Transformation nationalstaatlicher Öffentlichkeit in Europa. Von der Sprachgemeinschaft zur issuespezifischen Kommunikationsgemeinschaft, Berliner Journal für Soziologie 2000, 167–184
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II. Probleme der Mehrsprachigkeit
Juristisches Entscheiden unter der Vorgabe von Mehrsprachigkeit Ralph Christensen und Michael Sokolowski I. Die Vorgabe des Artikels 314 EG Art. 314 EG ist ein Normtext, dessen methodische Tragweite noch nicht ausreichend diskutiert ist.1 Die Kommentierungen begnügen sich zumeist mit einer Paraphrasierung des Wortlauts und einem knappen Hinweis auf die Wiener Vertragsrechtskonvention, die in ihrem Art. 33 Abs. 4 zum Problem der Mehrsprachigkeit Stellung nimmt.2 Tatsächlich stellt Art. 314 EG, wonach der Wortlaut des Vertrages in jeder der genannten Sprachen verbindlich ist, eine grundlegende Entscheidung nicht nur für die Gleichwertigkeit der Sprachen der Mitgliedsländer, sondern auch für die Gleichwertigkeit ihrer Rechtskulturen dar. Dieser wichtige Grundsatz versteht sich natürlich nicht von selbst. Dass man bei der Formulierung dieses Artikels wirklich an den Verweis auf alle Rechtskulturen gedacht hat, ergibt sich auch aus den Artikeln 6 Abs. 2 EU und 288 Abs. 2 EG, die diesen Verweis für die Grundrechte und das Staatshaftungsrecht explizieren. Die grundlegende Entscheidung steckt aber in Artikel 314 insoweit, als er die Gleichwertigkeit der Sprachen der Mitgliedsländer aufnimmt und ihnen damit garantiert, dass jede Sprache am Rechtserzeugungsprozess beteiligt werden muss. Damit wird das Gemeinschaftsrecht auch geöffnet für die Vielfalt der europäischen Rechtskulturen. Aber natürlich bringt diese Regelung für die 1 Bei der Darstellung der rechtlichen Grundlagen der Arbeit des EuGH wird diese Norm von den neueren deutschen Arbeiten überhaupt nicht erwähnt: Buck, C., Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, Frankfurt/ M. u. a. 1998, S. 32 ff.; Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1. Aufl., Frankfurt am Main/Berlin/Bern/New York/Paris/Wien 1997, S. 6 ff., Ukrow, J., Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, Baden-Baden 1995, S. 90 ff. 2 Vgl. dazu Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1. Aufl., Frankfurt am Main/Berlin/Bern/New York/Paris/ Wien 1997; Röttinger, M., in: E. Grabitz, M. Hilf, Kommentar zur Europäischen Union, Loseblattsammlung, Stand: 7. Ergänzungslieferung, München 1994, Art. 248. Ausführliche Diskussion bei Weber, A., in: Groeben, H. v. d., Thiesing, J., Ehlermann, C.-D., Kommentar zum EU-, EG-Vertrag, Bd. 4: Art. 189–248, 5. Aufl., Baden-Baden 1997, Art. 248 und Smit, H., Herzog, P., The law of the European Communities, New York 1993, Art. 248.
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gerichtliche Praxis Risiken und Komplikationen mit sich, die gemeinhin unter dem Stichwort Textdivergenz diskutiert werden.3 Gemäß dem Sprachwissenschaftler Florian Coulmas ist davon auszugehen, dass etwa 40% des Verwaltungshaushaltes der Gemeinschaft für die Konsequenzen der Vielsprachigkeit aufgewendet werden müssen4. Außerdem zeigt sich das Risiko, dass neben das schon bekannte „Forumshopping“ noch ein „Languageshopping“ tritt, was der einen Partei eventuell Verfahrensvorteile verschaffen kann. Schließlich ergeben sich auch für die Bürger der Gemeinschaft Sprachlasten, welche die Rechtsverfolgung erschweren können. So hat der EuGH entschieden, dass ein Unternehmen, welches einen Übersetzungsfehler hätte leicht erkennen können, sich nicht im Wege des Vertrauensschutzes auf die zu seinen Gunsten falsche Fassung einer Gemeinschaftsrechtsnorm berufen könne.5 Es ergeben sich also praktische Nachteile sowohl für die Gemeinschaft als auch für den Bürger. Fraglich ist, ob diese Nachteile durch einen Gewinn an Rationalität im mehrsprachigen Recht ausgeglichen werden. Denn es könnte sein, dass der Vervielfachung der Perspektiven die Rechtssicherheit zum Opfer fällt. „Die Erkenntnis, dass die Sprachenvielfalt in einem Europa des offenen Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs auch zu entsprechend vielfältigen kulturellen Kontakten führt, ist sicher als Chance zu sehen, aus der eigenen Herkunftswelt in eine (zunächst fremde) Ankunftswelt zu wechseln, was neue Perspektiven und Entwicklungsmöglichkeiten eröffnen kann. Im Bereich des Rechts dürfte der Risikofaktor allerdings überwiegen, da hier vor allem nach Rechtssicherheit – was auch Sicherheit bezüglich sprachlicher Bedeutungen meint – gestrebt wird. Sicherheit ist jedoch umso weniger zu haben, je mehr gleichwertige Sprachen bezüglich der ,richtigen‘ Interpretation des Rechts konkurrieren.“6 Gibt es also eine Möglichkeit, den Rationalitätsgewinn der Mehrsprachigkeit mit dem Ziel der Rechtssicherheit in Einklang zu bringen?
3 Vgl. dazu Schweitzer, M., Art. 248, Rdnr. 5, in: Grabitz, E./Hilf, M. (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Altband II, Art. 102a–248 EGV (Maastrichter Fassung), Stand Oktober 1999, München 2000. 4 Coulmas, F., Die Wirtschaft mit der Sprache, Frankfurt am Main 1992, S. 156. 5 EuGH Rs., C-644/95, Konservenfabrik Lubella Friedrich Büker, Urteil vom 17. Oktober 1996. 6 Baumann, M., Europäische Sprachenvielfalt und das Recht oder der Vormarsch des Englischen und der Bilder, in: Der Einfluss des europäischen Rechts auf die Schweiz. Festschrift zum 60. Geburtstag von Roger Zäch, Zürich 1999, S. 15 ff., S. 21.
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II. Literatur: Die Reduktion von Mehrsprachigkeit auf eine einzige Bedeutung In der Literatur werden Strategien vorgeschlagen, um das Problem der Mehrsprachigkeit zu lösen. Allerdings mangelt es diesen Vorschlägen an Komplexität. Entsprechend den einfachen Vorstellungen der von Juristen als Standesideologie gepflegten Sprachtheorie gibt es im Regelfall zu einem Begriff genau eine Bedeutung. Die angeblich wenigen Ausnahmen unzuverlässiger Begriffe können katalogisiert und damit vernachlässigt werden. Die Gesamtheit dieser Begriffe bildet das Lexikon einer homogenen Nationalsprache. Unterschiede in den Ausprägungen bei einzelnen Sprechern sind aus Sozialisationsdefiziten erschöpfend erklärt. Aus dieser Sicht gibt es bei Sprachdivergenzen ein durch die Höchstzahl der Mitgliedstaaten begrenztes Tableau von Bedeutungsvarianten: „Vergleicht man die verschiedenen Sprachfassungen einer Bestimmung des Gemeinschaftsrechts miteinander, so wird man regelmäßig feststellen, dass eine größere Zahl von Fassungen das Gleiche zu besagen scheint, während eine kleinere Zahl hingegen – untereinander übereinstimmend oder nicht – eine abweichende Deutung nahe legt oder nicht eindeutig formuliert ist.“7 Unter diesen Bedeutungsvarianten muss eine Auswahl getroffen werden. Die von der Literatur vorgeschlagenen Theorien unterscheiden sich dann danach, welches Kriterium die Auswahl steuert. Häufig wird erwogen, vom Vorrang der klarsten Fassung auszugehen. Tatsächlich ist die Unterstellung von Teilen der Literatur, dass der EuGH der Klarheitsregel folge, aber nicht haltbar. Dieses Vorgehen wäre auch nicht gerechtfertigt. Schon aus den im Völkerrecht anerkannten Gründen, dass mit der Vorrangregel für vermeintliche Präzision eine eventuell beabsichtigte Mehrdeutigkeit unterlaufen würde.8 Vor allem deswegen, weil mit dieser Regel die Entscheidung des Art. 314 EG für die Gleichwertigkeit der Sprachen verletzt würde. Als Auswahlkriterium kommt zunächst in Betracht, die Bedeutungsvariante zu Grunde zu legen, welche sich mehrheitlich aus den verschiedenen Sprachfassungen ergibt. In der Literatur führt Buck zu Recht Folgendes aus: „Ein intensives Studium der Urteile verdeutlicht vielmehr, dass der Gerichtshof die sprachlichen Mehrheitsverhältnisse nur als Ansatzpunkt begriffen und deren Ergebnisse an Hand übriger Auslegungsmethoden belegt und gestützt hat.“9 7 Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1. Aufl., Frankfurt am Main/Berlin/Bern/New York/Paris/Wien 1997, S. 153 unter Bezug auf Kutscher, H., Thesen zu den Methoden der Auslegung des Gemeinschaftsrechts, aus der Sicht eines Richters, in: Begegnung von Justiz und Hochschule, Teil l, Hrsg.: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, Luxemburg 1976, S. I–20. 8 Vgl. dazu Dölle, H., Zur Problematik mehrsprachiger Gesetzes- und Vertragstexte, in: RabelsZ 26 (1961), S. 4 ff., S. 35; Hilf, M., Die Auslegung mehrsprachiger Verträge, Berlin/Heidelberg 1973, S. 95.
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Als weiteres Kriterium für eine Auswahl aus einem vorgegebenen Bedeutungstableau wird auch über den Vorrang der den einzelnen Bürger am wenigsten belastenden Bedeutungsvariante diskutiert.10 Anknüpfungspunkt ist dabei eine Entscheidung des EuGH,11 worin es um die Abgabe verbilligter Butter an Sozialhilfeempfänger ging. Während die deutsche und niederländische Fassung einen auf den Namen ausgestellten Gutschein verlangte, ließen andere Fassungen auch Individualisierungen in sonstiger Weise zu. Anweiler schreibt dazu Folgendes: „Dabei wird allerdings deutlich, dass der EuGH hier nicht nur auf dem Boden der grammatischen Methode argumentiert, sondern auch teleologische Aspekte einfließen lässt. Das Urteil ist aus diesem Grund eher ein Beleg dafür, dass sich sprachliche Divergenzen zwischen den Textfassungen allein durch Anwendung der grammatischen Methode nicht auflösen lassen.“12 Als Instrument zur Lösung von Bedeutungsdivergenzen wird schließlich erwogen, das gemeinsame Minimum der Bedeutungen in den verschiedenen Sprachen zu Grunde zu legen. Eine bestimmte Vorgehensweise des EuGH bei Auslegungsproblemen scheint zunächst in diese Richtung zu deuten. Es handelt sich um die „Gemeinsame-Nenner-Regel“. Danach findet die Auslegung Vorrang, die sich auf die gleiche Bedeutungsvarianten der verschiedensprachigen Wortlaute stützen lässt. Enthält der Wortlaut einer Fassung die Bedeutungsvarianten a und b und eine andere Fassung die Bedeutungsvarianten b und c, usw., so ist die gemeinsame Bedeutungsvariante b vorzuziehen. Der Vorteil dieser Regel besteht darin, dass jeder Wortlaut inhaltlich, das heißt, mit der gemeinsamen Bedeutungsvariante, berücksichtigt wird. Die „Gemeinsame-Nenner-Regel“ wird häufig damit begründet, dass die Texte nur sprachlich ein je besonderes Dasein aufweisen. Weil aber die Parteien einen einheitlichen identischen Sinn wollten, könne der scheinbar mehrfach zum Ausdruck gekommene Wille nur ein einheitlicher sein.13 Aus dieser so 9 Buck, C., Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, Frankfurt/M. u. a. 1998, S. 155. 10 Vgl. dazu Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1. Aufl., Frankfurt am Main/Berlin/Bern/New York/Paris/ Wien 1997, S. 185 f. 11 EuGH Rs. 29/69 (Stauder), Slg. 1969, S. 419 ff. 12 Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1. Aufl., Frankfurt am Main/Berlin/Bern/New York/Paris/Wien 1997, S. 159. 13 Dölle, H., Zur Problematik mehrsprachiger Gesetzes- und Vertragstexte, in: RabelsZ 26 (1961), S. 4 ff., S. 27. Zur Formulierung der so genannten Einheitsregel vgl. auch Mössner, J. M., Die Auslegung mehrsprachiger Staatsverträge, in: Archiv des Völkerrechts, 15/3, S. 272 ff., 282 f.: Trotz sprachlicher Vielheit handle es sich um ein in sich homogenes Abkommen. Genauer wäre es, statt von verschiedenen Texten von verschiedenen Sprachfassungen zu sprechen. Aus der Einheit des Textes folge die Einheit des Sinnes. Dies bedeutet für die Auslegung, dass der Vertrag im Lichte aller seiner Sprachen auszulegen ist und keine Fassung isoliert betrachtet werden dürfe. Die
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genannten Einheitsregel folgt aber noch nicht das semantische Postulat einer gemeinsamen Bedeutung als Schnittmenge verschiedener Sprachen. Die meisten Vertreter der Literatur sind im Hinblick auf die explizite Formulierung einer solchen Regel denn auch sehr vorsichtig. Die praktischen Erfahrungen im Völkerrecht sprechen dagegen. Meist wird die semantische Unterstellung als bloße Vermutung formuliert: „Da nur ein einziger Vertrag – wenn auch in verschiedenen sprachlichen Fassungen – vorliegt, wird vermutet, dass die Ausdrücke des Vertrags in jedem authentischen Text dieselbe Bedeutung haben.“14 Aber auch als widerlegliche Vermutung bleibt diese Regel von den semantischen Möglichkeiten abhängig. Deswegen stellt sich hier die Frage, ob der sprachliche Verkehr eine sichere Grundlage finden kann in der Bedeutung, die mehreren Nationalsprachen gemeinsam ist. Gibt es also trotz der Verschiedenheit der Sprachen einen gemeinsamen gedanklichen Gehalt, der eine technische Lösung des Übersetzungsproblems erlaubt? Dies hätte wiederum den Vorteil, die Juristen von ihrer Verantwortung zu entlasten. Wenn man die „Gemeinsame-Nenner-Regel“ als Bezug auf die den verschiedenen Sprachen gemeinsamen geistigen Gehalte oder Propositionen versteht, dann wäre Übersetzen ein rein technisches Problem. Diesen Eindruck von der Übersetzung als Technik mag „ein ungeheurer Fundus an Übersetzungserfahrung und -wissen (niedergelegt in Wörterbüchern, Nachschlagewerken aller Art und neuerdings in Computerprogrammen, vor allem aber in den wirkungsmächtigen Übersetzungen (. . .) und zunehmend der Spezialliteratur zum Vorgang und zu den Zielen des Übersetzens)“ erwecken, den eine lange Tradition geschaffen hat.15 Nach der sich darin niederschlagenden Auffassung ließe sich immer ein Bedeutungsgehalt erkennen, der, beispielsweise in Form von Propositionen, einem übersetztem Satz und seiner Übersetzung gemeinsam wäre. Übersetzungsarbeit beschränkte sich in diesem Fall auf den Fleiß, zum Transfer der Sprachen die Signifikanten füreinander auszutauschen. Kontrolliert und sicher bei der Hand genommen wäre dieser Austausch durch die von ihm unberührt bleibende gemeinsame Proposition (Aussage). Dies mag dem gesunden Menschenverstand einleuchten. Allerdings löst sich diese Plausibilität in Luft auf, sobald die ebenso bescheidende wie nahe liegende Frage gestellt wird, was denn nun diese Propositionen seien. Sind sie geistige, intentionale Entitäten, logische Konstrukte, mentale Bilder? Blitzschnell füllen sich die Regale der BiErmittlung dieses einheitlichen Sinnes aus der Mehrheit des sprachlichen Ausdrucks sei die Aufgabe der Auslegung. In diesem Punkt bestehe kein prinzipieller Unterschied zwischen der Interpretation einsprachiger und mehrsprachiger Verträge, da die Auslegung stets die Erhellung des richtigen Sinnes sprachlicher Texte betreffe. 14 Geiger, R., EG-Vertrag. Kommentar zu dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, München 1993, Art. 248, Rn. 4. 15 Gondek, H.-D., Logos und Übersetzung. Heidegger als Übersetzer Heraklits – Lacan als Übersetzer Heideggers, in: Hirsch, A. (Hrsg.), Übersetzung und Dekonstruktion, Frankfurt/M. 1997, S. 263 ff., 264.
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bliotheken. Um der gemeinsamen Proposition habhaft zu werden, muss sie jedenfalls formulierbar sein. Dies kann nur in einer Sprache geschehen. Die Annahme einer gemeinsamen Bedeutung geleitet also die Übersetzung keineswegs auf die sicheren Bahnen eines kleinen Grenzverkehrs zwischen den Sprachen. Sie vermehrt nur die Teilnehmer. Denn auch die Sprache der Propositionen will übersetzt und damit verstanden sein. „Somit müsste ich eine dritte Sprache einführen, um die Wahrheit der Proposition, die von der ersten und zweiten transportiert wird, zu bestätigen. Doch diese Operation könnte nur mit der Einführung einer vierten zu den ersten dreien gewährleistet werden und so weiter. Ein anderer Turm von Babbel, eine collage de farce.“16 Die Theorie der Propositionen liefert also dem Übersetzen kein sicheres Gerüst, sondern führt im Gegenteil zu der Folgerung: „Die Schwierigkeit des Übersetzens (lässt sich) niemals als eine bloß technische erfassen“.17 Spätestens mit der Provokation der Quine’schen These von der radikalen „Unbestimmtheit der Übersetzung“18 gerät diese dem Recht just in dem Moment zum Grundproblem, in dem es – für seinen operationalen Einsatz19 – zu seinem Text zu finden hat.20 III. Was Juristen von der Übersetzung erwarten Juristen wollen den Übersetzer so vom Interpreten abgrenzen, wie den Boten vom Stellvertreter. Das heißt, er liefert keine eigene Leistung, sondern übermittelt nur, was vorher schon feststand. Die Abneigung der Juristen gegen die Notwendigkeit der Interpretation beim Zugriff auf Sprache erklärt sich zunächst aus der Situation, in der sie auf Sprache stoßen. Der Ausgangspunkt für die Spracharbeit der Juristen ist die Krise. Kommunikation läuft nicht als reibungslos eingespielte Gewohnheit, da in die16 Allison, D. B., Die Différance der Übersetzung, in: Hirsch, A. (Hrsg.), a. a. O., S. 375 ff., 382. 17 Heidbrink, L., Das Eigene im Fremden: Martin Heideggers Begriff der Übersetzung, in: Hirsch, A. (Hrsg.), a. a. O., S 349 ff., 353. 18 Quine, W. V., Unterwegs zur Wahrheit, Paderborn 1995, S. 62 ff. Siehe ursprüngl. ders., Wort und Gegenstand (Word and Object), Stuttgart 1980, S. 59 ff. Dazu Gochet, P., Quine zur Diskussion, Frankfurt/M./Berlin/Wien 1984, S. 79 ff. 19 Dazu Christensen, R./Sokolowski, M., Recht als Einsatz im semantischen Kampf, in: Zeitschrift für Semiotik, i. Vorb. 20 Zum Begriff des Textes in diesem Zusammenhang Christensen, R., Der Richter als Mund des sprechenden Textes. Zur Kritik des gesetzespositivistischen Textmodells, in: Müller, F. (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, Berlin 1989, S. 47 ff., 52 ff. Weiter Müller, F., Einige Grundfragen der Rechtslinguistik, in: ders., Methodik, Theorie, Linguistik des Rechts. Neue Aufsätze (1995–1997), Berlin 1997, S. 55 ff. Aus linguistischer Sicht Busse, D., Recht als Text. Linguistische Untersuchungen zur Arbeit mit Sprache in einer gesellschaftlichen Institution, Tübingen 1992, S. 41 ff.
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ser Unklarheiten entweder einvernehmlich beseitigt oder als irrelevant behandelt werden. Vielmehr besteht über die Fortsetzung der Kommunikation Streit. Er wurde durch Einschaltung von professionellen Juristen, durch Anfertigung von Schriftsätzen, Ausgestaltung eines Verfahrens usw. allmählich auf den Gesetzestext hingeführt, um dessen Lesart jetzt ein Konflikt besteht. Eine erste und sicher nahe liegende Reaktion auf diese Krise ist, auf die Sprache selbst zurück zu gehen. Darauf, was die Wörter, um die Streit besteht, „wirklich bedeuten“. Als Weg zur wirklichen Bedeutung gelten die Canones der Auslegung, insbesondere die grammatische. Der entscheidende Jurist lehnt sich dabei zurück und besinnt sich dabei auf die eigene Sprachkompetenz. Seriöser als diese Lehnstuhlmethode ist das Nachschlagen in einem Wörterbuch. Juristen neigen dazu, Wörterbücher genauso zu lesen wie Gesetzestexte. Ein Wörterbuch ist dann ein Sprachgesetzbuch. Die darin enthaltenen Bedeutungsbeschreibungen gelten als normativer Maßstab für richtiges Sprechen. Die Gerichte treffen ihre Entscheidungen über Recht anhand von Lesarten einschlägiger Texte. Und sie rechtfertigen die Auslegung, auf die sie sich mit ihrer Entscheidung festlegen, dadurch, dass diese deren Bedeutung und damit ihrem Gehalt an Recht entspricht. Mit der Bedeutung ist es aber so wie mit der Liebe. Versucht man, sie zu fassen und sie sich begreiflich zu machen, so ist sie auch schon dahin. Genau das müssen Juristen erfahren, wenn sie ihre Entscheidungen durch die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke begründen wollen. Recht wird nicht durch eine unverbindliche Lektüre von Normtexten entschieden. Juristen entscheiden Recht, indem sie sich auf eine bestimmte Lesart der dafür einschlägigen Texte verlegen und diese als die jeweils allein ausschlaggebende und richtige durchsetzen. Um sich damit wiederum selbst ins Recht zu setzen, müssen Juristen ihre Entscheidung begründen. Und sie neigen dazu, dies durch den Verweis auf die Bedeutung der Normtexte zu tun, die keine andere als die von ihnen vorgenommene Auslegung zulasse, sie zwingend vorzeichne. Mit diesem Anspruch greifen die Juristen allerdings ins Leere. Die normativen Erwartungen, die Juristen für die Begründung ihrer Entscheidungen gewöhnlich in die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke setzen, sind nicht einlösbar. Vor dem Hintergrund des semantischen und weiter praktischen Holismus erscheint das Konzept sprachlicher Korrektheit in einem ganz anderen Licht, als es dem Verlangen nach einer Begründung juristischer Entscheidungen durch Sprache recht sein kann. Vor dessen Hintergrund markieren sprachliche Fehler nicht mehr als einen „Grenzwert des Verständlichen“21, „d.h. ihr Bereich beginnt dort, wo es nicht mehr möglich wäre, eine Wortgebrauchs- und Urteilspraxis als konsistent zu verstehen.“22 21 Glüer, K., Sprache und Regeln. Zur Normativität von Bedeutung, Berlin 1999, S. 65.
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Durch den Fehler wird die Verwendung eines Ausdrucks also nicht dem Orkus des Unsinnigen preisgegeben. Vielmehr wird mit ihm umgekehrt an Bedeutung gerettet, was angesichts der Befremdlichkeit einer Äußerung an Bedeutung zu retten ist. Mit den entsprechenden Korrektheitsbedingungen für die Verwendung der Wörter ist eine Demarkationslinie in ihre Verwendung eingezogen, die den Sprachgebrauch, der ohne weiteres als akzeptabel angesehen wird, von dem scheidet, der ohne weiteres nicht mehr toleriert werden soll. Mit anderen Worten: Korrektheit gründet nicht in einem normativen Moment von Bedeutung. Vielmehr verleiht umgekehrt die Beurteilung von Korrektheit von Äußerungen jener Bedeutung erst eine normative Pointe, die die Wörter in ihrer Verwendung durch den Sprecher „nun einmal haben“. Korrektheit kann daher nicht die Voraussetzung für die Beurteilung des Sinns von Äußerungen sein. Vielmehr stellt sich für eine Entscheidung über die Verständlichkeit von Äußerungen und Texten überhaupt immer erst einmal das Problem der Korrektheit. Darauf weist die Grundintuition hin, dass wir keineswegs so reden können, wie „uns der Schnabel gewachsen“ ist, wenn wir uns verständlich machen und als verständig gelten wollen. Maßstäbe der Korrektheit sind zwar unabdingbar dafür, dass Ausdrücke überhaupt eine bestimmte und das heißt eine unterscheidbare Bedeutung haben können und ihr Gebrauch entsprechend Sinn macht. Maßstäbe der Korrektheit aber sind der Praxis des Sprachgebrauchs nicht vorgegeben. Die Korrektheit – und damit auch kommunikative Legitimität von Sprachverwendungen und Verständnisweisen – kann nicht dadurch begründet werden, dass ein Ausdruck eine bestimmte Bedeutung hat. Vielmehr ist es umgekehrt entscheidend für die Frage der Korrektheit, mit welcher Bedeutung ein Ausdruck verwendet wird. Die Entscheidung darüber wiederum kann nicht eine durch die Bedeutung der darin verwendeten Ausdrücke sein. Sie ist immer eine Entscheidung über die relative Legitimität einer Bedeutung. Die Hoffnung der Juristen darauf, dass ihnen das Wörterbuch mit seinen Bedeutungsbeschreibungen die Arbeit abnehmen könnte, trügt zwangsläufig. Eine durch die Sprache in Gestalt der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke vorgegebene Grenze finden sie nicht. Sie finden allenfalls Hinweise auf immer weitere Varianten des Sprachgebrauchs und Belege für dessen Vielfalt und Reichtum. Sie finden also eher das Gegenteil genau jener, die eine Bedeutung als die einzig mögliche Wortverwendung auszeichnende Grenze, auf die es den Juristen im Dienste einer Untermauerung ihrer Rechtsmeinung ankommt. Bedeutungsbeschreibungen liefern selbst nichts anderes als Gebrauchsbeispiele für den fraglichen Ausdruck. Durch ihre lexikographische Festschreibung zum Wortbestand der Sprache mögen sie zwar paradigmatisch bei Zweifeln an 22
Glüer, K., ebd., S. 28.
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der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke oder im Streit darum eingesetzt werden. Eine eindeutig feststellbare Regel aber, die solche Zweifel ein für allemal ausräumen oder solchen Streit unwiderruflich schlichten könnte, liefern die Bedeutungsbeschreibungen nicht. Von daher mag es zwar gut und nützlich sein, wenn Juristen bei Zweifeln über den Sprachgebrauch wenigstens in Wörterbüchern nachschlagen, anstatt schlicht nur den eigenen Sprachgebrauch zu bemühen. Aber das Wörterbuch liefert nicht die Legitimation ihrer Entscheidung. Die begrenzte Leistung des Wörterbuchs wird aber bei der Übersetzung viel schneller sichtbar. Es liefert Nuancierungen und Plausibilitäten, aber es ermöglicht nicht der „wirklichen“ Bedeutung fremdsprachlicher Wörter und Sätze habhaft zu werden. Wenn man das Wörterbuch als Werkzeug zur technischen Aneignung einer fremden Sprache verwenden will, ist es überfordert. Gerade in der Übersetzungswissenschaft wird immer wieder gewarnt: „Die Übertragung einer fremden Sprache vollzieht sich nicht als Aneignung eines unbekannten Textes, sondern als Hineinversetzen in den anderen Bedeutungshorizont.“23 Wenn der Übersetzer sich mit seiner Rolle als Bote nicht abfinden will, stellt sich die Frage, ob man das Moment von Interpretation technisch ausschalten kann. Das war die Hoffnung, die man in die Künstliche Intelligenz investiert hat.24 Die Maschine sollte nicht nur den menschlichen Übersetzer überflüssig machen, sondern auch dem Verstehen der Sprache einen festen Grund verschaffen. Ihre Ergebnisse mögen jetzt noch lächerlich erscheinen,25 aber es liegt in der Konsequenz ihrer Entwicklung, die unzureichende Verstehenstechnik der Hermeneutik endlich in einen Algorithmus zu überführen, der eine objektive Kontrolle des Sprachverstehens möglich macht. Tatsächlich liegen die Probleme aber nicht an den begrenzten Fähigkeiten der jetzt verfügbaren Computer, die es noch nicht erlauben, die große Komplexität natürlicher Sprachen zu erfassen.26 In den Grenzen der Übersetzungsmaschinen zeigt sich vielmehr ein prinzipielles Problem. Der Computer verlangt nach Daten, welche diskret, explizit und genau definiert sind. Sprachliches Verstehen dagegen erfolgt durch implizites Kontextwissen. Die Semantik27 bräuchte damit
23 Heidbrink, L., Das Eigene im Fremden: Martin Heideggers Begriff der Übersetzung, in: Hirsch, A. (Hrsg.), a. a. O., S. 349 ff., 355. 24 Vgl. Winkler, H., Docuverse. Zur Medientheorie der Computer, München 1997, S. 48 ff., 243 ff. 25 Vgl. dazu das wunderschöne Beispiel der Übersetzung eines deutschen Methodentextes über Wortlautinterpretation durch eine Übersetzungsmaschine ins Englische bei Somek, A./Forgó, N., Nachpositivistisches Rechtsdenken, Wien 1996, S. 111. 26 Dazu und zum Folgenden Abel, G., Übersetzung als Interpretation, in: ders. (Hrsg.), Das Problem der Übersetzung, Baden-Baden 1999, S. 10 ff. 27 Dazu schreibt Florian Rötzer: „(. . .) dass in den Computersimulationen der künstlichen Intelligenz eben die Semantik am meisten Schwierigkeiten macht.“ Rötzer, F., Mediales und Digitales. Zerstreute Bemerkungen und Hinweise eines irritierten infor-
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für die Deduktion der Bedeutung einen letzten Kontext als Totalität des Wissens. Ein Sprecher hat diese Einheit seines Wissens als vagen und defizitären Horizont. Die Maschine dagegen ist auf vollständige Explikation angewiesen. Diese Schwierigkeiten haben in der KI-Forschung zu einem Paradigmenwechsel28 geführt, von der Gehirnmetapher über die Sprachmetapher zum Problem des Lernens. Diese Entwicklung der KI-Forschung zeigt, dass Expertenwissen nicht ohne Verlust in Regeln darzustellen ist. Heute ist eher der Talmud und das fallbezogene Räsonieren von Gerichten Vorbild der künstlichen Intelligenz. Gesucht sind Modelle für fallorientiertes Schließen aus Episoden.29 Auch in den nicht mehr streng sequenziell arbeitenden Parallelprozessoren führt die Entwicklungsrichtung gerade nicht zur Einlösung des Traums von der Maschine als idealem Sprecher. Denn mit dem Aufbau so genannter neuronaler Netze werden die Maschinen zu black boxes, die weniger programmiert als eher trainiert werden müssen.30 Die Übersetzungsmaschinen werden noch sehr viel besser werden. Aber die Utopie der transparenten Sprache werden sie aus prinzipiellen Gründen niemals einlösen: „Dies setzt die Annahme voraus, dass das Sprechen und Verstehen einer Sprache sowie das Übersetzen (aus der fremden in die eigene Sprache und umgekehrt) Vorgänge sind, die als das Beherrschen eines Kalküls bzw. Algorithmus angesehen werden können. Zu Grunde liegt mithin die Vorstellung, dass es darum gehe, diejenige Grundregel und dasjenige Herstellungsverfahren zu finden, nach denen aus einer gegebenen Menge von Buchstaben eines Alphabets bzw. Grundfiguren nach bestimmten Vorschriften bzw. Grundregeln die jeweilige Sprachfigur hervorgebracht werde. Genau hier aber tritt ein doppeltes und grundsätzliches Missverständnis zu Tage: (a) es ist, wie vor allem Wittgenstein gezeigt hat, irrig anzunehmen, der tatsächliche Sprachgebrauch, d.h. das tatsächliche Sprechen und Verstehen einer Sprache, werde durch vorab feststehende Regeln determiniert; (b) Ausdrücke einer natürlichen Sprache verwenden, verstehen und übersetzen zu können, bedeutet gerade nicht, dass man einen ,Kalkül betreibt nach bestimmten Regeln‘. Entsprechend lassen sich auch keine Algorithmen des Sprechens, des Verstehens und der Übersetzung angeben.“31 mationsverarbeitenden Systems, in: ders. (Hrsg.), Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien, Frankfurt am Main 1991, S. 52. 28 Vgl. dazu Dreyfus, H. L., Was Computer nicht können. Die Grenzen künstlicher Intelligenz, Frankfurt am Main 1989, der die Geschichte der KI in die Phasen der kognitiven Simulation (1957–1962) und der semantischen Informationsverarbeitung 1962–1967 einteilt. Zu dem heutigen Paradigmenwechsel im Hinblick auf Orientierung an Problemen des Lernens vgl. Minsky, N.: Mentopolis, Stuttgart 1990, S. 196 ff., 216 ff. 29 Vgl. dazu Strube, G./Janetzko, D.: Episodisches Wissen und fallbasiertes Schließen. Aufgaben für die Wissensdiagnostik und die Wissenpsychologie, in: Faßler, N./ Halbach, W. (Hrsg.), Inszenierung von Information, Gießen 1992, S. 103 ff. 30 Winkler, H., Docuverse. Zur Medientheorie der Computer, München 1997, S. 255.
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Das Problem der Übersetzung macht damit nur offensichtlich, was schon in der Einzelsprache gilt: Die Sprache lässt sich nicht begreifen nach der Architektur der Großrechner, wo es eine Zentraleinheit gab, in der die Regeln gespeichert waren, und Terminals, wo diese Regeln lediglich angewendet wurden. Vor allem die Sprachgeschichte hat gezeigt, dass die Ordnung der Sprache nach dem Muster des Marktes als „invisible-hand-Phänomen“ entsteht.32 Sie gleicht eher einem Netz, dessen Architektur vom einzelnen Nutzer – mehr oder weniger relevant – mitgestaltet wird. Daraus folgt aber auch, dass Interpretation und Wiedergabe untrennbar kontaminiert sind: „Dementsprechend sind weder Artikulation noch Verständnis nur reproduktiv; sie sind vielmehr auch unkontrollierbar schöpferisch, und jede individuelle Sinnzuweisung verschiebt die geltenden Grenzen der semantischen Normalität.“33 Der Rekurs auf eine in Bedeutungsbeschreibungen bzw. -erklärungen festgeschriebene und damit dem Sprachgebrauch buchstäblich „vorgeschriebene“ Bedeutung kann nicht als Vorgabe für die Entscheidung über Sinn und Unsinn und damit über die Möglichkeiten und Grenzen einer Verwendung sprachlicher Ausdrücke einspringen. Das ist im Übrigen der Grund dafür, dass Wörterbuch, Lexikon, sowie alle sonstigen anerkannten und selbsternannten Autoritäten in Sachen Sprache mit ihren Bedeutungserklärungen und -definitionen immer wieder nur Beispiele über Beispiele für den Sprachgebrauch in bestimmten Kontexten geben können. Sie liefern „keine gemeinsame Grammatik, keine gemeinschaftlichen Regeln, keine tragbare Interpretationsmaschine, die so eingestellt ist, dass sie die Bedeutungen beliebiger Äußerungen ausspuckt.“34 IV. Der Umgang des EuGH mit Mehrsprachigkeit Tatsächlich übernimmt der EuGH mit der „Gemeinsame-Nenner-Regel“ gerade nicht die Theorie der Propositionen. Danach müsste er ja nach einem gemeinsamen Minimalgehalt suchen. Das macht das Gericht nicht. Das Gemeinsame-Nenner-Verfahren hilft bei einer echten Bedeutungskonfrontation nicht weiter. Wenn der EuGH echte Bedeutungsdivergenz festgestellt 31 Abel, G., Übersetzung als Interpretation, in: ders. (Hrsg.), Das Problem der Übersetzung, Baden-Baden 1999, S. 10 f. unter Bezug auf Wittgenstein, PU I Nr. 65 bis 108. 32 Vgl. dazu das grundlegende Werk von Keller, R., Sprachwandel, 2. Aufl., Tübingen, Basel 1994, vor allem S. 87 ff. 33 Gloy, K., Sprachnormen als ,Institutionen im Reich der Gedanken‘ und die Rolle des Individuums in Sprachnormierungsprozessen, in: Mattheier, K. J. (Hrsg.), Norm und Variation, Frankfurt/M./Berlin/Bern/New York/Paris/Wien 1997, S. 27 ff., 30. 34 Davidson, D., Eine hübsche Unordnung von Epitaphen, in: Picardi, E./Schulte, J. (Hrsg.), Die Wahrheit der Interpretation. Beiträge zur Philosophie Donald Davidsons, Frankfurt/M. 1990, S. 203 ff., 226.
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hat, dann schlägt er einen anderen Weg ein. Er trifft die Entscheidung mit Hilfe weiterer Konkretisierungselemente. Dabei kommt es nicht darauf an, ob diese Bedeutungsvariante auch in den anderssprachigen Wortlauten möglich ist. Der EuGH verwendet die Ergebnisse anderer Konkretisierungselemente, um eine gemeinschaftsbezogene Bedeutung festzusetzen. Häufig ist dies die systematische Konkretisierung.35 Meistens ist es aber neben der Systematik noch eine objektiv teleologische Argumentform, die die Entscheidung trägt.36 Daneben gibt es aber auch Urteile, wo subjektiv teleologische Argumente, als Ableitungen des Gesetzeszwecks aus den Materialien, bei der Festsetzung einer gemeinschaftsbezogenen Bedeutung eine Rolle spielen.37 Die methodischen Anforderungen, den Wortlaut der verschiedensprachigen Fassungen gleichermaßen verbindlich zu behandeln, haben beim EuGH zu einem dreistufigen Verfahren geführt. Dabei werden die verschiedenen Sprachen mit ihrer Bedeutungsvielfalt zunächst einmal dargestellt. Dann werden in einem zweiten Schritt die Bedeutungsdivergenzen klar herausgehoben. In einem dritten Schritt wird dann schließlich eine Entscheidung zwischen den divergierenden Bedeutungen getroffen. Diese Entscheidung wird aber im Gemeinschaftsrecht weder über Genauigkeit,38 Mehrheitsprinzip39 oder gemeinsames Minimum erreicht. Denn jede Entscheidung von der Sprache her wäre nur dadurch möglich, dass man den die Entscheidung tragenden Gesichtspunkt wie Genauigkeit usw. zunächst in die Sprache hineinprojiziert. Aber außer Verständlichkeit entscheidet die Sprache nichts. Sie liefert vor allem keine Rangfolge zwischen verschiedenen Verständnisweisen. Die Sprache kann also keinen Bedeutungskonflikt entscheiden. Und wegen der von Art. 314 EG statuierten Gleichwertigkeit aller Sprachen darf sie das auch nicht. Wenn aber nicht durch die Sprache entschie-
35 Vgl. dazu beispielsweise EuGH Rs. 173/88 (Skatteministeriet/Hendriksen), Slg. 1989, S. 2763, 2780. 36 Vgl. dazu EuGH Rs. C-100/90 (Kommission/Dänemark), Slg. 1992, S. 5089, 5105; EuGH Rs. C-29/91 (Redemond Stichting/Hendikus Bartol u. a.), Slg. 1992, S. 389, 3217; Rs. 135/85, (Abels/Bedrijfsvereniging), Slg. 1985, S. 469, 483; Rs. 291/ 87 (Huber/Hauptzollamt Frankfurt), Slg. 1988, S. 6449, 6466; Rs. C-158/90 (Nijs), Slg. 1991, S. 6035, 6045; Rs. C-338/90 (Hamlin Electronics), Slg. 1992, S. 2333, 2350; Rs. 107/84 (Kommission/Bundesrepublik Deutschland), Slg. 1985, S. 2655, 2666. 37 EuGH Rs. 29/69 (Stauder), Slg. 1969, S. 419, 425; EuGH Rs. 6/60 (Humblet), Slg. 1960, S. 1163, 1194. 38 Die Einheitlichkeit der Auslegung kann sogar dazu führen, strengere Anforderungen an die Bestimmtheit zugunsten einer einheitlichen Auslegung zurückzustellen. Vgl. dazu EuGH – Vecht/Soc. Verzekeringsbank, 19/67 – Slg. 1967, S. 461 ff., 473; EuGH – Mij./Hoofdproduktschap, 61/72 – Slg. 1973, S. 301 ff.; EuGH – Molijn/ Kommission, 6/74 – Slg. 1974, S. 1287 ff.; EuGH – Bouchereau, 30/77 – Slg. 1977, S. 1999 ff., 2010. 39 Vgl. dazu wieder den Begriff „öffentliche Ordnung und Sicherheit“, in: EuGH – Bouchereau, 30/77 – Slg. 1977, S. 1999 ff., 2010.
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den wird, dann kann eben nur in der Sprache entschieden werden, und zwar mit Hilfe spezieller juristischer Argumentationsfiguren. Erst diese erlauben es dann, Lesarten zu verknappen und Bedeutungsdivergenzen zu entscheiden. Bei Anwendung eines solchen Verfahrens kann sich der EuGH nicht mehr hinter einer verdinglichten Bedeutungsvariante einer bestimmten Sprachfassung verstecken. Er hat insbesondere die Bedeutungsvarianten anzuerkennen, die sich aus den verschiedensprachigen Texten ergeben. Mit der offenen Festsetzung einer Gemeinschaftsbedeutung entsteht auch die Notwendigkeit, diese zu rechtfertigen. Die Rechtfertigung erfolgt dadurch, dass die ausgewählte Bedeutungsvariante durch die anderen Auslegungselemente begründet wird. Damit wird die Entscheidung nachvollziehbar und überprüfbar. Die Entscheidung mittels spezieller juristischer Argumente ist die Möglichkeit, die Art. 314 EG für die Gerichte offen lässt. Dies ist auch genau der Weg, den der EuGH geht, wenn er Bedeutungsdivergenzen herausarbeitet und diese im Hinblick auf den allgemeinen Aufbau und den Zweck der Regelung entscheidet.40 Smit formuliert dies folgendermaßen: „In interpreting the treaty, the court has generally been concerned with its broad purposes, rather than narrow wording.“41 Bedeutungsdivergenzen werden damit nicht sprachlich, sondern mit Hilfe juristischer Argumente entschieden. Das Ergebnis dieser juristischen Arbeit in der Sprache ist die Festsetzung einer Bedeutung im Hinblick auf die Einheitlichkeit der Gemeinschaft. V. Wie relevant ist Übersetzung für juristische Entscheidung? Die Literatur hält den Übersetzer zum Teil für irrelevant. Wenn der EuGH unter Ablösung vom nationalsprachlichen Text die gemeinschaftsbezogene Bedeutung einfach festsetze, verliere der nationalsprachliche Wortlaut seine Bedeutung ganz.42
40 Vgl. dazu etwa EuGH – Röser, 238/84 – Slg. 1986, S. 795 ff. Vgl. zu dieser Problematik auch Riese, O., Das Sprachenproblem in der Praxis des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, in: Festschrift für Hans Dölle, Band III, Tübingen 1963, S. 517 ff.; Dickschat, S. A., Problèmes d’interprétation des traités européen résultant de leur plurilinguisme, in: Revue belge de droit international 1968, S. 49 ff.; Stevens, C., The principel of linguistic Equality in judicial proceedings and in the interpretation of plurilingual legal instruments: The régime linguistique in the Court of Justice of the European Communities, North Western University Law Review 62 (1967), S. 701 ff., 724 ff. 41 Smit, H./Herzog, P., The law of the European Communities, New York 1993, 248.05. Die Bedeutung des teleologischen Arguments für die Überwindung sprachlicher Differenzen betont auch Dumon, F., The Case-law of the Court of Justice – A critical examination of the methods of interpretation in Court of Justice of the European Communities Judicial and Academic Conference, 27.–28. Sept. 1976, part. III, Luxemburg 1976.
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Dies wird unter Bezug auf Generalanwalt Langrange43 von der Literatur so formuliert: „(. . .) the rule that all treaty versions were equally authentic really implies that none was.“44 Diese Sicht einer Entwertung der Sprachen und eines Bedeutungsverlustes der grammatischen Auslegung45 kommt auch in der Benennung als autonome Bedeutung zum Ausdruck. Autonom heißt hier unabhängig von der nationalen Bedeutung des Gesetzestextes. Der Begriff der Autonomie in seiner gemeinschaftsrechtlichen Bedeutung überzeugt aber nicht. Die Bedeutung des Gemeinschaftsbegriffs entsteht nämlich nicht aus dem Nichts; ihm geht vielmehr die sprachliche Analyse sämtlicher Wortlaute voraus. Sie geben die rechtsstaatlichen Plausibilitätsräume vor. Das heißt zwar nicht, dass eine bestimmte nationale Bedeutung inhaltlich berücksichtigt werden müsse. Aber sie ist in die Argumentation einzubeziehen. Wenn aber autonom bedeuten soll: vollkommen unabhängig von den Nationalsprachen, dann ist diese Bezeichnung falsch. Die Gleichwertigkeit bedeutet, dass nicht eine Sprache allein den Ausschlag geben kann. Eine Einzelsprache kann im Hinblick auf Art. 314 EG niemals Determinationsinstanz für die Fixierung der Bedeutung werden. Aber sie bleibt trotzdem von höchster Wichtigkeit als Überprüfungsinstanz. Im Spielraum des Vertretbaren, der sich aus den Bedeutungsunterschieden der einzelnen Sprachen ergibt, kann die vom EuGH mit Hilfe von Zweck und Systematik festgesetzte Lesart immer noch scheitern. Weil also die Wichtigkeit der grammatischen Auslegung nicht abnimmt, sondern im Gegenteil zunimmt, sollte man nicht von einer autonomen, sondern von einer gemeinschaftsbezogenen Bedeutung sprechen. Diese Bedeutung ist weder autonom in dem Sinn, dass sie einer eigenen abgetrennten Sprache angehört, noch ist sie autonom in jenem Sinn, dass sie rein juristisch begründet wäre und unabhängig von der Sprache. Sie ist aber gemeinschaftsbezogen, weil zwischen die Sprache als Entdeckungszusammenhang für Bedeutungsdivergenzen und die Sprache als Überprüfungsinstanz für Bedeutungsfixierungen die Zwecke der Vergemeinschaftung treten und die fragliche Lesart vorläufig festlegen. 42 Vgl. dazu Weber, A., in: Groeben, H. v. d., Thiesing, J./Ehlermann, C.-D., Kommentar zum EU-, EG-Vertrag, Bd. 4: Art. 189–248, 5. Aufl. Baden-Baden 1997, Art. 248 Rn. 14 sowie Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1. Aufl., Frankfurt am Main/Berlin/Bern/New York/Paris/Wien 1997, S. 165; ebenso Buck, C., Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, Frankfurt/M. u. a. 1998, S. 168 ff., der der grammatischen Konkretisierung zwar quantitativ einen großen Stellenwert zuschreibt, aber qualitativ ihre Bedeutung als sehr gering einschätzt. Er kann sich dabei auf weitere Stimmen in der Literatur stützen, vgl. dort S. 169 m. w. Nw.en. 43 Vgl. EuGH – De Geus v. Bosch 13/61, 6. April 1962 – Slg. 1962, S. 540 ff. 44 Smit, H./Herzog, P., The law of the European Communities, New York 1993, 248.05. 45 Vgl. dazu Bredimas, A., Methods of interpretation and Community law, European studies in Law, Amsterdam u. a. 1978, S. 47 f.
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Man kann nicht behaupten, dass die Wortlaute der Nationalsprachen damit jegliche Funktion für die Auslegung verlieren. Tatsächlich hat der EuGH aber immer hervorgehoben, dass die nationalsprachlichen Wortlaute Plausibilitätsraum seiner Auslegung bleiben. Zwar geht er meistens von Sinn und Zweck einer Regelung aus, fragt dann aber immer in zweiter Linie, ob das gefundene Auslegungsergebnis noch mit dem Wortlaut in den verschiedenen Fassungen vereinbar ist. Auch hebt der EuGH hervor, dass keinem der nationalen Texte dabei Gewalt angetan werden darf.46 Die Einschätzung einer fehlenden oder qualitativ geringwertigen Bedeutung der Nationalsprachen ist abzulehnen. Sie fußt auf einer Gleichsetzung der Semantik mit grammatischer Auslegung und wird in folgendem Argument deutlich: „Da der EuGH die gemeinschaftsrechtliche Wortbedeutung durch Rückgriff auf andere Auslegungsmethoden ermittelt, befindet man sich (. . .) bei der Angleichung der sprachlichen Fassungen rasch jenseits einer rein textuellen Auslegung und wendet systematische und teleologische Aspekte an.“47 In diesem Argument wird wieder deutlich, dass die grammatische Konkretisierung hier als eigentlich semantische Auslegung fungieren soll. Die traditionelle juristische Theorie setzt einen einfachen und problemlosen Weg von der Ausdruckseite des Zeichens zu seiner Bedeutungsseite voraus. Zwischen Signifikant und Signifikat gibt es demnach keine Sperre. Tatsächlich setzt aber eine Auslegung nicht an die Stelle des Signifikanten das reine Signifikat, sondern immer eine Signifikantenkette an die Stelle einer anderen. Auslegung ist ein komplexer Vorgang, der niemals auf das bloße Besinnen auf die eigene Sprachkompetenz reduziert werden kann. Deswegen kann nicht angenommen werden, dass die eigentliche textuelle Auslegung mit der grammatischen Konkretisierung zusammenfällt. Vielmehr sind alle Konkretisierungselemente, die auf das Normprogramm bezogen sind, semantisch und befinden sich auf der textuellen Ebene. Aber selbst die grammatische Auslegung wird von der Literatur vollkommen falsch eingeschätzt. Meistens wird gesagt, dass der Gerichtshof mit Ausführung über den Wortlaut lediglich beginnen, diesen Einstieg jedoch schnell hinter sich lasse. Sein Ergebnis finde er dann mit Hilfe anderer Methoden.48 Eine empirische Analyse der EuGH-Rechtsprechung49 zeigt jedoch, dass diese Einschätzung nicht zutrifft. Der EuGH verwendet das Wortlautargument nicht nur sehr häufig, sondern vor allem verwendet er es nicht als bloßen Einstieg. Der Wort46
EuGH Rs. 93/85 (Kommision/Großbritanien), Slg. 1986, S. 4011, 4022. Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1. Aufl., Frankfurt am Main/Berlin/Bern/New York/Paris/Wien 1997, S. 169 unter Bezug auf Oppermann, Rn. 580. 48 Buck, C., Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, Frankfurt/M. u. a. 1998, S. 176. 49 Vgl. dazu die grundlegende Untersuchung von Dederichs, M., Empirische Untersuchung der Argumente in EuGH-Begründungen, Baden-Baden 2004. 47
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laut steht vielmehr als Argumentationsziel am Ende nach Ausschöpfung aller anderen Canones. Die Unterschätzung des Wortlautarguments in der Literatur erklärt sich aus der einfachen Sprachtheorie, welche hinter der Komplexität der gerichtlichen Praxis weit zurückbleibt. Hier wird der Wortlaut ausgeschaltet, indem man zuviel von ihm verlangt. Die semantische Interpretation soll zu einer Bedeutung führen, und diese Bedeutung soll nicht nur verständlich, sondern auch noch richtig sein. Der Wortlaut kann diese Forderung natürlich nicht erfüllen. Er liefert verständliche Bedeutung als Lesart des Normtextes, aber nicht die eine richtige Bedeutung, sondern eine Vielzahl konfligierender Bedeutungen. Daraus kann man aber nicht folgern, dass er als bloßer Einstieg irrelevant ist. Wenn man den Wortlaut vor die Alternative „richtige Bedeutung oder Leben“ stellt, dann verliert er im Ernstfall der Argumentation immer sein Leben. Tatsächlich ist er aber als Lieferant von Lesarten und vor allem als Ziel juristischer Argumentation unverzichtbar. Der Übersetzer kann also den Juristen vor seinem Auslegungsproblem nicht retten. Das heißt aber nicht, dass man auf ihn verzichten kann. Er ist vielmehr unerlässlich als Lieferant von Überprüfungsinstanzen für die Festsetzung der gemeinschaftsbezogenen Bedeutung. Im Gemeinschaftsrecht wird unübersehbar, was in nationalen Rechtsordnungen durch Einschüchterungssemantik und entsprechendes Verhalten noch versteckt werden kann: im Recht wird mehr als eine Sprache gesprochen. Ohne eine fraglos gemeinsame Sprache stellt sich für die Kommunikation das Problem der Übersetzung.50 Es stellt sich aber nicht erst im Gemeinschaftsrecht, sondern es stellt sich genau genommen bereits in der Einzelsprache.51 Schon diese Einzelsprache ist inhomogen und existiert nur in einer Vielzahl von Soziolekten und Ideolekten. Auch für das Wort Sprache gilt die nominalistische Einsicht, dass sie nur in einer Vielzahl von spezifischen Ausprägungen existiert. 50 Es gibt eine Vielzahl von wissenschaftlichen Arbeiten zum Problem der Übersetzung in der Literatur, der Wirtschaft und sogar der Religion. Nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ findet der Interessierte schnell eine ausbaufähige Grundlage. Gerade im Bereich des Rechts mit seiner großen gesellschaftlichen und politischen Relevanz fehlt dagegen eine solche Basis leider fast völlig. (Vgl. dazu Frosini, V., Gesetzgebung und Auslegung, Baden-Baden 1995, S. 130.) Jetzt aber zu dieser Thematik: Ars Interpretandi, Heft 5, 2000 mit dem Thema „Übersetzung im Recht“. Weder die Übersetzungswissenschaft (vgl. dazu Wilss, W., Übersetzungswissenschaft. Probleme und Methoden, Berlin/New York 1977 oder Mounin, G., Die Übersetzung. Geschichte, Theorie, Anwendung, Berlin 1968, der dem Rechtsproblem immerhin eine Seite widmet, sowie Megale, F., Il traduddore di libri nel diritto d’autore italiano, in: Diritto e societá 1992 Nr. 3, S. 521 ff.) noch die Rechtstheorie (mit der rühmlichen Ausnahme von Frosini, V., Gesetzgebung und Auslegung, Baden-Baden 1995, S. 128 ff.) haben dieses Problem bisher angemessen aufgenommen. 51 So auch Quines berühmtes Diktum. Dazu Quine, W. V., Unterwegs zur Wahrheit, Paderborn 1995, S. 68 f. Zur Ausarbeitung dieses Gedankens Davidson, D., Radikale Interpretation, in: ders., Wahrheit und Interpretation, Frankfurt/M. 1986, S. 183 ff.
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Sich zwischen dieser Vielzahl von Sprachen zu bewegen, ist besonders wichtig für Juristen, denn sie entscheiden über Sprachkonflikte. Schon der Sachverhalt, der zu Grunde gelegt werden soll, wird in verschiedenen Varianten erzählt, und auch die Sichtweisen des Rechts existieren in verschiedenen Sprachen. Trotzdem muss der Richter entscheiden. Darin liegen Chance und Risiko. Das Risiko realisiert sich, wenn der Richter eine Sprachvariante zur einzig verbindlichen erklärt und dafür die Autorität der Sprache in Anspruch nimmt. Die vom Richter ausgeübte Gewalt und seine Verantwortung verschwinden dann hinter der Sprache als Legitimationsinstanz. Die Chance sprachlicher Vielfalt im Gemeinschaftsrecht liegt nun darin, dass die sprachnormierende Tätigkeit des Richters deutlich sichtbar wird und damit auch die Begründungslasten seines Tuns. Damit wird Mehrsprachigkeit zur Chance. Vor allem, wenn man im Sinn des von Davidson herausgearbeiteten Gedankens der Triangulation berücksichtigt, dass die Verschiedenheit der Sprachtexte trotzdem auf gemeinsame Rechtsprobleme bezogen bleibt. Für deren Bearbeitung ist die Mehrsprachigkeit durchaus von Vorteil, indem sie verschiedene Strategien enger miteinander vernetzt. Im Kontext der Übersetzungsprobleme im Recht sagt Davidson selbst dazu Folgendes: „I stressed at first how the holism of the propositional mental means that thoughts are located only within a network of other thoughts. But as thought develops, the interdependencies speed progress rather then hinder it, for many of the relations are basically rational, and so as rational creatures ourselves, we are able to project from a part of what we understand about other people much of the rest.“52 Die Vervielfältigung der Sprachen kann nur dann als Gefährdung juristischer Rationalität angesehen werden, wenn man die traditionelle normative Sprachauffassung der Juristen übernimmt. Die Auffassung nämlich, dass die juristische Entscheidung im tiefen Brunnen sprachlicher Bedeutung schon vorgeformt ist und nur mit dem Eimer grammatischer Auslegung noch ausgeschöpft werden muss. Die Aufgabe der Linguistik läge aber gerade darin, diese spontane Sprachideologie der Juristen, ihre juristengerechte Bereichslinguistik, in Frage zu stellen. Sobald man damit beginnt, erscheint Mehrsprachigkeit als große Chance für die Rationalität des Rechts. Diese wird durch offene Mehrsprachigkeit nicht gefährdet, sondern geradezu ermöglicht. Die Entscheidungskomponente juristischer Arbeit in der Sprache wird damit erst sichtbar und kritisierbar. Rationalität ist kein Nachvollzug von Entscheidungen, die in der Sprache vorgegeben sind. Rationalität heißt vielmehr, juristische Entscheidungen am Maßstab des Gesetzes mit Hilfe der Instrumente juristischer Methodik zu überprüfen. Zu diesen Instrumenten gehört auch die grammatische Auslegung, die den juristischen Bedeutungshypothesen einen Plausibilitätsraum in der Sprache erschließt. Durch 52 Davidson, D., Perils and Pleasures of Interpretation, in: Ars Interpretandi 2000, S. 21 ff., 37.
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die Mehrsprachigkeit wird diese Plausibilitätskontrolle nur vergrößert, und gleichzeitig werden die sprachlichen Anschlusszwänge vermehrt. Die Sprache ist als Garantieinstanz juristischer Rationalität überfordert, aber als Kontrollinstanz unverzichtbar. Darüber hinaus bleibt es Aufgabe der Gerichte, der wissenschaftlichen bzw. öffentlichen Kritik und einer demokratischen Politik, diese Rationalität hervorzubringen und aufrechtzuerhalten. VI. Wortlautgrenze oder das Recht auf Respektierung der Sprache In der Literatur53wird dem EuGH vorgeworfen, dass er die Wortlautgrenze nicht durchgängig anerkenne, sondern häufig überspiele. Dabei wird eine bestimmte Konzeption von „Wortlautgrenze“ vorausgesetzt. Die europarechtliche Literatur versteht Auslegen als Erkennen des normativen Sinnes oder Gehalts von geschriebenen Rechtsvorschriften.54 Gegenstand der Auslegung ist gemäß diesem Konzept nicht einfach die Ausdrucksseite oder der Text als Zeichenkette, sondern von vornherein die Inhaltsseite als objektive Bedeutung des Textes. Die Wortlautgrenze liegt in der objektiv vorgegebenen Bedeutung. Im Mittelpunkt der herkömmlichen Lehre steht der semantisch gewendete „Mythos des Gegebenen“55. Ganz so, als hätte Quine ihm nicht bereits vor einem halben Jahrhundert den Todesstoß versetzt56, huldigen juristische Theoretiker der Idee, „dass es eine Bedeutung sprachlicher Ausdrücke gibt, die diese für sich haben“. „Von diesem Gegebenen wird schlicht ausgegangen.“57 Wie jeder Mythos aber, so lebt auch dieser vom Glauben wider allen praktischen Verstand. Schon die bescheidene Nachfrage, warum denn dann überhaupt ein mehr
53 Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1. Aufl., Frankfurt am Main/Berlin/Bern/New York/Paris/Wien 1997, S. 406. 54 Vgl. Constantinesco, L.-J., Das Recht der Europäischen Gemeinschaften, Band 1: Das institutionelle Recht, Baden-Baden 1977, S. 808, sowie Bernhardt, R., Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge; insbesondere in der neueren Rechtsprechung internationaler Gerichte, Köln, Berlin 1963, S. 17; Blank, J., Europäische Fusionskontrolle im Rahmen der Art. 85, 86 des EWG-Vertrages, Baden-Baden 1991, S. 89. 55 Dazu grundlegend Sellars, W., Der Empirismus und die Philosophie des Geistes, Paderborn 1999 (urspr. 1956). Des Näheren hier Bertram, G. W., Prolegomena zu einer Rekonstruktion der linguistisch-epistemischen Wende – Von Quine und Sellars zu Husserl und Derrida, in: Journal Phänomenologie 13, 2000, S. 4 ff., 5 ff. 56 Siehe Quine, W. v. O., Zwei Dogmen des Empirismus, in: ders., Von einem logischen Standpunkt. Frankfurt/M./Berlin/Wien 1979, S. 27 ff., v. a. 27 ff. 57 Bertram, G. W., Prolegomena zu einer Rekonstruktion der linguistisch-epistemischen Wende – von Quine und Sellars zu Husserl und Derrida, in: Journal Phänomenologie, 13, 2000, S. 4 ff., 7.
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oder weniger aufwändiges Verfahren nötig ist, um aus dem Gesetz auf das Recht im Einzelfall zu erkennen, stört ihn in seiner Selbstverständlichkeit. Als Retter aus der Not bietet die neue Rechtstheorie die Gebrauchstheorie der Bedeutung an.58 Aus den Regeln des Gebrauchs soll sich ergeben, welche Art Verwendung sprachliche Ausdrücke zulassen. „Die Anknüpfung der grammatischen Auslegung an den allgemeinen Sprachgebrauch, d.h. an die Umgangssprache, liegt insofern am nächsten, weil angenommen werden kann, dass derjenige, der etwas sagen will, die Worte mit dem Sinn gebraucht, in dem sie gemeinhin verstanden werden.“59 Die Gebrauchsregeln bestimmen damit deren Bedeutung und weisen so zugleich umgekehrt ihrer Äußerung die Grenzen anerkannt möglicher Rede. Kurzum, Regeln „legen fest, unter welchen Umständen“ ein Ausdruck „sinnvoller, bzw. korrekterweise verwendet werden kann.“60 Zwar bleibt es jedem unbenommen, so zu reden, wie ihm der Schnabel gewachsen ist; um den Preis allerdings, nicht ernstgenommen zu werden oder sich gar mit dem, was man zu sagen hat, nicht mehr verständlich machen zu können. In diesem von der Absicht auf Verständigung ausgehenden Druck wechselseitiger Konformität liegt, Kripkes kommunitaristisch gewendeten Wittgenstein zufolge, die ganze Normativität von Sprache.61 Und so verdankt ihm, wie Kathrin Glüer resümiert, die Sprachphilosophie „einen neuen Slogan: ,Bedeutung ist normativ‘.“62 Mit der Regel im Rücken soll sich der Richter an das kritische Geschäft machen können, darüber zu befinden, inwiefern Äußerungen der Verfahrensbeteiligten im Rahmen einer möglichen Verwendungsweise des Gesetzes als Ausdruck von Recht liegen. Und sie soll ihn so in die Lage versetzen, sprachlich die Spreu vom Weizen zu trennen, um dementsprechend sein Urteil zu fällen.
58 Siehe Herbert, M., Rechtstheorie als Sprachkritik. Zum Einfluss Wittgensteins auf die Rechtstheorie, Baden-Baden 1995, v. a. S. 78 ff. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht Busse, D., Der Regel-Charakter von Wortbedeutungen und Rechtsnormen. Ein Grundproblem von Gesetzesbindung und Auslegungsmethodik in linguistischer Sicht, in: Mellinghoff, R./Trute, H.-H. (Hrsg.), Die Leistungsfähigkeit des Rechts, Heidelberg 1988, S. 23 ff. 59 Anweiler, J., Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1. Aufl., Frankfurt am Main/Berlin/Bern/New York/Paris/Wien 1997, S. 84. 60 Glock, H.-J., Wie kam die Bedeutung zur Regel?, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 48, H. 3, 2000, S. 429 ff., 431. 61 Siehe Kripke, S. A., Wittgenstein über Regeln und Privatsprache. Eine elementare Darstellung, Frankfurt/M. 1987. Zur Kritik Glüer, K., Sprache und Regeln. Zur Normativität von Bedeutung, Berlin 1999, S. 84 ff.; sowie dies., Bedeutung zwischen Norm und Naturgesetz, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 48, H. 3, 2000, S. 449 ff., v. a. S. 454. 62 Glüer, K., Schwerpunkt: Sprache und Regeln. Ist Bedeutung normativ?, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 48, H. 3, 2000, S. 393 f., 293.
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Dies scheint nach den gängigen Vorstellungen von Sprache einleuchtend und muss sich doch wieder von der Praxis eines anderen belehren lassen.63 Vor Gericht geht es sprachlich nicht um ein Verstehen sprachlicher Äußerungen. Die Feuerprobe darauf haben die Äußerungen der Parteien bereits bestehen müssen, damit ihr Anliegen überhaupt als ein rechtliches gelten kann. Sie wird den Parteien von zahlreichen institutionalisierten Auflagen abverlangt. Und sie fordert von ihnen einen nicht unerheblichen Aufwand, wie etwa die Formulierung von Schriftsätzen und die Einschaltung professioneller Juristen, um sich ins Spiel einer Entscheidung von Recht zu bringen. Mit dem Eintritt in das Verfahren steht also nicht mehr die Frage einer Regelkonformität zur Debatte. Vielmehr treten die sich diametral entgegenstehenden Rechtsmeinungen in einen semantischen Kampf ein, der auf das Ganze der Bedeutung des Gesetzestextes im Fall ausgeht.64 Es geht den Parteien also, allgemein gesprochen, nicht darum, welche Bedeutung ein Ausdruck hat, sondern darum, welche ihm zukommen soll. Und das heißt nach der eigenen Voraussetzung des semantischen Normativismus, dass es den Parteien auch nicht darum geht, was der Regel gemäß ist, sondern darum, was als Regel gelten soll. Als unabhängige Berufungsinstanz für die Entscheidung kann die Regel so aber nicht mehr greifen. Sie ist es, die als Einsatz im semantischen Kampf auf dem Spiel steht, indem die Parteien versuchen, jeweils ihre Lesart des Normtextes als Recht im Fall durchzusetzen.65 Auch in ihrer pragmatischen Wendung kann Sprache den Konflikt der Bedeutungen somit nicht entscheiden. Der von der herkömmlichen Lehre vorausgesetzte semantische Normativismus scheitert an den Unwägbarkeiten von Sprache als Praxis. Die Verhältnisse im Gerichtssaal treiben nur das auf die Spitze, was im Alltag regelmäßig vorkommt. Die Entscheidung über Regelkonformität einer sprachlichen Äußerung kann nicht durch Sprache vorgegeben sein; nicht einmal die Entscheidung darüber, ob die Verwendung eines Ausdrucks sich noch im Rahmen des Üblichen bewegt. Und schon gar nicht vermag eine Norm bzw. Regel eindeutig und unwiderruflich vorzuzeichnen, was in jedem Einzelfall ihre korrekte Befolgung ist.66 Regeln vermögen daher auch nicht die Verwendung sprachlicher Aus-
63 Grundsätzlich angesichts der praktischen Verhältnisse von Verständigung Davidson, D., Eine hübsche Unordnung von Epitaphen, in: Picardi, E./Schulte, J. (Hrsg.), Die Wahrheit der Interpretation. Beiträge zur Philosophie Donald Davidsons, Frankfurt/M. 1990, S. 203 ff., 227. 64 Ausführlich dazu Müller, F./Christensen, R./Sokolowski, M., Rechtstext und Textarbeit, Berlin 1997, S. 59 ff. 65 Näher dazu Christensen, R./Sokolowski, M., Recht als Einsatz im semantischen Kampf, ersch. in Zeitschrift für Semiotik. 66 Siehe Kripke, S. A., Wittgenstein über Regeln und Privatsprache. Eine elementare Darstellung, Frankfurt/M. 1987.
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drücke auf eine ihnen zukommende Bedeutung festzulegen, wie es der Normativismus will. Um eine derartige Festlegung leisten zu können, müsste die Regel für die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke konstitutiv im Sinne Searles sein.67 Nimmt man das jedoch ernst, so könnte paradoxerweise die Regel genau deshalb den abweichenden Sprachgebrauch nicht vom korrekten unterscheiden: „Denn jeder semantisch inkorrekte Gebrauch“ würde, wie Kathrin Glüer zu Recht einwendet, damit automatisch zu einem „Bedeutungswandel oder -verlust“. Das aber heißt nichts anderes, als dass mit der Alternative „korrekt/bedeutungslos“ ausgerechnet der Verstoß gegen die Regel als Alternative entfällt.68 Der semantische Normativismus scheitert an der Konstituierungsthese, die ihm seine Durchschlagskraft verleihen sollte. Denn wenn man diese aufweicht, indem man Bedeutung als Basis für die Unterscheidung von Korrektheit oder Inkorrektheit, von Konformität oder Verstoß zulässt, verliert die Regel ihr Privileg einer Ermöglichungsbedingung sinnvoller Rede. Sie wäre nur noch einer der vielen Gesichtspunkte dafür, sich Klarheit über einen bestimmten Sprachgebrauch zu verschaffen. Sie wäre „eine behelfsmäßige Durchgangsstation zwischen Satz und Interpretation, welche die Erkenntnis der Struktur erleichtert, für die richtige Interpretation von Äußerungen aber keineswegs notwendig ist.“69 Mit der praktischen Instabilität des Regelhaften bricht aber der juristischen Praxis der objektive Erkenntnisgegenstand weg. Es fragt sich, was die Regel hier überhaupt noch austragen kann. Donald Davidsons, vor allem gegen Kripke gewendete Antwort lautet: gar nichts.70 Wenigstens dann nicht, wenn es überhaupt um die Möglichkeit geht, sich sprachlich verständlich zu machen. Bedeutung gewinnen Äußerungen ganz ohne Regeln allein durch Interpretation. Um zu ihrem Verständnis zu gelangen, braucht es nicht einmal eine gemeinsame Sprache. Wäre dies unabdingbare Voraussetzung, so wäre es ganz und gar unerklärlich, dass es zum Verständnis auch noch der vordergründig abstrusesten Wortverdrehungen und Sprachspielereien kommen kann, wie Davidson anhand der so genannten „Malapropismen“ zeigt.71 Worauf es für die Verständigung also ankommt, sind weder Regeln, noch ist es eine gemeinsame Sprache. Es ist 67 So Glock, H.-J., Wie kam die Bedeutung zur Regel?, in Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 48, H. 3, S. 429 ff., 443 ff. Dagegen Glüer, K., Bedeutung zwischen Norm und Naturgesetz, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 48, H. 3, 2000, S. 449 ff., 462 ff. 68 Vgl. Glüer, K., Bedeutung zwischen Norm und Naturgesetz, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 48, H. 3, 2000, S. 449 ff., 460. 69 Mayer, V., Regeln, Normen, Gebräuche. Reflexionen über Ludwig Wittgensteins „Über Gewissheit“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 48, H. 3, S. 409 ff., 418. 70 Siehe Davidson, D., Die zweite Person, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 48, H. 3, S. 395 ff., v. a. S. 396 ff. Zuvor schon ders., Kommunikation und Konvention, in: ders., Wahrheit und Interpretation, Frankfurt/M. 1990, S. 372 ff.
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vielmehr nur nötig, „dass wir dem anderen etwas liefern, das als Sprache verständlich ist.“72 Möglich wird dies dadurch, dass unsere Äußerungen immer in einem weiten Zusammenhang von Praktiken und Überzeugungen stehen. Dazu ist ferner nötig, dem anderen zu unterstellen, dass er sehr wohl weiß, wovon er redet und was er tut, und dass er sich im Großen und Ganzen seine Überzeugungen auf den gleichen Wegen bildet wie wir auch. Dieses „Prinzip der Nachsicht“73 besagt nicht, dass Verstehen zu völliger Konformität zwingen würde. Es bietet ganz im Gegenteil die Grundlage dafür, Divergenzen festzustellen. Von Sprache bleibt damit allerdings nicht mehr als ein kontextsensibler Differenzierungsprozess, der sich ständig verändert.74 Und was man die Bedeutung eines Ausdrucks nennt, ist eine mehr oder weniger flüchtige Momentaufnahme in diesem Prozess; ein Knoten im einem Netz von Differenzen, den Verständnis und Interpretation schürzen und den der nächste Akt der Verständigung wieder lösen kann. Normativität kann nie aus der Sprache kommen, sondern immer nur von Sprechern. Sprachnormen sind durch und durch praktisch. Sie dienen den Zwecken der Vereinfachung und Stabilisierung von Kommunikation. Für Juristen allerdings nimmt die Frage einer Normierung von Sprache eine schärfere Gangart an. Juristen werden erst in dem Moment angerufen, in dem ein Konflikt über Normen für die Sprecher unlösbar geworden ist. Sprachlich gesehen, hat der Rechtsstreit also nichts mit Normen zu tun. Er geht darum, was im Fall als Norm gelten soll. Der Richter entscheidet dementsprechend darüber, was als normativ durchzusetzen ist. Wo liegt die Grenze für die Kompetenz des Richters über Sprache zu entscheiden, wenn eine derartige Grenze nicht bereits von der Sprache selbst gezogen ist? Es soll immer nur das eine Recht geben. Für alle. Das gebieten schon so hehre Grundsätze wie die der Gleichheit vor dem Gesetz und der Rechtssicherheit. Für die Formulierung dieses einen Rechts gibt es aber im Gemeinschaftsrecht eine Vielzahl von Sprachen. Donald Davidson zufolge wird es sogar immer „eine endlose Zahl verschiedener Sprachen geben“. Und zwar Sprachen, die sich nicht dem Erfindungsreichtum beispielhungriger Linguisten verdanken, 71 Siehe Davidson, D., Eine hübsche Unordnung von Epitaphen, in: Picardi, E./ Schulte, J. (Hrsg.), Die Wahrheit der Interpretation. Beiträge zur Philosophie Donald Davidsons, Frankfurt/M. 1990, S. 203 ff. 72 Davidson, D., Die zweite Person, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 48, H. 3, S. 395 ff., 401. 73 Zu diesem Prinzip in Hinblick auf die „Bedingungen des Verstehens“ hier nur Stüber, K., Donald Davidsons Theorie sprachliche Verstehens, Frankfurt/M. 1993, S. 144 ff. 74 Dazu Schalk, H., Zu den Zeichen selbst: Der Sinn der Bedeutung, in: Journal Phänomenologie 13, 2000, S. 2 f., 2.
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sondern Sprachen, „die alle mit den tatsächlichen Äußerungen eines Sprechers übereinstimmen“.75 „Denn wenn wir es genau nehmen, sprechen wahrscheinlich keine zwei Leute tatsächlich die gleiche Sprache.“76 Darüber hinwegsetzen kann sich der Jurist nicht. Und schon gar nicht der Richter, dem es von Amts wegen obliegt, über Recht und Unrecht zu entscheiden. Das eine Recht darf nicht das Recht nur des einen sein. Es darf sich nicht der Willkür des Richters verdanken. Das heißt sprachlich, dass er nicht selbstherrlich über die Bedeutung des Gesetzestextes für den im Einzelnen zu entscheidenden Fall verfügen und gebieten und damit buchstäblich das Gesetz in die eigene Hand nehmen darf. Dagegen stehen allein schon Grundsätze wie Fallgerechtigkeit und Recht auf Gehör im Gerichtsverfahren. Andererseits kann sich der Richter aber auch nicht dadurch aus der Affäre ziehen, dass er den Verfahrensbeteiligten buchstäblich nach dem Mund redet. Dass er sich also für seine Entscheidung schlicht deren Ansichten und Einlassungen zum Fall zu Eigen macht, um Recht „zur Sprache“ zu bringen. Es darf eben nie das Recht nur des einen sein: weder das des Richters, noch das der Parteien im Rechtsstreit. Es hat immer das gleiche Recht für alle zu sein. Nur, welcher der vielen Sprachen soll sich der Richter bedienen, um dem Buchstaben des Gesetzes eben diese Bedeutung zu verleihen? Das Problem im Rechtsstreit ist nicht die Herstellung von Verständnis, sondern dessen Bewertung. Denn der Streit entsteht nicht aus einem Mangel, sondern aus einem Überfluss an Verstehen. Beide vor Gericht streitenden Seiten haben das Gesetz auf ihre Weise schon verstanden. Aufgabe des Gerichts ist es zu entscheiden, welche der vorgebrachten Verständnisweisen die bessere ist. Es geht also um einen Konflikt sich ausschließender Lesarten desselben Gesetzes. Dieser Konflikt führt uns zu einem Paradox: „Entscheidungen gibt es nur, wenn etwas prinzipiell Unentscheidbares (nicht nur Unentschiedenes!) vorliegt. Denn andernfalls wäre die Entscheidung schon entschieden und müsste nur noch ,erkannt‘ werden.“77 Was kann also an einer Entscheidung über sich ausschließende Lesarten normiert werden? Beide Lesarten sind verständlich und gehören damit zur Sprache. Es geht nicht um die Auffindung einer Sprachregel, sondern um eine Sprachnormierung. Welche von beiden verständlichen Lesarten des Gesetzes ist vorzuziehen? Im Rahmen einer Rechtserzeugungsreflexion stellt sich damit die Aufgabe eines Normierens des Normierens.78 Das legalistisch verkürzte positivistische 75 Donald Davidson, Die zweite Person, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Bd. 448, H. 3, 2000, S. 395 ff., 397. 76 Donald Davidson, Die zweite Person, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Bd. 448, H. 3, 2000, S. 395 ff., 401. 77 Luhmann, N., Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1993, S. 308.
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Rechtsstaatsverständnis wird damit zu einem verfahrensbezogenen erweitert.79 Der Richter muss sein Interpretationsergebnis in der Urteilsbegründung rechtfertigen. Die Begründung ist nicht an der Akzeptanz durch die Beteiligten orientiert, dem bloßen Meinungs- und Interessenstand. Sie ist es vielmehr am Stand der Argumente, das heißt der Geltung. Geltung bemisst sich an der Verarbeitung von Einwänden. Wenn und solange eine Rechtsentscheidung alle gegen sie vorgebrachten Argumente integriert oder ausräumt, ist sie gültig. Das Normativitätsproblem verweist damit auf eine Praxis des Forderns und Lieferns von Gründen, auf den so genannten „space of reasons“. Und eine Sprachnorm kann dementsprechend auch nicht durch Sprachgründe gerechtfertigt werden, sondern allein durch Sachgründe aus dem jeweiligen Sprachspiel, hier dem des Rechts. Daher genügen Richterbewusstsein und Gesetzestext, verbunden durch ein traditionell monologisches Erkenntnismodell, gerade nicht. Die Gewährleistung der Gesetzesbindung des Richters fordert vielmehr ein ganzes Gerichtsverfahren, mit allen Argumenten und Schriftsätzen der Beteiligten. Außerdem gibt es zur weiteren Kontrolle einen Instanzenzug, unterstützt von der begleitenden Kritik der Wissenschaft an den Ergebnissen der Gerichte. Erst diese Faktoren, zusammengenommen, ergeben die Gesetzesbindung. Der Rechtsstaat ist nicht monologisch-richterbezogen, sondern diskursiv-verfahrensbezogen. Er verlässt sich nicht auf einsame Erkenntnis, sondern fordert eine öffentliche Diskussion, in der sich die besseren Argumente für die Lesart des Gesetzes durchsetzen. Insgesamt zeigt sich die Bedeutung von Art. 314 EG als sprach- und methodenbezogene Norm in der Arbeit des Gerichts sehr deutlich. Der Gemeinschaftsgesetzgeber hat mit dieser Vorgabe auf ein Problem reagiert, das in seinem Umfang und seiner Dringlichkeit neu ist: das Problem der Mehrsprachigkeit. Zwar stellt es sich in gewisser Weise in jeder Rechtsordnung von Einzelstaaten. Sprache ist nirgends ein homogenes System, sondern existiert, genau genommen, nur im Plural, und gerade im Recht werden die Konflikte um Bedeutungsdivergenzen ausgetragen. Aber innerhalb einer Nationalsprache lässt sich dieser Konflikt noch hinter dem Mantel vorgeblicher Bedeutungserkenntnis verbergen. Diese Entlastungsstrategie ist im Gemeinschaftsrecht nicht mehr möglich. Art. 314 EG ist insoweit ein Novum unter den methodenbezogenen Normen. Im Völkerrecht gibt es mit Art. 33 IV WVK eine gewisse Parallele.80 78
Calliess, R.-P., Prozedurales Recht, Baden-Baden 1999, S. 149. Somek, A./Forgó, N., Nachpositivistisches Rechtsdenken, Wien 1996, S. 357 ff. 80 Vgl. dazu Schweitzer, M., Art. 248, Rn. 7, in: Grabitz, E./Hilf, M. (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Altband II, Art. 102a–248 EGV (Maastrichter Fassung), Stand Oktober 1999, München 2000; Geiger, R., EG-Vertrag. Kommentar zu dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, München 1993, Art. 248, Rn. 4; Weber, A., in: Groeben, H. v. d., Thiesing, J., Ehlermann, C.-D., Kommentar 79
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Aber dies konnte man noch auf die Besonderheiten des Völkerrechts zurückführen und einschränken. Im Verfassungsrecht ist die Frage einer Mehrsprachigkeit auch innerhalb einer einzelnen Sprache noch weitgehend verdrängt.81 Mit Art. 314 EG ist das Mehrsprachigkeitsproblem nun aber mitten im Recht einer entstehenden Verfassung gestellt. Dieser Artikel ist nicht lediglich eine Garantie von Sprachreservaten, sondern stellt das methodische Problem, wie unter der Bedingung von Mehrsprachigkeit eine juristische Entscheidung getroffen werden kann. Methodisch liegen vor allem zwei Konsequenzen auf der Hand: Zunächst werden für die entscheidenden Richter die Anforderungen an grammatische Auslegung beträchtlich gesteigert. Das Nachschlagen im Wörterbuch oder die so genannte Lehnstuhlmethode als Besinnen auf die eigene Sprachkompetenz können sich jetzt nicht mehr als Bedeutungserkenntnis maskieren. Außerdem muss der Richter eine Vielzahl von Nationalsprachen zur Kenntnis nehmen und Bedeutungsdivergenzen offenlegen. Aber nicht nur, dass die grammatische Auslegung komplexer wird. Vor allem wird jetzt auch die Begründungslast sichtbar, die auf speziell juristischen Argumenten zur Entscheidung solcher Divergenzen liegt. Ob insbesondere das dabei vom EuGH gerne verwendete Zweckargument diese Last zu tragen vermag, ist normativ an den Vorgaben des Rechtsstaatsprinzips zu messen. Es zeigt sich jedenfalls, dass die Wortlautgrenze eine komplexe Größe ist. Die rechtsstaatliche Vorgabe der Wortlautgrenze gibt jedem Verfahrensbeteiligten einen Anspruch auf Respektierung seiner Sprache. Das heisst, das Gericht kann sich über seine Lesart des Gesetzes nur hinwegsetzen, wenn es die besseren Argumente auf seiner Seite hat.
zum EU-, EG-Vertrag, Bd. 4: Art. 189–248, 5. Aufl., Baden-Baden 1997, Art. 248, Rn. 8. 81 Eine gewisse Ausnahme stellt die Schweiz dar. Vgl. dazu Albrecht, U., Schneider, C., Brauchen wir einen neuen Sprachenartikel, in: Gesetzgebung heute, 1990/3, S. 47 ff. sowie Mader, L., Das Sprachenrecht in der neuen Bundesverfassung – Ein gelungenes Beispiel der Nachführung des Verfassungsrechts, in: Gesetzgebung heute, 1998/1, S. 121 ff. Die dortigen Regeln sind zwar sprachbezogen, indem sie Mehrsprachigkeit schützen, aber nicht methodenbezogen.
Transnationale interlinguale Rechtskommunikation: Translation als Wissenstransfer Peter Sandrini Das Übersetzen von Rechtstexten stellt besondere Anforderungen an den Translator: Es gilt, nicht nur die spezifische Charakteristik der Rechtssprache zu berücksichtigen, sondern vor allem auch diese vor dem Hintergrund ihrer fachlichen Inhalte und deren nationaler Bezogenheit kontrastiv zu beherrschen und anzuwenden. Rechtliche Inhalte gehen auf souveräne Entscheidungen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers zurück und sind daher primär unabhängig von Sprache zu sehen. Daraus ergibt sich ein wesentliches Charakteristikum der Rechtssprachen: Es besteht eine Pluralität von unabhängigen Kommunikationszusammenhängen, d.h. jede Rechtsordnung bildet durch ihre spezifischen Inhalte und Normen einen Kommunikationsbereich, der innerhalb einer Sprache durchaus auch mehrere voneinander getrennte Rechtsordnungen und damit Kommunikationsbereiche zulässt.1 Daneben zählt zu den Spezifika von Rechtssprache vor allem ihr präskriptiver Charakter, durch den sie in Normen, Gesetzen und Vorschriften die Bürger in ihrem Verhalten zu steuern versucht. Daraus ergibt sich die Adressatenpluralität von Rechtssprache, die als Fachsprache nicht allein der Kommunikation unter Fachleuten dient, sondern vor allem auch den Bürger als Normadressaten ansprechen soll. Einer rechtlichen Regelung unterworfen sind sehr viele Lebensbereiche, vom Lebensmittelrecht bis hin zur Strassenverkehrsordnung, wodurch man von einer Transdisziplinarität der Fachkommunikation im Recht sprechen kann. Pluralität von unabhängigen Kommunikationszusammenhängen, präskriptiver Charakter, Adressatenpluralität und Transdisziplinarität heben die Rechtssprache unter den Fachsprachen hervor und rechtfertigen eine vertiefte translationswissenschaftliche Auseinandersetzung. Dieser Beitrag versucht den Aspekt der Übertragung und Vermittlung von rechtlichen Inhalten und im weitesten Sinn von rechtlicher Information2 in den Mittelpunkt zu stellen. 1 Siehe für das Deutsche die deutsche, österreichische, schweizerische, italienische, belgische und luxemburgische Rechtsordnung. 2 Vgl. G.-R. de Groot, Het Vertalen van juridische Informatie, in: Preadvies voor de Nederlandse Vereniging voor Rechtsvergelijking, Band 53, Deventer 1996.
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Peter Sandrini
I. Translation und Recht Transnationale interlinguale Kommunikation im Recht inkludiert als weiter Sammelbegriff jede Kommunikation, die zwischen unterschiedlichen Rechtsordnungen und unterschiedlichen Sprachen abläuft. Im Wesentlichen ist sie durch das professionelle Übersetzen gekennzeichnet, das sich einerseits von der reinen Sprachbeherrschung durch Fachleute andererseits auch von der Auslandsrechtskunde abgrenzt. Professionelles Übersetzen im Recht wird mit mehr oder weniger Erfolg ausgeführt. Neben der Praxis ist insbesondere in der Forschung im Zuge einer Annäherung der einzelnen nationalen Rechtsordnungen und zunehmender wirtschaftlicher und kultureller Verflechtungen zwischen den Nationalstaaten ein steigendes Interesse zu verzeichnen. Zwei Feststellungen bilden die Prämissen für die folgenden Überlegungen: (1) Die Auffassung von Translation als einer handlungsgeleiteten, sozial bedingten sowie gesellschaftlich relevanten Aktivität und (2) die Priorität inhaltlicher Aspekte beim Übersetzen von Rechtstexten, d.h. die Frage nach dem Spannungsverhältnis der rechtlichen Wirkungen von Ausgangstext und Zieltext. Handlungsgeleitet bedeutet in diesem Zusammenhang, dass mit der Handlung eine gewisse Intention, eine Absicht verfolgt wird. Dabei ist nicht nur das menschliche Handeln zielgerichtet, sondern auch die menschliche Wahrnehmung, Speicherung und Verarbeitung von Information.3 Im Mittelpunkt steht das handelnde Subjekt des Translators als transkulturell wirkender Vermittler. Jede Art von Fachkommunikation steht in einem pragmatischen Zusammenhang, sie ist eine zweckgerichtete Tätigkeit, die im Wesentlichen der Übertragung und Vermittlung von Fachinformation dient. Der Übersetzung kommt dabei die Aufgabe zu, in Texten aufbereitetes Fachwissen, „so aufzubereiten und zu vermitteln, dass es zielgerichtet an fachlich Tätige weiter verwendungsfähig ist“4. Hiermit soll keineswegs eine Rückkehr zu alten Übersetzungsmodellen postuliert werden, die in der Annahme, Information ließe sich definitorisch fassen und eins zu eins über Sprachen und Kulturen hinweg umsetzen, diese so genannte „Postal Package“-Theorie vertraten. Anhand dieser Definition aus dem Bereich Information und Dokumentation kann zweierlei festgehalten werden: Übersetzung ist zielgerichtet, wobei die Zielgerichtetheit von verschiedenen Faktoren abhängig ist, die weiter unten in Bezug auf das Recht ausgeführt wer-
3 Vgl. E. Prunc, Vom Translationsbiedermeier zur Cyber-Translation, in: TEXTconTEXT, Band 14.1 = NF 4.1., Heidelberg 2000, S. 16. 4 H.-J. Manecke/T. Seeger, Zur Entwicklung der Information und Dokumentation in Deutschland, in: M. Buder/W. Rehfeld/T. Seeger/D. Strauch (Hrsg.), Grundlagen der praktischen Information und Dokumentation, München 1997, S. 17.
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den und die auch im Rahmen der Skopostheorie5 hervorgehoben wurden, und Übersetzung ist eine Tätigkeit, die in einen fachlichen Diskurs eingebettet ist, wobei Texte „weiter verwendungsfähig“ sein müssen. Diese Weiterverwendung von Texten verweist auf die rechtliche Wirkung des Zieltextes, die in Abhängigkeit vom Kontext (Rechtsordnung, Adressaten) stets als Leitlinie des Übersetzungsprozesses wirkt. Vielfach wurde an der Anwendung der Skopostheorie insbesondere für die Übersetzung von Rechtstexten Kritik geübt6: Im Recht sei eine solche Orientierung an Funktion und Zweck des Zieltextes nicht streng durchzuhalten, da vor allem die Rechtsordnung die Wahl der eingesetzten sprachlichen Mittel determiniere und nicht so sehr die Funktion des Zieltextes. Unbestritten ist die Bedeutung der Rechtsordnung sowohl für die korrekte Interpretation eines Rechtstextes als Ausgangstext einer translatorischen Handlung als auch für die Produktion eines Zieltextes – und an anderer Stelle wurde immer wieder darauf verwiesen7 – dennoch muss der Zweck der Übersetzung im Rahmen des komplexen Handlungsgefüges Translation mitberücksichtigt werden. Erst durch die Abstimmung des Zieltextes auf die durch den Übersetzungsauftrag vorgegebenen Parameter kann ein für alle Beteiligten zufriedenstellender Abschluß der Translationshandlung erreicht werden. Der Zweck oder Skopos einer Translation im Recht ergibt sich aus der Kombination folgender Parameter: Typ (performativer oder deskriptiver Text), Rechtsordnung, Sprache und ursprünglicher Rezipient von Ausgangs- und Zieltext.8 Dies führt zu fünf potentiellen Übersetzungssituationen:
5 Vgl. K. Reiss/H. Vermeer, Einführung in die Translationswissenschaft, Tübingen 1984. 6 S. Šarc ˇ evic´, New Approach to Legal Translation, Den Haag 1997, S. 66 f.; sowie D. Madsen, Towards a description of Communication in the Legal Universe. Translation of Legal Texts and the Skopos Theory, in: Fachsprache, Band 1–2, 1997, S. 19. 7 P. Sandrini, Translation zwischen Kultur und Kommunikation: Der Sonderfall Recht, in: P. Sandrini (Hrsg.), Übersetzen von Rechtstexten. Fachkommunikation im Spannungsfeld zwischen Rechtsordnung und Sprache, Tübingen 1999, S. 20 f.; sowie P. Sandrini, Übersetzung von Rechtstexten: Die Rechtsordnung als Kommunikationsrahmen, in: L. Lundquist/H. Picht/J. Qvistgaard (Hrsg.), LSP – Identity and Interface. Research, Knowledge and Society. Proceedings of the 11th European Symposium on Language for Special Purposes, Copenhagen 1998. 8 P. Sandrini, Translation zwischen Kultur und Kommunikation: Der Sonderfall Recht, in: P. Sandrini (Hrsg.), Übersetzen von Rechtstexten. Fachkommunikation im Spannungsfeld zwischen Rechtsordnung und Sprache, Tübingen 1999, S. 24.
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Peter Sandrini Typ AT
RO AT
Spr. AT
Rez. AT
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II. III.
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IV. V.
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Typ Zieltext
RO Zieltext
Spr. Rez. Zieltext Zieltext
Im ersten Fall wird ein performativer Ausgangstext der Rechtsordnung x mit der Sprache a, der für einen Rezipienten x erstellt wurde, für dieselbe Rechtsordnung und einen Rezipienten mit demselben rechtlichen Hintergrund x als performativer Text lediglich in einer anderen Sprache b wiedergegeben. Im zweiten Fall wird unter denselben Bedingungen für einen Rezipienten mit einem anderen rechtlichen Hintergrund y übersetzt. Und in Fall III ändert sich zusätzlich die für den Zieltext gültige Rechtsordnung. Die beiden Fälle IV und V haben gemeinsam, dass sich hier neben Sprache und Rezipient bzw. Rechtsordnung auch die Funktion des Textes ändert. Wie im Allgemeinen für die Forschung von Kjaer9 beklagt, wurde auch dieses Schema unter besonderer Berücksichtigung der Translation zwischen verschiedenen Rechtsordnungen angelegt. Translation von Gemeinschaftsrecht stellt einen besonderen Fall dar. Die derzeitigen 15 Länder mit ihren 11 Sprachen werden in Zukunft auf 27 Länder mit 22 Sprachen erweitert, was den in Artikel 314 des EU-Vertrages festgelegten Grundsatz der Mehrsprachigkeit, einschließlich der vielfachen authentischen Originale, umso problematischer werden lässt. Das Übersetzen von Gemeinschaftsrecht in dieses Schema zu integrieren stößt auf einige Schwierigkeiten bzw. macht eine Adaptation erforderlich. Unmittelbar würde die Übersetzung eines Europäischen Vertragstextes oder einer Europäischen Richtlinie, die in allen Amtssprachen veröffentlicht werden müssen, wohl unter Fall II der angeführten Tabelle zu reihen sein: a) Der Texttyp bleibt unverändert: Der Vertragstext bleibt auch als Zieltext ein performativer Text. b) Die Rechtsordnung bleibt unverändert; es handelt sich um das supranationale System des EU-Rechtes, sowohl für den Ausgangstext als auch für den Zieltext. 9 A.-L. Kjaer, Überlegungen zum Verhältnis von Sprache und Recht bei der Übersetzung von Rechtstexten der Europäischen Union, in: P. Sandrini (Hrsg.), Übersetzen von Rechtstexten. Fachkommunikation im Spannungsfeld zwischen Rechtsordnung und Sprache, Tübingen 1999, S. 65.
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c) Es ändert sich Sprache und Rezipient, vor allem ändert sich die Zuordnung zwischen Rechtsordnung und Rezipient des Ausgangstextes: Der Rezipient des Ausgangstextes kommt zwar aus der Rechtsordnung des Ausgangstextes (EU-Recht), wird aber inhaltlich-rechtlich und vor allem auch sprachlich von seiner nationalen Rechtsordnung geprägt sein. Die abstrakte Feststellung unter Punkt c) sagt aber kaum etwas über die Schwierigkeiten aus, die das Übersetzen für unterschiedliche Rezipienten zur Folge hat, insbesondere, wenn diese aus verschiedenen Rechtsordnungen mit unterschiedlichen Rechtssprachen kommen. Hier muss spezifiziert werden, dass sich die Rechtsordnung des Ausgangstextes (EU-Recht) zwar nicht von der Rechtsordnung des Zieltextes unterscheidet (ebenfalls EU-Recht), wohl aber von der Rechtsordnung, durch die der Rezipient des Ausgangstextes unmittelbar geprägt ist (ROa) und die sich von jener des Rezipienten des Zieltextes sowohl in der Sprache als auch im Inhalt unterscheidet (ROb): Typ AT
RO AT
Spr. AT
Rez. AT
Typ Zieltext
RO Zieltext
Spr. Zieltext
Rez. Zieltext
perf.
EU
a
ROa
perf.
EU
b
ROb
Die Sprache des Rezipienten kann wiederum in mehreren Rechtsordnungen gesprochen werden, wie z. B. Deutsch in Deutschland, Österreich, Belgien, Luxemburg und Italien (Südtirol), die natürlich auch inhaltlich divergieren können. Daher muss für das Beispiel der Übersetzung einer EU-Richtlinie das Modell erweitert werden: Typ AT
RO AT
Spr. AT
Rez. AT
Typ Zieltext
RO Zieltext
Spr. Zieltext
Rez. Zieltext
perf.
EU
a
RO(a1, a2 . . .)
perf.
EU
b
RO(b1, b2, b3 . . .)
Dies kann aber nicht bedeuten, dass der Zieltext für jede Rechtsordnung, in der dieselbe Sprache gesprochen wird, einzeln übersetzt wird. Vielmehr wird der Ausgangstext in eine Sprache übertragen, die für alle, durch ihre Rechtsordnungen unterschiedlich geprägten Rezipienten verständlich sein muss. An dieser Stelle soll ein caveat vermerkt werden: Die hier versuchte Beschreibung der Kommunikationssituation mit ihren spezifischen Parametern fließt mit der erhobenen Forderung bereits in ein Aufzeigen von Lösungsmöglichkeiten über, was gerade im Fall des mehrsprachigen EU-Rechts besonders
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schwierig erscheint.10 In diesem Sinne werden sich die folgenden Ausführungen auch nicht mit dem Anbieten konkreter Lösungsvorschläge bzw. Handlungsanleitungen auseinander setzen können, sondern sich vor allem auf die notwendigen Voraussetzungen konzentrieren, die fallspezifische translatorische Entscheidungen erst ermöglichen. II. Eine Rechtssprache – viele Rechtsordnungen Vielfach wurde für die Eu-spezifische Rechtssprache die Forderung nach einer möglichst neutralen Übersetzung erhoben: Für Kjaer geht es z. B. darum, „Methoden zu entwickeln, die dem Übersetzer helfen, Rechtsbegriffe durch allgemein gehaltene rechtssystemunabhängige Formulierungen zum Ausdruck zu bringen“11, Šarcˇevic´ spricht von der Anwendung „neutraler Termini“12, Stolze plädiert für das „gemeinsame Minimum der Bedeutung“13. Für den Einzelfall mögen diese Vorschläge zwar unmittelbar verwertbare Lösungen bieten, global gesehen würde aber dadurch das Problem einer relativ unbestimmten und schwer fassbaren EU-Rechtssprache zusätzlich verschärft. Das Deutsche soll hier als Beispiel dienen: Deutsch ist Rechtssprache in Deutschland, Österreich, Italien, Belgien und Luxemburg und hat in jeder Rechtsordnung eine ganz spezifische Rechtssprache ausgebildet mit eigener Terminologie und eigenen Textsorten. Der im österreichischen Arbeitsrecht übliche Terminus Abfertigung ist im deutschen Recht unbekannt, obwohl mit der Abfindung ein vergleichbares Äquivalent existiert. Umgekehrt wird der Terminus Abfindung im Österreich nur im Versicherungsrecht (z. B. die Abfindung der Hinterbliebenen im Todesfall des Versicherten) sowie im Erbrecht (z. B. Abfindung der Miterben) verwendet, nicht aber im Arbeitsrecht. Im italienischen Recht wurde der alte Terminus liquidazione, der in anderem Kontext durchaus noch verwendet wird, mit einer Gesetzesreform durch den neuen allgemeineren Mehrwortterminus trattamento di fine rapporto di lavoro abgelöst. Die Verwendung eines möglichst neutralen Ausdrucks auch im Deutschen – z. B. Zahlung einer von der Dauer des Dienstverhältnisses abhängigen Geld10 Vgl. A.-L. Kjaer, Überlegungen zum Verhältnis von Sprache und Recht bei der Übersetzung von Rechtstexten der Europäischen Union, in: P. Sandrini (Hrsg.), Übersetzen von Rechtstexten. Fachkommunikation im Spannungsfeld zwischen Rechtsordnung und Sprache, Tübingen 1999, S. 77. 11 A.-L. Kjaer, Überlegungen zum Verhältnis von Sprache und Recht bei der Übersetzung von Rechtstexten der Europäischen Union, in: P. Sandrini (Hrsg.), Übersetzen von Rechtstexten. Fachkommunikation im Spannungsfeld zwischen Rechtsordnung und Sprache, Tübingen 1999, S. 76. 12 S. Šarc ˇevic´, Überlegungen zum Verhältnis von Sprache und Recht bei der Übersetzung von Rechtstexten der Europäischen Union, Den Haag 1997, S. 255 f. 13 R. Stolze, Hermeneutisches Übersetzen. Linguistische Kategorien des Verstehens und Formulierens beim Übersetzen, Tübingen 1992, S. 181.
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summe bei Auflösung eines Dienstverhältnisses – erleichtert bei der Übersetzung einer EU-Rechtsvorschrift zwar das unmittelbare Verständnis der Übersetzung, ist aber als Terminus für eine EU-Rechtsinstitution kaum brauchbar und sollte daher bei der Übersetzung von EU-Recht nicht verwendet werden. Die Verwendung einer solchen allgemeinsprachlichen Umschreibung widerspricht allen lexikalischen Empfehlungen zur Prägung neuer Termini.14 Die einzelsprachlichen nationalen Rechtsterminologien haben sich historisch entwickelt. Eine vertiefte Zusammenarbeit vor dem Hintergrund von Globalisierung und konsensueller internationaler Rechtspolitik erfordert zunehmend auch präskriptives Planen, um Missverständnisse zu verhindern. Das hehre Ziel der Eineindeutigkeit (Monosemie und Mononymie) kann dabei aber weder auf nationaler Ebene (eine Sprache, eine Rechtsordnung) noch auf nationalsprachlicher Ebene (eine Sprache, mehrere Rechtsordnungen) erreicht werden und wird auch in der Terminologieforschung zunehmend als Ideal aufgefasst.15 Vielmehr sollte innerhalb der einzelnen Rechtsbereiche Monosemie angestrebt werden, was zumindest auf der nationalen Ebene einzelner Rechtsordnungen durchaus erreicht wurde. Für die Terminologie des EU-Rechts bedeutet dies, zunächst einmal Monosemie innerhalb der einzelnen EU-Rechtsbereiche in einer Sprache zu erreichen. Ob Monosemie auch innerhalb einer Sprache für alle Rechtsordnungen, die diese Sprache als Rechtssprache verwenden, erreicht werden kann oder auch nur angestrebt werden sollte, muss hinterfragt werden. Kann eine Nationalsprache voneinander unabhängige Termini für drei, vier oder mehrere Rechtsordnungen liefern, wenn die Anzahl der neuen Begriffe bereits innerhalb einer Rechtsordnung häufig die Zahl der zur Verfügung stehenden lexikalischen Mittel übersteigt? So gibt es bereits jetzt unzählige Rechtstermini, die in mehreren Rechtsordnungen mit z. T. unterschiedlichem Begriffsinhalt verwendet werden. Man denke z. B. an Bezeichnungen für Personen: Richter, Friedensrichter, Volksanwalt etc. und an ihre abweichenden Kompetenzen in den deutschsprachigen Rechtsordnungen, oder an Rechtsbegriffe wir Kündigung, Testament, für die es keinerlei inhaltliche Harmonisierung gibt. Bei einer strengen Anwendung des Prinzips der Monosemie auf der Ebene einer Sprache (z. B. des Deutschen) würde das bedeuten, dass diese Termini in einer Rechtsordnung ersetzt werden müssten, wenn ihr Begriffsinhalt von jenem des gleichen Terminus in einer anderen Rechtsordnung abweicht. Dies kann wohl kaum ernsthaft eingefordert bzw. durchgeführt werden. Zur Desambiguierung von Rechtstermini genügt es 14 Vgl. C. Lauren/J. Myking/H. Picht, Terminologie unter der Lupe. Vom Grenzgebiet zum Wissenschaftszweig, Wien 1998, S. 258 f. 15 C. Lauren/J. Myking/H. Picht, Terminologie unter der Lupe. Vom Grenzgebiet zum Wissenschaftszweig, Wien 1998, S. 246.
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meist, den begrifflich-inhaltlichen Hintergrund der verwendeten Terminologie in jedem Fall durch Angabe des Rechtsbereiches (z. B. Arbeitsrecht) und der Rechtsordnung eindeutig zu kennzeichnen. Auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts bieten sich zwei Lösungsmöglichkeiten an, um EU-Termini von den Termini der deutschsprachigen Mitgliedsstaaten zu unterscheiden: 1.
entweder könnte man die Forderung erheben, EU-Deutsch solle möglichst neutral klingen, um keine inhaltlichen Verwechslungen mit nationalen Begriffen und Inhalten zu ermöglichen,
2.
oder EU-Deutsch solle sich als eigene sprachliche Identität durch Neologismen und Neuschöpfungen von den nationalen Rechtssprachen abgrenzen.
Dasselbe gilt natürlich auch für andere EU-Sprachen. Für den zweiten Ansatz spricht u. a. das folgende Statement einer betroffenen EU-Übersetzerin: „. . . From all this it will be clear that we are working within a common legal culture, which is not the same thing as a collection of fifteen or in future twenty-five or more different national legal cultures. Hence the need for consistency of legal language (Treaty terms, phraseology, etc.).“16
Das EU-Recht stellt eine eigenständige Rechtsordnung dar und muss daher für alle beteiligten Sprachen eine eigene, unabhängige Rechtssprache entwickeln, die sich von den einzelnen nationalen Rechtssprachen klar unterscheidet. Davon unberührt bleibt die relative Unbestimmtheit der EU-Begriffe, die auf den „multilingualen, rechtspluralistischen und dynamischen Charakter“17 des EU-Rechts zurückzuführen ist. Für den Übersetzer stellt dies eine besondere Herausforderung dar, da kaum über translatorische Methoden diskutiert werden kann, wenn der Begriff im Ausgangstext nicht klar abgegrenzt werden kann. EU-Dokumente werden häufig von Nichtmuttersprachlern erstellt, Rechtsbegriffe oft aus einer anderen Rechtsordnung übernommen und in einer Fremdsprache wiedergegeben. Für den Leser stellt sich dann vor allem die Frage nach dem rechtlichen Inhalt des verwendeten Begriffes, nach dem interpretatorischen Kontext, unter dem dieser zu verstehen ist, nach der Rechtsordnung, in deren Begriffsstruktur er einzuordnen ist. Zusammenfassend stehen wir bei der Wiedergabe von EU-Rechtsbegriffen vor mehreren Problemen:
16 E. Wagner, 2000, http://europa.eu.int/comm/translation/reading/articles/pdf/ 2000_tp_wagner .pdf. 17 A.-L. Kjaer, Überlegungen zum Verhältnis von Sprache und Recht bei der Übersetzung von Rechtstexten der Europäischen Union, in: P. Sandrini (Hrsg.), Übersetzen von Rechtstexten. Fachkommunikation im Spannungsfeld zwischen Rechtsordnung und Sprache, Tübingen 1999, S. 77.
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a) das Verhältnis der EU-Terminologie zu den nationalen Terminologien in derselben Sprache, b) die relative Unbestimmtheit der EU-Begriffe. Hier könnte wohl nur eine verstärkte zentrale Terminologieplanung auf EUEbene Erfolg versprechen. In ähnlicher Weise müsste man sich auch mit Problemen auf Textebene vertieft auseinander setzen. Jede Rechtsordnung hat unterschiedliche Textsorten hervorgebracht und auch dort wo in derselben Kommunikationssituation eine ähnliche Textsorte eingesetzt wird, unterscheidet sich diese häufig in einzelnen Aspekten (z. B. in der Makrostruktur)18. Wie sich das auf die gemeinschaftsrechtliche Mehrsprachigkeit auswirkt, dazu wären weiterführende Forschungsanstrengungen wünschenswert. III. Wissen im Recht Bei jeder Kombination der oben für die Rechtsübersetzung genannten Parameter, in der die Rechtsordnungen von Ausgangs- und Zieltext unterschiedlich sind, wird rechtliches Wissen transferiert; ändert sich zudem Sprache, Texttyp und/oder Rezipient, sind bei dem Wissenstransfer zusätzliche Kriterien zu berücksichtigen. Im Folgenden geht es um diese Aspekte der Informationsverarbeitung und Wissensweitergabe über Kulturgrenzen und Rechtsordnungen hinweg. Der Begriff der Information ist ein sehr weiter und eine exakte Definitionsarbeit würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Für unsere Zwecke sei Information definiert als die Verringerung von Ungewissheit im Entscheidungsprozess des Übersetzers. Zur Problemlösung (Verstehen des Ausgangstextes, Abwägen der Translationsparameter, Produktion des Zieltextes) braucht der Übersetzer vor allem sprachliche und begriffliche Information zu den beteiligten Rechtsordnungen. Zusätzlich braucht der Übersetzer zur Durchführung seiner Aufgabe informationelles Meta-Wissen, das ihm potentielle Informationsquellen erschließt. Unter diesen Begriff fällt auch die Fähigkeit, selbst geeignete Informationssysteme zu erstellen, d.h. selbst projektorientiert Terminologiearbeit im Recht zu leisten. Die fachliche Informationsverarbeitung stammt als Begriff aus dem Dokumentations- und Bibliothekswesen und setzt sich primär zum Ziel, „ihre Nutzer mit dem Nachweis von fachlichem Wissen (etwa im Gegensatz zu Alltagswissen oder Erfahrungswissen) zu versorgen“19. Fachliches Wissen wird in diesem Zusammenhang als ein Spezialfall von Information aufgefasst, als „faktisches, 18 Vgl. P. Sandrini, Übersetzung von Rechtstexten: Die Rechtsordnung als Kommunikationsrahmen, in: L. Lundquist/H. Picht/J. Qvistgaard (Hrsg.), LSP – Identity and Interface. Research, Knowledge and Society. Proceedings of the 11th European Symposium on Language for Special Purposes, Copenhagen 1998, S. 867 f.
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intersubjektiv nachvollziehbares Wissen, [. . .] welches in Form eines Dokuments verfügbar ist“20. Solche Dokumente werden vom Informationspezialisten aufbereitet, um das darin enthaltene Wissen in entsprechender Form an fachliche Tätige weiterleiten zu können. Adressat dieser Informationsarbeit ist nicht das allgemeine Publikum, sondern der „fachlich Tätige, dem durch die Vermittlung von Informationen, die außerhalb seines eigenen Kopfes verfügbar sind, geholfen werden kann, ein Problem in seiner Arbeit, seines Alltags oder seines Interesses zu bewältigen“21. Die Informationsarbeit zielt beim Adressaten somit auf eine zielgerichtete Veränderung seines Wissensstandes ab und kann dadurch, wenn auch nur unscharf, von Informationsvermittlung für andere allgemeinere Zwecke, z. B. Meinungsbildung, politisches Bewusstsein etc., abgegrenzt werden. Der fachlich Interessierte Benutzer verlangt Wissen, das er in aktuellen Problemsituationen verwenden kann. Damit wird Information zu kontextualisiertem Wissen, also handlungsrelevantes oder in Aktion gebrachtes Wissen. Recht kann als ein Informationssystem aufgefasst werden: Sachverhalte des konkreten Lebens werden auf ein abstraktes Normensystem projiziert, d.h. abstraktes Wissen über Normen, Regelwerke und Entscheidungen wird zur Problemlösung eingesetzt. Ohne umfassendes Informationsmanagement sind fachkommunikative Vorgänge im Recht nicht denkbar. Während die Verwaltung des nötigen Wissens auf traditionelle Weise in Bibliotheken, Akten oder umfassenden Dokumentationen erfolgt, gewinnen zunehmend computergestützte Verfahren an Bedeutung: Rechtsinformationssysteme, Prozessunterstützungssysteme (litigation systems) und Online-Datenbanken. Diese elektronischen Hilfen haben das Ziel, den Benutzer über den Einsatz und die Verwendung der einzelnen Normen und Begriffe aufzuklären. Die rechtliche Wirkung sowie die juristischen Auswirkungen einer Norm, eines Urteils oder eines Rechtstextes im Allgemeinen stehen dabei im Mittelpunkt. Der Translator kann nun als eine besondere Form eines Benutzers gesehen werden: Hier steht nicht eine fallspezifische Problemlösung im Vordergrund, sondern der Translationsprozess selbst stellt die zu lösende Aufgabe dar. Unbestreitbar bedarf der Translator dazu spezifischen Fachwissens, das ihm – in entsprechender Form aufbereitet und zur Verfügung gestellt – den Translationsprozess erst ermöglicht bzw. erleichtert. 19 T. Seeger, Grundbegriffe der Information und Dokumentation, in: M. Buder/W. Rehfeld/T. Seeger/D. Strauch (Hrsg.), Grundlagen der praktischen Information und Dokumentation, München 1997, S. 11. 20 H.-J. Manecke/T. Seeger, Zur Entwicklung der Information und Dokumentation in Deutschland, in: M. Buder/W. Rehfeld/T. Seeger/D. Strauch (Hrsg.), Grundlagen der praktischen Information und Dokumentation, München 1997, S. 17. 21 H.-J. Manecke/T. Seeger, Zur Entwicklung der Information und Dokumentation in Deutschland, in: M. Buder/W. Rehfeld/T. Seeger/D. Strauch (Hrsg.), Grundlagen der praktischen Information und Dokumentation, München 1997, S. 17.
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In der translationswissenschaftlichen Forschung stand meist der terminologisch-begriffliche Aspekt im Vordergrund der Diskussion über Wissensfragen im Recht. Im Folgenden wird dieser Aspekt zwar in seiner Bedeutung anerkannt, aber zugunsten anderer Aspekte etwas in den Hintergrund gestellt. Zentral im Translationsprozess ist der Text. Merkmale und Anwendung einer wissensorientierten translationsrelevanten Textverarbeitung im Recht sollen im Folgenden dargestellt werden. IV. Wissen und Textsorte Zunächst soll der Zusammenhang zwischen Textsorte und rechtlichem Wissen angeschnitten werden, um dann in der Folge die Art des erforderlichen Wissens zu bestimmen. Die Art des Textes, der als Ausgangstext zum Gegenstand des Translationsprozesses wird, liegt in seiner Funktion als Rechtstext und damit Teil eines kommunikativen Problemlösungsprozesses begründet. Der enge Zusammenhang zwischen Textsorte und Textfunktion wurde u. a. auch von Nord22 betont: Textsorte sei „das Realisat bestimmter (kommnunikativer) Handlungstypen oder, wie Schmidt (1975, 59) es ausdrückt, ,Typen soziokommunikativen Handelns‘. Der Begriff der Textfunktion bezieht sich also nach meinem Verständnis auf die situationelle Komponente, während der Begriff der Textsorte auf die strukturelle Komponente des Textes-in-Funktion abzielt.“23
Damit kann besonders im Recht die rechtliche Wirkung des Textes mit der primären Funktion gleichgestellt werden, wodurch die hervorragende Bedeutung des rechtlichen Wissens akzentuiert wird. Auf einer abstrakten Ebene können im Recht im Wesentlichen drei Texttypen unterschieden werden. Ein Beispiel einer solchen Dreiteilung ist Becker-Mrotzeks Modell, das zwar für die Verwaltungssprache erstellt wurde, aber sehr leicht auf das Recht ausgedehnt werden kann. Der Autor geht darin vom Verwaltungshandeln als der „Bearbeitung von Wissen zum Zwecke der Planung und Überwachung“24 aus, die einzelnen Textarten übernehmen Teilzwecke. Darüber hinaus stehen „für verschiedene Stadien der Wissensbearbeitung je eigene Textarten“25 zur Verfügung. Entsprechend unterscheidet dieses Modell zwischen wissensregulierenden Texten und wissensdarstellenden Texten: 22
C. Nord, Textanalyse und Übersetzen, Heidelberg 1991. C. Nord, Textanalyse und Übersetzen, Heidelberg 1991, S. 79. 24 M. Becker-Mrotzek, Die Sprache der Verwaltung als Institutionensprache, in: L. Hoffmann/H. Kalverkämper/H. Wiegand (Hrsg.), Fachsprachen: ein internationales Handbuch zur Fachsprachenforschung und Terminologiewissenschaft, 2. Halbband, Berlin/New York 1998, S. 1395. 25 M. Becker-Mrotzek, Die Sprache der Verwaltung als Institutionensprache, in: L. Hoffmann/H. Kalverkämper/H. Wiegand (Hrsg.), Fachsprachen: ein internationales 23
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– „Wissensregulierende Texte: Das sind Texte, die das Verwaltungshandeln vorab festlegen wie Gesetze, Verwaltungsvorschriften oder Dienstanweisungen. Sie sind insofern wichtig, als sie häufig in anderen Textarten zitiert, paraphrasiert oder erwähnt werden; – Wissensverarbeitende Texte: Das sind alle schriftlichen Äußerungen, die im Laufe eines Bearbeitungsprozesses entstehen und der verwaltungsinternen Wissensfindung dienen. Eine zentrale Form ist die Verwaltungsakte mit ihren Subarten, die den Bearbeitungs- und Entscheidungsprozess dokumentiert. [. . .] Wichtiger Bestandteil der Akte ist das Formular, das eine wichtige Schnittstelle in der Bürger-, Verwaltungs-Kommunikation darstellt. – Wissensdarstellende Texte: Das sind alle Texte, die in irgendeiner Form die Ergebnisse des Verwaltungshandelns enthalten und die einheitliche Verwaltungsmeinung darstellen. Zu den häufigsten zählen sicherlich die Bescheide als hoheitliche Verwaltungsakte, die Leistungen fordern oder gewähren (Steuerbescheid, Sozialhilfebescheid, Nutzungserlaubnis) [. . .]“26
Das Verwaltungshandeln nach Becker-Mrotzek lässt sich auf das Rechtshandeln im Allgemeinen ausdehnen, wo auf einer sehr abstrakten Ebene von Bearbeitung von Wissen zum Zwecke sozialer Verhaltenssteuerung gesprochen werden kann. Ebenso kann dieses Schema relativ einfach mit der allgemein üblichen Einteilung von Rechtstexten nach Rechtssetzung, Rechtswesen und Rechtsverwaltung durchaus zu einem einheitlichen Schema verbunden werden. Dennoch erlaubt der Gesichtspunkt der Wissensverarbeitung neue Einblicke in die Anforderungen der Arbeit mit Rechtstexten im Allgemeinen sowie der Arbeit des Übersetzers im Besonderen. Wissensregulierende bzw. primäre rechtssetzende Texte stellen die größten Anforderungen an den Übersetzer, da einerseits eine korrekte Textinterpretation, andererseits aber auch die Erstellung eines Zieltextes mit denselben rechtlichen Auswirkungen gefordert ist. Unmittelbare Rechtswirkung haben wissensverarbeitende Texte zwar nicht: Sie dienen der näheren Wissensverarbeitung und umfassen Rechtspflege und -anwendung sowie Rechtswissenschaft. In diesem Sinne vertiefen und explizieren sie das in den regulierenden Texten enthaltene Wissen. Die wissensdarstellenden Texte schließlich fassen Texte zusammen, die den Umgang mit rechtlichem Wissen dokumentieren: Verwaltung im Sinne der Kommunikation über rechtliche Inhalte in Institutionen und Behörden. Das für den Translator erforderliche Wissen umfasst damit zunächst die Zugehörigkeit des Ausgangstextes zu einer dieser drei Gruppen. Innerhalb der skizzierten rechtlichen Texttypen muss der Ausgangstext danach einer bestimmHandbuch zur Fachsprachenforschung und Terminologiewissenschaft, 2. Halbband, Berlin/New York 1998, S. 1395. 26 M. Becker-Mrotzek, Die Sprache der Verwaltung als Institutionensprache, in: L. Hoffmann/H. Kalverkämper/H. Wiegand (Hrsg.), Fachsprachen: ein internationales Handbuch zur Fachsprachenforschung und Terminologiewissenschaft, 2. Halbband, Berlin/New York 1998, S. 1396.
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ten Textsorte, und damit einem bestimmten rechtlichen Handlungstypus bzw. einer Kommunikationssituation im Recht zugeordnet werden. Nach diesen beiden Schritten der Textzuordnung kann der Translator zum inhaltlichen Verständnis des Ausgangstextes übergehen. V. Translationsspezifische Textinterpretation Unbestritten stellt die Erschließung der Bedeutung des Ausgangstextes eine wichtige Voraussetzung für jede Translation dar. Das Erkennen und Festlegen der rechtlichen Wirkung eines Textes ist Forschungsgegenstand der Rechtswissenschaft. Interpretation ist „ein vermittelndes Tun, durch das sich der Auslegende den Sinn eines Textes, der ihm problematisch geworden ist, zum Verständnis bringt. Problematisch wird dem Anwender der Normtext in Hinblick auf die Anwendbarkeit der Norm gerade auf einen derartigen Sachverhalt“27.
Natürlich ist es nicht Aufgabe des Übersetzers, durch seine Interpretation des Ausgangstextes den Anwendungsbereich einer Norm festzulegen. Dennoch hängt von seiner Übertragung in eine andere Sprache die potentielle Anwendbarkeit des Zieltextes ab. Anders ausgedrückt: Die Produktion des Zieltextes beeinflusst in entscheidender Weise dessen Interpretationspotential. Der Übersetzer muss also versuchen, den Zieltext sprachlich so zu gestalten, dass er möglichst genau die Anwendbarkeit des Ausgangstextes wiederspiegelt, sofern der Übersetzungsauftrag nichts anderes vorsieht. Gerade bei Texten des EU-Rechts muss der Zieltext denselben Anwendungsbereich besitzen wie der Ausgangstext. Das Verständnis und damit auch die unmittelbare rechtliche Interpretation des Textes kann jedoch durch die aus der nationalen Rechtsordnung gewohnten Interpretationsregeln sowie durch die verwendete Rechtssprache missverstanden werden. Jede Rechtsordnung hat dafür auch eigene Normen hervorgebracht, durch die der Interpretationsvorgang gesteuert werden soll: So z. B. § 6 des österreichischen ABGBs oder Artikel 12 des italienischen Zivilgesetzbuches („senso delle parole ed intenzione del legislatore“). Dieser Vorgang ist bereits für die Rechtswissenschaft problematisch und verschiedenen Parametern unterworfen, die sich in den von der Rechtswissenschaft allgemein anerkannten Interpretationsregeln wiederspiegeln28: 1) Der Wortsinn, wobei hier aber vor allem die juristisch fachsprachliche Bedeutung des Textes im Vordergrund steht; 2) die Absicht des historischen Gesetzgebers: Wie ist es historisch zu diesem Gesetz gekommen? Und 3) die objektiv-teleologische Interpretation bzw. die Zielvorstellung des Gesetzes im systematischen Zusammenhang, auch „ratio legis“ genannt. 27 28
K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, Heidelberg 1992, S. 200. Vgl K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, Heidelberg 1992, S. 208 f.
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Interpretation und Auslegung gehören zur Domäne der Rechtswissenschaft. Die Frage nach der Bedeutung eines Rechtstextes ist Gegenstand zahlreicher rechtslinguistischer Untersuchungen29 und Diskussionen. Während die Rechtswissenschaft nach der rechtlichen Wirkung des Textes fragt, bleibt der Begriff der Bedeutung eines Rechtstextes relativ offen. Für den Translator rückt die rein sprachliche Bedeutung des Ausgangstextes in den Hintergrund; primär ist für ihn zweifellos die Kommunikationsfunktion des Zieltextes, die sich aus der rechtlichen Kommunikationssituation des Ausgangstextes ergibt. Translationsspezifische Textanalysekriterien wurden ausführlich beschrieben: Nach dem traditionellen Kanon30 werden textexterne und textinterne Faktoren unterschieden. Erstere eruieren die Funktion des Textes mit den Fragen nach dem Textproduzenten, seiner Intention und dem Empfänger des Textes sowie nach dem Medium, dem Ort der Zeit und nach dem Kommunikationsanlass. Die textinternen Faktoren beruhen auf Thematik, Inhalt, Präsuppositionen, Aufbau, Lexik, Syntax, nonverbale Elemente und suprasegmentale Merkmale des Textes. Beide Arten von Faktoren bestimmen gemeinsam die Wirkung des Textes. Sie lassen sich mühelos auch auf Rechtstexte anwenden. „,Übersetzungsrelevant‘ wird das Verfahren jedoch auch dadurch, dass es nicht nur (retrospektiv) zur Analyse des AT-in-Situation, sondern auch (prospektiv) zur Analyse des ZT-in-Funktion dient. [. . .] Nur so kann geprüft werden, ob und, wenn ja, in welchem Masse und in welcher Weise ein AT bei der Translation ,bearbeitet‘ werden muss.“31
Neben der Frage nach der Bearbeitung des Zieltextes, die sich aus einer Funktionsänderung ergeben kann, ist für Rechtstexte vor allem die prospektive rechtliche Wirkung des Zieltextes ausschlaggebend. Sie hängt wiederum entscheidend vom Interpretationspotential des Textes ab. Rechtliches Wissen setzen alle die genannten Faktoren voraus. Insgesamt ergibt sich jedoch die Notwendigkeit, die Einbettung des Ausgangstextes in einen fachkommunikativen Vorgang zu analysieren und diesen systematischen Bezug auf den Zieltext zu projizieren. Fundiertes juristisches und institutionelles Wissen erleichtert diese Aufgabe. Die textinternen Faktoren setzen neben dem Fachwissen vor allem fachsprachliches Wissen voraus: Welche sprachlichen Mittel werden für diesen Text eingesetzt? Gibt es Abweichungen gegenüber der Norm? Welche sprachlichen Mittel werden für diese Textsorte in der Zielsprache eingesetzt? Was wird im Ausgangstext an Fachwissen vorausgesetzt, das 29 Vgl. u. a. F. Müller, Untersuchungen zur Rechtslinguistik. Interdisziplinäre Studien zu praktischer Semantik und Strukturierender Rechtslehre in Grundfragen der juristischen Methodik, Berlin 1989; R. Christensen, Was heißt Gesetzesbindung. Eine rechtslinguistische Untersuchung, Berlin 1989; G. Cornu, Linguistique juridique, Paris 1990. 30 C. Nord, Textanalyse und Übersetzen, Heidelberg 1991, S. 41. 31 C. Nord, Textanalyse und Übersetzen, Heidelberg 1991, S. 267.
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für eine korrekte Interpretation notwendig ist und soll dieses im Zieltext soweit als möglich explizit gemacht werden? Das sind nur einige der Fragen, die sich aus der Textanalyse ergeben können. Die Notwendigkeit eines fundierten juristischen Fachwissens ergibt sich u. a. auch aus der besonderen Intertextualität normativer Rechtstexte: Was im Text explizit nicht genannt wird, implizit aber vorausgesetzt wird, verweist meist auf andere Rechtstexte (Rechtsquellen, Entscheidungen u. ä.), deren Kenntnis für ein korrektes Verständnis unerlässlich ist. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der Gegenstand des Transfers nicht der Text mit seiner kaum zu fassenden Bedeutung im abstrakten linguistischen Sinn ist, sondern der Text mit seiner rechtlichen Wirkung in der konkreten fachkommunikativen Situation.
VI. Wissenserwerb Aus dem bisher Gesagten können als Voraussetzungen für eine erfolgreiche Übersetzung von Rechtstexten folgende Faktoren genannt werden: Terminologisches Wissen, Wissen um Textsorten (Makrostruktur, Textfunktion), methodisches Wissen (rechtswissenschaftlicher und translationswissenschaftlicher Art) sowie Wissen um Rechtsinhalte und Unterschiede zwischen den beteiligten Rechtsordnungen. Dieses Wissen muss für den Translator verfügbar sein: Entweder in Form einer gründlichen Vorbereitung und Ausbildung und damit Speicherung im Kopf oder aber in Form von schnell und leicht zugänglichen Recherchesystemen. In der Praxis wird das Wissen des Translators sich aus beiden Komponenten zusammensetzen. Eine gründliche Vorbereitung und Ausbildung bildet die Grundlage dafür, dass zusätzlich recherchiertes Wissen überhaupt richtig zugeordnet werden kann. Eine translatorische Ausbildung für die Übersetzung von Rechtstexten müsste folgende Komponenten abdecken können: a) Rechtliches Hintergrundwissen in allen beteiligten Rechtsordnungen und juristisches Fachdenken einschließlich juristischer Methodik (Fachkompetenz); b) methodisch-prozedurales Wissen (Translationskompetenz); c) fachsprachliches Wissen: Terminologie, Phraseologie, Textsorten im Recht mit vergleichendem Wissen um Besonderheiten und Spezifika in den beteiligten Rechtsordnungen (Sprachkompetenz); d) technologisches Wissen (IuK-Kompetenz). Die systematische und integrative Vermittlung dieser Kompetenzen32 im Rahmen einer spezifischen Rechtsübersetzerausbildung vermittelt zwar die Fähigkeit, sich in die fachkommunikativen Prozesse hineinzuversetzen und die grund-
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legende Funktionsweise zu verstehen; sie kann aber realistischerweise kein umfassendes und vollständiges Wissen garantieren. Als Ergänzung bedarf es der Fähigkeit, diesen Grundstock an Wissen immer wieder auszubauen und zu aktualisieren. Aus diesem Grund wird die Informations- und Kommunikationskompetenz (IuK) immer wichtiger. Das Beherrschen moderner computergestützter Werkzeuge erlaubt dem Übersetzer auf fachspezifische Informationsbestände zuzugreifen und eigene Informationssammlungen aufzubauen. Während der Zugriff auf solche fachspezifischen Sammlungen noch vor wenigen Jahren relativ aufwändig sein konnte, erleichtern heute moderne computergestützte Arbeitsplätze die Suche. Das World-Wide-Web hat sich in den letzten Jahren auch im Bereich Recht zu einer integrativen Plattform der Informationsrecherche entwickelt. Im Folgenden geht es nicht darum, eine Linksammlung anzubieten, sondern Beispiele von Informationssammlungen aufzuzeigen, die ein juristischer Fachübersetzer kennen sollte. Die wichtigste Recherchemöglichkeit stellen Rechtsinformationssysteme dar, die es erlauben Rechtsquellen, Urteile oder auch Kommentare über eine Schlagwortsuche zu erschließen. Die Datenbank Juris (http://www.juris.de) bietet z. B. eine umfassende Suchmöglichkeit in Bundes- und Länderrecht, Urteile können mit Metalaw (http://metalaw.de) recherchiert werden und das Forum deutsches Recht (http://www.recht.de) stellt mit zahlreichen Links in allen Teilgebieten des Rechts eine wertvolle Dokumentationsstelle dar. In Österreich sind vergleichbare Onlinedatenbanken u. a. das Rechtsinformationssystem des Bundes RIS (http://www.ris.bka.gv.at) und die Rechtsdatenbank (http://www.rdb.at). Für das Gemeinschaftsrecht stellen EUR-Lex (http://europa.eu.int/eur-lex) mit dem Amtsblatt der EU, Verträgen und geltendem Gemeinschaftsrecht, CELEX (http://europa.eu.int/celex) mit den Normen und Urteilen im Volltext, PreLex (http://europa.eu.int/prelex) mit der Dokumentation des Rechtssetzungsprozesses der EU die wohl wichtigsten Quellen dar. Rechtsinformationssysteme und Rechtsdatenbanken dienen dem Übersetzer dazu, auf möglichst aktuelles Fachwissen, d.h. Rechtsquellen, Kommentare zu Gesetzen, Dokumentationen zu Gesetzgebungsverfahren, rechtswissenschaftliche Meinungen etc., zugreifen zu können. Der Fachübersetzer sollte sich grundsätzlich über alle Möglichkeiten, die einem ausgebildeten Juristen zur Verfügung stehen, Bescheid wissen und sie auch anwenden können. Neben diesen inhaltlich-fachlichen Informationsmöglichkeiten können vor allem sprachliche Informationen die Übersetzungsarbeit erleichtern. Dabei geht es aber nicht darum, sprachliche Information von inhaltlicher Information zu tren32 Vgl. dazu R. Arntz, Fachbezogene Mehrsprachigkeit in Recht und Technik, Hildesheim 2001, S. 337.
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nen, sondern darum, den Zugriff auf sprachliche Informationen zu erleichtern. Wenn der Zugriff auf rechtliche Inhalte über die Sprache erfolgt (Suche über Schlagwörter, Deskriptoren, Klassifikationen oder Volltextsuche), wäre für den Übersetzer der Zugriff auf sprachliche Informationen auch über inhaltliche Fachbereichsgliederungen sinnvoll. Auf diese Weise könnten etwa Textsortenbeschreibungen oder Terminologien einzelner Rechtsbereiche nach Rechtsordnungen eine große Hilfe darstellen. Die in grosser Menge zur Verfügung stehenden Rechtstexte müssten dazu entsprechend aufbereitet und geeignete Abfragemöglichkeiten zur Verfügung gestellt werden: Beschreibung von Korpora, Parallelkorpora, Textsortendatenbanken. Eine Erweiterung der heute verfügbaren Terminologiedatenbanken durch wissensreiche Datenkategorien würde ihren translationsspezifischen Wert erhöhen und Terminologieinformationssysteme entstehen lassen.33 Ein TerminologieInformationssystem vereinigt das sprachliche Wissen mit dem inhaltlich-begrifflichen Wissen und bietet darüber hinaus strukturiertes Wissen zum betreffenden Fachgebiet. Einzelne Datenkategorien der terminologischen Einheit (Eintrag oder Wörterbuchartikel), die aufgrund der onomasiologischen Ausrichtung stets alle Informationen zu einem Begriff vereint, nehmen Wissen zu den Benennungen auf: grammatische Information, geographische Verwendung, phraseologische Information, u. v. m. Dieses sprachliche Wissen zu den Benennungen eines Begriffs wird ergänzt durch die Datenkategorien zur Dokumentation des Begriffes selbst: Definition, Kontextangaben, graphische Begriffsdarstellung. Die Einordnung des Begriffs in ein Begriffssystem des Fachgebietes wird durch die Datenkategorien zu den Begriffsbeziehungen wiedergegeben: Oberbegriff, Nebenbegriff, Unterbegriff, Teil, Ganzes, usw. Die Begriffsbeziehungen geben die Mikrostruktur des gewählten Fachgebietes wieder, während auf einer allgemeineren Ebene Klassifikationsangaben die Zuordnung des Begriffs zu einem Fachbereich ausdrücken. Diese wissenstragenden Datenkategorien verursachen bei der systematischen Bearbeitung eines Fachgebietes zwar einen höheren Aufwand, doch macht sich dieser durch eine bessere Verwertbarkeit der terminologischen Daten bezahlt. Für die systematische Terminologiearbeit im Recht ist die Erarbeitung solcher wissensreicher Einträge sogar notwendig, um dem Übersetzer von Rechtstexten die nötigen Informationen liefern zu können. Insbesondere bedarf es für die Rechtsterminologie folgender Zusatzinformationen: Angabe der Rechtsordnung, aus welcher der Begriff stammt, Angabe des Teilfachgebietes, auf das sich die Definition bezieht, Angabe der wichtigsten Rechtsquellen, in denen dieser Begriff beschrieben wird.
33 Vgl. H. Picht, Wissensrepräsentation in Terminologiedatenbanken, in: G. Budin/ E. Oeser (Hrsg.), Beiträge zu Terminologie und Wissenstechnik, Wien 1993, S. 209.
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Für den Übersetzer geht es vor allem darum, die spezifischen Parameter der Übersetzungssituation zu erkennen und entsprechend seine Entscheidungen auszurichten. Terminologie-Informationssysteme liefern ihm die dazu nötige Information. Für die Praxis gilt es, die Eintragsstrukturen von juristischen Fachwörterbüchern und Terminologiedatenbanken durch wissensreiche Datenkategorien zu ergänzen und eine entsprechende, begriffsorientiert ausgerichtete Methodik der Terminologiearbeit zu propagieren. Die traditionelle lexikographische Arbeitsweise bei der Erstellung von juristischen Fachwörterbüchern und teilweise auch terminologischen Datenbanken soll dadurch für die Benutzung durch Übersetzer verbessert werden. Solche Terminologie-Informationssysteme tragen dazu bei, den Übersetzer in seiner Entscheidungskompetenz zu unterstützen, und andererseits auch die (immer noch) verbreitete Technologie-Euphorie im Bereich der Übersetzung ins rechte Licht zu rücken. Denn nicht der bisher kläglich gescheiterten vollautomatischen Maschinenübersetzung gehört die Zukunft, sondern umfassend ausgebildeten Humanübersetzern mit weitestgehender Unterstützung durch die Maschine.
Empirische Aspekte der zweisprachigen Redaktion von Rechtserlassen Gérard Caussignac I. Einleitung Zum besseren Verständnis der nachfolgenden Ausführungen zur zweisprachigen Redaktion von Rechtserlassen hier zunächst einige Informationen über den Kanton Bern, seine Behörden und sein Rechtsetzungsverfahren.1 1. Staatsebenen
Die Schweiz kennt drei staatliche Ebenen: Bund, 26 Kantone (davon sechs Halbkantone) und rund 2900 Gemeinden. Der Kanton Bern ist in 26 Amtsbezirke und 400 Gemeinden gegliedert. Die Amtsbezirke sind Verwaltungseinheiten, die durch das Gesetz bezeichnet werden. 2. Kennziffern zum Kanton Bern
Der Kanton Bern weist eine Fläche von knapp 6000 km2 auf und zählt etwas weniger als eine Million Einwohner. Davon sind 84 Prozent deutsch- und 8 Prozent französischsprachig. In der überwiegenden Mehrheit gehören sie der evangelisch-reformierten Landeskirche an. 18 Prozent sind römisch-katholischer und 0,13 Prozent altkatholischer Konfession. Die drei wichtigsten Städte sind Bern als Haupt- und Bundesstadt (im Mittelland), Biel (auf Französisch Bienne, im Seeland) und Thun (im Oberland). Im Norden des Kantons befindet sich der aus drei Amtsbezirken bestehende Berner Jura, der französischsprachige Teil des Kantons. An ihn grenzt der Amtsbezirk Biel, der als einziger im Kanton zweisprachig ist. Der übrige Teil des Kantons (22 Amtsbezirke) ist deutschsprachig.
1 Ich danke ganz herzlich Frau Donatella Pulitano, Terminologin, Leiterin des Zentralen Terminologiedienstes, und Herrn Renato Folli, Übersetzer und Terminologe im Amt für Sprachen- und Rechtsdienste, für die redaktionelle Bearbeitung dieses Referats und für ihre wertvollen Hinweise.
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Gérard Caussignac 3. Behördenorganisation im Kanton Bern
Die Kantonsverfassung schreibt den Grundsatz der Gewaltenteilung vor2. Oberstes Legislativorgan ist das Volk. Das Kantonsparlament heißt Großer Rat und zählt 200 Mitglieder3. Die Exekutive (Kantonsregierung oder Regierungsrat) besteht aus sieben Mitgliedern. Jedes Regierungsratsmitglied steht einer Verwaltungsdirektion (Ministerium) vor. Als Stabsstelle von Parlament und Regierung fungiert die Staatskanzlei, die eine direktionsähnliche Stellung genießt und vom Staatsschreiber geleitet wird. Die Judikative besteht aus zwei Kantonsgerichten (Obergericht und Verwaltungsgericht).4 II. Zweisprachigkeit des Kantons Bern 1. Verfassungsgrundlagen
Die Zweisprachigkeit des Kantons Bern beruht auf der Verfassung:5 Artikel 6 Absatz 1 KV Das Deutsche und das Französische sind die bernischen Landes- und Amtssprachen.
Absatz 2 enthält das Territorialitätsprinzip, das die Sprachgrenzen im Kanton festgelegt. Biel gilt kraft Kantonsverfassung als zweisprachiger Amtsbezirk (Bst. B). Eine Aufweichung des Territorialitätsprinzips ist nach Absatz 3 zugelassen, sofern sie sich zu Gunsten der Sprachminderheit auswirkt (z. B. französische Schule im deutschsprachigen Amtsbezirk Bern). Absatz 4 regelt die Amtssprache, d.h. die Sprache, derer sich die Bürgerinnen und Bürger im Verkehr mit den kantonalen Behörden bedienen dürfen. Auf kantonaler Ebene sind es die beiden Amtssprachen, auf Amtsbezirksebene ist es die Amtssprache nach Absatz 2. Der Kanton Bern liegt an der Sprachgrenze zwischen der Deutschschweiz und der französischsprachigen Westschweiz und versteht sich deshalb als Verbindungsglied zwischen diesen beiden Teilen der Eidgenossenschaft. Die Kantonsverfassung verankert dies auch in Artikel 2 Absatz 2. 2 Vgl. Artikel 66 der Kantonsverfassung vom 6.6.1993 (KV), in: Bernische Systematische Gesetzessammlung, BSG 101.1 (http://www.sta.be.ch/belex/d/home.htm). 3 Mit Beginn der nächsten Legislatur, d.h. ab 2006, wird der Große Rat nur noch 160 Mitglieder zählen. 4 Das Obergericht beurteilt Zivil- und Straffälle, das Verwaltungsgericht verwaltungsrechtliche und sozialversicherungsrechtliche Streitigkeiten. Beide urteilen als oberste kantonale Instanz. 5 W. Kälin/U. Bolz (Hrsg.), Handbuch des Bernischen Verfassungsrechts, Bern 1995, S. 245.
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Artikel 5 KV gewährt dem Berner Jura als Minderheitsregion eine besondere Stellung. Diese soll es dem Berner Jura ermöglichen, seine Identität zu bewahren, seine sprachliche und kulturelle Eigenart zu erhalten und aktiv an der kantonalen Politik teilzunehmen (Art. 5 Abs. 1 KV). Der Kanton hat auch Vorkehrungen zu treffen, um die Verbundenheit zwischen dem Berner Jura und dem übrigen Kanton zu stärken (Art. 5 Abs. 2 KV). Konkret handelt es sich um Anhörungs- und Antragsrechte (politische Mitwirkungsrechte), die einem regionalen Organ, dem Regionalrat, durch Gesetz zugestanden werden. Die französischsprachige Bevölkerung des Amtsbezirks Biel genießt als Minderheit einen besonderen Schutz auf Grund von Artikel 4 KV. Die Welschbielerinnen und Welschbieler6 besitzen die gleichen Mitwirkungsrechte wie die Welschen des Berner Juras und sind demnach im Regionalrat vertreten. Der Regierungsrat arbeitet zurzeit an einer Erweiterung dieser Rechte für den Berner Jura, damit dem regionalen Organ u. a. auch Entscheidungsbefugnisse (Erlass von Verfügungen und Ausgabenbewilligungen) eingeräumt werden können. Für die französischsprachige Bevölkerung des Amtsbezirks Biel ist die Schaffung einer besonderen Institution vorgesehen.7 2. Rechtsetzung und Veröffentlichung von Erlassen
Auf Grund der Zweisprachigkeit des Kantons Bern gilt im Bereich der Rechtsetzung und der Veröffentlichung von Erlassen, dass alle Erlasse in beiden Amtssprachen verfasst werden müssen (Art. 1 Abs. 2 des Publikationsgesetzes vom 18.1.1993 [PuG]) und dass beide Sprachfassungen in gleicher Weise verbindlich sind (Art. 11 Abs. 1 PuG)8: Artikel 1 Absatz 2 Sie [Die Bernische Amtliche Gesetzessammlung (BAG)] erscheint periodisch in beiden Amtssprachen. Artikel 11 Absatz 1 Die deutsche und die französische Fassung der in der Bernischen Amtlichen Gesetzessammlung veröffentlichten kantonalen Erlasse sind in gleicher Weise massgebend.
6
Welsch = französischsprachig. Der Regierungsrat hat den Entwurf eines Gesetzes über das Sonderstatut des Berner Juras und die französischsprachige Minderheit des zweisprachigen Amtsbezirks Biel (Sonderstatutsgesetz, SStG) Ende Juni 2003 in die Vernehmlassung geschickt (zum Begriff der Vernehmlassung vgl. Abschnitt III.2 f.). 8 BSG 103.1. 7
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III. Rechtsetzungsverfahren 1. Erlassarten
Die Erlasse des Kantons Bern können in zwei große Kategorien eingeteilt werden: – Erlasse des Großen Rates, d.h. Verfassungsänderungen (obligatorische Volksabstimmung), Gesetze (fakultative Volksabstimmung)9 und Dekrete (keine Volksabstimmung); – Erlasse des Regierungsrates, d.h. Verordnungen und Direktionsverordnungen. 2. Phasen der Entstehung eines Gesetzes
Als Muster für das Rechtsetzungsverfahren wird das Verfahren für den Erlass eines Gesetzes betrachtet. Es umfasst die folgenden fünf Phasen: – Initiativphase, – Ausarbeitungsphase (Vorverfahren), – Überprüfungsphase (parlamentarisches Verfahren), – Nachentscheidphase, – In-Kraft-Treten. a) Initiativphase Ein Rechtsetzungsverfahren wird durch einen Beschluss des Regierungsrates, einen parlamentarischen Vorstoß (Motion, Postulat), eine Volksinitiative, eine parlamentarische Initiative oder auf Grund von neuem oder geänderten Bundesrecht ausgelöst. b) Ausarbeitungsphase (Vorverfahren) Dieser Verfahrensschritt beginnt mit dem Ausarbeiten eines Entwurfs durch die Verwaltung. Der Entwurf wird dann in die Vernehmlassung geschickt, d.h. er wird den politischen Parteien, den Direktionen der Verwaltung, den kantonalen Gerichten, den größeren Gemeinden, den Arbeitnehmer- und Arbeitergeberverbänden sowie weiteren interessierten Vereinigungen und Institutionen zur Stellungnahme unterbreitet. 9 Obligatorische und fakultative Volksabstimmung werden manchmal auch obligatorisches bzw. fakultatives Referendum genannt.
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Die eingegangenen Stellungnahmen werden ausgewertet, und der Entwurf wird dann auf Grund der Ergebnisse überarbeitet. Bevor die zuständige Direktion den Entwurf dem Regierungsrat zum Beschluss unterbreitet, legt sie ihn der Redaktionskommission10 zur Prüfung vor. Nach der Beratung in der Redaktionskommission bereinigt die zuständige Direktion ihren Entwurf und leitet ihn dem Regierungsrat zum Beschluss zum Antrag des Regierungsrates weiter. c) Überprüfungsphase (parlamentarisches Verfahren) Bevor der Große Rat den regierungsrätlichen Antrag berät, setzt er eine parlamentarische Kommission ein, welche die Vorlage vorzuberaten hat. Die Kommission kann den Antrag ablehnen, zurückweisen oder ändern. Sie entscheidet nicht endgültig, sondern stellt dem Großen Rat entsprechend einen Antrag. Der Regierungsrat nimmt dazu Stellung; entweder schließt er sich den Anträgen der Kommission an oder er lehnt einzelne davon ab. Daraus entsteht der Gemeinsame Antrag des Regierungsrates und der Kommission, der dem Plenum des Großen Rates zur ersten Lesung unterbreitet wird. Das Ergebnis der ersten Lesung geht zur Beratung in die parlamentarische Kommission und dann wie schon vor der ersten Lesung, in den Regierungsrat. Auch der Gemeinsame Antrag des Regierungsrates und der Kommission für die zweite Lesung wird von der Redaktionskommission geprüft, bevor er an den Großen Rat verschickt wird. Am Schluss der zweiten Lesung stimmt der Große Rat über die Vorlage ab (Schlussabstimmung). d) Nachentscheidphase Nach der Schlussabstimmung im Parlament wird das Gesetz veröffentlicht. Ab diesem Zeitpunkt läuft die Referendumsfrist: Binnen dreier Monate können 10 000 Stimmberechtigte mit ihrer Unterschrift verlangen, dass das Gesetz dem Volk zur Abstimmung unterbreitet wird. Sie können auch einen Gegenvorschlag, den Volksvorschlag11, einreichen. Kommt das Referendum oder der Volksvorschlag zu Stande, verfasst der Große Rat eine Erläuterungsschrift (Botschaft) zu Händen der Stimmberechtigten. Diese wird den amtlichen Abstimmungsunterlagen beigelegt. Das Volk (d.h. die Stimmberechtigten des Kantons) entscheidet, ob das Gesetz oder der Volksvorschlag angenommen wird oder ob beide abgelehnt werden. 10 11
Vgl. Abschnitt IV.4. Artikel 63 Absatz 3 KV.
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Wird die Referendumsfrist nicht genutzt, was der häufigere Fall ist, kann das Gesetz in Kraft gesetzt werden. e) In-Kraft-Treten Wenn eine Volksabstimmung stattgefunden hat, stellt der Regierungsrat deren Ergebnis fest. Andernfalls stellt er fest, dass vom Recht, eine Volksabstimmung zu verlangen (Referendumsrecht), kein Gebrauch gemacht worden ist. Das Datum des In-Kraft-Tretens kann im Gesetz festgeschrieben sein. Häufiger wird es dem Regierungsrat überlassen, das Datum festzulegen. Verhältnismäßig selten bedürfen der neue Erlass oder die Erlassänderung der Genehmigung durch eine Bundesbehörde. Anschließend wird das Gesetz in der Bernischen Amtlichen Gesetzessammlung veröffentlicht12. Die Veröffentlichung erfolgt gleichzeitig in beiden Amtssprachen. IV. Wie werden Gesetze in zwei Sprachen ausgearbeitet? 1. Traditionelle Redaktion
a) Vorverfahren Die Vorbereitung von Erlassvorlagen (Vorverfahren) wird durch den Regierungsrat geleitet (Art. 88 Abs. 1 KV). Eine Ausnahme bilden die Vorlagen, die sich aus einer parlamentarischen Initiative ergeben und für die eine parlamentarische Kommission eingesetzt wird13. Konkret sind es die Fachdienste in den Direktionen, welche die Erlassvorlagen ausarbeiten. Bei parlamentarischen Initiativen unterstützt das Ratssekretariat, das dem Großen Rat unterstellt, in administrativer Hinsicht aber der Staatskanzlei angegliedert ist, die parlamentarische Kommission.14
12
Artikel 6 PuG. W. Kälin/U. Bolz (Hrsg,), Handbuch des Bernischen Verfassungsrechts, Bern 1995, S. 482. 14 Artikel 44 und 45 des Gesetzes vom 8.11.1988 über den Großen Rat (Großratsgesetz, GRG; BSG 151.21), Artikel 56 Absatz 1 der Geschäftsordnung für den Großen Rat vom 9.5.1989 (GO; BSG 151.211.1), Artikel 3 Absatz 2 und 17 Absatz 2 der Verordnung vom 18.10.1995 über die Organisation und die Aufgaben der Staatskanzlei (Organisationsverordnung STA, OrV STA; BSG 152.211). 13
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b) Redaktion einer Vorlage Je nach Bedeutung und Tragweite der Vorlage erfolgt die Redaktionsarbeit durch eine Fachperson (meistens durch eine Juristin oder einen Juristen) oder aber durch eine Arbeitsgruppe. Nach den Richtlinien des Regierungsrates über die Methode, das Verfahren und die Technik der Rechtsetzung15 müssten die beiden Amtssprachen in einer solchen Arbeitsgruppe vertreten sein. Dieser Forderung wird aber nicht immer nachgekommen. Bei wichtigen Gesetzesvorlagen wird oft eine beratende Fachkommission hinzugezogen. In den meisten Fällen umfasst die Kommission mindestens einen Vertreter des französischsprachigen Kantonsteils. c) Redaktionssprache Unabhängig von der gewählten Arbeitsmethode ist nur eine Sprache Arbeitssprache, und zwar jene des Autors oder jene der Mehrheit der Mitglieder der Arbeitsgruppe oder der Fachkommission. Auf Grund der allgemein sehr kleinen Zahl von französischen Muttersprachlern16 und von wissenschaftlichen Mitarbeitern innerhalb der Berner Kantonsverwaltung, die in der Lage wären, Gesetzesvorlagen auf Französisch auszuarbeiten17, werden 99% aller Gesetzestexte im Kanton Bern zuerst auf Deutsch verfasst und anschließend ins Französische übersetzt.18
15 Die Ziffern 1 bis 4 dieser Richtlinien bleiben in Kraft, solange sie nicht durch die neuen Rechtsetzungsrichtlinien des Kantons Bern (RSR) werden ersetzt worden sein; zurzeit bestehen nur die Module 1 (Einleitung), 3 (Rechtsetzungstechnische Richtlinien [RTR]), 4 (Sprache), 6 (Rechtsetzung Kanton-Gemeinden) und 7 (NEFRechtsetzung [Rechtsetzung nach NPM]) der RSR. 16 Ungefähr 9%. 17 Weniger als 2%. 18 Unter den seltenen zuerst auf Französisch verfassten Erlassen sind zu erwähnen: das Gesetz vom 19.1.1994 über die Verstärkung der politischen Mitwirkung des Berner Juras und der französischsprachigen Bevölkerung des Amtsbezirks Biel (Gesetz über die politische Mitwirkung, MBJG; BSG 104.1) und die dazugehörige Verordnung vom 25.5.1994 (BSG 104.111), das Dekret vom 11.3.1998 über die kulturellen Kommissionen (DKK; BSG 423.411) und die Verordnung vom 18.10.1995 über die Organisation des Regierungsrates (Organisationsverordnung RR; OrV RR; BSG 152.11). Dazu kommen noch einige wenige Erlassänderungen, die zuerst in französischer Sprache erarbeitet worden sind, sowie zahlreiche interkantonale Vereinbarungen im Bereich der Bildung.
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d) Übersetzung von Rechtserlassen Die Übersetzung der Gesetzestexte wird von Diplomübersetzern sichergestellt, die in den Direktionen und in der Staatskanzlei arbeiten.19 Da jede Direktion und die Staatskanzlei über eigene Übersetzungsdienste verfügen, sind die Diplomübersetzer in der Lage, sich auf verschiedene Fachbereiche und die in ihrer Verwaltungseinheit übliche Terminologie zu spezialisieren. e) Prüfung der Übersetzungen Im Rechtsdienst der Staatskanzlei wirken zwei französischsprachige Juristen (Juristen-Revisoren), die sich u. a. mit der Überprüfung aller übersetzten Erlasstexte, die in der Bernischen Amtlichen Gesetzessammlung publiziert werden, befassen. Diese Juristen-Revisoren prüfen in erster Linie – die rechtliche und semantische Übereinstimmung der Übersetzung mit der deutschen Originalfassung sowie – die Einhaltung der Rechtsetzungstechnischen Richtlinien (RTR; vgl. Fn. 15). Sie korrigieren – sofern dies in ihren Möglichkeiten liegt – die Texte in sprachlicher Hinsicht. f) Terminologische Unterstützung Die Staatskanzlei verfügt über einen Zentralen Terminologiedienst. Dieser – erfasst die gesamte Terminologie, die in der kantonalbernischen Gesetzgebung enthalten ist und – unterstützt die Übersetzungsdienste der Direktionen und der Staatskanzlei bei ihren terminologischen Nachforschungen. Der Zentrale Terminologiedienst verwaltet eine Terminologiedatenbank namens Lingua-PC. Diese enthält zurzeit über 13 000 Einträge und kann über das Intranet der Kantonsverwaltung abgerufen werden. Neben den regelmäßigen Erfassungs- und Aktualisierungstätigkeiten befasst sich der Terminologiedienst auch mit der Erarbeitung der Terminologie von Bereichen, die Gegenstand einer neuen Gesetzgebung sind. In den vergangenen Jahren hat er beispielsweise die zweisprachige Terminologie des New Public Managements und der Kostenrechnung für die öffentliche Verwaltung zusam19 Die bernische Kantonsverwaltung zählt 35 Übersetzerinnen und Übersetzer, die sich 26,3 Vollzeitstellen teilen.
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mengestellt.20 Er führt auch punktuelle Terminologierecherchen auf Anfrage von Übersetzern der Kantonsverwaltung oder manchmal von Erlassredakteuren durch, was zu deren Entlastung beiträgt. 2. Koredaktion
In einigen Fällen erfolgt die Gesetzesredaktion nach der Methode der Koredaktion. Das bedeutet, dass eine Vorlage von zwei Autoren gleichzeitig auf Deutsch und Französisch verfasst wird.21 Der Rechtsdienst der Staatskanzlei ist vor allem zu Beginn der Neunzigerjahre mehrmals nach dieser Methode vorgegangen. Als jüngste Beispiele können das Einführungsgesetz vom 16. November 1998 zum Bundesgesetz über die Gleichstellung von Frau und Mann (EG GlG; BSG 152.072) und das Gesetz vom 1. Dezember 1999 über die Finanzkontrolle (Kantonales Finanzkontrollgesetz, KFKG; BSG 622.1) erwähnt werden. Seither ist die Koredaktion in der Kantonsverwaltung nicht mehr praktiziert worden. Dafür können zwei Gründe angeführt werden: erstens das Fehlen von geeigneten Rechtsetzungsaufträgen für den Rechtsdienst der Staatskanzlei und zweitens der 1999 und 2000 dort erfolgte Personalwechsel. Bei der heutigen Zusammensetzung des Rechtsdienstes könnte ein neues Experiment mit der Koredaktion gewagt werden, sofern ein geeignetes Projekt vorhanden wäre. 3. Zweisprachige Redaktion
Die dritte Form der Ausarbeitung von Gesetzesvorlagen im Kanton Bern ist die zweisprachige Redaktion. Allerdings wurde diese Form bisher nur einmal praktiziert, und zwar anlässlich der Ausarbeitung der Kantonsverfassung zu Beginn der Neunzigerjahre.22 Von der Methodik her liegt die zweisprachige Redaktion zwischen der Koredaktion und der traditionellen Redaktion. Bei der zweisprachigen Redaktion wird jede Bestimmung zuerst in einer Amtssprache formuliert. Ein zweiter Verfasser überträgt sie dann in die andere 20 Auf Grund dieser terminologischen Untersuchung, die in Zusammenarbeit mit Experten aus anderen zweisprachigen Kantonen, dem Bund und der Universität Sankt Gallen durchführt worden ist, ist ein Werk entstanden, das unter dem Titel D. Pulitano (Hrsg.), New Public Management, Terminologie – terminologie – terminologia, Bern 2000 veröffentlicht worden ist. 21 G. Caussignac/D. Kettiger, Rédaction parallèle au Canton de Berne/Koredaktion im Kanton Bern, in: LeGes – Gesetzgebung & Evaluation 1991/3, S. 71 ff. 22 P. Gerber, Rédaction bilingue d’une Constitution cantonale. L’exemple du projet de Constitution bernoise, in: LeGes – Gesetzgebung & Evaluation 1992/3, S. 75 ff.
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Sprache. Danach werden die beiden Sprachfassungen von den beiden Verfassern gemeinsam diskutiert und bereinigt. Es liegt somit keine gleichzeitige Redaktion in beiden Sprachen vor, und es kommt auch nicht zu einer Übersetzung im Sinne der traditionellen Methode, denn die beiden Verfasser entscheiden bei jeder Bestimmung gemeinsam über den endgültigen Wortlaut.
4. Redaktionskommission
a) Geprüfte Rechtserlasse Verfassungsänderungen sowie Gesetze und Gesetzesänderungen werden immer von der Redaktionskommission geprüft, bevor sie dem Großen Rat zur Beratung vorgelegt werden. b) Zusammensetzung Die Redaktionskommission setzt sich aus neun Personen zusammen, welche die Kantonsgerichte, die Universität, die Kantonsverwaltung und den Grossen Rat vertreten. Laut Geschäftsordnung des Großen Rates ist bei der Wahl der Kommissionsmitglieder auf eine gleichwertige Vertretung der beiden Amtssprachen zu achten (Art. 58 Abs. 2 GO; im französischen Wortlaut ist es eine ausgewogene Vertretung: les deux langues doivent être représentées de manière équilibrée). Gegenwärtig gibt es drei französischsprachige Mitglieder; zwei davon stammen aus den Kantonsgerichten, eines aus der Kantonsverwaltung (Rechtsdienst der Staatskanzlei). c) Aufgaben Aufgabe der Redaktionskommission ist es, Verfassungs- und Gesetzesvorlagen in sprachlicher und systematischer Hinsicht zu prüfen und sicherzustellen, dass die deutsche Fassung mit der französischen Fassung übereinstimmt (Art. 51 Abs. 1 GRG). Die Kommission befasst sich zweimal mit einer Vorlage23: – ein erstes Mal zur Vorprüfung, d.h. kurz bevor die Vorlage dem Regierungsrat zu Händen des Großen Rates vorgelegt wird (also am Ende des Vorverfahrens),24 23 Bei Gesetzesänderungen kommt es in der Praxis immer wieder vor, dass auf die zweite Lesung verzichtet wird (Art. 65a GRG). In diesen Fällen entfällt eine zweite Prüfung des Textes durch die Redaktionskommission.
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– ein zweites Mal vor der zweiten Lesung der Vorlage im Parlament: Sie prüft die Ergebnisse der ersten Lesung und die (gemeinsamen) Anträge des Regierungsrates und der parlamentarischen Kommission für die zweite Lesung. Wie ihr Name schon sagt, befasst sich die Kommission in erster Linie mit redaktionellen Aspekten. Sie kann beim Großen Rat aber auch materielle Änderungen beantragen (Art. 51 Abs. 2 GRG, Art. 59 Abs. 1 GO). In der Praxis kommt es häufig vor, dass während der Vorprüfung auch rechtliche Grundsatzfragen diskutiert werden und dass die Kommission die Verfasser der Vorlage auffordert, ihren Text zu ändern oder zu ergänzen. Werden materielle Änderungen im Hinblick auf die zweite Lesung erwogen, werden sie als Anträge der Redaktionskommission zu Händen des Großen Rates ausgestaltet. d) Funktion der französischsprachigen Kommissionsmitglieder Die drei frankophonen Mitglieder der Redaktionskommission stellen sicher, dass die französische Fassung in rechtlicher und sprachlicher Hinsicht mit der deutschen Vorlage übereinstimmt. Sehr selten kommt es auch vor, dass einer der deutschsprachigen Kollegen sie auf eine Abweichung zwischen dem französischen und dem deutschen Text aufmerksam macht. Neben dieser Hauptaufgabe nehmen die frankophonen Mitglieder auch aktiv an den Beratungen der Kommission teil, insbesondere dann, wenn materielle Fragen aufgeworfen werden. Man kann sich fragen, ob es nicht angebracht wäre, die frankophone Vertretung in der Kommission um eine Person zu verstärken, um das in der Geschäftsordnung für den Großen Rat geforderte Kriterium der gleichwertigen Vertretung zu erfüllen, da es gerade die französischsprachigen Vertreter sind, die eine Hauptaufgabe der Kommission erfüllen, d.h. die Kontrolle der Textübereinstimmung in beiden Sprachen. Gegenüber der heutigen Zusammensetzung könnte erwogen werden, entweder eines der beiden deutschsprachigen Parlamentsmitglieder durch ein französischsprachiges zu ersetzen oder die Mitgliederzahl auf zehn zu erhöhen, wobei der zusätzliche Sitz einer französischsprachigen Person, zum Beispiel einem Dozenten der Universität, vorbehalten würde.
24 Handelt es sich um eine parlamentarische Initiative, wird die Vorlage nicht vom Regierungsrat, sondern von einer Kommission vorbereitet. In diesem Fall leitet deshalb die parlamentarische Kommission ihren Entwurf der Redaktionskommission zur Vorprüfung zu.
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V. Würdigung der verschiedenen Redaktionsverfahren 1. Beurteilungskriterien
Zur Beurteilung der verschiedenen Redaktionsverfahren werden die zwei folgenden Kriterien herangezogen: die rechtliche und semantische Übereinstimmung einerseits, die Gleichwertigkeit des Einflusses, den jede Sprachgemeinschaft auf Grund ihrer Kultur und Mentalität auf den normativen Inhalt ausübt, andererseits. Die deutsche und die französische Fassung sind von Gesetzes wegen gleichwertig. Sie müssen denselben Sinn haben, d.h. die Bürgerinnen und Bürger, die eine Gesetzes- oder Verordnungsbestimmung lesen, müssen dieselbe rechtliche Botschaft verstehen, egal, ob sie den deutschen oder den französischen Text vor sich haben. Somit müssen also die rechtliche und die semantische Übereinstimmung sichergestellt sein. Im Prinzip bedingt die Gleichwertigkeit der Gesetzestexte auch eine Gleichwertigkeit beim Einfluss, den jede Sprachgemeinschaft auf Grund ihrer Kultur und ihrer Mentalität auf den Inhalt von Gesetzesvorlagen ausüben kann. Es ist zu verhindern, dass die eine Sprachfassung gegenüber der anderen als Bezugstext betrachtet wird. 2. Traditionelle Redaktion
a) Übereinstimmung der beiden Sprachfassungen Die Kantonsverwaltung verfügt über zwei Dienststellen, die für eine inhaltliche Übereinstimmung Gewähr bieten: den Rechtsdienst der Staatskanzlei (Juristen-Revisoren) und den Zentralen Terminologiedienst. aa) Rechtsdienst der Staatskanzlei Die Prüfung durch den Rechtsdienst (Revision) erfolgt bei Vorlagen, die dem Großen Rat vorgelegt werden müssen (d.h. bei Verfassungsänderungen, Gesetzen, Dekreten und Großratsbeschlüssen), in einem relativ frühen Stadium des Rechtsetzungsverfahrens. Unter günstigen Voraussetzungen, d.h. wenn die Juristen-Revisoren nicht überlastet sind, ist eine erste Prüfung bereits möglich, bevor die Vorlage in die Vernehmlassung geschickt wird. Eine zweite Prüfung findet statt, bevor die Vorlage der Regierung vorgelegt wird – in der Regel, wenn die Vorlage in die Redaktionskommission gelangt. Bei den anderen Rechtstexten, die vom Regierungsrat (Verordnung) oder von einer Direktion (Direktionsverordnung) erlassen werden, ist die für die Prüfung
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verfügbare Zeit oft sehr knapp, weil häufig die Verfahrensfristen nicht eingehalten werden oder aber weil das Arbeitsvolumen zu groß ist. Oft kann die Prüfung erst vorgenommen werden, wenn der Beschluss der zuständigen Fachdirektion vorliegt. Diese Art von Texten wird zudem nur einmal geprüft, während Gesetzesvorlagen zweimal oder sogar mehrmals geprüft werden können. Unter diesen Voraussetzungen scheint es offensichtlich, dass die Übersetzungen von Erlassvorlagen mit niedrigerem normativem Rang (insbesondere von Verordnungen) in Bezug auf die Übereinstimmung mit der deutschen Fassung nicht den gleichen Qualitätsgrad wie Gesetze erreichen können. Trotzdem ist dieser dank der Kompetenz und der langjährigen Erfahrung der beiden JuristenRevisoren des Rechtsdienstes recht hoch. bb) Zentraler Terminologiedienst der Staatskanzlei Die Haupttätigkeit des Zentralen Terminologiedienstes besteht darin, die in der kantonalen Gesetzgebung verwendete Terminologie in beiden Amtssprachen aufzubereiten und namentlich mit Hilfe der Terminologiedatenbank Lingua-PC zur Verfügung zu stellen. Lingua-PC stellt außerdem ein Instrument dar, um die in jeder Sprache verwendeten Fachwörter zu vereinheitlichen und so die Rechtssicherheit zu erhöhen. Der Zentrale Terminologiedienst beteiligt sich auch an den Vernehmlassungsund Mitberichtsverfahren, so dass die Terminologie bzw. die Übereinstimmung der Sprachfassungen z. T. bereits während des Rechtsetzungsverfahrens überprüft wird. cc) Terminologische Aspekte Bei einigen Vorlagen erweist sich die Erstellung einer in beiden Sprachen übereinstimmenden Terminologie als echter Knackpunkt. Die Schwierigkeiten rühren daher, dass jede Sprache die Realität auf ihre Art wahrnimmt und dass sich daher die terminologische Struktur eines bestimmten Sachgebiets von der einen Sprache zur anderen unterscheiden kann. Der materielle Inhalt einer Gesetzesvorlage besteht aus mehreren Begriffen, die mittels Fachwörtern ausgedrückt werden, welche wiederum ein strukturiertes Ganzes bilden. Die terminologische Struktur eines bestimmten Sachgebiets spiegelt die begriffliche Realität dieses Gebiets in der ausgewählten Sprache wider. Wenn sich in einem zu reglementierenden Sachgebiet die begriffliche Unterteilung in der deutschen und in der französischen Sprache unterscheidet, ist es schwierig oder
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gar unmöglich, für gewisse Wörter eine direkte Entsprechung in der anderen Sprache zu finden. Da die Struktur eines Gesetzesvorhabens der Struktur der verwendeten Wörter entspricht, schafft es die Übersetzung in solchen Fällen nicht, sich der Struktur anzuschließen, die für die deutsche Fassung der Vorlage gewählt wurde. Dazu folgende Beispiele: Die deutsche Sprache kennt die Ausdrücke Wärmeschutz und Kälteschutz, während es auf Französisch nur den Begriff der isolation thermique gibt. Eine Regelung, die sich auf Deutsch auf die Unterscheidung zwischen Wärmeschutz und Kälteschutz stützt, kann somit unmöglich mit derselben Struktur auf Französisch übertragen werden, da eine französischsprachige Person diese Unterscheidung nicht nachvollziehen kann. Entscheidet man sich dennoch für eine wörtliche Übersetzung der deutschen Fassung, läuft man Gefahr, eine Regelung zu erlassen, die für die französischsprachigen Adressaten unverständlich ist, oder Wörter zu schöpfen, die es nicht gibt oder für die es keinen Bedarf gibt.25 Die Lösung besteht also darin, nach einer anderen Regelungsstruktur zu suchen, die auf die andere Sprache übertragen werden kann, ohne dabei den materiellen Inhalt der Regelung zu verändern. Dieses Vorgehen muss im Gesetzgebungsverfahren sehr früh stattfinden, d.h. während der Konzipierung der Gesetzesvorlage und bevor der Entwurf verfasst wird. Leider erfolgen die terminologischen Überlegungen und Festlegungen in der Praxis – wenn überhaupt – erst sehr spät; die deutsche Fassung ist dann bereits so weit ausgereift, dass sie in ihrer Struktur kaum mehr geändert werden kann. Um diese Situation zu verbessern, müsste man in der Lage sein sicherzustellen, dass die Gesetzesvorhaben in terminologischer Hinsicht systematisch begleitet und betreut werden. Diese Aufgabe könnte vom Zentralen Terminologiedienst oder von der Koordinationsstelle für Gesetzgebung26 wahrgenommen werden; dafür müsste jedoch der Personalbestand ausgebaut werden. Auch bei der Gesetzesvorlage zur Einführung der neuen Verwaltungsführung (New Public Management)27 in der Kantonsverwaltung ist es bei der Übertragung ins Französische zu großen Problemen gekommen. Die gesamte Termino25 Ein weiteres Beispiel in der umgekehrten Richtung stellt das Wort Rechnung dar, das auf Französisch verschiedene Äquivalente haben kann: calcul und compte oder gar comptabilité. 26 Die Koordinationsstelle für Gesetzgebung ist eine fachlich unabhängige Abteilung der Justiz-, Gemeinde- und Kirchendirektion des Kantons Bern, welche die Rechtsetzungsvorhaben begleitet. 27 Gesetz vom 26. März 2002 über die Steuerung von Finanzen und Leistungen (FLG, BSG 620.0), das voraussichtlich am 1. Januar 2005 in Kraft treten wird.
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logie des Projekts wurde nämlich nur auf Deutsch geschaffen und festgelegt, ohne Rücksicht auf die französische Terminologie und ohne dass irgendwelche französischsprachigen Fachleute hinzugezogen worden wären. Und dies bei einem völlig neuen Sachgebiet, das noch voll in der Entwicklung steckt! Außerdem spielten für die Konzeption und die Struktur des Erlasses vier Grundsätze eine zentrale Rolle, die nicht nur im Erlass, sondern auch in anderen grundlegenden Texten immer wieder erwähnt wurden: Führungsorientierung, Wirkungsorientierung, Leistungsorientierung, Kosten- und Erlösorientierung. Diese Formulierung ist auf Französisch praktisch nicht wiederzugeben. Somit war das Gesetz eindeutig nach deutschen Begrifflichkeiten konzipiert, was für die Übertragung in die französische Sprache natürlich mit Problemen einherging. Nach monate-, ja bald jahrelangen Konzeptarbeiten, Gruppendiskussionen und Redaktionsarbeiten wurde die Gesetzesvorlage schließlich an eine Übersetzerin weitergeleitet. Sie sollte ganz allein und binnen dreier Wochen die französische Fassung liefern. Trotz der beachtlichen Unterstützung durch den Zentralen Terminologiedienst war die Übersetzerin mit fast unüberwindbaren terminologischen Problemen konfrontiert. Die Projektverantwortlichen waren schließlich gezwungen, die Hilfe eines französischsprachigen Experten in Anspruch zu nehmen, der am Hochschulinstitut für öffentliche Verwaltung (Institut de hautes études en administration publique, IDHEAP)28 unterrichtet. Wären von Anfang an eine oder zwei kompetente Personen französischer Muttersprache bei der Vorbereitung der Vorlage dabei gewesen und wäre der Zentrale Terminologiedienst früher in die Arbeiten einbezogen worden, hätte zumindest ein Teil der entstandenen Probleme gerade was den Aufbau des Erlasses angeht leichter und ohne den unerträglichen Zeitdruck gelöst werden können. b) Einfluss der Kultur und der Mentalität der beiden Sprachgemeinschaften auf den Inhalt der Gesetzgebung Die bernische Gesetzgebung wird zu 99 Prozent von Deutschsprachigen auf Deutsch geplant, konzipiert und verfasst. Die Möglichkeit für die französischsprachige Minderheit, bereits bei der Planung und Konzipierung einen substanziellen Einfluss auf die kantonale Gesetzgebung auszuüben, ist somit sehr gering. Die Mitwirkungsrechte, die dem französischsprachigen Kantonsteil (d.h. dem Berner Jura und der französischsprachigen Bevölkerung des Amtsbezirks Biel) zustehen, vermögen diese Situation etwas zu korrigieren29. Diese Mitwirkungs28
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rechte kommen im Rechtsetzungsverfahren aber erst später zum Zug, d.h. erst im Vernehmlassungsverfahren. Unter diesen Voraussetzungen erscheint der deutsche Text immer als Bezugsoder Originaltext, obwohl das Gesetz beide Sprachfassungen auf dieselbe Stufe stellt (vgl. Art. 11 Abs. 1 PuG). Will man, dass eine gesetzliche Regelung die von der Kultur und der Mentalität geprägten Eigenheiten der französischsprachigen Bevölkerung besser widerspiegelt, müssten diese vermehrt in die Planungs- und Konzeptphase einer Gesetzesvorlage eingebunden werden. Eine mögliche Lösung bestünde darin, zusätzliche französischsprachige Redakteure einzustellen oder aber die Übersetzer in die Teams aufzunehmen, welche die Gesetzesvorlagen verfassen. Die zweite Maßnahme würde indirekt ebenfalls eine Erhöhung des Personalbestands bewirken, da ein Teil der Übersetzungskapazitäten zu Gunsten der Rechtsetzungstätigkeit abgezogen würde. Man muss jedoch realistisch bleiben und darf die Auswirkungen der zwischen den beiden Sprachgemeinschaften bestehenden Unterschiede auf die kantonale Gesetzgebung nicht überschätzen. Die Möglichkeiten, zusätzliches Personal einzustellen, sind außerdem sehr beschränkt. Abgesehen von der angespannten Finanzsituation des Kantons Bern verfügt die Kantonsverwaltung nicht über genügend Arbeit, die auf Französisch abgewickelt werden muss, um noch mehr französischsprachige Mitarbeiter zu beschäftigen, die nur in ihrer Sprache arbeiten würden. Es müssten daher französischsprachige Muttersprachler gefunden werden, die bereit wären, regelmäßig auch auf Deutsch zu arbeiten. Die Erfahrung hat aber gezeigt, dass es solche Leute nicht wie Sand am Meer gibt. Die Möglichkeiten, um den kulturellen und sprachlichen Eigenheiten der frankophonen Bevölkerung in der kantonalen Gesetzgebung besser Rechnung zu tragen, sind somit relativ beschränkt. Die Übersetzung ist und bleibt also das übliche Mittel, um die Gesetzgebung für die Bürgerinnen und Bürger französischer Muttersprache verständlich zu machen, auch wenn sie den Nachteil hat, dass sie eben nur ein Mittel ist, um einen deutschen Originaltext in die andere Sprache zu übertragen. 3. Koredaktion
Angesichts der bereits erwähnten Beurteilungskriterien stellt die Koredaktion nach wie vor die beste Methode dar, zweisprachige Gesetzestexte zu verfassen. 29 Es handelt sich um Anhörungs- und Antragsrechte, die in Artikel 10 MBJG (BSG 104.1; vgl. Fn. 18) verankert sind.
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a) Übereinstimmung der beiden Sprachfassungen Bei der Koredaktion arbeiten die Projektautoren die Vorlage gemeinsam aus und bringen dann die Ideen und Gedanken Satz um Satz zum Ausdruck. Sie stellen ihre jeweilige Sichtweise einander gegenüber und müssen sich dann über jede Bestimmung einig werden, bevor sie diese schließlich in Worte fassen. Dies zwingt sie, ihre Vorstellungen und Absichten klar und für den anderen verständlich darzulegen. Die gemeinsame Arbeit und die Notwendigkeit, sich gegenseitig zu verstehen, zwingen die Autoren, sich auf den wesentlichen materiellen Inhalt zu konzentrieren, den sie in die Vorlage einfließen lassen möchten. Sie werden sich somit eher mit knappen und einfachen Worten äußern. Die gründliche Gegenüberstellung ihrer jeweiligen Formulierungen erlaubt es, allfällige Widersprüche, Ungenauigkeiten oder Inkohärenzen sowie Andeutungen oder Ungesagtes sichtbar zu machen, die bei der Umsetzung der Regelung zu Auslegungsproblemen führen könnten. Demzufolge kann durch die Koredaktion ein sehr hoher Übereinstimmungsgrad zwischen dem deutschen und dem französischen Text garantiert werden. b) Einfluss der Kultur und der Mentalität auf den Inhalt der Gesetzgebung Um einen angemessenen Einfluss der sprachlichen Minderheit auf die Konzipierung und Redaktion einer Gesetzesvorlage zu gewährleisten, muss dafür gesorgt werden, dass die beiden Amtssprachen gleich stark im Redaktionsteam vertreten sind.30 Damit die Zusammenarbeit zwischen den Redakteuren effizient sein kann, müssen sie mehr oder weniger ähnliche Qualifikationen auf dem zu behandelnden Sachgebiet mitbringen. Gute Kenntnisse der anderen Sprache stellen bei diesem Vorgehen natürlich eine conditio sine qua non dar. Für die bernische Kantonsverwaltung besteht die größte Schwierigkeit gerade darin, das erforderliche qualifizierte französischsprachige Personal zu finden, damit zweisprachige Redaktionsteams gebildet werden können. Da in der Praxis meistens Juristen mit den Rechtsetzungsarbeiten betraut werden, es aber zu we30 Bei der Erarbeitung des Finanzkontrollgesetzes (vgl. Abschnitt IV.2.) saß nur eine einzige französischsprachige Person im vierköpfigen Redaktionsteam. Wegen der Untervertretung der französischen Sprache gab es bei dieser Gesetzesvorlage nicht wirklich eine Koredaktion. Die Stellung des französischsprachigen Redakteurs als Minderheit im Team hat dazu geführt, dass er sich eher in der Rolle eines Übersetzers als in jener eines Redakteurs wiederfand. Als zusätzliche Schwierigkeit kam hinzu, dass er sich mit dem zu normierenden Sachgebiet nicht sehr gut auskannte.
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nig französischsprachige Juristen gibt, die in der Zentralverwaltung arbeiten, kann die Koredaktion leider nur versuchsweise und punktuell erfolgen. Auf den ersten Blick scheint die Koredaktion eine kostspielige Arbeitsmethode zu sein. Sie beansprucht die Arbeitskraft von zwei qualifizierten Fachleuten, obwohl der Erlassentwurf von einer Person allein verfasst werden könnte. Es ist jedoch zu beachten, dass die traditionelle Redaktion den Einsatz eines Übersetzers und eines Juristen-Revisors erfordert, die beide auch Spezialisten sind. Insgesamt kommt die Koredaktion also nicht teurer zu stehen als die traditionelle Redaktion; sie gewährleistet aber eine bessere sprachliche und inhaltliche Qualität des Erlassentwurfs. 4. Zweisprachige Redaktion
Wie bereits angesprochen kam es bisher nur in einem einzigen und besonderen Fall zur zweisprachigen Redaktion – und zwar bei der Totalrevision der Kantonsverfassung. Diese Redaktionsmethode erfordert die gleichen personellen Ressourcen wie die Koredaktion, geht aber hinsichtlich der zweisprachigen Konzipierung der Gesetzesvorlage weniger weit. Der Vorteil dieses Vorgehens im Vergleich zur traditionellen Methode besteht darin, dass die Redakteure sehr eng zusammenarbeiten und ihre Texte regelmäßig besprechen, während die Übersetzer in der Regel keine so privilegierten Kontakte zu den Autoren der Vorlage unterhalten. In der Regel haben die Übersetzer somit weniger die Möglichkeit, auch die Absichten eines Autors zu kennen. Dieses Vorgehen ist absolut einzigartig und erfordert außergewöhnliche Mittel. Für die laufende Rechtsetzungstätigkeit ist daher die zweisprachige Redaktion in personeller Hinsicht und im Vergleich zu den möglichen redaktionellen Vorteilen zu aufwändig. Die zweisprachige Redaktion scheint somit dazu verurteilt, in der Rechtsetzungstätigkeit des Kantons Bern ein Einzelfall zu bleiben. VI. Die zweisprachige Gesetzesredaktion: Vor- oder Nachteil? Die zweisprachige Gesetzesredaktion weist Vor- und Nachteile auf, sie kann also sowohl ein Plus als auch eine Bürde sein. 1. Nachteil
Es dürfte allen klar sein, dass die Notwendigkeit, eine Gesetzgebung in zwei Sprachen zu erlassen, für den Kanton Bern eine zusätzliche Bürde darstellt, die ein einsprachiger Staat nicht kennt.
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Der Kanton Bern muss einen ganzen Verwaltungsapparat unterhalten, um die Zweisprachigkeit seiner Leistungen zu gewährleisten. Dies gilt selbstverständlich nicht nur für den Bereich der Gesetzgebung. Der größere Verwaltungsaufwand ist auf allen Hierarchiestufen zu spüren, und zwar bis hin zum Mitarbeiter, der ein Dokument vorbereitet, das für den Großen Rat oder für die gesamte Bevölkerung bestimmt ist. Für ihn endet die Arbeit nicht mit der Redaktion des Dokuments, da er anschließend noch dessen Übersetzung organisieren muss. Dies setzt voraus, dass dem Übersetzer möglichst viele Informationen mitgegeben werden, die ihm bei seiner Arbeit helfen könnten, also z. B. das ganze Hintergrundmaterial und alle Quellen, die zur Ausarbeitung des Originaltextes verwendet wurden. Natürlich muss der Autor dem Übersetzer auch jederzeit für eventuelle Fragen zur Verfügung stehen. Weiterhin ist es wichtig, die Zeit einzuplanen, die für die Übersetzung notwendig sein wird. Der Auftrag einer Gesetzesredaktion umfasst immer auch eine Phase für die Übersetzung der Vorlage. Es darf nicht vergessen werden, dafür im Terminkalender genügend Zeit vorzusehen. Es kommt leider öfters vor, dass bei Gesetzesvorhaben Verzögerungen auftreten und dass die zuständige Amtsstelle dann versucht, den Rückstand mit einer kürzeren Übersetzungsfrist wieder wettzumachen. Die Übersetzungsfristen sind meist so knapp bemessen, dass die Übersetzer praktisch immer unter großem Zeitdruck arbeiten müssen. 2. Vorteil
a) Erhöhung der sprachlichen Qualität der Erlasse Der Vorteil einer zweisprachigen Gesetzgebung zeigt sich darin, dass solche Gesetzestexte gegenüber Texten, die nur in einer Sprache erlassen werden, eine bessere sprachliche Qualität aufweisen. Die Übersetzung besteht bekanntlich darin, eine Botschaft von der einen Sprache in die andere zu übertragen. Fehlt es dieser Botschaft aber an der nötigen Klarheit, wird dies vom Übersetzer sehr schnell erkannt. Der Autor des Ursprungstextes wird somit automatisch dazu gebracht, seine Vorlage zu überarbeiten, um sie klarer und verständlicher zu machen. Oft ist es dank der Übersetzung auch möglich, Andeutungen oder Unausgesprochenes zu erkennen, was dann bei der Umsetzung der Bestimmung zu Interpretationsproblemen hätte führen können. Außerdem werden hier und da materielle Ungereimtheiten entdeckt, die so vor der Publikation verbessert werden können.
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b) Erfahrungen der Redaktionskommission Die Redaktionskommission hat im Laufe ihrer Beratungen mehrmals feststellen können, dass sie vom französischen Wortlaut einer Gesetzesbestimmung profitieren konnte, um den deutschen Wortlaut zu verbessern, weil der französische Text die Vorstellung des Autors besser zum Ausdruck brachte oder weil er einfacher, knapper oder eleganter formuliert war. Dazu zwei Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit: c) Beispiel A Artikel 8 Absatz 2 des Gesetzes über den Finanz- und Lastenausgleich (FILAG) BSG 631.1): Der harmonisierte ordentliche Steuerertrag wird ermittelt, indem der Gesamtertrag der ordentlichen Gemeindesteuern durch die beschlossene Steueranlage der Gemeinde geteilt und mit dem Harmonisierungsfaktor von 2,4 multipliziert wird. Le rendement fiscal ordinaire harmonisé est obtenu en divisant le rendement global des impôts communaux ordinaires par la quotité d’impôt de la commune, puis en multipliant le résultat par le facteur d’harmonisation de 2,4.
Die deutsche Fassung enthält das Adjektiv beschlossene, um zu verdeutlichen, dass die als Teiler dienende Steueranlage von der zuständigen Gemeindebehörde festgelegt worden sein muss. Im Laufe der Vorberatung des Gesetzentwurfs in der Redaktionskommission haben einzelne Mitglieder nach dem Sinn dieses Wortes gefragt, das in der französischsprachigen Fassung nicht enthalten war. Die Projektverantwortlichen und Fachleute im Bereich des Finanzausgleichs haben festgestellt, dass einzig die von der zuständigen Gemeindebehörde endgültig beschlossene Steueranlage gemeint sein könne, weil nur diese maßgebend sei. Auf Grund dieser Erklärungen ist die Redaktionskommission zum Schluss gekommen, dass das Wort beschlossene gestrichen werden muss, weil ihm im gegebenen Zusammenhang keine besondere Bedeutung zukommt und es deshalb überflüssig ist. Auf Grund des festgestellten Unterschieds zwischen den beiden Sprachfassungen des Gesetzentwurfs ist es der Redaktionskommission gelungen, die Verständlichkeit der deutschen Fassung zu verbessern, indem sie sie von einer Präzisierung befreit hat, die den Leser hätte irreführen können.
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d) Beispiel B Artikel 34 Absatz 2 des Gesetzes über die Fachhochschulen (FaG; BSG 435.41131). Ursprüngliche Fassung: Studierende, die an kantonalen Einheiten vorbildungsbedingte Ergänzungsangebote besuchen, haben Gebühren von 2000 bis 4000 Franken pro Semester zu entrichten. Les étudiants et étudiantes qui suivent des cours complémentaires dans une unité cantonale en vue d’une formation préparatoire versent des taxes de 2000 à 4000 francs par semestre.
Bereinigte Fassung: Studierende, die an kantonalen Einheiten für die Zulassung zum gewählten Studiengang erforderliche Ergänzungsangebote besuchen, haben Gebühren von 2000 bis 4000 Franken pro Semester zu entrichten. Les étudiants et étudiantes qui suivent dans une unité cantonale une formation complémentaire nécessaire à l’admission dans la filière choisie versent des taxes de 2000 à 4000 francs par semestre.
Beim Vergleich des deutschen und des französischen Wortlauts in der ursprünglichen Fassung stellte die Redaktionskommission fest, dass die beiden Entwürfe nicht den gleichen Sinn hatten. Es galt herauszufinden, was mit dem Ausdruck vorbildungsbedingte Ergänzungsangebote gemeint war. Nach einer Diskussion mit den Gesetzesredakteuren wurde klar, dass es sich um Kurse handelt, deren Besuch für die Zulassung zum gewählten Studiengang vorausgesetzt wird. Diese Erkenntnis veranlasste die Redaktionskommission, den Wortlaut in beiden Sprachen zu überarbeiten (vgl. bereinigte Fassung). Ohne den Vergleich mit der französischen Fassung wäre die Ungenauigkeit des Begriffs vorbildungsbedingt nicht erkannt worden, was später zu Verständnis- und Auslegungsproblemen bei der Anwendung dieser Bestimmung hätte führen können. e) Zwei Sprachen, zwei Standpunkte, ein Gedanke Das Bestehen von zwei verschiedenen Sprachfassungen bringt gleich zweimal Licht in die entsprechende Regelung, wodurch ein vollständigeres und genaueres Bild entsteht. Jede Sprachfassung eines Gesetzestextes ist der Ausdruck eines Standpunktes. Wie bereits oben dargelegt erfassen die deutsche und die französische Sprache eine Realität nicht immer auf dieselbe Weise, womit es unweigerlich zu unterschiedlichen Auffassungen kommt. Indem dann beide Auffassungen einander gegenübergestellt werden, ist es manchmal möglich herauszufinden, welches der wirkliche Sinn ist, den der Gesetzgeber einer 31 Dieses Gesetz ist am 1. Januar 2004 durch das Gesetz vom 19. Juni 2003 über die Berner Fachhochschule (FaG; BSG 435.411) abgelöst worden.
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bestimmten Gesetzesbestimmung geben will. Anschließend kann dann eine Formulierung gefunden werden, die diesen Sinn klar zum Ausdruck bringt. VII. Schluss Abschließend wird festgestellt, dass der Kanton Bern dank kompetentem Personal und leistungsfähigen Instrumenten in beiden Amtssprachen eine qualitativ hoch stehende Gesetzgebung vorzuweisen hat. Die heutige Situation ist zufrieden stellend, auch wenn Verbesserungen noch möglich wären. Insbesondere in Bezug auf das Personal könnten drei Verbesserungsmaßnahmen in Betracht gezogen werden: 1.
Der Zentrale Terminologiedienst müsste ausgebaut werden.
2.
Es müssten zusätzliche französischsprachige Mitarbeiter mit den nötigen Qualifikationen eingestellt werden, die sich dann an der Redaktion von Gesetzesvorlagen beteiligen könnten.
3.
Die Zusammensetzung der neunköpfigen Redaktionskommission müsste so geändert werden, dass die französische Sprache mit einem zusätzlichen Mitglied vertreten wäre.
Die Europäische Union und ihre mehrsprachigen Rechtstexte Pascale Berteloot Ganz im Sinne des Jakobinismus der französischen Revolution erklärte einst Benjamin Constant: „der gleiche Code, die gleichen Maßnahmen, die gleichen Verordnungen und, wenn es nach und nach erreichbar ist, die gleiche Sprache: das ist es was man als Vollkommenheit jeder gesellschaftlichen Ordnung bezeichnen kann.“1 [Übers. P. B.] Entgegen dieser Ansicht haben die Väter der nacheinander errichteten Europäischen Gemeinschaften wie selbstverständlich eine neue gesellschaftliche Organisation ins Leben gerufen, die zwar gemeinsames sich direkt an den Bürger wendendes Recht schafft, aber sich immer wieder zur Mehrsprachigkeit bekennt. Interpretiert man Benjamin Constants Grundgedanke, heißt er, dass der Bürger sich bemühen soll, sich Recht zu nähern, in dem er die Sprache, in der das Recht verfasst wird, auch als seine Sprache annimmt. Die Grundkonzeption der Europäischen Union ist hingegen, dass, wenn sich Recht direkt an den Bürger wenden soll, dies auch in der Sprache des Bürgers vorliegen muss. Die Europäische Union schafft also Rechtstexte in den Sprachen, in denen auch die Mitgliedstaaten auf zentraler Ebene Recht für ihre Bürger schaffen. Allerdings bleibt es einerseits fraglich, ob die Europäische Union sich ganz von dem Grundsatz „das gleiche Recht, die gleiche Sprache“ lösen konnte, andererseits ob sie alle Mittel nutzt, um die Lebensfähigkeit der seit den Anfängen neu aufgestellten Regel „das gleiche Recht, mehrere Sprachen“ zu sichern. In einem ersten Teil untersucht der Aufsatz, wie die Auslegung mehrsprachiger Rechtstexte in der Europäischen Union eigentlich den Grundsatz „das gleiche Recht, die gleiche Sprache“ noch verwirklicht. Die Auslegung muss sich auf die Einheitlichkeit des Rechts konzentrieren und beachtet in einem geringeren Maße die Rechte des Bürgers auf mehrsprachige Rechtstexte. Dazu wird zunächst beschrieben, was Rechtstexte sind, was der Bürger von jedem Rechtstext erwartet, welche Auslegungsprobleme er erfahren hat, und wie diese gelöst 1 Benjamin Constant, De la liberté chez les Modernes, Paris 1980, S. 146; siehe auch Alain Dieckhoff, La Nation dans tous ses États – Les identités nationales en mouvement, Paris 2000, S. 75.
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worden sind. Die Schlussfolgerung ist, dass der Bürger schließlich doch die Last der Mehrsprachigkeit trägt, weil er eine gewisse Rechtsunsicherheit in Kauf nehmen muss. Daher ist es lohnenswert, zu untersuchen, welche Termini und Ausdrücke die größten Risiken bergen. In einem zweiten Teil untersucht der Aufsatz, wie die Durchführung des Mehrsprachigkeitsprinzips im Recht mit der Anerkennung einer größeren Rechtssicherheit für den Bürger einhergehen könnte. Das Ziel ist es, Vorschläge für mehr Methodik zu unterbreiten, die allerdings eine enge Zusammenarbeit und gegenseitiges Verständnis von Autoren und Übersetzern erfordert. Die Bedingungen einer solchen Methodik liegen aber auch in dem institutionellen Willen. Zum Ausbau einer Methodik muss die linguistische Analyse der Texte vorangetrieben werden und eine größere terminologische Kohärenz entstehen. Der Bürger muss aber auch akzeptieren, dass eine neue oder andere Rechtsordnung als die seines Landes sich anderer Begriffe und anderer linguistischer Gebilde bedienen muss. Der Grundsatz „das gleiche Recht, die gleiche Sprache“ lässt sich demnach neu interpretieren, insofern es sich für alle Bürger um eine Neuerung handelt, die von ihnen verlangt, sich in ihrer Sprache auch neu einzufinden.
I. Der Satz „das gleiche Recht, die gleiche Sprache“ und die Auslegung mehrsprachiger Rechtstexte der Europäischen Union 1. Welche Rechtstexte kennt die Union?
Das Wort „Rechtstexte“ bezieht sich in einer engen Auslegung auf normative Texte. Laut der Verträge sind diese Texte zunächst Verordnungen, die für jeden Bürger direkt anwendbar sind, und Richtlinien, die formell nicht direkt anwendbar sind, aber aus denen der einzelne Bürger Rechte ziehen kann. Hinzu kommen Entscheidungen, die für die genannten Adressaten direkte Rechtsfolgen haben. Insofern die Adressaten Mitgliedstaaten sind, können diese Texte auch direkte Rechtsfolgen für den Einzelnen haben. All diese Texte werden im Amtsblatt der Europäischen Union, das täglich in den offiziellen EU-Sprachen erscheint, publiziert. Obwohl es hierzu keine genaue Bestimmung gibt, ergibt sich aus der Verpflichtung zur Veröffentlichung und der alleinigen Anwendbarkeit von bekannt gegebenem Recht – in der Europäischen Union wie in der Tradition der meisten Mitgliedstaaten durch Veröffentlichung in einem besonders dafür geschaffenen Amtsblatt – einerseits, und der Anerkennung der Sprachen aller Mitgliedstaaten als Amtssprachen andererseits, der Grundsatz, dass nur in der Sprache veröffentlichtes Recht anwendbar sein kann. Weiter müsste man zu den Rechtstexten die Urteile des Europäischen Gerichtshofes und des Gerichts erster Instanz rechnen. Diese Urteile haben direkte
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Rechtsfolgen. Dennoch sind sie nicht allgemein gültige Rechtssätze, da sie Einzelfälle der Anwendung des Rechts klären. Im weiteren Sinne sind auch alle Texte, die im Laufe des Legislativverfahrens ergehen, wie der Vorschlag der Kommission mit eingehender Begründung, ein Bericht und eine Entschließung des Europäischen Parlaments, eine gemeinsame Stellungnahme des Ministerrates, Rechtstexte. Zu den Rechtstexten im weiteren Sinne könnte man auch die Schlussanträge der Generalanwälte am Europäischen Gerichtshof zählen. Es scheint hier wichtig, die verschiedenen Kategorien von Rechtstexten zu erwähnen: sie stehen in einem engen Zusammenhang, bedenkt man, dass die Texte des Legislativverfahrens die vorbereitenden Texte eines Normativtextes sind. Die Rechtsprechung liefert Anwendungsmodelle, legt diese Normativtexte aus. Auch sind in diesem Kontext unter den Kategorien von Texten, die einen juristischen Inhalt haben, die rechtsbildenden Texte, die in allen Sprachen normativ und allgemein anwendbar sind, hervorzuheben. 2. Inwiefern sind sie „mehrsprachig“?
Alle oben erwähnten Rechtstexte sind mehrsprachig in dem Sinne, dass sie in allen heutigen Amtssprachen zur Verfügung stehen. Für Rechtstexte im engen Sinne, Verordnungen und Richtlinien, gilt das Prinzip der Authentizität aller Amtssprachen. Sie werden zusammen und parallel veröffentlicht und sind gleich bindend in allen Sprachversionen. Verordnungen und Richtlinien werden am gleichen Tag, in der gleichen Nummer des Amtsblatts, synoptisch – d.h. seitengleich – veröffentlicht. Sie treten für alle Bürger gleichzeitig und „gleichlautend“ in Kraft. Die alleinige Tatsache, dass es sich um allgemein gültiges Recht handelt, legt nahe, dass diese Texte gleichlautend und gleichbedeutend sein müssen. Hierdurch entsteht der theoretische Grundsatz, dass das Recht in der „gleichen“ Sprache erlassen wird. Im Gegensatz hierzu sind Entscheidungen nicht unbedingt in allen Sprachen bindend. Ein mitveröffentlichter Vermerk, dass nur die besonders erwähnte Fassung oder Fassungen bindend sind, beschränkt die Anwendbarkeit der vorhandenen Sprachfassungen. Im Allgemeinen sind diese Texte nur in der Sprache des Adressaten oder den Sprachen der Adressaten bindend. Das gleiche gilt für Urteile des Gerichtshofes und des Gerichts erster Instanz, für die im Zweifel auf die in der Verfahrenssprache oder den Verfahrenssprachen veröffentlichte Fassung zurückzugreifen ist. Texte des Legislativverfahrens werden zwar in allen Amtssprachen veröffentlicht, es ist aber unmöglich, einen Verordnungs- oder Richtlinienentwurf gleichzeitig in allen Sprachen zu diskutieren, so dass Debatten und Kompromisse zu-
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nächst in ein, zwei, sogar drei Sprachen geführt und geschlossen werden, bevor der Text auf die weiteren Sprachen ausgedehnt wird und die Wortlaute auf ihren gleichlautenden Charakter hin geprüft werden. Die bindende Wirkung der Rechtstexte in allen Sprachen betrifft also nur die reinen Normativtexte. Das Vorhandensein aller Sprachfassungen von anderen Texten, die vorbereitend waren oder auslegend sind, kann aber das Verständnis der Normativtexte in allen Sprachen beeinflussen. 3. Was erwartet der Bürger?
In den letzten zwölf Jahren hat sich die Europäische Union stark zu einer Politik der Transparenz bekannt. Die Union führt eine besonders sorgfältig erarbeitete Informationspolitik in Verbindung mit den Mitgliedstaaten durch.2 Die Entwicklung der Informationstechnik, z. B. des Internets, hat die Grundlagen der Informations- und Veröffentlichungspolitik stark verändert und vereinfacht die Kommunikation. In diesem Bereich haben neue Normen, wie z. B. die den Zugang zu Dokumenten betreffende Norm, die Rechtslage geprägt.3 Der freie Zugang zum Recht per Internet4 soll endlich dem selbst in den einzelnen Mitgliedstaaten nicht immer verwirklichten Grundsatz, dass der Bürger das Recht kennen muss, Rechnung tragen. Außer dem Zugang zu Rechtstexten muss allerdings auf europäischer Ebene auch der Zugang zu Dokumenten in einer dem Bürger verständlichen Sprache erfolgen können, also in seiner Muttersprache, bzw. in den Amtssprachen der Union. Der Bürger erwartet also über das Recht in Kenntnis gesetzt zu werden und dies in seiner Sprache und in einer Fassung, auf die er sich verlassen kann. Wie 2 Siehe hierzu insbes. Rat der Europäischen Union, Basistexte zur Transparenz hinsichtlich der Tätigkeiten des Rates der Europäischen Union, Amt für amtliche Veröffentlichungen, Luxemburg 2000; Rat der Europäischen Union, Zugang zu den Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission, Gebrauchsanleitung, Amt für amtliche Veröffentlichungen, Luxemburg 2002. 3 Siehe insbes. VO (CE) 1049/2001, Amtsbl. EG L, S. 1. 4 Seit dem 1.1.2002 ist EUR-Lex – unter http://europa/eur-lex.eu.int – insgesamt frei zugänglich. EUR-Lex ist ein Informationssystem, auf dem täglich das Amtsblatt der Europäischen Union seit 1998 in allen Sprachen erscheint, und dass außerdem Zugang u. a. zu den Texten der Verträge, zu den Texten des geltenden Rechts, auch in konsolidierten Fassungen, zu den Texten des Legislativverfahrens und der Rechtsprechung bietet. Die dokumentarische Datenbank des europäischen Rechts Celex ist z. Z. noch kostenpflichtig. Jedoch werden EUR-Lex und Celex zu einem neuen Informationssystem verschmolzen, das sowohl Zugang zu täglich veröffentlichten Texten wie zu dem dokumentarischen Service (ein Fundus von ca. 300 000 mehrsprachigen Dokumenten) zum 1.7.2004 kostenfrei anbieten wird.
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schon erwähnt, sind dementsprechend die Normativtexte in der Amtssprache, in der der Bürger sie liest, bindend. Die Anwendung der Texte beinhaltet jedoch auch ihre Auslegung. 4. Was ist Auslegung?
In einer mehrsprachigen Rechtsordnung ist Auslegung nicht spezifisch. Der Auslegungsvorgang verfolgt zwei Ziele: Zum einen geht es darum, die Norm auf einen bestimmten Sachverhalt anzuwenden, d.h. einen Sachverhalt daraufhin zu prüfen, ob er unter die Norm fällt; zum anderen geht es darum, linguistisch und juristisch die Bedeutung der Norm zu verstehen. Es geht also einerseits um Verstehen und andererseits um Anwenden. In der „Methodenlehre der Rechtswissenschaft“ schreibt Karl Larenz: „Dass die Bedeutung eines Gesetzestextes immer wieder problematisch wird, liegt in erster Linie daran, dass die Umgangssprache, deren sich das Gesetz weithin bedient, anders als eine mathematisierte Logik und Wissenschaftssprache keine in ihrem Umfang genau festgelegten Begriffe verwendet, sondern mehr oder minder flexible Ausdrücke, deren mögliche Bedeutung innerhalb einer Brandbreite schwankt und je nach den Umständen, der Sachbezogenheit und dem Zusammenhang der Rede, der Satzstellung und Betonung eines Wortes unterschiedlich sein kann“.5
Mithin ist Auslegen der Kern der meisten juristischen Berufe. Die Richterschaft nimmt dabei eine besondere Stellung ein, in dem sie an der Rechtsfortbildung teilnimmt.6 Traditionell soll die Auslegung nach verschiedenen Kriterien erfolgen. Sie soll mit dem Wortsinn beginnen, d.h. mit der „Bedeutung eines Ausdrucks oder einer Wortverbindung im allgemeine Sprachgebrauch oder [. . .] im besonderen Sprachgebrauch des jeweils Redenden, hier in dem des betreffenden Gesetzes“7. Sie erfolgt also nach dem Bedeutungszusammenhang des Gesetzes, nach der Regelungsabsicht, dem Zweck, Normvorstellungen, objektiv-teleologischen Kriterien, und sie muss verfassungskonform sein. Die theoretischen Analysen der Auslegungsmethoden in den verschiedenen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten variieren, die Ziele sind jedoch gemeinsam. In einer mehrsprachigen Rechtsordnung wie der der Europäischen Union, deren Richter aus den verschiedenen Rechtstraditionen der Mitgliedstaaten kommen, galt es daher, traditionelle Auslegungsmethoden auf das Europäische Recht anzuwenden. Dabei ging es hauptsächlich darum, die Methode zu präzisieren, die in einer mehrsprachigen Rechtsordnung das innere System des Rechts wahren kann. 5 6 7
Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl., Berlin 1975, S. 298. Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl., Berlin 1975, S. 350. Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl., Berlin 1975, S. 307.
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Pascale Berteloot 5. Welche Auslegungserfahrung haben wir?
Nach den Regeln des Vertrages sind alle Sprachfassungen gleichrangig. Das heißt, dass der Gerichtshof sich nicht auf eine dieser Sprachfassungen beziehen kann oder muss. Man könnte z. B. erwägen, dass der Gerichtshof auf die auf einen Fall anzuwendende Sprachfassung abstellen sollte: dies wäre im Allgemeinen die Verfahrenssprache, z. B. in einer Rechtssache, die die Anwendung europäischer Sozialversicherungsnormen in Deutschland beträfe, auf die deutschen Fassungen dieser Normen. Weiterhin hätte man in Betracht ziehen können, für jede Norm auf die Sprache abzustellen, in der die ersten Entwürfe der Norm konzipiert wurden: dies wäre im Allgemeinen französisch oder englisch gewesen. Dieses ist jedoch normalerweise nicht bekannt und könnte in einer demokratischen Ordnung auch kaum dem Bürger entgegen gehalten werden. Es wäre ebenso realitätsfremd wie unsachlich: durch die anfängliche Mitarbeit von Spezialisten aus verschiedenen Mitgliedstaaten fließen nicht unbedingt nur Begriffe aus einer einzelnen Rechtsordnung in den Entwurf – ein Vorgang der sich in den folgenden Schritten der Debatte und des Abstimmens der Norm noch verstärkt. Durch das ganze oder teilweise Einfließen von Begriffen und Instituten verschiedener nationaler Rechtsordnungen in die neu kreierte europäische Norm verformt sich der Ausdruck in einer Sprache und entspricht nicht mehr dem gewohnten Vokabular und Aufbau nationalen Rechts in dieser Sprache. In der Rechtsprechung des Gerichtshofes gibt es mehrere Urteile zur Auslegung von Normativtexten, in denen der Gerichtshof Sprachfassungen verglichen hat. In Anbetracht der Fülle des Rechts der europäischen Union und der notwendigen Übersetzungen in alle (heutigen) elf Sprachfassungen, ist die Zahl der Urteile, die man in diesem Kontext anführen kann, jedoch bescheiden. Man könnte sie in zwei Kategorien aufteilen: in einem Teil seiner Urteile wendet der Gerichtshof eine „reduzierende“ Methode an, in dem er nach einem Sprachvergleich manchen Sprachfassungen einen Vorrang gibt; in einem anderen Teil seiner Rechtsprechung wendet er eine meta-linguistische Methode an, in dem er versucht, die etwaigen Inkohärenzen, die sich aus dem Sprachvergleich ergeben, durch das Abstellen auf Ziel und Zweck der Norm, zu beseitigen. In beiden Fällen ist es das Anliegen des Gerichtshofes, eine einheitliche Auslegung der Norm vorzunehmen, die alsdann für alle Sprachfassungen gelten soll. Die „reduzierende“ Methode hat der Gerichtshof speziell in solchen Fällen angewendet, in denen man vor einem „linguistischen Problem“ stand, das im Anschluss an ein Urteil des Gerichtshofes an sich vom europäischen Gesetzgeber bereinigt werden sollte. Zitiert sei hier aus verschiedenen Urteilen. In der Rechtssache 19/67, Van der Vecht8, in der der Gerichtshof auf ein Auslegungsersuchen eines niederländi8
Sammlung der Rechtsprechung 1967, S. 462.
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schen Gerichts antwortet, ging es um die Auslegung der Verordnung Nr. 3, die damals Sozialversicherungsverhältnisse für Wanderarbeitnehmer regelte. In der Tat war das direkte Verständnis der niederländischen Fassung („een bedrijf [. . .] waarbij zij gewoonlijk werkzaam zijn“, d.h. ein Betrieb [. . .] bei dem sie – die Arbeitnehmer – gewöhnlich beschäftigt sind) anders als das der weiteren (zu dieser Zeit) drei Amtssprachen, die – so der Gerichtshof – „nahezu, wenn nicht sogar völlig entsprechend gefasst“ waren in dem Sinne, dass sie den Betrieb betrafen, „dem der Arbeitnehmer angehört“. Der Gerichtshof hob ergänzend hervor, dass in der späteren Verordnung Nr. 24/64 dieser Begriff eine niederländische Fassung erhalten hatte, „die den Fassungen in den drei anderen Sprachen besser entspricht“ („bedrijf [. . .] waaraan hij gewoonlijk verbonden is“). In seinem Urteil schließt der Gerichtshof also die Anwendung der niederländischen Fassung aus (reduzierende Auslegung) mit folgender Begründung: „Die Notwendigkeit einheitlicher Auslegung der Gemeinschaftsverordnungen schließt jedoch eine isolierte Betrachtung der erwähnten Textfassung aus und gebietet, sie bei Zweifeln im Lichte der Fassungen in den drei anderen Sprachen auszulegen und anzuwenden.“
In der Rechtssache 30/77, Bouchereau9, war der Gerichtshof von einem Gericht des Vereinigten Königreiches befasst worden. Es ging um die Auslegung von Vorschriften zu Einreise und Aufenthalt von Ausländern der Richtlinie Nr. 64/221/EWG. Ein Strafgericht hatte dem zuständigen Minister die Ausweisung eines französischen Bürgers empfohlen. Artikel 2 der Richtlinie betrifft auf Deutsch „Vorschriften“, auf Dänisch „bestemmelser“, auf English „measures“, auf Französisch „dispositions“, auf Italienisch „provvedimenti“, auf Niederländisch „voorschriften“ über die Einreise, die Erteilung oder Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis, oder die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet. Hingegen betrifft Artikel 3 auf Deutsch die „Maßnahmen“ („forholdsregler“, „measures“, „mesures“, „provvedimenti“ „maatregelen“) der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit, bei denen ausschließlich das persönliche Verhalten der in Betracht kommenden Person ausschlaggebend sind. Außer dem Englischen gebraucht nur die italienische Fassung das gleiche Wort in beiden Fällen. Nun stellt sich die Frage, ob die Empfehlung eines Gerichts eine „measure“ im Sinne von Artikel 3 sein kann, was die strikte Auslegung des englischen Begriffs nicht zulässt. Hierzu befand der Gerichtshof: „Ein Vergleich der verschiedenen sprachlichen Fassungen der genannten Bestimmungen zeigt, dass die anderen Fassungen mit Ausnahme der italienischen in den beiden Artikeln verschiedene Ausdrücke verwenden, so dass man aus der verwendeten Terminologie keine rechtlichen Folgerungen ziehen kann. Die verschiedenen sprachlichen Fassungen einer Gemeinschaftsvorschrift müssen einheitlich ausgelegt werden; falls die Fassungen voneinander abweichen, muss die Vorschrift daher nach 9
Sammlung der Rechtsprechung 1977, S. 1999.
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dem allgemeinen Aufbau und dem Zweck der Regelung ausgelegt werden, zu der sie gehört.“
Wenn auch der Wortlaut in den 50 Jahren Rechtsprechung des Gerichtshofes verschiedenen Varianten aufweist, ist es dennoch klar, dass der Gerichtshof die verschiedenen Sprachfassungen vergleicht und die Regelung nach ihrer Systematik und ihrem Zweck auslegt.10 In dem Vergleich der verschiedenen Sprachfassungen zeigt auch die Sache Bouchereau, wie der Gerichtshof spätere Übersetzungen einer Rechtsnorm, die in die Sprachen beitretender Länder angefertigt wurden, behandelt. Nach dem Beitritt eines neuen Mitgliedstaats sind die Sprachfassungen des Gemeinschaftsrechts in seiner Sprache oder in seinen Sprachen den Ursprungstexten gleichzustellen und werden in den allgemeinen vom Gerichtshof geforderten Vergleich der Sprachfassungen gleichberechtigt aufgenommen. So die englische und die dänische Fassung der in Frage stehenden Richtlinie in dieser Rechtssache, die aus dem Jahre 1964 stammte, d.h. sieben Jahre vor dem Beitritt des Vereinigten Königreiches und Dänemarks. Dies wendet der Gerichtshof insbesondere auch auf den Text der Verträge an, wie in der Rechtssache C-235/92 P, in der es um die substantivische Umschreibung eines verbal ausgedrückten Begriffs in Artikel 85 EWG-Vertrag geht (heute Artikel 81).11 6. Welche Schlussfolgerungen zieht man aus diesen Auslegungsbeispielen?
Die erste Schlussfolgerung betrifft die sprachlichen Problemfälle selbst. Analysiert man grob die juristische Sprache so stellt man fest, dass sie aus verschiedenen „Sprachschichten“ besteht: sie weist Elemente aus der Gemeinsprache auf, zudem Elemente aus der Gemeinsprache, die einen spezifischen anders liegenden Sinn im juristischen Bereich haben und trotzdem nicht unbedingt durchgehend im juristischen Sinne gebraucht werden, dem Recht spezifische Ausdrücke, und letztendlich juristische Begriffe.12 Die Auslegungsschwierigkeiten, 10 Siehe hierzu auch folgende Urteile: Urteil vom 27. März 1990 in der Rechtssache C-372/88, Cricket St Thomas, Slg. 1990, S. I-1345; Urteil vom 24. Oktober 1996 in der Rechtssache C-72/95, Kraaijeveld u. a., Slg. 1996, S. I-5403; Urteil vom 9. März 2000 in der Rechtssache C-437/97, Evangelischer Krankenhausverein Wien, Slg. 2000, S. I-1157; Urteil vom 13. April 2000 in der Rechtssache C-420/98, W. N., Slg. 2000, S. I-2847. 11 Urteil des Gerichtshofes vom 8. Juli 1999 in der Rechtssache C-235/92 P, Montecatini SpA gegen Kommission, Slg. 1999, S. I-4539; auf Deutsch lautet entsprechender Passus des heutigen Artikels 81 (gleich mit damaligem Artikel 85): „[. . .] Verhaltensweisen, welche [. . .] eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs bezwecken oder bewirken“, was einfach auf Italienisch mit „scopo anticoncorrenziale“, d.h. auf Deutsch „wettbewerbswidriger Zweck“ umschrieben wurde. 12 Eine systematische Analyse der Rechtssprache findet man bei Gérard Cornu, Linguistique juridique, Paris 22000.
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mit denen der Europäische Gerichtshof befasst worden ist, können juristische Begriffe betreffen: ein Beispiel ist die Rechtssache Bouchereau, in der es um die Begriffe „Vorschrift“ und „Maßnahme“ geht. Probleme können auch Wörter der allgemeinen Sprache betreffen, wie zum Beispiel das Wort „oder“ in Artikel 81 des Vertrages (früher Artikel 85). Die zweite betrifft die Rechtssicherheit. Wenn der Gerichtshof selbst vorgibt, sein Ziel sei die einheitliche Auslegung des Rechts der europäischen Union, dann bedeutet dies, dass er zur Beachtung eines einheitlichen Rechts in allen Mitgliedstaaten in einigen Fällen die Rechtssicherheit des Einzelnen, der sich folglich auf die für ihn in seiner Muttersprache zugänglichen Sprachfassung nicht verlassen kann, zurückstellt. Wieso der Gerichtshof relativ wenig mit Problemen des Auseinanderklaffens der verschiedenen Sprachfassungen befasst wird, ist schwer zu erklären. Vielleicht liegt es daran, dass die mit der Norm selbst veröffentlichten Ziele des europäischen Gesetzgebers bei Verabschieden der Norm dem Bürger schon eine Möglichkeit geben, die Norm ziel- und zweckkonform zu verstehen. Anders gesagt liegt es vielleicht daran, dass der Bürger – oder seine Rechtsbeistände und Rechtsberater – selbst unbewusst mit mehrsprachigen Rechtstexten anders umgehen und von vorneherein ein gewisses Maß an Rechtsunsicherheit mit in Kauf nehmen. Letztendlich heißt dies für den Bürger, dass er zwar Zugang zum Recht der europäischen Union in seiner Sprache hat, dass seine Sprache gleichberechtigt mit den der anderen Mitgliedstaaten verwendet wird, dass er aber nicht ganz sicher sein kann, dass in linguistischen Problemfällen sein Recht auf seine Sprache immer verwirklicht werden kann. II. Der Satz „das gleiche Recht, Vielfalt der Sprachen“ und gesetzestechnische Regeln 1. Wie entstehen mehrsprachige Gemeinschaftsrechtstexte?
Wir beziehen uns hier auf das meist gängige Verfahren, das sog. Mitentscheidungsverfahren, in dem Rechtsakte sowohl vom Europäischen Parlament wie auch vom Rat angenommen werden müssen. Nachdem in einer bestimmten Abteilung der Kommission als Institution, die hauptsächlich das Initiativrecht innehat, Vorarbeiten geleistet worden sind, wie z. B. die Konsultation von Experten in verschiedenen Mitgliedstaaten, und beschlossen worden ist, eine Regelung in einem bestimmten Bereich vorzuschlagen, wird ein so genanntes „KOM Dokument“ erarbeitet. Dieses beinhaltet generell zwei wichtige Teile: die Begründung und den Vorschlag eines Rechtsaktes selbst. Dieses „KOM Dokument“ entsteht in aller Regel nach der internen Arbeitspraxis der Kommission auf English oder auf Französisch, in manchen Fällen auch auf Deutsch.13 Es handelt sich normalerweise um die gemeinsame Sprache, die die Mitarbeiter einer
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Abteilung gebrauchen, nicht um die Muttersprache desjenigen Beamten, der mit dem Redigieren beauftragt worden ist. Die Kommission hat auch keinen zentralen Dienst, der mit dem Redigieren von Gesetzesvorschlägen beauftragt wäre. Der juristische Dienst der Kommission wird erst sehr spät mit dem Text befasst. Nachdem dieser erstentworfene Text innerhalb der Abteilung der Kommission seine definitive Form angenommen hat, wird er – nach einer internen Konsultation anderer eventuell interessierten Dienste – in die (heutigen) zehn weiteren Sprachen der Union übersetzt. Gleichzeitig wird dieser Text vom Kollegium begutachtet und eventuell schon in der oder den vorhandenen Sprachen als Vorschlag der Kommission angenommen. Wenn alle Sprachversionen vorliegen, beginnt das interinstitutionelle Rechtsetzungsverfahren unter Einbeziehung des Parlaments und des Rates. 2. Wie wichtig ist Gesetzestechnik?
Die Gesetzestechnik oder Legistik war etwas in Vergessenheit geraten, erfährt aber als wichtiger Bereich der juristischen Forschung und Betätigung eine neue Blütezeit.14 Ob dies mit der technologischen Entwicklung zusammenhängt, oder etwa damit, dass der Bürger höhere demokratische Anforderungen stellt und in Kenntnis des Rechts gesetzt werden will, sei dahin gestellt. Als Faktum ist jedoch festzuhalten, dass die Verbreitung von Rechtstexten durch moderne Informationstechnik, die Kritik an der unnötigen und undemokratischen Unverständlichkeit der Rechtssprache, das Verlangen einer einfachen und verständlicheren Sprache für Rechtstexte, und der wachsende Gebrauch von modernen Technologien zur Schaffung von Texten und zur Durchführung von Legislativverfahren zeitlich zusammenfallen. Von Seiten des Staates hängt die Erneuerung der Gesetzestechnik mit der technologischen Entwicklung zusammen: mit dem „elektronischen Rechtserzeugungsprozess“, mit der Verwendung von „Formatvorlagen“ usw.15 Skeptiker des elektronischen Zeitalters pflegen zu sagen, man 13 Die aktuellsten internen Zahlen der Kommission sind 55 % Englisch, 42 % Französisch, 3 % Deutsch. 14 Beispiele von Veröffentlichungen im Bereich der Legistik: Dominique Rémy, Légistique – L’art de faire les lois, Paris 1994; Charles-Albert Morand, Légistique formelle et matérielle, Aix-en-Provence 1999; Michele Ainis, Checklist per la redazione dei testi normativi, Rassegna parlamentare 1998, S. 184; Rodolfo Pagano, Le direttive di tecnica legislativa in Europa, Camera dei Diputati, Roma 1997; Rodolfo Pagano, Introduzione alla legistica – L’arte di preaparare le leggi. Milano 1999; Ulrich Karpen, Paul Delnoy, Contributions to the methodology of the creation of written law, BadenBaden 1996; Robert Bergeron, Essays on legislative drafting, Ottawa 1999; insbes. zum Gemeinschaftsrecht Arianna Vedaschi, Istituzioni europee e tecnica legislativa, Milano 2001; Asser Instituut, Improving the quality of legislation in Europe, The Hague 1998. 15 Hierzu siehe z. B. http://www.bka.gv.at/bka/legistik: Seite der Regierung Österreichs zur Legistik.
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solle sich nicht auf ein Arbeitsverfahren einlassen, das von der Technik oder den Technikern vorgeschrieben sei. Man solle vielmehr die Technik zu seinem Instrument machen und nutzen. Wie dem auch sei: das elektronische Zeitalter verlangt klare und logische Abläufe, genaue Definitionen verschiedener Fälle und ihrer Ausnahmen. Sie erfordert also ein tieferes Nachdenken über Prozesse, u. a. auch in der Legistik. Diese Arbeit kommt nicht nur dem Schaffen von einsprachigen Rechtstexten, sondern auch der Schaffung von mehrsprachigen Rechtstexten zugute. 3. Beispiele von Mitglied- und Drittstaaten
Im Zuge einer vereinfachten Kommunikation, geben immer mehr Verwaltungen Richtlinien, Leitfäden und Empfehlungen zur Gesetzgebungstechnik bekannt. In dieser Hinsicht ist es besonders interessant, sich mit den Leitfäden zwei- oder mehrsprachiger Länder zu befassen. Eingangs befindet sich oft eine Erklärung zum Mangel an Qualität der Rechtstexte und zur Notwendigkeit, Regeln zu befolgen. In dem belgischen Leitfaden16 heißt es unter anderem: Rechtsvorschriften „sind kurz und bündig zu formulieren, und es muss auf die Angemessenheit der Wortwahl geachtet werden, d.h., dass die Bedeutung der gebrauchten Wörter genau mit demjenigen übereinstimmen muss, was man ausdrücken will. . . . Es muss darauf geachtet werden, dass der deutsche, der französische und der niederländische Text völlig miteinander übereinstimmen. Diesbezüglich kann zu einer Koredaktion durch Fachleute nur ermutigt werden“.17
Der Begriff der Koredaktion geht auf die Gesetzestechnik in Kanada zurück. Dort betrifft sie allerdings nicht nur eine Koredaktion mit Fachleuten, sondern verbindet die spezifischen Sprach-, Rechts- und Fachkenntnisse. Vier Personen arbeiten gleichzeitig an den englischen und französischen Fassungen eines Gesetzesvorschlags in eigens dafür eingerichteten Räumen in einer zentralen Abteilung des Justizministeriums, das auf legal drafting spezialisiert ist: ein anglophoner Jurist des Common Law Systems, ein frankophoner Jurist des Civil Law Systems, sowie ein anglophoner und ein frankophoner Spezialist der Materie aus dem jeweiligen betroffenen Ministerium. Das Übereinstimmen beider Fassungen wird direkt geprüft; der einen oder anderen Sprache spezifische Formeln werden unabhängig angewendet.18 16 Der belgische Leitfaden ist auf der Seite des belgischen Staatsrates in den drei Amtssprachen Französisch, Niederländisch und Deutsch zu finden unter http://www. raadvst-consetat.be. 17 Siehe genannten Leitfaden, deutsche Fassung, S. 23. 18 Auch interessant in diesem Kontext ist ein Dokument mit dem Titel „A paper discussing cases where the two language texts of an enactment are alleged to be different“, das auf der Internet Seite des Justizministeriums von Hong Kong – das seit
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Pascale Berteloot 4. Die Gesetzestechnik in der Europäischen Union
Arbeitsmethoden, die in zwei- oder dreisprachigen Ländern noch angewendet werden können, kann die Union der elf Sprachen und die morgige Union der zwanzig Sprachen nicht nachahmen. Dennoch haben die Kritiken zur Qualität der Gemeinschaftsrichtlinien und -verordnungen19 zu einigen wichtigen Maßnahmen geführt. Die wichtigste befindet sich im Anhang zur Schlussakte des Vertrags von Amsterdam: die Erklärung Nr. 39 zur redaktionellen Qualität der gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften. Diese Erklärung zog eine interinstitutionelle Vereinbarung nach sich,20 die nun 2003 zur Veröffentlichung von gemeinsam von den drei Institutionen, die am Gesetzgebungsverfahren teilhaben, zu beachtende Leitlinien unter dem Titel „Gemeinsamer Leitfaden für die Abfassung von Rechtstexten“ geführt hat. Diese Maßnahmen zur Verbesserung der Qualität der Sprache tragen selbstverständlich auch zur parallelen Berücksichtigung der verschiedenen Sprachversionen der Rechtstexte bei.21 5. Der Nutzen der Maßnahmen im Hinblick auf die Mehrsprachigkeit
Gesetzestechnik beinhaltet viel mehr als nur formelle Ausdrucksweise, und man spricht auch gerne von der materiellen und formellen Gesetzestechnik. Hier ist natürlich von der formellen Gesetzestechnik die Rede. Reine Formalien des Gesetzes können vereinfacht und stilisiert werden: einheitliche Ausdrucksformen können in manchen Fällen sogar in mehreren Sprachen gleichzügig automatisiert werden. Das trägt zur Kohärenz bei.22 Keiner wird sich mehr fragen, ob die Abweichung gewollt war, und was sie wohl bedeuten soll. Dies betrifft im wesentlichen Aktenzeichen, Aufbau des Titels, Bezugsvermerke mit Angaben zur Rechtsgrundlage, vorgeschriebene Vorverfahren
1986 seine Gesetze in den zwei Sprachen Chinesisch und Englisch hat – durch die Legal Drafting Division veröffentlicht worden ist; siehe unter http://www.justice. gov.hk. 19 Hierzu siehe insbes. Entschliessung des Rates vom 8. Juni 1993 über die redaktionelle Qualität der gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften, Amtsblatt C 1666 vom 17.6.1993, S. 1; Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Verständliche Ausdrucksweise“, Amtsblatt C 256 vom 2.10.1995, S. 8. 20 Interinstitutionnelle Vereinbarung vom 22. Dezember 1998 – Gemeinsame Leitlinien für die redaktionnelle Qualität der gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften, Amtsblatt C 73 vom 17.3.1999, S. 1. 21 Amt für amtliche Veröffentlichungen, Luxemburg 2003. 22 Auf der Grundlage von elektronischen Formblättern zur förmlichen Gestaltung der Urteile, d.h. eine strikte juristische und intern abgestimmte einheitliche Präsentation der Förmlichkeiten des Urteils, können am Gerichtshof der EU Standardformulierungen mit ihren Abweichungen automatisch in allen Sprachen kreiert werden. Das gleiche Verfahren kann auch auf Formblätter der Verordnungen und Richtlinien angewendet werden.
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(Einholung von Stellungnahmen) und Verfahrensakte. Am Ende des Rechtsaktes betrifft dies Formeln zum Wirksamwerden des Rechtsaktes, zur Durchführung und zum Beginn der Geltungsdauer. Gerade diese Formeln können durch Unklarheit zu Schwierigkeiten bei der Anwendung des Rechts führen. Selbst mit notwendigen Varianten sind weitgehend einheitliche Formulierungen, die eindeutig sind und in allen Sprachen vorgefertigt vorliegen können, möglich. Zur Sprache und zur Ausdrucksweise ist es viel schwieriger einen Leitfaden zu verfassen. Seit dem Beitritt des Vereinigten Königreichs hat die common law Tradition, Begriffe in einem Rechtstext eingangs zu definieren, Ende der siebziger Jahre Eingang in die Rechtstexte der damaligen Gemeinschaft gefunden. Dazu heißt es im Leitfaden: „Jeder Begriff sollte in der Bedeutung gebraucht werden, die er in der Umgangsoder der Fachsprache hat. Aus Gründen der Rechtssicherheit kann es jedoch erforderlich sein, im Akt selbst die Bedeutung der darin verwendeten Begriffe zu definieren. Dies ist insbesondere der Fall, wenn der Begriff mehrere Bedeutungen hat, aber im betreffenden Rechtsakt nur in einer Bedeutung verstanden werden soll, oder wenn der Begriff für die Zwecke des Rechtsakts in einem weiteren oder engeren Sinn als dem allgemein üblichen gebraucht wird. Die Definition darf jedoch dem allgemein üblichen Wortsinn nicht widersprechen.“23
Bei der ersten Lektüre ist die Empfehlung etwas verwirrend und scheint nicht zur klaren Ausdrucksweise beizutragen. Dennoch gebietet es die Regelungsvielfalt, manchmal das gleiche Wort immer wieder in einem anderen Sinn und als anderen Begriff zu verwenden. Die für den ganzen Rechtsakt geltende Definition am Anfang einer Regelung ist auf jeden Fall willkommen. Ein weiterer Schritt ist jedoch weder im Leitfaden verzeichnet noch in der Praxis der Kommission bei der Übersetzung des Vorschlags vorgesehen nämlich die Funktionalität des gebrauchten Wortes in mehreren Sprachen. Denn die Übersetzung bringt Undeutlichkeiten zum Vorschein, die es in der Entwurfssprache zu korrigieren gilt. Die einfache Frage des Autors nach dem „Funktonieren“ eines Wortes in anderen Sprachen, d.h. über seine Übersetzungsmöglichkeit und seine möglichen Übersetzungen, kann mehr Klarheit für alle Sprachen bringen und eine bessere mehrsprachige Kohärenz fördern. Die Klarheit der Sprache ist nicht nur durch Disziplin beim Gebrauch einzelner Worte und Begriffe gegeben, sondern ergibt sich auch durch die Syntax. Hierzu gibt das kanadische Justizministerium unter dem Titel „Reducing vagueness or ambiguity“ interessante Empfehlungen aus, sowie einige Beispiele, die zeigen, wie der Gebrauch des Singular gegenüber dem Plural im Englischen mehr Klarheit bringt.24 Allerdings sind solche Leitlinien selten, weil sie gerade 23
Gemeinsamer Leitfaden, Punkt 14. A Guide to the making of Federal Acts and Regulations, Ottawa 1995, mit letztem Updating am 14.1.2004, unter http://canada.justice.gc.ca. 24
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auch sehr schwierig auszumachen sind. Sie erfordern die Analyse von bestehenden Texten auf ihre Verständlichkeit und auf ihre Parallelen in anderen Sprachen. Eine solche Analyse, die auf eventuelle Unstimmigkeiten in den Parallelsprachen hinweist, kann auch für den Formulierungsvorgang einer Leitlinie insgesamt hilfreich sein. Der Nutzen – oder besser der Zweck – von Regeln zur Gesetzesformulierung liegt auf der Hand. Das „Wie?“ bleibt ein großes Fragezeichen. Die linguistische Analyse von Gesetzestexten und vor allem von mehrsprachigen Gesetzestexten könnte in dieser Hinsicht noch eine Zukunft mit sehr praktischen Folgen haben. In einer kürzlich erschienen Studie zum französischen Code civil und zu seinem Stil heißt es, es gäbe kein Rezept zur Abfassung von Gesetzen – das Redigieren von Gesetzen bliebe mysteriös.25 In einem sachlichen und logischen Fach wie dem Recht sind solche Aussagen weniger befriedigend. Dennoch bezeugen sie, welche Hürden noch zu nehmen sind. Zum Schluss sollten wir auf das Eingangszitat von Benjamin Constant zurückkommen: „der gleiche Code, die gleichen Maßnahmen, die gleichen Verordnungen und, wenn es nach und nach erreichbar ist, die gleiche Sprache: das ist es was man als Vollkommenheit jeder gesellschaftlichen Ordnung bezeichnen kann“. Dieser Satz hat eine tiefere Bedeutung, mit der sich Alain Diekhoff in seiner Monographie über Staat und Nation auseinandersetzt.26 Das Ziel Benjamin Constants, wie auch das Ziel der Väter der Europäischen Gemeinschaften, das heute auch noch unbewusst in der Mehrzahl der Beiträge zu Europa nachlebt, ist es, eine Gemeinschaft zu schaffen, die in ihrem Pluralismus auf gemeinsamen demokratischen Werten beruht. Allein diese demokratischen Werte – Demokratie, Anerkennung von Menschenrechten – sollen die Gemeinschaft über nationales Denken hinweg zementieren. Dieses Denken ist auch unbewusst den Gründerstaaten eigen gewesen, die trotz mehr oder weniger ausgeprägtem nationalen Denken und nationalen Werten aus einer ethnischen Pluralität erwachsen sind und einen einheitlichen Staat gebildet haben. Dies war Constants Gedanke. Das heutige Europa hat mehr und mehr Staaten aufgenommen, die sich zwar an die Gemeinschaft demokratischer Werte anschließen, diese aber gleichstellt mit ihren eigenen ethnischen Werten. Dies ist verständlich, wenn man bedenkt, dass gerade eine Vielzahl dieser Staaten sich erst kürzlich wieder aus einer Gemeinschaft – sei es die ehemalige UdSSR oder das ehemalige Jugoslawien –, die sie als Misserfolg erachteten, lösen konnte. Dieses ethnische Denken hat im 25 Gérard Cornu, L’art d’écrire la loi, Le Code civil, Revue Pouvoirs, Paris 2003, S. 5 ff. 26 Siehe Fn. 1.
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gesamten Europa eine neue Entwicklung erfahren und wird es kaum zulassen, dass sich in aller nächster Zeit der Pluralismus von Staaten, Sprachen und Ethnien zu einer Gemeinschaft zusammenführen lässt, die auf sprachliche Rechte verzichten wird. Die Europäische Union wird also selbst die Sprachen der kleinsten Minderheiten, wenn sie sich in einem nationalen Staat zusammengefunden haben, beachten müssen und weiterhin immer sicherere und effizientere Wege suchen müssen, um die Vielsprachigkeit des Rechts zu verwirklichen. Es soll also nicht vom Bürger Europas oder von einem einzelnen Staat verlangt werden, sich außer an gemeinsame Werte auch an eine gemeinsame Sprache anzunähern, sondern es wird Aufgabe der Union und ihrer Institutionen sein, das Recht den Bürgern und den einzelnen Staaten näher zu bringen. In dieser Hinsicht muss das weite Feld der parallelen Ausdrucksweise in verschiedenen Sprachen noch stärker bearbeitet werden. Die Erstellung paralleler Textfassungen ist aber nicht allein Aufgabe der Übersetzer, sondern sollte auch aus dem bewussten Redigieren der Autoren hervorgehen.
Zur Textproduktion im Gemeinschaftsrecht Isolde Burr und Tito Gallas* „So wächst mit der Europäischen Union zum ersten Mal in der Neuzeit (soweit ich sehe) eine politische Einheit heran ohne das Bedürfnis nach einer eigenen Geschichte und historischen Orientierung.“1
In dieser markanten Feststellung des Historikers Ch. Meier wird deutlich, dass nicht primär die gemeinsame Geschichte dem Kerngedanken der EU entspricht. Vielmehr gelten das Postulat der Vielfältigkeit der Sprachen und Kulturen sowie die prinzipielle Offenheit als Konstruktionsprinzipien für den Europagedanken.2 Die Vielfalt europäischer Kulturen und Sprachen ist Teil des demokratischen Grundverständnisses und bringt dieses gleichzeitig zum Ausdruck. Diese Pluralität ist zudem selbstverständlicher Bestandteil der politischen und ökonomischen Zielsetzungen, an denen sich die Europäische Gemeinschaft von Anfang an orientiert hat. Sprachenvielfalt gilt als konstituierendes Merkmal europäischer Identität, der in Texten des Gemeinschaftsrechts Rechnung getragen wird, denn „l’Europe ne peut construire son unité que dans le respect de sa diversité linguistique, élément essentiel de son identité“3. Nicht ohne Grund akzentuiert Art. 22 der Europäischen Grundrechtecharta (EGRC) diese Diversität: * T. Gallas ist Abteilungsleiter im Juristischen Dienst des EU-Rates. Der vorliegende Beitrag gibt seine persönlichen Meinungen, nicht die des Organs wieder. 1 Meier, Ch., Wandel ohne Geschichtsbewusstsein – Ein Paradox unserer Zeit?, Radiomanuskript SWR2 Aula – 17.02.2002. 2 Zur umfänglichen Debatte um den geistesgeschichtlichen Begriff des Europagedankens, die vor allem seit dem 18. Jahrhundert einen spezifischen Europadiskurs begründete, siehe Steinkamp, V., L’Europe éclairée. Das Europa-Bild der französischen Aufklärung, Frankfurt/M. (= Analecta Romanica 67), 2003, S. 7 ff. Eine erneute Diskussion um dieses Thema kam nach 1989/90 vor allem von Frankreich aus in Gang. J. Derrida, der 2003 zusammen mit J. Habermas in den öffentlichen Diskurs um den Entwurf einer Europäischen Verfassung eingetreten war, hatte 1991 die Offenheit des Europabegriffs hervorgehoben: „Quelque chose d’unique est en cours en Europe, dans ce qui s’appelle encore l’Europe même si on ne sait plus très bien ce qui s’appelle ainsi. A quel concept, en effet, à quel individu réel, à quelle entité singulière assigner ce nom aujourd’hui? Qui en dessinera les frontières?“ (Derrida, J., L’autre cap, Paris 1991, S. 12).
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„Die Union achtet die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen.“ (Art. 22 EGRC).
Die Tatsache, dass die EGRC am 8. Dezember 2000 in Nizza feierlich in 12 Sprachfassungen verkündet worden war, ist in den besonderen Bedingungen des EG-Rechts begründet, das die Mehrsprachigkeit als einen wesentlichen Faktor integriert. Auch lässt sich die EGRC als ein Dokument lesen, welches selbst bereits durch seine Genese den Anforderungen nach sprachlicher und kultureller Vielfalt Rechnung trägt. Zwar hat dieser Text noch keine rechtsverbindliche Wirkung, aber er besitzt einen stark programmatischen Charakter, besonders aufgrund der Bedingungen seiner Entstehung, seiner Benennung als „Charta“ wie auch seiner Verabschiedung in Form einer „Proklamation“. Erstmalig wurde in der Geschichte des Gemeinschaftsrechts zur Erstellung eines Rechtstextes ein Konvent einberufen, der als „Ad-hoc“-Organ einen neuen Rahmen für die Textproduktion darbot. Im Auftrag der Europäischen Räte von Köln und Tampere schuf der Konvent unter der Leitung von Roman Herzog ein gemeinschaftliches Konvolut von bereits in den nationalen Verfassungen und in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) weitgehend gesicherten Grundrechten und -freiheiten, die jedoch nun in einem Gemeinschaftstext zusammengefasst wurden, der in einer zukünftigen europäischen Verfassung integriert werden soll. Bemerkenswert bleibt, dass mit dem Gebot der offenen Diskussion über die Inhalte ein wichtiger Aspekt der sprachlichen Gestaltung für die jeweiligen Amtssprachen Berücksichtigung fand. Die Konventsmethode4 hat sich als zukunftsweisend etabliert und prägte die Arbeit des Europäischen Konvents, der mit 3 Fenet, A., Diversité linguistique et construction européenne, in: Revue trimestrielle du droit européen 37 (2), avril-juin 2001, S. 235 ff. Aus der Vielzahl der Publikationen zu diesem Thema: Labrie, N., La construction linguistique de la Communauté européenne, Paris 1993; Haarmann, H., Europeanness, European identity and the role of language. Giving profile to an anthropological infrastructure, in: Sociolinguistica 9, 1995, S. 1 ff.; Burr, I., Mehrsprachigkeit und Europäische Integration, in: Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (Hrsg.), Viersprachig, mehrsprachig, vielsprachig/La Suisse, un pays où l’on parle quatre langues et plus. Tagung der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften, Biel 14. November 2002, Bern 2003, S. 57 ff.; Burr, I./Gréciano, G. (Hrsg.), Europa: Sprache und Recht/La construction européenne: aspects linguistiques et juridiques, Baden-Baden 2003 (= ZEI 52). 4 Zu dieser neuen Verfahrensweise von Texterstellung siehe Meyer, J. in: Meyer, J. (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Baden-Baden 2003, S. 5 f.: „Die Allgemeinverständlichkeit der Sprache [der EGRC] ist vor allem auf die Konventsmethode zurückzuführen, die durch die Öffentlichkeit der Konventssitzungen und durch einen steten kommunikativen Austausch zwischen den Delegierten des Konvents, mehrheitlich Parlamentariern, und der Zivilgesellschaft einerseits und dem Präsidium des Konvents andererseits gekennzeichnet ist. So konnten keine schon durch ihre Sprache schwer verständlichen Texte etwa nach Art des Vertrages von Nizza entstehen“.
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Valéry Giscard d’Estaing als Vorsitzendem und dem Mandat des Europäischen Rates von Laeken (Dezember 2002) einen Verfassungsentwurf für Europa erstellen sollte. Dieser Entwurf für einen Verfassungsvertrag hat mittlerweile Gestalt angenommen und die EGRC vollständig integriert. Beim In-Kraft-Treten des Verfassungsvertrags wird dadurch die EGRC rechtsverbindlichen Charakter erhalten. I. Besonderheiten des EG-Rechts Die große Anzahl von Sprachen, deren Fassungen im EG-Recht gleichermaßen rechtsverbindlich sind, stellt ein besonderes Charakteristikum des Gemeinschaftsrechts dar. Nach der Osterweiterung der EU vom 1. Mai 2004 ist die Zahl der rechtsverbindlichen offiziellen Sprachen von vormals elf5 auf inzwischen zwanzig6 Sprachen angestiegen. Mit dem wahrscheinlichen Beitritt von Rumänien und Bulgarien werden ab 2007 noch zwei weitere hinzukommen. 1. Mehrsprachigkeit durch Übersetzung oder durch Koredaktion
Die spezifische Sprachenvielfalt des Gemeinschaftsrechts ist kein rein theoretisches Konstrukt, sondern hat einschneidende praktische Folgen. Mehrsprachige Rechtssysteme sind, wie die Beispiele Schweiz, Belgien, Finnland, Kanada usw. zeigen, grundsätzlich keine Seltenheit. Hier wurden einzelstaatliche Methoden entwickelt, um die Übereinstimmung der Gesetzesnormen in allen Fassungen zu gewährleisten. In der Rechtsordnung der Europäischen Union reichen jene einzelstaatlichen Lösungen nicht aus, da es hier unter anderem gilt, trotz national unterschiedlich geprägter Rechtsterminologien eine gemeinschaftsrechtliche Auslegungsbasis zu finden. Beispielsweise kommt es nicht selten vor, dass ein 5 In der Verordnung Nr. 1/58 (ABl. Nr. 17/1958, S. 385/58) in der Fassung der Beitrittsakte von 1994 (ABl. C 241/1994, S. 1) sind folgende „Amts- und Arbeitssprachen“ aufgeführt: Dänisch, Deutsch, Englisch, Finnisch, Französisch, Griechisch, Italienisch, Niederländisch, Portugiesisch, Schwedisch und Spanisch. Irisch (Gaëlisch) ist keine Amtssprache im Sinne der Verordnung Nr. 1/58; doch ist die irische Fassung im Primärrecht (Vertrag über die Europäische Union und Verträge zur Gründung des Europäischen Gemeinschaften und Änderungsverträge derselben) sowie in der EGRC gleichermaßen verbindlich. Nur Süd-Afrika kennt ebenfalls elf Amtssprachen, deren Gebrauch jedoch, schon den ethnisch-geographischen Gegebenheiten zufolge, völlig anders geregelt ist als in der Europäischen Union, vgl. Vanderlinden, J., Exercice comparatif au départ d’un sujet convenu. Le droit sud-africain entre principe et réalisme, in: Sacco, R. (Hrsg.), L’interprétation des textes juridiques rédigés dans plus d’une langue, Torino/Paris 2002, S. 295 ff. 6 In der Verordnung Nr. 1/58 sind nach der Fassung der Akte zum Beitrittsvertrag vom 16.4.2003 (ABl. Nr. L 236/33, 791 v. 23.9.2003) folgende Nationalsprachen hinzugefügt worden: Estnisch, Lettisch, Litauisch, Maltesisch, Polnisch, Slowakisch, Slowenisch, Tschechisch und Ungarisch.
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Ausdruck in ein und derselben Sprache im Gemeinschafts- und im nationalen Recht verschiedene Bedeutungen hat. So können Termini wie frz. directive, dt. Richtlinie in der nationalen Rechtssprache Frankreichs bzw. Deutschlands je nach Rechtsbereich sowohl Vorgaben „mit legalem Konzept“ als auch „ohne legales Konzept“ bezeichnen. Als Termini des Gemeinschaftsrechts bezeichnen sie jedoch eine andere Form von Gesetzgebungsakt. Die Methoden zur Konkordanz der Texte, wie sie in den mehrsprachigen Ländern ausgearbeitet wurden, sind aufgrund des großen Spektrums von Amtssprachen in der Europäischen Gemeinschaft zum Teil nur bedingt anwendbar. Die denkbaren Lösungen für die Abfassung von Rechtstexten in gleichwertigen Sprachen sind zwischen zwei gegensätzlichen Positionen anzusiedeln. Es ist vorstellbar, dass nur eine der Sprachen maßgeblich ist, während die anderen ausschließlich Übersetzungscharakter besitzen. Im Gemeinschaftsrecht wird dies dann praktiziert, wenn die Gemeinschaft einem internationalen Übereinkommen beitritt, das nur in einer Sprache authentisch ist, und sie die Versionen in den anderen Amtssprachen veröffentlicht, aber als Übersetzung kennzeichnet.7 Eine solche Regelung hat für das eigentliche Gemeinschaftsrecht wie zum Beispiel für erlassene Verordnungen oder Richtlinien nicht nur aus politischen, sondern auch aus grundrechtlichen Überlegungen nie zur Debatte gestanden und wäre zudem mit dem Demokratieprinzip nach Art. 6 EUV nicht vereinbar.8 So schreibt Y. Yvon zu Recht: „Es wäre untragbar, in einem demokratischen Rechtstaat unmittelbar anwendbare Normen in einer anderen Sprache als der von der Mehrheit seiner Bürger gesprochenen zu produzieren“.9
Direkt anwendbares Recht ist dem Bürger in einer solchen sprachlichen Form mitzuteilen, dass dieses für ihn in seiner Landessprache verständlich ist, was eine reine Übersetzung ohne Berücksichtigung des Anspruchs der Gleichwertigkeit aller Amtssprachen nicht zu leisten vermag. Um einem solchen Desiderat gerecht zu werden, sind verschiedene Möglichkeiten in Betracht zu ziehen. Ein der Übersetzung aus einer maßgeblichen Amtssprache entgegengesetztes Prinzip ist das der Koredaktion bzw. der Zweisprachigen Redaktion10. Für beide 7 Ein Beispiel dafür ist das Internationale Kaffee-Übereinkommen von 2001 (ABl. L 326 vom 11.12.2001, S. 25). 8 In diesem Sinn auch das „Maastricht-Urteil“ des deutschen BVerfG (BVerfGE 89, 185). 9 Yvon, Y., Spachenvielfalt und europäische Einheit – Zur Reform des Sprachenregimes der Europäischen Union, in: EuR, Heft 4-2003, S. 690 ff. 10 In Kanada wird seit Beginn der Siebzigerjahre in der Gesetzestechnik das Verfahren der Koredaktion praktiziert. Hierbei ist die Besonderheit des Nebeneinanders nicht nur von zwei Sprachen (Französisch-Englisch), sondern auch von zwei Rechtssystemen (Common Law System – Civil Law System) zu berücksichtigen. Die Gesetzestexte werden in den verschiedenen Sprachen gleichzeitig redigiert und überprüft. Siehe
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Vorgehensweisen gibt es keinen definitiven Ausgangstext, vielmehr entstehen die authentischen Letztfassungen in den einzelnen Sprachen als Ergebnis der Kooperation der Gesetzesredakteure. Der beabsichtigte Inhalt des Gesetzes wird hierbei als Rohmaterial unter Abstimmung der Redakteure in zwei oder mehr Sprachfassungen des Gesetzestextes gegossen. Diese Methode ist sicherlich die wirksamere und auch die elegantere, weil sie das génie de la langue, die Eigenart jeder Sprache berücksichtigt. Solche Vorgehensweisen, die bei zwei, bestenfalls drei Sprachen durchführbar sind, erweisen sich jedoch bei elf Sprachen und mehr als nicht mehr praktikabel, denn ein Text kann nicht gleichzeitig in elf oder noch mehr Sprachen erstellt werden. Die für das Gemeinschaftsrecht angewandte Methode liegt zwischen den beiden Extremen,11 d.h. zwischen reiner Übersetzung, die den Ausgangstext als den authentischen Text wertet, und der Koredaktion, bei der die Übersetzungsvorgänge als gestalterisches Vorgehen in der Textproduktion der authentischen Texte fungieren. Der Gesetzestext wird in einer der gebräuchlichsten Amtssprachen, meist Englisch oder Französisch, zwischen Rat, Europäischem Parlament und Kommission ausgehandelt. Auf diesen Text wird bei den weiteren Diskussionen immer wieder Bezug genommen, obwohl in der Regel die entsprechenden Übersetzungen in den EU-Sprachen schon vorliegen. Diese in dem Stadium der Verhandlungen entstandenen Übersetzungen ermöglichen jedem an den Verhandlungen Beteiligten in seiner Sprache in die Diskussion einzugreifen. Es kann jedoch vorkommen, dass der ausgehandelte Text redaktionell nicht mehr zu ändern ist, sobald ein inhaltlicher Konsens darüber feststeht, so wie es bei einem internationalen Vertrag der Fall ist, wenn dieser in nur einer Sprache ausgehandelt und paraphiert ist. Ein solcher Vertragstext bleibt festgeschrieben und die eventuellen Übersetzungen können seine Mängel nicht mehr beseitigen. 2. Mehrsprachiges Recht (droit plurilingue)
Die übliche Vorgehensweise bei der Gemeinschaftsgesetzgebung ist allerdings anders. Im Normalfall werden alle Sprachfassungen innerhalb des gleichen ZeitGémar, J.-C., Le discours du législateur en situation multilingue: Traduire ou corédiger les lois?, in: LeGes – Gesetzgebung & Evaluation 2001/3, S. 13 ff.; Šarcˇevic´, S., New Approach to Legal Translation, The Hague/London/Boston, S. 41 ff.; Berteloot, P. in diesem Band. Zu der mehrfach beschriebenen Vorgehensweise der Koredaktion und Zweisprachigen Redaktion siehe Caussignac, G./Kettiger, D., Rédaction parallèle au Canton de Berne/Koredaktion im Kanton Bern, in: LeGes – Gesetzgebung & Evaluation 1991/3, Bern 1991, S. 77 ff.; Caussignac, G., Corédaction, rédaction parallèle et rédaction bilingue des actes législatifs, in: Français juridique et science du droit, Brüssel 1995, S. 71 ff.; Caussignac, G. in diesem Band. 11 Gallas, T., Coredazione e traduzione giuridica nella legislazione multilingue, in particolare quella comunitaria, in: Quaderni di Libri e riviste 43, 1999. S. 135 ff.
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raums angefertigt. In der Praxis sieht dies wie folgt aus: Sobald über einen Gesetzesvorschlag die politische Entscheidung gefallen ist, kommt er den Rechtslinguisten (juristes-linguistes) im juristischen Dienst zur Vorlage und zwar bevor der Gesetzestext formell angenommen wird. Zunächst überarbeitet ein Mitglied des Dienstes den Ausgangstext, wobei es sich auf die Formblätter und den Leitfaden12 stützt. Neben der Richtigkeit der zitierten Rechtsgrundlage müssen auch die Kohärenz des Textes, die Übereinstimmung der Terminologie innerhalb des Textes selbst sowie mit bereits bestehendem Recht (Präzedenzfälle) garantiert sein. Unklare Formulierungen werden nach Rücksprache mit den Sachverständigen geändert, was unter Umständen zur Streichung von Erwägungsgründen und zur Umstellung von ganzen Artikeln führen kann. Letzteres erfolgt jedoch nur unter der Bedingung, dass es zu keiner Änderung der inhaltlichen Festlegung kommt. Anhand des auf diese Art und Weise gegebenenfalls geänderten Textes der Verhandlungssprache überarbeiten die Sprachjuristen der anderen Sprachen dann ihre jeweilige Version. Im Regelfall geschieht dies im Rahmen einer Arbeitsgruppe, die aus den genannten Sprachjuristen sowie Experten aus den Mitgliedstaaten und der Kommission besteht. Normalerweise handelt es sich hierbei um dieselben Experten, die den Vorschlag in der Substanz ausgehandelt haben. Bei dieser Gelegenheit können auch Mängel des Ausgangstextes aufgedeckt und behoben werden. Im Rahmen einer solchen Überprüfung können im Extremfall Phänomene von Scheinkonvergenz aufgedeckt werden, wenn zwei grammatikalisch und logisch mögliche, auf den ersten Blick semantisch adäquate Übersetzungen in ihrer jeweiligen Sprache jedoch verschiedene Inhalte zum Ausdruck bringen. In einem solchen Fall muss zunächst einmal der Text in der Ausgangssprache geändert werden, anschließend sind alle anderen Versionen dieser nunmehr eindeutigen Fassung anzupassen. Das beschriebene Prozedere des Vergleichs innerhalb einer solchen Arbeitsgruppe dient allerdings nicht nur zur Aufdeckung gravierender Fehler, vielmehr ermöglicht dieses Vorgehen beispielsweise bei der Erarbeitung von Verordnungen auch eine sprachliche Optimierung des Ausgangs- bzw. Basistextes. Dass dies keine Seltenheit darstellt, zeigt die Genese jedes Gesetzesvorschlages im Gemeinschaftsrecht. Diese werden fast ausschließlich von den Diensten der europäischen Kommission erarbeitet, wobei die betreffenden Kommissionsbeamten nicht in ihrer Muttersprache arbeiten, sondern in der Arbeitssprache (Englisch und Französisch, seltener Deutsch), die sie selbst in ihrer Praxis bevorzugen oder die in der jeweiligen Generaldirektion Kommunikationssprache (langue vé12 Zu diesen textstrukturierenden amtlichen Vorgaben siehe Punkt 2.2 dieses Beitrages. Der deutsche Titel der in allen Amtssprachen der EU publizierten Schrift lautet: Europäische Kommission (Hrsg.), Gemeinsamer Leitfaden des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission für Personen, die in den Gemeinschaftsorganen an der Abfassung von Rechtstexten mitwirken, Luxemburg 2003, Amt für amtliche Veröffentlichungen der europäischen Gemeinschaften. Zugänglich auch unter: http:// europa.eu.int/eur-lex/de/about/techleg/guide/index_de.htm.
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hiculaire) ist. Die Sprachenwahl zwischen Englisch und Französisch als Redaktionssprache ist im Rat davon abhängig, wer den Vorsitz führt. Da dieser alle sechs Monate an einen anderen Mitgliedsstaat übergeht, während sich die Diskussionen über einen Vorschlag oft über mehrere Vorsitzperioden erstrecken, besteht die Gefahr, dass nicht die in der einen Sprache bearbeitete Originalfassung, sondern die in die jeweils andere Sprache übersetzte Fassung mit ihren möglichen Fehlerquellen als neuer Ausgangstext fungiert. Trägt man diesem Werdegang des Basispapiers Rechnung, so überrascht es nicht, dass der Ausgangstext oft einer gründlichen Überarbeitung unterzogen werden muss. Da schon der Ausgangstext oft Fehlerquellen enthält wie sie beispielsweise aus einem Wechsel der Ausgangssprache (z. B. Englisch, Französisch oder Deutsch) entstehen, können die auf seiner Basis erstellten, weiteren „Übersetzungen“ Fehler enthalten, die in Wirklichkeit auf Mängel im Ausgangstext zurückzuführen sind. Letztere können teilweise nur durch eine Veränderung des Ausgangstextes behoben werden. Eine solche Rückwirkung der „Übersetzungen“ auf die Ausgangssprache ist also durchaus die Regel und positiv zu bewerten. Definieren wir nun als Übersetzung die Translation von einem festgeschriebenen, nicht zu ändernden Text in andere Sprachen und als Koredaktion die nicht nur gleichzeitige, sondern gemeinsame Ausarbeitung einer Rechtsnorm, so liegt die Erstellung des Gemeinschaftsrechts in allen Amtssprachen zwischen diesen Extremen; sie ist weder reine Übersetzung noch reine Koredaktion und bedarf bei wachsender Sprachenzahl eigener Strategien. 3. Diplomatisches Recht (droit diplomatique)
Neben der Mehrsprachigkeit als wohlbekanntem Merkmal des EG-Rechts ist das „diplomatische Recht“ (droit diplomatique) als weitere, nicht weniger prägnante Eigenschaft zu nennen.13 Die Rechtsnorm lässt sich aus verschiedenen Blickwinkeln definieren. So stellt sich beispielsweise die Frage, worin der Unterschied zu einer Sozialnorm besteht – ein Thema, das Juristen schon seit Jahrhunderten beschäftigt. Wenn die Gesetzgebungslehre die Rechtsnorm aus der Perspektive von sozialer Kommunikation (social message) betrachtet, gilt es für den Juristen weitere Kriterien in den Blick zu nehmen. Durch das Gesetz beabsichtigt der Gesetzgeber, das Verhalten des Normadressaten zu beeinflussen. Er teilt diesem mit, was er zu tun oder zu lassen hat bzw. welches Verhalten zulässig ist. Oder aber er unterrichtet ihn, unter welchen Bedingungen er ein bestimmtes Resultat erreichen kann, zum Beispiel, wie er über seine Güter post mortem verfügen kann. Es 13 Gallas, T., La rédaction législative multilingue dans l’Union européenne: bilan et perspectives, in: LeGes 2001/3, S. 115 ff.; Müller, F./Christensen, R., Juristische Methodik, Band 2, Europarecht, Berlin 2003, S. 58 f.
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geht hierbei darum, die jeweils gesetzte Norm oder Information dem Betroffenen so effektiv wie möglich zu übermitteln. Dies ist unter anderem in dem Leitsatz erkennbar, eine Norm immer unter Berücksichtigung des Wortschatzes und der Vorstellungswelt des Adressaten zu formulieren. Für methodische Lösungen zu einer solchen Zielsetzung können wir erste Ansätze der Kommunikationslehre heranziehen. Diese geht von einem SenderEmpfänger-Modell aus, in dem der Sender das Mitzuteilende über einen sogenannten code dem Adressaten zukommen lässt. Dieser muss in der Lage sein, diesen code zu entschlüsseln, was voraussetzt, dass beide Gesprächsteilnehmer über einen gemeinsamen code verfügen. Denn nur wenn das Konzept14 des Adressaten demjenigen des Senders entspricht, kann die Kommunikation gelingen. Ein solches Modell ist insofern idealtypisch, als dass es in der Praxis von einer Fülle handlungsspezifischer Faktoren mitbestimmt wird. Übertragen auf die europarechtliche Ebene ist so beispielsweise zu berücksichtigen, dass hinter nationalen Rechtstermini zum Teil unterschiedliche Konzepte (vgl. frz. directive; dt. Richtlinie) stehen, die sich nicht immer mit dem gemeinschaftsrechtlichen Begriff decken. Der Legistik ist dieses Kommunikationsschema durchaus bekannt und findet zunehmend auch bei den an der Legislative Beteiligten die notwendige Aufmerksamkeit. Der zuvor angesprochene Kommunikationsaspekt ist auf manche Rechtsnormen nur begrenzt anwendbar, denn nicht jede Norm ist als soziale Kommunikation im Sinne des Sender-Empfänger-Modells zu verstehen, das letztlich von der Vorstellung einer Interaktion der Gesprächsteilnehmer (über Sprache) ausgeht. Gerade weil die Sprache Ausdrucksmittel gesellschaftlicher Normen ist, dient sie nicht nur der Kommunikation. Eine ihrer Funktionen ist es, Gedachtes und Gesagtes festzuschreiben. Schließen zwei Parteien einen Vertrag, so dient im Stadium der Verhandlungen die Sprache der Mitteilung von gegenseitigen Positionen. Der schriftliche Vertragstext hat die Funktion, aufzuzeichnen, festzulegen, was vereinbart worden ist; nur zweitrangig, etwa Dritten oder dem Richter gegenüber, hat er die Funktion, zu informieren. Diese Feststellung gilt für die Vertragstexte des Internationalen Rechts ebenso wie für die zwischen Privatpersonen ausgehandelten Vertragsnormen. Hier gelten die Grundsätze des Sender-Empfänger-Modells nur bedingt, da die Funktion der Aufzeichnung und der Festlegung im Vordergrund steht. Explizit äußert sich der französische Staatsrat 1992 zu Besonderheiten von solchen Vertragstexten, die er als „diplomatisches Recht“ (droit diplomatique) charakterisiert. Er hebt die besondere Bedeutung nicht expressis verbis formulierter Vertragsbestandteile hervor, über die zwischen den Beteiligten ein Konsens besteht. Mit der pointierten personenbezoge14 Man denke hierbei etwa an die verschiedenen Modelle der Prototypensemantik, die zum Beispiel von verschiedenen sowohl individuellen als auch soziokulturellen Vorstellungshorizonten ausgehen.
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nen Formulierung „Là où les juristes cherchent la précision, les diplomates pratiquent le non-dit et ne fuient pas l’ambiguïté“15 unterstreicht der Conseil d’État eine pragmatisch-semantische Opposition. Während ein rein juristisches Vorgehen auf Präzision ausgerichtet ist, ist das Nicht-Gesagte ein ebenso wesentlicher Bestandteil des diplomatischen Procedere, und die Mehrdeutigkeit stellt einen wichtigen sprachlichen Operator dar.16 In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, welche Position das Gemeinschaftsrecht zwischen den beiden Auffassungen des innerstaatlichen und des internationalen Rechts einnimmt. Es gilt direkt für den Bürger, die Einzelperson, das Unternehmen: de jure im Fall der Verordnungen, die laut Art. 249 EGV unmittelbar anwendbar sind; de facto in den Richtlinien, welche aus diesem Grund meist so weit ins Detail gehen, dass ihr Inhalt bei der Umsetzung in nationales Recht keiner weiteren Spezifikation bedarf. Gemeinschaftsrecht ist zudem ebenso wie nationales Recht vom Bürger einklagbar. Es stellt sich somit in der Substanz wie innerstaatliches Recht dar und sollte deshalb auch wie dieses, also als soziale Kommunikation, formuliert werden. Allerdings muss in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen werden, dass sich die Akteure im Produktionsprozess des EG-Rechts ihrer Rolle als Gesetzgeber nicht oder nur teilweise bewusst sind. Sie handeln, insbesondere im Rat, die Gesetze nicht anders aus, als dies bei internationalen Übereinkommen der Fall ist. Schon 1983 sprach L. Ferrari Bravo17 von einer „diplomatischen“ (metodo diplomatico) statt der eigentlichen „technokratisch-supranationalen Methode“ bei der Erstellung der Rechtstexte in Brüssel. Ausgehend von der oben angeführten Charakterisierung von Vertragstexten wendet der Conseil d’Etat die „diplomatische“ Methode auf das Gemeinschaftsrecht an, das er aus diesem Grund als „droit diplomatique“ kennzeichnet. Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass das Gemeinschaftsrecht in der Substanz, hinsichtlich ihrer sprachlichen Form, die auf einen Normadressaten ausgerichtet sein soll, dem innerstaatlichen Recht vergleichbar ist und bei der Redaktion dieselben Ansprüche stellt wie dieses. Ausgehandelt und niedergeschrieben wird es jedoch in der Verfahrensweise von Diplomaten, also als „diplomatischen Recht“ (droit diplomatique). Dieser Zwiespalt der bereits bei der Genese der Texte des Gemeinschaftsrechts erkennbar ist, hinterlässt auch im weiteren Verlauf, also bei der gemeinschaftsrechtlichen Textproduktion seine Spuren. 15
Conseil d’Etat, Rapport public 1992, in: Études & Documents Nr. 44, S. 49. Hierzu weiterführend der Conseil d’Etat, Rapport public 1992, in: Études & Documents Nr. 44, S. 8: „[. . .] comme on sait, un traité ne vaut que par les arrière-pensées de ses signataires.“ 17 Pennacchi, E./Monaco, R./Ferrari Bravo, F./Pugliesi, S., Manuale di diritto comunitario, Bd. 1, Milano 1983, S. 135: „[. . .] riproponendo un metodo ,diplomatico‘ in luogo del metodo ,tecnocratico-sovranazionale‘ che sembrava volersi affermare all’inizio“. 16
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Hinzu kommen weitere Gestaltungselemente, deren Bedeutung für die gemeinschaftliche Textarbeit im Folgenden angezeigt werden soll. 4. Droit imposé und droit négocié als weitere Gestaltungselemente des EG-Rechts
Zur Charakterisierung des EG-Rechts wurden im Vorangehenden die offizielle Mehrsprachigkeit sowie die Eigenschaft als „diplomatisches Recht“ hervorgehoben. Mittlerweile scheint es sich durchzusetzen, beide Kriterien als zur Unterscheidung des Gemeinschaftsrechts von anderen Rechtsordnungen wesentlich anzuführen. Vielleicht könnte man es dabei belassen. Dennoch erscheint es lohnend, eine weitere Perspektive ins Spiel zu bringen. Seit den neunziger Jahren wird in der Rechtslehre die Thematik droit imposé versus droit négocié18 diskutiert und auch mit einem kommunikativen Ansatz der Gesetzgebung und Fragen zum soft law19 in Verbindung gebracht. Hierbei geht es zunächst um die Tatsache, dass die sozialen Beziehungen auf nationaler Ebene zunehmend von den Betroffenen selbst geregelt bzw. ausgehandelt werden. Dies gilt ebenso für das nationale Recht, sowohl bei der Gesetzgebung als auch bei der Beilegung der Konflikte. Auf dem Gebiet der Gesetzgebung nehmen die zukünftigen Normadressaten hier nicht nur an der Ausarbeitung, der Verhandlung teil, die zu der Regelung führt, sie beeinflussen über Interessenverbände, Bürgerinitiativen und ähnliche politische Gruppierungen auch den Inhalt der Gesetze. Oft gestalten sie selbst die Rechtsnormen, etwa in der Form von Verhaltenskodizes oder Mantelverträgen, so dass das Recht eher ausgehandelt (négocié) ist, als Ausdruck des Willens einer Obrigkeit (imposé) zu sein. Diese scheinbar unaufhaltbare Entwicklung hat bedeutende Folgen, auch für die Textproduktion auf nationaler Ebene. So trifft in diesem Fall das klassische Schema des Rechtssatzes als soziale Kommunikation nicht mehr zu, da Normgeber und Normadressat funktional gewissermaßen zusammenfallen. Es stellt sich die Frage, ob die Betrachtung des Rechts in der Alternative „droit négocié versus droit imposé“ auch für unser Thema relevant ist. Zunächst scheint die offizielle Mehrsprachigkeit darauf hinzuweisen, dass das EGRecht droit imposé geblieben ist, weil im ausgehandelten Recht (droit négocié) eine Verhandlungssprache genügt, die von allen Beteiligten beherrscht und akzeptiert wird. Dagegen spricht, dass auch auf EG-Ebene soziale Verhandlungen 18 Grundlegend hierzu Gérard, Ph./Ost, F./van de Kerchove, M. (Hrsg.), Droit négocié, droit imposé?, Bruxelles 1996; insbesondere Supiot, A., La loi dévorée par la convention?“, in: Gérard, Ph./Ost, F./van de Kerchove, M. (Hrsg.), Droit négocié, droit imposé?, Bruxelles 1996, S. 631 ff. 19 Zu diesem Thema siehe Witteveen, W. J./van Klink, B. M. J., Is Soft Law really Law?, in: Regelmaat 1999/3, S. 126 ff. mit weiterführender Literatur.
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(im Sinne von droit négocie) über eine Vertretung, durch Interessenverbände, Gewerkschaften usw. stattfinden. Allerdings ist es hier teilweise notwendig, die Vertretenen in ihrer eigenen Sprache zu informieren. Hierbei wird das Terrain des einsprachig ausgehandelten Rechts (durch die vorgeschriebene Mehrsprachigkeit) verlassen, ohne dass dadurch die Eigenschaft des EG-Rechts als ausgehandeltes Recht aufgegeben wird. Das droit négocie wird als Teil des EG Rechts (im Unterschied zum nationalen Recht) also maßgeblich dadurch modifiziert dass es gleichzeitig den Grundsätzen eines droit multilingue entsprechen muss. 5. Phänomene des Aushandelns: Droit négocié oder droit diplomatique
Des weiteren ist zu bedenken, dass das „diplomatische Recht“ (droit diplomatique) von Diplomaten als Vertretern der Obrigkeit erarbeitet wird, während das droit négocié im Sinne der hier angeschnittenen Thematik von den Normadressaten selbst gesetzt wird. Das EG-Recht wäre also paradoxerweise nur insofern droit négocié, als es eben nicht droit diplomatique ist. Eine Reihe von Belegen stützen letztere These im Bezug auf das Verhältnis von droit négocié und droit diplomatique im Gemeinschaftsrecht. Exemplarisch sei das System der Art. 138 und 139 im Kapitel „Sozialvorschriften“ des EGVertrags angeführt. Hat die Kommission die Absicht, einen Vorschlag in der Sozialpolitik zu unterbreiten, so informiert sie die Sozialpartner davon. Diese können gemäß dem Prozess nach Art. 139 eine Vereinbarung über die betreffenden Fragen schließen und somit an Stelle der Gemeinschaftsorgane die entsprechenden Sozialvorschriften festlegen.20 Selbstverständlich sollten diese Vorschriften den Kriterien guter redaktioneller Qualität entsprechen. Die Hilfsmittel, die zu diesem Zweck in den Organen benutzt werden, insbesondere die Leitlinien und der Leitfaden, bleiben dabei allerdings außer acht. 6. Faktoren der Textarbeit im Gemeinschaftsrecht
Die nachstehende Abbildung veranschaulicht das bisher Gesagte zur Textarbeit im Gemeinschaftsrecht. Alle vier Faktoren können im nationalen Recht bei Staaten mit offizieller Mehrsprachigkeit eine Rolle spielen; allerdings mit unterschiedlicher Zuordnung und Gewichtung. So bleibt ein „diplomatisches Recht“ in der Genese dem
20 Art. 139 (1) EGV: „Der Dialog zwischen den Sozialpartnern auf Gemeinschaftsebene kann, falls sie es wünschen, zur Herstellung vertraglicher Beziehungen, einschließlich des Abschlusses von Vereinbarungen, führen“.
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droit multilingue: mehrsprachiges Recht droit diplomatique: Recht, das wie das (meist von Diplomaten) „gedachte und geschriebene“ Völkerrecht in der Substanz aber direkt auf den Bürger anwendbares Recht ist, und deshalb wie innerstaatliches Recht redigiert werden müsste. droit imposé: von einer Obrigkeit erlassenes Recht droit négocié: ausgehandeltes Recht
Abbildung 1: Textarbeit im Gemeinschaftsrecht
Völkerrecht ohne unmittelbare Anwendung auf einen nationalen Normadressaten zugeordnet. Im Gemeinschaftsrecht, das per se ein mehrsprachiges Recht ist, stehen diese vier Faktoren in einer spezifischen, vom innerstaatlichen Recht abweichenden Interaktion, die dem Moment des „Aushandelns“ mit einer unmittelbaren Konsequenz für den Unionsbürger einen größeren Stellenwert beimisst. II. Vorstrukturierende Kommunikationsformen im Gemeinschaftsrecht Es kommt nicht von ungefähr, dass in der juristischen Forschung und Praxis die Gesetzgebungslehre oder Legistik21 wieder einen großen Stellenwert erhalten hat, der im Zeitalter von Medien und Kommunikation auch von anderen Disziplinen neu ausgeleuchtet wird. An der Schnittstelle von Recht – Sprache – 21 Siehe u. a.: Karpen, U./Delnoy, P., Contributions to the methodology of the creation of written law, Baden-Baden 1996; Pagano, R., Le direttive di tecnica legislative in Europa, Roma 1997; Ainis, M., Checklist per la redazione dei testi normativi, Roma 1998; Kellermann, A. E./Ciavarini-Azzi, G./Jacobs, S. H./Deighton-Smith, R. (Hrsg.), Improving the qualitiy of legislation in Europe, The Hague 1998; Pagano, R., Introduzione alla legistica – L’arte di preparare le leggi, Milano 1999; Morand, Ch.-A., Légistique formelle et matérielle, Aix-en-Provence 1999; Bergeron, R., Essays on legislative drafting, Ottawa 1999; Vedaschi, A., Istituzioni europee e tecnica legislativa, Milano 2001.
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Mehrsprachigkeit – Kommunikation nehmen sie eine wichtige Position ein, wodurch von neuen methodischen Ansätzen in verschiedenen Bereichen profitiert und zugleich praxisbezogen agiert werden kann. Zudem entwickelt sich hierbei eine willkommene Basis für gemeinsame theoretische Reflexionen zu Normierung und Dynamisierung. Wichtiger Anlass für eine Hinwendung zur vertieften Beschäftigung mit den Fragestellungen der Legistik und ihrer Anwendung war eine immer stärker werden Kritik an der Gesetzgebung im Gemeinschaftsrecht22 (nicht zuletzt auch durch den EuGH), die sich angesichts der vorgesehenen Erweiterungen neuen, bislang nicht da gewesenen Anforderungen stellen muss. 1. Parallelbeispiele mehrsprachigen Rechts auf nationaler Ebene
Als inspirierend und z. T. richtungweisend für die Herausforderung auch in sprachlicher Sicht können die entsprechenden Rechtssetzungsrichtlinien und Gesetzgebungsleitfäden in Staaten mit offizieller Mehrsprachigkeit herangezogen werden. Als vorbildlich hinsichtlich der spezifischen Textarbeit sind u. a. Kanada, die Schweiz, Belgien und Finnland zu nennen.23 2. Vorstrukturierungen gemeinschaftlicher Rechtsvorschriften
Im Gemeinschaftsrecht ist die Bindung der Gesetzgebungsakte an vorgegebene Standardformulierungen erst einige Jahre nach dem Beginn der Gesetzgebungstätigkeit erfolgt.24 Das Fehlen solcher Vorgaben stellte anfangs offenbar 22 Xanthaki, H., The problem of qualitiy in EU legislation: what on earth is really wrong?, in: Common Market Law Review 38, 2001, S. 651 ff.; Kellermann, A. E./ Ciavarini-Azzi, G./Jacobs, S. H./Deighton-Smith, R. (Hrsg.), Improving the Qualitiy of Legislation in Europe, The Hague 1998; aus der Erfahrung EU-Recht in schweizerisches Recht zu inkorporieren kommt W. Hauck 1999 noch zu einer wenig positiven Erfahrung: „EU-Erlasse sind in ihrer aktuellen Geltung schwer zugänglich, ihre Regelungsdichte ist generell außerordentlich hoch, ihr Aufbau ist oft unzureichend, und ihre Sprache zeigt Merkmale von Wucherungen. Wenn sich diese Tendenz ungebremst so fortsetzt, wird Europa im Normengestrüpp ersticken.“ Hauck, W., Demokratiefähige Gesetzessprache trotz Globalisierung. Erfahrungen aus dem Alltag eines staatlichen Sprachdienstes, in: Wilss, W. (Hrsg.), Weltgesellschaft Weltverkehrssprache Weltkultur, Tübingen 2000, S. 206. 23 Weitere Angaben bei Xanthaki, H., The problem of qualitiy in EU legislation: what on earth is really wrong?, in: Common Market Law Review 38, 2001, S. 662 ff. sowie bei P. Berteloot in diesem Band; zur Schweiz: Bundeskanzlei (Hrsg.), Gesetzestechnische Richtlinien (GTR), Bern. Ausgabe 2001; Justiz-, Gemeinde- und Kirchendirektion und Staatskanzlei des Kantons Bern (Hrsg.), Rechtssetzungsrichtlinien des Kantons Bern (RSR)/Directives du canton de Berne sur la procédure législative (DPL); Bundesamt für Justiz (Hrsg.), Gesetzgebungsleitfaden. Leitfaden für die Ausarbeitung von Erlassen des Bundes, 2. Aufl., Bern 2002; Office fédéral de la justice (Hrsg.), Guide de législation. Guide pour l’élaboration de la législation fédérale, 2. Aufl., Bern 2002.
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kein Problem dar. Der EG-Vertrag sah in Art. 189 (jetzt Art. 249) nur fünf Rechtsinstrumente vor – Verordnung, Richtlinie, Entscheidung, Empfehlung und Stellungnahme25 – und diese waren leicht den mehr oder weniger entsprechenden Formen der nationalen Traditionen in der Gesetzesstrukturierung anzupassen. Eine einheitliche Formgebung, nach dem Schema „Titel, Rechtsgrundlage, vorgeschriebene Phasen der Prozedur, Erwägungsgründe, Artikel, Schlussformel“ war gewährleistet. Allerdings hielt der Ministerrat es schon 1963 für angezeigt, eine Sammlung von Formblättern (frz. Formulaire des actes) zum internen Gebrauch in den damals vier Amtssprachen Deutsch, Französisch, Italienisch, Niederländisch zusammenstellen zu lassen. Es handelte sich um reine Schemata, Formen in die die jeweiligen Rechtsakte gegossen werden mussten. Hinzu kamen einige Hinweise zur Interpunktion, zur Gliederung der Artikel und zu den Verweisungen. Die Formblätter waren das einzige Werkzeug, das dem Dienst der Rechtsund Sprachsachverständigen, der Ende der Sechziger Jahre als Abteilung des Juristischen Dienstes beim Ministerrat entstanden war, an die Hand gegeben wurde. Aufgabe der Sprachjuristen war es vor allem, die inhaltliche und sprachliche Übereinstimmung der verschiedenen Sprachversionen bei den Rechtsakten zu gewährleisten. Die Mehrsprachigkeit wurde allgemein als der Grund für die redaktionellen Mängel des EG-Rechts angesehen, die nicht selten Anlass zu Beanstandungen gaben. Bei ihrer Arbeit überprüften die juristes-linguistes zunächst die Vorgaben der Formblätter an den zu bearbeitenden Texten. Im Rahmen ihrer weiteren Arbeit, nämlich der Kontrolle der inhaltlichen Übereinstimmung der Gesetzestexte in den verschiedenen Sprachfassungen, kristallisierten sich gewisse Gewohnheiten heraus, die im Laufe der Zeit in internen Noten als Regeln ihren Niederschlag fanden. Hierbei wurde deutlich, dass die redaktionellen Probleme oft im Ausgangstext lagen, und es bildete sich die Gepflogenheit heraus, zuerst einmal diesen Text zu überarbeiten. Die aus der Praxis entstandenen internen Noten bekamen ihren eigenen Stellenwert, da mit der Erweiterung der Gemeinschaft nicht nur mehr Sprachen ins Spiel kamen, sondern vor allem die Anzahl der Mitarbeiter im Juristischen Dienst anstieg. Der rein mündliche Austausch von Erfahrungen und Problemlösungen konnte die Einheitlichkeit der Überarbeitungskriterien nicht mehr garantieren. Ein Großteil der so entstandenen Regeln ging in die folgenden Ausgaben (1983, 1990, 2002) der Formulaires ein, die auf Deutsch nunmehr unter dem Titel „Muster und Hinweise für Rechtsakte im Rahmen des Rates der Europäi24
Vedaschi, A., Istituzioni europee e tecnica legislativa, Milano, 2001, S. 75 ff. Nach dem Vertrag von Maastricht ist der Fächer der Instrumente auf 15 angewachsen. Dazu kommt noch eine Reihe von atypischen, im Vertrag nicht vorgesehenen Akten wie Entschließungen, Schlussfolgerungen und ähnlichen Handlungsinstrumentarien; siehe auch die Arbeiten des Europäischen Konvents, Dokument CONV 363/02. 25
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schen Union“26 figurierten. Parallel dazu wurde das entsprechende Handbuch der Kommission, die Règles de technique législative à usage des services de la Commission (1985), publiziert. Die eigentliche Problematik der Redaktion europäischer Gesetzgebung wurde sowohl den Praktikern als auch auf politischer Ebene erst Anfang der neunziger Jahre bewusst. Art. 7a EGV bestimmte den 31. Dezember 1992 zum Datum, an dem der gemeinschaftliche Binnenmarkt verwirklicht sein sollte. Das brachte die Notwendigkeit mit sich, vor diesem Zeitpunkt alle zu diesem Zweck notwendige Gesetze zu erlassen. Deshalb wurde in den Jahren vor Ende 1992 eine große Anzahl von Rechtstexten verabschiedet – man denke zum Beispiel an den Abbau der technischen Handelshemmnisse – und die Eile ließ es nicht zu, dass diese Texte mit der nötigen Sorgfalt redigiert wurden. Kritik wurde in der Öffentlichkeit laut, nicht nur wegen der Menge der Gesetzgebungsakte, der „Normenflut“, die wegen des politischen Zieles teilweise unabwendbar war, sondern auch wegen der mangelnden redaktionellen Qualität des EG-Rechts. Eine eklatante politische Konsequenz einer mangelnden redaktionellen Qualität von Vertragstexten wurde mit dem „Schock von Maastricht“ deutlich. Im Rahmen eines Referendums hatte Dänemark den Vertrag von Maastricht abgelehnt. Unter anderem war dies der „Unlesbarkeit“ des Vertragstextes zugeschrieben worden. Durch diesen Vertrag wurde das europäische Primärrecht ganz wesentlich geändert. Zu der Europäischen Gemeinschaft als erstem Pfeiler kam die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres als weitere Pfeiler der neu entstandenen Europäischen Union hinzu. Der EG-Vertrag selbst erhielt durch den Artikel G des Vertrags von Maastricht 86 Änderungen, die zum einen in der Neuschaffung ganzer Teile und Titel, zum anderen aber auch in der Neuformulierung oder Hinzufügung einzelner Sätze oder gar Absätze innerhalb existierender Artikel bestanden. Eine so weitgehende Neugestaltung der Römischen Verträge hätte es vielleicht nahe gelegt, das ganze Vertragswerk neu zu fassen, doch sprach die bisherige generelle Erfahrung gegen ein solches Vorgehen. Nicht selten zeigte die Praxis, dass die Bearbeitung eines Textes, der auch Bestimmungen enthält, die nicht geändert werden sollen, oft Anlass bietet für generelle Diskussionen über den Gesamttext. Aus diesem Grund wurde auf eine völlige Neuformulierung der Gemeinschaftsverträge verzichtet. Der Nachteil dieses Entschlusses war, dass die nunmehr gültige Fassung nur aus der Kombination der Römischen Verträge mit den 26 Zugang hierzu über EUR-Lex, das unter http://europa.eu.int/eur-lex/seit dem 1.1.2002 frei zugänglich ist. Zu dem Informationssystem EUR-Lex, das seit 1998 täglich das Amtsblatt der EU in allen Amtssprachen zur Verfügung stellt, sowie der im Laufe von 2004 beabsichtigten Verbindung mit der dokumentarischen Datenbank des europäischen Rechts Celex, siehe Fussnote 4 im Beitrag von P. Berteloot in diesem Band.
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entsprechenden Änderungen resultierte. Die von der Genese her bestimmte Heterogenität des Maastrichtvertrages schränkte die notwendige Verständlichkeit deshalb sehr ein. Der Vorwurf, dieser Maastrichtvertrag sei zu kompliziert und wenig verständlich,27 hatte durchaus seine Berechtigung. Dies war natürlich nicht der einzige Grund für das negative Votum der dänischen Wähler im Referendum vom 2. Juni 1992. Mehrere Faktoren, wie z. B. die Befürchtung eines Souveränitätsverlustes, spielten bei diesem Ausgang eine Rolle. Der Vorwurf, der Vertrag sei schon in seiner Form bürgerfremd, stieß bei den Dänen jedenfalls auf offene Ohren. 3. Die rechtslinguistische Konsequenz des Vertrags von Maastricht
Das Problem einer vor allem „psychologischen Kluft“ zwischen Brüssel und den Unionsbürgern wurde mittlerweile auch von den Gemeinschaftsorganen erkannt, was man aus den Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates im zweiten Halbjahr deutlich ersehen kann. Am 16. Oktober 1992 kam es in Birmingham zu einer ausführlichen Diskussion über diese Frage, deren Ergebnisse in der „Erklärung von Birmingham – Eine bürgernahe Gemeinschaft“28 ihren Niederschlag fanden. In dieser Erklärung zeigen sich die Gemeinschaftsorgane entschlossen, „den Besorgnissen, die in der letzten Zeit in der Öffentlichkeit zur Sprache gekommen sind, Rechnung zu tragen“ und dadurch die Gemeinschaft „offener“ zu gestalten. Mittel dazu sind unter anderem öffentliche Beratungen des Rates, umfassendere Konsultationen vor der Unterbreitung von Rechtsetzungsvorschlägen, sowie eine Verbesserung des Zugangs zu Informationen. Das für das EG-Recht wichtige Subsidiaritätsprinzip, das hier als „Grundsatz der Bürgernähe“ definiert ist, wird weiterhin bekräftigt. Die Frage der Qualität der Gesetzgebung wird in Birmingham nur kurz gestreift: „Wir möchten, dass das Gemeinschaftsrecht einfacher und klarer wird“ (Punkt 3 der Erklärung). Zwei Monate nach Birmingham greift der Europäische Rat während seiner Sitzung vom 11. und 12. Dezember 1992 in Edinburgh das Thema erneut auf, geht diesmal jedoch ins Detail, um den Vorsatz, die Qualität der Rechtssetzung zu steigern, konkret umzusetzen.
27 Zur Begründung der Ablehnung des Maastrichtvertrags durch die Dänen u. a. wegen der mangelnden Verständlichkeit des Textes siehe auch Glistrup, E., Le traité sur l’Union européenne: la ratification du Danemark, in: Revue du marché commun et de L’Union européenne nº 374, janvier 1994, S. 12: „Comme le traité de Maastricht était de toute façon très ou trop compliqué à comprendre, les points spécifiques du traité ont joué un rôle modéré pour la décision des électeurs.“ 28 Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Anlage I, Rats-Dokument SN/343/2/92, S. 4.
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In den Schlussfolgerungen des Vorsitzes29 ist die Anlage 3 zu Teil A ausdrücklich der „Durchführung der Erklärung von Birmingham“ gewidmet. Im dritten Teil dieser Anlage betrifft der Punkt I die „klarere und einfachere Gestaltung neuer gemeinschaftlicher Rechtsvorschriften“. Vor allem der Juristische Dienst und seine Rechts- und Sprachsachverständigen werden beauftragt, „Vorschläge für eine einfachere und klarere Abfassung der Texte“ zu liefern. Zur praktischen Umsetzung dieser Orientierung fordert der Europäische Rat, dass „[. . .] Leitlinien für die Abfassung der gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften vereinbart werden [sollen], die Kriterien umfassen, anhand derer die Qualität der Rechtsvorschriften überprüft werden kann“. Solche Leitlinien existieren bereits in fast allen Mitgliedstaaten. Zum ersten Mal war in Edinburgh auch auf politischer Gemeinschaftsebene davon die Rede. Less quantity, more quality30 lautet die Devise. Den vom Europäischen Rat von Edinburgh 1992 geforderten Leitlinien trägt der Ministerrat am 8. Juni 1993 mit seiner „Entschließung über die redaktionelle Qualität der gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften“31 Rechnung. Die Frage der Kodifizierung zur besseren Verständlichkeit des EG-Rechts wird abermals angesprochen, Gegenstand der Entschließung ist allerdings die Abfassung zukünftiger Rechtstexte. Zu diesem Zweck legt der Rat 10 Leitlinien fest. Der Grundsatz ist in der ersten Regel ausgedrückt: ein Rechtsakt soll „klar, einfach, kurz und unzweideutig“ abgefasst sein. Die folgenden Leitlinien sind teilweise Ableitungen dieser Regel für spezifische Aspekte des Textentwerfens (drafting); sie betreffen den „Gemeinschaftsjargon“, den übermäßigen Gebrauch von Abkürzungen, die Querverweise, den Aufbau und die Unterteilung der Rechtsakte, die gemeinschafsrechtliche Terminologie, die Übergangbestimmungen usw. Besonders relevant ist die Leitlinie 7: „Bestimmungen nicht verfügender Art (Wünsche, politische Erklärungen) sollten vermieden werden“. Damit soll einer spezifischen Unart der gemeinschaftlichen Gesetzgebungspraxis entgegengewirkt werden. Sie zeigt sich zum Beispiel darin, dass in den Erwägungsgründen oft keine Begründung der in den Artikeln niedergelegten Vorschriften steht, vielmehr findet man gesetzesfremde Elemente, die besser in einer Erklärung ihren Platz hätten. Insgesamt gesehen geben die zehn Leitlinien den Eindruck eines Aneinanderreihens guter Vorsätze. Ein systematischer Ansatz ist nicht erkennbar. Dies mag seinen Grund darin haben, dass die Leitlinien von einer Arbeitsgruppe aus kompetenten Juristen erarbeitet wurden, die aber keine Spezialisten in dieser Angelegenheit waren.
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Rats-Dokument SN/456/1/92. Karpen, U., Less Quantity – More Quality: Some comparative Aspects of Science and Art of Legislation in European Countries, in: Morand, Ch.-A. (Hrsg.), Légistique formelle et matérielle, Aix-en-Provence 1999, S. 319 ff. 31 ABl. C 166 vom 17.6.1993, S. 1. 30
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Die Entschließung von 1993 ist mittlerweile durch das Interinstitutionnelle Übereinkommen von 1998 überholt. Es wäre also nutzlos, die Leitlinien im Einzelnen zu kommentieren. Einige allgemeine Betrachtungen können hingegen von Interesse sein. So ist es überraschend, dass diese Entschließung vom Rat allein angenommen wurde. Immerhin müssen wir berücksichtigen, dass Anfang 1993 der Vertrag von Maastricht in Kraft getreten war und somit die Gesetzgebung in der Gemeinschaft nicht mehr alleinige Kompetenz des Rates war, sondern auf zahlreichen Gebieten im Mitentscheidungsverfahren von Rat und Europäischem Parlament beschlossen wurde. Die Tatsache der Nichtberücksichtigung des Parlaments bei der Ausarbeitung und dem Erlass der Entschließung mag daher rühren, dass man in dieser Anfangsphase der Mitentscheidung noch an den Rat als alleinigen Gesetzgeber gewöhnt war und damals die Betreuung der Endredaktion in der Praxis vorwiegend dem Ratssekretariat oblag. Eine weitere allgemeine Bemerkung betrifft die Formulierung der Leitlinien. V. Zeno-Zencovich32 moniert, dass die Leitlinien sich selbst widersprächen, denn laut der siebten, bereits zitierten, sollten nicht bindende Bestimmungen vermieden werden, wobei aber der Gebrauch der deontischen Form des Typs „sollte(n)“ in allen Leitsätzen eben dieser Regel widerspräche. Hier übersieht Zeno-Zencovich allerdings, dass der Rat für seine Leitlinien bewusst die Form einer Entschließung gewählt hat, einen atypischen, nicht im Vertrag als Gesetzgebungsakt vorgesehenen Akt, den man eher als soft law, d.h. als nicht bindenden Rechtsakt qualifizieren kann. In einem letzten Erwägungsgrund wird dies ausdrücklich festgehalten, dass nämlich „diese Leitlinien weder bindend noch erschöpfend“ seien. Mit dieser Einstellung, seinen Ermessensspielraum auch in der Ausformulierung der Rechtsakte nicht zwingend zu beschränken, steht der Rat nicht allein. Nicht jeder Gesetzgeber wird diese Haltung so drastisch ausdrücken wie der Politiker und Rechtsprofessor Sousa Franco, „Gesetzgebung sei Sache der Politik, nicht einer Gesetzgebungslehre“.33 Weniger scharf formuliert findet man ähnliche Äußerungen auch bei anderen Autoren34. Vor allem im Alltag des Gesetzgebens stellt sich das Problem, den Gesetzgeber zur Beachtung der Regeln des drafting zu verpflichten.35
32 Zeno-Zencovich, V., Le direttive sulla „Qualità redazionale della legislazione comunitari“, in: Visintini, G. (Hrsg.), Analisi di leggi-campione – Problemi di tecnica legislativa, Padova 1995, S. 690 ff. 33 Sousa Franco, A economia de hoje ou o peixe de cabeça apodrecida, in: Visão, 29.5.2003, S. 122. 34 Amato, G., Principi di tecnica legislativa, in: D’Antonio, M. (Hrsg.), Corso di studi legislativi superiori, Padova 1990, S. 47 ff. 35 Pagano, R., Introduzione alla legistica, Milano 1999, S. 61 ff.
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Eine weitere Kritik von Zeno-Zencovich geht dahin, dass die Entschließung nicht jene Instrumente, Prozeduren, Strukturen aufzeige, dank derer ihre löblichen Vorsätze verwirklicht werden sollten, die es somit riskieren, auf dem Papier zu bleiben. Wie die Qualität der EG-Gesetzgebung in den darauf folgenden Jahren zeigt, hat er mit dieser Prophezeiung Recht behalten. Wie so manchmal, erwies sich soft law als symbolic law. Dixi et salvavi animam meam könnte manchmal der Gesetzgeber mit Cicero sagen. In den Neunziger Jahren mangelt es nicht an Erklärungen zur Qualität der Gesetzgebung auf politischer Ebene und an wissenschaftlichen Studien hierzu. Manche Diskussionsbeiträge verknüpften politische und wissenschaftliche Intentionen. Sie gingen die Problematik der Qualität der europäischen Gesetzgebung nicht wie die Rats-Entschließung rein empirisch, sondern systematisch an, brachten aber gleichzeitig sehr konkrete Lösungsvorschläge vor. Ein Beispiel hierzu sind der 1992 vom Conseil d’Etat français publizierte Rapport public (Études & Documents Nr. 44) sowie der nicht veröffentlichte Koopmans-Bericht. Dieser Bericht einer niederländischen Arbeitsgruppe unter dem Vorsitz des Richters T. Koopmans diente der niederländischen Regierung als Grundlage des Vorhabens im Rahmen ihrer Verhandlungen zum Vertrag von Amsterdam auch die Qualität der Gesetzgebung thematisch im Vertrag zu verankern. Als Rechtsform wurde von ihr die Einbettung in ein Protokoll vorgeschlagen.36 Die anderen Mitgliedsstaaten gingen allerdings darauf nicht ein und der Kompromiss lief auf eine Erklärung (Nr. 39) in der Schlussakte der Amsterdamer Konferenz vom 2. Oktober 1997 hinaus.37 Zur Ausführung dieser Erklärung Nr. 39 setzten die drei genannten Organe nach Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam eine gemeinsame Arbeitsgruppe ein; sie arbeitete in Konsultation mit den entsprechenden Stellen in den Mitgliedstaaten. Ihre Aufgabe war es, den vorgesehenen Leitfaden und die organisatorischen Maßnahmen auszuarbeiten und in einer Systematik darzustellen. Als ein Leitgedanke fungierte für die Arbeitsgruppe die Vorstellung von der Rechtsnorm als sozialer Kommunikation; ein zentraler Gedanke, der in mehreren allgemeinen Grundsätzen seinen Niederschlag findet; so z. B. in den Leitlinien 3 36 Die Wahl dieser Rechtsform ist beachtenswert, da ein Protokoll zwischen den Vertragsparteien bindendes Recht, also hard law, darstellt. 37 Dort heißt es u. a. (BGBl. 1998 II, S. 438): „Die Konferenz erklärt deshalb, dass das Europäische Parlament, der Rat und die Kommission – einvernehmlich Leitlinien zur Verbesserung der redaktionellen Qualität der gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften festlegen und bei der Prüfung von Vorschlägen oder Entwürfen für gemeinschaftliche Rechtsakte diese Leitlinien zugrunde legen und die internen organisatorischen Maßnahmen ergreifen sollten, die für eine angemessene Durchführung der Leitlinien als erforderlich erachten; – alles daran setzen sollten, um die Kodifizierung von Rechtstexten zu beschleunigen.“
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(Über die Textausrichtung auf den Normadressaten) und 5 (Zur Rolle der offiziellen Mehrsprachigkeit).38 Als Ergebnis stellte die Arbeitsgruppe 22 Leitlinien vor und formulierte flankierend eine Reihe von Maßnahmen, um auszuschließen, dass diese Leitlinien nicht wieder symbolic law blieben. Wichtig war, in welche Rechtsform dieses Resultat gegossen werden sollte. Es wurde dafür die Form der „Interinstitutionellen Vereinbarung“ gewählt. Wieder ist es eine atypische Form, ein Akt der nicht im Vertrag vorgesehen ist, der sich aber, unter verschiedenen Namen, in „formale(r) Vielgestaltigkeit“39 in den Beziehungen zwischen den Gemeinschaftsinstitutionen eingebürgert und sich im Laufe der Jahre als alles andere als harmlos für das institutionelle Gleichgewicht erwiesen hat. Art. 10 (früher Art. 5) des EG-Vertrags legt ein Prinzip fest, das etwa dem der Bundestreue der Länder gegenüber dem Bundesstaat entspricht: das Prinzip der Gemeinschaftstreue, demzufolge die Mitgliedstaaten ihre Verpflichtungen aus dem Gemeinschaftsrecht tatsächlich erfüllen, den Gemeinschaftsorganen die Erfüllung ihrer Aufgaben erleichtern und alles unterlassen, was die Verwirklichung der Ziele des Vertrages gefährden könnte. Eine ständige Rechtsprechung des EuGHs hat diese Treuepflicht auf die Beziehungen zwischen den Organen ausgedehnt: „es gelten im Rahmen des Dialogs der Organe [. . .] die gleichen gegenseitigen Pflichten zu redlicher Zusammenarbeit, wie sie die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und den Gemeinschaftsorganen prägen“.40 Dieses Prinzip deckt die Beziehungen zwischen den Institutionen. Es kann also keine Rechte und Pflichten des Gemeinschaftsbürgers begründen. Wohl aber ergibt sich aus ihm, dass die Bestimmungen einer interinstitutionellen Abmachung für die Gemeinschaftsorgane untereinander bindend sind, wobei allerdings die Voraussetzung gilt, dass ein solcher Wille, sich konkret gegenseitig zu verpflichten, aus dem Wortlaut des ausgehandelten Textes hervorgehen muss. Die Partner können sich sehr wohl auch nur auf eine Erklärung mit rein politischer, nicht rechtlicher Tragweite einigen. Darauf wird im Folgenden noch einmal zurückzukommen sein. 38 Nr. 3: „Bei der Abfassung der Akte wird berücksichtigt, auf welche Personen sie Anwendung finden sollen, um diesen die eindeutige Kenntnis ihrer Rechte und Pflichten zu ermöglichen, und von wem sie durchgeführt werden sollen.“ Nr. 5: „Während des gesamten Prozesses, der zur Annahme der Akte führt, wird bei der Abfassung der Entwürfe dieser Akte darauf geachtet, dass hinsichtlich Wortwahl und Satzstruktur dem mehrsprachigen Charakter der gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften Rechnung getragen wird; spezifische Begriffe oder die spezifische Terminologie der nationalen Rechtssysteme dürfen nur behutsam verwendet werden.“ 39 Bobbert, Ch., Interinstitutionelle Vereinbarungen im Europäischen Gemeinschaftsrecht, Frankfurt/M. 2001, S. 3. 40 Urteil des Gerichtshofes vom 30. März 1995 in der Rechtssache C-65/93, Parlament/Rat, Slg. 1995, I-0643, Rn. 23. Im selben Sinn u. a. die Urteile des Gerichtshofes vom 10. Februar 1983 in der Rechtssache 230/81, Luxemburg/Parlament, Slg. 1983, 225 und vom 27. September 1988, Griechenland/Rat, Slg. 1988, 5323, Rn. 16.
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Die Interinstitutionelle Vereinbarung vom 22. Dezember 1998 der „Gemeinsamen Leitlinien für die redaktionelle Qualität der gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften“41 wurde vom Europäischen Parlament, dem Rat und der Kommission beschlossen. Am 16. März 1999 unterzeichneten die Rechtsberater der drei Organe dann den in der Vereinbarung selbst vorgesehenen gemeinsamen Leitfaden42, der die praktische Anwendung der Leitlinien erleichtern und fördern soll. Die Leitlinien wurden in den Leitfaden als Überschriften integriert und fungieren unmittelbar zur Orientierung. Auf einige Punkte darin soll im Folgenden eingegangen werden. 4. Interinstitutionelle Vereinbarung (Leitlinien) – Erwägungsgründe
Die Vereinbarung schickt dem eigentlichen Inhalt einige Erwägungsgründe voraus. Der erste kündigt die Absicht der Vertragspartner an: „(1) Eine klare, einfache und genaue Abfassung der gemeinschaftlichen Rechtsakte ist für die Transparenz der gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften sowie für deren Verständlichkeit in der Öffentlichkeit und in den Wirtschaftskreisen unerlässlich. Sie ist auch notwendig für eine ordnungsgemäße Durchführung und einheitliche Auslegung der gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften in den Mitgliedstaaten.“
Neben dem Transparenzgebot und der bei Rechtstexten immer wieder angemahnten Verständlichkeitsforderung ist die Nennung der „Öffentlichkeit“ und der „Wirtschaftskreise“43 als Normadressaten eine Anspielung auf die spezifischen Gegebenheiten des EG-Rechts und der Geschichte der EU; erst mit dem Maastrichter Unionsvertrag von 1992 kam es zur Umbenenennung von EWG (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft) in EG (Europäische Gemeinschaft). Auch unter diesem Aspekt erhält der weiter oben angeführte Hinweis auf die Rolle des droit négocié eine besondere Relevanz.
41 Abl. C 73 vom 17.3.1999, S. 1. Noch in demselben Jahr wurde diese Vereinbarung vom Rat der Europäischen Union als separate Broschüre in allen Amtssprachen der EU unter dem Titel: Redaktionelle Qualität der gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften (Interinstitutionelle Vereinbarung vom 22. Dezember 1998) in Luxemburg, Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften, publiziert. 42 Mittlerweile steht dieser Leitfaden in allen Amtssprachen der EU zur Verfügung; entweder unter http://europa.eu.int/eur-lex/ oder als Broschüre: Europäische Kommission (Hrsg.), Gemeinsamer Leitfaden des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission für Personen, die in den Gemeinschaftsorganen an der Abfassung von Rechtstexten mitwirken, Luxemburg 2003, Amt für amtliche Veröffentlichungen der europäischen Gemeinschaften. 43 Linguistisch interessant ist der Vergleich der französischen und englischen Fassung dieses Satzteils: frz. „sa bonne compréhension par le public et les milieux économiques“/engl. „readily understandable by the public and economic operators“. Die englische Formulierung akzentuiert stärker die Rolle der Protagonisten in der Öffentlichkeit und in der Wirtschaft.
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Eine wirtschaftliche, ja unmittelbar finanzielle Konsequenz von nicht eindeutigen Rechtstexten, die nicht selten in Urteilen des EuGH bzw. in Schlussanträgen der Generalanwälte moniert wurden, wird sogleich im folgenden Punkt 2 thematisiert: (2) „[. . .] Dieses Gebot [. . ., dass die Rechtsakte der Gemeinschaft klar und deutlich sind und ihre Anwendung für die Betroffenen vorhersehbar ist], gilt in besonderem Maß, wenn es sich um einen Rechtsakt handelt, der finanzielle Konsequenzen haben kann und den Betroffenen Lasten auferlegt, denn die Betroffenen müssen in der Lage sein, den Umfang der ihnen durch diesen Rechtsakt auferlegten Verpflichtungen genau zu erkennen.“
Entscheidend ist natürlich auch hier, auf die Konkordanz der einzelnen Sprachfassungen genau zu achten. Der dritte Erwägungsgrund kündigt das vorgesehene Mittel zu diesem Zweck an: „(3) Es empfiehlt sich daher, einvernehmlich Leitlinien für die redaktionelle Qualität der gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften festzulegen [. . .]“.
Ihr Anwendungsbereich bezieht sich nicht nur auf die „Erstellung der Erstfassung eines Textes“, sondern ebenso auf die verschiedenen Änderungen, „die an dem Text im Laufe des Rechtsetzungsverfahrens vorgenommen werden“. Hier zeichnet sich deutlich das Fehlerpotential eines sehr heterogenen Entstehungsprozesses ab, dem durch die Optimierung einer sprachlichen Gestaltung im Laufe der Textproduktion zu begegnen ist. Als Verantwortliche für die Durchführung einer Qualitätsverbesserung bei der Redaktion der gemeinschaftlichen Rechtstexte werden explizit die Juristischen Dienste der Organe genannt: „(5) Die Rolle, die die Juristischen Dienste der Organe, einschließlich ihrer Rechtsund Sprachsachverständigen, bei der Verbesserung der redaktionellen Qualität der gemeinschaftlichen Rechtsakte spielen, sollte verstärkt werden.“44
44 Ähnlich wie in Erwägungsgrund 3 scheint in der deutschen Übersetzung des Erwägungsgrunds 5 eher ein Empfehlungscharakter als eine verpflichtende Aussage angezeigt. Dagegen wird in der französischen Parallelfassung, in beiden Fällen ein stärker deontischer Charakter mit der Einleitung durch den unpersönlichen Ausdruck „Il convient de“ deutlich. Dieser Hinweis auf unterschiedliche Wiedergabe in den verschiedenen Sprachfassungen ist fast eine Demonstration für die Notwendigkeit, die redaktionellen Schwächen in den Ausgangstexten gemeinschaftlicher Rechtsvorschriften vor allem im Hinblick auf die entsprechenden Amtssprachenfassungen ins Visier zu nehmen. Die Leitlinien, die der Intention einer redaktionellen und einzelsprachlichen Verbesserung bei den Gemeinschaftstexten mit größerem Nachdruck zur Umsetzung verhelfen sollten, liefern nicht selten ein Beispiel selbst für die Notwendigkeit einer Optimierung. Wenn es in den „Allgemeinen Grundsätzen“ Nr. 4 heißt „Die Bestimmungen der Akte werden kurz und prägnant formuliert, und ihr Inhalt sollte möglichst homogen sein. Allzu lange Artikel und Sätze, unnötig komplizierte Formulierungen [. . .] sollten vermieden werden“, so scheint das Prinzip der brevitas im 2. Teil des Erwägungsgrundes 3 nicht zu sehr berücksichtigt zu sein. Zudem demonstriert hier der Übersetzungsvorgang im Sinne
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Von Interesse ist der letzte Erwägungsgrund, der Einschränkungscharakter besitzt: „(7) Diese Leitlinien sind als Instrument für den internen Gebrauch der Organe anzusehen. Sie sind nicht rechtsverbindlich.“
Wie oben schon ausgeführt wurde, ist eine interinstitutionelle Abmachung nur soweit bindend, wie es aus dem Text hervorgeht, dass dies der Wille der Unterzeichner ist. Der zuletzt zitierte Erwägungsgrund zeigt deutlich den Willen an, dem Bürger kein Recht auf gute Qualität der Gesetzgebung einzuräumen. Damit soll einer Flut von Klagen aufgrund angeblich schlechter Formulierung der Gesetzesnormen vorgebeugt werden. Expressis verbis werden deshalb in der Druckfassung auf S. 2 folgende Hinweise aufgeführt: „Der Inhalt dieser Broschüre, die vom Generalsekretariat des Rates erstellt wurde, bindet weder die Organe der Gemeinschaft noch die Regierungen der Mitgliedstaaten.“ „Der im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften veröffentlichte Text stellt die einzige verbindliche Fassung dar.“ einer strikten „Parallelübersetzung“ eher eine „Scheinkonvergenz“, die eine „Eigenständigkeit“ des jeweiligen Textes nicht allzu sehr fördert. frz. „(3) [. . .] Ces lignes directrices sont destinées à guider les institutions communautaires lorsqu’elles adoptent des actes législatifs ainsi que ceux qui, au sein des institutions communautaires, prennent part à l’élaboration et à la rédactions des actes législatifs, qu’il s’agisse de l’élaboration du texte initial ou des différents amendements qui y sont apportés pendant la procédure législative“. dt. „(3) [. . .] Diese Leitlinien sollen den Gemeinschaftsorganen bei der Annahme von Rechtsakten sowie denjenigen innerhalb der Gemeinschaftsorgane als Richtschnur dienen, die an der Ausarbeitung und Abfassung von Rechtsakten beteiligt sind, gleichviel ob es sich um die Erstellung der Erstfassung eines Textes oder um die verschiedenen Änderungen handelt, die an dem Text im Laufe des Rechtsetzungsverfahrens vorgenommen werden.“ Eine relativ große „Eigenständigkeit“ der einzelnen Versionen, die, wie z. B. die deutsche Fassung von Nr. 1.4.2. der „Allgemeinen Grundsätze“ zeigt, bis zur fehlerhaften Verkürzung führt, demonstrieren die entsprechenden Versionen dieses Grundsatzes: engl. „Drafting which is grammatically correct and respects the rules of punctuation makes it easier to understand the text properly in the drafting language as well as to translate it into the other languages“. frz. „Une rédaction grammaticalement correcte et qui respecte les règles de la ponctuation facilite la bonne compréhension du texte dans la langue de rédaction ainsi que la traduction vers les autres langues.“ sp. „Una redacción gramaticalmente correcta y que respete las normas de puntuación facilita la buena comprensión del texto en la lengua de redacción así como la traducción hacia las otras lenguas“. it. „La correttezza grammaticale e l’osservanza delle regole di punteggiatura facilitano la comprensione del testo sia nella lingua in cui il testo è redatto sia nelle altre versioni“. dt. „Richtige Grammatik und Zeichensetzung erleichtert [sic!] das Verständnis in der Ausgangssprache und die Übersetzung in die anderen Sprachen“. schwed. „Det letter forståelsen af teksten på det sprog, hvorpå den er affattet, og også oversættelsen af den til andre sprog, hvis den er affattet grammatisk korrekt under overholdelse af tegnsætningsreglerne“.
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Isolde Burr und Tito Gallas 5. Interinstitutionelle Vereinbarung (Leitlinien) – Allgemeine Grundsätze
Das Corpus der Leitsätze ist in mehrere Teile gegliedert, dessen erster Teil (Leitlinien Nr. 1 bis 6) allgemeine Grundsätze verzeichnet, während die folgenden Teile den Aufbau des Rechtsakts, die Bezugnahmen, die Änderungsakte, die Schlussbestimmungen und Ähnliches betreffen und damit mehr technischen Charakter haben. Die Leitlinie Nr. 1 sagt nur kurz: „1. Die gemeinschaftlichen Rechtsakte werden klar, einfach und genau abgefasst.“
Zunächst klingt diese Aussage mit der Aneinanderreihung der drei adverbial verwendeten Adjektive banal. In Wirklichkeit verbirgt sich hinter diesem scheinbar selbstverständlichen Satz, der laut den Erläuterungen in dem deutschsprachigen Leitfaden (2003, S. 10) „sich bereits aus dem gesunden Menschenverstand“ ergibt und „auch Ausdruck allgemeiner Rechtsgrundsätze ist“ eine tiefe Problematik. Sie liegt vor allem darin, dass wir nicht von einer Gleichsetzung von „klar“, „einfach“ und „genau“ ausgehen können. Die „Klarheit“ liegt nicht auf derselben Ebene wie die „Einfachheit“ und die „Genauigkeit“; sie ist das Resultat einer ausgewogenen Anwesenheit beider. Zwischen „Einfachheit“ und „Genauigkeit“ wirkt bis zu einem gewissen Punkt eine Synergie; der Gebrauch eines exakten Terminus z. B. erübrigt weitere Erläuterungen und erlaubt Konzision. Dass aber eine Formulierung oder ein Ausdruck umso klarer ist, je präziser sie bzw. er ist, gilt nur bis zu dem Punkt, wo der Adressat den oder die Ausdrücke bzw. die Satz- und Textstrukturen in seiner Sprache wiederfindet. Die Wahl eines Wortes, etwa eines Fachausdruckes, einer Satzstruktur hängen von der Prämisse ab, dass sie dem Normadressaten vertraut, bzw. nicht vertraut sind. Gerade an diesem Beispiel in der Leitlinie Nr. 1 wird deutlich, wie sehr hier eine französisch konzipierte Rechts- und Sprachtradition durchscheint. Die aus der antiken Rhetorik übernommene gedankliche und sprachliche perspicuitas als prima virtus der Rhetorik hatte maßgeblich den frz. clarté-Begriff bestückt, der im 18. Jahrhundert Rivarol zu der berühmten und folgenträchtigen Feststellung „ce qui n’est pas clair n’est pas français“ veranlasst hatte.45 So ist es nicht überraschend, dass in nationalen, französischsprachigen Ausführungen zur Gesetzessprache dieser clarté eine vorrangige Rolle zugewiesen wird. „Clarté: Elle est la qualité principale d’un texte normatif. Le manque de clarté peut résulter d’une mauvaise conception préalable de la matière normative [. . .], mais peut évidemment provenir d’autre causes.“46 45 Siehe u. a. Lausberg, H., Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, 2. Aufl. 1973, §§ 528, 529. 46 Das Zitat ist dem französischsprachigen Gesetzgebungsleitfaden der Schweiz entnommen: Office fédéral de la justice (Hrsg.), Guide de législation. Guide pour l’élaboration de la législation fédérale, 2. Aufl., Berne 2002, S. 367. Interessanter-
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In den Erörterungen, die im Leitfaden zu den Leitlinien gegeben werden, folgen – eher implizit – einige Verweise auf die Besonderheiten des EG-Rechts, denen dieser Grundsatz von „claire, simple et précise“ Rechnung tragen soll. Die zentrale Stellung des Normadressaten wird dann auch gebührend in der Leitlinie Nr. 3 herausgestellt. Zwischen den beiden steht eine Leitlinie, die auf die Typologie des Rechtsakts abstellt: „2. Bei der Abfassung der Gemeinschaftsakte wird berücksichtigt, um welche Art von Rechtsakt es sich handelt, und insbesondere ob er verbindlich ist oder nicht (Verordnung, Richtlinie, Entscheidung/Beschluss, Empfehlung o. a.).“
Die Anwendung dieser Leitlinie Nr. 2 bietet keine besonderen Schwierigkeiten, da für die verschiedenen Typen von Gemeinschaftsakten in den schon erwähnten Mustern für Rechtsakte des Rates und in der Anleitung zur Rechtsetzungstechnik der Kommission Standardformulierungen vorgesehen sind. Eine prinzipielle Problematik im Gemeinschaftsrecht wird in der Leitlinie Nr. 4 deutlich, die die europäische Gesetzgebung im Spannungsfeld zwischen kontinentalem und englischem Redaktionsstil mitcharakterisiert. Nach E. Ferran weise stellt dieser Guide keine reine Übersetzung der deutschsprachigen Parallelausgabe dar, sondern ist überzeugend in einer französischen Tradition konzipiert und erläutert die Darstellung mit adäquaten französischsprachigen Beispielen. Instruktiv sind die Ausführungen zur Gesetzessprache, die durch folgende Merkmale charakterisiert wird (S. 365): „Le langage législatif, à la différence par exemple du langage poétique, se doit d’être le plus clair, le moins approximatif et le plus direct possible. Il possède donc les spécificités suivantes: – La nécessité d’une bonne conception préalable de la matière normative; – La cohérence; – La clarté; – La concision; – Le respect d’un éventuel cadre terminologique préexistant.“ Von einer anderen Tradition her wird in der deutschsprachigen Parallelausgabe die Gesetzessprache unter den Leitgedanken der Verständlichkeit gestellt; so heißt es unmittelbar zu Beginn: „Erlasstexte sollen verständlich sein. Nur verständliche Erlasse führen zur nötigen Rechtskenntnis und Rechtsüberzeugung und können so die gewünschte Wirkung entfalten. Und nur mit verständlichen Erlassen kann Rechtssicherheit garantiert werden.“ Als relevant für die Herstellung einer solchen Verständlichkeit werden „Textqualitäten und Adressatenorientierung“ genannt, unter denen folgende Ausführungen stehen: „Zum einen hängt die Verständlichkeit eines Textes von seiner sprachlichen und textuellen Qualität ab. Diese entscheidet sich auf verschiedenen Ebenen: – Textbau; – Satzbau; – Wortwahl; – Einsatz nonverbaler Mittel; – Grafische Aufmachung, Layout. Zum anderen ist die Textverständlichkeit abhängig von der Adressatin oder dem Adressaten.“ Siehe Bundesamt für Justiz (Hrsg.), Gesetzgebungsleitfaden. Leitfaden für die Ausarbeitung von Erlassen des Bundes, 2. Aufl., Bern 2002, S. 359.
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manifestiert sich dieser Gegensatz in der Textgestaltung dahingehend, dass im kontinentalen Duktus die Grundsätze und nicht die Einzelheiten formuliert werden, während man nach der englischen Sichtweise nicht das Prinzip, wohl aber die Einzelheiten bevorzugt.47 Der englische Gesetzgeber stellt fallbedingt (case law) alle möglichen konkreten Fälle in den Vordergrund. Dagegen arbeitet der Gesetzgeber der Zivilrechtssysteme mit abstrakten Kategorien, legt die Grundsätze fest und überlässt es dem Rechtsanwender, die konkreten Tatbestände dem Grundsatz zu subsumieren. Ursprünglich war das Gemeinschaftsrecht deutlich vom kontinentalen Stil geprägt. Der Umstand, dass es schon immer komplizierte und lange Artikel und Sätze aufwies, spricht nicht gegen eine solche Feststellung. Das Recht der Wirtschaftsgemeinschaft war auf die wirtschaftliche, also auf eine komplizierte Realität gemünzt und bekanntlich ist die Komplexität der Regelung Funktion der Komplexität der Regelungsmaterie. Den Einfluss der Common-law-Tradition erkennt man daran, dass die EG-Rechtsakte oft sehr ins Detail gehen und wenigstens in den Erwägungsgründen möglichst viele konkrete Situationen beschreiben, auf die die Regelung Anwendung finden soll. Ein weiteres Zeichen dieses Einflusses zeigt der Gebrauch von Definitionen; sie waren ursprünglich im EG-Recht fast unbekannt, aber dies hat sich indessen geändert: „Die EU-Erlasse strotzen nur so von Legaldefinitionen“.48 Diese Begriffsbestimmungen sind oft fehlerhaft formuliert. Sie sollen bekanntlich „keine eigenständigen Regelungselemente enthalten“ (so die Leitlinie Nr. 14) und zwar aus systematischen Gründen: materiellrechtliche Elemente gehören in die normativen Bestimmungen. Ohne diese normativen Elemente erweisen sich die Definitionen aber oft als nutzlos; sie entsprechen dann dem allgemeinen Sprachgebrauch. Die Leitlinie Nr. 4 wählt offenbar den kontinentalen Stil: „4. Die Bestimmungen der Akte werden kurz und prägnant formuliert und ihr Inhalt sollte möglichst homogen sein. Allzu lange Artikel und Sätze, unnötig komplizierte Formulierungen und der übermäßige Gebrauch von Abkürzungen sollten vermieden werden.“ 6. Quantitative Aspekte von Textproduktion im Gemeinschaftsrecht
Die Fragestellungen der Textarbeit im Gemeinschaftsrecht lassen sich quantitativ an bestimmten Gegenstandsbereichen festmachen, wie die folgenden tabel47 Ferran, E., El traductor jurídico español frente al casuismo en el lenguaje jurídico anglosajón, in: Terminologie et Traduction, Luxembourg 1.2002, S 106: „Mientras el primero formula los principios y no detalla, el segundo no formula el principio y sí el detalle.“ 48 Hauck, W., Demokratiefähige Gesetzessprache trotz Globalisierung. Erfahrungen aus dem Alltag eines staatlichen Sprachdienstes, in: Wilss, W. (Hrsg.), Weltgesellschaft Weltverkehrssprache Weltkultur, Tübingen 2000, S. 192 ff.
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larischen Angaben über den des Zeitraums von 1958 bis 2002 illustrieren.49 Die jeweils auf der linken, vertikalen Achse aufgeführten Ziffern beziehen sich auf die Zahl der angenommenen Rechtsakte. Alle drei Abbildungen weisen auf spezifische Rechtsakte, die in allen Amtssprachen im Amtsblatt der EG veröffentlicht werden. Deutlich spiegeln sie politische Prioritäten wider. Dominant sind die Gegenstandsbereiche Landwirtschaft und Zollunion. In Abb. 2 wird für den Bereich Zollunion 1980 ein Anstieg der Textanzahl auf weit über 400 Texte verzeichnet, die im Jahr 2002 mit ca. 100 auf ein Viertel reduziert werden. Die Menge der Texte aus dem Bereich Landwirtschaft erreicht ihr Maximum im Jahr 1986 mit weit über 1300 Texten, die allerdings 2002 auf fast die Hälfte zurückgehen. Die immer noch stattliche Anzahl von ca. 700 erklärt sich durch die Flut von Marktregulierungsmaßnahmen, die in der Agrarpolitik von der Kommission erlassen, immer wieder geändert und angepasst werden müssen. Sehr viel Bewegung zeichnet sich in der Textproduktion in den Bereichen Regionalpolitik und Umwelt ab. Hatten die Rechtstexte zur Regionalpolitik 1994 ihren höchsten Stand mit über 140 Texten und fielen 2002 auf unter 10, wie Abb. 3 zeigt, so dominiert in den letzten Jahren ebenda deutlich die Gruppe der Texte zu Umweltfragen. Für das Jahr 2001 werden über 140 Texte angeführt, neben der für 2002 die Anzahl von ca. 120 steht. Nicht unbedeutend ist der in Abb. 4 verzeichnete Anstieg der Textanzahl aus den Bereichen von GASP und JI, wobei immerhin zwischen 1999 und 2002 eine jährliche Zahl von ca. 70 bis 80 für die GASP und für JI fast 70 für das Jahr 2001 und nicht ganz 50 für 2002 aufgeführt sind. III. Steuerungsfaktor Mehrsprachigkeit Die Komponente des Vergleichs, die bei der Übersetzung aus den „primären Arbeitssprachen“ (Französisch, Englisch) wirksam wird, kann in unterschiedlicher Weise auf die Produktion von inhaltlich übereinstimmenden performativen Rechtstexten Einfluss nehmen. EU-Recht als Diskurs materialisiert sich in den unterschiedlichen Sprachfassungen als Text im Sinne Derridas: als Verweisungszusammenhang. „Cet enchaînement, ce tissu, est le texte qui ne se produit que dans la transformation d’un autre texte“.50
49 Siehe Guggeis, M./Gallas, T., La traduction juridique dans l’expérience des juristes-linguistes du Conseil de l’Union européenne, in: Gémar, J.-Cl./Kasirer, N. (Hrsg.), La jurilinguistique – Bilan et perspectives [im Druck]. 50 Derrida, J., Sémiologie et grammatologie, in: Derrida, J. (Hrsg.), Positions. Entretiens avec Henri Ronse et al., Paris 1972, S. 38.
Abbildung 2: Anteil von Texten des Gemeinschaftsrechts aus den Bereichen Zollunion (fr. Union douanière) und Landwirtschaft (fr. Agriculture)
Quelle: Juristisch-linguistische Abteilung des Rates, 2003.
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Abbildung 3: Anteil von Texten des Gemeinschaftsrechts aus den Bereichen Regionalpolitik (fr. Politique régionale) und Umwelt (fr. Environnement)
Quelle: Juristisch-linguistische Abteilung des Rates, 2003.
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Abbildung 4: Anteil von Texten des Gemeinschaftsrechts aus den Bereichen Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (dt. GASP, fr. PESC) und Justiz- und Innenpolitik (dt. JI, fr. JAI)
Quelle: Juristisch-linguistische Abteilung des Rates, 2003.
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Gemeinsam bilden die unterschiedlichen Sprachfassungen den espace textuel multiple51, der den rechtlichen Plausibilitätsraum konstituiert. Für das Gelingen der mehrsprachigen Materialisierung können wir uns textlinguistischer Konzepte bedienen. Die Textlinguistik liefert das Werkzeug für eine Textkonstitution, dessen Dynamik durch den Faktor Mehrsprachigkeit gesteuert wird: anders als in traditionellen Übersetzungsverfahren entstehen hier im Translationsprozess nicht nur die Zieltexte, sie wirken auch auf die Gestaltung des Ausgangstextes zurück. 1. Formulierung von Rechtsnormen
Eine kaum überschaubare Menge von Publikationen kennzeichnet die Thematik der Anforderungen an die einzelstaatliche und gemeinschaftliche Rechtsund Gesetzessprache, an ihre Übersetzungen, ohne dass die von G. Müller geäußerte Skepsis, „die Ratschläge für die Formulierung von Rechtsnormen sind aber zu sehr abstrakt und zum Teil widersprüchlich“52, ihre Berechtigung verloren hat. Die hier in Teil 2 vorgestellten Strukturierungsvorschläge von normativen Gemeinschaftstexten stehen mit der Prämisse von „klar, einfach und genau“ (Leitlinie Nr. 1, 1998) nicht zufällig in einer langen Tradition der Rhetorik53 und nehmen in der Diskussion um die Verständlichkeit (frz. lisibilité) der fran51 Siehe Kristeva, J., Poésie et négativité, in: Kristeva, J. (Hrsg.), ShmeiwtikÞ. Recherches pour une sémanalyse. Essais, Paris 1969, S. 255. 52 Müller, G., Elemente einer Rechtsetzungslehre, Zürich 1999, S. 147. Weiterführende Literatur: ebenda S. 146 ff.; Nussbaumer, M., „Prügelknaben, Besserwisser, Musterschüler, Saubermänner“. . . – Juristen und Sprachkritik, in: Gellhaus, A./Sitta, H., Reflexionen über Sprache aus literatur- und sprachwissenschaftlicher Sicht, Tübingen 2000, Siehe 61 ff.; Cornu, G., Linguistique juridique, 2. Aufl., Paris 2000, S. 334 f.; zur Frage der Übersetzung von Rechtstexten: Mincke, W., Die Problematik von Recht und Sprache in der Übersetzung von Rechtstexten, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie LXXVII, 1991, S. 446 ff.; Sacco, R./Castellani, L. (Hrsg.), Les multiples langues du droit européen uniforme, Torino; Zaccaria, G.(Hrsg.), Übersetzung im Recht/Translation in Law, Münster 2000 (=Ars interpretandi 5); Cosmai, D., Tradurre per l’Unione europea. Problematiche e strategie operative, Milano 2003. 53 Zugrunde liegt der an erster Stelle der rhetorischen Tugenden stehende Begriff der lat. „perspicuitas“, welcher in der frz. Terminologie als sprachgeschichtlich folgenreicher Ausdruck mit frz. clarté (seltener mit frz. netteté) wiedergegeben wurde. So heißt es bei Quintilian (VIII 2, 22): „Nobis prima sit virtus perspicuitas, propria verba, rectus ordo, non in longum dilata conclusio, nihil neque desit neque superfluat: ita sermo et doctis probilis et planus inperitis erit. haec eloquendi observatio.“ („Für uns gelte die Durchsichtigkeit als Haupttugend des Ausdrucks, die eigentliche Bedeutung im Gebrauch der Wörter, ihre folgerichtige Anordnung, kein Schluß, der zu lange hinausgeschoben wird, nichts, das fehle, und nichts, das überflüssig sei: so wird, was wir sagen, bei den Kennern Beifall, und bei den Ungeschulten Eingang finden.“ Übersetzt von H. Rahn). Zit. nach: H. Rahn (Hrsg.), Marcus Fabius Quintilianus: Ausbildung des Redners: zwölf Bücher, 2. Teil 3. Aufl., Darmstadt 1995, S. 148 f.
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zösischen Sprache – auch der Rechtssprache – einen hohen Stellenwert ein.54 Sie sind praxisbezogen neu in textlinguistischer Sicht auszuleuchten.55 Dabei erweist sich die gemeinschaftsrechtlich vorgegebene Mehrsprachigkeit als ein Steuerungsfaktor innerhalb einer Kette von Übertragungsprozessen56. Gerade in den jüngsten Publikationen zum Europarecht machen F. Müller und R. Christensen darauf aufmerksam, dass die angebliche Gefährdung juristischer Rationalität durch Mehrsprachigkeit, wie sie bei traditionellen normativen Sprachauffassungen von Juristen unterstellt wird, z. T. spontaner Sprachideologie entspringt, welche unseres Erachtens selbst wiederum in Frage zu stellen ist. Unter dem Blickwinkel der juristischen Auslegung wird explizit die Mehrsprachigkeit „als große Chance für die Rationalität des Rechts“ gesehen. „Diese wird durch offene Mehrsprachigkeit nicht gefährdet, sondern geradezu ermöglicht“.57 Positive Einschätzungen der politisch vorgegebenen Mehrsprachigkeit von EU-Rechtstexten rechtfertigen sich durch einzelne Verfahrensschritte in der Textproduktion, die nämlich inhaltliche Kontroll- und Gestaltungsfunktionen beinhalten. Aus der Erfahrungspraxis gemeinschaftlicher Rechtssetzung, die in der Vergangenheit nicht selten Anlass zu heftiger Kritik geboten hatte, wird in den „Allgemeinen Grundsätzen“ der Leitlinien 1998 unter Punkt 5 zusammenfassend formuliert: „5. Während des gesamten Prozesses, der zur Annahme der Akte führt, wird bei der Abfassung der Entwürfe dieser Akte genau darauf geachtet, daß hinsichtlich Wortwahl und Satzstruktur dem mehrsprachigen Charakter der gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften Rechnung getragen wird: spezifische Begriffe oder die spezifi-
54 Grundlegend hierzu: Gémar, J.-C., Le double langage du droit ou le discours du législateur en situation bilingue, in: Ecole de traduction et d’interprétation de l’Université de Genève (ETI)/Association suisse des traducteurs, terminologues et interprètes (ASTTI) (Hrsg.), L’histoire et les théories de la traduction, Berne/Genève 1997, S. 389 ff. Gémar führt allerdings unter den Verständlichkeitsprinzipien die Dreiergruppe: La clarté, la simplicité, la concision auf, mit denen nicht zuletzt der Code Napoléon charakterisiert wird (siehe S. 403 ff.). 55 Einen sehr instruktiven Überblick zur Geschichte des Textbegriffs und zugleich auch der Textlinguistik gibt Scherner, M., „Text“. Untersuchungen zur Begriffsgeschichte, in: Archiv für Begriffsgeschichte XXXIX, 1996 (1997), S. 103 ff. 56 Klein, W./von Stutterheim, Ch., Textstruktur und referentielle Bewegung, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 86, 1992, S. 67 ff. Für Klein und von Stutterheim ist die „eigentliche Textproduktion [. . .] der letzte Schritt in einer Kette von Übertragungsprozessen“. Innerhalb der mehrsprachigen Textproduktion multipliziert sich dieser letzte Schritt wiederum zu Ketten von Übertragungsprozessen, oder besser gesagt zu einem Netz von Übertragungsprozessen, innerhalb dessen die Steuerungsfunktion durch das Gebot der Mehrsprachigkeit gesichert wird. 57 Müller, F./Christensen, R., Juristische Methodik, Bd. 2, Europarecht, Berlin 2003, S. 222.
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sche Terminologie der nationalen Rechtssysteme dürfen nur behutsam verwendet werden.“
Die komplexen terminologischen und textuellen Informationsstrukturen entsprechen einer gemeinschaftlichen Gesamtvorstellung, die sich ihrerseits in einzelsprachlichen Komponenten äußern muss. Dabei können die auf gemeinsamer Ausdrucksebene erfassten Inhalte durchaus von den einzelsprachlich etablierten Inhalten divergieren. 2. Interaktion Übersetzer – Verfasser
Eine interagierende korrigierende Funktion des Übersetzungsvorgangs in Rückkoppelung auf den Ausgangstext hat in der Legistik des mehrsprachigen nationalen Rechts durchaus Tradition. Im Rahmen seiner aktuellen Beschreibung der zweisprachigen Redaktion von Rechtserlassen im Kanton Bern gibt G. Caussignac in diesem Band instruktive Beispiele. Aus historischer Perspektive ist die Entstehung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches vom 10. Dezember 1907 (ZGB) anzuführen, das als Paradigma einer besonderen Beziehung von Recht, Sprache und Mehrsprachigkeit in der Rechtsetzung gelten kann. Unter der Vorgabe einer Gleichwertigkeit der drei Nationalsprachen Deutsch, Französisch, Italienisch war es bei den verschiedenen Etappen der Textgenese zu einer gegenseitigen Einwirkung der verschiedenen Textfassungen gekommen, die die Möglichkeit einer jeweiligen Optimierung bot. So vermerkte später der Mitverantwortliche für die französische Fassung des ZGB, V. Roussel: „[. . .] nous espérons n’avoir rien négligé pour que la concordance entre les trois textes soit établie. Pour atteindre ce but, nous avons dû souvent adapter le texte allemand aux textes français ou italien, si bien qu’aucun des trois textes ne saurait être envisagé comme une simple traduction.“58 58 Rossel, V./Mentha, F.-H., Manuel du droit civil suisse, Bd. 1, 2. Aufl., Lausanne 1922, S. 42. Schon in den berühmten Erläuterungen zum Vorentwurf des ZGB hatte Huber 1901 vermerkt: „[. . .] Im allgemeinen haben auch die Beratungen dieses Entwurfes uns die Wahrheit des oft zitierten Satzes bestätigt, dass der Zwang, für eine Übersetzung zu sorgen, die Genauigkeit der Ausdrucksweise zu fördern vermag. Man wird nicht bestreiten können, dass im syntaktischen Aufbau die französische Sprache mit ihrer Klarheit und Einfachheit der deutschen als Gesetzessprache oft als Vorbild dienen kann. Allein, was die Redeweise angelangt, so haben wir die Erfahrung gemacht, dass das französische Sprachgenie gegen eine deutliche Bezeichnung der Begriffe als etwas selbstverständlichem sich oftmals sträubt, wo die kürzere Ausdrucksart für die deutsche Sprache einfach eine Ungenauigkeit bedeutet. In dieser Beziehung bestand die Übersetzungsarbeit dann vielfach in einem wechselseitigen Zu- und Nachgeben“. Huber, E., Schweizerisches Zivilgesetzbuch. Erläuterungen zum Vorentwurf des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements, Bd. 1. Einleitung, Personen-, Familien- und Erbrecht, 2. Aufl., Bern 1914, S. 17 f. Eine eingehendere rechtslinguistische Untersuchung zur Rolle der „integrativen Mehrsprachigkeit“ bei der Entstehung des ZGB siehe Burr, I. (in Vorbereitung). Weiterführend hierzu: Schnyder, B., Zur Mehr-
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Diese Feststellung, dass die Abfassung in einer anderen sprachlichen Version nicht nur einem Prinzip der sprachlichen Adäquatheit, der Zweckmäßigkeit, Verständlichkeit folgt, sondern auch nach einem Dekodierungsvorgang eine sprachliche Korrektur der Schlüssigkeit des Ausgangstextes vorzunehmen vermag, ist auch als praktische Chance in der gemeinschaftsrechtlichen Textproduktion wahrzunehmen. 3. Beispiel aus der Tätigkeit einer Arbeitsgruppe des Rates
Folgendes Beispiel soll die oben angezeigte Textarbeit im Bezug auf die Interaktion Übersetzer – Verfasser demonstrieren. Es handelt sich dabei um die Richtlinie 2001/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen an Verbraucher und zur Änderung der Richtlinie 90/619/EWG des Rates und der Richtlinien 97/7/EG und 98/27/EG, die Gegenstand des Dokumentes 12425/01 Absatz 2 ist. Ausgangssprache der ersten Textfassung dieses Absatzes war Französisch. Der in französischer Sprache erstellte Ausgangstext lautete: 1. Fassung in Frz.: „Le fournisseur ne peut exiger du consommateur qu’il paye un montant sur la base du paragraphe 1: – que s’il peut prouver que le consommateur a été dûment informé du montant dû, conformément à l’article 3, paragraphe 1, point 3), sous m); ou – s’il a commencé à exécuter le contrat avant l’expiration du délai de rétraction prévu à l’article 6, paragraphe 1, sans demande préalable du consommateur.“
Der nächste Schritt war die wörtliche Übersetzung dieses Textes, wobei der spezifische französische Textcharakter beibehalten wurde. Diese erste Übersetzung59 lautet: 1. Fassung in Dt.: „Der Anbieter darf vom Verbraucher eine Zahlung gemäß Absatz 1 nur verlangen, wenn – er nachweisen kann, dass der Verbraucher über den zu zahlenden Betrag gemäß Artikel 3 Absatz 1 Nummer 3 Buchstabe m ordnungsgemäß unterrichtet worden ist, oder – er vor Ende der Widerrufsfrist gemäß Artikel 6 Absatz 1 ohne ausdrückliche Zustimmung des Verbrauchers mit der Vertragausführung begonnen hat.“ sprachigkeit der schweizerischen Gesetzgebung im Allgemeinen, in: LeGes – Gesetzgebung & Evaluation 2001/3, S. 33 ff.; Dullion, V., Lorsque traduire, c’est écrire une page d’histoire: la version française du Code civil suisse dans l’unification juridique de la Confédération, in: Ecole de traduction et d’interprétation de l’Université de Genève (ETI)/Association suisse des traducteurs, terminologues et interprètes (ASTTI) (Hrsg.), L’histoire et les théories de la traduction, Berne/Genève, S. 371 ff.; Šarcˇevic´, S., New Approach to Legal Translation, The Hague/London/Boston, S. 36 ff. 59 Der Begriff der „Übersetzung“ ist hier insofern gerechtfertigt, als dem aktuellen Teilschritt tatsächlich ein Ausgangstext zugrunde liegt, der als vorläufige Fassung allerdings in weiteren Teilschritten selbst wiederum Veränderungen unterworfen wird.
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Bei der Redaktion des deutschen Textes wurde ein inhaltlicher Fehler ersichtlich, der auf der Einschränkung über „ne . . . que si . . .“ im ersten Unterpunkt und die Negation über „ne . . . [pas] si . . .“ im zweiten Unterpunkt beruht. Ein erster Versuch, diesen Fehler zu beheben, führte zu einer erneuten Fehlerquelle im Bereich der Negation: 2. Fassung in Dt.: „Der Anbieter darf vom Verbraucher keinerlei Zahlung gemäß Absatz 1 verlangen, wenn – er nicht nachweisen kann, dass der Verbraucher über den zu zahlenden Betrag gemäß Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe m ordnungsgemäß unterrichtet worden ist, oder – der Anbieter vor Ende der Widerrufsfrist gemäß Artikel 6 Absatz 1 ohne ausdrückliche Zustimmung des Verbrauchers mit der Vertragsausführung begonnen hat.“
Diese deutsche Fassung entspricht den wörtlichen Übersetzungen in Italienisch und Spanisch, die folgendermaßen lauten: it. Fassung: „Il fornitore non può esigere dal consumatore il pagamento di alcun importo in base al paragrafo 1; – se non è in grado di provare che il consumatore è stato debitamente informato dell’importo dovuto, in conformità dell’articolo 3, paragrafo 1, lettera m), o – se il fornitore ha avviato l’esecuzione del contratto prima della scadenza del periodo di esercizio del diritto di recesso di cui all’articolo 6, paragrafo 1 senza che vi fosse una richiesta del consumatore“. sp. Fassung: „El proveedor no podrá exigir pago alguno del consumidor a tenor del apartado 1: – a menos que pueda demostrar, que el consumidor ha sido debidamante informado del importante adeudado, de conformidad con lo establecido en la letra m) del apartado 1 del artículo 3, o – en caso de que haya iniciado la ejecución del contrato antes de expirar el período de desistimiento que establece el apartado 1 del artículo 6 sin el consentimiento expresso del consumidor.“
Die inhaltliche Umstrukturierung durch eine veränderte Verwendung der Negation im Deutschen wurde auch in anderen Amtssprachen parallel übernommen. Das Spiel der Fehlerperpetuierung setzte sich fort. Zu einer textlichen Umgestaltung kam es in einer 3. deutschen Fassung, die nunmehr die Einschränkung und die notwendige Negation des zweiten Unterpunktes explizit formulierte; allerdings war diese 3. inhaltlich korrekte Fassung textuell noch in der französischen Diskurstradition verhaftet und wirkte im Deutschen sehr schwerfällig. 3. Fassung in Dt.: Der Anbieter darf vom Verbraucher eine Zahlung gemäß Absatz 1 – nur verlangen, wenn er nachweisen kann, dass der Verbraucher über den zu zahlenden Betrag gemäß Artikel 3 Absatz 1 Nummer 3 Buchstabe a ordnungsgemäß unterrichtet worden ist,
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– nicht verlangen, wenn er vor Ende der Widerrufsfrist gemäß Artikel 6 Absatz 1 ohne ausdrückliche Zustimmung des Verbrauchers mit der Vertragausführung begonnen hat.
In einer inhaltlichen und sprachlichen Korrektur der französischen Ausgangsfassung wurde ein traditioneller normativer Stil, der typisch für das Französische war, modifiziert und einem gemeinschaftlichen Stil angepasst. Sehr viel verständlicher zeigt sich die Umformulierung in zwei Sätze. Hinsichtlich der Negation kam es jedoch in dem fraglichen zweiten Satz zu einer inhaltlich nicht notwendigen Überreaktion („Toutefois, [. . .] en aucun cas“). 2. Fassung in Frz.: Le fournisseur ne peut exiger du consommateur qu’il paye un montant sur la base du paragraphe 1 que s’il peut prouver que le consommateur a été dûment informé du montant dû, conformément à l’article 3, paragraphe 1, point 3), sous m). Toutefois, il ne peut, en aucun cas, exiger ce paiement s’il a commencé à exécuter le contrat avant l’expiration du délai de rétraction prévu à l’article 6, paragraphe 1, sans demande préalable du consommateur.
In seiner vierten bereinigten Fassung war mittlerweile ein deutscher Text entstanden, der durchaus dem Verständlichkeitsprinzip gerecht wurde und auch keine Überbetonung der Negation aufzeigte. 4. Fassung in Dt.: Der Anbieter darf vom Verbraucher eine Zahlung gemäß Absatz 1 nur verlangen, wenn er nachweisen kann, dass der Verbraucher über den zu zahlenden Betrag gemäß Artikel 3 Absatz 1 Nummer 3 Buchstabe m ordnungsgemäß unterrichtet worden ist. Er kann eine solche Zahlung jedoch nicht verlangen, wenn er vor Ende der Widerrufsfrist gemäß Artikel 6 Absatz 1 ohne ausdrückliche Zustimmung des Verbrauchers mit der Vertragsausführung begonnen hat.
Dieses Beispiel der Interaktion Übersetzer-Verfasser veranschaulicht den Kommentar Nr. 5.5.2 des Leitfadens: „[. . .] der Verfasser [sollte] bedenken, dass Bemerkungen der Übersetzer aller Dienste, die seinen Text nach sprachlichen Gesichtspunkten prüfen, sehr nützlich sein können. Dies ist die Gelegenheit, mögliche Fehler und Mehrdeutigkeiten im Ausgangstext aufzudecken, auch wenn dieser bereits in einem mehrstufigen Verfahren ausgearbeitet und – vielleicht gerade dann – wenn er lange von mehreren Personen beraten wurde. Dem Verfasser können Probleme dann mitgeteilt werden. Häufig ist es in einem solchen Fall besser, nicht die Übersetzungen, sondern das Original zu ändern.“
Solche Textrevisionshandlungen,60 die im Rahmen von Translationen vorgenommen werden, sollten Anlass geben, in praktischer Konsequenz verstärkt Institutionen wie Redaktionskommissionen zu fördern, für die Schweizer Einrichtungen auf parlamentarischer Ebene als auch im Rahmen der Zentralen Sprachdienste der Bundeskanzlei als Vorbild dienen.61 In Ergänzung zu jeweiliger 60 Zu Untersuchungen von Textrevisionshandlungen bei der Beschreibung von kurzen Alltagstexten in einer Einzelsprache siehe Rau, C., Revisionen beim Schreiben. Zur Bedeutung von Veränderungen in Textproduktionsprozessen, Tübingen 1994.
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Textoptimierung im Rahmen einer konstruktiven Zusammenarbeit von Juristen und Linguisten, sind für die Produktionsprozesse der EU-Rechtstexte jedoch breit angelegte wissenschaftliche Untersuchungen erforderlich. Neben praktischempirischen Analysen von mehrsprachig gesteuerten Revisionshandlungen, sollte hier eine wichtige Basis für grundlegende interdisziplinäre Studien der theoretischen und methodischen Probleme gesehen werden, die auch hinsichtlich der Sprachenvielzahl der EU-Sprachen Neuland betreten lassen. 4. Probleme mehrsprachiger Terminologie
Das Problem der Translation juristischer Terminologie ist bekannt:62 die Termini der Rechtssprache beschreiben keine naturgegebenen Sachverhalte, sondern drücken Konzepte aus, die vom Willen des Gesetzgebers geschaffen werden. Sie können von Rechtsordnung zu Rechtsordnung für teilweise abweichende oder auch völlig verschiedene Begriffsinhalte stehen, ja sogar innerhalb einer Rechtsordnung je nach Rechtsbereich divergieren. Während in den Mitgliedstaaten oft Kritik laut wird, dass das EG-Recht manchmal eine Terminologie benutzt, die nicht der im nationalen Sprachgebrauch entspricht, warnt die Leitlinie Nr. 5 zu Recht davor: „[. . .] spezifische Begriffe oder die spezifische Terminologie der nationalen Rechtssysteme dürfen nur behutsam verwendet 61 Vorbildlich ist die Arbeit der in der Schweizer Bundeskanzlei, Abt. Zentrale Sprachendienste, angesiedelten Verwaltungsinternen Redaktionskommission, die programmatisch für eine „bürgernahe, verständliche und angemessene Sprache in Erlassen des Bundes“ wirkt. Siehe insbesondere http://www.admin.ch/ch/d/bk/sp/ueber_uns/ taetigkeiten.htm; Hauck, W., Verständliche Gesetzessprache – eine Herausforderung an die Staatsverwaltung, in: Öhlinger, D. (Hrsg.), Recht und Sprache, Wien 1986, S. 193 ff.; Nussbaumer, M., Textlinguistik für die Gesetzgebung, in: Veronesi, D. (Hrsg.), Linguistica giuridica italiana e tedesca/Rechtslinguistik des Deutschen und Italienischen, 2000, S. 195 ff. 62 Zur generellen Problematik der Übersetzung von Termini siehe u. a. De Bessé, B., Théorie de la traduction et théorie de la terminologie, in: Ecole de traduction et d’interprétation de l’Université de Genève (ETI)/Association suisse des traducteurs, terminologues et interprètes (ASTTI) (Hrsg.), L’histoire et les théories de la traduction, Berne/Genève 1997, S. 107 ff.; sowie die von der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Übersetzerdienste, Abteilung Terminologie herausgegebene Zeitschrift „Terminologie et Traduction“, Luxembourg 1986 ff. Als wichtige Datenbanken zur Terminologie des Gemeinschaftsrechts stehen folgende Links zur Verfügung: Eurodicautom: http://europa.eu.int/eurodicautom/Controller Celex: http://europa.eu.int/celex/ TIS: http://tis.consilium.eu.int/ EUR-LEX: http://europa.eu.int/eur-lex/. Grundsätzliches zur Terminologiearbeit in einigen EU-Staaten siehe die „KÜWESEmpfehlungen für die Terminologiearbeit“, die in Englisch, Deutsch, Französisch, Italienisch publiziert sind: Konferenz der Übersetzungsdienste westeuropäischer Staaten, Arbeitsgruppe Terminologie und Dokumentation, Empfehlungen für die Terminologiearbeit, 2. Aufl., Bern 2003; Arntz, R../Picht, H./Mayer, F., Einführung in die Terminologiearbeit, 4. Aufl., Hildesheim/Zürich/New York 2002.
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werden“. D.h. solche Termini können nur dann verwendet werden, wenn sie tatsächlich dasselbe aussagen. Vor allem bei so genannten „Euro-Latinismen“ ist im Sprachenvergleich eine Gefahrenquelle gegeben, die in der konstrastiven Lexikologie und Terminologie im Bereich der faux amis angesiedelt wird. Mit diesem linguistischen Fachausdruck bezeichnet man vor allem morphologische und idiomatische Entsprechungen zwischen mehreren Sprachen, die auf der Ausdrucksebene gleich oder ähnlich sind, aber nicht zu denselben Referenzbereichen gehören. Instruktive Beispiele sind die Neologismen dt. Exterritorialität/engl. exterritoriality/frz. exterritorialité, die als ursprüngliche Termini des Völkergewohnheitsrechts den Sonderstatus der Diplomaten im Empfangsstaat charakterisierten. Ganz allgemein bezeichnen sie den völkerrechtlichen Status von Gebäuden und Schiffen, die nicht unter die Gerichtsbarkeit des Staates fallen, auf dessen Hoheitsgebiet sie sich befinden. Die mit dem lt. Präfix extra- in jüngster Zeit gebildeten Ableitungen engl. extraterritoriality (Helms-Burton Act 1996)/dt. Extraterritorialität/frz. extraterritorialité kennzeichnen dagegen die Ausdehnung der Strafgewalt eines Staates auf Taten, die außerhalb seines Hoheitsgebietes begangen worden sind. Anders ist allerdings die Bedeutung in der italienischen Parallelbildung. It. extraterritorialità hat den Bedeutungsinhalt von dt. „Exterritorialität“, so dass die strafrechtliche Bedeutung von „Extraterritorialität“ umschrieben werden muss und im Gemeinschaftsrecht häufig seine semantische Äquivalenz in der Wendung estensione della sovranità nazionale findet. Unterschiedliche einzelsprachliche Verwendung der Entlehnungen aus ursprünglich lateinischen juristischen Termini wird an dem Beispiel von spätlateinisch competentia deutlich, das im 15. Jahrhundert in der Bedeutung „juste rapport“ ins Französische entlehnt wird. Während dt. Kompetenz im linguistischen und soziologischen Bereich den Fachwortschatz bestückt, hat er im Gegensatz zu anderen Sprachen keinen Eingang in die deutsche Rechtsterminologie gefunden. Ein anschauliches Beispiel für die unterschiedliche Akzeptanz von Neologismen und terminologische Vermeidungsstrategien liefert Art. 2 des Vertrages von Nizza, in dem im Dezember 2000 die Staats- und Regierungschefs der EUMitgliedsstaaten institutionelle Reformen ausgehandelt hatten. In diesem Artikel figuriert frz. compétence ebenso wie pg. compêtencia 14mal. Weniger häufig bzw. gar nicht erscheint der Latinismus in anderen EU-Sprachen, die an Ort und Stelle folgende Termini mit angegebener Frequenz verwenden: it. competenza (13) – potere (1); sp. competencia (13) – atribución (1); niederl. bevoegdheid (13) – bekend staan als kundig (1); dt. Zuständigkeit (12) – Befugnis (1) – Befähigung (1); engl. competence (7) – power (4) – jurisdiction (3). Die Fülle von Problemen, die sich bei mehrsprachiger Terminologie gemeinschaftlicher Rechtstexte ergeben, hat eine Reihe von Ursachen. Sie sind z. T. einzelsprachenspezifisch bedingt und können zugleich unterschiedliche Kon-
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zepte „mittransportieren“; hier besteht die Notwendigkeit einer einheitlichen Festlegung, von der man allerdings in manchen Fällen weit entfernt ist. Einige Schwierigkeiten und Festlegungen seien exemplarisch nach einigen Angaben von H. Zerwes aufgeführt63: Dt. Verursacherprinzip – engl. principle that the polluter should pay – frz. principe du pollueur-payeur – sp. principio de que quien contamina, paga – it. principio „chi inquina paga“.
Unter den verfassungsmäßigen Zielen der Gemeinschaft sind nach Art. 174 EGV, aus dessen verschiedenen sprachlichen Fassungen die obigen Beispiele stammen, auch das umweltrechtliche Verursacherprinzip und der Grundsatz der Ursprungsbekämpfung aufgenommen. Die aus dem deutschen Umweltrecht stammende Bezeichnung war nach einem gängigen Wortbildungsmuster geprägt und hatte nationalrechtlich einen weiteren Bedeutungsradius. Um eine notwendige inhaltliche Äquivalenz des gemeinschaftlichen Terminus zu garantieren, musste man in den anderen Sprachen andere morphologisch-syntaktische Strukturen der jeweiligen Sprachen zur Präzisierung nutzen. Frz. économie sociale – engl. social economy/economics – span. economia social – niederl. sociale economie, gemeenschapseconomie – dt. Sozialwirtschaft, Sozialökonomie, Gemeinwirtschaft, gemeinnützige Unternehmen, Solidarwirtschaft.
Der französische Terminus besitzt als nationalstaatlicher Begriff ein breites, in der Literatur viel diskutiertes Bedeutungsspektrum, das sich sowohl auf die coopératives (Genossenschaften), die mutuelles (Vereinigungen auf Gegenseitigkeit) als auch auf die associations (Selbsthilfeeinrichtungen und Vereine mit wirtschaftlicher Tätigkeit) bezieht. Da es kein deutsches Äquivalent mit all diesen Bedeutungen gibt, wurde in der Zielsprache Deutsch ein Fächer von Komposita gebildet, die evtl. den gemeinschaftlichen Terminus aus dem Kontext bestimmen. Im Falle von Auslegungsschwierigkeiten ist es u. a. die Aufgabe des EuGH hier eine gemeinschaftsrechtliche Festlegung vorzunehmen, wie er es z. B. im sogenannten Rockfon-Urteil ausgesprochen hat. Den Begriff „Betrieb“, dem in den einzelnen EU-Sprachen Bezeichnungen mit unterschiedlichen Konzepten („Betrieb“, „Niederlassung“, „Unternehmen“, „Arbeitsmittel“, „räumliche Einheit“, „Arbeitsort“) gegenüberstanden, legte der EuGH dahingehend aus, dass der Terminus in der betreffenden europäischen Richtlinie „nach Maßgabe der Umstände die Einheit bezeichnet, der die von der Entlassung betroffenen Arbeitnehmer angehören“.64 Unterschiedliche Korrelationen von Terminus und Kontext in einzelnen Sprachfassungen bei Definitionen in EU-Verordnungen/Richtlinien scheinen zu63 Zerwes, H., Sprachenpolitik und Terminologie in der EU, in: Arnzt, R./Mayer, F./ Reisen, U. (Hrsg.), Akten des Symposions Terminologie für ein vielsprachiges Europa Köln, 12.–13. April 1996, Bolzano/Köln 1996, S. 9 ff. 64 EuGH 7. Dezember 1995, Rs. C-449/93 (Rockfon), Slg. 1995, S. 4317, Rnr. 32.
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nächst divergierende Präzisionsgrade in der sprachlichen Äußerung anzuzeigen. Allerdings sind nicht nur die spezifischen terminologisch-morphologischen Charakteristika im System einer Einzelsprache in den Vordergrund zu stellen, vielmehr gilt es beim Sprachenvergleich auch, eine unterschiedliche textlinguistische Disposition und Praxis heranzuziehen. H. Zerwes kommentiert die folgenden Beispiele Dt. integrierter Pflanzenschutz – engl. integrated control – frz. lutte integrée – span. lucha integrada (ABl. L 2304/4, 19.8.91) Dt. Haltbarmachung – engl. treatment – frz. traitement – span. tratamiento (ABl. L 57/4, 2.3.92) Dt. umschlossene Strahlenquelle – engl. sealed source – frz. source scellée – span. fuente sellada (ABl. L 35/25, 12.2.92) Dt. Verfahren der Steueraussetzung – engl. suspension arangment – frz. régime suspensif – span. régimen suspensivo (ABl. L 76/4, 23.3.92)
als Demonstration für „Präzisierungsmöglichkeiten, die zu begrüßen sind, wobei zusammengesetzte Hauptwörter dem deutschen Übersetzer sprachlich nahe kommen“.65 Mit zu berücksichtigen ist jedoch, dass in bestimmten Sprachen eine unterschiedliche Bereitschaft zur Kontextualisierung und Dekontextualisierung vor allem in der Rechtssprache besteht,66 die von einer jeweiligen Diskurstradition und einzelsprachlichen Normgestaltung determiniert sein kann. Ein Beispiel für die Reduktion einer terminologischen Überpräzisierung zeigt ein Textauszug aus der Erarbeitung des Europäischen Beamtenstatus. Als Basis diente eine französische Ausgangsformulierung, bei der die Stellung des attributiven Adjektivs supérieur eine Unklarheit in Bezug auf die betreffenden Lehreinrichtungen darstellte: 1. Fassung in Frz.: „[. . .] dans le cas d’enfants fréquentant une école ou un établissement d’enseignement supérieur dans un autre État membre, un montant maximal par enfant à charge correspondant à l’allocation scolaire effectivement perçue au titre de cet enfant;“.
In der wörtlichen Übersetzung ins Englische wurde dies deutlich: Engl.: „[. . .] for children attending a school or a higher education establishment in another Member State, a maximum amount per dependent child equal to the education allowance actually received for that child;“.
Die zweite, bereinigte französische Fassung spricht dann sehr viel allgemeiner von: 2. Fassung in Frz.: „[. . .] un établissement d’enseignement“. 65 Zerwes, H., Sprachenpolitik und Terminologie in der EU, in: Arnzt, R./Mayer, F./ Reisen, U. (Hrsg.), Akten des Symposions Terminologie für ein vielsprachiges Europa Köln, 12.–13. April 1996, Bolzano/Köln 1996, S. 13. 66 Weiterführend hierzu: Werlen, I., Verweisen und Verstehen. Zum Problem des inneren Beziehungsgeflechtes in Gesetzesverweisen, in: Gesetzgebung heute (LeGes) 2, 1994, S. 49 ff.
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IV. Diskurs- und sprachenspezifische Besonderheiten Eine Besonderheit von Rechtstexten ist zum einen, dass sie „einen Handlungs- bzw. Verhaltensmaßstab für potentiell zu vollziehende künftige Handlungen in einem bestimmten Handlungsbereich setzen [. . .]“ und, dass sie zum andern „darüber hinaus in ihrer Werteinordnung normativ statuiert – deontisch notwendig oder möglich“ werden.67 Die Betrachtung der deontischen Ausdrucksweise im Sprachenvergleich stellt für das Gemeinschaftsrecht eine wichtige linguistische Fragestellung dar, wobei eine übereinzelsprachliche Diskurstradition mitwirkt. So bewahrt der englische Modalausdruck shall auch in EURechtstexten seine bevorzugte Verwendung, ohne dass gegenüber den deontischen Ausdruckweisen in den anderen EU-Sprachen eine stärkere Akzentuierung der illokutiven Rolle des Anordnens zu konstatieren ist. In diachroner Sicht war, wie Wüest ausführt, das Spektrum von deontischen Ausdrücken in normativen Rechtstexten in den einzelnen Sprachen sehr viel größer.68 Ein instruktives Beispiel liefern die verschiedenen Sprachfassungen des Dekalogs. Während das Deutsche das Modalverb sollen („Du sollst nicht töten“) verwendet, bevorzugt das Französische das imperative Futur („Tu ne tueras point“) wie im Spanischen („No matarás“), demgegenüber das Italienische in diesem Gebot den imperative Infinitiv nutzt („Non uccidere“), wobei es ebenso das modale Futur kennt („Non avrai altro Dio fuori di me“). Mittlerweile zeichnet sich übereinzelsprachlich eine stärkere Bevorzugung des nicht modalisierten Indikativ Präsens als „neutralisierte deontische Ausdrucksweise“ ab, die generell ein Charakteristikum der heutigen Gesetzessprache ist. Zwar billigt G. Cornu dem Futur noch einen gewissen Stellenwert in der französischen Gesetzessprache zu, doch hat für ihn die Aussage: „L’indicatif vaut l’impératif. C’est une particularité de l’énonce législatif“69 ihre Priorität. Er kommentiert diese Feststellung mit pragmatisch-kommunikativen Argumenten:
67 Sayatz, U., Modale Referenz in Gesetzen und Gesetzeskommentierungen. Ein textvergleichender Ansatz, in: Motsch, W. (Hrsg.), Ebenen der Textstruktur. Sprachliche und kommunikative Prinzipien, Tübingen 1996, S. 275–281. Die Verfasserin untersucht unter kognitivem Aspekt Formen argumentativer Vermittlung deklarierter Rechtsnormen des Deutschen und bietet damit eine willkommene Grundlage für zukünftige Untersuchungen kognitiver Kohärenzbeziehungen bei Rechtstexten im Sprachenvergleich. Auf empirischer Basis arbeitet Pfeiffer, O. E., Modalverben und ihre Konkurrenten in Österreichischen Gesetzen, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 128, 2002, S. 63 ff. Weiterführend: Berliner Arbeitsgruppe, Sprache des Rechts, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 118, 2000, S. 7 ff. 68 Siehe die diachrone Untersuchung von Wüest, J., Die Sprache der Gesetze. Ein Beitrag zu einer vergleichenden Pragmatik, in: Rovere, G./Wotjak, G. (Hrsg.), Studien zum romanisch-deutschen Sprachvergleich, Tübingen 1993, S. 103 ff. 69 Cornu, G., Linguistique juridique, 2. Aufl., Paris 2000, S. 272.
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„Psychologiquement, l’indicatif présent offre d’ailleurs des avantages. Il occulte celui qui donne l’ordre et ne brandit pas le pouvoir d’ordonner. C’est une façon plus discrète, plus douce et plus diplomatique de commander. La référence à ce qui est pourrait même faire imaginer que la règle énoncée n’est pas arbitrairement imposée, mais naturellement fondée, que le droit est proche de la nature des choses.“70
Ein kleiner Einblick in die Textgenese der oben schon mehrfach angeführten Allgemeinen Grundsätze der Interinstitutionellen Vereinbarung von 1998 demonstriert die einzelsprachliche „Scheindivergenz“ bei deontischen Ausdrucksweisen, ihre einzelsprachliche, aus einer Tradition resultierenden Disposition, und das Bemühen den Indikativ Präsenz als „neutralisierte deontische Ausdrucksweise“ im französischen Text einzubringen. Interinstitutionelle Vereinbarung 1998: Allgemeine Grundsätze 1. Dt.: „Die gemeinschaftlichen Rechtsakte werden klar, einfach und genau abgefasst.“ Frz.: „Les actes législatifs communautaires sont formulés de manière claire, simple et précise.“ [04.03.98: doivent être, 27.10.98: devraient être, 19.11.98: sont, 24.11.98: doivent être] Engl.: „Community legislative acts shall be drafted clearly, simply and precisely.“ It.: „Gli atti della legislazione comunitaria sono formulati in modo chiaro, semplice e preciso.“ Sp.: „Los actos legislativos comunitarios se formularán de manera clara, sencilla y precisa.“ Pg.: „Os actos legislativos comunitários devem ser formulados de forma clara, simples e precisa.“ Dän.: „EF’s retsakter affattes klart, enkelt og præcist.“ Schwed.: „Gemenskapens rättsakter skall vara klart, enkelt och exact formulerade.“
Während der hier mit Datum angegebenen Redaktionssitzungen waren bei dieser Fassung unterschiedliche Optionen zum Ausdruck deontischer Norm ins Spiel gebracht worden, wobei eine solche Variabilität auch in der „Nichtverbindlichkeit“ der Interinstitutionellen Vereinbarung liegt71.
70
Cornu, G., Linguistique juridique, 2. Aufl., Paris 2000, S. 272. Die Entscheidung für den Indikativ Präsenz im Französischen wird in den weiteren Ausführungen zur Leitlinie 2 im Leitfaden unter 2.3.2. explizit formuliert: „Im verfügenden Teil verbindlicher Rechtsakte werden Verben im Französischen im Indikativ Präsenz verwendet, im Englischen wird „shall“ mit Infinitiv gebraucht. In beiden Sprachen sollte das Futur nicht verwendet werden“. Die Übernahme dieses Punktes in alle Fassungen des Leitfadens liefert einen Hinweis für die Rolle der „Arbeitssprachen“ Französisch und Englisch. 71
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V. Kontrastive Textologie In dem obigen Abschnitt II. waren gesetzestechnische Regeln, seien sie Richt- bzw. Leitlinien oder Leitfäden bzw. Empfehlungen, unter die Überlegungen von vorstrukturierenden Kommunikationsformen gestellt worden. Ihre spezifische pragmatische Funktion, die zielgerichtet eine textuelle Optimierung durch den Rezipienten bewirken soll, kann in ihrer linguistischen Beurteilung unter dem Aspekt einer kontrastiven Textologie einen wichtigen Forschungsgegenstand darstellen. In ihren „Grundfragen einer kontrastiven Textologie“ unterstreicht K. Adamzik die Bedeutung von Textsortennetzen und Diskurs(system)en bei der Konstituierung von Texten. Diese sind prinzipiell nicht als etwas Statisches, sondern vielmehr durch ihre Dynamik gekennzeichnet, die auch die Problematik der Analyse und einer Anwendung in der Praxis ausmacht. „Denn die Texte als ,statische Gebilde‘ sind uns leicht zugänglich, der Umgang mit diesen Texten im Kommunikationsprozess jedoch nicht.“72 Diese Überlegungen gewinnen noch an Gewicht, wenn wir Translationsvorgänge miteinbeziehen, für die der kontrastive Aspekt eine erstrangige Rolle spielt. In den Überlegungen zur Interaktion Übersetzer-Verfasser ist eine solche Dynamik in der Textproduktion in den Vordergrund gestellt worden. Ein zentraler Punkt war der Steuerungsfaktor Mehrsprachigkeit, dem auf dem Weg zur praktischen Umsetzung bei der Gestaltung von Rechtstexten die Orientierung durch Leitfäden und Empfehlungen ein wichtiges Ausdruckmedium gegeben ist. In unterschiedlicher Weise werden in dieser Textsorte unter Titeln wie „Allgemeine Grundsätze“, „Gesetzessprache“ handlungsspezifische Anleitungen zur sprachlichen Kohärenz gegeben. Dabei bedient man sich nicht selten der in der (Fremd-) Sprach(en)didaktik angewandten Methode der Gegenüberstellung von Negativund Positivbeispielen73 mit Kommentierungen. Zur Veranschaulichung der Leitlinien des Rates werden in dem Gemeinsamen Leitfaden positive und negative Beispiele vorgeführt, die mit den Etikettierungen „Beispiel: Zu vermeiden“/„Exemple de rédaction à éviter“/„Zu empfehlen“/„Texte à préférer“ versehen sind. Die Kommentierungen zu Leitlinie 5, die den „mehrsprachigen Charakter der gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften“ hervorheben, präsentieren in einem intertextuellen Vorgang Zitate aus der redaktio72 Adamzik, K., Grundfragen einer kontrastiven Textologie, in: Adamzik, K. (Hrsg.), Kontrastive Textologie: Untersuchungen zur deutschen und französischen Sprach- und Literaturwissenschaft, Tübingen 2001, S. 13 ff., 34, 36. Ausgehend von den Arbeiten von Hartmann 1980 stand die Contrastive textology unter dem Aspekt von sprachvergleichenden Untersuchungen auf Textebene und initiierte vor allem Studien zu Textsorten aus der Fach- und Wissenschaftskommunikation. 73 Schon in der spätlateinischen Appendix Probi bediente man sich dieses Vorgehens und bekräftigte eine zu propagierende Sprachnorm durch Anweisungen wie „occasio non occansio“, „auris non oricla“, „uetulus non ueclus“. Siehe Slotty, F., Vulgärlateinisches Übungsbuch, 2. Aufl., Berlin 1960.
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nellen Alltagsarbeit der Organe der EU. Dabei wird deutlich, dass auf dem Feld einer anwendungsbezogenen kontrastiven Textologie für die Textsorte „Leitfäden“ im Gemeinschaftsrecht noch viel zu leisten ist. Hierzu seien einigen Anmerkungen vorgebracht: In Leitfaden 5.2.2 wird in der französischen Fassung als Negativbeispiel („Exemple de rédaction à éviter“) vermerkt: „Toutes les parties à l’accord doivent avoir accès aux résultats des travaux, étant entendu que les instituts de recherches ont la faculté de réserver l’utilisation des résultats à des projets de recherche ultérieurs.“
Auf den ersten Blick ist nicht ersichtlich, warum dieser Satz ein Negativbeispiel darstellen soll; das Französische ist normgerecht formuliert. Ersichtlich wird eine Beanstandung im Hinblick auf die Leitlinie Nr. 5 erst bei der Lektüre der wörtlichen deutschen Übersetzung: „Alle Vertragsparteien müssen Zugang zu den Forschungsergebnissen haben, wobei die Forschungsinstitute die Möglichkeit haben, die Verwendung der Ergebnisse späteren Forschungsprojekten vorzubehalten.“
Die Verwendung der Partizipialbildung étant entendu führt zu einer schwerfälligen syntaktischen Konstruktion im Deutschen mit wobei, die durch die Umformulierung in zwei Hauptsätze vermieden wird. Hinzu kommt ein lexikalisches Problem bei der Verwendung des polysemen Ausdruks faculté, der eindeutiger mit dem Modalverb können/pouvoir wiedergegeben wird. Da sich diese Schwierigkeit einer Übersetzung von faculté nicht nur im Deutschen, sondern in verschiedenen Sprachen stellt, wird im Leitfaden folgende Fassung empfohlen: „Toutes les parties à l’accord ont accès aux résultats des travaux. Toutefois, les instituts de recherche peuvent réserver l’utilisation des résultats à des projets de recherche ultérieurs.“
Mit der entsprechenden deutschen Version: „Alle Vertragsparteien haben Zugang zu den Forschungsergebnissen. Die Forschungsinstitute können jedoch die Verwendung der Ergebnisse späteren Forschungsprojekten vorbehalten.“
Leitfaden 5.2.3: In dem Bemühen um die clarté moniert der Leitfaden hier eine nicht eindeutige Wortstellung: „Exemple de rédaction à éviter: ,[. . .] pour comprendre et pouvoir appliquer correctement ces normes:‘“
Rein grammatikalisch ist die Satzsemantik zweideutig, 1. „[. . .] um diese Vorschriften zu verstehen und richtig anzuwenden“, 2. „[. . .] um diese Vorschriften richtig zu verstehen und anzuwenden“. Pragmatisch gesehen wird die sprachliche Kommunikation hierdurch nicht in Frage gestellt. Zu Recht bleibt allerdings der Fingerzeig auf die Wortstellung in den Einzelsprachen, die immer
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wieder Quelle von Missverständnissen und Fehlern sein kann. Ein Beispiel hierzu liefert Art. 158 Abs. 2 EUV, der dem Titel XVII „Wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt“ zugeordnet ist. In der ursprünglich englischsprachig redigierten Fassung des Vertrags von Amsterdam lautet er: Engl. „In particular, the Community shall aim at reducing disparities between the levels of development of the various regions and the backwardness of the least favoured regions or islands, including rural areas.“ Dt. „Die Gemeinschaft setzt sich insbesondere zum Ziel, die Unterschiede im Entwicklungsland der verschiedenen Regionen und den Rückstand der am stärksten benachteiligten Gebiete oder Inseln, einschließlich der ländlichen Gebiete, zu verringern.“ Frz. „En particulier, la Communauté vise à réduire l’écart entre les niveaux de développement des diverses régions et le retard des régions ou îles les moins favorisées, y compris les zones rurales.“ It. „In particolare, la Comunità mira a ridurre il divario tra i livelli di sviluppo delle regioni meno favorite o insulari, comprese le zone rurali.“ [Hervorhebung von den Autoren]
Nach der italienischen Fassung bezieht sich die Charakterisierung der Benachteiligung im Gegensatz zu den anderen Fassungen eindeutig nicht auf die Inseln. Als instruktiveres Beispiel des Leitfadens könnte man ein anderes Beispiel aus der gemeinschaftlichen Textarbeit als Reformulierungsvorschlag nehmen: „Beispiel: Zu vermeiden: Engl: „[. . .] to insure that appropriate information is provided and volunteers are made aware of their rights and obligations at European, national and local level [. . .]“. Diese so formulierte Aussage kann zweierlei bedeuten: 1.: „Information auf europäischer Ebene“ oder „Rechte und Pflichten auf europäischer Ebene“. Deshalb ist „zu empfehlen: ,[. . .] to insure, at European, national and local level, [. . .]‘.“
In den Ausführungen zu Leitlinie 5.3.2 „Bei juristischen Fachausdrücken sollte auf Begriffe verzichtet werden, die zu eng an die nationalen Rechtsordnungen gebunden sind“ wird die Opposition „negativ“/„positiv“ generell in dem Absatz „Beispiel“ eingebracht: „Für den im französischen Recht geläufigen Begriff ,faute‘ gibt es in anderen Rechtsordnungen (insbesondere im englischen und deutschen Recht) keine genaue Entsprechung. Daher sollten je nach Kontext Begriffe wie ,illégalité‘, ,manquement‘ usw. verwendet werden, die leicht in die anderen Sprachen übersetzt werden können: Rechtswidrigkeit, Verstoß (gegen eine Verpflichtung) usw. (,illegality‘, ,breach‘, . . .).“
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Die Funktion von Negativ- und Positivbeispielen im Rahmen der oben angesprochenen kontrastiven Textologie ist vor allem im Hinblick auf eine Pluralität von Sprachen weiter zu thematisieren. Der Aspekt von Textsortennetzen und Diskurs(system)en ist eine wichtige Erweiterung von Übersetzungskritik und einer daraus erfolgenden Textarbeit. VI. Ausblick Die Prämisse von offizieller Mehrsprachigkeit bei Rechtsnormen stellt zwar zunächst einen realen und potentiellen Aufwand dar und kann das Risiko der Gefährdung eines adäquaten Textverständnisses nicht von vorneherein verhindern. Sie bietet aber zugleich die Möglichkeit einer größeren Stringenz inhaltlicher und sprachlicher Festlegungen, die keinen der Adressaten ausschließen darf. Auf die „Mehrsprachigkeit als große Chance für die Rationalität des Rechts“ weisen F. Müller und R. Christensen grundlegend vor allem im Rahmen einer Auslegungsmethodik des Europarechts hin.74 Bei einer möglichen Bedeutungs- und Gestaltungsdivergenz in den verschiedenen Sprachen erlaubt die in Art. 314 EGV festgesetzte Gleichwertigkeit aller Amtssprachen der EU die Herausbildung einer gemeinschaftlichen Bedeutung und Form. Die ebenso einzubeziehenden rechtspluralistischen und dynamischen Eigenschaften des Gemeinschaftsrechts bedingen demnach eine autonome Rechtssprache, die sich von der jeweiligen nationalen Rechtssprache deutlich abhebt. Die Forderungen nach „verstärkter zentraler Terminologieplanung auf EU-Ebene“ und intensiverer Berücksichtigung kontrastiver Textologie in Bezug auf Mikro- und Makrostrukturen von einheitlichen EU-Rechtstexten, die P. Sandrini in diesem Band im Anschluss an die Überlegungen von A.-L. Kjær75 formuliert, bleiben bestehen. Allerdings sollte man eine nationale Bedeutung der Gesetzestexte nicht außer Acht lassen. Aus dem Blickwinkel von Auslegung und Festlegung gemeinschaftsbezogener Bedeutung, melden F. Müller und R. Christensen Bedenken gegenüber dem „Begriff der Autonomie in seiner gemeinschaftsrechtlichen Bedeutung“ an. Denn: „Die Bedeutung des Gemeinschaftsbegriffs entsteht nämlich nicht aus dem Nichts; ihm gehen vielmehr die sprachliche Analysen sämt-
74 Siehe Müller, F./Christensen, R., Juristische Methodik, Band 2, Europarecht, Berlin 2003, S. 223 ff. Zur Rolle der Mehrsprachigkeit in der praktischen Jurisprudenz im nationalen Kontext vgl. auch Burr, I., Auslegung mehrsprachiger juristischer Texte: Die Rolle des Italienischen in Urteilen des Schweizerischen Bundesgerichts, in: Veronesi, D. (Hrsg.), Linguistica giuridica italiana e tedesca/Rechtslinguistik des Deutschen und Italienischen, 2000, S. 179 ff. 75 Kjær, A.-L., Überlegungen zum Verhältnis von Sprache und Recht bei der Übersetzungen von Rechtstexten der Europäischen Union, in: Sandrini, P. (Hrsg.), Übersetzen von Rechtstexten. Fachkommunikation im Spannungsfeld zwischen Rechtsordnung und Sprache, Tübingen 1999, S. 77.
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licher Wortlaute voraus. Sie geben die rechtsstaatlichen Plausibilitätsräume vor.“76 Die hier zur Textproduktion im Gemeinschaftsrecht aufgeführten Ausführungen, die von der Prämisse einer konsequenten Beachtung der im Art. 314 EG verankerten offiziellen Mehrsprachigkeit im Gemeinschaftsrecht ausgingen, wiesen auf Vorteile und Probleme. Wie auch in dem Beitrag von P. Berteloot ausgeführt wurde, sind im Rahmen einer Weiterentwicklung von gemeinschaftsrechtlichen Gesetzestechniken Verbesserungen für die Gesetzesarbeit im Gemeinschaftsrecht ins Visier genommen und institutionell zugewiesen worden. Die 1998 erlassene Interinstitutionelle Vereinbarung gemeinsamer Richtlinien für die redaktionelle Qualität der gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften war eine wichtige Reaktion auf den immer größer werdenden Unmut gegenüber den EU-Erlassen und der als wenig kommunikationsfreundlich geltenden Gesetzessprache. Mittlerweile ist die in den Leitlinien geforderte konkrete Abfassung eines Leitfadens, die Ansätze zur Verbesserung der redaktionellen Qualität von gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften bringen soll, eingebracht und dem mehrsprachigen Charakter der gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften zugeordnet worden. Allerdings macht die Publikation dieses Leitfadens auch deutlich, dass hinsichtlich der ins Visier genommenen Einzelsprachen noch sehr viel zu leisten ist. So wird deutlich, dass die Redaktion dieses Leitfadens sehr stark französisch konzipiert ist. Manche Beispiele und Empfehlungen wie in Nr. 2.5.2.77 sind nur auf das Französische und Englische bezogen und hätten einen Hinweis auf die jeweilige Einzelsprache verdient. Insgesamt allerdings ist mit dem Leitfaden eine erste wichtige Vorstrukturierung für zukünftige Textproduktion gegeben, die bei der wichtigen Prämisse einer Pluralität von Sprachen, Kulturen, nationalen Rechtssystemen im Vergleich zum Gemeinschaftsrecht neben dem kontrastiven Moment, die einzelsprachliche Analyse genauso einbeziehen sollte. Neue Überlegungen zur Vorgehensweise bei der hier behandelten Textarbeit sind erforderlich, da die EU-Erweiterung von 2004 eine Pluralität von mindestens zwanzig Sprachen auferlegt. Zu denken wäre eine sprachengruppenspezifische Erarbeitung der Texte, die im Sinne einer „modifizierten Koredaktion“ auch die Ausgangstexte mitgestalten können. Dabei erscheint es wichtig, dass die Zusammensetzung der Sprachengruppen nicht primär über eine genealogische Klassifikation bestimmt, sondern vielmehr durch genetische Divergenz charakterisiert ist. So könnte z. B. einzelsprachliche Dominanz im Bereich von Syntax und Diskurstradition vermieden werden. Zu denken wäre an gemischte Sprachengruppen, die aus Vertretern jeweils von romanischen, germanischen, 76 Müller, F./Christensen, R., Juristische Methodik, Band 2, Europarecht, Berlin 2003, S. 224. 77 Leitfaden Nr. 2.3.2.: Dt. „Im verfügenden Teil verbindlicher Rechtsakte werden Verben im Französischen im Indikativ Präsens verwendet, im Englischen wird „shall“ mit Infinitiv gebraucht. In beiden Sprachen sollte das Futur nicht verwendet werden“.
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skandinavischen und slawischen Sprachen bestehen. Eine lohnenswerte Aufgabe, die dem kontrastiven Aspekt bei der Textarbeit einen größeren pragmatischen Spielraum gibt. Die Besonderheit der Textarbeit im Europarecht wird deutlich, wenn wir uns abschließend noch einmal bewusst werden, dass dieses Gemeinschaftsrecht trotz seiner immer wieder zugeschriebenen autonomen Bedeutung nie endgültig auf einem stabilen Fundament zu stehen kommt. Vielmehr besteht die Besonderheit darin, dass ein permanenter sich immer wieder modifizierender Kommunikationsvorgang – auch hier könnte die Sicht von „Recht als Hypertext“78 eingebracht werden – eine Disposition zur Bewegung voraussetzt. Die in Abb. 1 vorgeführten Grundfaktoren für eine Textarbeit im Gemeinschaftsrecht sind nicht statisch, sondern in immer wieder sich verändernden, d. h. dynamischen Zuordnungen zu sehen.
78 Siehe Müller, F./Christensen, R., Juristische Methodik, Band 2, Europarecht, Berlin 2003, S. 197 f.
Zu Rechtssprache und Rechtsstil im europäischen Recht Pierre Pescatore* Die Rechtssprache ist eine normative Sprache. Sogar wenn sie beschreibend verfährt, etwa wenn sie Begriffsdefinitionen gibt, Infinitiv, Vergangenheit oder Präsenz verwendet, zielt sie darauf ab, menschliche Verhältnisse zu ordnen. Christian Morgenstern hat das treffend in seinem Gedicht Die unmögliche Tatsache zum Anlass des traurigen Endes seines bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommenen Helden Palmström so beschrieben: Und er kommt zu dem Ergebnis: „Nur ein Traum war das Erlebnis. Weil“, so schliesst er messerscharf, „nicht sein kann, was nicht sein darf“.
Dieses Motto prägt das gesamte juristische Denken, weil der Jurist seine Bezugswelt unwillkürlich so versteht, dass, in legitimer Verbesserung von Christian Morgenstern, „nicht sein soll was nicht sein darf“. Diesem Sollen aber wohnt eine mächtige Kraft inne, die Kraft nämlich, das rechtlich Relevante vom nicht Relevanten zu scheiden. Schon im ersten Fragment des Corpus Iuris Romani tritt uns, unter der Feder Ulpians, das Trennen und das Unterscheiden entgegen: aequum ab iniquo separantes, licitum ab illicito discernentes (D.1.1.1). Von dem als relevant Erkannten gilt es dann die entsprechenden Rechtsfolgen abzuleiten – die zwar Palmström nicht helfen, wohl aber den fehlbaren Wagenlenker treffen könnten, nicht zu sprechen vom Interesse der Erben von Morgensterns unglücklichem Helden. Die Diskussion um solche Fragen ist immer schon vorprogrammiert, und der Jurist tritt deshalb den Tatsachen nicht mehr unbefangen entgegen, ja mehr noch, er kann (diesmal wörtlich nach Morgenstern) den Tatsachen überhaupt nicht mehr unbefangen entgegentreten. Das unterscheidet ihn vom Schriftsteller wie auch vom Philosophen und vom Soziologen. Der Rechtslehrer Josef Esser bezeichnet diese Haltung treffend als normatives „Vorverständnis“. Dieses Vorverständnis erlaubt es nämlich, die Realität dem Gesetz entsprechend zu strukturieren, um daraus, wie könnte es anders sein, die passenden Konsequenzen zu * Die nachfolgenden Ausführungen bewahren den Charakter des Vortrags, der am 8. Februar 2003 in Bonn gehalten wurde. Er fand statt im Rahmen eines interdisziplinären Hauptseminars der Universitäten Bonn und Köln zu Fragen der europäischen Rechtslinguistik.
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ziehen. Gerade dieses Vorverständnis macht die Rechtssprache für den juristischen Laien so befremdlich. Es handelt sich um eine etwas dämmrige Sprachwelt, die dennoch der ihr eigenen, unerbittlichen Logik nicht entbehrt, wie das Kafka in seinem Roman „Der Prozess“ bis zum Tod der Figur des Josef K. beschrieben hat. In dieses Halbdunkel möchte ich etwas Licht bringen, indem ich zuerst die der Rechtssprache eigene „normative“ Logik näher untersuche, um dann den erstaunlich verschiedenartigen Ausprägungen der Sprachregelungen in der Gesetzgebung und im Gerichtsgebrauch nachzugehen. Es wird sich zeigen, dass die Ursachen dieser auffallenden Verschiedenartigkeit nicht auf dem Gebiet der Sprache selbst zu finden sind, sondern auf dem der gesellschaftlichen Strukturen (der gesetzgeberischen, der gerichtlichen), innerhalb derer sich dieser Sprachgebrauch bewegt.
I. Das Wesen der normativen Sprache a) Dem Juristen geht es nicht um Sein, Dasein oder Sosein. Seine Sprache ist durch die Allgegenwart von Begriffen gekennzeichnet, die vom Dürfen, Können, Sollen bis zum Müssen und den entsprechenden Negationen reichen. Auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts treten dazu die so ungemein wichtigen Kompetenzzuweisungen, sachliche und funktionelle Ermächtigungen, wobei die französische Sprache erlaubt, sachliche Zuweisungen als compétence und funktionelle Zuweisungen als pouvoir, d.h. als Machtbefugnisse, zu bezeichnen. So haben z. B. Rechnungshöfe die Kompetenz, öffentliche Finanzen zu prüfen, aber nicht die Vollmacht, daraus irgendwelche rechtlichen Konsequenzen zu ziehen. Im Gegensatz zum deutschen Recht, wo man sich gerne über Kompetenz bis zu der an juristische Allmacht grenzenden Kompetenz-Kompetenz ergeht, fehlt der abstrakte Kompetenzbegriff im englischen Recht und zwar aus dem einfachen Grund, weil es in der angelsächsischen Rechtskultur überhaupt kein Verwaltungsrecht gibt, so dass die staatsrechtlichen Probleme dort mit dem Instrumentarium des Privatrechts oder gegebenenfalls des Strafrechts abgehandelt werden. Competence bedeutet dort so etwas wie Lebensunterhalt oder Fachwissen, nützliche Begriffe, die indes von Haus aus keinerlei juristische Bedeutung haben. Gewiss gibt es in der Rechtssprache neben den Normbegriffen auch zahlreiche beschreibende Begriffe, die dem eigentlichen Normbegriff zur Bestimmung und Abgrenzung seines Anwendungsbereichs zur Seite stehen. Meist sind diese Hilfsbegriffe nur semantisch, d.h. rein sprachlich bestimmt, was den Sprachwörterbüchern eine nicht zu unterschätzende Rolle im Rechtsbereich verleiht – also, Duden, Robert, Oxford Dictionary als quasi-Gesetzesbücher. Ab und zu sieht sich der Gesetzgeber dazu genötigt, gewisse Begriffe im Gesetz selbst zu definieren, der Warnung des Javolenus zum Trotz: Omnis definitio in iure civili
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periculosa est; parum est enim, ut non subverti possit (D.50.17.207). Solche Legaldefinitionen stellen nichts anderes als typisierte Tatbestandsmerkmale dar. Ihnen haftet von Natur aus meist etwas irgendwie Lächerliches an, so sehr, dass eine Sammlung solcher Definitionen eine würdige Ergänzung zu Rudolf von Iherings unsterblichem Büchlein über „Scherz und Ernst in der Jurisprudenz“ (1884) werden könnte, sollte ein mit Witz begabter Jurist oder Linguist sich dieses Themas bemächtigen. Dazu einige Gechmacksproben. Im Allgemeinen Eisenbahngesetz vom 27. Dezember 1993 findet man die folgende Definition der Eisenbahn: „(1) Eisenbahnen sind öffentliche Einrichtungen oder privatrechtliche Unternehmen, die Eisenbahnverkehrsleistungen erbringen (Eisenbahnverkehrsunternehmen) oder eine Eisenbahninfrastruktur betreiben (Eisenbahninfrastrukturunternehmen). (2) Eisenbahnverkehrsleistungen sind die Beförderung von Personen oder Gütern auf einer Eisenbahninfrastruktur.“ Diese Definition ist insofern typisch als sie einen Zirkelschluss (petitio principii) enthält, indem der Begriff der „Eisenbahn“ in allen Gliedern dieser Definitionen schon vorausgesetzt ist. Somit ist also offen, ob z. B. die Schwebebahn in Wuppertal, eine Drahtseilbahn oder eine Magnetschwebebahn auch diesem Gesetz unterworfen ist, denn die beiden ersten haben keine Infra- sondern eine Superstruktur, währenddem die letzte nicht auf einer Bahn aus Eisen fährt. Das Wasserhaushaltsgesetz in seiner Fassung vom 19. August 2002 unterscheidet zwischen oberirdischen Gewässern, Küstengewässern und Grundwasser. Oberirdische Gewässer sind unter (1) 1 folgendermaßen definiert: „das ständig oder zeitweilig in Betten fließende oder stehende oder aus Quellen wild abfließende Wasser“. Ein zeitweilig trocken liegendes Flussbett wäre damit ein wenigstens potentielles Gewässer, nicht so dasselbe Rinnsal, wenn es über seine Ufer tritt und eine Überschwemmung verursacht; ebenso wenig wäre es der junge Rhein, dessen Wasser sanft aus schmelzenden Gletschern austritt, aber er liegt Gott sei Dank nicht im Geltungsbereich des zitierten Gesetzes. Das Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen, vom 20. Juli 2000, enthält in seinem § 2 eine Reihe von Begriffsbestimmungen, die dem gesunden Leser ein leichtes Schaudern über den Rücken laufen lassen, darunter die begriffliche Steigerung, in umgekehrter Folge, des „Kranken“, des „Krankheitsverdächtigen“, des „Ausscheiders“ und des „Ansteckungsverdächtigen“, wobei die bedrohlichste Kategorie zweifellos der Ausscheider ist: „eine Person, die Krankheitserreger ausscheidet und dadurch eine Ansteckungsquelle für die Allgemeinheit sein kann, ohne krank oder krankheitsverdächtig zu sein“. Hier verbietet es der Anstand, die Logik weiter auszuspinnen. b) In der juristischen Diskussion werden im Allgemeinen nur die Begriffe – grammatisch gesprochen also „Substantive“ – thematisiert und diskutiert. Das ist, sprachlich gesehen, eine viel zu enge Auffassung. Ebenso wichtig sind näm-
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lich die Zeitwörter, die „Verben“, in denen die normative Seele der Rechtssätze enthalten ist – die vis ac potestas des Rechts nach dem tiefgründigen Spruch des Celsus: Scire leges non hoc est, verba earum tenere, sed vim ac potestatem (D.1.3.17). Nicht weniger wichtig sind die Bindewörter, d.h. die grammatikalischen oder logischen Funktionsbestimmungen, die das Verhältnis von Tatbestand und Rechtsfolge auf vielfältige Weise verknüpfen, d.h. Konjunktionen und Präpositionen, z. B. als Alternative, Kumulierung, Ausschluss, so wie es die Booleschen Funktoren in der Informatik tun. Die Einbeziehung dieser Faktoren in die Bestimmung der Begriffe führt uns nämlich von den Wörtern zum Satz und vom Satz zum engeren und weiteren Kontext. Mir fällt auf, wie sehr die englischsprachigen Juristen in dieser Hinsicht atomistisch denken indem sie, bei ihrer eng textgebundenen Auslegungsmethode (auf die ich noch zurückkommen werde), auf die Wörter, bestenfalls auf den Satz sehen, im Gegensatz zu Juristen die, wie wir – d.h. die Abkömmlinge des römischen Rechts –, gewohnt sind, in Zusammenhängen von systematisch geordneten Gesetzbüchern und hierarchisch angelegten Rechtsstufen zu denken. Man sieht also, wie eng die juristische Auslegung nicht nur mit der lexikalischen und grammatikalischen Analyse der Sprache verknüpft ist, sondern auch mit den darüber hinausgehenden stilistischen und logischen Weiten der rechtlichen Zusammenhänge. Diese Orientierung liegt ganz im Sinn der zweiten Stufe der Auslegungsmaxime des Artikels 31 der Wiener Vertragskonvention: terms – context – object and purpose. Dazu erscheinen zwei erklärende Bemerkungen angebracht. Erstens, dass der hier gemeinte „Kontext“ ein vieldeutiger Begriff ist, insofern als er sowohl den inneren Kontext desselben Gesetzes wie auch seinen äußeren Zusammenhang meinen kann, der sich seinerseits aus immerhin drei Arten von Zusammenhängen ergeben kann, nämlich dem sachlichen, dem systematischen und dem historischen. Das geht weit über die in den Absätzen 2 und 3 des zitierten Artikels beispielhaft erwähnten Zusammenhänge hinaus. Zweitens ist auf den darauf folgenden Doppelbegriff object and purpose hinzuweisen. Dort, wo wir bis dahin gewohnt waren, unter dem Merkwort der „teleologischen Auslegung“ nur von dem zweiten Kriterium, dem Gesetzeszweck, auszugehen, entdecken wir nun, durch die Wiener Vertragskonvention, dass gerade die Inbetrachtnahme des „Gegenstands“ einer Rechtsregel ein ungemein ergiebiges Merkmal ist, indem es uns daran erinnert, vorrangig die Frage zu stellen: worum geht es eigentlich hier? Über diese, universell akzeptierte Eselsbrücke könnte die am kodifizierten Recht orientierte Methode der Wiener Vertragskonvention auch den in der reinen Textanalyse befangenen angelsächsischen Juristen nahegebracht werden. Dabei sollte unsere Hauptsorge darin bestehen, den vollen Inhalt des in der angelsächsischen Praxis unterbewerteten context Kriteriums bewusst zu machen. Ihrerseits könnten die teleologiebewussten Juristen des Kontinents den in ihrer Praxis vernachlässigten Begriff des object ihren Er-
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wägungen über Sinn und Zweck des Gesetzes hinzufügen. So gesehen hätten wir damit eine universell verwendbare Auslegungsregel erreicht, innerhalb derer alle massgeblichen Faktoren, vom Text des Gesetzes über seine vielfältigen Zusammenhänge bis zu seiner objektiv bestimmten Intention, in Balance gesetzt werden könnten. c) Die Verknüpfung von substantivierten Begriffen und beweglichen Zeitwörtern innerhalb des sprachlichen „Bindegewebes“ kommt beim Vorgang des Übersetzens juristischer Dokumente zum Vorschein, wo sich zeigt, dass die sprachlichen Ressourcen von Sprache zu Sprache ganz verschieden gelagert und geschichtet sind. Ich möchte in diesem Zusammenhang besonders darauf hinweisen, dass die deutsche wie die französische Sprache sich in viel weiterem Umfang abstrakter Begriffe bedienen als etwa die englische, die sich bevorzugt in Zeitwörtern ausdrückt. Lange habe ich geglaubt, die französische Devise: liberté, égalité, fraternité sei nicht ins Englische übersetzbar, bis mich Charles Dickens, in A Tale of Two Cities, eines besseren belehrte: „Liberty, Equality, Fraternity, or Death“ (3. Buch, Kap. 7). Ich erlaube mir nur zu bemerken, dass diese englische Devise in Dickens Roman in Paris gesprochen wurde, nicht in London. Auch muss hervorgehoben werden, dass das Vorhandensein eines Ausdrucks im Wortschatz einer Sprache noch nicht bedeutet, dass dieser Ausdruck auch ein juristisch, mit der entsprechenden vis ac potestas geladener Begriff ist – oder dass es sich um einen bloß beschreibenden Begriff handelt, gut für den Historiker oder den Soziologen, aber nicht für den Juristen. Erst der Sprachvergleich lässt uns hier aufhorchen. So habe ich mit Erstaunen, im Lauf meiner begriffsgeschichtlichen Nachforschungen festgestellt, dass die Kategorie der „Person“ im römischen Recht, wo die Menschheit sich zwischen Freien und Unfreien aufteilte, wohl ein klassifikatorischer, nicht aber ein eigentlich rechtlicher Begriff war; dieses Ziel wurde erst mit der Erklärung der Menschenrechte, am Ende des 18. Jahrhunderts, erreicht. Ähnlich ergeht es dem Wort „Gesetz“: la loi ist auf Französisch alles, während es auf Englisch überhaupt kein treffendes Äquivalent dafür gibt: statute ist zu wenig, law ist zu viel. Ähnlich der Begriff der „Verantwortung“: als responsabilité in den Ländern des französischen Rechts ein reich befrachteter rechtlicher Begriff, der im deutschen Sprachraum eine Relevanz erst unter dem obligationenrechtlichen Begriff der „Haftung“, im englischen Sprachraum unter dem spezifisch deliktrechtlichen Begriff der torts erlangt. Der für mich dramatischste Fall der Unzulänglichkeiten und Missverständnisse ist der französische Begriff déni de justice, wofür der französische Jurist auf die Barrikaden steigt, dessen Äquivalente „Rechtsverweigerung“ und denial of justice zwar korrekte Übersetzungen sind; juristisch gesehen, d.h. auf der Ebene der Rechtsfolgen, indes nichts Konkretes darstellen, besonders in der Begriffswelt der eng-
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lischen Juristen, die sich unbeschwert mit ihrem non liquet aus der Schlinge ziehen. Nach dem Oxford Dictionary heißt non liquet: a condition of uncertainty whether a thing is so or not. Hier ein beredtes Beispiel aus dem Bericht des Coconut Panel der WTO, in einem Rechtsstreit zwischen den Philippinen und Brasilien über den Import von Kokosnüssen. Wegen eines sog. intertemporalen Normenkonflikts hatte dieses Panel Schwierigkeiten, die auf Kokosnüsse anwendbare Regel in der neuen Fassung des GATT Rechts auszumachen. Die Klage der Philippinen wurde deswegen kurzerhand mit folgender Begründung abgewiesen: „The substantive questions raised by the Parties to this dispute are a matter of major concern and would merit serious consideration. However, because the issue of applicable law was dispositive in this dispute, the Panel did not reach any conclusion with respect to those substantive questions.“
An diesem Beispiel kann man den abgrundtiefen Abstand zwischen déni de justice und non liquet ermessen. Ich habe dazu eine Randglosse unter dem Titel Non liquet under coconut trees, im 28. Band der Veröffentlichungen der Europäischen Rechtsakademie Trier, Free World Trade and the European Union, 2000, S. 21 f. publiziert. Man könnte so die Wörter eines beliebigen Lexikons durchgehen und die Frage stellen: Was hat das juristisch zu bedeuten? um zu entdecken, dass die rechtliche Begrifflichkeit nur einen sehr beschränkten Auszug aus unserer Sprache darstellt und dass daher unsere Wörterbücher nur eine völlig ungenügende Erklärung für die rechtlichen Begriffe liefern können. Für das juristische Handwerk bedarf es spezieller Glossaren und Handbücher, nicht Wörterbücher. Die mit magischer Kraft geladenen certa verba des alten römischen Rechts, die man seit 2000 Jahren für überwunden hielt, gibt es also auch heute noch, bloß in moderner Verkleidung. Nur wer sich der vis ac potestas des Celsus bewusst ist kann sie im ungezügelten Schwall der Umgangssprache ausmachen. Das Spezifische der Rechtsregel besteht in der intendierten, normativen Wirkung, nicht im beschreibenden Element des Tatbestands. Beim zwischensprachlichen Übertragungsvorgang spielt somit die Inbetrachtnahme des normativen Gehalts eine doppelte Rolle: einerseits bei der Erfassung der Regel in der Ausgangssprache, andererseits, bei der Suche nach der passenden Entsprechung in der Zielsprache. Das ist in vielen Fällen evident und rein maschinell (z. B. beim Kauf oder bei der Miete), in anderen Fällen kann aber die Suche nach der richtigen Entsprechung juristische Rätsel aufgeben, wie etwa bei Fragen des ehelichen Güterstandes, des Erbrechts, im Gesellschaftsrecht oder bei rechtlichen Gegenständen wie etwa trust, leasing oder franchising. Es ergibt sich daraus, dass eine einwandfreie Übersetzungsarbeit nur von juristischen Fachleuten geleistet werden kann, die sowohl auf dem Gebiet der Rechtsvergleichung als auch auf dem Gebiet der Sprachen zuhause sind.
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II. Die Gesetzessprache Die Gesetzessprache ist eine rein normative Sprache, die sich weitgehend in vorgefertigten Formen bewegt. Sie ist in sich selber streng normiert und benutzt daher ein äußerst begrenztes Vokabular. Indessen ist die Gesetzessprache in den beiden großen Rechtskulturen – der lateinischen und der angelsächsischen – sehr verschieden, und das hat seine Gründe. Bevor ich darauf eingehe, möchte ich gebührend unterstreichen, dass unter diesem Gesichtswinkel das deutsche Recht dem „lateinischen“ Rechtskreis zuzurechnen ist. Das hat mit der Sprache nichts zu tun, wohl aber mit der Rechtsgeschichte, präziser gesagt, mit der Rezeption des römischen Rechts auf dem europäischen Kontinent zur Zeit der Renaissance – was eben in England nicht der Fall war, wie wir noch sehen werden. a) Die kontinental-europäischen Gesetzgeber hatten und haben immer noch, als Erbschaft des römischen Rechts, ein kodifiziertes Recht als Idealtypus vor Augen. Zwar ist das Corpus Iuris an sich keine echte Kodifikation, sondern eine systematische Sammlung von Rechtsmaterialien, die sich über mehrere Jahrhunderte verteilen und von denen jedes einzelne Fragment trotz Streichungen und Interpolationen seine Identität behalten hat. Aber zwei Merkmale dieser, im Jahre 533 in Konstantinopel vom Kaiser Justinian als Gesetzbuch in Kraft gesetzten Sammlung stechen in die Augen, nämlich die Systematik des Ganzen und der Versuch, die gesamte juristische Materie in diesem einheitlichen System einzufangen. Das Ideal einer umfassenden, rationalen, d.h. vom Allgemeinen zum Besonderen gegliederten, und damit lückenlosen Gesetzgebung war als Vorbild gegeben. Ein solches Vorbild bedingt zweierlei, nämlich, was die Sprache anbelangt, den Gebrauch einer bis ins Letzte kohärenten Begrifflichkeit und, was die Auslegung betrifft, eine eigene Methode, die ich als „Verständnis des Besonderen im Allgemeinen“ charakterisieren möchte. Das heißt, wie wir es uns inzwischen im Umgang mit informatischen Programmen angewöhnt haben, die Tendenz einer Rückkehr zum Basisprogramm, soweit nicht eine Abweichung spezifisch gewollt ist. Gestärkt wurde diese Auffassung durch die Entwicklung des Staatsrechts, das eine zusätzliche, dem System nahestehende Auffassung in Spiel brachte, nämlich den Gedanken des Stufenbaus der Rechtsordnung (eine Vorstellung, die wir Hans Kelsen verdanken), von der Verfassung zum Gesetz und vom Gesetz zur Rechtsverordnung. Diese Anschauung fand über den Begriff der hiérarchie des normes Eingang in das französische Rechtsdenken. Das alles bleibt dem angelsächsischen Rechtsdenken völlig fremd. b) Das angelsächsische, aus der englischen Gerichtspraxis hervorgegangene Recht ist nämlich in seinem Wesen Fallrecht, nicht Gesetzesrecht. Das lehrt uns die englische Rechtsgeschichte (siehe dazu das monumentale Werk von Sir William Holdsworth, A History of English Law, 17 Vol., 1932–1972).
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Die ersten überlieferten englischen Gerichtsentscheidungen gehen auf das 13. Jahrhundert zurück, die anfangs noch zögerliche Ausbildung gesetzgeberischer Befugnisse des Parlaments auf das 15. Jahrhundert. Wenn auch in diesem Stadium das römische Recht über das kanonische Recht einen gewissen Einfluss auf das englische Recht ausgeübt hat, gab es dort keine Rezeption des römischen Rechts in seiner Gesamtheit; die letzten Chancen einer Vereinheitlichung der europäischen Rechtsentwicklung auf der Basis des Corpus Iuris Romani gingen endgültig unter der Herrschaft des Königs Henry VIII verloren. Auf die erste Phase dieser Entwicklung geht die Anschauung des historischen Vorrangs des Richterrechts, als common law, dem parlamentarischen Gesetzesrecht gegenüber zurück, ein Verhältnis das wir, diesmal mit der Sprache der Biologie ausgedrückt, als ein allgegenwärtiges aber „rezessives“ Verhältnis beschreiben könnten. Holdsworth zitiert dazu einen alten Rechtsspruch der besagt: „Tous les statutes que restreignent Comon ley sont stricti iuris“, d.h. „Alle Gesetze, die das Common law begrenzen sind eng auszulegen“. Der Autor bemerkt dazu, dieses Auslegungsprinzip sei auch heute noch gültig (op. cit., Vol. 2, S. 192 f. und 435 f., für das Zitat s. Fn. 1 auf S. 443). Holdsworth setzt sich ausführlich mit der Frage der Rezeption des römischen Rechts in Europa auseinander (op. cit, Vol. 4, S. 35 f. und S. 217–293). Seiner Meinung nach war das common law zur Zeit von Henry VIII und seines Bruchs mit Rom schon in sich selber so stark befestigt, dass eine Rezeption des römischen Rechts in England damals keine reale Chance mehr hatte. Im angelsächsischen Raum ist demnach Richterrecht, als common law, historisch gesehen das ursprüngliche Phänomen, dem erst in einem späteren Stadium das Gesetzesrecht, als parlamentarisches ad hoc Recht gegenübertrat. Dieser Umstand erklärt warum das Gesetzesrecht in England als gewissermaßen punktuelle Ausnahmeerscheinung gewertet und, entsprechend, eng ausgelegt wird. Diese Haltung der Gerichte ist dem Gesetzgeber bekannt und dieser Umstand erklärt wiederum, warum die englischen Gesetze im Stil pedantischer Ausführlichkeit gefasst sind, damit der parlamentarische Wille nicht durch richterliche Auslegung geschmälert werden könne. Als Fallrecht ist das englische Recht ein in seiner Grundlage unsystematisches Gebilde (man kann also hier von einer Rechtskultur, nicht aber, wie das öfter geschieht, von einem „Rechtssystem“ sprechen). Das englische Recht kennt daher auch keine „Hierarchie“ der Normen; denn eine solche kann es nur innerhalb eines strukturierten Systems geben. Alle Regeln stehen demnach auf der gleichen Stufe, so dass im Endeffekt, dort wo im kodifizierten Recht die Harmonie des Ganzen angestrebt wird, nach angelsächsischer Methode, das Pendel letztlich zugunsten der Einzelbestimmungen ausschlägt, im Sinne einer Verabsolutierung des bekannten, aber höchst gefährlichen Rechtssprichworts: Lex specialis derogat legi generali. Ich möchte, um es im Kontrast noch deutlicher zu machen, noch einmal, unter dem Gesichtswinkel der Rechtssprache, zum kodifizierten Recht zurückkeh-
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ren. In einem kodifizierten System herrscht die Gewohnheit vor, das juristische Material durch den Gebrauch von allgemeinen, logisch aufgebauten Kategorien zu ordnen und sich dazu eines minimalen Sprachaufwands zu bedienen. Das common law verfährt in umgekehrter Richtung. Am Anfang stehen hier richterliche Präjudizien und mit diesen muss sich auseinandersetzen wer immer, sei es als Gesetzgeber, sei es als Richter, in diesen jahrhundertealten Prozess eingreift. Das aber braucht einen viel größeren Aufwand an historischen Nachforschungen als die Arbeit an der zeitlosen Gesetzessprache des aus der Kodifikation hervorgehenden Rechts. Um sich von diesem Zustand zu überzeugen genügt es, die täglichen Arbeitsinstrumente etwa des deutschen, des französischen oder des englischen Juristen zu vergleichen: die deutschen Kommentare, die sich wie reich geschmückte Weihnachtsbäume ausnehmen, an deren klar gegliederten Ästen der Verbraucher seine Rechtsfälle selbst abpflücken kann; die kleinen roten Bücher von Dalloz, die es sogar dem Privatmann möglich machen sollen, sich über seine Rechte zu informieren; im Kontrast dazu die endlosen Folianten der Fallsammlungen, wie man sie in den englischen und amerikanischen Kanzleien sieht, deren Inhalt, in einer Art Geheimsprache verfasst, nur eingeweihten Juristen zugänglich ist; eine rudis et indigesta moles, die indes in bewundernswerten, mit Verweisungen und Zusammenfassungen reich beladenen Handbüchern ihren Niederschlag finden – frei käuflich aber, wie medizinische Handbücher, praktisch verwertbar nur für Fachleute. III. Die Gerichtssprache Der sprachliche Beobachter wird, als neutraler Dritter, durch den Kontrast zwischen der englischen und der kontinentalen Gerichtssprache beeindruckt sein. Dem freien, gelegentlich mit Bildern und Metaphern durchsetzten Stil der englischen Entscheidungen steht der trockene, streng sachbezogene Stil kontinentaler Entscheidungen gegenüber. Dieser stilistische Unterschied hat indes nichts mit der Sprache zu tun, sondern mit den unterschiedlichen Umständen in denen, in beiden Rechtskreisen, gerichtliche Urteile zustande kommen. Zwei Faktoren bestimmen den gerichtlichen Stil. Erstens, die Frage der Gewaltenteilung d.h., die Abgrenzung der Gerichtsgewalt von der Gesetzgebung. Zweitens, die Gerichtsorganisation. Im englischen Rechtskreis spricht sich in der Regel ein Einzelrichter aus, im kontinentalen Rechtskreis haben wir es prinzipiell mit kollegialen Gerichten zu tun. Ich werde diese Materie zuerst vom Standpunkt des „angelsächsischen“ Einzelrichters her beleuchten, um dann zum kollegialen Stil der „kontinentalen“ Gerichte zu kommen. a) Der englische Richter schöpft sein Recht prinzipiell aus den Präjudizien des common law. Soweit nicht das Parlament ihm seine Entscheidungsregel ad hoc vorgezeichnet hat, ist er also selber Gesetzgeber. Er ermittelt das Entscheidungsprinzip aus den vor ihm angerufenen Präjudizien auf Grund der Unter-
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scheidung zwischen ratio deciendi, d.h. dem Entscheidungsprinzip, das er auf Grund der rule of precedent (oder stare decisis) als bindend erachtet, und den obiter dicta, d.h. den nicht zur maßgebenden Entscheidung gehörigen Randbemerkungen voriger Richter. Man sieht also, dass die Berufung auf das Fallrecht, ganz im Kontrast zu dem was man vermuten möchte, ein Element der begrifflichen Starre und des judiziellen Konservatismus in das common law hineinbringt. Die mit dem Begriffspaar ratio decidendi und rule of precedent verbundene Rigidität wird gemeinhin als Erfordernis der Rechtssicherheit und der Vorausschaubarkeit der Rechtsprechung hervorgehoben. So typischerweise in Artikel 3.2 des Understanding on Dispute Settlement der WTO, wo gesagt ist, das System der Streitbeilegung sei: a central element in providing security and predictability to the multilateral trading system. Besser hätte man diese Grundbefindlichkeit des angelsächsischen Rechtsdenkens nicht ausdrücken können. Der angelsächsische Richter ist, im Normalfall, ein Einzelrichter, der sich mehr als Schiedsrichter (umpire) denn als Richter versteht. Es ist wichtig zu beachten, dass dieses Einzelrichtertum auch bis in die englischen Kollegialgerichte hinein spielt, die von drei oder mehr Richtern zusammengesetzt sind. Jeder Richter handelt dort als Einzelrichter; er gibt sein Votum als solcher ab. Man kann somit die Entscheidung eigentlich erst ex post aus den Voten ablesen – das judizielle nose counting. Dabei kristallisieren sich zweierlei Stellungnahmen heraus, der leading speech des Anführers der Mehrheit, dem sich, mit oder ohne zusätzliche Bemerkungen, andere Richter anschließen, und die dissenting opinions, die ebenfalls ins Urteil aufgenommen werden. Wie man sieht, geht auch auf dieser Stufe die juristische und sprachliche Individualität der Einzelmeinungen nicht verloren. Die Stellung des Richters als umpire hat eine weitere Konsequenz. Die Vorbereitung des Verfahrens und die Darlegung der Tatsachen, wie auch des anwendbaren Rechts, überlässt der angelsächsische Richter den Parteien. Er kennt nicht die römische Maxime des iura novit curia, besonders wenn es sich um ausländisches Recht handelt; er beschränkt sich darauf, auf Grund des dargelegten Prozesstands von seiner richterlichen Höhe aus zu entscheiden. Daraus ist die berühmte cross examination entstanden, die darin besteht, dass die Anwälte den Prozesstoff und die Beweise kontradiktorisch diskutieren und dem Richter darlegen. Diese Vorgehensweise, mit dem dazu gehörigen Zeremoniell, ist dem Publikum durch das Fernsehen bestens bekannt. Für den in internationalen Gerichten mit angelsächsischen Kollegen zusammen gespannten „lateinischen“ Richter kann dieses Gebaren zu unvorhergesehenen Missverständnissen und Zusammenstößen führen. In seinem Urteil befleißigt sich der englische Richter, den ihm vorgelegten Fall in der Sprache des common sense zu entscheiden. Er setzt die Akzente völlig frei, zuerst mündlich, von der Richterbank aus, um sie später schriftlich zu fassen. Dabei kann er sich indes nicht der Notwendigkeit entziehen, zum juristischen Vokabular zurückzukehren, das, infolge der bis zum Mittelalter un-
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unterbrochen zurück reichenden Gerichtspraxis, mit altertümlichen Wendungen durchsetzt ist. Darin finden sich auch manche lateinische Wörter, wobei es sich aber eher um mittelalterliche Reliquate als um authentisches Latein handelt. Stilblüten sind bei diesem freien Umgang mit der Sprache nicht ausgeschlossen. Lord Denning hat unsterbliche Stilblüten hinterlassen, die als solche von Google auf Internet vermerkt sind. Die bekannteste steht am Anfang eines Urteils über einen blutigen Verkehrsunfall, den ein Autolenker beim Hineinfahren in eine Gruppe von Ausflüglern verursacht hat, die am Strassenrand mit Blumenpflücken beschäftigt waren. Das Urteil beginnt so: „It was bluebell time in Kent . . .“ (Hinz v. Berry, 1970, 2 QB 40, 42; bluebell ist eine wildwachsende Blume der Gattung Campanula rotundifolia). Ebenfalls von Lord Denning, diese Beschreibung des Eindringens des europäischen Gemeinschaftsrechts in England: „It flows into the estuaries and up the rivers“, für den englischen Leser ein besser verständliches Bild als die trockene kontinentale Gerichtsprosa zum selben Thema (Bulmer Ltd. v. Bolliger, 1974, Chancery Division, LR p. 401, 418). In einem von Lord Chancelor Bingham entschiedenen Rechtsstreit war, zur Abwehr von Forderungen aus der verspäteten Rückgabe ausgeliehener Diapositive, der Grundsatz der good faith angerufen worden. Was hat good faith mit Dias zu tun? Die in Frage stehenden Forderungen waren auf Grund der allgemeinen Geschäftsbedingungen des Verleihers entstanden, die für verspätete Rückgabe der Lichtbilder eine drastische Erhöhung der Tagesrate vorsahen; der Verleiher hatte es indes unterlassen, den Entleiher auf diese Klausel eigens hinzuweisen, daher der Einwand. Der Richter erkennt an, dass der vor ihm angerufene Grundsatz der good faith in der Tat weite Anerkennung „in most legal systems outside the common law world“ gefunden hat, dass er zwar im englischen Recht nicht als solcher anerkannt ist, dort aber unter anderen Ausdrücken vorkommt: [this principle], so sagt er, „is perhaps most aptly conveyed by such metaphorical colloquialisms as ,playing fair‘, ,coming clear‘ or ,putting one’s cards face upwards on the table‘“. Die Logik dieses Ausspruchs besteht darin, dass Ausdrücke der englischen Umgangssprache den gemeinten Gedanken mindestens genau so gut wiedergeben wie ein importierter abstrakter Rechtsbegriff (Interfoto Picture Library v. Stiletto Visual Programme, 1988, 1 All ER 348). Angesichts solcher Phänomene stellt sich der ahnungslose kontinentale Jurist die Frage, wann einmal der angelsächsische Rechtsstil rationalisiert werden soll. Das wird sobald nicht geschehen, denn damit hat es eine ganz andere Bewandtnis. Die angelsächsische Gerichtssprache ist im Laufe der Zeit zu einer Geheimsprache geworden, ähnlich wie die Fachsprache der Ärzte, die über das Krankenbett hinweg den Gesundheitszustand des Patienten diskutieren, ohne dass der Betroffene etwas davon verstehen kann. Die englisch sprachigen Juristen benutzen Quellen, die nur Eingeweihten zugänglich sind: so eigenartig es auch
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klingen mag, es gibt in diesen Ländern (England und Irland) ausgiebige Fallsammlungen, aber keine offiziellen Gesetzesblätter, wie auf dem Kontinent. Dieser Quellenlage entsprechend benutzen die Juristen eine Sprache, die nur Eingeweihten verständlich ist, und das hat seinen Preis. Einen Prozess kann man in diesen Staaten nicht ohne Anwalt führen, so dass sich bei selbst kleinen Rechtsstreitigkeiten ruinöse Gerichtskosten ergeben können. b) Die Sprachregelung in den vom römischen Recht abgeleiteten Systemen ist völlig verschieden. Die grundlegende Frage ist hier die Abgrenzung der Gerichtsgewalt im Verhältnis zur Gesetzgebung. Im Übergang vom Allgemeinen zum Besonderen lässt das kodifizierte Recht dem Richter einen weiten Spielraum. Der lateinische Richter findet nämlich gerade im Rahmen der Gewaltenteilung eine ihm eigene Bewegungsfreiheit, die es erlaubt, die Vorgaben des Gesetzes an die unendliche Vielfalt aller Einzelfälle anzupassen. Präjudizien nimmt er zur Kenntnis, aber er sieht sich dadurch in keiner Weise in seiner Entscheidungsfreiheit beschränkt. Das stare decisis ist für ihn eine Horrorvision. Das hat Portalis mit Meisterhand im Discours préliminaire du Code civil wie folgt zum Ausdruck gebracht: „L’office de la loi est de fixer par de grandes vues les maximes générales du droit, d’établir des principes féconds en conséquences et non de descendre dans le détail des questions qui peuvent naître sur chaque matière. C’est aux magistrats et aux jurisconsultes, pénétrés de l’esprit général des lois, à en diriger l’application“ (Portalis, Discours préliminaire du Code civil, Neuausgabe von Michel Massenet, Confluences, Paris, 1999, S. 19. – „Die Funktion des Gesetzes besteht darin, in weiten Perspektiven die allgemeinen Maximen des Rechts zu bestimmen, folgerungsreiche Grundsätze festzulegen, ohne aber in die Einzelheiten aller Fragen hinabzusteigen, die sich daraus von Fall zu Fall ergeben können. Den Richtern und Rechtsgelehrten steht es zu, im Lichte des allgemeinen Geistes der Gesetze, deren Anwendung sicherzustellen.“) Kontinentale Gerichte sind prinzipiell kollegiale Gerichte. Den Einzelrichter kennt man nur auf der Stufe der Prozessvorbereitung (z. B. im Fall von einstweiligen Verfügungen und in der Figur des französischen juge d’instruction) und in den sog. Bagatellsachen auf der unteren Stufe der Gerichtsbarkeit. Von diesen Ausnahmen abgesehen, sind alle kontinentalen Gerichte kollegiale Spruchkörper, die beruflich der Pflicht des Beratungsgeheimnisses unterworfen sind. Im Gegensatz zum englischen Richter fühlt sich der kontinentale Richter nicht als souveräner Schiedsrichter, sondern als Organ der Rechtspflege (administration de la justice). Er steht daher dem „inquisitorischen“ Verfahren näher als sein auf die adversary procedure eingeschworener, angelsächsischer Partner – der ihm diese Nähe gerne als einen historischen Makel ankreidet. Diese Umstände bedingen eine ganze Reihe von einschneidenden Konsequenzen, die bis tief in der Bereich der Sprache hinein reichen: die Notwendigkeit
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einer Mehrheitsfindung im tagtäglichen Geschäft, mit dem einem solchen Verfahren innewohnenden Zwang zur gegenseitigen Anpassung; die daraus folgende Unmöglichkeit eines Ausdrucks von Einzelmeinungen; als weitere sprachliche Konsequenz dieser Gegebenheiten die Herausbildung eines Einheitsstils, aus dem alle Extravaganzen verbannt sind; schlimmer noch, der Gebrauch einer Sprachregelung, deren Klarheit durch die zur Mehrheitsfindung notwendigen Kompromisse immer wieder getrübt wird. In dieser Hinsicht wird uns von unseren angelsächsischen Kollegen vorgehalten, dass der ihnen eigene Rechtsstil, gerade durch den Kontrast von Mehrheits- und Minderheitsmeinung, zu größerer Klarheit führe. Vielleicht, aber um welchen Preis? Was den gerichtlichen Stil anbelangt, so kann man auch innerhalb der Gruppe der „lateinischen Rechte“, merkbare Unterschiede feststellen. Ich möchte hier mit dem deutschen Urteilsstil beginnen, der offensichtlich durch eine Sorge der Ernsthaftigkeit und Glaubwürdigkeit geprägt ist. Diese Sorge ist besonders spürbar im Rahmen einer Gerichtsorganisation die, von der Landesebene bis zur Bundesebene, durch mächtige Bundesgerichte – nicht weniger als fünf – und das allgegenwärtige Bundesverfassungsgericht engmaschig kontrolliert wird. Inmitten dieses erhabenen Panoramas bemüht sich der deutsche Richter, seinen Entscheidungen einen irgendwie wissenschaftlichen Anstrich zu geben, indem er außer den gerichtlichen Präjudizien auch die Meinungen der Rechtswissenschaft zitiert, was dann gelegentlich zu Polemiken zwischen Gerichten und Vertretern der Wissenschaft führen kann. Der französische Richter schreibt, nach dem Vorbild des Discours de la méthode von Descartes und der unvergleichlichen Sprache des Code Civil, einen völlig verschiedenen Stil. Seine Begründungen sind kurz gefasst, zuweilen apodiktisch, dies besonders im Stil der Cour de cassation und, gewissermaßen paroxystisch, im Stil des Conseil d’État. Ein ideales Urteil im ursprünglichen französischen Stil ist in einem einzigen Satz gefasst, nach dem Muster: „Attendu que . . ., que . . ., que . . ., pour ces raisons . . .“; erst am Ende dieser Kette erscheint die eigentliche Entscheidung als einziger Hauptsatz. Diese stilistische Zwangsjacke wurde als Muster der concision, d.h. der synthetischen, auf das Wesentliche konzentrierten Begründungsweise gepriesen. Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts ist diese Stilform, mit der Beseitigung der attendus, einem mehr diskursiven Duktus der Begründungen gewichen und, damit, ein Stück näher an die deutsche Argumentationsweise herangerückt. c) Der „kontinentale“ Stil wurde, spontan, vom Gerichtshof der EGKS, dann der EG übernommen. Die tragenden Verträge sind im Stil des kodifizierten Rechts geschrieben, d.h. im Geist der Unterscheidung von Grundsätzen und untergeordneten Normen, und sie wurden auch als solche verstanden und ausgelegt. Der Gerichtshof ist kollegial organisiert, er beschließt mit einfacher Mehrheit, er gibt nur die mehrheitliche Meinung kund und seine Beratungen sind
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vom Beratungsgeheimnis gedeckt. Er hat sich anfangs dem kurzen Stil der französischen höchsten Gerichte, Conseil d’Etat und Cour de cassation angeschlossen und entsprechend seine Urteile, wenigstens in der französischen Fassung (die der Arbeitssprache des Gerichtshofs entspricht), in attendus gekleidet. Es ist interessant zu beobachten, wie sich dieser Stil seit der Erweiterung der Gemeinschaft entwickelt hat. Der entscheidende Schritt war hier die erste Erweiterung, d.h. der Beitritt des Vereinigten Königreichs, zusammen mit Dänemark und Irland. Es hat damals keine Umwälzung stattgefunden, sondern eine schrittweise Entwicklung der Stilgewohnheiten. Ich beginne beim persönlichen Verhalten der Richter in der mündlichen Verhandlung. Früher hat sich der Gerichtshof in seinem Verhalten einer steifen Neutralität befleißigt. Fragen an die Parteien waren irgendwie verpönt, weil sich ja darin die persönliche Meinung des Fragestellers verraten könnte. Zum Erstaunen der „alten“ waren die neuen Richter viel kommunikativer. Sie gingen so weit, ihre Fragen, je nach Lage des Falls mit einem Am I right in thinking that? oder einem Am I wrong in assuming that? einzuleiten. Wir verstanden langsam, dass es bei diesem Verfahren darum ging, die Parteien auf die Schwachstellen ihrer Argumentation aufmerksam zu machen und ihnen so die Gelegenheit zu geben, das Beste ihrer Argumente herzugeben. Nach und nach setzte sich auch die Überzeugung durch, dass die alten attendus überlebt waren und dass es in der Begründung darum ging, in diskursiver Rede den Parteien und, über ihren Kopf hinweg, der Öffentlichkeit die Gegebenheiten des „neuen“ Rechts zu erklären. Zu gleicher Zeit kam es, wegen der Notwendigkeiten der Übersetzungen und der elektronischen Verarbeitung der Texte, zu einer Vereinheitlichung des Wortgebrauchs und zur Herausbildung eines Einheitsstils, die sich im Ergebnis als wertvolle Stütze von Klarheit und Kontinuität erwiesen haben. d) Zur besseren Erkenntnis des kontinental europäischen Gerichtsstils ist es nützlich, im Vergleich, den im Dunstkreis des GATT und der World Trade Organization (WTO) gepflegten Rechtsstil zu beobachten. Das GATT-Abkommen von 1947, welches ungefähr zeitgleich mit den ersten europäischen Einigungsverträgen abgefaßt wurde, ist ein typisches common law Produkt. Dieses Abkommen, das auch heute noch unverändert im Rahmen der neuen Organisation fortbesteht, hat von Haus aus kein System. Es besteht in der losen Anderreihung von Regeln, die sich im zwischenstaatlichen Handelsverkehr herausgebildet haben. In der Spruchpraxis der Streitbeilegungsorgane hat sich der Begriff des single undertaking herausgebildet, was bedeutet, dass alle Regeln der geltenden Abkommen auf gleicher Rangstufe stehen und dass somit keine Hierarchie zwischen – einerseits – den Bestimmungen der grundlegenden Abkommen, d.h. des GATT und seiner Derivate, GATS (Abkommen über den Dienstleistungsverkehr) und TRIPS (Abkommen über handelsbezogene Aspekte der intellektuellen Schutzrechte) und – andererseits – den zahlreichen, dazu gehörigen Sonderprotokollen besteht. Das führt dazu, dass es im Welthandelsrecht nur Primärrecht
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gibt und dass dieses Recht, im Endergebnis, nach englisch-amerikanischer Manier, auf Grund der Maxime lex specialis derogat legi generali ausgelegt wird (das ergibt sich aus der General interpretative note zur Anlage 1A des WTO Abkommens, in der ausgesagt ist dass, im Fall eines „Konflikts“ zwischen dem allgemeinen GATT Abkommen und einem der erwähnten Sonderabkommen, letzteres dem GATT vorgehen soll: shall prevail to the extent of the conflict). Zur Anwendung dieser Regel ist also die vorherige Feststellung eines Gesetzeskonflikts erforderlich. Dazu ein typisches Beispiel, das uns Europäer bis auf unseren Teller oder, ersatzweise, bis zu unserem Geldbeutel betrifft: Es handelt sich um den Streit über den Import von amerikanischem Hormonfleisch, der vor den Streitbeilegungsorganen der WTO ausgetragen wurde. Wegen der Verkennung der eben beschriebenen Argumentationslage ist die EG in diesem Rechtsstreit der angelsächsischen Rechtslogik oder, genauer gesagt, Unlogik unterlegen. Es ist nicht leicht, diesen vertrackten Rechtsfall Nichtspezialisten zu erklären. In diesem Verfahren standen, zur Rechtfertigung des Importverbots der EG für Hormonfleisch, drei Bestimmungen des GATT zur Diskussion: Artikel III über den Grundsatz des national treatment bei der Anwendung von Bestimmungen über qualitative Regeln betreffend die Zulassung von Produkten auf die nationalen Märkte, Artikel XX, über die Importbeschränkungen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit, und ein zu diesem Artikel gehöriges Sonderprotokoll über Sanitärmassnahmen, das sog. SPS, in dem vorgesehen ist, dass Streitfälle auf Grund von wissenschaftlichen Gutachten zu entscheiden sind. Nach kontinentaler Logik hätte diese Frage im Licht der folgenden, begriffshierarchischen Erwägungen zur Diskussion kommen müssen: Artikel XX ist eine Ausnahme zu Artikel III; das SPS-Abkommen ist eine nachgeordnete Bestimmung zur Durchführung der Ausnahme des Artikels XX. Die logische Reihenfolge der juristischen Analyse wäre demnach die folgende gewesen: erst Artikel III, dann Artikel XX, dann SPS, insofern als SPS nur greift wenn Artikel XX greift, und Artikel XX nur greifen kann, wenn Artikel III keine Lösung ergibt. In diesem Fall hätte aber Artikel III eine glatte (d.h. konfliktfreie!) Lösung ergeben, da die Beimischung von Hormonen ins Tierfutter auch EG intern verboten ist, also kein Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot des national treatment vorlag. Die Diskussion wurde aber, nach angelsächsischer Methode, am spezifischen Ende begonnen. Auf diese Weise wurde die EG ins Dickicht wissenschaftlicher Befunde abgedrängt. Da die EG im damaligen Stand der Wissenschaft keinen zwingenden Beweis für die Schädlichkeit von Hormonverwendung in der Viehzucht beibringen konnte, wurde sie zum Import des amerikanischen Fleischs verurteilt, ohne dass die grundlegenden Bestimmungen des GATT, d.h. Artikel III und Artikel XX, zu dieser Frage überhaupt angesprochen werden konnten (s. WTO, EC Measures Concerning Meat and Meat Products (Hormones), Bericht des Panels, vom 18. August 1997, WT/DS26/R – mit den entscheidenden Er-
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wägungen in den Absätzen 8.42 und 8.272/273 –, Bericht des Appellate Body vom 16. Januar 1998, WT/DS26/AB/R, der unter Vorbehalt diese Stellung unterstützt, und Entscheidung der Arbitrators vom 12. Juli 1999, DS/26/ARB, zur Feststellung des handelspolitischen Schadens, (alles im Internet unter WTO/dispute settlement/disputes verfügbar). Vgl. dazu meinen Kommentar im bereits zitierten Band der Europäischen Rechtsakademie Trier, S. 24–27. IV. Schlussfolgerungen Im Endergebnis führen diese, unter dem Zeichen der Sprache begonnen Überlegungen zu einem für Linguisten irgendwie enttäuschenden Ergebnis: dass nämlich die Rechtssprache sich nicht an sprachlichen, sondern an sachlichen Gegebenheiten orientiert, die mit der Organisation der Rechtsgemeinschaft, genauer gesprochen, mit den Methoden der Rechtsschöpfung und der Rechtsanwendung, innerhalb der verschiedenen Rechtswelten, zusammenhängen. Einerseits die vom römischen Recht abgeleitete „lateinische“ Rechtskultur die, in welcher Sprache auch immer, durch den Vorrang des Gesetzesdenkens, in seiner kodifizierten Form, charakterisiert ist. Innerhalb der Koordinaten dieser weiträumigen Gedankenwelt, die vom Allgemeinen zum Besonderen methodisch organisiert ist, findet der Richter den zur Erfüllung seiner Aufgaben notwendigen Spielraum. Dem steht die aus dem Fallrecht herausgewachsene Welt des commom law gegenüber, die sich ohne vorgegebenes System aus der richterlichen Spruchpraxis, ohne klare Trennung von öffentlichem Recht, Zivilrecht und Strafrecht, herausgebildet hat. In Ermangelung eines vorgegebenen Systems wird die Beständigkeit des Rechts hier durch die Rückwendung zu den Präjudizien erreicht. Dieses Verfahren beruht, im Kontrast zur relativen Entscheidungsfreiheit der lateinischen Judikatur, auf einem rigiden, unter dem Leitbild der rule of precedent jeder Erneuerung prinzipiell feindlichen Konservatismus. Diese Feststellungen führen uns zu einem eigenartigen, rechtlich-sprachlichen Paradox, insofern als kodifiziertes Recht in einer multikulturellen Welt leichter exportierbar ist als das mit seinem historischen Ballast beladene common law, das sich bestenfalls in den ehemaligen englischen Kolonialgebieten halten kann, angefangen bei den Vereinigten Staaten von Amerika. Paradox ist dabei das parallele Heranwachsen der englischen Sprache zum Rang einer alleinigen Weltsprache. Wem wird damit die Zukunft gehören? Die Antwort könnte auf der Linie dreier moderner Entwicklungen liegen, die wir als Rechtsvergleichung, Rechtsangleichung und Rechtsvereinheitlichung bezeichnen. Rechtsvergleichung als Bestandsaufnahme der bestehenden Eigenheiten der verschiedenen Rechtsordnungen, wobei unsere Aufmerksamkeit nicht nur den konkreten Sondergebieten, sondern auch den Grundfragen von Verfassung,
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Rechtsquellen, Gesetzgebung und Rechtsprechung gelten sollten, so wie wir sie in diesem Zusammenhang mehrfach berührt haben. Der nächste Schritt, der sich aus dieser Bemühung um gegenseitiges Verständnis ergibt, ist die Rechtsangleichung, durch die Bereitstellung von einheitlichen Gesetzgebungsmodellen auf geeigneten Gebieten, wie etwa im Handelsrecht, im privaten Vertragsrecht, im Steuerrecht (Gebiete auf denen sich Organisationen wie EG und OCDE auf vorbildliche Weise betätigen). Als dritter Schritt ist die Rechtsvereinheitlichung durch bindende völkerrechtliche Verträge zu erwähnen, deren sprachliche Auswirkung in einer Standardisierung der grundlegenden Rechtsbegriffe, weit über das Gebiet des eigentlichen Völkerrechts hinaus, besteht. Als Modell einer solchen Vereinbarung sind wir hier der bei weitem noch nicht ausgeschöpften Wiener Vertragsrechtskonvention begegnet. Als neuestes Ergebnis sind die von der International Law Commission der UNO vor kurzem abgeschlossenen Artikel über Staatenhaftung zu erwähnen, die zu einer beispielhaften Vereinheitlichung der Begriffe, im Zusammenfluss von lateinischem und angelsächsischem Rechtsdenken geführt haben.
III. Zur sprachpraktischen Methodik des Europäischen Gerichtshofs
Methodenrelevante Normtexte im Gemeinschaftsrecht Thomas Groh Juristische Methodik schwebt nicht im luftleeren Raum. Sie ist in zweifacher Hinsicht auf Normtexte bezogen und von diesen geprägt.1 Eine erste, eher allgemeine Beziehung ergibt sich daraus, dass Normtexte jedenfalls in unserem Kulturkreis zum Gegenstand juristischer Methodik gehören: Fasst man diese als die Gesamtheit der Aussagen über die regelgeleitete Lösung rechtlicher Probleme auf, so hat sie sich schon deshalb mit Normtexten zu beschäftigen, weil solche Texte bei der juristischen Problemlösung eine herausragende Rolle spielen. Da eine Methodik – übrigens nicht nur die juristische – nur dann zweckmäßig sein kann, wenn sie ihrem Gegenstand angemessen ist, hängt die Ausgestaltung jeder juristischen Methodik somit von den Normtexten ab, mit denen sie sich beschäftigt. Die Gegenstandsadäquanz ist jedoch nicht der zentrale oder gar einzige Fluchtpunkt für die Entwicklung einer juristischen Methodik. Sie kann vielmehr nur insoweit eine Maßstabsfunktion beanspruchen, als sie nicht durch vorrangige Anforderungen an die Ausgestaltung juristischer Methodik verdrängt wird. Damit ist die zweite, spezifische Beziehung zwischen juristischer Methodik und Normtexten angesprochen: Diese können verbindliche Vorgaben dafür aufstellen, welchen Anforderungen die Lösung rechtlicher Probleme in methodologischer Hinsicht zu genügen hat. Denkbar ist etwa, dass sie für die Interpretation von Normtexten bestimmte Argumente vorschreiben oder ausschließen oder dass sie Grenzen des Interpretationsspielraums festlegen. Soweit Normtexte derartige verbindliche Vorgaben aufstellen, sind sie nicht nur Gegenstand, sondern auch vorrangiger Maßstab juristischer Methodik2 – jedenfalls einer solchen Methodik, die sich mit der juristischen Tätigkeit in Verfahren beschäftigt, die zum Erlass einer rechtlich verbindlichen, zwangsweise durchsetzbaren Entscheidung führen. Neben verbindlichen Vorgaben können Normtexte allerdings auch methodologische Aufgaben stellen, indem sie eine Regelung treffen, die ein spezi1 Unter „Normtext“ wird hier die Abfolge von Buchstaben bzw. Wörtern (Zeichenkette) verstanden, aus denen eine rechtliche Bestimmung zusammengesetzt ist; vgl. zu diesem Verständnis auch Müller/Christensen, Juristische Methodik I, 8. Aufl. 2002, Rn. 15; Müller/Christensen/Sokolowski, Rechtstext und Textarbeit, 1997, S. 31 f. 2 Bemerkenswerterweise qualifiziert das BVerfG, NJW 2001, 1267, 1268, Fragen der gemeinschaftsrechtlichen Methodik ausdrücklich als Rechtsfragen (im konkreten Fall bezogen auf eine methodologische Regel zur Auflösung von Normtextkonflikten).
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fisch methodenbezogenes Problempotential schafft. Auf dieses ist bei der Konzipierung einer juristischen Methodik durch die Erarbeitung von Strukturen zu antworten, die das entsprechende Problem handhabbar machen. Normtexte, die methodologische Anforderungen stellen oder spezifische methodologische Probleme aufwerfen, werden hier als methodenrelevante Normtexte bezeichnet. Sie sind gewissermaßen Leitplanken für die Ausgestaltung einer juristischen Methodik. Derartige Normtexte existieren in zahlreichen Rechtsordnungen.3 Sie sind selbstverständlich nicht überall gleich, sondern variieren von Rechtssystem zu Rechtssystem. Jede juristische Methodik kann daher sinnvollerweise nur als rechtsordnungsspezifische Methodik konzipiert und verstanden werden,4 wenn sie nicht auf sehr allgemeine (und das heißt regelmäßig: banale) Aussagen beschränkt bleiben soll. Es liegt nahe, dass dies auch und vielleicht in besonderer Weise für die Gemeinschaftsrechtsordnung gilt, deren richterliche Selbstbeschreibungen von Beginn an durch Adjektive wie „neu“5 und „eigenständig“6 gekennzeichnet war. Ausgehend von einer weit gehend „klassischen“ völkerrechtlichen Interpretationsmethodik7 hat der EuGH sehr schnell eine spezifische, die Besonderheiten und Bedürfnisse des Gemeinschaftsrechts berücksichtigende Methodik entwickelt. Diese soll hier allerdings nicht näher beschrieben oder analysiert werden.8 Das Anliegen dieses Beitrags 3 So schreiben z. B. Art. 31 Abs. 1 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge und Art. 3 Abs. 1 des spanischen Código civil bestimmte Interpretationsweisen vor. § 6 des österreichischen ABGB und Art. 12 des italienischen Codice civile verbieten die Befolgung anderer als der ausdrücklich zugelassenen Interpretationsweisen. Art. 6 des EWR-Abkommens bindet den Interpreten unter bestimmten Voraussetzungen inhaltlich an die Interpretation eines Dritten. Art. 31 GG wirft die Frage auf, welche Auswirkungen der Vorrang des Bundesrechts vor dem Landesrecht auf die Art und Weise der Interpretation landesrechtlicher Normtexte hat. 4 Ebenso im Hinblick auf Teilrechtsgebiete Müller/Christensen, Juristische Methodik I, Rn. 3; vgl. für die gemeinschaftsrechtliche Methodik auch BVerfGE 75, 223, 242 f.: „Auslegungsregeln für die Gemeinschaftsverträge“ (Hervorhebung nur hier). – Nach Hintersteininger, Zur Interpretation des Gemeinschaftsrechts, ZÖR 1998, 239, 260, kommt demgegenüber das Gemeinschaftsrecht „über jene Auslegungsgrundsätze nicht [hinaus], die sich letztlich für die Auslegung von Rechtstexten überhaupt ermitteln lassen, weil sie den Strukturen der Erkenntnis entsprechen“. Vielleicht noch weiter gehend ist der Versuch Bydlinskis, methodologische Anforderungen im Einzelnen durch einen aus der „Rechtsidee“ abgeleiteten Rechtsbegriff zu begründen; vgl. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl. 1991, S. 370 ff. 5 EuGH, Slg. 1963, 1, 25 – van Gend & Loos. 6 EuGH, Slg. 1964, 1251, 1270 – Costa/ENEL. 7 Diese wurde vom EuGH noch bis 1963 herangezogen; vgl. EuGH, Slg. 1963, 1, 24 – van Gend & Loos. Bemerkenswert ist allerdings schon in diesem Urteil die Reihenfolge der explizit genannten Interpretationsargumente; der EuGH interpretiert „vom Geist [der einschlägigen] Vorschriften, von ihrer Systematik und von ihrem Wortlaut her“. 8 Eine ausgezeichnete Analyse der gemeinschaftsrechtlichen Methodik auf neuerer methodologischer Grundlage bietet Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Kommentar zur Europäischen Union (Stand: August 2002), Art. 4 EGV Rn. 43 ff.; grundlegend
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ist es vielmehr, den Blick auf methodenrelevante Normtexte zu richten, die das Gemeinschaftsrecht für die Konzipierung einer ihm adäquaten juristischen Methodik bereithält (und denen auch die vom EuGH entwickelte und praktizierte Methodik genügen muss). An einigen Stellen wird allerdings auch exemplarisch demonstriert, wie außerhalb des Regelungsbereichs methodenrelevanter Normtexte bestehende Freiräume ausgefüllt werden können.9 Die folgenden Ausführungen unterliegen einer dreifachen Selbstbeschränkung: Analysiert werden im wesentlichen nur primärrechtliche Normtexte; ferner nur solche, die unmittelbar methodenrelevant sind, also nicht nur gewissermaßen homöopathisch dosierte Ansatzpunkte zur Beantwortung methodologischer Fragen bieten;10 schließlich nur diejenigen, die die (richterliche) Interpretationsmethodik betreffen. Ausgehend von der Unterscheidung zwischen Interpretationsargumenten und Interpretationsgrenzen (dazu unten I.) werden zunächst argumentbezogene (unten II.) und sodann grenzenbezogene Normtexte (unten III.) analysiert. I. Interpretationsargumente und Interpretationsgrenzen Juristische Interpretation wird hier verstanden als die Bestimmung der im Hinblick auf die jeweils aufgeworfene Rechtsfrage und das jeweils zu beurteilende Geschehen zutreffenden Bedeutung eines Normtextes.11 Sie ist – von wenigen Ausnahmen abgesehen12 – Teil eines auf eine verbindliche Entscheidung nunmehr Müller/Christensen, Juristische Methodik II, 2003. Vgl.. ferner Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, insbesondere S. 141 ff.; Grundmann, Die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den Europäischen Gerichtshof, 1998, insbesondere S. 192 ff.; Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht, 1994, passim (vergleichend mit der Interpretationsmethodik des österreichischen Verfassungsgerichtshofes und Verwaltungsgerichtshofes). 9 Vgl. hierzu unten II. 2. (Konsequenzen der Mehrsprachenauthentizität des Gemeinschaftsrechts für die Einbeziehung verschiedener Sprachfassungen in die Interpretation), III. 1. b) (Normtextbindung des Interpreten) und III. 3 (methodologische Konsequenzen aus dem Rangverhältnis zwischen verschiedenen Normtexten). 10 Ein Beispiel für einen in diesem Sinne nur mittelbar methodologisch relevanten Normtext ist etwa Art. 220 EGV, der dem EuGH die Aufgabe überträgt, bei der Auslegung und Anwendung des Vertrages die Wahrung des Rechts zu sichern. Der EuGH leitet hieraus seine Befugnis ab, „nach den allgemein anerkannten Auslegungsmethoden zu entscheiden, insbesondere indem er auf die Grundprinzipien der Gemeinschaftsrechtsordnung und gegebenenfalls auf allgemeine Grundsätze, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind, zurückgreift“; vgl. Slg. 1996, I-1029, Rn. 27 – Brasserie du Pêcheur und Factortame; ebenso Lenaerts, Le droit comparé dans le travail du juge communautaire, RTDE 2001, 487, 492 ff. 11 Vgl. zur Fallabhängigkeit der Normtextbedeutung Esser, Die Interpretation im Recht, in: ders., Wege der Rechtsgewinnung, 1990, S. 278, 281; Müller/Christensen, Juristische Methodik I, Rn. 258 f. 12 Beispielsweise bei der Lösung einer juristischen Prüfungsaufgabe oder eines sonstigen konstruierten Falles.
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zielenden Vorgangs.13 Daher beschränkt sie sich nicht auf ein abstraktes Gedankenspiel, sondern hat massive Folgen in der außersprachlichen Realität. Der Interpret unterliegt deshalb bei der Bestimmung einer Normtextbedeutung einem erheblichen Rechtfertigungsbedarf.14 Diesem kann – wenn überhaupt – nur durch eine Begründung der Bedeutungsbestimmung, also durch ihre argumentative Abstützung, genügt werden. Die dabei eingesetzten, nicht zwingenden Argumente, insbesondere die sogenannten Auslegungsmethoden15 (-kriterien16, -elemente17 etc.),18 werden hier als Interpretationsargumente bezeichnet. Für Normtexte, die die Zulässigkeit der Verwendung solcher Argumente regeln oder sich auf die Gewichtung gegenläufiger Argumente beziehen, wird hier dementsprechend die Bezeichnung „argumentbezogene Normtexte“ verwendet. Im Gegensatz zu argumentbezogenen und damit den Interpretationsvorgang i. e. S. betreffenden Normtexte stellen grenzenbezogene Normtexte inhaltliche Anforderungen an das Interpretationsergebnis. Sie erklären bestimmte Bedeutungshypothesen19 aus der Menge der mit Hilfe der Interpretationsargumente begründbaren Bedeutungen wegen ihres Inhalts zwingend für unzulässig und errichten so (absolute) Interpretationsgrenzen.20
13 Vgl. zu der hieraus resultierenden Sonderstellung juristischer Methodik gegenüber geisteswissenschaftlichen Methodiken Müller/Christensen, Juristische Methodik I, Rn. 191. 14 Vgl. hierzu Kriele, Besonderheiten juristischer Hermeneutik, in: Fuhrmann u. a. (Hrsg.), Text und Applikation, 1981, S. 409, 411. 15 So die wohl am weitesten verbreitete Bezeichnung; vgl. nur Anweiler, Auslegungsmethoden, passim; Brown/Jacobs, The Court of Justice of the European Communities, 3. Aufl. 1989, S. 268 ff.; Grundmann, Auslegung, passim. 16 So Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 320 u. ö. 17 So Hassold, Strukturen der Gesetzesauslegung, in: Canaris/Diederichsen (Hrsg.), Festschrift für Karl Larenz, 1983, S. 211, 221, mit Nachweisen zu weiteren Bezeichnungen S. 212. 18 Die „Auslegungsmethoden“ haben insofern eine herausgehobene Funktion, als sie einen Fundus allgemein anerkannter, standardisierter Begründungselemente bilden, die der Interpret nicht bei jeder Interpretation (neu) erarbeiten, sondern lediglich abarbeiten muss. 19 Als Bedeutungshypothese wird hier jede denkbare Bedeutung bezeichnet, für die sich wenigstens ein Interpretationsargument in plausibler Weise anführen lässt. 20 Über die Unübersteigbarkeit derartiger Grenzen sollte man sich freilich keine Illusionen machen: Ihre Einhaltung wird – jedenfalls bei der richterlichen Interpretation – letztlich (und letztverbindlich) von demjenigen beurteilt, dem sie gezogen sind. Vgl. hierzu auch unten III. 1. b) a. E.
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II. Argumentbezogene Normtexte 1. Art. 314 EGV und 254 Abs. 1 Satz 1 sowie Abs. 2 Satz 1 EGV: Verpflichtung der Interpretation auf einen schriftlich fixierten, amtlich dokumentierten Ausgangspunkt
Recht ist existentiell auf Sprache angewiesen: Es gibt kein Recht außerhalb der Sprache.21 Diese ist freilich zunächst flüchtig. Das gesprochene Wort hat eine gegen Null tendierende Verfallsdauer und ist daher als Ausgangspunkt rechtlicher Entscheidungen nicht brauchbar. Die juristische Arbeit benötigt vielmehr einen festen, dauerhaften Orientierungspunkt, an dem sie ihren Ausgang nehmen kann. Dieser Orientierungspunkt wird in Art. 314 EGV22 für das Primärrecht festgelegt. Danach ist der EGV in einer verbindlichen Urschrift abgefasst; er wird im Archiv der Regierung der Italienischen Republik hinterlegt, die den Regierungen der anderen Mitgliedstaaten beglaubigte Abschriften übermittelt.23 Eine vergleichbare Funktion hat Art. 254 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 EGV für einen Großteil der Rechtsakte des Sekundärrechts, indem er deren Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union vorschreibt.24 Mit der schriftlich fixierten, amtlich dokumentierten Formulierung der Normtexte des Gemeinschaftsrechts wird dem Interpreten ein für ihn verbindlicher Ausgangspunkt der Interpretation an die Hand gegeben. Dieser ist haltbar und Halt bietend, also dauerhaft und damit eine verlässliche Größe. Die Festlegung einer schriftlich fixierten, für den Interpreten verbindlichen Fassung von Normtexten hat als argumentbezogene Vorgabe25 die Folge, dass die so formulierten Normtexte der Interpretation als Grundlage zu dienen haben. Daher ist in den Interpretationsvorgang stets ein unmittelbar auf den Normtext gestütztes Argument einzubeziehen. Wie dieses im einzelnen ausgestaltet ist und welches Gewicht es hat, wird durch Art. 314 und 254 EGV nicht festgelegt. Die Antwort hierauf hängt also von der jeweils favorisierten methodologischen Konzeption ab. Nach dem hier vertretenen Standpunkt ist der Normtext in seiner Eigenschaft als Argumentationsgrundlage (nur) ein Assoziationsanker für seine interpretativ zu bestimmende Bedeutung: Aufgrund semantischer Konventionen lassen sich in einem ersten Zugriff bestimmte Bedeutungsansätze oder Bedeutungsrohlinge mit ihm assoziieren. Diese haben für die den Schlusspunkt des Interpretationsvorgangs bildende, im Hinblick auf eine 21
Rüthers, Rechtstheorie, 1999, Rn. 150. Gleichlautend: Art. 225 EAGV. 23 Die in Art. 314 EGV ebenfalls geregelte Mehrsprachenauthentizität des Gemeinschaftsrechts ist an dieser Stelle noch irrelevant; vgl. zu ihr unten 2. 24 Art. 163 Abs. 1 Satz 1 EAGV sieht die Veröffentlichungspflicht nur für Verordnungen vor. 25 Vgl. zur grenzenbezogenen Funktion der schriftlich fixierten Fassung des Normtextes unten III. 1. 22
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bestimmte juristische Fragestellung und einen konkreten Sachverhalt zu bestimmende Normtextbedeutung aber nur indizierende Wirkung.26 Daher kann das auf den Normtext gestützte Argument als Indizargument bezeichnet werden. Es bildet den Einstieg in die Interpretation und hat als deren Ausgangspunkt eine besondere Funktion. Diese allein verleiht ihm allerdings keine gesteigerte oder gar zwingende Überzeugungskraft, und zwar auch nicht im Falle eines vermeintlich „klaren Wortlauts“.27 Vielmehr steht die von ihm indizierte Bedeutung stets unter dem Vorbehalt der Bestätigung oder Widerlegung durch weitere Interpretationsargumente.28 2. Art. 314 EGV, Art. 4 VO Nr. 1: Notwendigkeit eines Sprachfassungsvergleichs
Die Festlegung einer bestimmten Formulierung von Normtexten als Ausgangspunkt der Interpretation sagt in einer mehrsprachigen Rechtsordnung noch nichts darüber aus, in welcher sprachlichen Fassung die jeweiligen Normtexte in den Interpretationsvorgang einzubeziehen sind. Diese Frage beantwortet Art. 314 EGV29 für das primäre Gemeinschaftsrecht; hiernach ist der Vertragstext in sämtlichen 21 Vertragssprachen30 „gleichermaßen verbindlich“. Für das Sekundärrecht überträgt Art. 290 EGV31 die Befugnis zur Regelung der Sprachenfrage dem Rat, der hiervon durch den Erlass der Verordnung Nr. 132 Gebrauch gemacht hat. Nach deren Art. 4 werden Verordnungen und andere 26 Vgl. hierzu Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 1977, § 85, der (sprachliche) Regeln treffend mit Wegweisern vergleicht: „Eine Regel steht da, wie ein Wegweiser. (. . .) Zeigt er, in welche Richtung ich gehen soll, wenn ich an ihm vorbei bin; ob der Straße nach, oder dem Feldweg, oder querfeldein?“. Ähnlich Müller/Christensen/Sokolowski, Rechtstext, S. 33 („Merkposten“). 27 Der vielfach beschworene „klare Wortlaut“ ist ein Phantom, das sich besonders gut dazu eignet, die eigene (juristische) Entscheidungsverantwortung auf andere Instanzen abzuwälzen. Eindeutig kann allenfalls das Zusammenspiel zwischen Normtext, aufgeworfener Rechtsfrage und zu beurteilendem Geschehen sein – was sich aber gerade nicht allein aufgrund des auf den Normtext gestützten Interpretationsarguments entscheiden lässt. 28 Für die grundsätzliche Einbeziehung sämtlicher Interpretationsargumente in den Interpretationsvorgang Zuleeg, Die Auslegung des Europäischen Gemeinschaftsrechts, EuR 1969, 97, 99 f. 29 Gleichlautend: Art. 225 EAGV. 30 Vertragssprachen sind die dänische, deutsche, englische, finnische, französische, griechische, irische, italienische, niederländische, portugiesische, schwedische und spanische Sprache; durch Art. 61 Abs. 2 der Beitrittsakte 2003 (ABl. 2003 L 236/33) werden auch die estnische, lettische, litauische, maltesische, polnische, slowakische, slowenische, tschechische und ungarische Sprache zu Vertragssprachen. 31 Gleichlautend: Art. 190 EAGV. 32 VO Nr. 1 des Rates vom 15.4.1958 zur Regelung der Sprachenfrage für die Europäische Gemeinschaft (ABl. 1958 Nr. 17/385), zuletzt geändert durch die Beitrittsakte 2003, Anhang II, Kapitel 22 Nr. 1a) (ABl. 2003 L 236/33 [791]).
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Schriftstücke von allgemeiner Geltung in den EU-Amtssprachen33 abgefasst. Zwar ist insoweit eine gleiche Verbindlichkeit der verschiedenen Sprachfassungen nicht ausdrücklich vorgesehen, doch gilt sie wegen der Gleichberechtigung der Mitgliedstaaten und damit ihrer jeweiligen Sprache34 auch im Bereich des Sekundärrechts. Die gleiche Verbindlichkeit der verschiedenen Sprachfassungen ist als argumentbezogene Vorgabe35 insoweit methodenrelevant, als sie es dem Interpreten verbietet, eine einzelne (oder wenige) Sprachfassung(en) den anderen als Ausgangspunkt der Interpretation vorzuziehen und sie somit zur alleinigen Interpretationsgrundlage zu machen. Die Interpretation eines gemeinschaftsrechtlichen Normtextes kann daher prima facie ihren Ausgang nur bei einer Zusammenschau sämtlicher Sprachfassungen des zu interpretierenden Normtextes nehmen.36 Dies ist bei einer Interpretation durch Organe der Gemeinschaft und insbesondere durch die Gemeinschaftsgerichte immerhin möglich, weil diese mit Fachleuten aus sämtlichen Mitgliedstaaten besetzt sind, wird aber schon insoweit als wenig verfahrensökonomisch kritisiert.37 Schlichtweg unmöglich ist ein derartiger Sprachfassungsvergleich allerdings bei der Interpretation eines gemeinschaftsrechtlichen Normtextes durch mitgliedstaatliche Stellen: Es dürfte kaum einen einzelnen Juristen geben, der in der Lage wäre, einen Normtext in sämtlichen Amts- oder Vertragssprachen zutreffend zu erfassen.38 Die Gemeinschaftsrechtsordnung ist aber nach ihrer Struktur ganz überwiegend auf den Vollzug durch die Mitgliedstaaten angewiesen; gemeinschaftsrechtliche Normtexte werden also mehrheitlich auf mitgliedstaatlicher Ebene um- bzw. durchgesetzt39. Fasst man die gleiche Verbindlichkeit der sprachlichen Versionen eines 33 Diese sind im einzelnen in Art. 1 VO Nr. 1 aufgeführt; es sind die Vertragssprachen mit Ausnahme der irischen Sprache. 34 Vgl. zum Grundsatz der Gleichberechtigung der Mitgliedstaaten im Zusammenhang mit dem Sprachenregime der Gemeinschaft Grundmann, Auslegung, S. 218; Priebe, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2000, Art. 290 Rn. 2; Weber, in: v. d. Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EG-Vertrag. 5. Aufl. 1997, Art. 248 EGV Rn. 16; Wichard, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EUVertrag und EG-Vertrag, 2. Aufl. 2002, Art. 290 Rn. 3. 35 Vgl. zur grenzenbezogenen Funktion der Mehrsprachenauthentizität unten III. 1. a). 36 Vgl. Weber, in: v. d. Groeben/Thiesing/Ehlermann, Art. 248 EGV Rn. 15. 37 So etwa von Hintersteininger, Interpretation, S. 251 mit Fn. 40; vgl. ferner Weber, in: v. d. Groeben/Thiesing/Ehlermann, Art. 248 EGV Rn. 14. Bei den Gemeinschaftsgerichten, denen je ein Richter aus jedem Mitgliedstaat angehört, ist der umfassende Sprachfassungsvergleich freilich eher die – allerdings meist in den Entscheidungsgründen nicht dokumentierte – Regel als die Ausnahme, da neben der gerichtsintern ausschließlichen Arbeitssprache (Französisch) innerhalb der jeweiligen Kabinette vielfach auch die eigene Sprachfassung herangezogen wird. 38 Gleiches gilt mutatis mutandis für die Mitglieder eines Spruchkörpers. 39 Unter Durchsetzung wird hier der umfassende Verwirklichungsprozess rechtlicher Vorgaben verstanden, wie ihn die herkömmliche Methodik mit dem Begriffspaar „Auslegung“ und „Anwendung“ kennzeichnet.
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gemeinschaftsrechtlichen Normtextes als Verpflichtung zu einem umfassenden Sprachfassungsvergleich auf, verlangt man somit nicht nur Unmögliches, sondern verhindert zudem die Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten. Eine Lösung, die sowohl der methodologischen Relevanz von Art. 314 EGV und Art. 4 VO Nr. 1 Rechnung trägt als auch die zur Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts in den einzelnen Mitgliedstaaten Berufenen nicht überfordert, kann – wie im Gemeinschaftsrecht üblich – nur anhand der Ziele erarbeitet werden, die mit den genannten Bestimmungen verfolgt werden.40 Diese sind in erster Linie Ausdruck der Gleichberechtigung sämtlicher Mitgliedstaaten, die sich auch in der Gleichbehandlung ihrer jeweiligen Sprachen niederschlägt. Zum anderen gewährleistet der durch sie grundsätzlich geforderte Sprachfassungsvergleich aber auch die Einbeziehung einer Vielfalt an (nicht immer ähnlichen und nie völlig identischen) Ausgangspunkten in den Interpretationsvorgang.41 Daher empfiehlt es sich, für die Interpretation gemeinschaftsrechtlicher Normtexte auf nationaler Ebene den Vergleich von zumindest zwei verschiedenen Sprachfassungen zu fordern, die zwei unterschiedliche Rechtskreise repräsentieren.42 Durch die letztgenannte Anforderung wird gewährleistet, dass der Interpretation Sprachfassungen zugrunde gelegt werden, die potentiell eher und in größerem Umfang divergieren als solche des gleichen Rechtskreises und die daher eine größere Chance bieten, auf unterschiedliche Verständnisvarianten des zu interpretierenden Normtextes aufmerksam zu machen. Zudem ist anzunehmen, dass bei der Interpretation gemeinschaftsrechtlicher Normtexte in den Mitgliedstaaten nicht stets und überall von denselben Sprachfassungen ausgegangen wird. Zwar wird nicht zu verhindern sein, dass verbreitet gesprochene Sprachen wie etwa die deutsche, französische und englische häufiger Eingang in die Interpretation finden werden. Die hierdurch verursachte Beeinträchtigung der Gleichbehandlung aller Vertrags- bzw. Amtssprachen wird aber dadurch aufgewogen, dass sie die Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts auf nationaler Ebene überhaupt erst ermöglicht.
40 Vgl. zur Sonderstellung teleologischer Erwägungen bei der Interpretation des Gemeinschaftsrechts nur Schwarze, in: Schwarze, Art. 220 EGV Rn. 27. 41 Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 154, hebt in diesem Sinne hervor, dass die Mehrsprachigkeit des Gemeinschaftsrechts den dem EuGH verfügbaren Interpretationsspielraum erweitere. 42 Als Rechtskreise in diesem Sinne lassen sich der mitteleuropäische, der romanische, der angelsächsische und der skandinavische Bereich unterscheiden; ähnlich Buck, Auslegungsmethoden, S. 90 f. Die Annahme der Unterscheidbarkeit impliziert nicht die Möglichkeit trennscharfer Abgrenzung. Auch bewirkt gerade das Gemeinschaftsrecht zweifellos eine schrittweise Konvergenz juristischen Denkens in vielen Bereichen. Gleichwohl lässt sich derzeit auf der Ebene der Mitgliedstaaten sicherlich nicht von einer europaweit einheitlichen Rechtsordnung sprechen.
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3. Art. 288 Abs. 2 EGV, Art. 6 Abs. 2 EUV: Auftrag zur Rechtsvergleichung
Nach Art. 288 Abs. 2 EGV43 ersetzt die Gemeinschaft im Bereich der außervertraglichen Haftung den durch ihre Organe oder Bediensteten in Ausübung ihrer Amtstätigkeit verursachten Schaden nach den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind. Art. 6 Abs. 2 EUV44 sieht u. a. vor, dass die Union die Grundrechte achtet, wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Rechtsgrundsätze ergeben.45 In beiden Fällen setzt die Berufung auf die jeweiligen allgemeinen Rechtsgrundsätze voraus, dass diese zunächst in den einzelnen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen ermittelt und untereinander verglichen werden. In den genannten Bereichen – außervertragliche Haftung und Grundrechte – ist der Interpret demnach zur rechtsvergleichenden Interpretation (mitgliedstaatlicher Normtexte) nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, um aus diesen dann einen allgemeinen Rechtsgrundsatz formen zu können, der Bestandteil des Gemeinschaftsrechts ist. III. Grenzenbezogene Normtexte 1. Art 48 EUV, Art. 251 und 252 EGV; Art. 314 und 254 Abs. 1 Satz 1 sowie Abs. 2 Satz 1 EGV: Bindung des Interpreten an den zu interpretierenden Normtext
Art. 48 EUV legt ein förmliches Verfahren für die Änderung der Verträge fest, auf denen die Union beruht; er gilt damit auch für die Änderung der Gemeinschaftsverträge.46 In diesem Verfahren, das als Regelverfahren der Vertragsänderung anzusehen ist,47 spielt weder die Interpretation des Vertrages eine Rolle, noch sind die prototypischen Interpreten des Vertrages, nämlich die Gemeinschaftsgerichte, auch nur erwähnt. Vergleichbares gilt für die in Art. 251 43
Gleichlautend: Art. 188 Abs. 2 EAGV. Die Vorschrift zählt zu Titel I (Gemeinsame Bestimmungen) des EUV und gilt daher für die gesamte Union, also auch für die Gemeinschaften. 45 Der EuGH hat bereits lange vor der Schaffung von Art. 6 Abs. 2 EUV die Befugnis in Anspruch genommen, im Wege des Vergleichs der mitgliedstaatlichen Verfassungsüberlieferungen Gemeinschaftsgrundrechte herzuleiten; vgl. nur EuGH, Slg. 1974, 491, Rn. 13 – Nold; Slg. 1979, 3727, Rn. 15 – Hauer. – Vgl. allgemein zur Rolle der Rechtsvergleichung für die Tätigkeit der Gemeinschaftsgerichte Lenaerts, Le droit, S. 487 ff. 46 Vgl. Cremer, in: Calliess/Ruffert, Art. 48 EUV Rn. 1; Herrnfeld, in: Schwarze, Art. 48 EUV Rn. 1. 47 Vgl. zu den daneben existierenden, abweichenden Verfahren Herrnfeld, in: Schwarze, Art. 48 EUV Rn. 11 ff. Im vorliegenden Zusammenhang sind diese Verfahren jedoch mit dem in Art. 48 EUV geregelten vergleichbar. 44
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und 252 EGV geregelten förmlichen Verfahren zum Erlass sekundärrechtlicher Rechtsakte, die auch bei der Änderung derartiger Rechtsakte anzuwenden sind. Dies deutet darauf hin, dass weder der Vertrag noch Rechtsakte des abgeleiteten Rechts im Wege der Interpretation geändert werden dürfen. Normtexte des Gemeinschaftsrechts sind also bindende Vorgaben, nicht etwa nur freiwillige Zugaben für den Interpreten; schon gar nicht sind sie dessen beliebige Dispositionsmasse. In die gleiche Richtung weisen die bereits erwähnten Bestimmungen, die dem Interpreten die schriftlich fixierte, amtlich dokumentierte Formulierung der Normtexte als Ausgangspunkt seiner Interpretation vorgeben.48 Eine solche Vorgabe hätte keinen Sinn, wenn in zulässiger Weise Interpretationsergebnisse erarbeitet werden könnten, die keinerlei inhaltliche Rückbindung an den Normtext mehr aufweisen – in diesem Fall könnte die Interpretation ebenso gut von jedem anderen Text, etwa einer Gebrauchsanweisung oder einem Arztroman, ihren Ausgang nehmen. Die schriftlich fixierten Normtexte sind im Gemeinschaftsrecht also nicht nur Ausgangs-, sondern auch Ankerpunkt des Interpretationsvorgangs. Es stellt sich freilich die Frage, wie die hierdurch bewirkte Normtextbindung des Interpreten in der gemeinschaftsrechtlichen Methodik im einzelnen ausgestaltet ist und welche Reichweite sie hat. a) Art. 314 EGV, Art. 4 VO Nr. 1: Absage an eine sprachlich determinierte „Wortlautgrenze“ Viele deutsche bzw. deutschsprachige Juristen haben im Hinblick auf die Normtextbindung des Interpreten die Vorstellung lieb gewonnen, sprachliche (oder gar nur: semantische) Konventionen steckten die äußerste Grenze möglicher Interpretation ab; die Annahme einer diese Grenze überschreitenden Bedeutung sei hingegen dem Bereich der Rechtsfortbildung zuzuordnen.49 Am bemerkenswertesten an dieser Vorstellung ist vielleicht die Ausdauer, mit der sie vertreten wird – obwohl sie an (keineswegs mehr revolutionären) sprachwissenschaftlichen Erkenntnissen vorbeigeht,50 im europäischen Vergleich eher singulär als Allgemeingut ist51 und zudem die spezifisch juristische Entscheidungsverantwortung auf Bereiche abwälzt, die keine angemessenen Kriterien zur Rechtfertigung juristischen Entscheidens bereitstellen können. 48 Vgl. zu diesen Bestimmungen – Art. 314 und 254 Abs. 1 Satz 1 sowie Abs. 2 Satz 1 EGV – bereits oben II. 1. 49 Vgl. nur Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 441; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 314 f.; Zippelius, Juristische Methodenlehre, 7. Aufl. 1999, S. 47. 50 Vgl. hierzu etwa Müller/Christensen/Sokolowski, Rechtstext, S. 19 ff. 51 Vgl. Baldus/Becker, Haustürgeschäfte und richtlinienkonforme Auslegung, ZEuP 1997, 874, 883; Grabau, Über die Normen zur Gesetzes- und Vertragsinterpretation, 1993, S. 95; Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, 2001, S. 606 ff.
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Im Gemeinschaftsrecht bietet das Konzept einer anhand sprachlicher Kriterien gezogenen „Wortlautgrenze“ freilich eine weitere offene Flanke: Es ist mit der in Art. 314 EGV und Art. 4 VO Nr. 1 verankerten Mehrsprachenauthentizität des Gemeinschaftsrechts nicht zu vereinbaren.52 Dies folgt freilich nicht allein aus den genannten Bestimmungen, sondern erst aus deren Zusammenwirken mit dem Grundsatz der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts. Dieser verlangt nach ständiger Rechtsprechung des EuGH, dass das Gemeinschaftsrecht in allen Fällen (und damit auch in allen Mitgliedstaaten) einheitlich angewendet wird.53 Es ist freilich kein Geheimnis, dass – mit Ausnahme der Entwurfsfassung(en) – sämtliche Sprachfassungen eines gemeinschaftsrechtlichen Normtextes „nur“ Übersetzungen sind.54 Da auch mit jeder korrekten Übersetzung Bedeutungsverschiebungen verbunden sind, die aus den Unterschieden in der Sprachstruktur und dem spezifischen (z. B. kulturellen) Umfeld jeder Sprache resultieren,55 kann unter Einheitlichkeit nicht Bedeutungsidentität, sondern allenfalls Ähnlichkeit verstanden werden. Selbst wenn es also eine „Wortlautgrenze“ gäbe, so verliefe sie im Gemeinschaftsrecht auf 20 bzw. 21 unterschiedlicher Linien, was nichts anderes hieße, als dass der Interpret einer je nach Sprachfassung unterschiedlich weiten Normtextbindung unterläge. Man könnte diese Diffusität vielleicht noch mit dem Hinweis auf die Geringfügigkeit der Abweichungen zwischen den einzelnen Sprachfassungen abtun. Dieser Hinweis versagt jedoch in den immer wieder vorkommenden Fällen einer deutlich divergierenden Übersetzung. Auch hier müssen angesichts des Grundsatzes der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts alle Sprachfassungen (im wesentlichen) einheitlich interpretiert werden. Vor der Aufgabe, hierbei eine einheitliche Grenze zu ziehen, können sprachliche Kriterien wie etwa die „noch mögliche Wortbedeutung“ nur kapitulieren, da sie den jeweiligen Sprachfassungen immanent sind.56 Die Auflösung von Divergenzen zwischen verschiedenen sprach52 In diesem Sinne auch Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 404; Hoffmann-Becking, Normaufbau und Methode, 1973, S. 297 f.; Vogenauer, Auslegung, S. 408. 53 Vgl. z. B. EuGH, Slg. 1988, 355, Rn. 13 – Barra/Belgien. 54 Zutreffend Braselmann, Übernationales Recht und Mehrsprachigkeit, EuR 1992, 55, 58. 55 Vgl. zur Unmöglichkeit bedeutungsidentischer Übersetzungen Fennelly, Legal Interpretation at the European Court of Justice, Fordham International Law Journal 1997, 656, 660 f.; Loehr, Mehrsprachigkeitsprobleme in der Europäischen Union, 1998, S. 20 ff.; Weber, in: v. d. Groeben/Thiesing/Ehlermann, Art. 248 EGV Rn. 6. – Die hiermit verbundenen Abweichungen zwischen den einzelnen Sprachfassungen sollten nicht nur als Beeinträchtigungen der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts wahrgenommen werden. Sie sind unabdingbar, um gemeinschaftsrechtliche Normtexte in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen verständlich und anschlussfähig zu machen. Ohne sie stünde das Gemeinschaftsrecht dem nationalen Recht schlicht sprachlos gegenüber. 56 Daher sind die Probleme, die Sprachwissenschaftler bei der Beschreibung und Analyse der Mehrsprachenauthentizität des Gemeinschaftsrechts haben (vgl. zu diesen etwa Braselmann, Übernationales Recht, S. 55 ff), alles andere als erstaunlich.
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lichen Versionen eines Normtextes ist aber gerade keine sprachenimmanente Aufgabe, sondern geht über die jeweils einzelne Sprachfassung hinaus. Der Versuch, nur anhand sprachlicher Kriterien eine einheitliche Grenzlinie zu ziehen, scheitert also und ist deshalb unbrauchbar – oder er (ver)führt zur blanken Dezision und ist deshalb inakzeptabel.57 Das Zusammenwirken der in Art. 314 EGV und Art. 4 VO Nr. 1 verankerten Mehrsprachenauthentizität gemeinschaftsrechtlicher Normtexte mit dem Grundsatz der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts verdammt demnach das Konzept der „Wortlautgrenze“ in der gemeinschaftsrechtlichen Interpretationsmethodik zur Bedeutungslosigkeit. Es kann im Gemeinschaftsrecht also geboten sein, einem Normtext im Wege der Interpretation eine Bedeutung zuzuschreiben, die mit einer Sprachfassung (oder auch mehreren) ersichtlich nicht vereinbar ist.58 Damit wird dem Interpreten allerdings kein Freibrief für eine Interpretation ad libitum ausgestellt; er ist auch im Gemeinschaftsrecht an die zu interpretierenden Normtexte gebunden. Die Ausgestaltung dieser Bindung ist allerdings nicht mehr durch unmittelbar methodenrelevante Bestimmungen determiniert. Gleichwohl soll nachfolgend kurz ein mögliches Modell der Normtextbindung in der gemeinschaftsrechtlichen Methodik skizziert werden59.
57 Ein weiteres Dilemma, in das die Mehrsprachenauthentizität das Konzept der „Wortlautgrenze“ stürzt, soll hier nur angedeutet werden. Nach der von zahlreichen deutschen Juristen vertretenen traditionellen Auffassung trennt die „Wortlautgrenze“ Auslegung und Rechtsfortbildung voneinander. Im Falle von Divergenzen zwischen Sprachfassungen bedeutet dies, dass eine einheitliche Interpretation im Hinblick auf einige Sprachfassungen (noch) als Auslegung, im übrigen aber (schon) als Rechtsfortbildung zu qualifizieren wäre. Welchen Zulässigkeitsanforderungen sollte ein solcher Zwitter genügen? Auch hierfür fehlen nachvollziehbare Maßstäbe. Nach zutreffender Ansicht ist dieses Dilemma freilich auch deshalb ein Scheinproblem, weil im Gemeinschaftsrecht von einem einheitlichen Interpretationsbegriff auszugehen ist, der nicht zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung trennt; vgl. hierzu Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 35 ff. (insbesondere 38); Daig, Zu Rechtsvergleichung und Methodenlehre im Europäischen Gemeinschaftsrecht, in: Bernstein u. a. (Hrsg.), Festschrift für Konrad Zweigert 1981, S. 395, 402. 58 Der EuGH ist sich sehr wohl des Umstandes bewusst, dass dies die Rechtssicherheit erheblich beeinträchtigen kann (vgl. EuGH, Slg. 1977, 425, Rn. 11 f. – Kerry Milk). Diesbezüglichen Bedenken legt er jedoch regelmäßig weniger Gewicht bei als dem Grundsatz der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts (vgl. etwa EuGH, Slg. 1996, I-5403, Rn. 25, 28 ff. – Kraaijeveld). In diese Richtung auch Weber, in: v. d. Groeben/Thiesing/Ehlermann, Art. 248 EGV Rn. 16; kritisch jedoch Wichard, in: Calliess/Ruffert, Art. 290 EGV Rn. 13, der dies als Verstoß gegen die rechtsstaatlichen Grundsätze der Bestimmtheit und Rechtssicherheit wertet. – Vgl. andererseits zu den Chancen, die sich aus der von der Mehrsprachenauthentizität des Gemeinschaftsrechts erzwungenen Verabschiedung der Vorstellung einer sprachlich determinierten „Wortlautgrenze“ ergeben, Buerstedde/Christensen/Sokolowski, Leaving Babel, in: Müller/ Wimmer (Hrsg.), Neue Studien zur Rechtslinguistik, 2001, S. 119 ff. 59 Ausführlicher dazu Groh, Die Auslegungsbefugnis des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, § 7, B. III. 2. (im Erscheinen).
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b) Skizze eines Bindungsmodells für die gemeinschaftsrechtliche Methodik: Normtextbindung als juristisch zu determinierende, nicht als sprachlich determinierte Größe Ausgangspunkt der Überlegungen zur Normtextbindung des Interpreten ist die Erkenntnis, dass dieser nicht durch die Sprache, sondern nur durch das Recht gebunden werden kann. Die Normtextbindung ist also nicht durch das sprachlich Mögliche, sondern durch das rechtlich Zulässige determiniert.60 Entscheidend ist daher, welche rechtlichen Erwägungen der Forderung nach einer Bindung an den Normtext im Gemeinschaftsrecht zugrunde liegen. Dies sind die Absehbarkeit des Interpretationsergebnisses, die Gleichmäßigkeit der Rechtsdurchsetzung und die Wahrung einer adäquaten Funktionenteilung zwischen Setzern und Interpreten von Normtexten. Nur eine Orientierung an diesen Gesichtspunkten ermöglicht eine Ausgestaltung der Normtextbindung und eine Bestimmung ihrer Reichweite, die dem Gemeinschaftsrecht und seinen Besonderheiten angemessen ist. Die (weitgehende) Absehbarkeit des Interpretationsergebnisses lässt sich durch die Annahme einer präsumtiven Verbindlichkeit von Präjudizien gewährleisten.61 Präjudizien sind diejenigen gerichtlichen Entscheidungen, die im Hinblick auf gleiche Rechtsfragen und vergleichbare Sachverhalte ergangen sind wie der aktuell von einem Gericht zu entscheidende Fall und die daher für dessen Entscheidung „einschlägig“ sind. Präsumtiv verbindlich sind sie allerdings nur, wenn sie von demselben oder von einem höherrangigen Gericht erlassen wurden.62 Aus der präsumtiven Verbindlichkeit von Präjudizien resultiert die Verpflichtung des Interpreten, einschlägigen Präjudizien grundsätzlich zu folgen bzw. im Falle des Fehlens unmittelbar einschlägiger Präjudizien Interpretationen zu vermeiden, deren Ergebnis anderweitigen Präjudizien widerspricht. Aufgrund der mittlerweile erheblichen Rechtsprechungsdichte im Gemeinschaftsrecht wird der Interpret so durch ein recht engmaschiges Präjudiziennetz eingefangen (umhüllt und zurückgehalten). Er ist von der Präjudizienbindung nur befreit (und kann dann eine neue Masche im Netz knüpfen), wenn Gründe von erheblichem Gewicht für eine Abweichung von Präjudizien nachweisbar sind.63 Dies gilt uneingeschränkt allerdings nur für die Gemeinschaftsgerichte.64 Nationale 60 So auch Christensen, Was heißt Gesetzesbindung?, 1989, S. 286 ff.; Müller/Christensen, Juristische Methodik I, Rn. 505 ff.; Müller/Christensen/Sokolowski, Rechtstext, S. 133; Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 205. 61 Vgl. allgemein zur präsumtiven Verbindlichkeit von Präjudizien Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 1967, S. 243 ff. 62 Die Gemeinschaftsgerichte sind den Gerichten der Mitgliedstaaten zwar nicht übergeordnet, doch haben ihre Entscheidungen für die nationalen Gerichte gleichwohl die Funktion eines Präjudizes. Vgl. zu Ansätzen eines transnationalen (horizontalen) Präjudiziensystems (bezogen auf bestimmte Bereiche des Privatrechts) Berger, Auf dem Weg zu einem europäischen Gemeinrecht der Methode, ZEuP 2001, 4, 16 ff.
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Gerichte können demgegenüber nicht ohne weiteres von einem Präjudiz eines Gemeinschaftsgerichts abweichen. Sofern sie dies beabsichtigen, sind sie jedenfalls dann zur Einholung einer Vorabentscheidung des EuGH nach Art. 234 EGV verpflichtet, wenn sie in letzter Instanz entscheiden.65 In konstruktiver Hinsicht bedeutet die hier skizzierte präsumtive Verbindlichkeit von Präjudizien für die Ausgestaltung der Normtextbindung, dass nur Normtexte in ihrem bereits juristisch bearbeiteten, nämlich in vorangegangenen Entscheidungen interpretierten Zustand interpretationsbegrenzend wirken. Gebunden wird der Interpret zudem nicht nur durch den interpretierten Normtext, sondern durch die Gesamtheit der geltenden Normtexte. Durch die weitgehende Orientierung an Präjudizien wird nicht nur die Absehbarkeit des Interpretationsergebnisses, sondern auch die Gleichmäßigkeit der Rechtsdurchsetzung gewährleistet. Diese ist gegeben, wenn vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich behandelt werden, es sei denn, eine Differenzierung wäre objektiv gerechtfertigt.66 Gerade dies wird durch die grundsätzliche Befolgung von Präjudizien sichergestellt, die Rechtsfragen wie die in der aktuellen Interpretationssituation aufgeworfene betreffen und sich zudem auf vergleichbare Sachverhalte beziehen. Im Hinblick auf die Wahrung der Funktionenteilung zwischen Setzern und Interpreten von Normtexten ist zu berücksichtigen, dass die förmliche Änderung von Normtexten nach Art. 48 EUV bzw. Art. 251 und 252 EGV Aufgabe der Setzer von Normtexten, nicht ihrer Interpreten ist. Die Grenze zur förmlichen Normtextänderung wird jedoch nicht überschritten, wenn sich spätere Interpretationen i. S. der hier vorgeschlagenen Präjudizienbindung grundsätzlich an vorherige Interpretationsergebnisse anlehnen. Hierdurch werden erhebliche interpretative Modifikationen von Normtexten in vielen Fällen zumindest deutlich erschwert. Zwar ist damit nicht ausgeschlossen, dass sich die Interpretation durch eine kontinuierliche und langsame Entwicklung im Laufe der Zeit von ursprünglichen Vorstellungen deutlich entfernt, doch ist dies – insbesondere bei der Interpretation der Verträge – Ausdruck der Dynamik des Gemeinschaftsrechts, deren Wahrung Bestandteil der Funktion der Gemeinschaftsgerichte ist.67 63 Berger, Auf dem Weg, S. 19, verlangt für die Abweichung zwingende sachliche Gründe. – Aus der (wenn auch begrenzten) Möglichkeit der Abweichung von Präjudizien ergibt sich, dass deren Bindungswirkung auf ihrer Überzeugungskraft, nicht auf einer strikten rechtlichen Verbindlichkeit für die übrigen Gerichte beruht. 64 Daher kann das EuG auch von einer ständigen Rechtsprechung des EuGH abweichen, wenn hierfür gewichtige Gründe vorliegen; vgl. beispielhaft den bemerkenswerten Versuch des EuG, zur Verbesserung des Individualrechtsschutzes die restriktive Interpretation der Klagebefugnis in Art. 230 Abs. 4 EGV aufzugeben (EuG, Slg. 2002, II-2365 – Jégo-Quéré, dagegen jedoch EuGH, Slg. 2002, I-6677 – UPA). 65 Vgl. hierzu näher unten 2. a). 66 Vgl. etwa EuGH, Slg. 2000, I-6049, Rn. 35 – Idéal tourisme; EuGH, Slg. 2000, I-9131, Rn. 23 – Luxemburg/Parlament und Rat.
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Nach dem hier skizzierten Modell wird die Normtextbindung in der gemeinschaftsrechtlichen Methodik also durch die präsumtive Verbindlichkeit von Präjudizien eingelöst. Diese bilden die Kette, die den Interpreten an den interpretierten Normtext bindet und von der er nur durch die Kraft besserer Argumente von erheblichem Gewicht loskommt. Für manche deutsche Ohren mag das nach zu wenig klingen – doch sollte man sich hinsichtlich anderer Maßstäbe der Normtextbindung und gerade hinsichtlich der in Deutschland von manchen so hoch geschätzten „Wortlautgrenze“ oder auch der „planwidrigen Regelungslücke“ als Voraussetzung einer Analogie keinen Illusionen hingeben: Über die Einhaltung aller dieser Maßstäbe entscheiden letztlich Richter – also diejenigen, die durch diese Maßstäbe gebunden sein sollen. Normtextbindung ist daher Selbstbindung.68 2. Art. 234 und 68 EGV: Einschränkung der Interpretationsbefugnis nationaler Gerichte und Bindung an die vom EuGH vorgenommene Interpretation
a) Art. 234 EGV Art. 234 EGV regelt das Vorabentscheidungsverfahren zum EuGH, das den nationalen Gerichten unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit gibt bzw. die Pflicht auferlegt, Fragen der Interpretation eines gemeinschaftsrechtlichen Normtextes dem EuGH vorzulegen.69 Zur Vorlage befugt sind Gerichte nach Art. 234 Abs. 2 EGV, wenn sich in einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit eine solche Interpretationsfrage stellt und sie deren Beantwortung zum Erlass ihrer Entscheidung für erforderlich halten. Sofern die Entscheidungen des Gerichts nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, der Rechtsstreit also bei einem letztinstanzlichen Gericht anhängig ist, ist dieses nach Art. 234 Abs. 3 EGV zur Vorlage an den EuGH verpflichtet. Art. 234 EGV ist in mehrfacher Hinsicht methodologisch relevant. Seine schärfste Konsequenz geht über eine Interpretationsgrenze im hier verstandenen Sinne – das Verbot eines bestimmten Interpretationsergebnisses – noch hinaus: Durch die Statuierung einer Vorlagepflicht für letztinstanzliche nationale Gerichte wird deren Interpretationsbefugnis als solche entsprechend eingeschränkt. 67 In diese Richtung auch Pernice, in: Grabitz/Hilf, Art. 164 EGV Rn. 15; Hoffmann-Becking, Normaufbau, S. 346 f. 68 Ebenso Hassemer, Rechtssystem und Kodifikation, in: Kaufmann/Hassemer, Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart. 6. Aufl. 1994, S. 248, 259 f.; vgl. zu den für die Selbstbindung erforderlichen subjektiven Voraussetzungen Müller/Christensen/Sokolowski, Rechtstext, S. 134. 69 Die ebenfalls in Art. 234 EGV geregelte Vorlage zur Überprüfung der Gültigkeit sekundärrechtlicher Rechtsakte spielt im vorliegenden Zusammenhang keine Rolle.
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Während sonstige nationale Gerichte zur eigenverantwortlichen, verbindlichen70 Interpretation gemeinschaftsrechtlicher Normtexte berechtigt und in ihrer Eigenschaft als funktional erstinstanzliche Gemeinschaftsgerichte im übrigen auch verpflichtet sind,71 müssen letztinstanzliche Gerichte dies grundsätzlich dem EuGH überlassen,72 dürfen ihre Entscheidungen also nur auf eine von diesem vorgenommene Interpretation gemeinschaftsrechtlicher Normtexte stützen.73 Eine weitere methodologische Konsequenz des Vorabentscheidungsverfahrens betrifft das vorlegende Gericht und alle weiteren in demselben Rechtsstreit entscheidenden Gerichte. Alle dieses Gerichte sind an die in der Vorabentscheidung des EuGH enthaltene Interpretation gebunden.74 Es ist ihnen somit untersagt, ihrer Entscheidung eine andere als die vom EuGH bestimmte Normtextbedeutung zugrunde zu legen. Für alle sonstigen, nicht mit dem konkreten Ausgangsrechtsstreit befassten und nicht letztinstanzlichen nationalen Gerichte hat die Vorabentscheidung des EuGH die Funktion eines präsumtiv verbindlichen Präjudizes im Sinne der zur Normtextbindung gemachten Ausführungen.75 Von ihr kann also abgewichen werden, wenn hierfür Gründe von erheblichem Gewicht sprechen. Allerdings entspricht es in einem derartigen Fall dem gegenseitigen Respekt und Vertrauen, das ein fruchtbares Kooperationsverhältnis kennzeichnet, dem EuGH durch ein Vorabentscheidungsersuchen die entsprechenden Gründe mitzuteilen und ihm so Gelegenheit zu geben, seine Judikatur zu überdenken. 70 Nota bene: Nicht zur letztverbindlichen, die aufgrund von Art. 234 Abs. 3 EGV beim EuGH monopolisiert ist. Verbindlich ist die gerichtliche Interpretation eines Normtextes aber insoweit, als sie tragender Bestandteil einer verbindlichen Entscheidung ist. 71 Vgl. zu dieser Eigenschaft der nationalen Gerichte GA Jacobs, Slg. 1995, I4704, Rn. 19 – van Schijndel und van Veen; ferner Hirsch, Kompetenzverteilung zwischen EuGH und nationaler Gerichtsbarkeit, NVwZ 1998, 907, 910; Temple Lang, The Duties of National Courts under Community Law, ELR 1997, 3; Wegener, in: Calliess/ Ruffert, Art. 234 EGV Rn. 1. 72 Eine Ausnahme besteht nach vorzugswürdiger Ansicht im Falle einer zweifelsfrei zu beantwortenden Interpretationsfrage, die freilich nicht mit der im französischen Recht anerkannten Figur des acte clair verwechselt werden darf. Vgl. zur Reichweite der Vorlagepflicht auf der Grundlage einer teleologisch ausgerichteten Konzeption der Interpretationsbefugnis des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren Groh, EuZW 2002, 460, 464. 73 Nicht gehindert sind sie allerdings an der Interpretation schlechthin: Bereits die Beurteilung der Erheblichkeit einer Interpretationsfrage i. S. von Art. 234 EGV erfordert eine Interpretation des einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen Normtextes. Verwehrt ist ihnen also nur die verbindliche Interpretation ohne vorherige Einschaltung des EuGH. 74 Grundlegend EuGH, Slg. 1969, 165, Rn. 2 f. – Milch-, Fett- und Eierkontor. Diese Bindung hindert die nationalen Gerichte allerdings nicht daran, den EuGH zu derselben Frage erneut um eine Vorabentscheidung zu ersuchen (vgl. bereits EuGH, Slg. 1969, 165, Rn. 2 f.; ferner EuGH, Slg. 1986, 947, Rn. 15 – Wünsche). In diesem Fall sind sie dann freilich an die spätere Vorabentscheidung gebunden. 75 Vgl. hierzu oben 1. b).
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b) Art. 68 EGV Art. 68 Abs. 1 EGV modifiziert für Titel IV des Dritten Teils des EGV (Visa, Asyl, Einwanderung und andere Politiken betreffend den freien Personenverkehr) das gewöhnliche Vorabentscheidungsverfahren dahingehend, dass nur letztinstanzliche Gerichte vorlageberechtigt, allerdings zugleich vorlageverpflichtet sind. Insoweit hat Art. 68 Abs. 1 EGV keine anderen methodologischen Konsequenzen als Art. 234 Abs. 3 EGV.76 Art. 68 Abs. 3 führt demgegenüber ein selbständiges Interpretationsverfahren ein, in dem der EuGH auf Antrag des Rates, der Kommission oder eines Mitgliedstaates über die Interpretation eines zu Titel IV gehörenden Normtextes oder eines auf einen solchen gestützten sekundärrechtlichen Rechtsakts entscheiden kann.77 Die vom EuGH getroffene Entscheidung ist aufgrund der Ausgestaltung des Verfahrens als objektives Verfahren nicht nur gegenüber dem jeweiligen Antragsteller verbindlich, sondern wirkt erga omnes.78 Daher sind auch die Gerichte der Mitgliedstaaten an die vom EuGH vorgenommene Interpretation gebunden. Letztinstanzliche Gerichte können dem EuGH zwar in Ausübung ihres Vorlagerechts nach Art. 68 Abs. 1 EGV die Interpretationsfrage erneut vorlegen, um ihn zu einer Korrektur seiner früheren Entscheidung zu bewegen.79 Da sie jedoch nach Art. 68 Abs. 1 EGV zur Vorlage nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet sind, ist ihre eigene Interpretationsbefugnis wie bei Art. 234 Abs. 3 EGV eingeschränkt. Für nichtletztinstanzliche Gerichte folgt die entsprechende Einschränkung ihrer Interpretationsbefugnis bereits daraus, dass ihnen nach Art. 68 Abs. 1 EGV schon kein Vorlagerecht zusteht.
76 Vgl. zu diesen vorstehend a). – Wiedmann, in: Schwarze, Art. 68 EGV Rn. 3, nimmt insofern einen Unterschied zu Art. 234 Abs. 3 EGV an, als das betreffende Gericht in dem Verfahren nach Art. 68 Abs. 1 EGV bei Interpretationsfragen keiner Vorlagepflicht unterliege, sondern über ein Vorlageermessen verfüge (in diese Richtung wohl auch Bardenhewer, in: Lenz, EG-Vertrag, 2. Aufl. 1999, Art. 68 Rn. 2). Die Formulierung in Art. 68 Abs. 1 EGV, auf die er sich stützt – „wenn [das Gericht] eine Entscheidung darüber zum Erlass seines Urteils für erforderlich hält“ –, umschreibt jedoch lediglich die Entscheidungserheblichkeit der Interpretation, unter deren Vorbehalt auch die Vorlagepflicht nach Art. 234 Abs. 3 EGV steht (vgl. EuGH, Slg. 1982, 3415, Rn. 10 – CILFIT; ferner Dörr/Mager, Rechtswahrung und Rechtsschutz nach Amsterdam, AöR 2000, 386, 389 f.; Schwarze, in: ders., Art. 234 EGV Rn. 45). 77 Ausführlich zu diesem Verfahren Dörr/Mager, Rechtswahrung, S. 392 ff.; Girerd, L’article 68 CE: un renvoi préjudiciel d’interprétation et d’application incertaines, RTDE 1999, 239, 247 f. 78 Ebenso Dörr/Mager, Rechtswahrung, S. 393; vgl. auch Wiedmann, in: Schwarze, Art. 68 EGV Rn. 10; offen bleibt die Reichweite der Bindungswirkung bei Bardenhewer, in: Lenz, Art. 68 Rn. 7, und Girerd, L’article 68 CE, S. 247. 79 Vgl. Wiedmann, in: Schwarze, Art. 68 EGV Rn. 10.
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3. Art. 249 Abs. 1, 300 Abs. 7 und 307 EGV: Methodologische Konsequenzen des Rangverhältnisses zwischen Normtexten
a) Art. 249 Abs. 1: Vorrang des Primärrechts vor dem Sekundärrecht Nach Art. 7 Abs. 1 Satz 2 EGV80 handelt jedes Gemeinschaftsorgan nach Maßgabe der ihm im EGV zugewiesenen Befugnisse. Dies wird für den Erlass von Rechtsakten in Art. 249 Abs. 1 EGV81 konkretisiert.82 Die Gemeinschaftsorgane können danach Rechtsakte (nur) zur Erfüllung ihrer Aufgaben und nach Maßgabe des Vertrages erlassen. Solche Rechtsakte sind daher nur dann rechtmäßig, wenn sie sowohl formell als auch materiell den Vorgaben des Vertrages genügen. Diese Anforderung begründet eine Stufung des Gemeinschaftsrechts zwischen dem Vertrag einerseits und dem von diesem abgeleiteten, von den Gemeinschaftsorganen erlassenen Recht andererseits.83 An der Überordnung des Vertrages über das abgeleitete Recht haben auch die von der Rechtsprechung auf der Ebene des Vertrages formulierten Rechtsgrundsätze teil,84 so dass sekundärrechtliche Rechtsakte gegenüber sämtlichen Bestandteilen des Primärrechts nachrangig sind. Unmittelbare Konsequenz des Vorrangs des Primärrechts ist zunächst nur, dass dieses für das Sekundärrecht eine Maßstabsfunktion erlangt.85 Im Falle der Unvereinbarkeit sekundärrechtlicher Normtexte mit dem Primärrecht sind erstere daher rechtswidrig. Damit ist allerdings noch nicht die für die Interpretationsmethodik interessantere Frage beantwortet, ob und ggf. inwieweit der Vorrang des Primärrechts dazu berechtigt oder möglicherweise auch verpflichtet, (inhaltliche) Unvereinbarkeiten im Wege der Interpretation zu beheben und damit die Rechtmäßigkeit des sekundärrechtlichen Normtextes zu retten. Die Frage nach dem „ob“ bereitet keine Schwierigkeiten: Für die grundsätzliche Befugnis und auch Verpflichtung des Interpreten zur Konforminterpretation lässt sich anführen, dass diese die Geltung des betreffenden sekundärrechtlichen Normtextes aufrechterhält. Schwieriger sind demgegenüber die Grenzen zu bestimmen, innerhalb derer sekundärrechtliche Normtexte primärrechtskonform interpretiert werden dürfen. Ihr Verlauf hängt von der Stellung ab, die der Kon80
Gleichlautend: Art. 3 Abs. 1 Satz 2 EAGV. Für den vorliegenden Zusammenhang inhaltsgleich: Art. 161 Abs. 1 EAGV. 82 Art. 249 Abs. 1 unterstellt auch das Ergreifen rechtlich unverbindlicher Maßnahmen der Bindung an den Vertrag. Auch diese Maßnahmen können Gegenstand einer Interpretation sein (vgl. etwa EuGH, Slg. 1993, I-363, Rn. 18 – Deutsche Shell AG), bleiben im Folgenden jedoch unberücksichtigt. 83 Vgl. Nettesheim, in: Grabitz/Hilf, Art. 249 EGV Rn. 232; Schmidt, in: v. d. Groeben/Thiesing/Ehlermann, Art. 189 EGV Rn. 21. 84 Biervert, in: Schwarze, Art. 249 EGV Rn. 9; Ruffert, in: Calliess/Ruffert, Art. 249 EGV Rn. 9. 85 Vgl. statt aller Ruffert, in: Calliess/Ruffert, Art. 249 EGV Rn. 9. 81
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forminterpretation im Verhältnis zu dem sonstigen methodologischen Instrumentarium eingeräumt wird. Verdrängt die Konforminterpretation die übrigen Interpretationsargumente und -grenzen, sind Unvereinbarkeiten zwischen primär- und sekundärrechtlichen Normtexten stets interpretativ zu vermeiden. Eine Vorschrift des Sekundärrechts wäre somit selbst dann inhaltlich mit dem Primärrecht in Einklang zu bringen, wenn sämtliche Interpretationsargumente gegen die primärrechtskonforme Bedeutungshypothese sprächen und diese zudem die ansonsten zulässigen Interpretationsgrenzen überschritte. Sekundärrechtliche Normtexte könnten also nur noch wegen formeller Fehler rechtswidrig sein, z. B. wegen der Überschreitung vertraglich zugewiesener Befugnisse oder der Verletzung von Verfahrensvorschriften. Dadurch würde allerdings der Nichtigkeitsgrund der „Verletzung des Vertrages oder einer bei seiner Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm“ in Art. 230 Abs. 2 EGV funktionslos. Hinzu kommt, dass die Überspielung der übrigen Interpretationsargumente und -grenzen die Rechtsklarheit gerade in einem Bereich erheblich beeinträchtigte, in dem diese besonders wichtig ist, nämlich bei der Frage der (Un-)Gültigkeit eines Normtextes: An die Stelle der förmlichen Überprüfung der Gültigkeit in einem dafür vorgesehenen Verfahren – Nichtigkeitsklage nach Art. 230 EGV oder Gültigkeitsvariante des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 234 EGV86 – träte die lediglich interpretative Bereinigung des Widerspruchs zwischen sekundärem und primärem Normtext. Die Konforminterpretation kann daher keinen Vorrang vor dem sonstigen methodologischen Instrumentarium beanspruchen, sondern ist in dieses einzubeziehen. Am überzeugendsten erscheint es dabei, sie am Ende des Interpretationsvorgangs als Auswahlkriterium einzusetzen: Stehen mehrere durch Interpretationsargumente abgestützte und von den Interpretationsgrenzen gedeckte Bedeutungshypothesen als mögliche Interpretationsergebnisse nebeneinander, von denen mindestens eine primärrechtskonform ist, mindestens eine andere jedoch dem Primärrecht widerspricht, so ist als Ergebnis der Interpretation eine primärrechtskonforme Bedeutungshypothese zu wählen. Während der Vorrang des Primärrechts vor dem Sekundärrecht grundsätzlich zu einer „negativen“ Auswahl führt – primärrechtswidriges Sekundärrecht ist aus dem geltenden Normtextbestand auszuscheiden –, wirkt die primärrechtskonforme Interpretation des Sekundärrechts also „positiv“, indem sie die Geltungserhaltung sekundärrechtlicher Normtexte möglichst weitgehend gewährleistet.87 86 Eine ähnliche, allerdings weniger weitgehende Funktion hat auch die Entscheidung über die (unselbständige) Inzidentrüge nach Art. 241 EGV. 87 Die vorstehenden Ausführungen zur primärrechtskonformen Interpretation des Sekundärrechts gelten uneingeschränkt für die Interpretation durch die Gemeinschaftsgerichte. Bei der Interpretation durch nationale Gerichte sind demgegenüber deren Bindungen und die Einschränkungen ihrer Interpretationsbefugnis aus Art. 234 und 68 EGV zu berücksichtigen; vgl. zu diesen bereits oben 2.
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b) Art. 300 Abs. 7 EGV: Vorrang von der Gemeinschaft abgeschlossener völkerrechtlicher Verträge vor dem Sekundärrecht Ein mit dem Vorrang des Primärrechts vor dem Sekundärrecht vergleichbares Rangverhältnis statuiert Art. 300 Abs. 7 EGV,88 nach dem die von der Gemeinschaft abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträge u. a. für die Organe der Gemeinschaft verbindlich sind.89 Diese haben demnach bei ihrer rechtsetzenden Tätigkeit die Bestimmungen der genannten Verträge zu beachten. Sie können daher in den von solchen Verträgen geregelten Sachgebieten den Inhalt von Sekundärrecht nur nach Maßgabe der entsprechenden Verträge gestalten. Art. 300 Abs. 7 EGV ist in gleicher Weise methodologisch relevant wie Art. 249 Abs. 1 EGV, so dass sinngemäß auf die diesbezüglichen Ausführungen verwiesen werden kann. c) Art. 307 EGV: Vorrang völkerrechtlicher Altverträge vor dem Gemeinschaftsrecht Nach Art. 307 Abs. 1 EGV90 werden Rechte und Pflichten aus völkerrechtlichen Verträgen der Mitgliedstaaten, die vor dem 1. Januar 1958 bzw. dem späteren Beitritt des betreffenden Mitgliedstaates abgeschlossen wurden (nachfolgend als „Altverträge“ bezeichnet), durch den EGV nicht berührt. Dies ist freilich nichts anderes als die deklaratorische Wiederholung eines bereits völkergewohnheitsrechtlich geltenden Grundsatzes:91 Eine Partei eines völkerrechtlichen Vertrages kann ihre Rechte und Pflichten aus diesem Vertrag nicht durch den späteren Abschluss eines anderen Vertrages mit einem dritten Staat modifizieren.92 Aufgrund ihrer Unberührtheit genießen Altverträge inhaltlichen Vorrang vor sämtlichen gemeinschaftsrechtlichen Normtexten,93 soweit sie mit diesen konfli88
Der EAGV enthält keinen vergleichbaren Normtext. Tomuschat, in: v. d. Groeben/Thiesing/Ehlermann, Art. 228 EGV Rn. 74, bezweifelt, dass aus Art. 300 Abs. 7 EGV ein Vorrang der von der Gemeinschaft abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträge vor dem Sekundärrecht abgeleitet werden kann. Auch er geht allerdings im Ergebnis von einem solchen Vorrang aus. 90 Im wesentlichen vergleichbar: Art. 105 Abs. 1 EAGV. 91 Dieser ist mittlerweile auch in Art. 30 Abs. 4 lit. b) des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge kodifiziert. Das Übereinkommen ist allerdings auf den EGV und die ihn ändernden Verträge nicht anwendbar, da nicht alle Mitgliedstaaten Vertragsparteien sind; vgl. BGBl. 2002 II, Fundstellennachweis B, S. 527 f. 92 Zur lediglich deklaratorischen Wirkung von Art. 307 Abs. 1 EGV Petersmann, in: v. d. Groeben/Thiesing/Ehlermann, Art. 234 EGV Rn. 4. 93 Dies bedeutet nicht, dass ihnen ein höherer Rang zukäme als dem EGV. Dem Völkerrecht sind derartige Hierarchisierungen bis heute weitgehend fremd; vgl. nur Heintzen, Hierarchisierungsprozesse innerhalb des Primärrechts der Europäischen Ge89
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gieren können, gehen im Konfliktfall also auch dem Primärrecht vor.94 Anders als bei den in Art. 249 Abs. 1 und 300 Abs. 7 EGV geregelten Rangverhältnissen folgt allerdings aus dem in Art. 307 Abs. 1 EGV verankerten Vorrang der Altverträge nicht ohne weiteres deren Maßstabsfunktion für gemeinschaftsrechtliche Normtexte.95 Dies lässt sich in erster Linie damit begründen, dass meist nur ein einzelner Mitgliedstaat oder allenfalls einige wenige Mitgliedstaaten an den jeweiligen Altvertrag gebunden sind. Wäre in einem solchen Fall der altvertragswidrige gemeinschaftsrechtliche Normtext in der gesamten Gemeinschaft rechtswidrig, so würden die Auswirkungen des Altvertrages auf Mitgliedstaaten erstreckt, die weder an ihm beteiligt sind noch sonst von ihm berührt werden. Der mit Art. 307 Abs. 1 EGV verfolgte Zweck wird aber bereits dann erreicht, wenn der altvertragswidrige gemeinschaftsrechtliche Normtext lediglich gegenüber bzw. in den betroffenen Mitgliedstaaten nicht durchgesetzt wird. Die Unvereinbarkeit eines gemeinschaftsrechtlichen Normtextes mit einem nur von einigen Mitgliedstaaten abgeschlossenen Altvertrag führt also nicht zur Rechtswidrigkeit des betreffenden Normtextes, sondern lediglich zu einem partikulären Durchsetzungsverzicht.96 Aber auch in den Fällen, in denen sämtliche Mitgliedstaaten Parteien eines Altvertrages sind, erlangt dieser jedenfalls nicht die Qualität eines unmittelbaren Rechtmäßigkeitsmaßstabes für Gemeinschaftsrecht.97 Anderenfalls könnte ein gemeinschaftsrechtlicher Normtext in einem Verfahren nach Art. 230 EGV für nichtig bzw. in einem solchen nach Art. 234 EGV für ungültig erklärt werden und bliebe dies auch dann, wenn später der meinschaft, EuR 1994, 35, 36; Seidl-Hohenveldern/Stein, Völkerrecht, 10. Aufl. 2000, Rn. 523. 94 Praktisch wirkt sich der Vorrang allerdings nur aus, soweit es um Pflichten eines Mitgliedstaates gegenüber einem Drittstaat geht. Verleiht ein Altvertrag einem Mitgliedstaat Rechte gegenüber einem Drittstaat, so ist der Mitgliedstaat gemeinschaftsrechtlich verpflichtet, diese Rechte nicht auszuüben. Vgl. hierzu bereits EuGH, Slg. 1962, 1, 22 f. – Kommission/Italien. 95 A. A. Manzini, The Priority of Pre-Existing Treaties of EC Member States within the Framework of International Law, EJIL 2001, 781. 787, der den Altverträgen die Funktion eines Rechtmäßigkeitsmaßstabes („parameter of legality“) für gemeinschaftsrechtliche Normtexte zumisst. 96 I. E. ebenso Krück, in: Schwarze, Art. 307 EGV Rn. 4 (auf den betreffenden Mitgliedstaat beschränkter Anwendungsvorrang). 97 Der Altvertrag kann jedoch mittelbar eine Rolle bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit eines sekundärrechtlichen Normtextes spielen. Aus Art. 307 Abs. 1 EGV erwächst den Gemeinschaftsorganen nämlich die Pflicht, die Erfüllung altvertraglicher Verpflichtungen der Mitgliedstaaten nicht zu behindern (vgl. hierzu EuGH, Slg. 1980, 2787, Rn. 9 – Burgoa; ferner Krück, in: Schwarze, Art. 307 EGV Rn. 13; Manzini, Priority, S. 783 f.). Sind alle Mitgliedstaaten Parteien eines Altvertrages, verstößt der Erlass eines altvertragswidrigen Sekundärrechtsakts gegen diese Pflicht. Der sekundärrechtliche Normtext ist daher rechtswidrig, allerdings nicht (unmittelbar) wegen Verstoßes gegen den Altvertrag, sondern wegen Verstoßes gegen Art. 307 Abs. 1 EGV (vgl. hierzu Capotorti, Slg. 1980, 2809, Rn. 7 – Burgoa; undifferenziert jedoch Manzini, Priority, S. 787).
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Widerspruch zu dem Altvertrag, z. B. wegen dessen Modifizierung oder Aufhebung,98 wegfiele. Eine derart einschneidende Konsequenz geht über den mit Art. 307 EGV verfolgten Zweck weit hinaus und lässt sich daher nicht auf den Vorrang der Altverträge stützen.99 Differenzierter ist die Frage einer etwaigen Pflicht zur altvertragskonformen Interpretation des Gemeinschaftsrechts zu beantworten. Zwar sind gemeinschaftsrechtliche Normtexte nicht nach Maßgabe des Altvertrages zu interpretieren, wenn dieser nur einen einzelnen Mitgliedstaat oder einige Mitgliedstaaten bindet, da anderenfalls seine Auswirkungen unnötigerweise auf sämtliche Mitgliedstaaten erstreckt würden. Eine Pflicht zur altvertragskonformen Interpretation des Gemeinschaftsrechts besteht jedoch – in den bereits aufgezeigten Grenzen der Konforminterpretation100 – dann, wenn (fast) alle Mitgliedstaaten Parteien des Altvertrages sind. Anderenfalls würde der betreffende Normtext praktisch funktionslos, da (fast) alle Mitgliedstaaten seine Durchsetzung unter Verweis auf ihre altvertraglichen Verpflichtungen verweigern könnten. Die praktisch wichtigste Folge dieser Sichtweise dürfte die Pflicht zur EMRK-konformen Interpretation des Gemeinschaftsrechts (einschließlich des Primärrechts) sein.101 IV. Fazit Die Konzeption einer gemeinschaftsrechtlichen Methodik muss nicht bei Null anfangen, darf dies aber auch nicht. Vielmehr hat sie den methodenrelevanten Normtexten des Gemeinschaftsrechts Rechnung zu tragen: Sie ist gebunden 98 Dies gilt umso mehr, als die an Altverträgen beteiligten Mitgliedstaaten nach Art. 307 Abs. 2 EGV zur Anwendung aller geeigneten Mittel verpflichtet sind, um Unvereinbarkeiten zwischen Altvertrag und Gemeinschaftsrecht zu beseitigen. Zu diesen Mitteln zählen insbesondere Verhandlungen mit den anderen Parteien des Altvertrages, um diesen zu modifizieren; als ultima ratio kommt aber auch seine Suspendierung oder Kündigung in Betracht, sofern diese völkerrechtlich zulässig sind. Vgl. hierzu Krück, in: Schwarze, Art. 307 EGV Rn. 10 ff.; Manzini, Priority, S. 788 ff.; Schmalenbach, in: Calliess/Ruffert, Art. 307 EGV Rn. 10 f. 99 Konsequenterweise sind auf die Unvereinbarkeit eines sekundärrechtlichen Normtextes mit einem Altvertrag als solchem gestützte Nichtigkeitsklagen zumindest als unbegründet zurückzuweisen; im Falle eines Vorabentscheidungsersuchens ist festzustellen, dass die Unvereinbarkeit mit dem Altvertrag die Gültigkeit des betreffenden Sekundärrechtsakts nicht berührt. 100 Vgl. zu diesen oben a). 101 Die EMRK ist für sämtliche Mitgliedstaaten mit Ausnahme Frankreichs ein Altvertrag; Frankreich ist der EMRK erst 1974 beigetreten (vgl. BGBl. 2002 II, Fundstellennachweis B, S. 323 f.). – Die vorstehenden Ausführungen zur altvertragskonformen Interpretation des Gemeinschaftsrechts gelten uneingeschränkt für die Interpretation durch die Gemeinschaftsgerichte. Bei der Interpretation durch nationale Gerichte sind demgegenüber deren Bindungen und die Einschränkungen ihrer Interpretationsbefugnis aus Art. 234 und 68 EGV zu berücksichtigen; vgl. zu diesen bereits oben 2.
Methodenrelevante Normtexte im Gemeinschaftsrecht
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durch diejenigen Bestimmungen, die als Vorgaben methodologische Anforderungen an sie stellen, und sie ist herausgefordert durch diejenigen Vorschriften, die als Aufgaben gestalterische Aufforderungen an sie richten. Als für die Interpretationsmethodik des Gemeinschaftsrechts unmittelbar relevante Normtexte in diesem Sinne verlangen Art. 314 und 254 Abs. 1 Satz 1 sowie Abs. 2 Satz 1 EGV die Einbeziehung des schriftlich fixierten, amtlich dokumentierten Normtextes in die Interpretation, wobei es nach Art. 314 EGV und Art. 4 VO Nr. 1 eines Sprachfassungsvergleichs bedarf. Art. 288 Abs. 2 EGV und Art. 6 Abs. 2 EUV schreiben ferner für bestimmte Sachbereiche den Einsatz der rechtsvergleichenden Interpretation vor. Art. 48 EUV, Art. 251, 252 und 254 Abs. 1 Satz 1 sowie Abs. 2 Satz 1 EGV binden den Interpreten, gelockert durch Art. 314 EGV und Art. 4 VO Nr. 1, an den interpretierten Normtext, während Art. 234 und 68 EGV nationale Gerichte an vom EuGH vorgenommene Interpretationen binden bzw. die Interpretationsbefugnis dieser Gerichte beschränken. Art. 249 Abs. 1, 300 Abs. 7 und 307 EGV schließlich stellen ein Rangverhältnis zwischen Normtexten her und erfordern daher eine Antwort auf die Frage, ob und inwieweit hieraus eine Pflicht zur Konforminterpretation des rangniedrigeren Normtextes folgt. Die unmittelbar methodenrelevanten Normtexte stecken den Rahmen für die Ausgestaltung einer juristischen Methodik ab, füllen aber den davon umschlossenen Raum nicht im einzelnen aus und fixieren erst recht nicht dessen theoretisches Fundament. Beides bleibt den konkurrierenden methodologischen und rechtstheoretischen Grundpositionen überlassen, die sich insoweit nicht mehr auf normative Vorgaben, sondern nur noch auf die Kraft der besseren Argumente verlassen können.
Inhaltsanalyse als methodisches Instrument zur Untersuchung von Gerichtsentscheidungen, vorgeführt am Beispiel der Rechtsprechung des EuGH Mariele Dederichs und Ralph Christensen Juristen haben es mit Text zu tun. Recht ist Text.1 Und zwar Text en masse. Recht vollzieht sich in Texten und wird als sein Text fortgeschrieben. Über die Arbeit der Gerichte wird viel spekuliert. Dies betrifft gerade die verfolgte Methodik und macht eine fundiertere Überprüfung der vertretenen Meinungen anhand der Praxis der Rechtsprechung nötig. I. Hypothesen über die Arbeit des EuGH und ihre methodische Bewertung In der Literatur begegnet man widersprüchlichen Behauptungen über die Verwendung der Canones als den wesentlichen juristischen Argumentformen.2 Dies betrifft die Häufigkeit der Verwendung und den Stellenwert für die Arbeit der Gerichte. Untersucht werden hier drei Hypothesen: 1.
Die Canones haben nur eine geringe Bedeutung in der Rechtsprechung des EuGH.3
2.
Der Wortlaut der einschlägigen Normtexte dient dem Gericht nur als Einstieg und wird schnell übergangen.4
3.
Der Schwerpunkt der Methodik des EuGH liegt in der Teleologie als einem übermäßigen Einsatz des Zweckarguments.5
1 Siehe Dietrich Busse, Recht als Text. Linguistische Untersuchungen zur Arbeit mit Sprache in einer gesellschaftlichen Institution, Tübingen 1992. 2 Dazu Dennis Patterson, Recht und Wahrheit, Baden-Baden 1999, v. a. S. 195 ff.; Ralph Christensen/Hans Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, Berlin 2001, S. 230 ff., Ralph Christensen/Michael Sokolowski, Die Krise der Kommunikation und die Möglichkeit juristischen Argumentierens, i. Vorb. 3 Dies behaupten vor allem Autoren, die dem EuGH eine politische Rechtsprechung im Sinne eines zu starken juristischen Aktivismus vorwerfen. Vgl. statt vieler Hjelte Rasmussen, On law and policy in the European Court of Justice, Dordrecht u. a. 1986. 4 Jochen Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, Frankfurt/M. u. a. 1997, S. 168 m. w. N.
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Fragt man nach der Quelle solcher „Wissenschaft“, so zeigt sich ein für eine avancierte Theorie der Praxis von Recht6 unhaltbarer Zustand. Denn sie entstammt eher Eindrücken, die vorschnell aus der Betrachtung einzelner Entscheidungen gewonnen wurden, und Spekulationen aus der Distanz der Studierstube. Um hier zu einem realistischeren Bild zu kommen ist daher eine empirische Untersuchung wünschenswert. Dies vor allem deshalb, weil die Gerichte in den seltensten Fällen ausdrücklich sagen, was sie tun. Der EuGH macht hier keine Ausnahme. Sein Vorgehen findet in der Integration von Kontexten in die Entscheidungen und deren Begründungen seinen Niederschlag und ist an den daraus resultierenden Zurechnungs-, Rechtfertigungs- und auch Anordnungstexten erst eigens wieder abzulesen.7 Eine Theorie der Praxis, die sich auf mehr als nur impressionistische Einzelstudien oder illustrative Beispielbetrachtungen stützen möchte, ist daher dringend auf ein Instrumentarium angewiesen, mit dem sie die Verhältnisse in übergreifenden Zusammenhängen, etwa ganzen Zeitlinien oder Strängen von Rechtsprechung, sichtbar machen kann. Als ein solches Instrumentarium bietet sich die sozialwissenschaftliche Methode der Inhaltsanalyse, bzw. Content Analysis an.8 Diese geht allerdings von unhaltbaren sprachtheoretischen Voraussetzungen aus, so dass es einer kritisch rechtslinguistischen Reflexion bedarf, um sie realistisch einschätzen und vor allem sinnvoll einsetzen zu können. II. Inhaltsanalyse als sozialwissenschaftliches Verfahren Anspruch einer avancierten Theorie der Praxis von Recht ist es, sich an das zu halten, „was (. . .) tatsächlich (geschieht), wenn Juristen einen Rechtsfall entscheiden.“9 Die „Tatsachen“ des Rechts sind dabei das Verfahren der Rechts5 Michael Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht, Baden-Baden 1994, S. 221 m. w. N. 6 Grundsätzlich zu deren Aufgaben und Zielen Ralph Christensen/Michael Sokolowski, Theorie und Praxis aus der Sicht der strukturierenden Rechtslehre, in: Rechtstheorie 32, 2001, S. 327 ff. 7 Ausführlich zu dieser Rolle der Canones im Europarecht Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik. Band II: Europarecht, Berlin 2003. Zu Zuordnungs-, Rechtfertigungs- und Anordnungstext in der juristischen Textarbeit Friedrich Müller/ Ralph Christensen/Michael Sokolowski, Rechtstext und Textarbeit, Berlin 1997, S. 116 ff. 8 Grundlegend dazu Derek W. Langridge, Inhaltsanalyse: Grundlagen und Methoden, München/New Providence/London/Paris 1994; Klaus Merten, Inhaltsanalyse. Einführung in Theorie, Methode und Praxis. 2., verbesserte Aufl., Opladen 1995; Werner Früh, Inhaltsanalyse. Theorie und Praxis. 4., überarbeitete Aufl., Konstanz 1998; Hendrik Berth, Inhaltsanalyse, Dresden 1999. Speziell für das Recht etwa auch Jutta Limbach, Die sozialwissenschaftliche Inhaltsanalyse richterlicher Entscheidungen, in: Juristische Arbeitsblätter, Jg. 8, 1976, S. 353 ff.; sowie Christoph Wambsganz, Computerunterstützte Inhaltsanalyse zweier Strafrechtskommentare, München 1999, v. a. S. 1 ff.
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erzeugung und jene Texte, in denen es resultiert.10 Dabei generiert sich auch dieses Verfahren wiederum in der Erzeugung von Recht als Text.11 Will man also wissen, was als Recht geschieht, so hat man sich all diesem Text zuzuwenden. Die Inhaltsanalyse, so wie sie in der Sozialwissenschaft entwickelt wurde, kommt in ihrer Selbstdefinition dem zunächst entgegen. Sie hält sich an das, was „offen zutage“ liegt. Sie versteht sich als „eine Methode zur Erhebung sozialer Wirklichkeit, bei der von Merkmalen eines manifesten Textes auf Merkmale eines nichtmanifesten Kontextes geschlossen wird.“12 Sie hält sich somit an die „Tatsachen“. Die Inhaltsanalyse ist „eine empirische Methode zur systematischen und intersubjektiv nachvollziehbaren Beschreibung inhaltlicher und formaler Merkmale von Mitteilungen (meist zum Zwecke einer darauf aufbauenden, interpretativen und/oder durch Zusatzkriterien gestützten Interferenz).“13 In ihrer modernen, wissenschaftstheoretisch untermauerten Ausprägung hat die Inhaltsanalyse ihren Ursprung in der Sozial- bzw. Kommunikationswissenschaft.14 Dabei beginnt eine gezielte Beschäftigung mit den Eigenschaften von Texten natürlich nicht erst mit dieser. Sie hat es etwa in Gestalt der Bibel- und Gesetzesexegese, sowie überhaupt hermeneutisch textkritischen Bemühungen schon vorher gegeben.15 Auch ist die Textanalyse nicht unbedingt auf die Wissenschaft beschränkt. Schon gar nicht auf die Sozialwissenschaft im engeren Sinne. Entsprechend den jeweiligen Forschungsinteressen und den besonderen textuellen Gegebenheiten, mit denen sie es zu tun hat, macht sie für ihre Hypothesen- und Kategorienbildung, sowie für ihre Schlüsse und die Interpretation ihrer Befunde Anleihen bei den verschiedensten Disziplinen, wie Psychologie, Informationstheorie und Semiotik.16 Zugleich findet sie umgekehrt Anwendung in den verschiedensten Wissenschaften wie etwa Linguistik, Soziologie, Ge9 Friedrich Müller/Ralph Christensen/Michael Sokolowski, Rechtstext und Textarbeit, Berlin 1997, S. 7. 10 Ausführlich dazu Ralph Christensen/Hans Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, Berlin 2001, S. 195 ff. 11 Dazu Gabriele Löschper, Bausteine für eine psychologische Theorie richterlichen Urteilens, Baden-Baden 1999. 12 Klaus Merten, Inhaltsanalyse. Einführung in Theorie, Methode und Praxis. 2., verbesserte Aufl., Opladen 1995, S. 15 (Hervorhebg. weggel.). 13 Dazu Werner Früh, Inhaltsanalyse. Theorie und Praxis. 4., überarbeitete Aufl., Konstanz 1998, S. 107 (Hervorhebg. weggel.). Siehe ursprünglich so auch die „klassische“ Definition bei Bernard Berelson, Content Analysis in Communication Research, New York 1952, S. 18. 14 Zur „Phase der theoretisch-methodischen Fundierung“ der Inhaltsanalyse Klaus Merten, Inhaltsanalyse, S. 46 ff. 15 Zu Vorläufern und Geschichte der Inhaltsanalyse Klaus Merten, Inhaltsanalyse, S. 35 ff. 16 Zur „Phase der interdisziplinären Erweiterung“ der Inhaltsanalyse Klaus Merten, Einführung in Theorie, Methode und Praxis. 2., verbesserte Aufl., Opladen 1995, S. 42 ff.
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schichtswissenschaft, die es alle mit Text zu tun haben.17 Als Methode zur Erhebung sozialer Wirklichkeit ist die Inhaltsanalyse also grundsätzlich auf alle Lebensbereiche übertragbar und über die Sozialwissenschaft hinaus in anderen Wissenschaften anwendbar. Zum Beispiel eben auch in der Rechtswissenschaft.18 Die Vielfalt und Flexibilität der Inhaltsanalyse verwundert angesichts ihres Ursprungs nicht. Sie verdankt sich der Auseinandersetzung mit einem vielschichtigen und schillerndem Phänomen: den Massenmedien. An ihm entzündete sich in 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts die Ausarbeitung der Inhaltsanalyse als einem dezidiert empirischen Verfahren.19 Um diesem Phänomen in seinen spezifischen Ausprägungen und Wirkungen auf die Spur zu kommen stellte sich genau das Problem, auf das die Inhaltsanalyse die methodische Antwort sein sollte. Man hatte es mit einer unüberschaubaren Menge und Vielfalt von textlichen Erscheinungen zu tun. Diese Äußerungsexemplare waren nicht mehr umstandslos in eine unmittelbare Beziehung von Autoren zu ihren Adressaten einzuordnen, so dass man Aussagen über die mit ihnen verbundenen Absichten und über die Wirkungen, die sie zeitigen, allenfalls im Schluss aus ihren Eigenheiten treffen konnte. Zudem wollte man sich dafür nicht mehr auf irgendwelche persönlichen Spekulationen und Eindrücke verlassen. Dieses Problem sollten eben die empirischen Methoden bewältigen. Man wollte die Wirkung von Zeitungsartikeln, Rundfunksendungen und Propagandamaterial aus der Häufigkeit bestimmter Sprachvorkommen und Sprachfiguren erschließen. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass die Erscheinungen auf der Textoberfläche als Indikator für Vorstellungen und Haltungen genommen werden können. Die Definition, die Bernard Berelson dann 1952 in seinem ersten Lehr- und Handbuch der Inhaltsanalyse vorschlägt20, bringt deren Ambitionen auf den Punkt: „Content analysis is a research technique for the objective, systematic, and quantitative description of the manifest content of communication“21, wobei unter letzterem „that body of meanings through symbols (verbal, 17 Vgl. Werner Früh, Inhaltsanalyse. Theorie, Methode und Praxis. 2., verbesserte Aufl., Opladen 1995, S. 14 f. Weiter auch Holger Rust, Inhaltsanalyse. Die Praxis der indirekten Interaktionsforschung in Psychologie und Psychotherapie, München 1983. 18 Siehe Jutta Limbach, Die sozialwissenschaftliche Inhaltsanalyse richterlicher Entscheidungen, in: Juristische Arbeitsblätter, Jg. 8, 1976, S. 353 ff. 19 Siehe etwa Harold D. Lasswell, Propaganda-Technique in the World War, New York 1927; ders., A Provisional Classification of Symbolic Data, in: Psychiatry 1, 1938, S. 197 ff.; ders., Describing the Contents of Communication, in: Bruce Lannes Smith/ders./Ralph D. Casey, Propaganda Communication and Public Opinion, Princeton 1946, S. 74 ff.; Paul Felix Lazarsfeld, Remarks on the Administrative and Critical Communication Research, in: Studies in Philosophy and Social Science 9, 1941, S. 2 ff.; ders./Morris Rosenberg, The Language of Social Research, Glencoe 1955; ders./Neil W. Henry, Latent Structure Analysis, Boston 1968. 20 Siehe Bernard Berelson, Content Analysis in Communication Research, New York 1952.
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musical, pictoral, plastic, gestural) which makes up the communication itself“ zu verstehen ist.22 Berelsons Definition umreißt die bis heute wesentlich gültigen Grundzüge der Inhaltsanalyse als einer systematisch empirischen Methode. Diese heben sie zugleich von anderen, vergleichbaren Verfahren einer Textuntersuchung wie etwa die objektive Hermeneutik23 oder die rhetorische und linguistische Textanalyse24 ab.25 Jedenfalls dann, wenn man mit Werner Frühs Modifizierung dieser Definition als einer „systematischen, intersubjektiv nachvollziehbaren Beschreibung“26 Berelsons Bestimmungen nicht dogmatisch empiristisch eng nimmt,27 sondern sie eher als richtungsweisende Charakteristika des Verfahrens auffasst.28 „Empirisch“ ist das Vorgehen der Inhaltsanalyse dann insofern, als „das Erkenntnisobjekt ein wahrnehmbares bzw. intersubjektiv identifizierbares Korrelat in der Realität besitzt. Dies darf nicht missverstanden werden im Sinne einer konkreten Existenz der Erkenntnisobjekte.“29 Dabei darf dann natürlich auch das Moment der Wahrnehmbarkeit und Beobachtbarkeit“ nicht eng auf „die behavioristische Einschränkung einer primärsinnlichen Erkenntnis“ reduziert werden.30 Vielmehr verweist dies „lediglich“ auf „die prinzipielle Möglichkeit, einen gemeinten Tatbestand intersubjektiv zu reproduzieren, indem angegebene Operationen erneut durchgeführt werden. Die beobachteten empirischen Sachverhalte werden registriert, bzw. in Daten überführt. Die Methode bestimmt da21 Siehe Bernard Berelson, Content Analysis in Communication Research, New York 1952, S. 18. 22 Siehe Bernard Berelson, Content Analysis in Communication Research, New York 1952, S. 13. 23 Siehe Ulrich Oevermann/Tilmann Allert/Elisabeth Konau/Jürgen Krambeck, Die Methodologie einer „objektiven Hermeneutik“ und ihre allgemeine forschungslogische Bedeutung in den Sozialwissenschaften, in: Hans-Georg Soeffner (Hrsg.), Interpretative Verfahren in den Sozial- und Textwissenschaften, Stuttgart 1979, S 353 ff. 24 Siehe Heinrich F. Plett, Einführung in die rhetorische Textanalyse. 8. Aufl., Hamburg 1991; Klaus Brinker, Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden. 5. Aufl., Berlin 2001. 25 Ausführlicher dazu Werner Früh, Inhaltsanalyse. Theorie, Methode und Praxis. 2., verbesserte Auflage, Opladen 1995, S. 48 ff. 26 Werner Früh, Inhaltsanalyse. Theorie, Methode und Praxis. 2., verbesserte Auflage, Opladen 1995, S. 25. 27 Zur Kritik des ersten und zweiten Dogmas des Empirismus Willard Van Orman Quine, Zwei Dogmen des Empirismus, in: ders., Von einem logischen Standpunkt. Neun logisch-philosophische Essays, Frankfurt/M./Berlin/Wien 1979, S. 27 ff.; zur Kritik des dritten Dogma des Empirismus Donald Davidson, Was ist eigentlich ein Begriffsschema, in: ders., Wahrheit und Interpretation, Frankfurt/M. 1990, S. 261 ff. 28 Vgl. ausführlicher dazu Werner Früh, Inhaltsanalyse. Theorie, Methode und Praxis. 2., verbesserte Auflage, Opladen 1995, S. 25 ff. 29 Werner Früh, Inhaltsanalyse. Theorie, Methode und Praxis. 2., verbesserte Auflage, Opladen 1995, S. 25. 30 Werner Früh, Inhaltsanalyse. Theorie, Methode und Praxis. 2., verbesserte Auflage, Opladen 1995, S. 25 f.
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bei die Art und Weise des Zugriffs auf die Realität und die Modalität der Daten.“31 Die Objektivität des Verfahrens ergibt sich also aus der Unabhängigkeit der Durchführung des inhaltsanalytischen Verfahrens von der Person des Forschers. Ihre Systematik verweist auf eine dafür in Anschlag zu bringende prozedurale Operationalisierung der Untersuchung, durch die eine theoretisch angeleitet aussagekräftige Ordnung der Daten ermöglicht werden soll. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, hat die Inhaltsanalyse eine Reihe von Verfahren entwickelt, denen im Wesentlichen nur der Anspruch auf Empirie gemeinsam ist. An erster Stelle stehen die quantitativen Verfahren.32 In ihnen wird das Textmaterial mittels ausgearbeiteter Operationen bestimmten Analysekategorien zugeordnet. Diese, wiederum in einem eigens dafür erstellten Codierverfahren durchgeführten Zuordnungen werden statistisch ausgewertet, wobei sich die Aussagekraft, die Validität und Reliabilität der Ergebnisse, an entsprechenden mathematisch statistischen Modellen und Formeln bemisst. Zudem versucht man in der Regel immer auch, diese durch begleitende Validierungs-, Kontrollund Prüfverfahren zusätzlich zu gewährleisten und abzusichern. Konkret geht es dabei um das Auftreten von Worten, von grammatischen und rhetorischen Wendungen, von formalen bis hin zu stilistischen Merkmalen. Entsprechendes gilt auch für die Merkmale, die nichtsprachliche Sinngebilde auszeichnen, an denen die Inhaltsanalyse ebenfalls interessiert ist. Um selbst Sinn zu machen, ist eine quantitative Inhaltsanalyse natürlich auf eine verstehende Vorarbeit angewiesen. Diese ist vor allem für die Formulierung von sinnvollen Fragestellungen nötig. Und Verständnis für die untersuchten Zusammenhänge ist umgekehrt auch dann wieder gefordert, wenn es gilt, theoretische Folgerungen aus den statistischen Befunden zu ziehen. Neben den quantitativen Verfahren sind daher im Laufe der Zeit zunehmend auch qualititative Verfahren der Inhaltsanalyse entwickelt worden.33 Diese verdanken sich den prinzipiellen Unzulänglichkeiten von Ersteren. Zwar sind quantitative Verfahren ein hervorragendes Instrument um größerer Textmassen Herr zu werden und sie in eine signifikante Ordnung zu bringen. Ihre Grenzen finden sie aber genau auch an den Grenzen der Ausdrücklichkeit. Ihnen ist tatsächlich nur zugänglich, was „schwarz auf weiß“ ins Forschungslabor getragen werden kann. Sie sind der Buchstäblichkeit ausgeliefert. Latente Gehalte, wie Ironie, vermögen sie ebenso wenig zu erfassen, wie Gewichtungen und Qualifizierun-
31 Werner Früh, Inhaltsanalyse. Theorie, Methode und Praxis. 4., überarbeitete Aufl., Konstanz 1998, S. 26. 32 Zur ausführlichen Darstellung Klaus Merten, Inhaltsanalyse. Einführung in Theorie, Methode und Praxis. 2., verbesserte Aufl., Opladen 1995, S. 95 ff.; S. 125 ff. 33 Zur umfassenden Darstellung Philipp Mayring, Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken. 8. Aufl., Weinheim/Basel 2003, S. 42 ff.
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gen. Vor denen versagt die Konzentration auf das reine Vorkommen. Diese Bresche wollen die qualitativen Verfahren schließen, die einem prinzipiell hermeneutischeren Zugang verpflichtet sind. Qualitative Inhaltsanalysen bauen weniger auf Zahl und Korrelation als auf Verstehen und Explikation. Sie schränken den Fokus nicht auf das jeweils aktuell in Erscheinung tretende Textelement ein, sondern stellen dieses in einen weiteren Kontext. In einem allerdings sind und bleiben auch die qualitativen Verfahren durchweg Inhaltsanalyse. In der Verpflichtung auf Empirie. Auch ihnen geht es darum, systematisch zu interpretieren und das heißt, operational geordnet, prozedural explizit diszipliniert und somit auch reproduzierbar. Auch sie bedienen sich dazu eines Kategoriensystems und der Zuordnung interpretativer Zusammenfassungen, Explikationen oder Strukturierungen für die einzelnen Textsegmente. So gesehen ist die Frage, welche der beiden Vorgehensweisen, quantitativ oder qualitativ, für eine Inhaltsanalyse einzuschlagen ist, letztlich keine Frage des Prinzips, sondern eine Frage der Pragmatik. Und letzten Endes hat sie sogar etwas von einem Streit um des Kaisers Bart. Denn im Grunde genommen kommt keines des Verfahren ohne das andere aus, wenn es nicht den Erfolg auf dem Altar eines methodologischen Purismus opfern will. Sinnvolle Kategorien lassen sich nicht ohne Einsicht in den Sinn und Zweck eines Textes aus dem Zusammenhang seiner Entstehung und seines Auftretens heraus aufstellen. Umgekehrt bleibt Interpretation letztlich immer dann in der Sphäre des Beliebens, wenn sie nicht auch durch ganz handfeste Befunde zu Häufigkeit, Verteilung und Korrelation gestützt werden kann. Die Frage nach der Vorgehensweise ist also eine Frage des Forschungsdesigns, das sich aus den mit der Inhaltsanalyse verfolgten Absichten ergibt. Ihre Ergebnisse gewinnt die Analyse aus jenem Ablauf, der sie nachvollziehbar und wenigstens in diesem Sinne objektiv zu machen vermag. Das inhaltsanalytische Verfahren besteht im Wesentlichen aus strukturierenden Schritten, die jeweils durch entsprechende Methoden operationalisiert, und durchgeführt werden.34 Am Anfang und der Analyse noch vorgelagert steht die Festlegung auf ein Interesse der Untersuchung. Dieses entzündet sich an einem sozialen Problemverhalt, der einer Lösung zugeführt werden soll. Die Inhaltsanalyse soll ein adäquates Bild des Ist-Zustandes zeichnen, auf dessen Basis sich der Sollzustand bestimmen lässt. Dies schließt ein kommerzielles Interesse an der Inhaltsanalyse nicht aus. Hat man sich für Ziel und Zweck der Inhaltsanalyse entschieden, so steht als nächstes die Wahl des Analyseobjekts an. Für
34 Entsprechende Ablaufmodelle für die Inhaltsanalyse finden sich etwa bei Werner Früh, Inhaltsanalyse. Theorie, Methode und Praxis. 2., verbesserte Auflage, Opladen 1995, S. 91; Christoph Wambsganz, Computerunterstützte Inhaltsanalyse zweier Strafrechtskommentare, München 1999, S. 5; Philipp Mayring, Qualitative Inhaltsanalyse, S. 34 ff.
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die Analyse ist das geeignete Material auszuwählen und beschaffen. Generell ist die Analyse dabei nicht auf verbalen Text im engeren beschränkt. Sie kann sich durchaus etwa auch auf Bildmaterial beziehen, wenn das zu bearbeitende Problem hierin seinen Niederschlag gefunden hat. Ist das Material beschafft und liegt es in geeigneter, das heißt handhabbar materieller Form vor, so hat man sich für die grundsätzliche Art der Untersuchung zu entscheiden. Dies betrifft die Festlegung darauf, ob man bereits vorhandene theoretische Annahmen und Hypothesen durch die Analyse bestätigen oder widerlegen will, oder ob man neue Hypothesen überprüft. Dabei ist darauf zu achten, dass nicht zirkulär in das Material hineingelesen wird, was sich im Ergebnis erst aus der Analyse ergeben soll. Das heißt, das Vorgehen ist offen zu halten auch für ein Scheitern der angestrebten Folgerungen und Verallgemeinerungen. Der erste Schritt auf dem Weg dahin ist natürlich die Aufstellung der Hypothesen im Einzelnen. In ihnen werden möglichst präzise und trennscharf die Vermutungen über jene Zustände formuliert, die man durch die Analyse bestätigt sehen will. Dabei kann es sich auch negativ darum handeln, dass bestimmte Umstände, die man eigentlich hätte erwarten können, nicht gegeben sind. Die Inhaltsanalyse ist daher die Nagelprobe auf solche Gegebenheiten. Sind die Hypothesen aufgestellt und die Analyseziele im Einzelnen bestimmt, so steht die Wahl oder fallweise auch erst die Entwicklung eines geeigneten Verfahrens an, um diese Ziele zu erreichen. Dabei ist „die Auswahl geeigneter inhaltsanalytischer Verfahren (. . .) grundsätzlich vom Ziel der Analyse, von der Beschaffenheit des Analyseobjekts und von den zur Verfügung stehenden Kapazitäten und Möglichkeiten, die sich für die Verfahrensdurchführungen ergeben, abhängig.“35 Die Durchführung des inhaltsanalytischen Verfahrens vollzieht sich im Wesentlichen in drei Schritten. Am Anfang steht die eigentliche Textanalyse. In ihr werden die interessierenden Textmerkmale identifiziert, codiert, das heißt für eine Zuordnung zu den Analysekategorien markiert und diesen zugeordnet. Mit diesem Verfahren wird der Text in eine Datenmenge konvertiert, die sich anhand von Kriterien ordnen lässt. Der Text wird damit einer Auswertung der so gewonnenen Beschreibungsdaten zugänglich. Dafür „werden durch die Definition von Indikatoren, die aus den Beschreibungsdaten direkt oder indirekt gewonnen und in einem weiteren Schritt zu Indizes verbunden werden können, weitere Informationen bereitgestellt, die bei der anschließenden Interpretation der Ergebnisse die Basis für die Inferenz sind.“36 Die Auswertung selbst kann in einer quantitativ oder qualitativ orientierten Weise vorgenommen werden. So oder so bereitet sie den Boden für Interpretation der Ergebnisse. 35 Christoph Wambsganz, Computergestützte Inhaltsanalyse zweier Strafrechtskommentare, München 1999, S. 13. 36 Christoph Wambsganz, Computergestützte Inhaltsanalyse zweier Strafrechtskommentare, München 1999, S. 22.
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III. Zur rechtslinguistischen Kritik inhaltsanalytischer Grundannahmen Grundgedanke der Inhaltsanalyse ist, dass „von bestimmten Merkmalen eines manifesten Inhalts sinnvollerweise auf Merkmale des nichtmanifesten Kontextes geschlossen“ werden kann.37 Der Sinn, den das machen soll, ergibt sich für die Inhaltsanalyse aus der von ihr herkömmlich zugrunde gelegten Vorstellung von Kommunikation. Es ist dies das althergebrachte informationstheoretisch nachrichtentechnische Modell.38 Danach soll sich Kommunikation entlang einer Kette von Sender, Nachricht und Empfänger abspielen. Über diese tritt der Sender mit seinen spezifischen Eigenschaften, Absichten und Erwartungen im Medium der Kommunikation mit dem Empfänger in Kontakt, der gleichfalls spezifische Eigenschaften aufweist, bestimmte Absichten hegt und gewisse Erwartungen hat. Die Brücke, gewissermaßen, schlägt die Nachricht, indem der Sender seine besonderen Anliegen aktuell in eine Mitteilung encodiert, die dann anhand der Zeichen, durch die diese in Erscheinung tritt, vom Empfänger wiederum decodiert wird. Genau an diesem Kommunikationsinhalt ist die Inhaltsanalyse interessiert. Dabei kommt es ihr darauf an, sich diesen aus den manifest übermittelten Zeichen und Signalen zu erschließen. Und je nachdem, in welche Richtung sie dies tut, soll sich ihr Untersuchungsansatz bestimmen.39 Gilt ihr Augenmerk dem „Sender“, indem sie vom manifesten Text auf die mit ihm verfolgten Absichten und Ziele schließen will, so verfolgt sie einen diagnostischen Ansatz. Gilt dagegen ihr Augenmerk dem „Empfänger“, indem sie vom manifesten Text auf die mit ihm einhergehenden Wirkungen schließen will, so verfolgt sie einen prognostischen Ansatz. Beides jedoch ist gleichermaßen illusorisch. Die Möglichkeit dazu, dies ernsthaft im Sinne einer Inferenz vom Sichtbaren des Texts als Zeichen auf eine ihm als seine Bedeutung innewohnende oder unterliegende Wirklichkeit, fällt mit dem „naiv-wörtliche(n) Inhaltsbegriff“. Der sieht „Bedeutung als real existierender Teil eines sprachlichen Zeichens; man glaubt, dass der ,Inhalt‘ in den Wör37 Christoph Wambsganz, Computergestützte Inhaltsanalyse zweier Strafrechtskommentare, München 1999, S. 3. 38 Ursprünglich bei Claude E. Shannon/Warren Weaver, The Mathematical Theory of Communication, Urbana 1949. Zum inhaltsanalytischen Kommunikationsmodell im engeren Harold D. Lasswell, The Structure and Function of Communication in Society, in: Lyman Bryson (Hrsg.), The Communication of Ideas, New York 1948, S. 37 ff., 37. Ansonsten siehe etwa Werner Früh, Inhaltsanalyse. Theorie und Praxis. 4., überarbeitete Aufl., Konstanz 1998, S. 41 f.; Christoph Wambsganz, Computerunterstützte Inhaltsanalyse zweier Strafrechtskommentare, München 1999, S. 3 und in differenzierterer Form selbst Philipp Mayring, Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken. 8. Aufl., Weinheim/Basel 2003. Kritisch dazu Klaus Merten, Inhaltsanalyse. Einführung in Theorie, Methode und Praxis. 2., verbesserte Aufl., Opladen 1995, S. 57 ff., 74 ff. 39 Dazu Werner Früh, Inhaltsanalyse. Theorie, Methode und Praxis. 2., verbesserte Auflage, Opladen 1995, S. 42 f.
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tern und Sätzen einfach ,drinsteckt‘ und durch Sprechen oder Schreiben an die ,Empfänger‘ einfach ,übertragen‘ werden kann. Man nennt diese uralte Semantikauffassung auch ’Tennisball-‘ oder ’Transport-Modell‘.“40 Dieses unterkomplexe Modell ist von der Sprachwissenschaft und auch der Sozialwissenschaft überwunden worden.41 Auch im kommunikativen Alltag wird man sehr schnell auf seine Unhaltbarkeit gestoßen: „beim Aneinander-Vorbei-Reden, beim Verständnis- oder Formulierungsstreit, wenn man verwundert feststellen muss, dass der Sinn des Gesprochenen oder Geschriebenen manchmal nicht genau aus dem besteht, was man selbst mit den Wörtern zu ,verbinden‘ gewohnt ist, und man versucht ist, das, was andere damit ,verbinden‘, als ,falschen‘ Gebrauch oder ,Missbrauch‘ der Sprache abzutun.“42 All dies vermag eine dem Repräsentationsgedanken verfallene Sprachtheorie nicht angemessen zu erfassen.43 Sie ist immer dann im Spiel, wenn Juristen glauben machen wollen, dass Normtexte das Recht als einen ihnen zugrunde liegenden Gedanken enthalten. „Erst jenseits der bloßen Schrift“ also, jenseits dessen, was die Inhaltsanalyse sich als „manifestem Text“ zum Objekt machen will, „liegt als Meinen, Idee oder gemeinte Idee der volle Sinn des Textes. Diese geistigen Entitäten gehen dem Schreiben voraus und werden vom Text nur nachgezeichnet oder ausgedrückt.“44 Entsprechend diesem „alte(n) theologische(n) Modell von der Sprache als Kleid des Gedankens“45 soll dann auch die Inhaltsanalyse den wahren Gehalt der untersuchten Texte enthüllen. Alles was diese an Merkmalen aufweisen, gilt als Indikator für die in ihnen enthaltene Textbedeutung. Dies muss aber ebenso scheitern wie das entsprechende juristische Ansinnen, das Recht auf dem Weg der Auslegung aus dem Gesetz zu „ermitteln“. 40 Peter von Polenz, Deutsche Satzsemantik. Grundbegriffe des Zwischen-den-Zeilen-Lesens. 2., durchgesehene Aufl., Berlin/New York 1988, S. 23. 41 Für die Inhaltsanalyse Klaus Merten, Inhaltsanalyse. Einführung in Theorie, Methode und Praxis. 2., verbesserte Aufl., Opladen 1995, S. 75 f. 42 Peter von Polenz, Deutsche Satzsemantik. Grundbegriffe des Zwischen-den-Zeilen-Lesens. 2., durchgesehene Aufl., Berlin/New York, S. 23. Entsprechend mit der bekannten radikalen Konsequenz, „dass es so etwas wie Sprache nicht gibt“ dann Donald Davidson, Eine hübsche Unordnung von Epitaphen, in: Eva Picardi/Joachim Schulte (Hrsg.), Die Wahrheit der Interpretation. Beiträge zur Philosophie Donald Davidsons, Frankfurt/M. 1990, S. 203 ff. zu den sogenannten „Malapropismen“. 43 Siehe beispielsweise Ingeborg Maus, Zur Problematik des Rationalitäts- und Rechtsstaatspostulats in der gegenwärtigen juristischen Methodik am Beispiel Friedrich Müllers, in: Wolfgang Abendroth/Bernhard Blanke/Ulrich K. Preuß et al., Ordnungsmacht? Über das Verhältnis von Legalität, Konsens und Herrschaft, Frankfurt/M. 1981, S. 153 ff. Kritisch dazu Ralph Christensen, Was heißt Gesetzesbindung. Eine rechtslinguistische Untersuchung, Berlin 1989, S. 228 ff., 237 ff. 44 Ralph Christensen, Was heißt Gesetzesbindung. Eine rechtslinguistische Untersuchung, Berlin 1989, S. 228. 45 Ralph Christensen, Was heißt Gesetzesbindung. Eine rechtslinguistische Untersuchung, Berlin 1989, S. 228.
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Damit dies auch nur eine Chance hätte zu gelingen, müsste die Bedeutung des Textes unabhängig vom Verstehen vorliegen. Sie müsste sich immer gleich bleiben. Bei Licht besehen haftet dem etwas Absurdes an. Wäre es so, dass der Text seine Bedeutung immer schon mitbringt und dem Leser sozusagen eingibt, so könnte überhaupt gar keine Notwendigkeit bestehen, ihn zu interpretieren. Der Text müsste seine Bedeutung schlicht offenbaren. Manifestation und Latenz fielen zusammen. Dann aber macht es keinen Sinn mehr zwischen dem Text als einem Exemplar, einer Zeichenkette und der Textbedeutung zu unterscheiden. Das heißt aber auch, dass das Verstehen als die postulierte Brücke entfällt. Der absolut verständliche Text wäre der prinzipiell nicht zu verstehende. Natürlich ist dem nicht so. Aber selbst wenn man sich für einen Moment auf den Gedanken einer dem Text innewohnenden Bedeutung einlässt, so gibt dieser nichts her. Denn wenn der Leser diese Bedeutung für sich erkennt und sich zu eigen macht, ist und bleibt er es, der dies tut. Egal, ob er damit vollkommen mit dem übereinstimmt, was der Autor dem Text als Sinn zugedacht hat oder nicht, und egal, ob er sich in seinen Reaktionen auf den Bahnen bewegt, die der Produzent des Textes ihm vorgesehen hat, es ist der Interpret, der dem Text damit seine Lesart, seine Bedeutung gibt. Die dem Text eigene, innewohnende Bedeutung zeigt alle Züge jenes Käfers in der Schachtel, mit dem Ludwig Wittgenstein die inneren, mentalen Zustände in Hinblick auf ihre unmittelbare Erkenntnis, auf den unmittelbaren Zugang zu ihnen verglichen hat.46 Sieht man die Schachtel von außen, weiß man nicht, ob er darin ist oder nicht. Man kann die Schachtel schütteln, an ihr horchen und allerlei Anzeichen finden, sprich sich auf die Worte und Zeichen des Textes einen Reim machen. Die mögen einen zu dem Schluss kommen lassen, dass es gar nicht anders sein kann, als dass ein Käfer darin ist, sprich zu der Überzeugung kommen, dass der Text dies und nichts anderes besagen mag. Macht man jedoch die Schachtel auf, so fliegt der Käfer davon und man weiß wieder nicht, ob er „wirklich“ und „tatsächlich“ darin war. Schreibt man also dem Text die eigene Interpretation als genau seine Bedeutung zu, so weiß man doch wieder nicht, ob man sich darüber irrt oder nicht. Denn seiner äußerlichen Anzeichen entkleidet, hat man nichts anderes als diese Bedeutung. Und die ist ja eben nicht mehr als der Sinn, den man selbst dem Text gemacht, zugewiesen hat. Die dem Text innewohnende Bedeutung „hebt sich weg, was immer (sie) war.“47 Die Lehre daraus ist, dass Bedeuten immer Interpretieren ist. Textbedeutung verdankt sich immer der semantisierenden Arbeit an der Zeichenkette. Juristen, die es immer mit dem Widerstreit der Lesarten zu tun haben über die immer nur entschieden und nie befunden werden kann, müssten dies eigentlich am besten wissen. Es betrifft 46 Siehe Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen. Werkausgabe Band 1, Frankfurt/M. 1984, § 293. 47 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen. Werkausgabe Band 1, Frankfurt/M. 1984, § 293.
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die „Auslegung“ von Gesetzen genauso wie den grauen Alltag oder das wissenschaftlich methodisch angeleitete Bemühen um die Analyse von „Inhalten“. Texte stehen nicht für ihre Bedeutung, sondern ihre Interpreten stehen anhand der Texte für deren Bedeutung ein. Daher macht die Frage keinen Sinn, „wie die Bedeutungsstruktur die Regeln der Auslegung determiniert“, sondern zu fragen ist, „wie die von Juristen geübte Praxis der Textarbeit die Bedeutung juristischer Texte konstituiert.“48 Ebenso macht die Frage keinen Sinn, wie der Text als Zeichenkette die Regeln zu seinem Gebrauch und seinem Verständnis vorgibt, sondern es ist zu fragen, wie die kommunikative Spracharbeit daran seine Bedeutung schafft. Damit fällt zwar einerseits die kommunikationstheoretische Grundkonstruktion, die die Schlüsse und Inferenzen der Inhaltsanalyse tragen soll. Zugleich eröffnet sich aber andererseits auch eine Perspektive für deren Einsatz als ein operational diszipliniertes Verfahren des Textverstehens. Es ist nicht ein Sender der über einen dem Empfänger gleichermaßen eigenen Code seine Botschaft übermittelt. Nicht der Code legt fest, was die Zeichen bedeuten. Vielmehr bedienen sich die Beteiligten ihres Wissens um den Zeichen Bedeutung zuzumessen, buchstäblich zu „geben“. Diese steht damit aber auch in der Wanderung des Textes von Kontext zu Kontext, mit der Weitergabe des Textes von Leser zu Leser und mit dem Weitertragen der Worte von Interpret zu Interpret immer wieder neu auf dem Spiel und gerät so auch mit jedem Akt des Verstehens, der diese Bedeutung dem Text „aufpfropft“ und zumisst, wieder ins Gleiten. Der Sinn liegt nicht im Text, sondern in der Hand seines Lesers. Da dies aber eben allein auf praktischen Fertigkeiten beruht, können solche Bedeutungen in der Vergegenwärtigung durch Reflexion beim Namen genannt, „dingfest“ gemacht werden und man kann an ihnen arbeiten, sie entwickeln. Inhaltsanalyse als ein linguistisch reflektiertes Verfahren ist nichts anderes als eines der Instrumente, derer man sich dafür bedienen kann. Inhaltsanalyse ist für eine Rechtslinguistik, die ernsthaft an der Praxis interessiert ist, an dem, „was tatsächlich“ im Gerichtssaal und mitunter auch auf seinen Fluren „geschieht“, die probate Handhabe, sich das Material zur Übersicht aufzubreiten. Sie ist allenfalls in diesem Sinne „empirisch“. Wenigstens aber ist sie das. Urteile und andere juristische Textsorten, wie etwa Kommentare, können in einer intersubjektiv kontrollier- und nachvollziehbaren Weise miteinander verglichen und unter den verschiedensten Gesichtspunkten bewertet werden.49 Befördert wird dies vor allem dadurch, dass sich, im Fall der Unter48 Ralph Christensen, Was heißt Gesetzesbindung. Eine rechtslinguistische Untersuchung, Berlin 1989, S. 233. 49 Dazu die Untersuchung von Mariele Dederichs, Die Methodik des EuGH. Häufigkeit und Bedeutung methodischer Argumente in den Begründungen des Gerichtshofes der europäischen Gemeinschaften, Baden-Baden 2004 sowie Christoph Wambs-
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suchung von Gerichtsentscheidungen etwa, der Inhaltsanalytiker nicht unmittelbar an dem Disput über die Richtigkeit richterlicher Entscheidungen beteiligt. Sein Interesse ist das des unbeteiligten, leidenschaftslosen Betrachters und allenfalls in diesem Sinne „objektiv“. Aber wenigstens ist es das. Diszipliniert wird diese Neutralität durch die Operationen des inhaltsanalytischen Verfahrens. Das Interesse gilt allein etwa der Analyse eines Urteils im Hinblick auf kategorisierte Textelemente, um zu Aussagen etwa über Methodik eines Gerichts zu gelangen.50 Allerdings bedeutet die Neutralität des Verfahrens und seine Resistenz gegenüber der Person des Forschers eben nicht die Unabhängigkeit von diesem. Sein Wissensstand, sein Verständnis des Untersuchungsgegenstandes und von dessen praktischer Bedeutung wird wesentlich bei der Auswahl der Daten involviert sein. Dieser Einfluss setzt sich natürlich auch in die Aufbereitung des Materials für die Untersuchung in Gestalt der Kategorisierungen und Codierungen fort. Und das Ergebnis wird immer so gut oder so schlecht sein, wie es das Fingerspitzengefühl für die Relevanz der Erscheinungen dafür ist. Die Qualität der Auswertung und der Schlussfolgerungen, die aus der Analyse gezogen werden, wird immer entscheidend von der Güte der dafür veranschlagten Theorien abhängen, insbesondere vom Stand der Semantik und Pragmatik, die man sich zu Eigen macht.51 All dies aber sind eigentlich Selbstverständlichkeiten für den, der sich überkommenen positivistischen Illusionen entledigt hat hinsichtlich seines Begriffs von Recht, von Sprache und auch in Hinblick auf die Methodologie. Dies vorausgesetzt ist die Inhaltsanalyse ein wichtiges Instrument, um sich im Interesse rechtslinguistischer Fragestellungen die Masse an juristischem Text fundiert zu erschließen. Es erlaubt, die weiten Flächen rechtlicher Entscheidungen und Begründungen, sowie von deren Kommentierung und Kritik zu parzellieren und sie sich in Segmenten von Bedeutsamkeit selektiv zuzubereiten. Konkret heißt das etwa hier, dass eine Theorie der Praxis von Recht dadurch in die Lage versetzt ist, frei von spekulativem Impressionismus dem Ist-Zustand etwa der Argumentationskultur eines Gerichts wie dem EuGH dingfest zu machen und entsprechend „realistisch“ zu untersuchen. So gesehen ist die Inhaltsanalyse, gemessen an den Erfahrungen, die man mit ihr auf anderen Gebieten schon gemacht hat, diesseits aller spekulativ kommunikationstheoretischen Überfrachtung auch für die Rechtswissenschaft ein durchaus vielversprechendes Verfahganz, Computergestützte Inhaltsanalyse zweier Strafrechtskommentare, München 1999. 50 Siehe etwa auch schon die Untersuchung Eike von Savigny, Die Überprüfbarkeit der Strafrechtssätze. Eine Untersuchung wissenschaftlichen Argumentierens, Freiburg/ München 1967. 51 Für den Untersuchungsaufbau von Inhaltsanalysen im Einzelnen interessante Hinweise und Anregungen finden sich etwa bei Peter von Polenz, Deutsche Satzsemantik. Grundbegriffe des Zwischen-den-Zeilen-Lesens. 2., durchgesehene Aufl., Berlin/New York.
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ren. Und sie ist, von Ausnahmen einmal abgesehen,52 von dieser bisher viel zu wenig beachtet worden. Ihr Potential wird bis heute noch weithin unterschätzt. Dies betrifft vor allem ihre Systematik im Umgang mit größeren Textzusammenhängen. Im Bereich der Urteilskritik bedeutet dies beispielsweise, dass diese nicht mehr nur selektiv betrieben werden kann. Die Entscheidungen eines Gerichts können über einen längeren Zeitraum systematisch analysiert werden.53 In Hinblick auf die hier eingangs aufgeführten Thesen zum Gebrauch der Canones durch den EuGH etwa, führte bereits die Untersuchung nur eines vollständigen Jahrgangs der veröffentlichten Entscheidungen zu einem gegenüber den Spekulationen in der bisherigen Literatur ganz neuen Bild von der Bedeutung der methodischen Argumente in den Begründungen des EuGH. IV. Das Vorgehen der Inhaltsanalyse am Beispiel der Rechtsprechung des EuGH Inhaltsanalytiker tun, was Menschen im Prinzip von je her getan haben, wenn sie sich genötigt sahen, die sie umgebenden Erscheinungen zum Zeichen nehmen und so deren Bedeutung für sich und ihr Leben zu ergründen. „Der Basisgedanke, der der Inhaltsanalyse zugrunde liegt, ist so alt wie die Menschheit selbst. Wenn Menschen aus einer Naturkatastrophe etwa auf den Zorn der Götter schließen, betreiben sie Inhaltsanalyse, um intuitiv ihr soziales Umfeld zu erfassen. Sie schließen hierbei von der Beschaffenheit eines manifesten Inhalts, der in diesem Fall aus den Folgen der Katastrophe besteht, auf nicht offensichtliche Umstände, wie im Beispielfall die auf die Laune der Götter. Diese Art zu schlussfolgern ist Hauptbestandteil aller Formen der Inhaltsanalyse und wird Inferenz genannt.“ Wobei es sich bei der Inferenz dann des näheren um die „logische Schlussfolgerung aufgrund aufbereiteten Wissens“ handelt.54 Die Entwicklung der modernen Inhaltsanalyse besteht in dem Bemühen, für diese „Aufbereitung des Wissens“ um die signifikanten Zusammenhänge zwischen dem, was vor Augen steht und dem, was dann unter den konkreten Umständen davon zu halten ist, verfeinerte quantitative und qualitative Verfahren verfügbar zu machen und anzuwenden.
52 Als Beispiele einzelner Untersuchungen etwa, Gerhard Fezer, Die erweiterte Revision – Legitimierung der Rechtswirklichkeit? Inhaltsanalyse eines Jahrgangs unveröffentlichter Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen, Tübingen 1974; Margret Rottleuthner-Lutter, Gründe von Ehescheidungen in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Inhaltsanalyse von Gerichtsakten, Köln 1992. 53 Jutta Limbach, Die sozialwissenschaftliche Inhaltsanalyse richterlicher Entscheidungen, in: Juristische Arbeitsblätter, Jg. 8, 1976, S. 353 ff., 355. 54 Christoph Wambsganz, Computergestützte Inhaltsanalyse zweier Strafrechtskommentare, München 1999, S. 1.
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Verständigung ist ein produktiver Prozess. Der Sinn von Äußerungen und Texten ergibt sich nicht einfach aus ihnen. Daher sagt etwa auch ein Gesetz dem Juristen nicht einfach, was er zu tun und zu lassen hat. Dies hat er unter Aufbietung seiner Kunst für sich herauszufinden. Generell muss also die praktische Bedeutsamkeit der jeweiligen Texte von den Beteiligten immer wieder erst hergestellt werden. Und die Bedeutung einer Äußerung oder eines Textes ist nicht in ihm enthalten, so dass sie in diesem Sinne aus ihm herauszulesen wäre. Vielmehr ist sie von den Beteiligten unter Aufbietung ihrer kommunikativen Fähigkeiten immer wieder erst herzustellen. Recht verdankt sich nicht einem sich heftig in das Bundesgesetzblatt encodierenden Gesetzgeber und wohnt so auch nicht dem Normtext inne. Und genauso verhält es sich mit den von Gerichten wie etwa dem EuGH anhand ihrer Entscheidungen erzeugten Recht. Es verdankt sich allein der sinngebenden Arbeit am Text, die mit jeder Lektüre wieder neu aufzunehmen und zu leisten ist. Gelingen kann dies, weil und insofern die Beteiligten wissen, was zu tun ist, um in der Verständigung zum Ziel und zum gewünschten Erfolg zu kommen. Und das heißt vor allem zu wissen, welcher Mittel man sich in welcher Weise dazu bedient. Was bleibt ist also, dass Äußerungen und Texte in der Regel nicht blindlings ins Blaue hinein gemacht werden. Vielmehr werden sie vom Produzenten auf die mit ihnen verfolgten Absichten und Zwecke hin angelegt. Denn er „will verstanden werden. Also äußert er Worte, von denen er glaubt, dass sie in bestimmter Weise interpretiert werden können und tatsächlich interpretiert werden.“55 Von daher können sie auch ihre Wirkung tun, indem der Interpret, der Rezipient sich eine bestimmte Meinung über sie bildet und die Konsequenzen daraus zieht. Dazu kommt er aufgrund seiner Annahmen darüber, wie jemand, der diese Worte gebraucht, wohl verstanden werden will. Und was für sprachliche Äußerungen gilt, gilt für Kundgaben allgemein. Verständigung ist ein komplex kreativer Prozess des Zusammenspiels von Theorien über die Beteiligten und Umstände mit der Bildung von Hypothesen darüber, was kommunikativ aktuell wohl der Fall sein muss.56 Diese werden veranlasst durch das, was in Gestalt von Textformularen vor Augen liegt. Und sie werden von den Beteiligten aufgrund des von ihnen gepflogenen Umgangs mit derlei Dingen gebildet, modifiziert, verworfen oder als Bedeutung des Textes, als sein Gehalt akzeptiert. All dies geschieht also in einem sich ständig fortschreibenden Wechselspiel von „Ausgangstheorien“ darüber, was kommunikativ der Fall sein mag, und den Hypothesen, „Übergangstheorien“ darüber, wie es sich entsprechend den sich in 55 Donald Davidson, Eine hübsche Unordnung von Epitaphen, in: Eva Picardi/Joachim Schulte (Hrsg.), Die Wahrheit der Interpretation. Beiträge zur Philosophie Donald Davidsons, Frankfurt/M. 1990, S. 203 ff. insgesamt. 56 Dazu Donald Davidson, Eine hübsche Unordnung von Epitaphern, in: Eva Picardi/Joachim Schulte (Hrsg.), Die Wahrheit der Interpretation. Beiträge zur Philosophie Donald Davidsons, Frankfurt/M. 1990, S. 203 ff., 218.
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der Verständigung jeweils mehrenden Anzeichen und Hinweisen, aktuell verhält.57 Die Inhaltsanalyse tut auf ihre Weise nichts anderes als das. Sie ist von daher auch nicht abhängig von einer bestimmten Vorstellung, die sie von der Kommunikation hat. Von dieser hängen allenfalls die Art und Weise der Schlüsse ab, die sie zu ziehen gedenkt und damit auch die Güte der Ergebnisse, zu denen sie kommt. Ihre Theorien über Kommunikation ändern jedoch nichts an der Tatsache, dass es möglich und vor allem auch nötig ist, solche überhaupt zu ziehen um sich seinen Reim auf den jeweils „manifesten Text“ zu machen. Die inhaltsanalytische Untersuchung der Rechtsprechung des EuGH so, wie sie hier vorgestellt werden soll, steht so auf dem Fundament einer avanciert rechtslinguistischen Theorie semantischer Praxis. Wie letztlich jede Inhaltsanalyse gibt sie dem „Verstehen“ eine ausdrücklich ausgearbeitete Facon. „Reflektierend sagen wir, im Verstehen würden Inhalte oder Bedeutungen erfasst. Dies wird oft so verstanden, als gäbe es vorgefertigte Bedeutungen, die wir so erfassen, wie wir, sagen wir, ein Hand fassen können. Das Fassen macht die Hand nicht zur Hand. Das Verstehen ist es jedoch, [. . .] in dem und durch das Bedeutungen als regelmäßige Verständnisse konstituiert werden.“58 Und „der Ort des realen Verstehens ist eine je erfolgte und möglicherweise erfolgreiche gemeinsame Orientierung auf der Basis gemeinsamer Unterscheidungen. Das rechte generische Verständnis oder die rechte Auffassung einer Aussage ist dabei im impliziten oder expliziten Urteil über ein wahrscheinlich gutes und erfolgreiches Verstehen situiert. Die Rede über Bedeutungen sowohl von Ausdrücken als auch von Äußerungen erweist sich damit als eine Rede über erwartbare Verständnisse bzw. bewertete Erwartungen realer Auffassungsweisen.“59 Als eine reflektiert rechtslinguistische Inhaltsanalyse nimmt die vorliegende Untersuchung diese „probabilistische und zugleich dialogisch-argumentative Struktur unseres Redens über Bedeutungen“ auf und operationalisiert sie in ihrem forschungsstrategischen Vorgehen. Sie gehört damit zu jenen „besondere(n) Maßnahmen“, „durch gewisse normierte Sprechweisen in ,esoterischen‘ Wissenschaftskreisen enorm viel feinere Unterscheidungen zu artikulieren und sichere Übereinstimmungen in den Erfüllungsbedingungen zu erzeugen.“ Allerdings ist dabei immer im Auge zu behalten, dass dies „kein Anlass (ist), alle diejenigen, welche ,gröber‘ mit der Sprache umgehen und gröbere Orientierungen gebrauchen, als ,unwissenschaftlich‘ oder ,naiv‘ oder ’irrational‘ auszusondern. Mit 57 Dazu Donald Davidson, Eine hübsche Unordnung von Epitaphern, in: Eva Picardi/Joachim Schulte (Hrsg.), Die Wahrheit der Interpretation. Beiträge zur Philosophie Donald Davidsons, Frankfurt/M. 1990, S. 203 ff., 217 ff. 58 Pirmin Stekeler-Weithofer, Die (Un)wahrscheinlichkeit des Verstehens. Zur probabilistischen Indeterminiertheit der Bedeutung, unter: http://decwww.rz.uni-leipzig.de/ ~philos/stekeler/text10.htm. 59 Pirmin Stekeler-Weithofer, Die (Un)wahrscheinlichkeit des Verstehens. Zur probabilistischen Indeterminiertheit der Bedeutung, unter: http://decwww.rz.uni-leipzig.de/ ~philos/stekeler/text10.htm.
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diesem Verfahren erhöht man zwar die Wahrscheinlichkeit des Verstehens im quasi esoterischen und speziellen Bereich der wissenschaftsinternen Praxis des Redens und Handelns. Und doch bleibt dieses Verfahren unbefriedigend ohne eine angemessene Einbettung der Wissenschaft bzw. ihrer internen Urteile und Orientierungen in eine arbeitsteilige Gesamtpraxis mit ihren differenzierten Orientierungen des Lebens und Handelns.“60 Im vorliegenden Fall ist dies das Bemühen um eine Theorie der Praxis von Recht als einer kritischen Reflexion der Arbeit daran auf sich selbst. Die Frage, zu der die Inhaltsanalyse Aufschluss geben soll ist nun die, ob es sich mit der Rechtsarbeit des EuGH „tatsächlich“ so verhält, wie in der Literatur behauptet. Die „Tatsachen“ allerdings, die dabei in Frage stehen, können nicht die Absichten und Motive der Richter sein. Die Worte ihrer Urteile sind nicht Sonden, die uns in die hintersten Kammern ihres Geistes blicken lassen. Selbst wenn dies möglich wäre, wäre dieser Blick doch gänzlich uninteressant. Wesentlich für die Legitimität der Entscheidungen ist im Wissen um die Anforderungen von Rechtsstaatlichkeit die Frage, ob und inwieweit die Entscheidungen den normativen Vorgaben für die Methodik und Begründung genügen.61 Und das ist die Frage, ob es „Tatsache“ ist, dass die Entscheidungstexte den entsprechenden Darstellungszwängen genügen. Aus welchen lauteren oder unlauteren Motiven die Richter als Person dies auch immer getan haben ist vollkommen unwesentlich. Und in diesem Sinne ist auch die Frage vollkommen irrelevant und ohnehin unbeantwortbar, was sie sich „wirklich“ dabei gedacht haben. Die Inhaltsanalyse vermag hier ebenso wenig wie jede Interpretation eine Diagnose der Mentalitäten der Richter zu liefern. Sie vermag allein die Einlösung der normativ methodischen Vorgaben durch deren Ausdruck in dem Text aufzuzeigen, durch den die Richter Recht in Geltung gesetzt haben. Allein in diesem Sinne sind die durch die Spekulationen in der juristischen Literatur als Ausgangstheorien zum Verständnis der Rechtstexte des EuGH vorgegebenen Ausgangsfragen für die vorliegende Untersuchung also: 1.
Haben die Canones „tatsächlich“ eine geringe Bedeutung in der Rechtsprechung des EuGH, das heißt, erscheinen diese juristischen Argumentformen selten oder gar nicht in seinen Entscheidungstexten?
2.
Dient der Wortlaut dem EuGH „tatsächlich“ nur als Einstieg und wird schnell übergangen, das heißt, taucht das Wortlautargument lediglich als eingestreut isolierte Formulierung auf?
60 Pirmin Stekeler-Weithofer, Die (Un)wahrscheinlichkeit des Verstehens. Zur probabilistischen Indeterminiertheit der Bedeutung, unter: http://decwww.rz.uni-leipzig.de/ ~philos/stekeler/text10.htm. 61 Ausführlich dazu Ralph Christensen/Hans Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, Berlin 2001; sowie im besonderen auch Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik. Band II: Europarecht, Berlin 2003.
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Liegt der Schwerpunkt der Methodik des EuGH „tatsächlich“ bei der Teleologie, das heißt, finden sich Formulierungen des Zweckarguments in einer auffälligen bis überwältigenden Anzahl in den Entscheidungstexten des EuGH?
Die Methoden und Verfahren der Inhaltsanalyse sind nahezu so zahlreich und vielfältig wie die Zwecke, denen sie dienen. „Die Spannbreite der Mittel ist geradezu immens, und die Mittel sind höchst unterschiedlich konzipiert.“62 Genau das macht die Stärke der Inhaltsanalyse als Forschungstechnik aus. In ihrer Grundidee ist sie neutral gegenüber der Art von „Text“, dem im allerweitesten Sinne sie sich zuwendet. Sie lässt sich nahezu auf jede Art von Äußerung, sei es Wort, Bild oder auch Ton, anwenden, wenn diese nur in einer greifbar notierten Aufzeichnung vorliegen. Und sie ist offen für die Vorgehensweise, durch die sie abhängig von den jeweils verfolgten Fragestellungen operationalisiert werden soll. Umgekehrt stellt dies natürlich erhebliche Anforderungen an das Forschungsdesign. Inhaltsanalyse lässt sich nicht einfach mechanisch beliebig vollziehen. Auch dann nicht, wenn fallweise ein Gutteil der Arbeit an den Computer delegiert werden kann.63 Die Durchführung der Inhaltsanalyse erfordert für jeden Schritt im Verfahren eine sorgfältig erwogene Entscheidung über den einzuschlagenden Weg. Sie hat einerseits die Tugenden der Empirie zu bewahren. Das heißt sie darf nicht opportunistisch zirkulär dem jeweiligen Forschungsinteresse unterworfen sein. Zugleich muss der Ablauf der Untersuchung so angelegt sein, dass er auch angemessen relevante Ergebnisse hervorzubringen vermag. Als Vorgehensweise legt die Formulierung der Ausgangshypothesen zum ersten den Zugriff auf eine größere Textmasse nahe, die aber nicht ungeordnet sein sollte, sondern einen Zusammenhang, eine Linie in der Arbeit des EuGH präsentiert. Zum zweiten liegt es nahe, dieses Material angesichts des Mangels an Empirie in der rechtswissenschaftlichen Literatur erst einmal ganz elementar einer Häufigkeitsanalyse des Vorkommens der entsprechenden Argumentformen zu unterziehen. Was das Textmaterial angeht, wird hier der vollständige Jahrgang 1999 der Entscheidungen des EuGH ausgewählt. Dieser ist gem. Artikel 68 der Verfahrensordnung des Gerichtshofes in einem Sammelband fixiert und veröffentlicht. Der Sammelband, der insgesamt zwölf Bände umfasst, wobei sich Band 10 aus den Teilen A und B zusammensetzt, liefert als manifestierter Text also der Untersuchung ihr Material zu. Dieser liegt damit eine Grundgesamtheit der interessierenden Texte zugrunde. Im Unterschied etwa zu solchen Arbeiten, die sich 62 Christoph Wambsganz, Computergestützte Inhaltsanalyse zweier Strafrechtskommentare, München 1999, S. 3. 63 Allgemein dazu Klaus Merten, Inhaltsanalyse. Einführung in Theorie, Methode und Praxis. 2., verbesserte Aufl., Opladen 1995, S. 339 ff. Ansonsten hier nur als Beispiel die Untersuchung Christoph Wambsganz, Computergestützte Inhaltsanalyse zweier Strafrechtskommentare, München 1999.
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eine Stichprobe vornehmen, für die wiederum sich dann natürlich die Frage nach der Repräsentativität als ein ganz eigenes methodisches Problem stellt. Der Entscheidungsband 1999 liefert der Untersuchung zwar den manifesten Text zu, mit dem sie arbeitet. Ihr „Gegenstand“ im eigentlichen Sinne ist er aber so noch nicht. Dieser ist die Verwendung der Canones als juristischen Argumentformen durch den EuGH, ablesbar am Vorkommen ihrer Formulierungen in den Texten. Um diesem auf die Spur zu kommen und es für die Aufbereitung der Texte zu Daten zu konstatieren, festhalten und auswerten zu können, erfolgt zunächst die Kategorienbildung. Die Analyse des Inhalts des Textes erfolgt grundsätzlich dergestalt, dass zunächst die prinzipiell vorfindbare Information auf die in Bezug zur Fragestellung relevante Information reduziert wird. Angesichts der Komplexität der Informationen setzt dies die Bildung von Kategorien voraus. Dabei handelt es sich um Zusammenfassungen von Elementen des Textes durch den Inhaltsanalytiker unter dem Gesichtspunkt der aktuellen Fragestellung64. Im Rahmen der Analyse stellt man dann fest, ob eine Kategorie auf eine Untersuchungseinheit zutrifft, oder nicht, ob sich ein entsprechendes Vorkommen konstatieren lässt oder nicht. Wie bei allem in der Inhaltsanalyse gibt es zwar auch für die Kategorienbildung keine vorgeprägten, festen Regeln. Es sollten dabei aber einige Grundsätze beachtet werden, um eine einigermaßen konsistente Systematik zu gewährleisten. Dafür sollte das für die Untersuchung veranschlagte Kategorienschema dann erschöpfend sein. Der in Bezug auf die Fragestellung relevante Textgehalt muss durch das Kategorienschema abgedeckt werden, um möglichst alle relevanten Informationen erfassen zu können. Das Kategorienschema muss einer in diesem Sinne relativen Vollständigkeit genügen. Zugleich müssen die Kategorien eine möglichst zweifelsfreie Zuordnung der Daten zu einer oder mehrerer von ihnen ermöglichen. Dies ist vor allem dann in Hinblick auf die Verlässlichkeit der Aufarbeitung und Codierung der Daten wichtig, wenn deren Durchführung auf mehrere Personen verteilt werden soll. Die Kategorien müssen also in diesem Sinne der Anforderung der Eindeutigkeit genügen. Schließlich sollte, um die Systematik der Untersuchung zu gewährleisten, die Formulierung aller Kategorien nach gleichem Klassifikationsprinzip verfahren. Alle Kategorien müssen sich auf dieselbe Bedeutungsdimension, die durch die Fragestellung festgelegt wurde, beziehen. Das Kategoriensystem hat der Anforderung der Einheitlichkeit zu genügen. Bei der Durchführung der Analyse sollten dann im Dienste einer Nachvollziehbarkeit der Zuordnung die Kriterien der Kategorien auch äußerlich sichtbar gemacht werden. Für die Untersuchung der Rechtsprechung des EuGH wird dies durch die Dokumentation dieses Prozesses erreicht. Dafür werden die Randziffern der Entscheidungsgründe, die methodische Argumente enthalten, auszugsweise zi64 Zum Folgenden hier nur Werner Früh, Inhaltsanalyse. Theorie, Methode und Praxis. 2., verbesserte Auflage, Opladen 1995, S. 76 ff.
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tiert und die jeweiligen Kriterien, aufgrund derer die Zuordnung zu einer bestimmten Argumentform erfolgt, durch Unterstreichen hervorgehoben. Daneben werden zum ersten auch solche Bestandteile der Urteilsgründe hervorgehoben, die entweder einer der definierten Argumentformen unterfallen, diese jedoch noch präzisieren. Hierzu zählen beispielsweise Zusätze zur grammatischen Auslegung wie „ausdrücklich“. Ein Beispiel hierzu bietet die Entscheidung C-303/97, Rz. 29 vom 28.1.1999, Sektkellerei Kessler, Seite I-513 ff.: „Nach Artikel 6 Absatz 8 der Verordnung Nr. [. . .] ist die Verwendung von Angaben [. . .] bei bestimmten Weinen [. . .] ausdrücklich zulässig.“
Zum zweiten werden auch solche Bestandteile der Urteilsgründe hervorgehoben, die keiner der definierten Argumentformen unterfallen, gleichwohl aber für eine Bewertung der Methodik des EuGH von Bedeutung sind. Hierzu zählen beispielsweise logische Schlüsse oder Rechtsgrundsätze. So zum Beispiel in der Entscheidung C-18/95, Rz. 45 vom 26.1.1999, Terhoeve, Seite I-345 ff.: „[. . .] Dieser Grundsatz gilt erst recht, wenn eine derartige Abweichung darauf hinausläuft, die Ausübung einer der gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten auszuschließen oder einzuschränken [. . .].“Argumentation: „erst recht“
Diese werden jedoch nur hervorgehoben und nicht in die statistische Auswertung aufgenommen. Das gleiche gilt für Stellungnahmen des EuGH zu seinem methodischen Vorgehen. Dazu zählen auch methodische Einordnungen, die der EuGH selbst vornimmt wie beispielsweise zur autonomen Auslegung des Gemeinschaftsrechts oder der Berücksichtigung verschiedener Sprachfassungen. So zum Beispiel C-99/96, Rz. 26 vom 27.4.1999, Mietz, Seite I-2277 ff., sowie C-48/98, Rz. 46 vom 11.11.1999, Söhl & Söhlke, Seite I-7877 ff.
Von Bedeutung für die methodische Argumentation des EuGH sind schließlich auch solche Verweise auf die Schlussanträge des Generalanwalts, in denen dieser methodische Argumente verwendet, die durch den Verweis Bestandteil der Urteilsgründe werden. Verweise auf die Schlussanträge des Generalanwalts werden daher auch hervorgehoben und in die statistische Auswertung aufgenommen. Im Wesentlichen geht es bei Analyse der Entscheidungen jedoch um die Argumentformen, denen die in den Entscheidungsgründen verwendeten methodischen Argumente zugeordnet werden. Hierzu zählen die „klassischen“ Auslegungskanones, d.h. die grammatische, teleologische, systematische und historische Auslegung sowie als weitere Argumentform der Verweis auf frühere Rechtsprechung. Hier sollen zunächst die Kriterien zur Bestimmung der einzelnen Argumentformen gezeigt werden als die Kategorien, denen der Inhalt der Entscheidungen des EuGH des Jahrgangs 1999 zugeordnet werden. Im Anschluss daran werden die Kategorien für die Zuordnung der Schlussanträge des Generalanwalts beschrieben.
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1. Die grammatische Auslegung
Die Häufigkeit der grammatischen Auslegung wird in der Untersuchung in drei Kategorien erfasst: (1) allgemeiner Verweis auf den Wortlaut (W), (2) Wortlaut-Zitat (W (Z)), (3) Wortlaut zur Ermittlung von Sinn und Zweck (W (SZ)). Alle drei Kategorien zusammen ergeben die Häufigkeit der grammatischen Auslegung in den Entscheidungen des EuGH im Jahrgang 1999 insgesamt. Im Einzelnen wird dabei wie folgt codiert: (1) W Allgemeiner Verweis auf den Wortlaut Ein allgemeiner Verweis auf den Wortlaut liegt immer dann vor, wenn sich der EuGH ausdrücklich auf den „Wortlaut“ beruft. Beispiel: „Nach Artikel 20 Absatz 1 der Richtlinie besteht die Verpflichtung, die Rückstellungen auf der Passivseite der Gesellschaftsbilanz auszuweisen. Aus dem Wortlaut dieser Vorschrift geht hervor, dass sie die Passivierung von Gewährleistungsrückstellungen vorschreibt, wobei es sich um ihrer Eigenart nach genau umschriebene Lasten handelt [. . .].“ C-275/97, Rz. 24 vom 14.9.1999, DE + ES Bauunternehmung, Seite I-5331 ff. Ein weiteres Beispiel ist die Entscheidung C-342/97, Rz. 17 vom 22.6.1999, Lloyd Schuhfabrik Meyer, Seite I-3819 ff.: „Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes liegt eine Verwechslungsgefahr im Sinne von Artikel 5 Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie dann vor, wenn die Öffentlichkeit glauben könnte, dass die betreffenden Waren oder Dienstleistungen aus demselben Unternehmen oder gegebenenfalls aus wirtschaftlich miteinander verbundenen Unternehmen stammen [. . .]. Bereits aus dem Wortlaut des Artikels 5 Absatz 1 Buchstabe b ergibt sich, dass der Begriff der Gefahr der gedanklichen Verbindung keine Alternative zum Begriff der Verwechslungsgefahr darstellt, sondern dessen Umfang genauer bestimmen soll [. . .].“
Ein allgemeiner Verweis auf den Wortlaut liegt aber auch dann vor, wenn sich der EuGH auf eine genau bezeichnete Rechtsnorm beruft. Zu allgemein hingegen für ein grammatisches Argument ist beispielsweise die Formulierung in der Entscheidung C-198/98, Rz. 21 vom 16.12.1999, Everson und Barras, Seite I-8903 ff.: „Für den Fall, dass der Arbeitgeber in einem einzigen Mitgliedstaat niedergelassen ist, sieht die Richtlinie vor, dass für die Befriedigung der nichterfüllten Ansprüche der Arbeitnehmer die Garantieeinrichtung des Mitgliedstaats zuständig ist, in dem der Arbeitgeber seinen Sitz hat“. Hier fehlt die Bezugnahme auf eine genau bezeichnete Rechtsnorm. Gleiches gilt für die Entscheidung C-364/ 99 P (R), Rz. 48, vom 14.12.1999, DSR-Senator Lines/Kommission, Seite I8733 ff.: „[. . .] Die Möglichkeit, die Stellung einer Bürgschaft zu verlangen, ist nämlich ausdrücklich in den Verfahrensordnungen des Gerichtshofes und des Gerichts vorgesehen und entspricht einer allgemeinen und sachgerechten Vorgehens-
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weise der Kommission [. . .].“ Auch hier ist der pauschale Verweis auf die Verfahrensordnungen des Gerichtshofes und des Gerichts nicht ausreichend für ein Wortlaut-Argument. Ein letztes Beispiel schließlich bietet die Entscheidung C-299/98 P, Rz. 25 vom 9.12.1999, CPL Imperial 2 und Unifrigo/Kommission, Seite I-8683 ff.: „In dieser Hinsicht folgt aus den Gemeinschaftsbestimmungen, dass der Exporteur unter Vorlage aller geeigneten Beweisunterlagen den Nachweis für den Ursprung der Waren zu erbringen hat [. . .]. Die Formulierung „folgt aus den Gemeinschaftsbestimmungen“ ist zu allgemein für ein Wortlaut-Argument im Sinne der vorliegenden Untersuchung. Ein treffendes Beispiel ist dagegen folgendes: „Nach Artikel 42 § 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofes können neue Angriffs- und Verteidigungsmittel im Laufe des Verfahrens nicht mehr vorgebracht werden, es sei denn, dass sie auf rechtliche und tatsächliche Gründe gestützt werden, die erst während des Verfahrens zutage getreten sind.“ C-54/95, Rz. 28 vom 21.1.1999, Deutschland/Kommission, Seite I35 ff. Ein weiteres Beispiel bietet die Entscheidung C-416/96, Rz. 44 vom 2.3.1999, Eddline El-Yassini, Seite I-1209 ff.: „Artikel 40 Absatz 1 des Abkommens EWG – Marokko verbietet grundsätzlich jede auf der Staatsangehörigkeit beruhende Benachteiligung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats beschäftigter marokkanischer Wanderarbeitnehmer gegenüber den eigenen Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats in bezug auf die Arbeits- und Entlohnungsbedingungen.“
(2) W (Z) Wortlaut-Zitat Ein Wortlaut-Zitat liegt immer dann vor, wenn sich der EuGH auf eine genau bezeichnete Rechtsnorm beruft und aus deren Wortlaut zitiert. Beispiel: „Gemäß Artikel 2 Absatz 1 der Verordnung Nr. 729/70 werden die Erstattungen bei der Ausfuhr nach dritten Ländern finanziert, die nach den Gemeinschaftsvorschriften im Rahmen der gemeinsamen Organisation der Agrarmärkte gewährt werden“, C-54/95, Rz. 74 vom 21.1.1999, Deutschland/Kommission, Seite I-35 ff. In Rz. 49 derselben Entscheidung findet sich ein weiteres Beispiel: „Schließlich ergibt sich die Pflicht [. . .] auch aus Artikel 13 der Verordnung Nr. 3665/87, wonach ,eine Ausfuhrerstattung [. . .] nicht gewährt [wird], wenn die Erzeugnisse nicht von gesunder und handelsüblicher Qualität sind . . .‘ [. . .].“
(3) W (SZ) Wortlaut zur Ermittlung von Sinn und Zweck Besteht eine besondere Beziehung zwischen der grammatischen und der teleologischen Auslegung in dem Sinne, dass Sinn und Zweck ausdrücklich aus dem Wortlaut hergeleitet werden, so unterfällt dies der Kategorie „Wortlaut zur Ermittlung von Sinn und Zweck.“ Beispiel: „Nach seinem Artikel 1 hat das Abkommen EWG – Marokko nämlich die Förderung einer globalen Zusammenarbeit zwischen den Vertragsparteien mit dem Ziel zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung Marokkos beizutragen, und die Vertiefung ihrer Beziehungen u. a. im Bereich der Arbeitskräfte zum Gegenstand“, C-416/96, Rz. 29 vom 2.3.1999, Eddline El-Yassini, Seite I-1209 ff. In der Ent-
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scheidung C-199/92 P, Rz. 123 vom 8.7.1999, Hüls/Kommission, Seite I-4287 ff. bietet sich ein weiteres Beispiel für die Herleitung von Sinn und Zweck aus dem Wortlaut: „Nach Artikel 64 § 2 Buchstaben a und b der Verfahrensordnung des Gerichts haben prozessleitende Maßnahmen insbesondere zum Ziel, den ordnungsgemäßen Ablauf des schriftlichen Verfahrens oder der mündlichen Verhandlung zu gewährleisten und die Beweiserhebung zu erleichtern sowie die Punkte zu bestimmen, zu denen die Parteien ihr Vorbringen ergänzen sollen oder die eine Beweisaufnahme erfordern [. . .].“
2. Die teleologische Auslegung
Die Häufigkeit der teleologischen Auslegung wird in den Kategorien (1) Sinn und Zweck (SZ), sowie (2) Sinn und Zweck in weiterem Sinne (SZ i. w. S. ) erfasst. Auch hier ergeben beide Kategorien zusammen die Häufigkeit der teleologischen Auslegung in den Entscheidungen des EuGH im Jahrgang 1999 insgesamt. (1) SZ Sinn und Zweck Ein Sinn und Zweck-Argument liegt immer dann vor, wenn sich der EuGH ausdrücklich auf „Sinn und Zweck“, oder das „Ziel“ einer Regelung beruft. Beispiel: „[. . .] doch widerspricht es dem Artikel 905 Absatz 1 der Verordnung Nr. 2454/93 zugrunde liegenden Ziel der Billigkeit, dem Abgabenschuldner die Zollschuld aufzubürden [. . .] und ihn dadurch in eine Lage zu bringen, die gegenüber derjenigen anderer Wirtschaftsteilnehmer, die die gleiche Tätigkeit ausüben, außergewöhnlich ist“, C-61/98, Rz. 53 vom 7.9.1999, De Haan, Seite I-5003 ff. In der Entscheidung C-102/97, Rz. 46 vom 9.9.1999, Kommission/Deutschland, Seite I-5051 ff. gibt es hierzu ein weiteres Beispiel: „Die Bundesrepublik Deutschland hat sich auch dafür entschieden, als Heizstoff genutztes Altöl weiterhin von der Mineralölsteuer zu befreien. Sie hat damit entgegen dem Ziel der Richtlinie 75/439 in der geänderten Fassung das Verbrennen dieser Öle unterstützt [. . .].“ Siehe z. B. auch: „Zum anderen steht der Zweck der Richtlinie, den freien Zugang zu den Informationen über die Umwelt zu gewährleisten und jede Beschränkung dieses freien Zugangs zu verhindern, einer Auslegung entgegen, die einzelne davon abhalten könnte, einen Antrag auf Information zu stellen“, C-217/97, Rz. 58 vom 9.9.1999, Kommission/Deutschland, Seite I-5087 ff. Ein anderes Beispiel findet sich in der Entscheidung C-275/97, Rz. 31 vom 14.9.1999, DE + ES Bauunternehmung, Seite I-5331 ff.: „Da in der Richtlinie nicht angegeben wird, was unter „Ausnahmefällen“ zu verstehen ist, ist dieser Ausdruck im Licht des mit der Richtlinie verfolgten Zweckes auszulegen, wonach die Jahresabschlüsse die erfassten Gesellschaften [. . .] ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Gesellschaften zu vermitteln haben [. . .].“
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Ein Sinn und Zweck-Argument liegt aber auch dann vor, wenn der EuGH mit dem Begriff „sollen“ argumentiert. Beispiel: „Dieser Argumentation kann nicht gefolgt werden [. . .]. Diese Fristen sollen nämlich lediglich eine zügige und einheitliche Anwendung der technischen Modalitäten für die buchmäßige Erfassung der Eingangs- und Ausfuhrabgaben durch die zuständigen Verwaltungsbehörden sicherstellen [. . .]“, C-61/98, Rz. 34 vom 7.9. 1999, De Haan, Seite I-5003 ff. Ein weiteres Beispiel bietet die Entscheidung C-310/97 P, Rz. 61 vom 14.9.1999, Kommission/AssiDomän Kraft Products u. a., Seite I-5363 ff.: „Diese Rechtsprechung beruht namentlich auf der Erwägung, dass die Klagefristen die Rechtssicherheit gewährleisten sollen, indem sie verhindern, dass Gemeinschaftshandlungen mit Rechtswirkungen zeitlich unbeschränkt in Frage gestellt werden können [. . .].“
Schließlich beschreiben Erwägungen zur „praktischen Wirksamkeit“ ein Sinn und Zweck-Argument. Beispiel: „Daher ist die Bestimmung über die technischen, wirtschaftlichen und organisatorischen Sachzwänge im Interesse der praktischen Wirksamkeit der gesamten Regelung [. . .] auszulegen“. C-102/97, Rz. 41 vom 9.9.1999, Kommission/Deutschland, Seite I-5051 ff. In der Entscheidung C-346/97, Rz. 24 vom 10. 6.1999, Braathens, Seite I-3419 ff. gibt es hierzu ein weiteres Beispiel: „[. . .] Würde man nämlich den Mitgliedstaaten erlauben, auf Waren, die, wie hier, nach Artikel 8 Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie 92/81 von der harmonisierten Verbrauchssteuer zu befreien sind, eine andere indirekte Abgabe zu erheben, so würde dieser Bestimmung jede praktische Wirksamkeit genommen.“ Zu finden sind hier auch weitere Formulierungen, die den Grundsatz der „praktischen Wirksamkeit“ ausdrücken, wie etwa der „effet utile“.
Die genannten Begriffe „Sinn und Zweck“, „Ziel“ oder „sollen“ stellen den Regelfall dar, anhand dessen sich ein teleologisches Argument in den Begründungen der Entscheidungen des EuGH äußerlich erkennen lässt. Daneben gibt es in seltenen Fällen weitere Begriffe, die ebenfalls die Bedeutung von „Sinn und Zweck“ haben und daher für ein teleologisches Argument stehen. Beispielhaft sei hier die Entscheidung C-131/97, Rz. 38 vom 25.2.1999, Carbonari u. a., Seite I-1103 ff. genannt, in der Sinn und Zweck mit dem Begriff „dienen“ umschrieben wird: „Unstreitig dient die Anerkennungsrichtlinie insbesondere der gegenseitigen Anerkennung der Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise des Facharztes [. . .].“ Mit der Formulierung „um zu“ hingegen drückt der EuGH seine teleologischen Erwägungen in der Entscheidung C-100/96, Rz. 23 vom 11.3.1999, British Agrochemicals Association, Seite I-1499 ff. aus: „Außerdem werden durch die Richtlinie einheitliche Vorschriften in bezug auf die Voraussetzungen und Verfahren für die Erteilung von Genehmigungen für das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln geschaffen, um zum einen ein hohes Niveau des Schutzes der Gesundheit von Mensch und Tier sowie der Umwelt zu gewährleisten und zum anderen [. . .].“
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(2) SZ i. w. S. Sinn und Zweck in weiterem Sinne Ein Sinn und Zweck-Argument in weiterem Sinne liegt immer dann vor, wenn der EuGH sog. „könnte“- oder „kann-nicht“-Erwägungen anstellt. Diesen gemeinsam ist der Gedanke der Umgehung einer Vorschrift, bzw. der mit dieser verfolgten Regelungsabsicht des Gesetzgebers, d.h. letztlich also der Umgehung von Sinn und Zweck der Regelung. Beispiel: „könnte eine Partei vor dem Gerichtshof erstmals ein Angriffsmittel vorbringen, das sie vor dem Gericht nicht vorgebracht hat, so könnte sie den Gerichtshof [. . .] letztlich mit einem Rechtsstreit befassen, dessen Gegenstand umfassender wäre als derjenige des Rechtsstreits, den das Gericht zu entscheiden hatte“, C-155/ 98 P, Rz. 41 vom 1.7.1999, Alexopoulou/Kommission, Seite I-4069 ff. Auch in der Entscheidung C-299/98 P, Rz. 42 vom 9.12.1999, CPL Imperial 2 und Unifrigo/ Kommission, Seite I-8683 ff. verwendet der EuGH ein „könnte“-Argument: „könnte eine Partei vor dem Gerichtshof erstmals ein Angriffs- oder Verteidigungsmittel [. . .] vorbringen [. . .] so könnte sie den Gerichtshof [. . .] mit einem Rechtsstreit befassen, der weiter reicht, als der, den das Gericht zu entscheiden hatte. Im Rahmen eines Rechtsmittels ist die Zuständigkeit des Gerichtshofes also darauf beschränkt, die vom Gericht vorgenommene Würdigung des im ersten Rechtszug erörterten Vorbringens zu überprüfen [. . .].“ Weiter zum Beispiel auch: „Der Streitgegenstand kann allerdings nicht auf Verpflichtungen ausgedehnt werden, die sich aus der Richtlinie 75/442 n. F. ergeben, jedoch keine Entsprechung in der Richtlinie 75/442 a. F. finden, da dies einen Verstoß gegen für den ordnungsgemäßen Ablauf des Verfahrens zur Feststellung der Vertragsverletzung wesentliche Formvorschriften darstellen würde“. C-365/97, Rz. 39 vom 9.11.1999, Kommission/Italien, Seite I-7773 ff. In der Entscheidung C48/98, Rz. 89 vom 11.11.1999, Söhl & Söhlke, Seite I-7877 ff. argumentiert der EuGH ebenfalls mit einem „kann-nicht“-Argument: „Dass ein Antragsteller seinen Antrag [. . .] auf eine konkrete Verordnungsbestimmung stützt [. . .] kann die damit befasste Behörde nicht von ihrer Verpflichtung befreien, zu prüfen [. . .].“
Neben den genannten „könnte“- oder „kann-nicht“-Erwägungen gibt es einige weitere Formulierungen, die ein Sinn und Zweck-Argument in weiterem Sinne ausdrücken, zum Beispiel eine „wenn-muss“-Erwägung: „wenn die Kommission also befugt ist, den von ihr dem Rat vorgelegten Vorschlag über die zu treffenden Maßnahmen zu ändern, muss ihr auch eine ausreichende Frist dafür zur Verfügung stehen, die ihr offenstehenden Vorgehensweisen zu prüfen.“ C-151/98 P, Rz. 24 vom 18.11.1999, Pharos/Kommission, Seite I-8157 ff. Gleichfalls ein Sinn und Zweck-Argument in weiterem Sinne verwendet der EuGH in der Entscheidung C-149/96, Rz. 46 vom 23.11.1999, Portugal/Rat, Seite I-8395 ff. mit der Formulierung „hätte-so würde“: „Hätte der Gemeinschaftsrichter unmittelbar die Aufgabe, die Vereinbarkeit des Gemeinschaftsrechts mit diesen Regeln zu gewährleisten, so würde den Legislativ- und Exekutivorganen der Gemeinschaft der Spielraum genommen, über den die entsprechenden Organe der Handelspartner der Gemeinschaft verfügen.“
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Mariele Dederichs und Ralph Christensen 3. Die systematische Auslegung
Die Häufigkeit der systematischen Auslegung wird in den Kategorien (1) Systematik (SY), sowie (2) Systematik zur Ermittlung von Sinn und Zweck (SY (SZ)) bemessen. Wiederum ergeben beide Kategorien zusammen die Häufigkeit der systematischen Auslegung in den Entscheidungen des EuGH im Jahrgang 1999 insgesamt. (1) SY Systematische Argumente Ein systematisches Argument liegt immer dann vor, wenn der EuGH mindestens zwei Bestimmungen genau bezeichnet, diese argumentativ miteinander verknüpft und daraus einen rechtlichen Schluss zieht. Bei den Bestimmungen kann es sich um eine Rechtsnorm oder um einen Teil derselben, aber auch um eine Verordnung, eine Richtlinie, einen Gründungsvertrag oder Ähnliches handeln. Beispiel: „[. . .] Da nämlich eine Pflicht zur Ausdehnung des Schutzes auf Verträge [. . .] keine Grundlage in Artikel 9 der Richtlinie findet [. . .] kann der in Artikel 7 vorgesehene Schutz der Verbraucher nicht auf einen Zeitraum ausgedehnt werden, in dem die Garantieregelung noch nicht eingeführt sein musste“, C-140/97, Rz. 46 vom 15.6.1999, Rechberger u. a., Seite I-3499 ff. In der Entscheidung C-108/97 und 109/97, Rz. 27 vom 4.5.1999, Windsurfing Chiemsee, Seite I-2779 ff. bilden die Art. 15 II und Art. 3 I c einer Richtlinie die Grundlage für die systematische Auslegung: „Dieses Allgemeininteresse [. . .] wird im übrigen dadurch belegt, dass die Mitgliedstaaten nach Artikel 15 Absatz 2 der Richtlinie abweichend von Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe c vorsehen können [. . .].“ Noch deutlicher tritt die systematische Auslegung in der Entscheidung C-211/97, Rz. 22 vom 3.6.1999, Gómez Rivero, Seite I-3219 ff. zu Tage, denn hier differenziert der EuGH ausdrücklich zwischen allgemeiner- und Sonderregelung: „Artikel 16 der Verordnung Nr. 1408/71 ist eine Sonderregelung, die von der allgemeinen Regelung in Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe a der Verordnung abweicht.“
(2) SY (SZ) Systematische Argumente zur Ermittlung von Sinn und Zweck Auch die systematische Auslegung dient der Ermittlung von Sinn und Zweck und zwar immer dann, wenn der EuGH mindestens zwei Bestimmungen genau bezeichnet, diese argumentativ miteinander verknüpft und daraus Sinn und Zweck einer Regelung herleitet. Beispiel: „Wie sich aus den Artikeln 2 und 3 der Richtlinie ergibt, bezweckt die Regelung für die Stoffe aus der Liste I, die Verschmutzung der Gewässer durch diese Stoffe zu beseitigen [. . .]“, C-184/97, Rz. 5 vom 11.11.1999, Kommission/ Deutschland, Seite I-7837 ff. In der Entscheidung C-304/97 P, Rz. 39 vom
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18.3.1999, Carbajo Ferrero/Parlament, Seite I-1749 ff. werden Sinn und Zweck des beamtenrechtlichen Bewerbungsverfahrens aus der Systematik der Art. 29 I und Art. 27 des Beamtenstatuts hergeleitet: „Stünde es dem Organ im übrigen frei, von einem Verfahrensabschnitt zum anderen die Anforderungen an die Qualifikationen und Kenntnisse der Bewerber zu ändern [. . .] so wäre das Verfahren des Artikels 29 Absatz 1 des Statuts nicht mehr in der Lage, zur Ernennung von Personen zu führen, die in Bezug auf Befähigung, Leistung und Integrität höchsten Ansprüchen genügen, wie es Artikel 27 des Statuts vorschreibt.“ 4. Die historisch-genetische Auslegung
Die Häufigkeit der historischen Auslegung wird unter den Gesichtspunkten (1) Begründungserwägungen (BE), (2) Begründungserwägungen zur Ermittlung von Sinn und Zweck (BE (SZ)), (3) Vorläuferbestimmungen (H) und (4) entstehungsgeschichtliche Erwägungen (H) kategorisiert. Alle Kategorien zusammen ergeben auch hier die Häufigkeit der historischen Auslegung in den Entscheidungen des EuGH im Jahrgang 1999 insgesamt. (1) BE Begründungserwägungen Die Heranziehung von Begründungserwägungen wird in die Statistik aufgenommen, wenn sich der EuGH ausdrücklich auf „Begründungserwägungen“ beruft. Beispiel: „Zur Schaffung gleicher Besteuerungsbedingungen [. . .] musste das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, wie sich aus den Begründungserwägungen der Zweiten Richtlinie ergibt, die in den einzelnen Mitgliedstaaten geltenden Umsatzsteuern ersetzen“. C-338/97, C-344/97 und C-390/97, Rz. 18 vom 8.6.1999, Pelzl u. a., Seite I-3319 ff. Ein weiteres Beispiel bietet die Entscheidung C-423/97, Rz. 34 vom 22.4.1999, Travel Vac, Seite I-2195 ff.: „Nach der vierten Begründungserwägung der Richtlinie 85/577 sind Verträge, die [. . .] dadurch gekennzeichnet [. . .].
(2) BE (SZ) Begründungserwägungen zur Ermittlung von Sinn und Zweck Begründungserwägungen zur Ermittlung von Sinn und Zweck werden immer dann in die Statistik aufgenommen, wenn der EuGH Sinn und Zweck ausdrücklich aus den Begründungserwägungen herleitet. Beispiel: „Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die [. . .] Richtlinien [. . .] die Ausübung des Niederlassungsrechts der Unternehmen erleichtern sollen, die in den Sektoren Versicherung [. . .] tätig sind (siehe zweite Begründungserwägung der Richtlinie [. . .] und erste Begründungserwägung der Richtlinie [. . .]).“ „Um diese Begrün-
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dungserwägung zu erreichen, besteht der Gegenstand der Richtlinien [. . .] „in einer wesentlichen, notwendigen und ausreichenden Harmonisierung [. . .]“ (siehe fünfte Begründungserwägung dieser beiden Richtlinien)“. C-241/97, Rz. 37 und 39 vom 20.4.1999, Försäkringsaktiebolaget Skandia, Seite I-1879 ff. Auch in der Entscheidung C-31/98, Rz. 15 vom 28.4.1999, Luksch, Seite I-2423 ff. zieht der EuGH Begründungserwägungen zur Bestimmung von Sinn und Zweck heran: „Einleitend ist festzustellen, dass mit der Verordnung Nr. [. . .] gemäß ihrer ersten Begründungserwägung Maßnahmen zum Schutz des Gemeinschaftsmarktes für Sauerkirschen erlassen werden sollen [. . .]“
(3) H Vorläuferbestimmungen (historisches Argument) Eine „Vorläuferbestimmung“ ist in der Untersuchung die Einbeziehung einer genau bezeichneten historischen, d.h. nicht mehr gültigen, Rechtsquelle. Beispiel: „Der Begriff des Schutzgebietes wurde nämlich durch die Richtlinie 91/ 683 in die Richtlinie 77/93 eingefügt, und im Anschluss an diese Änderung wurde durch die Richtlinie 92/76 eine Liste der Gebiete aufgestellt, die als Schutzgebiete im Sinne des Artikels 2 Absatz 1 Buchstabe h der Richtlinie 77/93 anerkannt wurden. Das Einfuhrverbot nach Anhang III Teil B der Richtlinie 7/93 hängt somit unmittelbar von der Anerkennung eines Schutzgebietes aufgrund der Richtlinie 92/76 ab“, C-14/98, Rz. 34 vom 1.7.1999, Battital, Seite I-4039 ff. Auch in der Entscheidung C-412/97, Rz. 16 vom 22.6.1999, ED, Seite I-3845 ff. zieht der EuGH eine Vorläuferbestimmung zu Auslegungszwecken heran: „Um die Bedeutung dieser Bestimmung festzustellen, ist sie mit dem vormaligen Artikel 106 Absatz 1 EWGVertrag (später Artikel 73 h Absatz 1 EG-Vertrag [. . .] ) zu vergleichen, den sie ersetzt: „[. . .]“.“
(4) H Entstehungsgeschichtliche Erwägungen Entstehungsgeschichtliche Erwägungen sind in der Untersuchung die Einbeziehung historischer Gesetzesmaterialien wie Vorarbeiten, Entwürfe, Motive oder Verhandlungen im Rahmen der Gesetzesberatung, nicht jedoch die Einbeziehung von Begründungserwägungen zu Sekundärrechtsakten, die eine eigene Kategorie darstellen. Beispiel: „Diese Auslegung wird durch den Bericht zu dem Übereinkommen vom 26. Mai 1989 (ABl. 1990, C 189, S. 35) bestätigt [. . .]“, C-267/97, Rz. 30 vom 29.4.1999, Coursier, Seite I-2543 ff. In der Entscheidung C-60/98, Rz. 19 vom 29.6.1999, Butterfly Music, Seite I-3939 ff. gründen die entstehungsgeschichtlichen Erwägungen des EuGH in einem Vergleich des ursprünglichen Richtlinienvorschlags der Kommission mit einer Neufassung durch das Europäische Parlament und der endgültigen Fassung der Richtlinie: „Dies entspricht dem ausdrücklichen Willen des Gemeinschaftsgesetzgebers. Während der ursprüngliche Richtlinienvorschlag der Kommission vorsah, dass die Richtlinie „auf die Rechte, die am 31. Dezember 1994 nicht erloschen sind“ anwendbar ist, hat das Europäische Parlament diesen Vor-
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schlag geändert und eine Neufassung eingebracht, die im Wesentlichen in die endgültige Fassung der Richtlinie übernommen worden ist.“
5. Der Verweis auf frühere Rechtsprechung
Die Häufigkeit des Verweises auf frühere Rechtsprechung schließlich wird in der Untersuchung in den Kategorien (1) Rechtsprechung (R), (2) ständige Rechtsprechung (st.R), sowie (3) Rechtsprechung zur Feststellung von Sinn und Zweck (R (SZ)) erfasst. Wie bei den zuvor dargestellten Argumentformen ergeben alle Kategorien zusammen auch hier die Häufigkeit des Verweises auf frühere Rechtsprechung in den Entscheidungen des EuGH im Jahrgang 1999 insgesamt. In einigen Fällen beruft sich der EuGH auch mehrfach auf dieselbe Entscheidung. Sofern dies unter unterschiedlichen Gesichtspunkten, oder in unterschiedlichen Randziffern geschieht, wird jeder Fall als eigenständiges methodisches Argument gewertet. So beispielsweise in der Entscheidung C-126/97 vom 1.6.1999, Eco Swiss, Seite I3055 ff.: Rz. 32: „Zunächst ist darauf hinzuweisen [. . .] (vgl. Urteil [. . .]).“ Rz. 33: „Wie der Gerichtshof in Randnummer 15 des Urteils [. . .] weiter ausgeführt hat [. . .]“ Rz. 34: „In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof in den Randnummern 10 bis 12 desselben Urteils festgestellt [. . .].“
Hier verweist der EuGH in drei aufeinanderfolgenden Randziffern auf dasselbe Urteil. In methodischer Hinsicht sind dies drei Verweise auf frühere Rechtsprechung. (1) R Rechtsprechung Ein Rechtsprechungs-Argument liegt immer dann vor, wenn sich der EuGH unter Angabe der Fundstelle auf frühere Rechtsprechung beruft, diese jedoch nicht als „ständige Rechtsprechung“ bezeichnet. Beispiel: „Keines dieser Argumente kann die Vermutung widerlegen, die für die Entscheidungserheblichkeit von Fragen spricht, die von nationalen Gerichten zur Vorabentscheidung vorgelegt werden. Diese Vermutung kann nur in Ausnahmefällen widerlegt werden, wenn offensichtlich ist, dass die erbetene Auslegung des Gemeinschaftsrechts in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, oder wenn das Problem hypothetischer Natur ist und der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen oder rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (vgl. insbes. Urteile vom 15. Dezember 1995 in der Rechtssache C-415/93, Bosman, Slg. 1995, I-4921, Randnr. 61, und vom 5. Juni 1997 in der Rechtssache
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C-105/94, Celestini, Slg. 1997, I-2971, Randnr. 22) [. . .]“, C-355/97, Rz. 22 vom 7.9.1999, Beck und Bergdorf, Seite I-4977 ff. Ein weiteres Beispiel findet sich in Rz. 24 derselben Entscheidung: „In dem sachlichen und rechtlichen Rahmen, den das vorlegende Gericht damit in eigener Verantwortung festlegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat (vgl. Urteil vom 20. März 1997 in der Rechtssache C-352/95, Phytheron International, Slg. 1977, I-1729, Randnrn. 9 bis 14), ist nicht ersichtlich, dass [. . .].“
(2) st.R Ständige Rechtsprechung Ein Verweis auf ständige Rechtsprechung liegt immer dann vor, wenn sich der EuGH unter Angabe der Fundstelle ausdrücklich auf „ständige Rechtsprechung“ beruft. Beispiel: „Die Umsetzung einer Richtlinie in innerstaatliches Recht erfordert nach ständiger Rechtsprechung [. . .] nicht notwendigerweise eine förmliche und wörtliche Übernahme ihrer Bestimmungen in eine ausdrückliche, besondere Vorschrift, sondern ihr kann durch einen allgemeinen rechtlichen Kontext Genüge getan werden, wenn dieser tatsächlich die vollständige Anwendung der Richtlinie hinreichend klar und bestimmt gewährleistet (vgl. insbes. Urteil vom 15. März 1990 in der Rechtssache Kommission/Niederlande, Slg. 1990, I-851, Randnr. 6)“, C-102/97, Rz. 33 vom 9.9.1999, Kommission/Deutschland, Seite I-5051 ff. Auch in der Entscheidung C-217/97, Rz. 22 vom 9.9.1999, Kommission/Deutschland, Seite I-5087 ff. verweist der EuGH auf „ständige Rechtsprechung“: „Nach ständiger Rechtsprechung ist es im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens nach Artikel 169 EG-Vertrag Sache der Kommission, das Vorliegen der behaupteten Vertragsverletzung nachzuweisen, wobei sie sich nicht auf Vermutungen stützen kann (vgl. insbes. Urteil vom 25. Mai 1982 in der Rechtssache 96/81, Kommission/Niederlande, Slg. 1982, 1791, Randnr. 6).“
(3) R(SZ) Rechtsprechung zur Feststellung von Sinn und Zweck Der Verweis auf frühere Judikatur dient auch der Feststellung von Sinn und Zweck. Dies ist immer dann der Fall, wenn der EuGH die Feststellung von Sinn und Zweck mit früherer Judikatur begründet. Beispiel: „Mit dem im SGB vorgesehenen Ausschluss geringfügig Beschäftigter von der Sozialversicherung soll einer sozialen Nachfrage nach geringfügigen Beschäftigungen entsprochen werden [. . .] (vgl. Urteile vom 14. Dezember 1995 in der Rechtssache C-444/93, Megner und Scheffel, Slg. 1995, I-4741, Randnr. 27)“, C281/97, Rz. 23 vom 9.9.1999, Krüger, Seite I-5127 ff. In der Entscheidung C-435/ 97, Rz. 37 vom 16.9.1999, WWF u. a., Seite I-5613 ff. dient der Verweis auf frühere Rechtsprechung ebenfalls der Feststellung von Sinn und Zweck: „Der Gerichtshof hat demgemäß [. . .] im Urteil vom 2. Mai 1996 in der Rechtssache C-133/94 (Kommission/Belgien, Slg. 1996, I-2323, Randnr. 42) entschieden, dass mit den in Artikel 4 Absatz 2 erwähnten Kriterien und/oder Schwellenwerten das Ziel verfolgt
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wird, die Beurteilung der konkreten Merkmale eines Projekts zu erleichtern, damit bestimmt werden kann, ob es der Prüfungspflicht unterliegt [. . .].“
6. Verweis auf die Schlussanträge des Generalanwalts
Die Häufigkeit des Verweises auf die Schlussanträge des Generalanwalts wird in der vorliegenden Analyse im Hinblick auf die jeweilige Funktion des Verweises in den Kategorien (1) methodische Argumentation (GA 1), (2) rechtliche Bewertungen (GA 2), sowie (3) Darstellung und Bewertung des Sachverhalts (GA 3) erfasst. Alle Kategorien zusammen ergeben auch hier die Häufigkeit des Verweises auf die Schlussanträge des Generalanwalts in den Entscheidungen des EuGH im Jahrgang 1999 insgesamt. (1) GA 1 Funktion: Methodische Argumentation Der Verweis auf die Schlussanträge des Generalanwalts dient in einigen Fällen der methodischen Argumentation und zwar immer dann, wenn der Generalanwalt nach den oben definierten Kategorien eine methodische Argumentform verwendet und sich der EuGH diese mittels Verweises zu eigen macht. Beispiel: „Wie der Generalanwalt in Nummer 22 seiner Schlussanträge ausführt, ist diese Rüge offenkundig unzulässig. Nach Artikel 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofes [. . .]“, C-334/97, Rz. 41 vom 10.6.1999, Kommission/Montorio, Seite I3387 ff. Ein weiteres Beispiel ist die Entscheidung C-376/97, Rz. 28 vom 10.6.1999, Wettwer, Seite I-3449 ff.: „Wie der Generalanwalt in Nummer 22 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, kann bei der Übertragung des Betriebs auf einen anderen Erzeuger [. . .] nur diese Auslegung [. . .] gewährleisten, dass die Höchstzahl von 90 Tieren [. . .] nicht überschritten wird.“
(2) GA 2 Funktion: Rechtliche Bewertungen Der Verweis auf die Schlussanträge des Generalanwalts dient aber auch der rechtlichen Bewertung aktueller Rechtsfragen. Dies ist dann der Fall, wenn der Generalanwalt eine rechtliche Bewertung vornimmt – ohne dass diese eine methodische Argumentform nach den oben definierten Kategorien enthält – und sich der EuGH diese mittels Verweises zu eigen macht. Beispiel: „Wie der Generalanwalt in Nummer 24 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist der Gemeinschaftsgesetzgeber nicht dafür zuständig [. . .]“. C-430/97, Rz. 18 vom 10.6.1999, Johannes, Seite I-3475 ff. Ein weiteres Beispiel ist die Entscheidung C-394/97, Rz. 37 vom 15,6,1999, Heinonen, Seite I-3599 ff.: „Wie der Gene-
318
Mariele Dederichs und Ralph Christensen
ralanwalt in Nummer 28 seiner Schlussanträge festgestellt hat, ist also zu prüfen, ob die vom finnischen Gesetzgeber erlassene Maßnahme in einem angemessenen Verhältnis zum angestrebten Ziel steht.“
(3) GA 3 Funktion: Darstellung und Bewertung des Sachverhalts Darüber hinaus dient der Verweis auf die Schlussanträge des Generalanwalts auch der Darstellung und Bewertung des Sachverhalts, bzw. tatsächlicher Zusammenhänge. Dies ist der Fall, wenn der Generalanwalt eine Darstellung oder Bewertung des Sachverhalts oder tatsächlicher Zusammenhänge vornimmt und sich der EuGH dies mittels Verweises zu eigen macht. Beispiel: „Wie der Generalanwalt in den Nummern 55 bis 110 seiner Schlussanträge zu Recht ausgeführt hat, hat die Kommission zahlreiche Umstände vorgetragen, die zu belegen geeignet sind, dass die betroffene Ware den Qualitätsanforderungen des Artikels [. . .] weder zum Zeitpunkt der Ausfuhr, noch bei ihrem Eintreffen am Bestimmungsort genügt hat“, C-240/97, Rz. 40 vom 5.10.1999, Spanien/Kommission, Seite I-6571 ff. Auch die Entscheidung C-327/97 P, Rz. 19 vom 5.10.1999, Apostolidis u. a./Kommission, Seite I-6709 ff. enthält einen Verweis auf die Schlussanträge des Generalanwalts, in denen dieser eine Bewertung tatsächlicher Umstände vornimmt: „[. . .] Wie der Generalanwalt in Nummer 101 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist unstreitig, dass die Lebenshaltungskosten in Karlsruhe in dem streitigen Zeitraum eindeutig niedriger waren, als in Berlin [. . .].“
Mit der Zuordnung der Textelemente zu den Kategorien ist deren Aufbereitung für ihre Umwandlung in Daten abgeschlossen und über die Prozedur zu deren Auswertung zu entscheiden. Eine der vielen möglichen Formen ist die sogenannte „Häufigkeitsauszählung“. Hier geht es um Häufigkeitsauszählungen des Auftretens analytischer Kategorien in einem Text. Der Text wird unter Zugrundlegung eines Kategorienschemas analysiert. Auf diese Weise werden Textbeschreibungsdaten gewonnen. Diese unmittelbar vom Text abgeleiteten Daten werden dann in numerische oder alphanumerische Symbole, die in Tabellen darstellbar sind, umgewandelt, wobei jedes Auftreten des Inhalts einer Kategorie in einer Datenbank vermerkt und dann ausgezählt wird.65 Zur Untersuchung der Rechtsprechung des EuGH wird hier eine Häufigkeitsauszählung des Auftretens der nach definierten Kriterien kategorisierten Argumentformen vorgenommen. Dies erfolgt dergestalt, dass die jeweils verwendeten Argumentformen nach jeder der jeweils auszugsweise zitierten Randziffern der Entscheidungsgründe in schematisierter Form zusammengefasst werden. So steht in dem folgenden Beispiel „R“ für einen Verweis auf frühere Rechtsprechung.
65 Zu dieser Vorgehensweise auch Christoph Wambsganz, Computerunterstützte Inhaltsanalyse zweier Strafrechtskommentare, München 1999, S. 21 ff.
Rechtsprechung des EuGH
319
Beispiel: „Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass in Fällen, in denen sich in einem vertraglichen Schiedsverfahren Fragen des Gemeinschaftsrechts stellen, die ordentlichen Gerichte in die Lage kommen können, diese Fragen zu prüfen [. . .] (vgl. Urteil Nordsee, Randnr. 14)“, C-126/97, Rz. 32 vom 1.6.1999, Eco Swiss, Seite I-3055 ff. ➔R
R
Die schematisierten Argumentformen werden dann für jede Entscheidung tabellarisch dargestellt. An dieser Stelle erfolgt also die Umwandlung des Ergebnisses der Analyse in Textform in ein statistisch verwertbares Symbol. In dem Beispielsfall bedeutet dies, dass der Wert 1 in der Spalte „R“ für einen Verweis auf frühere Rechtsprechung eingetragen wird. Beispiel: „Zunächst ist darauf hinzuweisen [. . .] (vgl. Urteil Nordsee, Randnr. 14)“, C-126/97, Rz. 32 vom 1.6.1999, Eco Swiss, Seite I-3055 ff. ➔R
R
C-126/97 Seite I-3055 ff. Eco Swiss 1.6.1999 W W W st. R R R SY SY BE BE SZ SZ H (Z) (SZ) (SZ) (SZ) (SZ) i.w.S. 1 1
H* GA brutto netto
Eine andere Bewertung gilt jedoch dann, wenn eine Argumentform der Ermittlung von Sinn und Zweck dient, aus der Argumentform also nicht unmittelbar ein rechtlicher Schluss, sondern ein teleologisches „Zwischenargument“ und erst aus diesem der rechtliche Schluss gefolgert wird. Dies gilt für die Kategorien W(SZ), R(SZ), SY(SZ) und BE(SZ), also für die Fälle, in denen Sinn und Zweck aus dem Wortlaut, früherer Rechtsprechung, der Systematik oder Begründungserwägungen ermittelt wird. Um in diesen Fällen die Funktion der Argumentform zur Begründung von Sinn und Zweck, wie auch des teleologischen „Zwischenarguments“ für die Begründung des rechtlichen Schlusses widerzuspiegeln, wird bei der Bewertung zwischen einem Brutto- und einem Netto-Verfahren unterschieden: – Das Brutto-Verfahren bewertet die bloße Verwendung einer Argumentform unabhängig von deren Funktion jeweils mit dem Wert 1. Das teleologische „Zwischenargument“ wird nicht berücksichtigt. – Das Netto-Verfahren hingegen bewertet auch die Funktion einer Argumentform. Der Wert 1 wird hier zwischen der Argumentform und dem teleologischen „Zwischenargument“ hälftig aufgeteilt. Dies soll anhand des folgenden Beispiels veranschaulicht werden.
320
Mariele Dederichs und Ralph Christensen
Beispiel: „Zunächst ist festzustellen, dass die Richtlinie 92/50 nach ihrer 6. Begründungserwägung Behinderungen des freien Dienstleistungsverkehrs bei der Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge verhindern soll [. . .])“, C-176/98, Rz. 23 vom 2.12.1999, Holst Italia, Seite I-8604 ff. BE zur Ermittlung von SZ
➔ BE (SZ)
C-176/98 Seite I-8604 ff. Holst Italia 2.12.1999 W W W st. R R R SY SY BE BE SZ SZ H (Z) (SZ) (SZ) (SZ) (SZ) i.w.S. 1 1/
2
1/
2
H* GA brutto netto
In dem Beispiel wird deutlich, dass „brutto“ die bloße Verwendung einer Argumentform unabhängig von deren Funktion bewertet wird: Nur für die Heranziehung von Begründungserwägungen wird in der Spalte „BE (SZ)“ der Wert 1 eingetragen, nicht jedoch für das teleologische „Zwischenargument“. „Netto“ hingegen wird auch die Funktion einer Argumentform bewertet: Für die Heranziehung von Begründungserwägungen, wie auch für das teleologische „Zwischenargument“ wird in den Spalten „BE (SZ)“ und „SZ“ jeweils der Wert 1/2 eingetragen. Insgesamt ermöglicht die brutto-/netto-Unterscheidung also, dass in der der tabellarischen Gesamtauswertung nach der bloßen Verwendung einer Argumentform und deren Funktion differenziert werden kann. Dies ist insbesondere für die Bewertung der teleologischen Auslegung von Bedeutung. Am Ende jeder Entscheidung steht schließlich ein Gesamtergebnis, das die Erkenntnisse zur Häufigkeit der definierten Kategorien und damit zu dem methodischen Vorgehen des EuGH in der jeweiligen Entscheidung, zusammenfasst. Zugleich ist damit die Grundlage zu einer statistischen Auswertung gelegt. In ihr werden die tabellarischen Einzelergebnisse zusammengeführt und unter verschiedenen Fragestellungen ausgewertet, die im Folgenden beispielhaft dargestellt werden sollen. Die Häufigkeit kann dabei jeweils absolut oder prozentual sowie nach der „brutto“- oder nach der „netto“-Methode bemessen werden. Wie häufig wird eine Argumentform in den Entscheidungen des EuGH im Jahrgang 1999 insgesamt verwendet? Beispiel: Die grammatische Auslegung wird in den Entscheidungen des EuGH im Jahrgang 1999 insgesamt x Mal verwendet.
Rechtsprechung des EuGH
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Welche Argumentform ist in den Entscheidungen des EuGH im Jahrgang 1999 die häufigste? Beispiel: Der Verweis auf frühere Rechtsprechung wird in den Entscheidungen des EuGH im Jahrgang 1999 insgesamt x Mal verwendet und ist damit die häufigste Argumentform.
In wie vielen Entscheidungen des EuGH im Jahrgang 1999 wird eine Argumentform jeweils verwendet? Beispiel: Die grammatische Auslegung wird in x Entscheidungen des EuGH im Jahrgang 1999 verwendet.
Wie häufig wird eine Argumentform in den einzelnen Entscheidungen des EuGH im Jahrgang 1999 jeweils verwendet? Beispiel: Die grammatische Auslegung wird in x Entscheidungen des EuGH im Jahrgang 1999 ein Mal, in x Entscheidungen zwei Mal, in x Entscheidungen drei Mal [und so fort] verwendet.
Welche Argumentform ist in den einzelnen Entscheidungen des EuGH im Jahrgang 1999 jeweils die häufigste? Beispiel: Der Verweis auf frühere Rechtsprechung ist in x Entscheidungen die häufigste Argumentform, die grammatische Auslegung ist in x Entscheidungen die häufigste Argumentform, die teleologische Auslegung ist in x Entscheidungen die häufigste Argumentform [und so fort].
Wie viele methodische Argumente werden in den einzelnen Entscheidungen des EuGH im Jahrgang 1999 jeweils verwendet? Beispiel: In x Entscheidungen des Jahrgangs 1999 verwendet der EuGH ein methodisches Argument, in x Entscheidungen zwei methodische Argumente, in x Entscheidungen drei methodische Argumente [und so fort].
Selbstverständlich beziehen sich die Fragestellungen nicht nur auf die fünf Argumentformen grammatische, teleologische, systematische und historische Auslegung sowie den Verweis auf frühere Judikatur, sondern auch auf die obenbeschriebenen Kategorien, aus denen sich die Argumentformen jeweils zusammensetzen. Darüber hinaus können alle statistischen Einzelergebnisse zueinander in Verhältnis gesetzt werden. Dies ermöglicht etwa Aussagen über die Bedeutung einer Argumentform im Verhältnis zu den übrigen Argumentformen, oder über die Bedeutung einzelner Kategorien einer Argumentform für diese Argumentform. Während die Häufigkeitsauszählung ein zuverlässiges System der Datenerfassung ist, verschiedene Codierer also zu gleichen Ergebnissen kommen, lässt die anschließende Interpretation der Daten Raum für voneinander abweichende Ergebnisse und damit für Diskussion. Mit ihr beginnt dann auch die Arbeit einer auswertenden Schlussfolgerung in Hinblick auf jene rechtstheoretischen, bzw. rechtslinguistischen Konsequenzen, die sich aus der Inhaltsanalyse insgesamt
322
Mariele Dederichs und Ralph Christensen
ziehen lassen. Diese sollen hier anhand einiger Beispiele für eine auf das Ergebnis der statistischen Auswertung der Entscheidungen des Jahrgangs 1999 gegründete Bewertung der Bedeutung der einzelnen Argumentformen für die Methodik des EuGH gezeigt werden. V. Ergebnisse einer inhaltsanalytischen Untersuchung der Rechtsprechung des EuGH Das hervorstechendste Ergebnis der Untersuchung betrifft die Rolle, die der Verweis auf die frühere Rechtsprechung in den Entscheidungen des EuGH spielt. Dem ist in der Literatur bislang wenig Beachtung geschenkt worden. Auch die neueren Arbeiten zu diesem Thema von Anweiler, Buck und Potacs setzen sich mit dieser Thematik kaum auseinander. Schwerpunkt dieser Arbeiten ist vielmehr die Bedeutung der klassischen Auslegungskanones und deren gemeinschaftsrechtsspezifische Ausprägung in der Methodik des EuGH. Es gibt bislang also keine wissenschaftlich fundierte Untersuchung zur Bedeutung des Verweises auf frühere Rechtsprechung als Argumentform in den Entscheidungen des EuGH. Dementsprechend vage sind die Aussagen in der Literatur zu dieser Thematik. So entsteht nach Buck der „Eindruck“, insbesondere in den Jahren 1988 bis 1992 sei die Anzahl der auf den Wortlaut Bezug nehmenden Urteile eher noch gestiegen. Als Grund führt er an, infolge umfangreicher Rechtsprechungstätigkeit des Gerichtshofs in den letzten Jahrzehnten sei eine Vielzahl der Gemeinschaftsnormen in ihrem Umfang und Regelungsgehalt inzwischen begrifflich geklärt. Dadurch sei es dem Gerichtshof nunmehr möglich, auf ein Reservoir begrifflich gesicherter Rechtsinstitute und Grundsätze zurückzugreifen. Vor diesem Hintergrund ist der Verweis auf frühere Rechtsprechung als weitere Argumentform neben denen der „klassischen“ Auslegungskanones in die Untersuchung einbezogen worden. Damit liegt erstmalig eine wissenschaftliche Untersuchung der an der Quantität orientierten Bedeutung des Verweises auf frühere Rechtsprechung in den Entscheidungen des EuGH vor. Das Ergebnis dieser Untersuchung ist ebenso überraschend, wie eindeutig: Der Verweis auf frühere Rechtsprechung ist nicht nur in jeder Hinsicht die häufigste Argumentform in den Entscheidungen des EuGH, die Häufigkeit des Verweises auf frühere Rechtsprechung übertrifft die der übrigen Argumentformen zudem um ein Vielfaches. Dies verlangt eine grundsätzliche Neubewertung der Gewichtung der Argumentformen in der Methodik des EuGH: Der Verweis auf frühere Rechtsprechung steht hier an erster Stelle, die Argumentformen der „klassischen“ Auslegungskanones sind dem nachgeordnet. So hat die Untersuchung ergeben, dass die Häufigkeit des Verweises auf frühere Rechtsprechung in den Entscheidungen des EuGH im Jahrgang 1999 im Vergleich zu den übrigen untersuchten Argumentformen sowohl bezogen auf alle Entscheidungen, als auch auf einzelne Entscheidungen, deutlich überwiegt.
Rechtsprechung des EuGH
323
Bezogen auf alle Entscheidungen des EuGH im Jahrgang 1999 ist der Verweis auf frühere Rechtsprechung die deutlich häufigste Argumentform. Sie wird 1199 Mal und damit mehr als doppelt so häufig verwendet, wie die grammatische Auslegung als zweithäufigste Argumentform. Die grammatische Auslegung wird in den Entscheidungen des EuGH im Jahrgang 1999 insgesamt 572 Mal verwendet. Der Verweis auf die frühere Rechtsprechung wird daher auch mehr als fünf Mal so häufig verwendet wie die teleologische Auslegung als dritthäufigste Argumentform. Die teleologische Auslegung wird in den Entscheidungen des EuGH im Jahrgang 1999 insgesamt 230 Mal verwendet. Prozentual bedeutet dies eine Häufigkeit von 53% im Vergleich zu 25% der grammatischen, 10% der teleologischen und jeweils 5% der systematischen und genetischen Auslegung. Die historische Auslegung wurde lediglich in 1% aller Fälle methodischer Argumentation in den Entscheidungen des Jahrgangs 1999 angewendet. Die Dominanz des Verweises auf frühere Rechtsprechung als Argumentform in der Methodik des EuGH zeigt sich aber auch daran, dass von den 259 Entscheidungen des EuGH im Jahrgang 1999 nur 38 keinen Verweis auf frühere Rechtsprechung enthalten, d.h. 85% aller Entscheidungen des EuGH im Jahrgang 1999 enthalten wenigstens ein Mal einen Verweis auf frühere Rechtsprechung. Auch bezogen auf einzelne Entscheidungen ist der Verweis auf frühere Rechtsprechung die häufigste Argumentform. So enthält beispielsweise die Entscheidung C-51/92 P vom 8.7.1999, Hercules Chemicals/Kommission, Seite I-4235 ff. sieben Verweise auf frühere Rechtsprechung, aber nur sechs grammatische sowie zwei teleologische und ein systematisches Argument. Insgesamt ist der Verweis auf frühere Rechtsprechung in 154 der 259 Entscheidungen des EuGH im Jahrgang 1999 das häufigste Argument. Darüber hinaus ist der Verweis auf frühere Rechtsprechung in 20 weiteren Fällen zusammen mit einer weiteren Argumentform das häufigste Argument. Demgegenüber ist die grammatische Auslegung nur in 54 Entscheidungen, die teleologische, historische und systematische Auslegung sogar nur in fünf und weniger Entscheidungen am häufigsten. Anders ausgedrückt bedeutet dies, dass der Verweis auf frühere Rechtsprechung in drei Mal so vielen Entscheidungen das häufigste Argument ist, wie die in dieser Hinsicht zweithäufigste Argumentform, die grammatikalische Auslegung. Die grammatische Auslegung ist in 52 Entscheidungen des Jahrgangs 1999 die häufigste Argumentform. Die herausragende Bedeutung des Verweises auf frühere Rechtsprechung als Argumentform in der Methodik des EuGH zeigt sich schließlich auch daran, dass der EuGH seine Argumentation in einer Entscheidung typischer Weise nicht nur ein Mal, sondern mehrfach auf frühere Rechtsprechung stützt. So wird
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Mariele Dederichs und Ralph Christensen
Die Abbildung zeigt im Vergleich die Häufigkeit des Verweises auf frühere Rechtsprechung (R), der grammatischen (W) und der teleologischen Auslegung (SZ) in den Entscheidungen des EuGH im Jahrgang 1999
Abbildung 1: Häufigkeit des Verweises auf frühere Rechtsprechung, der grammatischen und der teleologischen Auslegung in den Entscheidungen des EuGH im Jahrgang 1999
Die Abbildung zeigt die prozentuale Häufigkeit des Verweises auf frühere Rechtsprechung bezogen auf alle Entscheidungen des EuGH im Jahrgang 1999 im Vergleich zu den klassischen Auslegungskanones.
Abbildung 2: Prozentuale Häufigkeit einer Argumentform bezogen auf alle Entscheidungen des EuGH im Jahrgang 1999
Rechtsprechung des EuGH
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Abbildung 3: Häufigste Argumentform bezogen auf einzelne Entscheidungen
in 88 Entscheidungen des EuGH im Jahrgang 1999 zwei bis vier Mal auf frühere Rechtsprechung verwiesen, in 65 Entscheidungen fünf bis neun Mal und in 36 Entscheidungen zehn Mal und mehr. Im Vergleich hierzu verwendet der EuGH die grammatische Auslegung typischerweise nur ein bis zwei Mal, seltener drei bis fünf und vereinzelt mehr als fünf Mal pro Entscheidung. Die teleologische Auslegung findet sich i. d. R. nicht häufiger als zwei Mal und die systematische Auslegung i. d. R. sogar nur ein Mal pro Entscheidung. In der Entscheidung C-75/97 vom 17.6.1999, Belgien/Kommission, Seite 3671 ff. beruft sich der EuGH sogar 31 Mal auf frühere Rechtsprechung. Es gibt keine Entscheidung, in der diese oder eine andere Argumentform öfter verwendet wird. In dieser Entscheidung geht es im Wesentlichen um Fragen des Beihilferechts i. S. v. Art. 92 ff. EG-Vertrag (Art. 87 ff. EG) und tatsächlich beziehen sich die Verweise auf frühere Rechtsprechung auch ganz überwiegend auf beihilferechtliche Fragestellungen: Die belgische Regierung hatte die Programme „Maribel a“ und „Maribel b“ aufgelegt, die eine erhöhte Ermäßigung der Sozialversicherungsbeiträge für solche Wirtschaftszweige zuließen, die dem internationalen Wettbewerb am stärksten ausgesetzt sind. Die Kommission sah darin eine unzulässige staatliche Beihilfe und forderte in einer entsprechenden Entscheidung die sofortige Beendigung der Programme sowie die Rückforderung der ihrer Ansicht nach unzulässigerweise gezahlten Beihilfen durch die begünstigten Unternehmen. Die belgische Regierung beantragte in dem Verfahren vor dem EuGH die Nichtigerklärung dieser Entscheidung. Der EuGH wies die Klage zurück.
Alles in allem führt also die Analyse zu einer Zurückweisung der in der Literatur vertretenen Auffassungen zur Methodik des EuGH:
326
Mariele Dederichs und Ralph Christensen 140 1 – 2 Argumente pro Entscheidung 3 – 4 Argumente pro Entscheidung Mehr als 4 Argumente pro Entscheidung
Häufigkeit (absolut)
120 100 80 60 40 70 124 20
104 59 13
R
W
94 21
2
62 11
1
20 0 SZ
SY
Argumentform Die Abbildung zeigt, wie häufig eine Argumentform in einer Entscheidung des EuGH im Jahrgang 1999 jeweils verwendet wird.
Abbildung 4: Häufigkeit von Argumenten bezogen auf einzelne Entscheidungen: 1 bis 2, 3 bis 4 und mehr als 4 Argumente pro Entscheidung
1.
Weder trifft es, allein schon von ihrem Vorkommen und ihrer Verteilung her, zu, das die Canones generell eine geringe Bedeutung für die Entscheidungstätigkeit des Gerichts haben,
2.
noch trifft es, allein schon von seinem Vorkommen und seiner Verteilung her, zu, dass das Wortlautargument nur en passant Verwendung findet,
3.
noch trifft es, allein schon von Vorkommen und Verteilung her, zu, dass das Zweckargument zu einem übermäßigen Einsatz kommt.
Über diesen negativen Befund der Widerlegung der in der Literatur vertretenen Auffassungen hinaus ergibt die Untersuchung aber, wichtiger noch, positiv Aufschlüsse über die Methodik des EuGH, die zu einer vollkommenen Revision der Ausgangstheorien über die Entscheidungstätigkeit des Gerichts führen müssen. Diese betreffen die Rolle des Verweises auf die eigene Rechtsprechung als Argumentform. Es handelt sich dabei entweder um ein abkürzendes Wortlautargument oder meist ein abkürzendes systematisches Argument. Die auf die Häufigkeit bezogene Analyse des Verweises auf frühere Rechtsprechung in den Entscheidungen des EuGH im Jahrgang 1999 belegt eine eindeutige Dominanz dieser Argumentform gegenüber denen der „klassischen“ Auslegungskanones. Diese Dominanz gilt in jeder Hinsicht, d.h. sowohl hinsichtlich der Häufigkeit bezogen auf alle Entscheidungen, wie auch auf einzelne Entscheidungen, wie auch auf die Anzahl der Argumente pro Entscheidung. Zudem ist die Dominanz
Rechtsprechung des EuGH
327
deutlich, d.h. in jeder Hinsicht übersteigt die Häufigkeit des Verweises auf frühere Rechtsprechung die der übrigen Argumentformen um ein Vielfaches. Im Ergebnis findet sich damit die These bestätigt, dass die Gewichtung der Argumentformen in der Methodik des EuGH grundsätzlich neu bewertet und dem Verweis auf frühere Rechtsprechung gegenüber den übrigen Argumentformen eine herausragende Bedeutung beigemessen werden muss. Bislang gibt es keine wissenschaftlich fundierte Untersuchung zur Bedeutung des Verweises auf frühere Rechtsprechung als Argumentform in der Methodik des EuGH. Die Berücksichtigung des Verweises auf frühere Rechtsprechung als gleichwertige Argumentform neben denen der „klassischen“ Auslegungskanones kann daher erstmalig mit der vorgestellten Untersuchung nachgewiesen werden. Überraschend daher ist, dass der Verweis auf frühere Rechtsprechung in jeder Hinsicht die häufigste Argumentform ist, sowohl bezogen auf alle Entscheidungen, wie auf einzelne Entscheidungen, wie auch auf die Anzahl der Argumente pro Entscheidung. Überraschend ist auch die Eindeutigkeit dieses Ergebnisses, denn die Häufigkeit des Verweises auf frühere Rechtsprechung übersteigt die der Argumentformen der „klassischen“ Auslegungskanones um ein Vielfaches. Bei diesem unmittelbaren Ertrag einer Inhaltsanalyse der Rechtssprechung des EuGH soll es hier zunächst einmal belassen und die weiteren, rechtstheoretischen Konsequenzen, die sich daraus ergeben, an anderer Stelle gezogen werden.66 Hier ging es erst einmal darum, den Einsatz der Inhaltsanalyse als einem probaten methodischen Instrument zur Untersuchung von Gerichtsentscheidungen zu demonstrieren.
66 Siehe den Beitrag Mariele Dederichs/Ralph Christensen, Die Rolle der Beobachtung zweiter Ordnung in der Rechtsprechung des EuGH.
Die Rolle der Beobachtung zweiter Ordnung in der Rechtsprechung des EuGH Mariele Dederichs und Ralph Christensen Juristen, so scheint es, halten große Stücke auf die eigene Arbeit. Jedenfalls greifen die Gerichte häufig zur Lösung ihrer Rechtsfälle auf ihre früheren Entscheidungen zurück. Die empirische Untersuchung der Zitierpraxis deutscher Gerichte mit Hilfe der Datenbank Juris zeigt hier ein eindeutiges Bild.1 Untersucht wurden vor allem Entscheidungen aus den Jahren 1980 und 1988. Dabei stellte sich heraus, dass 1446 von 3046 Urteilen der obersten Bundesgerichte aus dem Jahr 1980 Zitate enthielten. Bei Urteilen aus dem Jahr 1988 war dieser Anteil mit 3503 von 5603 Urteilen noch etwas höher. Das bedeutet, dass in mehr als 50% der Urteile dieser Gerichte auf mindestens ein Urteil eines anderen Gerichts Bezug genommen wird. Was die unteren Instanzen angeht, so fällt der Befund zwar nicht ganz so deutlich aus. Für das Jahr 1980 fanden sich nur in 25% der Entscheidungen Verweise auf die anderer Gerichte. Immerhin stieg dieser Anteil aber bis zum Jahr 1988 auf fast ein Drittel an.2 Bezeichnend ist dabei nicht nur die schiere Zahl der Zitierung anderer Gerichte in den Entscheidungsgründen. Weitaus aufregender ist der Löwenanteil der eigenen Gerichtsbarkeit daran. Denn der Anteil des Verweises auf die Rechtsprechung anderer Gerichtszweige bewegt sich lediglich im Promillebereich und steigt nur gelegentlich auf etwa 5% an, wobei dies meistens das Bundesverfassungsgericht oder den Bundesfinanzhof betrifft.3 Geradezu dramatisch aber wird der Befund im Hinblick auf den Europäischen Gerichtshof. Entgegen der landläufigen Meinung in der Literatur konnte die empirische Untersuchung bereits des einen Jahrgangs 1999 seiner Entscheidungen eine herausragende Bedeutung des Verweises auf die eigene Rechtsprechung für die Arbeit dieses Gerichts nachweisen.4 Dies betrifft nicht nur seinen 1 R. Wagner-Döbler/L. Philipps, Präjudizien in der Rechtsprechung. Statistische Untersuchung anhand der Zitierpraxis deutscher Gerichte, in: Rechtstheorie 1992, S. 228 ff. 2 Wagner-Döbler/Philipps, S. 230. 3 Wagner-Döbler/Philipps, S. 233. 4 Siehe M. Dederichs, Empirische Untersuchung der Argumente in EuGH-Begründungen, 2004; sowie der Beitrag M. Dederichs/R. Christensen, Inhaltsanalyse als methodisches Instrument zur Untersuchung von Gerichtsentscheidungen, vorgeführt am Beispiel der Rechtsprechung des EuGH.
330
Mariele Dederichs und Ralph Christensen
quantitativen Anteil. Der Verweis auf die frühere Rechtsprechung ist mit seinem Vorkommen in 154 der 259 Entscheidungen des EuGH im Jahrgang 1999 das häufigste Argument und tritt zudem in 20 weiteren Fällen zusammen mit einer weiteren auf. Die Bedeutung des Verweises auf die eigene Rechtsprechung betrifft vor allem auch qualitativ sein Gewicht für die Rechtserzeugung durch den EuGH. Dies lässt sich allein schon an dem Verhältnis ablesen, in dem er zu den anderen Argumentformen steht. Im untersuchten Jahrgang 1999 fanden sich ihm gegenüber das grammatische Argument nur 54-mal, das teleologische, historische und systematische Argument sogar nur 5-mal als häufigste Argumentform vor. Das heißt, dass der Verweis auf frühere Rechtsprechung in 3-mal so vielen Entscheidungen das häufigste Argument ist wie die in dieser Hinsicht zweithäufigste Argumentationsform, die grammatische Auslegung. Sie ist in 52 Entscheidungen des Jahrgangs 1999 die häufigste Argumentationsform. All diese Befunde machen nicht nur die herausragende Rolle unübersehbar, die der Verweis auf die eigene Rechtsprechung bei der Entscheidungsfindung der Gerichte spielt. Für den EuGH zeigt sich darüber hinaus deren eindeutige Dominanz dieses Verweises gegenüber dem Einsatz der „klassischen“ Canones. Und zwar im Hinblick auf seinen Anteil an der Entscheidungstätigkeit des Gerichts überhaupt ebenso, wie im Hinblick auf seinen Anteil jeweils für sich genommen an einzelnen Entscheidungen. I. Selbstbezug und Normativität Auf die kontinentaleuropäische Rechtstheorie müssen die berichteten Verhältnisse einigermaßen schockierend wirken. Recht, so will es nicht nur die reine Lehre, sondern scheinbar auch die Verfassung, kommt aus dem Gesetz. Es liegt nicht in den Händen der Richter, so weise sie auch sein mögen. An das Gesetz haben sie sich zu halten und nicht an das, was sie selbst daraus gemacht haben. Die aus dem Normtext gezogene Entscheidung soll demnach allenfalls Ergebnis einer Rechtserkenntnis sein und nicht etwa deren Gegenstand. Hinter dieser Auffassung samt der von ihr nahe gelegten Delegitimierung der Verwendung der eigenen Rechtsprechung als genuines Argument und Moment der Rechtserzeugung steckt natürlich jene überholte Lehre von der „Auslegung“, die meint, diesen Begriff wörtlich nehmen zu sollen5, samt deren Vorstellung von einer Gesetzesbindung, die diese als eine durch den Normtext sieht anstatt als eine Bindung an ihn.6 Von daher verwundert es nicht, dass dem Verweis auf frühere 5 Zu deren Kritik hier nur R. Christensen, Der Richter als Mund des sprechenden Textes. Zur Kritik des gesetzespositivistischen Textmodells, in: F. Müller (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik. Interdisziplinäre Studien zu praktischer Semantik und Strukturierender Rechtslehre in Grundfragen der juristischen Methodik, Berlin 1989, S. 27 ff.; sowie im Besonderen im Hinblick auf das Europarecht F. Müller/R. Christensen, Juristische Methodik. Band II: Europarecht, Berlin 2003.
Zweite Ordnung in der Rechtsprechung des EuGH
331
Rechtsprechung als Argumentationsform in der Methodik des EuGH in der Literatur bislang wenig Beachtung geschenkt worden ist.7 Auch die neueren Arbeiten zu diesem Thema von Anweiler, Buck und Potacs setzen sich mit dieser Thematik kaum auseinander.8 Schwerpunkt dieser Arbeiten ist vielmehr die Bedeutung der klassischen Auslegungscanones und deren gemeinschaftsrechtsspezifische Ausprägung in der Methodik des EuGH. Die „tatsächlichen“ Verhältnisse so, wie sie sich in den Befunden der empirischen Untersuchung der Rechtsarbeit niederschlagen, erfordern hier allerdings ein Umdenken. „Tatsache“ ist nun einmal, dass der Bezug auf die eigene Rechtsprechung in der Arbeit der Gerichte und ganz besonders der des EuGH eine gewichtige Rolle spielt. Die empirischen Befunde des Jahrgangs 1999 der Entscheidungssammlung des EuGH im Einzelnen sprechen hier eine deutliche Sprache: Der Verweis auf frühere Rechtsprechung wird in den Entscheidungen des EuGH im Jahrgang 1999 insgesamt 1199-mal verwendet und ist damit die häufigste Argumentationsform. Der Verweis auf frühere Rechtsprechung wird in den Entscheidungen des EuGH mehr als doppelt so häufig verwendet, wie die grammatikalische Auslegung als zweithäufigste Argumentationsform und mehr als 4-mal so häufig wie die teleologische Auslegung als dritthäufigste Argumentationsform. Der Verweis auf die frühere Rechtsprechung ist lediglich in 38 von 259 Entscheidungen nicht enthalten. Verweis auf frühere Rechtsprechung ist in 154 der 259 Entscheidungen jeweils die häufigste Argumentationsform. Damit ist der Verweis auf frühere Rechtsprechung auch bezogen auf einzelne Entscheidungen die häufigste Argumentationsform. Der EuGH stützt seine Argumentation in einer Entscheidung typischer Weise nicht nur einmal, sondern mehrfach auf frühere Rechtsprechung.
„Tatsache“ ist, dass der Verweis auf die eigene Rechtsprechung eine zentrale Rolle spielt. Beispiele dafür finden sich allein im Jahrgang 1999 der Entscheidungssammlung des EuGH zuhauf: In der Vorabentscheidung Holst-Italia Spa wird der Sinn und Zweck neben der Gesetzessystematik aus der früheren Rechtsprechung des EuGH abgeleitet (EuGH Slg. 1999, S. I-8607 ff.). In der Vorabentscheidung G. C. Allen u. a. wird die Argumentation im Wesentlichen auf seine frühere Judikatur gestützt (EuGH Slg. 1999, S. I8643 ff.). Im Beschluss CPL Imperial 2 und Unifrigo stützt sich der EuGH schwerpunktmäßig auf seine „ständige Rechtsprechung“ EuGH Slg. 1999, S. I-8683 ff.). Im Beschluss HFB u. a. besteht die Argumentation des Gerichts im Wesentlichen 6 Zu dieser Unterscheidung R. Christensen, Was heißt Gesetzesbindung? Eine rechtslinguistische Untersuchung, Berlin 1989, S. 19, sowie überhaupt ebendort zur Kritik. 7 Als Ausnahme jetzt F. Müller/R. Christensen, Juristische Methodik. Band II: Europarecht, Berlin 2003. 8 Siehe J. Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, Frankfurt/M. u. a. 1997; C. Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, Frankfurt/M. u. a. 1998; M. Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht, Baden-Baden 1994.
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aus Verweisen auf frühere Entscheidungen und ständige Judikatur (EuGH Slg. 1999, S. I-8705 ff.). Im Beschluss DSR-Senator Lines ist der Verweis auf die Rechtsprechung gleichfalls mit der Argumentation des Gerichts weithin identisch (EuGH Slg. 1999, S. I-8733 ff.). In der Vorabentscheidung DAT-SCHAUB geht es um die Auslegung des Begriffs Drittland; dabei werden Sinn und Zweck ebenfalls aus der Rechtsprechung hergeleitet (EuGH Slg. 1999, S. I-8759 ff.). In der Vorabentscheidung Rhône-Poulenc Rorer und May & Baker wird die Begründung des EuGH ganz überwiegend aus Verweisen auf die Judikatur gespeist (EuGH Slg. 1999, S. I8789 ff.). In der Rechtssache UDL wird die ständige Praxis des EuGH zur Begründung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes herangezogen (EuGH Slg. 1999, S. I8841 ff.) In der Rechtsmittelentscheidung Wirtschafts- und Sozialausschuss beruht die Argumentation des Gerichts ganz auf Verweisen auf eigene ständige Rechtsprechung (EuGH Slg. 1999, S. I-8877 ff.). In der Vorabentscheidung Everson und Barras wird eine Abgrenzung zu nicht einschlägiger Judikatur vorgenommen (EuGH Slg. 1999, S. I-8903 ff.). In der Vorabentscheidung Taylor besteht die Argumentation überwiegend aus dem Bezug auf frühere Entscheidungen bzw. auf ständige Judikatur (EuGH, Slg. 1999, S. I-8955 ff.). In der Feststellungsentscheidung Kommission/Luxemburg ist der Hinweis auf die Spruchpraxis das einzige Argument; ebenso im Vertragsverletzungsverfahren Kommission/Luxemburg (EuGH, Slg. 1999, S. I-8987 ff., S. I-9021 ff.).
Es bleibt die Frage nach der Legitimität des Einsatzes eines Verweises auf die eigene Rechtsprechung als juristisches Argument. Die kann in der Perspektive einer Rechtserzeugungstheorie nicht von vornherein bestritten werden. Vielmehr ist nach den besonderen Funktionen des Selbstbezugs in der Rechtserzeugung zu fragen, um dann allerdings auch „realistisch“ die Risiken und Chancen erwägen zu können, die darin liegen.9 Ausschlaggebend ist dabei nicht die Art der zur Begründung der Entscheidungen herangezogenen Texte. Zwar spielt unter rechtsstaatlichen Prinzipien die Zurechenbarkeit zum Normtext immer die führende Rolle. Dies aber gilt für jedes juristische Argument, das für eine Begründung von Entscheidungen ins Feld geführt wird. Für die Frage, ob die Begründung jeweils gelungen und stichhaltig ist und die Entscheidung damit gerechtfertigt ist, kann aber nicht die eine Textsorte Gesetz gegen die andere Textsorte Urteil per se ausgespielt werden. Genau das versucht die herkömmliche Lehre. Für sie rangieren Vorentscheidungen als Quelle für die Rechtserkenntnis erst nach dem Gesetz. Dem Richter soll gewissermaßen erst dann Gehör geschenkt werden, wenn der Gesetzgeber sich in hartnäckiges Schweigen hüllt. Vorentscheidungen sollen erst dann bindend sein, wenn jenseits des Wortlauts der Rückgriff auf den Normtext ins Leere geht und die richterliche Eigenwertung hier gewissermaßen als Joker einspringen muss, um überhaupt zu der geforderten Entscheidung kommen zu können. Diese Sicht verfehlt allerdings schon ganz grundsätzlich die Praxis von 9 Ausführlich dazu F. Müller/R. Christensen, Juristische Methodik. Band II: Europarecht, Berlin 2003.
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Recht. Normativität wird hier als statische Eigenschaft eines Textes verstanden, den man einfach anwenden muss. Das trifft aber auf Gesetzestexte ebenso wenig zu wie auf Urteilstexte. Bindung bedeutet in dem einen wie dem anderen Fall vielmehr, dass der Text nicht einfach argumentativ übergangen werden kann. Vielmehr ist durch ihn als Kontext der Entscheidung eine Richtung gewiesen, in der sich die Argumentation zu bewegen hat, damit das Ergebnis als gerechtfertigt gelten kann. Die Arbeit der Gerichte ist es, Rechtsfälle zu lösen, indem sie die zu einer Entscheidung bringen. Um dies in einer rechtsstaatlich einwandfreien Weise zu leisten, müssen Juristen argumentieren.10 Sie bringen die Entscheidung durch Argumentation auf den Weg und rechtfertigen sie durch den Niederschlag der Argumente in der Begründung.11 Mittel ihrer Argumentation sind dabei Texte von Recht. Texte, in denen jene Rechtsbehauptungen formuliert sind, die für die Konstitution und die Lösung des jeweils vorgetragenen Falls einschlägig sind. Im Eingang des Falls sind dies die im Widerstreit liegenden Lesarten von Normtexten. Im Ausgang des Falls ist dies der mit dem Urteil in Geltung gesetzte Text von Recht. Der Weg zur Entscheidung besteht darin, die durch den Streit in Frage gestellten Rechtsbehauptungen durch Integration oder Widerlegung auf geltende Rechtsbehauptungen zurückzuführen bzw. zurückzuweisen. Es geht vor Gericht also um die „Überwindung“ einer Kontroverse „durch Gründe.“12 Wenn diese im Ergebnis der Argumentation nicht mehr abzuweisen sind, eben „unwiderleglich“, so ist jene Einwandfreiheit erreicht, die es rechtfertigt, den Streit mit ihm zu entscheiden. Die dafür nötige Überzeugungskraft gewinnen Argumente aus dem Bestand von Meinungen, Ansichten und Normen, welche die Beteiligten anerkennen und auf die sie diese Argumente im Einzelnen aufbauen und stützen. Auf diese Weise vermögen Argumente die ihnen praktisch zugedachte Wirkung zu tun, Gegenteiliges aus dem gemeinsamen Stand gültigen Wissens und akzeptierter Meinungen auszuschließen und sich selbst als Teil dieses Bestands zu etablieren. Dadurch werden sie eben „zwingend“ und vermögen ihrerseits nun als Basis weiteren Argumentierens zu dienen. Auf einen Nenner gebracht ist es also der Sinn von Argumentationen, „mit Hilfe des kollektiv Geltenden etwas kollektiv Fragliches in etwas kollektiv Geltendes zu überführen.“13 Wobei „kollektiv“ dann hier konkret das meint, was in 10 Dazu R. Christensen/M. Sokolowski, Die Krise der Kommunikation und die Möglichkeit juristischen Argumentierens, i. Vorb. 11 Ausführlich dazu R. Christensen/H. Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, Berlin 2001, hier v. a. S. 268 ff. 12 Ausführlich dazu G.-L. Lueken, Inkommensurabilität als Problem rationalen Argumentierens, Stuttgart-Bad Cannstatt 1992, S. 220. 13 Dazu W. Klein, Argumentation und Argument, in: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, H. 38/39, 1980, S. 9 ff., Dabei ist das „kollektiv Geltende“ „das, was für eine bestimmte Gruppe zu einem Zeitpunkt gilt“ und das „kollektiv Fragliche“ „das, was vielleicht für den einen oder anderen gilt, oder auch für
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der Gemeinde der Juristen als den autoritativ mit seiner Erzeugung Betrauten für Recht genommen wird, bzw. als solches in Frage gestellt ist. Für die Frage nach dem Einsatz des Verweises auf die eigene Rechtsprechung in diesem Prozess ist nun wesentlich, dass die Beteiligten dabei immer eine produktive Semantisierungsarbeit zu leisten haben. Kein Text der Rechtswelt, weder Gesetz noch Präzedenz gibt ihnen dabei seine Bedeutung als Recht in die Hand. Diese haben die Beteiligten sich jeweils erst wieder anhand des von ihnen zum Einsatz gebrachten Textes zu schaffen. Damit die Beteiligten dabei überhaupt Aussicht auf Erfolg haben können, bedienen sie sich der anerkannten juristischen Argumentformen. Diese erschließen Kontexte, die es erlauben, die Bedeutung des jeweiligen Normtextes herauszustellen. Das heißt, es kann beim juristischen Argumentieren immer nur darum gehen, Text für Text zu setzen. Das Kriterium für die Anerkennungswürdigkeit von Rechtsmeinungen kann nur in der Stimmigkeit mit dem liegen, was schon anerkannt ist. Weder die dem Gesetz zuzumessende Autorität noch die dem Präjudiz zuerkannte Verbindlichkeit ändern dabei etwas an der Begründungslast, die von den entscheidenden Juristen auf sich zu nehmen ist. Alles, was er tun kann, ist lesen, hören, sprechen, schreiben, unterschreiben. Er handelt sprachlich. Und er hat es mit Text zu tun und nichts als Text, mit Fallerzählungen, Parteianträgen ebenso, wie mit Vorschriften und Regelungen, mit Einlassungen und Kommentaren ebenso, wie mit Vorentscheidungen und vor allem auch mit jenen Texten, die er schließlich selbst produziert, mit der Entscheidung, dem Tenor und den Urteilsgründen. Wie der Jurist mit all diesen Texten umgeht, welche er heranzieht und einsetzt, wie er sie zueinander ins Verhältnis setzt und gewichtet, um deren Bedeutung als Recht zu entscheiden, hängt allein von den wiederum methodischen Vorgaben ab, an die er gebunden ist. Auch die wiederum „ergeben sich“ nicht „von Natur aus“ aus irgendwelchen, der Praxis vorgegebenen und entzogenen Normen. Vielmehr greift der Jurist hier auf den der Praxis von Recht inhärenten, durch das Handeln der beteiligten Akteure selbst immer wieder instituierten normativen Sinn eben dieser Praxis zurück. Die verschiedenen Verrichtungen, die das Geschäft des Rechts ausmachen, enthalten selbst „implizite Normen, indem sie implizite normative Einstellungen beherbergen, durch die die betreffenden Normen instituiert werden.“14 Diese Einstellungen wiederum finden ihren Ausdruck im sozialen Verhalten des sanktionierenden Reagierens auf das Verhalten eines anderen: „Die implizite Beurteilung einer Performanz als korrekt keinen, aber eben nicht für alle.“ S. 19. In Hinblick auf den Rechtsstreit R. Christensen/H. Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, Berlin 2001, S. 246 ff. 14 S. Knell, Die normativistische Wende in der analytischen Philosophie. Zu Robert Brandoms Theorie begrifflichen Gehaltes und diskursiver Praxis, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 2000, S. 255 ff., 235. Weiter auch R. Christensen/M. Sokolowski, Theorie und Praxis aus der Sicht der Strukturierenden Rechtslehre, in: Rechtstheorie 32, 2001, S. 327 ff., 328 f.
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oder inkorrekt manifestiert sich typischerweise in der Anwendung einer positiven oder negativen Sanktion“.15 Das normative Moment von Praxis ist also sozial bzw. diskursiv verfasst. Es bietet damit zugleich den Ansatzpunkt für seine beständige Dynamik in der Arbeit der Beteiligten daran. Diese wird in all den Gründen vernehmlich und fassbar, die diese Akteure einander für ihr Handeln unterstellen und die sie bei Bedarf auch für ihr Handeln beibringen können. Als intelligent und rational handelnde Wesen bewegen wir uns in einem „normativ verfassten Raum der Gründe“.16 Die Akteure als anerkannt kompetente Teilnehmer an einer Praxis wie der des Rechts beurteilen einander als solche in Hinblick auf eben die Gründe, die sich für das jeweilige Handeln finden lassen.17 Und in dem Maße, in dem sich Handlungen rechtfertigen lassen, in dem Maße vermag der Verweis auf sie wiederum als Grund für das weitere Handeln herzuhalten. Normen bestehen so in nichts anderem als in der gegenseitigen Beurteilung, der die Beteiligten ihr Handeln unterziehen. Genau dies praktiziert der Verweis auf die frühere Rechtsprechung. Indem der EuGH diese als Rechtsbehauptung argumentativ ins Feld führt, „autorisiert“ er gewissermaßen in Folge auch die Konsequenzen, die sich daraus ableiten lassen. Zugleich aber steht er umgekehrt in der Verantwortung dafür. Er ist nicht nur auf diese Konsequenzen seiner Rechtsbehauptungen „festgelegt“, sondern zugleich darauf, dass diese sich als eine Entscheidung von Recht legitimieren lassen. Dieses Doppelverhältnis von Autorisierung und Verantwortung setzt eine komplexe Dynamik von Berechtigungen frei. Zum einen ist dies die Berechtigung, sich auf die in der eigenen früheren Entscheidung erfolgreich in Geltung gesetzten Rechtsbehauptung zur Begründung des aktuell anstehenden Urteils zu berufen. Zum anderen geht damit aber auch zugleich die Festlegung darauf einher, Gründe in Gestalt des Verweises auf die eigene Rechtsprechung überhaupt zu haben. Aus deren jeweiliger Zu- bzw. Aberkennung ergibt sich ganz allgemein auch der jeweilige Status, den die Beteiligten in der Praxis genießen und hier im besonderen jener, den der EuGH als verlässlicher und anerkennungswürdiger Produzent von Recht genießt. Die entsprechenden „Einstellungen des An- und Zuerkennens von Festlegungen und Berechtigungen auf unterschiedliche Akteure, die an einer sozialen Praxis mitwirken“, machen deren „deontischen Kontostand“ im Rahmen der entsprechend gesellschaftlich instituierten Praxis, hier der des Rechts, aus. Und die entsprechenden Handlungen eines Gerichts wie dem EuGH lassen sich als „Aktivität der situativen Anpassung der jeweiligen Kontoführungseinstellungen in Reaktion auf signifikante Performanzen einzelner Akteure“, als „deontische Kontoführungspraxis“ betrachten.18 Und je positiver dabei die Bilanz gemessen am Ausbleiben von 15 16 17 18
Knell, Knell, Knell, Knell,
S. S. S. S.
5. 255 ff., 225. 255 ff., 225. 255 ff., 237.
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Sanktionen etwa in Gestalt der Kritik und der Revision früherer Entscheidungen ausfällt, desto größer ist das normativ wirksame Gewicht der Ergebnisse der eigenen Rechtsarbeit, desto mehr gewinnen diese an diskursiver Autorisierungsmacht. Deren „Zuerkennung (. . .) bringt die implizite Einstellung zum Ausdruck, die Behauptung für berechtigt zu halten.“19 Es spricht dafür, was der EuGH einmal für rechtens gehalten hat im Fall des neuerlichen Streits auch anzunehmen. In dem Maße, in dem das gelingt, fungiert der Verweis auf die eigene Rechtsprechung als Argument. Sein praktisch normativer Druck ist ein doppelter, ein semantisch Recht generierender und ein methodisch Recht garantierender. Argument und Form sind im Verweis auf die eigene Rechtsprechung, wie nicht anders sonst20, zwei Seiten derselben Medaille praktiziert praktischer Normativität. Genau hier hat dann auch die Theorie anzusetzen, wenn sie zu einer angemessenen Beurteilung der Rolle des Verweises auf die eigene Rechtsprechung für die Arbeit des EuGH kommen will. Ihre Aufgabe ist es, durch Beobachtung die Struktur erfolgreicher Praxis von Recht zu konstruieren. Ihr Gegenstand ist das sprachliche Handeln der Juristen. Und ihr Maßstab sind die der Praxis immanenten rechtsstaatlichen Anforderungen. Damit wird eine Beobachtung erster Ordnung ersetzt durch eine Beobachtung zweiter Ordnung. Was aber heißt „Beobachtung“ hier? Und wie tritt sie in eine „erste und zweite Ordnung“ auseinander? II. Der Begriff der Beobachtung erster und zweiter Ordnung Beheimatet ist die Unterscheidung zwischen dem Beobachter erster und dem zweiter Ordnung in der Systemtheorie und dem Konstruktivismus.21 Sie tragen 19 Knell, S. 255 ff., 239. R. B. Brandom, Making it explicit. Reasoning, Representing and Discursive Commitment, Cambridge/Mass./London 1994, S. 180. 20 Allgemein dazu die Kritik des dritten empiristischen Dogmas einer Trennung von Schema und Inhalt bei D. Davidson, Was ist eigentlich ein Begriffsschema?, in: ders., Wahrheit und Interpretation, Frankfurt/M. 1990, S. 261 ff., 270 ff. 21 Siehe zur Systemtheorie N. Luhmann, Soziologische Aufklärung. Opladen 1990; N. Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1997; N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1997. Luhmann schließt mit dem Konzept des Beobachters an an G. Spencer Brown, Gesetze der Form, Lübeck 1997. Zum Konstruktivismus H. Maturana, Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, Braunschweig 1982; sowie die Arbeiten in: H. R. Maturana/F. J. Varela, Der Baum der Erkenntnis. Ausgewählte Arbeiten zur biologischen Epistemologie, Braunschweig/Wiesbaden 1987. Weiter auch S. J. Schmidt, Kognitive Autonomie und soziale Orientierung. Konstruktivistische Bemerkungen zum Zusammenhang von Kognition, Kommunikation, Medien und Kultur. Frankfurt/M. 1994; E. von Glasersfeld, Radikaler Konstruktivismus. Ideen, Ergebnisse, Probleme, Frankfurt/M. 1997. Zum Ursprung des Konzepts auch in der Kybernetik H. von Foerster, Observing Systems, Seaside 1981; ders., Sicht und Einsicht. Versuche zu einer operativen Erkenntnistheorie, Braunschweig/Wiesbaden 1985.
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damit einem vorderhand erst einmal recht profanen Umstand Rechnung. Wenn wir uns in unserer Welt und Umwelt bewegen, so setzen wir uns nicht nur unmittelbar zu dieser ins Verhältnis und mit ihr auseinander. Vielmehr gehen wir dabei immer auch ein reflexives Verhältnis zu uns selbst ein, indem wir uns gewärtig sind, was wir dabei tun und wie wir es tun. Dies begreifen Systemtheorie und Konstruktivismus als „Beobachtung“. Beobachten heißt für sie, in Relation stehen. Ist es eine zur Welt, so handelt es sich um eine Beobachtung der erster Ordnung. Steht der Beobachter dagegen zu dieser Beobachtung wiederum in Beziehung, und das heißt zu sich selbst, dann handelt es sich um eine Beobachtung zweiter Ordnung. Die Rede von der „Beobachtung“ könnte allerdings einem zweifachen Missverständnis ausgesetzt sein. Zum einen könnte man dazu neigen, sie als ein Verhältnis der reinen Wahrnehmung, eines Spiegels des Beobachteten aufzufassen. Und man könnte von daher auch zum anderen geneigt sein, dieses Verhältnis als ein rein passives zu betrachten. Wollte man so das Konzept von der Beobachtung auf das Recht übertragen, so würde man damit genau wieder dem verfehlten Modell einer Erkenntnis des Rechts aus dem Gesetz oder Urteil verfallen. Recht geriete zu etwas, das vorhanden sei und für eine Beobachtung dann „sichtbar“ würde. Der Jurist als ein durch das alltagsweltliche Verständnis fehlgeleiteter Beobachter geriete quasi zum Spiegel eines im Normtext enthaltenen Rechts. So verhält es sich aber im Recht gerade nicht. Und auch das Verhältnis der Beobachtung gleich welcher Ordnung, so wie es die Systemtheorie und der Konstruktivismus sehen, meint keineswegs das eines des passiven Reflexes. Vielmehr schaffen wir durch die Beobachtung unsere Welt und in der zweiter Ordnung dann natürlich ganz entsprechend auch uns selbst als denjenigen, die in dieser Welt sind. Traditionell könnte man schlicht sagen, wir machen so in jeder Hinsicht Sinn.22 Beobachten ist Unterscheiden. Durch die Beobachtung zieht das System, das sich ins Verhältnis zum Beobachteten setzt, in dieses Demarkationen ein. Diese Ausgrenzung des Objekts, bzw. zum Objekt wird dabei in seiner Bezeichnung festgemacht und wird so im wahrsten Sinne des Wortes greifbar. Beobachten ist Unterscheiden, um zu bezeichnen. Dadurch wird die Umwelt für das System in Objekte ausdifferenziert, bei denen es wiederum um andere Systeme handeln kann, zu denen es sich so abgrenzt. Unterscheidungen ergeben sich aber nie einfach. Unterscheidungen müssen getroffen werden. Und das heißt nichts anderes, als dass Beobachtungen Operationen eines Systems sind. Maßnahmen des Systems, sich die Umwelt auszubuchstabieren und so zugleich sich zur Umwelt abzusetzen. Beobachtung ist die Operation des Unterscheidens, um zu bezeichnen. Dabei sollte das „Bezeichnen“ nicht allzu eng semiotisch als reine Designation verstanden werden.23 Vielmehr geht es lediglich darum, dass das System die von ihm durch die Beobachtung gesetzte Differenz in sich selbst hineinneh22
Dazu N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1997, S. 46 ff.
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men und markieren muss, damit sie ihm verfügbar ist. Beobachtet etwa das System Recht die ihm mit dem Fall entgegentretende soziale Welt, so trifft es beispielsweise in einer Ausgrenzung des Normbereichs die ihm nötigen Unterscheidungen und hält diese signifikant in der Markierung als rechtsrelevant fest. Es nimmt auf dem Wege der Differenzierung über deren „Bezeichnung“ die beobachtete Umwelt als eine solche in sich hinein. Beobachten heißt unterscheiden, um etwas als genau dieses und nichts anderes zu bezeichnen. Was in diesem Verhältnis nun gerade nicht „sichtbar“ wird, nicht signifikant in Erscheinung tritt, das ist die Beobachtung. Denn die besteht genau in diesem Verhältnis und in nichts anderem. Eine Unterscheidung unterscheidet sich nicht zugleich als eine solche. Sie unterscheidet, Punktum. Die Operation operiert nicht zugleich über sich. Sie operiert, wirkt, Punktum. Und die Bezeichnung bezeichnet nicht zugleich sich. Sie bezeichnet etwas, allenfalls noch für jemanden. Dies nicht zu sehen, führt genau in die in Augen der Systemtheorie klassischen „alteuropäischen“ Paradoxien wie etwa dem des verlogenen Kreters.24 Was also bei der Beobachtung „verschwindet“, in ihr gewissermaßen aufgeht, das ist der Beobachter. Er ist der „blinde Fleck“ der Beobachtung genau so wie, um doch noch einmal die leitende Grundmetapher zu bemühen, sich das Auge nicht beim Sehen sieht, sondern schlicht wahrnimmt.25 Der Beobachter „besteht“ also in nichts anderem als im Vollzug der Beobachtung. Das mag im Übrigen die positivistische Illusion eines sich aus dem Text ergebenden Rechts etwas erklärlicher machen. Der Jurist belässt es hier einfach mit seinem Aufgehen im Akt des Beobachtens und etikettiert diese Blindheit dann als „Rechtserkenntnis“. Im Grunde genommen hat der Jurist aber die Blindheit schon hintergangen, auf die es ihm als gestandenem Positivisten ankommt, um sein Wirken zu verbergen. Denn im Grunde genommen ist damit bereits der Übergang zur Beobachtung zweiter Ordnung vollzogen. Diese nämlich beobachtet, was der Beobachtung erster Ordnung um ihrer selbst willen entgehen muss. Den Beobachter. Wenn gesagt wurde, dass „Gegenstand“, Ziel der Beobachtung alles sein kann, 23
Eingehender zu Systemtheorie und Sprache M. Hafen, Systemtheorie als Sprachtheorie, unter: www.fen.ch/texte/mh_sprache.pdf. 24 Vgl. M. Füllsack, Oszillieren zwischen erster und zweiter Ordnung als Abschlussgedanke. Oder: Luhmann beobachtet wie Habermas sich (über ihn) verständigt (1998), unter: http://mailbox.univie.ac.at/~fuellsm9/oszil.html. 25 Diese Figurierung des „Gesichtsfeldes“ im Übrigen schon bei L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung. Werkausgabe Band 1, Frankfurt/M. 1984, 5.632 ff. Und wenn er dazu vermerkt, dass „das Subjekt (. . .) nicht zur Welt (gehört), sondern (. . .) eine Grenze der Welt (ist)“, dann bedeutet er damit schon den guten Sinn des konservativ so viel beklagten ,Tod des Menschen‘ in der modernen Systemtheorie, aber auch der Postmoderne. Siehe dann auch B. Pörksen, Wir sehen nicht, dass wir nicht sehen, in: Telepolis. Magazin der Netzkultur, unter: http://www.heise.de/tp/deutsch special/robo/6240/1.html.
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sofern nur unterschieden wird, dann kann dies eben auch der Beobachter sein. „Von sich aus“ kann sich nichts der Beobachtung verwehren, gegen sie verwahren, weil es ohne Beobachtung ein solches „es“ gar nicht gibt. Also ist auch die Operation des Unterscheidens der Beobachtung zugänglich.26 Wohlgemerkt: In ihrem Vollzug bemerkt sie selbst sich nicht. Es bedarf dazu wiederum der Beobachtung und das heißt, dem Vollzug einer Unterscheidung nun der in der Beobachtung erster Ordnung vorgenommenen Differenzierungen, um diese zu bezeichnen. Der Positivist beobachtet also gar nicht „Recht“, wenn er von einer Rechtserkenntnis redet. Er beobachtet seine Beobachtung als „Erkenntnis“. Er beobachtet also genau sich als den Juristen, den er durch die Apostrophierung seiner Arbeit als „Rechtserkenntnis“ vergessen machen wollte. Was der Beobachter zweiter Ordnung also generell beobachtet, das ist jene Unterscheidung, die sich die Beobachtung erster Ordnung setzt. Er beobachtet, wie beobachtet wird. Der Beobachter zweiter Ordnung von Recht also beobachtet die Unterscheidungen, die die Beobachtung von Recht ausmachen und dieses damit als Differenz ins Werk setzen. Damit geht nun aber keine Metaaufstufung im herkömmlichen Sinne einher. Die Beobachtung zweiter Ordnung wendet sich reflexiv zurück an die Beobachtung erster Ordnung. Dabei, und das ist die entscheidende Pointe, schafft sie wiederum jene Unterscheidung erst als eine solche, in der die Bezeichnung einer Differenz durch die Beobachtung erster Ordnung beruht. Sie schafft etwa eine Unterscheidung Recht/Unrecht dort, wo der Jurist das ihm aufgetragene Problem in einer Reihe von Differenzen als Rechtsfall geschaffen hat. Und wenn man sich gewärtig hält, dass Beobachten heißt zu operieren, dann ist man hier mit der Beobachtung zweiter Ordnung eben genau da, wo eine avancierte Rechtstheorie die „Quelle“ von Recht sieht. Bei der Bezeichnung, beim Prozessieren jener Unterscheidungen, in denen Recht als Beobachter auf den Plan tritt. Für den Beobachter zweiter Ordnung gilt dabei dasselbe wie für den erster Ordnung. Er schafft sich in der Beobachtung des Beobachtens, aber vermag sich dabei nicht selbst als ein solcher zu sehen. Auch er ist blind für sich selbst. Und auch er kann nur unter dieser Voraussetzung seine Unterscheidungen ins Werk setzen. Was ins Rampenlicht der Beobachtung gesetzt werden soll, vermag sich nur gegen das umgebende Dunkel abzusetzen. Die Frage, die dadurch natürlich provoziert wird, ist die nach einem Beobachter, der dies beobachtet, nach dem der 3. Ordnung. Und sie ist als eine Frage nach einem Beobachter zugleich auch schon wieder müßig. Denn alles, was dieser leisten kann, fällt zurück dahin, eine Unterscheidung zu bezeichnen um den Preis, dies nur tun zu können, indem die Beobachtung für sich selbst blind bleibt. Daher löst sich jene Selbstbeobachtung der Beobachtung, die zu-
26 Natürlich handelt es sich dabei, wie Luhmann selbst sagt, um einen „extrem formalen Begriff des Beobachtens“. N. Luhmann, Soziologische Aufklärung. Opladen 1990, S. 73. Dazu auch Füllsack.
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nächst nach einem infiniten Regress aussieht, in ein sich an sich fortsetzendes Prozessieren von Beobachtung auf. Indem fortgesetzt beobachtet wird, entzieht sich die Beobachtung und macht in Gestalt der Unterscheidung, die sie setzt, eine weitere Beobachtung nicht nur nötig, sondern auch möglich. Die Beobachtung der Beobachtung verfängt sich daher nicht zirkulär und stuft nicht hierarchisch auf. Sie iteriert Beobachten und schiebt dabei eine letzte Beobachtung des Beobachtens selbst auf. Juristen ist dies durchaus geläufig. Denn nichts anderes ist das Problem der Gerechtigkeit als dem letztlichen Recht von Recht und damit als von der Beobachtung von Recht immer nur wieder aufschiebbare eigene Grund.27 Ein Gericht wie der EuGH „sieht“ das im Übrigen, wenn er etwa in der Rechtssache „Humblet“28 juristisch argumentativ begründetes Ergebnis an der Gerechtigkeit dann nur noch bestätigt: „Zu den vorstehend dargelegten Gesichtspunkten tritt noch ein weiterer entscheidender Grund hinzu, nämlich der Umstand, dass die vollständige Befreiung von nationalen Steuern unerlässlich ist, um die Gleichheit der Gehälter im Verhältnis zwischen Beamten verschiedener Nationalität zu gewährleisten. Es wäre in höchstem Maße ungerecht, wenn zwei Beamte, für die das Gemeinschaftsorgan dasselbe Bruttogehalt festgesetzt hat, unterschiedliche Nettogehälter bezögen.“29 Ansonsten ist das Gerechtigkeits- oder Billigkeitsargument30 beim EuGH ein Anreiz für weitere Argumentation. Wenn der Aspekt der Gerechtigkeit das bisher erarbeitete Ergebnis nicht bestätigt, dann bedarf es eben zusätzlicher Argumente. „Die Gerechtigkeit“ wird aber nicht selbst zum entscheidenden Argument. „Gerechtigkeit“ als das Rechtliche an Recht lässt sich also nur „herstellen“, indem man wiederum in der Beobachtung von Recht Recht schafft. Jede Beobachtung der Verfertigung von Recht kann selbst wieder nur Recht als diese Beobachtung verfertigen. Damit wird ganz allgemein ein letzter, hier am Begriff der Beobachtung hervorzuhebender Zug sichtbar. Beobachtung schafft das von ihr Beobachtete durch die Operation des Beobachtens. Diejenige Beobachtung der ersten Ordnung schafft durch die Unterscheidung, die sie setzt, die Welt, in die diese Unterscheidung eingezogen wird. Diejenige der zweiten Ordnung schafft durch die Bezeichnung dieser Operation der Unterscheidung den Beobachter, der sie in die Welt einzieht. Damit ist natürlich nichts anderes als das von der System27 Dazu R. Christensen/M. Sokolowski, Die Krise der Kommunikation und die Möglichkeit juristischen Argumentierens, i.Vorb. 28 EuGH Slg. 1960, S. 1163 ff. (Humblet/Belgischen Staat). 29 EuGH Slg. 1960, S. 1163 ff., 1196 f. (Humblet/Belgischen Staat). 30 Vgl. als weitere Nachweise dieses Arguments EuGH Slg. 1964, S. 937 ff., 986 (Colotti/EuGH); EuGH Slg. 1969, S. 1 ff., 15 (Wilhelm/Bundeskartellamt); EuGH Slg. 1972, S. 1281 ff., 1290 (Boehringer/Kommission); EuGH Slg. 1978, S. 169 ff., 179 (Lührs/Hauptzollamt Hamburg-Jonas); EuGH Slg. 1976, S. 153 ff., 159 (Süddeutsche Zucker/Hauptzollamt Mannheim); EuGH Slg. 1982, S. 749 ff., 763 (Alpha Steel/Kommission).
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theorie apostrophierte Grundmoment der Autopoiesis bezeichnet. Und hier trifft sich der Begriff der Beobachtung zugleich auch mit dem Konstruktivismus. Beobachten heißt nicht auf eine Realität Bezug zu nehmen. Weder auf eine der „Außenwelt“, noch auf eine der „Innenwelt“ eines beobachtenden Subjekts. Vielmehr ist „der Beobachter (. . .) eine per Unterscheiden errechnete, Unterscheidungen verwendende, rekursiv geschlossene Wirklichkeitserrechnungsmaschine, die sich selbst die Vorstellung der Unterscheidbarkeit von Beobachter und Beobachtetem (z. B. Welt oder Gesellschaft) erzeugt. Er muss so tun, als ob er zwischen Selbst und Fremdreferenz unterscheiden könne, aber diese Unterscheidung bleibt selbstverständlich ein ausschließlich internes Konstrukt. Aller Beobachtung liegt diese Unterscheidung zu Grunde. Er (der Beobachter) ist ,nur‘ imstande, via Beobachtung eine Wirklichkeit zu erzeugen, deren Tauglichkeit (ehemals: Wahrheit, Richtigkeit, Kongruenz, Korrespondenz, Kohärenz etc.) er wiederum nicht an der Realität messen kann.“31 Durch die Beobachtung als Konstruktion des Beobachteten werden jene Wirklichkeitsentwürfe formuliert, die sich dann im diskursiven Austausch zu einer dem kommunizierenden System eigenen Realität verdichten oder aber einem Wandel unterworfen sind.32 Wichtig dabei zu sehen ist, dass damit keinerlei Aussagen mehr über irgendwelche Existenzen gemacht werden. Diese sind obsolet. Alles, was es „gibt“, ist dank Beobachtung gegeben. Und alle „Erkenntnis“ des sich so gebenden heißt Beobachten. Wenn man also unbedingt von solcher „Erkenntnis“ reden möchte, dann kann dies nur die Konstruktion durch Beobachtung meinen. Das betrifft eine „Erkenntnis von Recht“ ebenso wie jede andere „Erkenntnis“ der Welt und der seiner selbst. Auch dies weiß der Jurist im Grunde genommen. Durch seine Arbeit am Text als Beobachtung von Recht schafft er dieses, indem er dem Text solche Bedeutung zuschreibt. Zugleich schafft er sich als einen Beobachter von Recht, indem er mit der Begründungsleistung für seine Rechtserzeugung diese als eine gelungen legitime darstellt und so als Recht bezeichenbar macht.
31 Th. M. Bardmann, Zirkularität als Standpunkt. Ein Essay zu Heinz von Foerster: Wissen und Gewissen. Versuch einer Brücke, in: Soziologische Revue 17, 1994, S. 298 ff., 301. Der recht technische Jargon erklärt sich daraus, dass Bardmann sich hier auf die Kybernetik von Foersters bezieht. Siehe H. von Foerster, Das Konstruieren einer Wirklichkeit, in: P. Watzlawick (Hrsg.): Die erfundene Wirklichkeit. Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben?, München/Zürich 1985, S. 37 ff.; sowie H. von Foerster, Über das Konstruieren von Wirklichkeiten, in: ders., Wissen und Gewissen. Versuch einer Brücke, Frankfurt/M. 1993, S. 25 ff. 32 Dazu S. J. Schmidt, Kognitive Autonomie und soziale Orientierung, Frankfurt/M. 1994; sowie die Beiträge in: ders. (Hrsg.), Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, Frankfurt/M. 1987.
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III. Die Verleugnung der Beobachtung zweiter Ordnung in der Rechtstheorie Entgegen der Praxis beharrt die Literatur zum Europarecht im Modell einer Gegenstandserkenntnis. Damit reduziert sie die Praxis auf den „Spiegel der Natur“. Beobachtung eben auf den abbildenden Reflex. Die Arbeit des Juristen wird damit als eine Beobachtung erster Ordnung von Recht bestimmt. Die soll sich auf „das Gesetz“, die vertraglichen und europarechtlichen Regelungen beziehen, um Recht als eine in ihnen enthaltene Bedeutung „sichtbar“ zu machen. Eine solche Modellierung als einem passiven Wahrnehmungsorgan hält jedoch der Realität einer äußerst aktiven Rolle des EuGH bei der Schaffung europäischen Rechts nicht stand. Die Literatur reagiert darauf mit dem bekannten Reflex einer Kritik der richterlichen Rechtsfortbildung.33 Auslegen wird von der Literatur dabei als Erkennen des normativen Gehalts von geschriebenen Rechtsvorschriften verstanden.34 „Practical interpretation may define as an activity designed to clarify the text of a written manifestation of law and to recognize its sense with a view to its application to the realities of daily life and practice.“35 Dies soll jedoch keinerlei Rechtschöpfung im Sinne einer irgendwie gearteten gesetzgeberischen Aktivität sein. Vielmehr lässt sich der Jurist hier lediglich von jenen Rechtsprinzipien leiten, nach denen der Normtext geschaffen wurde, auf deren Linie daher sein vorgeblicher Rechtsgehalt liegt und die damit vorzeichnen, was sozusagen „eigentlich“ hätte im Text stehen können. Die Rechtsprinzipien springen somit als Gegenstand der Erkenntnis dort in die Bresche, wo die Bedeutung des Normtextes eine „Lücke“ aufweist und sich einer so umstandslosen Erkenntnis von Recht versagt. „Eine Lücke ist eine Unterbrechung in einem Text oder in einer Serie, eine leere Stelle in einem Ganzen, also das, was fehlt, um den Text zu vervollständigen. Der Lückenbegriff dient in der juristischen Methodenlehre dazu, die Befugnis oder sogar Verpflichtung des Richters zu umschreiben, auch dann eine Rechtsfrage zu beantworten, wenn das anwendbare Normensystem keine ausdrückliche Regelung enthält.“36 Am Grundverhältnis einer Erkenntnis ändert sich für die
33 Vgl. etwa F. Schoch, Individualrechtsschutz im deutschen Umweltrecht unter dem Einfluss des Gemeinschaftsrechts, in: NVwZ 1999, S. 457 ff., 459 m. w. N. 34 Vgl. L.-J. Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften, Band I: Das institutionelle Recht, 1977, S. 808, sowie R. Bernhardt, Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge, insbesondere in der neueren Rechtsprechung internationaler Gerichte, in: BaöRV 49 (1963), S. 1 ff., 17; J. Blank, Europäische Fusionskontrolle im Rahmen der Art. 85, 86 des EWG-Vertrages, 1991, S. 89. 35 M. Bos, Theory and practice of treaty interpretation, in: NILR 27 (1980), S. 3 ff., 15. Weiter auch G. G. Peruzzo, Das Problem der implied powers der Organe der Europäischen Gemeinschaften, 1979, S. 39. 36 J. Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 52.
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herkömmliche Ansicht dadurch nichts. Sie verlagert sich lediglich in ihrem Gegenstandsbezug. „Unter dem Begriff der Auslegung in seinem allgemeinsten Sinne kann verstanden werden, etwas Unklarem eine klare Bedeutung zu geben, d.h. seinen Sinn klarzustellen, seine Tragweite zu bestimmen und Grenzen und Auswirkungen herauszustellen. Bildlich ausgedrückt soll durch die Auslegung der in dem Gesetzestext beschlossene, aber noch gleichsam verhüllte Sinn ,zur Sprache gebracht‘ werden. In diesem Sinne ist das Produkt der Auslegung im Objekt von vornherein enthalten, muss jedoch noch methodisch herausgearbeitet werden. Kennzeichnend für die Auslegung ist demnach nicht, dass dem Normtext etwas hinzugefügt wird, sondern dass ihr Ziel auf die maßgeblich relevanten Sinngehalte gerichtet ist.“37 Demnach richtet sich also so oder so die „Rechtserkenntnis“ nicht etwa auf das Textexemplar, auf die Zeichenkette, die als Ausdruck von Recht in Geltung gesetzt ist und die durch die Argumentation im Verfahren mit Bedeutung zu versehen ist. Vielmehr soll sich die Erkenntnis schon auf eine solche Bedeutung, auf das vorgeblich im Text enthaltene Recht richten. Die Bedeutung als Recht wird also schlicht erkannt und nicht etwa als eine dem Text auf dem Weg der Argumentation vom Juristen zugeschrieben und damit aktuell erst wieder erzeugt. Dies führt dann zu einer Definitionen der Rechtsarbeit wie der, nach der der „Gegenstand der Auslegung (. . .) der Gesetzestext als Träger dieses normativen Sinnes (ist). Der Gesetzestext selbst ist nicht mit dem normativen Sinn gleichzusetzen, sondern dieser liegt sozusagen ,hinter‘ dem Text als das von den Zeichen und Zeichenverbindungen, die den Wortlaut bilden, Bezeichnete.“ 38 Die Rede vom „Bezeichneten“ ist hier verräterisch. Sie zeigt, dass sich diese Position schon selbst hintergangen hat. Mit der Bezeichnung ist Beobachtung bereits als Unterscheidung vollzogen. Das System in Gestalt des Juristen als Beobachter hat den Text bereits als Recht ausdifferenziert. Wenn dies als „Auslegen“ wiederum unterschieden werden soll, dann kann es sich dabei nurmehr um die Beobachtung einer Beobachtung von Recht handeln. Der Text wird dabei als Gegenstand gesetzt und seine Beobachtung als Spiegelung gefasst. Diese Verkleidung immunisiert zwar gegen Kritik. Aber sie verfehlt die Praxis und kann die dort eingehaltenen Bindungen nicht sichtbar machen. Auslegen ist Beobachtung zweiter Ordnung dort, wo sie als eine der ersten Ordnung ausgegeben werden soll.
37 C. Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 29, unter ausdrücklichem Bezug auf den Ansatz bei K. Larenz/C. W. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft. 3. Aufl., Berlin u. a. 1995. Zum Problem im Engeren auch K. Larenz, Richterliche Rechtsfortbildung als methodisches Problem, in: Neue Juristische Wochenschrift 1965, S. 1 ff. 38 Anweiler, S. 26.
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Die Praxis ist durchaus an Text gebunden. An jene Texte, die vom Gesetzgeber in Geltung gesetzt sind. definiert das Gericht überhaupt als Beobachter von Recht. Man könnte ja für die Entscheidung von Streitfällen auch ganz anderen Text lesen, von der Bibel über einfühlsame psychologische Ratschläge bis hin zu chinesischen Spruchweisheiten. Und man könnte umgekehrt Gesetze auch ganz anders lesen denn als eine bindende Grundlage für die Entscheidung von Streitfällen. Als Beispiele besonders misslungenen Kommunikationsbemühens etwa oder aber, wie es die Brüder Grimm mit den überlieferten Rechtsquellen getan haben, als Dokumente vergangener Sprachzustände des Deutschen und Reservoir für lexikologische Forschungen. Der Jurist also „legt“ damit schon einmal in einem ganz anderen Sinne „aus“, wie es die herkömmliche Methodentheorie will, wenn er überhaupt „das Gesetz“ als ein solches zur Hand nimmt. Indem er sich nämlich auf die entsprechenden Texte als Normtexte, als normativ rechtlich relevante Texte bezieht, zieht er eine erste entscheidende Differenz in die Masse von Text sonst ein. Und indem er sich bezieht, externalisiert er die entsprechenden Texte zum Angriffspunkt für eine Lektüre als Recht. Er „macht“ sie in einem ganz buchstäblichen Sinne zu einem Gegenstand für die Entscheidungsfindung im anstehenden Rechtsfall, um auf dem Wege der Semantisierung sie in ihrer Bedeutung dafür wiederum auszudifferenzieren und in einer derartigen Wandlung zu Recht wieder in das System des Rechts einzuholen. Was hier als Normtext beobachtet wird, ist bereits Unterscheidung, also Beobachtung von Beobachtung. Nämlich eine Demarkation von Text als juristisch einschlägig. Denn diese Differenz zu ziehen, liegt bei Licht gesehen gar nicht in der Hand des entscheidenden Juristen, in der Hand der Gerichte. Sie wird gesellschaftlich durch die entsprechenden autoritativen Mechanismen der Textsetzung getroffen, dem Juristen also als Unterscheidung zum Bezug auf Text und damit als Beobachtung auferlegt. Genau darin etabliert sich die Gewaltenteilung. Vom entscheidenden Juristen als Beobachter dieser Scheidung darf sie nur „nachvollzogen“ werden. Und der Jurist muss dies auch tun. Darin liegt das Moment der Bindung. Er kann nicht auf die Idee kommen, plötzlich Suren des Koran in die Reihe der einschlägigen Texte aufzunehmen. Der Jurist muss also zugleich auch die Beobachtung der hier in Rede stehenden Unterscheidung prozessieren, da ohne diese die Rechtlichkeit von Text wieder in das Amorphe der Buchstabenreihungen zurückfällt. Bei Gesetzeswerken mag diese Notwendigkeit so selbstverständlich sein, dass sie keiner Rede mehr wert ist. Dies trifft umso mehr auf die kontinentalen Systeme von Recht zu. Aber dies ist nichts anderes als die Blindheit des Beobachters für das Beobachten. Beobachtung tritt als Unterscheidung auf und vermag auch nur so das Innen gegen ein Außen abzusetzen. Bei einem Recht, das wie das Gemeinschaftsrecht in hohem Maße immer Recht „im Fluss“ und damit auch im Werden ist, verflüchtigt sich die Selbstverständlichkeit des Gegebenen von Recht schon
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eher in den Mythos. Hier gerät durch den Zweifel die Beobachtung, die Normtext schafft, schon eher in den Blick und macht sich als Beobachtung zweiter Ordnung vernehmlich, wie auch die Literatur durch die Bank nicht umhin kann, leise zuzugestehen. Das Gemeinschaftsrecht weist eine gewisse Besonderheit auf: „Ungeschriebenes Richterrecht stellt (. . .), in der Gemeinschaft anders als im deutschen Recht, keine Ausnahme, sondern gewissermaßen den ,Normalfall‘ dar und tritt, was seine Bedeutung anbelangt, gleichberechtigt neben das geschriebene Gemeinschaftsrecht.“39 Schon der Normtext gibt sich nicht als der „Gegenstand“ einer „Rechtserkenntnis“ her, den die Methodenliteratur braucht und will. Damit ist auch dem Repräsentationsgedanken, dem das herkömmliche Erkenntnismodell nachhängt, durch die praktisch nötige Profilierung von Text zum Normtext in Geltung von vornherein der Boden entzogen. Der Jurist hat, um zu seiner Entscheidung von Recht zu kommen, den Text in jeder Hinsicht in Arbeit zu nehmen. Anknüpfend an die Differenz als einschlägigem Zeichen, bzw. Ausdruck von Recht hat er ihm Bedeutung zu geben. Was vorgeblich schon im Text steckt, muss also, um am Text Recht zu „bezeichnen“, erst gemacht werden, nämlich Bedeutung. Die wird natürlich nicht aus dem Nichts geschaffen. Zu den „Quellen“, aus denen der EuGH im Besonderen dafür schöpfen kann, gehören etwa jene, von der Literatur so viel beschworenen Rechtsgrundsätze. Die aber sind gar nicht so „ungeschrieben“, wie die Literatur meint. Sie sind von den Gerichten, durch die nationalen Verfassungen und auch durch die Theorie in jenen Texten niedergelegt, die der EuGH wiederum in Arbeit nimmt, wenn er sich auf Rechtsprinzipien argumentativ zu berufen gedenkt. Genauso wie zahllose andere Textverweisungen dafür eine Rolle spielen. Etwa aus den durch Art. 6 EU auf die Europäische Menschenrechtskonvention oder auf die nationalen Verfassungen. Diese werden aber nicht im Rückfall in eine Rechtserkenntnis für die bare Münze von Recht genommen. Vielmehr bieten sie, wie jeder andere Text me39 Anweiler, S. 38. Anweiler bezieht sich mit seiner Einschätzung als „Normalfall“ auf Th. Stein, Richterrecht wie anderswo auch? – Der Gerichtshof der europäischen Gemeinschaften als „Integrationsmotor“, in: Richterliche Rechtsfortbildung. Festschrift der juristischen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, hrsg. von den Hochschullehrern der juristischen Fakultät der Universität Heidelberg, 1986, S. 619 ff. Dieser klassische Ansatz kennzeichnet auch die neueren Untersuchungen zum EuGH in Deutschland. Vgl. allerdings mit mehr Vorbehalten gegenüber der klassischen Lehre als Anweiler: J. Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, 1995, S. 103 ff. und öfter. Ein früher Ansatz zur Diskussion des Problems findet sich bei Bleckmann, A., Die Rolle der richterlichen Rechtsschöpfung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, in: G. Lüke et al. (Hrsg.), Rechtsvergleichung, Europarecht und Staatenintegration. Gedächtnisschrift für Léontin – Jean Constantinesco, 1983. S. 61 ff. Weiter auch W. Dänzer-Vanotti, Unzulässige Rechtsfortbildung des Europäischen Gerichtshofes, in: RIW 38 (1992), S. 733 ff.; U. Everling, Richterrecht in der Europäischen Gemeinschaft, 1988; Chr. Hillgruber, Grenzen der Rechtsfortbildung durch den EuGH – Hat Europarecht Methode? in: Danwitz, T. v. u. a. (Hrsg.), Auf dem Weg zu einer europäischen Staatlichkeit, 1993, S. 31 ff.
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thodisch auch, den Ausgangspunkt für eine Semantisierung im Interesse von Gemeinschaftsrecht. Etwa eben für die Schaffung ganz eigener Rechtsgrundsätze durch den EuGH., insbesondere für die Entwicklung von europäischen Grundrechtsstandards und von rechtsstaatlichen Prinzipien. In Hinblick auf die Grundrechte siehe etwa die folgenden Entscheidungen: Eigentum: Vgl. EuGH, Slg. 1974, S. 491 ff., 507 f. (Nold); EuGH, Slg. 1979, S. 3727 ff., 3745 f. (Hauer); EuGH, Slg. 1989, S. 2237 ff., 2267 f. (Schräder). Allgemeines Persönlichkeitsrecht: EuGH, Slg. 1969, S. 419 ff., 425 (Stauder). Privatsphäre: EuGH, Slg. 1980, S. 2033 ff., 2056 f. (National Panasonic); EuGH, Slg. 1982, S. 1575 ff., 1610 (AM & S); EuGH, Slg. 1989, S. 3165 ff., 3184 f. (Dow Chemical Ibérica); EuGH, Slg. 1989, S. 3137 ff., 3157 (Dow Benelux). Berufsausübungsfreiheit: EuGH, Slg. 1974, S. 491 ff., 507 f. (Nold); EuGH, Slg. 1979, S. 3727 ff., 3745 f. (Hauer); EuGH, Slg. 1986, S. 2897 ff., 2912 (Keller); EuGH, Slg. 1989, S. 2237 ff., 2267 f. (Schräder). Freier Zugang zur Beschäftigung: EuGH, Slg. 1987, S. 4097 ff., 4117 (Heylens). Religionsfreiheit: EuGH, Slg. 1976, S. 1589 ff., 1598 (Prais). Familie: EuGH, Slg. 1989, S. 1263 ff., 1290 (Kommission/Bundesrepublik). Meinung: EuGH, Slg. 1984, S. 19 ff., 62 (Flämische Bücher); EuGH, Slg. 1989, S. 4285 ff., 4309 (Oyowe und Traore). Diskriminierung: EuGH, Slg. 1958, S. 231 ff., 257 (Groupement des Hauts Fourneaux); EuGH, Slg. 1977, S. 1753 ff., 1770 (Ruckdeschel); EuGH, Slg. 1978, S. 1991 ff., 2004 (Scholten-Honig); EuGH, Slg. 1984, S. 4057 ff., 4078 (Biovilac); EuGH, Slg. 1987, S. 167 ff., 219 (Ainsworth). Justizgrundrechte: EuGH, Slg. 1980, S. 691 ff., 714 (Pecastaing); EuGH, Slg. 1986, S. 1651 ff., 1682 (Johnston); EuGH, Slg. 1987, S. 4097 ff., 4117 (Heylens). Im Hinblick auf rechtsstaatliche Prinzipien etwa die folgenden Entscheidungen: Für die Verhältnismäßigkeit: EuGH, Slg. 1970, S. 1125 ff., 1137 (Internationale Handelsgesellschaft); EuGH, Slg. 1979, S. 677 ff., 684 f. (Buitoni); EuGH, Slg. 1986, S. 3537 ff., 3555 f. (Maas). Rechtssicherheit: EuGH, Slg. 1962, S. 97 ff., 113 (Bosch); EuGH, Slg. 1970, S. 769 ff., 799 (Boehringer); EuGH, Slg. 1979, S. 69 ff., 86 (Racke). Vertrauensschutz: EuGH, Slg. 1965, S. 893 ff., 911 (Lemmerz-Werke); EuGH, Slg. 1978, S. 1991 ff., 2004 f. (Scholten-Honig); EuGH, Slg. 1982, S. 749 ff., 764 (Alpha Steel). Gesetzmäßigkeit der Verwaltung: EuGH, Slg. 1989, S. 2859 ff., 2924 (Hoechst). Rechtliches Gehör: EuGH, Slg. 1961, S. 109 ff., 169 (SNUPAT); EuGH, Slg. 1979, S. 461 ff., 511 (Hoffmann-La Roche); EuGH, Slg. 1986, S. 2263 ff., 2289 (Belgien/Kommission).
Was hier unübersehbar wird, ist das Prozessieren von Recht als Arbeit an Text und zwar als einer, die in der Beobachtung von Recht, dem nationalen Verfassungsrecht etwa, wiederum Recht schafft und es als gemeinschaftliches neu auszeichnet. Auch die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts sind damit der Vorgang und nicht etwa ein Gegenstand von Rechtsarbeit. Und das kann auch gar nicht anders sein. Denn Recht ist nun einmal anders nicht zu haben. Begründet ist dies in der Sprachlichkeit von Recht. Rechtsarbeit ist Spracharbeit. Von daher gibt die Sprache keinen Gegenstand her, auf den sich etwa die „Erkenntnis“ als einem getreulichen Bild der Realitäten verlagern könnte. Mit der Arbeit an Text um dessen Bedeutung als Recht willen ist zugleich Sprache
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in Arbeit genommen, wird Sprache in der Beobachtung von Signifikanzen in eine Bedeutsamkeit als Ausdruck prozessiert. Sprache ist Praxis.40 Und allein der Praxis verdankt sie sich in ihrer Bedeutung. Die wird von den Sprechern durch eine wechselseitige Hypothesenbildung über den möglichen Sinn des Gesagten geschaffen, welche Verständigung in Gang setzt und in Bewegung hält. Zu erkennen gibt es hier nichts, nur zu beobachten. Es gibt „keine gemeinschaftlichen Regeln, keine tragbare Interpretationsmaschine, die so eingestellt ist, dass sie die Bedeutungen beliebiger Äußerungen ausspuckt.“41 Bedeutung kann man sich nur in der Scheidung von signifikantem Sinn und Unsinn machen. Sprache ist Praxis. Und die Entscheidung darüber, von welcher Bedeutung sie in Gestalt ihrer Zeichen ist, verdankt sich allein ihrem Vollzug. Die steht besonders dann an, wenn Sprache im Streit steht, wie es in der rechtlichen Auseinandersetzung der Fall ist. Recht ist Streit um Sprache und wird in einer Entscheidung über sie geschaffen.42 Daher kann der Jurist nicht die dafür nötige Bedeutung des Normtextes aus der Sprache schöpfen und schon gar nicht aus ihr begründen. Er kann sie nur als eine Unterscheidung fällen. Normativität lässt sich nur in der Sprache herstellen, die nichts anderes ist, als beispielsweise ein solcher Vorgang. Erst wieder die Begründung kann ein Gegenstand der Rechtfertigung und Kritik sein. Egal also, wie man es dreht und wendet. Sei es, dass man vom Recht her nach Bedeutung fragt, oder sei es, dass man von der Sprache her fragt. Allenthalben trifft man auf Beobachtung zweiter Ordnung. Auf eine Differenzierung, die sich auf Unterscheidungen bezieht. Damit ist Normativität keine vorgegebene Eigenschaft von Texten, sondern der Vorgang solcher Unterscheidungen. Auch ist nicht von vornherein ausgemacht, von welcher Bedeutung Texte dafür sind. Ob diese ihnen in der konkreten Entscheidung zu Recht als die des Ausdrucks von Recht gegeben wird, entscheidet sich wiederum nicht an der Frage, um welchen Text es sich jeweils handelt, sondern allein an der Frage, wie er für die Erzeugung von Recht in Arbeit genommen wird. Und das betrifft „das Gesetz“ ebenso, wie „das Urteil“, das etwa im Verweis auf die eigene Rechtsprechung durch den EuGH zu Recht prozessiert wird.
40 Siehe L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 1984, Werkausgabe Bd. 1, § 7; G. Gebauer, Die Unbegründbarkeit der Sprachtheorie und notwendige Erzählungen über die Sprache, in: ders./D. Kamper/D. Lenzen/G. Mattenklott/Chr. Wulf/K. Wünsche, Historische Anthropologie. Zum Problem der Humanwissenschaften heute oder Versuche einer Neubegründung, 1989, S. 127 ff. 41 D. Davidson, Eine hübsche Unordnung von Epitaphen, in: E. Picardi/J. Schulte (Hrsg.), Die Wahrheit der Interpretation. Beiträge zur Philosophie Donald Davidsons, 1990, S. 203 ff., 225 f. 42 Ausführlich dazu F. Müller/R. Christensen/M. Sokolowski, Rechtstext und Textarbeit, Berlin 1997, S. 37 ff.
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IV. Die Beobachtung zweiter Ordnung in der Praxis des EuGH Es gibt bislang keine wissenschaftlich fundierte Untersuchung zur Bedeutung des Verweises auf frühere Rechtsprechung als juristische Argumentform in den Entscheidungen des EuGH. Dementsprechend vage sind die Aussagen in der Literatur dazu. So entsteht nach Buck der „Eindruck“, insbesondere in den Jahren 1988 bis 1992 sei die Anzahl der auf den Wortlaut Bezug nehmenden Urteile eher noch gestiegen. Als Grund führt er an, infolge umfangreicher Rechtsprechungstätigkeit des Gerichtshofs in den letzten Jahrzehnten sei eine Vielzahl der Gemeinschaftsnormen in ihrem Umfang und Regelungsgehalt inzwischen begrifflich geklärt. Dadurch sei es dem Gerichtshof nunmehr möglich, auf ein Reservoir begrifflich gesicherter Rechtsinstitute und Grundsätze zurückzugreifen.43 Demgegenüber wurde hier in die empirische Untersuchung des Jahrgangs 1999 der Entscheidungssammlung des EuGH dezidiert der Verweis auf frühere Rechtsprechung als eine weitere Argumentationsform neben denen der „klassischen“ Auslegungscanones einbezogen. Dabei ergab die Häufigkeitsanalyse ein zahlenmäßig überwältigendes Auftreten von ersterer. Dieses dreht das bisher von der Literatur angenommene Verhältnis geradezu um. Der Verweis auf frühere Rechtsprechung steht hier an erster Stelle. Die Argumentationsformen der „klassischen“ Auslegungscanones sind dem nachgeordnet. Dabei überwiegt die Häufigkeit des Verweises auf frühere Rechtsprechung sowohl bezogen auf alle Entscheidungen, als auch bezogen auf einzelne Entscheidungen. So enthält beispielsweise die Entscheidung C51/92 P vom 8.7.1999, Hercules Chemicals/Kommission, Seite I-4235 ff. sieben Verweise auf frühere Rechtsprechung, aber nur sechs grammatikalische sowie zwei teleologische und ein systematisches Argument.
Die herausragende Bedeutung des Verweises auf frühere Rechtsprechung als Argumentationsform in der Methodik des EuGH zeigt sich weiter auch daran, dass der EuGH seine Argumentation in einer Entscheidung typischerweise nicht nur einmal, sondern mehrfach auf frühere Rechtsprechung stützt. So wird in 88 Entscheidungen des EuGH im Jahrgang 1999 2- bis 4-mal auf frühere Rechtsprechung verwiesen, in 65 Entscheidungen 5- bis 9-mal und in 36 Entscheidungen 10-mal und mehr. Im Vergleich hierzu verwendet der EuGH die grammatikalische Auslegung typischerweise nur 1- bis 2-mal, seltener 3- bis 5- und vereinzelt mehr als 5-mal pro Entscheidung. Die teleologische Auslegung findet sich in der Regel nicht häufiger als 2-mal und die systematische Auslegung in der Regel sogar nur einmal pro Entscheidung. In der Entscheidung C-75/97 vom 17.6.1999, Belgien/Kommission, Seite 3671 ff. beruft sich der EuGH sogar 31-mal auf frühere Rechtsprechung. Es gibt keine Entscheidung, in der diese oder eine andere Argumentationsform öfter verwendet wird. 43
Buck, S. 169.
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In dieser Entscheidung geht es im Wesentlichen um Fragen des Beihilferechts i. S. v. Art. 92 ff. EG-Vertrag (Art. 87 ff. EG), und tatsächlich beziehen sich die Verweise auf frühere Rechtsprechung auch ganz überwiegend auf beihilferechtliche Fragestellungen: Die belgische Regierung hatte die Programme „Maribel a“ und „Maribel b“ aufgelegt, die eine erhöhte Ermäßigung der Sozialversicherungsbeiträge für solche Wirtschaftszweige zuließen, die dem internationalen Wettbewerb am stärksten ausgesetzt sind. Die Kommission sah darin eine unzulässige staatliche Beihilfe und forderte in einer entsprechenden Entscheidung die sofortige Beendigung der Programme sowie die Rückforderung der ihrer Ansicht nach unzulässigerweise gezahlten Beihilfen durch die begünstigten Unternehmen. Die belgische Regierung beantragte in dem Verfahren vor dem EuGH die Nichtigerklärung dieser Entscheidung. Der EuGH wies die Klage zurück.
Alles in allem belegt die auf die Häufigkeit bezogene Analyse des Verweises auf frühere Rechtsprechung in den Entscheidungen des EuGH im Jahrgang 1999 also ein eindeutiges Übergewicht dieser Argumentationsform gegenüber denen der „klassischen“ Auslegungscanones. Die Häufigkeit des Verweises auf frühere Rechtsprechung übersteigt die der übrigen Argumentationsformen um ein Vielfaches. Über diesen rein quantitativen Befund hinaus lassen sich aus dem kategorisierten Vorkommen in dem für die Untersuchung aufbereiteten Textmaterial44 weiter auch schon qualitativ einige Aufschlüsse darüber gewinnen, welche Funktion der Verweis auf die eigene Rechtsprechung für die Arbeit des EuGH hat. Damit lässt sich die Beobachtung zweiter Ordnung von Recht durch den EuGH in sich differenzieren. An erster Stelle ist dabei die Funktion der Arbeitsersparnis zu nennen. Sie ist im Übrigen eine der Funktionen, die dem Verweis auf frühere Rechtsprechung auch vonseiten der Literatur beigemessen wird.45 Mittels Verweises auf eine frühere Entscheidung erspart sich der EuGH die Begründung seiner jeweiligen Rechtsauffassung in der aktuellen Entscheidung. Dabei variiert die Arbeitsersparnis von Fall zu Fall. In keinem Fall dürfte sich jedoch ein Mehraufwand durch den Verweis auf frühere Rechtsprechung ergeben. Demgegenüber sind Fälle denkbar, in denen die Arbeitsersparnis erheblich ist. So erspart sich der EuGH beispielsweise in der Entscheidung C-99/96, Rz. 28 vom 27.4.1999, Mietz, Seite I-2277 ff. die Auslegung vom „Kauf beweglicher Sachen auf Teilzahlung“ und verweist statt dessen auf eine frühere Entscheidung: „Der Gerichtshof hat in Randnummer 20 des Urteils Bertrand festgestellt, dass unter dem Kauf beweglicher Sachen auf Teilzahlung ein Kaufgeschäft zu verstehen ist, bei dem der Kaufpreis in mehreren Teilzahlungen geleistet wird oder das mit einem Finanzierungsvertrag verbunden ist.“ In der Entscheidung C-342/96, Rz. 23 vom 44 Zu Einzelheiten siehe M. Dederichs, Empirische Untersuchung der Argumente in EuGH-Begründungen, 2004; sowie M. Dederichs/R. Christensen, Inhaltsanalyse als methodisches Instrument zur Untersuchung von Gerichtsentscheidungen, vorgeführt am Beispiel der Rechtsprechung des EuGH. 45 Buck, S. 198.
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29.4.1999, Spanien/Kommission, Seite I-2459 ff., die hier ebenfalls beispielhaft genannt werden soll, geht es um die Definition des Begriffs „Beihilfe“. Auch hier verweist der EuGH auf die „Feststellung“ in einer früheren Entscheidung und erspart sich damit eine methodisch aufwändige Auslegung in der aktuellen Entscheidung: „Der Gerichtshof hat im Übrigen bereits festgestellt, dass staatliche Eingriffe nicht schon wegen ihres sozialen Charakters von der Einordnung als Beihilfen im Sinne des Artikels 92 EG-Vertrag ausgenommen sind (Urteil vom 26. September 1996 in der Rechtssache C-241/94, Frankreich/Kommission, Slg. 1996, I-4551, Randnr. 21)“.
In ähnlicher Weise hat in den Entscheidungen des EuGH auch der Verweis auf die Schlussanträge des Generalanwalts die Funktion der Arbeitsersparnis. Der Verweis auf die eigene Rechtsprechung dient weiter der Einheitlichkeit der Rechtsprechung. Die Literatur sieht das Interesse des EuGH an einer einheitlichen Rechtsprechung und einer nachvollziehbaren, kontinuierlichen Rechtsfortbildung sogar als den wesentlichen Grund für den Verweis auf frühere Rechtsprechung an.46 Das Vorgehen des EuGH wird dabei als ein Zurückgreifen auf Argumente und Grundsätze früherer Urteile beschrieben, mit deren Hilfe „Entscheidungsketten“ mit ständigen Verfeinerungen und Präzisierungen aufgebaut würden.47 In diesem Zusammenhang wird auch die Möglichkeit einer präjudiziellen Wirkung früherer Entscheidungen diskutiert, die die herausragende Bedeutung des Verweises auf frühere Rechtsprechung in den Entscheidungen des EuGH erklären könnte.48 In diesem Fall wäre nämlich der EuGH grundsätzlich an seine frühere Rechtsprechung gebunden. Dieses, im englischen und amerikanischen Recht verhaftete Rechtsinstitut, das eine Bindung an höchstrichterliche Entscheidungen postuliert, gibt es im Europarecht jedoch nicht, was sich bereits daran zeigt, dass im europäischen Rechtsschutzsystem der hierfür erforderliche Instanzenzug fehlt. Zugleich wird in der Literatur aber auch die Bereitschaft des EuGH zum Abweichen von früheren Entscheidungen infolge eines zwischenzeitlichen Wandels der konkreten Umstände vermerkt.49 So hätten innerstaatliche Gerichte Fragen, über die der Gerichtshof bereits entschieden hatte, im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens erneut vorlegen dürfen.50 Insgesamt bediene sich der Gerichtshof bisheriger Urteilsgründe in erheblichem Umfang als Hilfsmittel richterlicher Normerkenntnis.51
46
Buck, S. 198. Buck, S. 198. 48 Eingehend zur Frage nach der Rolle von Präjudizien im Europarecht und zur Debatte in der Literatur darum hier dann F. Müller/R. Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, 2003. 49 Buck, S. 200. 50 Buck, S. 200. 51 Buck, S. 198. 47
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Als Beispiele führt Buck hierzu zum einen das Urteil C-10/89, SA CNL-SUCAL NV/HAG GF, Slg. 1990, S. 3711 ff. vom 17.10.1990 an, in dem es um die Auslegung von Art. 30 und 36 EWG-Vertrag vor dem Hintergrund des Warenzeichenrechts und des Schutzes des geistigen Eigentums geht.52 Zum anderen verweist er auf das Urteil C-145/88, Torfean Borough Council/B&Q plc, Slg, 1989, S. 3851 ff., das die Auslegung des Begriffs der Maßnahme gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkung i. S. v. Art. 30 EWG-Vertrag zum Inhalt hat.53
Auch in den Entscheidungen des Jahrgangs 1999 finden sich zahlreiche Beispiele für derartige „Entscheidungsketten“. Dies soll im Folgenden beispielhaft anhand der beiden Entscheidungen des Jahrgangs 1999 dargestellt werden, die die meisten Verweise auf frühere Rechtsprechung enthalten. Es handelt sich dabei um die Entscheidungen C-75/97 vom 17.6.1999, Belgien/Kommission, Seite 3671 ff., sowie um die Entscheidung C343/96 vom 9.2.1999, Dilexport, Seite I-579 ff. In der Entscheidung C-75/97 vom 17.6.1999, Belgien/Kommission, Seite 3671 ff. verweist der EuGH insgesamt 31-mal auf frühere Rechtsprechung. Überwiegend beziehen sich diese Verweise auf Fragen des Beihilferechts. So heißt es in Rz. 23 der Entscheidung: „[. . .] Als Beihilfen gelten namentlich Maßnahmen, die in verschiedener Form Belastungen vermindern, die ein Unternehmen normalerweise zu tragen hat und die somit zwar keine Subventionen im strengen Sinne des Wortes darstellen, diesen aber nach Art und Wirkung gleichstehen (Urteile vom 1. Dezember 1998 in der Rechtssache C-200/97 Ecotrade, Slg. 1998, I-7907, Randnr. 34).“ In Rz. 25 ff. fährt der EuGH fort: „Solche staatlichen Maßnahmen sind nicht schon wegen ihres sozialen Charakters von der Einordnung als Beihilfen im Sinnes des Artikels 92 des Vertrages ausgenommen (Urteile vom 26. September 1996 in der Rechtssache C241/94, Frankreich/Kommission, Slg. 1996, I-4551, Randnr. 21, und vom 29. April 1999 in der Rechtssache C-342/96, Spanien/Kommission, Slg 1999, I-2459, Randnr. 23). Artikel 92 Absatz 1 des Vertrages unterscheidet nicht nach den Gründen oder Zielen der staatlichen Maßnahmen, sondern beschreibt diese nach ihren Wirkungen (Urteile vom 29. Februar 1996 in der Rechtssache C-56/93, Belgien/Kommission, Slg. 1996, I-723, Randnr. 79, und vom 26. September 1996, Frankreich/Kommission, Randnr. 20).“ „Nach ständiger Rechtsprechung ist zu prüfen, ob die erhöhten Ermäßigungen im Rahmen der Programme Maribel a und b ausschließlich bestimmte Unternehmen oder bestimmte Wirtschaftszweige begünstigen und damit die Voraussetzung der Spezifität erfüllen, die eines der Merkmale des Begriffs der staatlichen Beihilfe ist, ob sie also selektive Maßnahmen sind (vgl. in diesem Sinn Urteile vom 26. September 1996, Frankreich/Kommission, Randnr. 24, und Ecotrade, Randnr. 40).“ „Wie die belgische Regierung [. . .] zu Recht ausgeführt hat, sind die streitigen Maßnahmen nicht deshalb staatliche Beihilfen, weil die zuständigen staatlichen Stellen bei der Gewährung der erhöhten Ermäßigung der Soziallasten über ein Ermessen verfügten (vgl. Urteil vom 26. September 1996, Frankreich/Kommission, Randnr. 23) [. . .].“ Auch in Rz. 33 belegt der Verweis auf frühere Rechtsprechung die rechtliche Einordnung von Beihilfen: „Nach der Rechtsprechung des Gerichtsho52 53
Buck, S. 198. Buck, S. 199.
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fes können zum einen Beihilfen in Form von Beihilfeprogrammen einen ganzen Wirtschaftszweig betreffen und gleichwohl unter Artikel 92 Absatz 1 des Vertrages fallen (vgl. Urteil vom 14. Oktober 1987 in der Rechtssache 248/84, Deutschland/ Kommission, Slg. 1987, 4013, Randnr. 18); zum anderen ist eine Maßnahme, die die Unternehmen eines bestimmten Wirtschaftszweiges teilweise von den finanziellen Lasten freistellen soll [. . .] als Beihilfe anzusehen (Urteil vom 2. Juli 1974 in der Rechtssache 173/73, Italien/Kommission, Slg. 1974, 709, Randnr. 33).“ Auch in den Rz. 48 ff. geht es im Wesentlichen um Fragen des Beihilferechts: „Im Falle eines Beihilfeprogramms kann sich die Kommission darauf beschränken, die Merkmale dieses Programms zu untersuchen, um zu beurteilen, ob es den Beihilfeempfängern gegenüber ihren Wettbewerbern einen spürbaren Vorteil sichert [. . .] (Urteil Deutschland/Kommission, Randnr. 18). Zudem braucht im Fall einer nicht angemeldeten Beihilfe die Begründung der Kommissionsentscheidung keine aktualisierte Würdigung der Auswirkungen der Maßnahme auf den Wettbewerb [. . .] zu enthalten (Urteil vom 14. Februar 1990 in der Rechtssache C-301/87, Frankreich/Kommission, Slg. 1990, I-307, Randnr. 33).“ „Nach dieser Rechtsprechung [. . .] ist es nicht erforderlich, dass die von den Programmen Maribel a und b begünstigten Unternehmen Waren ausführen [. . .].“ „Nach ständiger Rechtsprechung verfügt die Kommission bei der Anwendung von Artikel 92 Absatz 3 des Vertrages über ein weites Ermessen [. . .] (Urteil vom 21. März 1991 in der Rechtssache C-303/88, Italien/Kommission, Slg. 1991, I-1433, Randnr. 34).“ Siehe Rz. 55 der Entscheidung. Auch in Rz. 64 ff. stehen Fragen des Beihilferechts im Zentrum der methodisch durch den Verweis auf frühere Rechtsprechung belegten Argumentation des EuGH: „Die Aufhebung einer rechtswidrigen Beihilfe durch Rückforderung ist die logische Folge der Feststellung ihrer Rechtswidrigkeit (Urteil vom 21. März 1990 in der Rechtssache C-142/87, Belgien/Kommission, Slg. 1990, I-959, Randnr. 66); die Verpflichtung des Staates, eine von der Kommission als unvereinbar mit dem gemeinsamen Markt angesehene Beihilfe aufzuheben, dient der Wiederherstellung der früheren Lage (Urteil vom 4. April 1995 in der Rechtssache C-350/93, Kommission/Italien, Slg. 1995, I-699, Randnr. 21) [. . .]“. „Durch diese Rückzahlung verliert der Empfänger den Vorteil, den er auf dem Markt gegenüber seinen Mitbewerbern besaß [. . .] (Urteil vom 4. April 1995 in der Rechtssache C-350/93, Kommission/Italien, Randnr. 22).“ „Aus dieser Funktion der Rückzahlung folgt auch, dass [. . .] die Kommission in der Regel ihr von der Rechtsprechung des Gerichtshofes anerkanntes Ermessen (Urteil vom 24. Februar 1987 in der Rechtssache 310/85, Deufil/Kommission, Slg. 1987, 901, Randnr. 24) nicht fehlerhaft ausübt [. . .].“ In Rz. 68 fährt der EuGH fort: „Was [. . .] angeht, so kann nach ständiger Rechtsprechung die Rückforderung einer zu Unrecht gewährten staatlichen Beihilfe [. . .] grundsätzlich nicht als Maßnahme angesehen werden, die außer Verhältnis zu den Zielen der Vertragsbestimmungen [. . .] stünde (Urteile vom 21. März 1990, Belgien/Kommission, Randnr. 66, und vom 14. September 1994, Spanien/Kommission, Randnr. 75).“ Auf ständige Rechtsprechung im Zusammenhang mit Fragen des Beihilferechts beruft sich der EuGH des Weiteren in Rz. 73 f.: „Was das zweite Argument [. . .] angeht [. . .] so kann die Kommission nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes, wenn sie feststellt, dass eine Beihilfe ohne Anmeldung eingeführt wurde, dem betreffenden Mitgliedstaat [. . .] vorläufig aufgeben, die Zahlung der Beihilfe [. . .] auszusetzen (Urteil vom 14. Februar 1990, Frankreich/ Kommission, Randnr. 19, und vom 21. März 1991, Italien/Kommission, Randnr. 46).“ „Diese Rechtsprechung bedeutet jedoch nicht [. . .] (Urteil des Gerichts vom
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18. September 1995 in der Rechtssache T-49/93, SIDE/Kommission, Slg. 1995, II2501, Randnr. 83). Andernfalls verlöre die gesetzliche Verpflichtung der Mitgliedstaaten [. . .] beabsichtigte Beihilfemaßnahmen nicht durchzuführen [. . .] ihre Bedeutung [. . .], und es käme zu einer Vertauschung der Rollen der Mitgliedstaaten und der Kommission.“ In Rz. 82 schließlich führt der EuGH aus: „Ist jedoch eine staatliche Beihilfe [. . .] schon gewährt worden, so ist die Kommission nicht verpflichtet, besondere Gründe für die Ausübung ihrer Befugnis anzugeben, den nationalen Behörden die Rückforderung der Beihilfe aufzugeben (Urteil vom 14. September 1994, Spanien/Kommission, Randnr. 78).“
Insgesamt wird anhand dieses Beispiels deutlich, dass der EuGH auf dem Gebiet des Beihilferechts nicht nur auf eine brauchbare, sondern auf eine bereits sehr detaillierte Struktur früherer Rechtsprechung zurückgreifen kann. Als weiteres Beispiel soll die Entscheidung C-343/96 vom 9.2.1999, Dilexport, Seite I-579 ff. vorgestellt werden, in der der EuGH insgesamt 22-mal auf frühere Rechtsprechung verweist. Zugleich ist der Verweis auf frühere Rechtsprechung die einzige Argumentationsform dieser Vorabentscheidung. Inhaltlich geht es hier um die Erstattung einer von der italienischen Verwaltung erhobenen Verbrauchssteuer auf frische oder getrocknete Bananen und Bananenmehl, wobei die belastete Firma Dilexport Srl der Auffassung ist, dass es sich bei dieser Bananenverbrauchssteuer um eine Steuer handelt, die wegen Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht zu Unrecht erhoben worden ist. Im Unterschied zu der zuvor Beschriebenen beziehen sich die Verweise auf frühere Rechtsprechung in dieser Entscheidung auf unterschiedliche rechtliche Fragestellungen. So betreffen sie in Rz. 19 beispielsweise die Zuständigkeit des EuGH zur Vorabentscheidung in dem aktuellen Rechtsstreit: „Was die Vorbemerkung [. . .] betrifft, das vorlegende Gericht sei für die Entscheidung des Ausgangsverfahrens offensichtlich nicht zuständig, so ist daran zu erinnern, dass der Gerichtshof in seinem Urteil vom 14. Januar 1982 in der Rechtssache 65/81 (Reina, Slg. 1982, 33, Randnr. 7) den Grundsatz aufgestellt hat, dass er nicht nachzuprüfen hat, ob die Entscheidung, mit der er angerufen wird, den nationalrechtlichen Vorschriften über die Gerichtsorganisation und das gerichtliche Verfahren entspricht. Der Gerichtshof ist daher an die Vorlageentscheidung des Gerichts eines Mitgliedstaates gebunden, solange sie nicht auf Grund eines im nationalen Recht vorgesehenen Rechtsbehelfs aufgehoben worden ist (vgl. Urteil vom 20. Oktober 1993 in der Rechtssache C-10/92, Balocchi, Slg. 1993, I5105, Randnrn. 16 und 17). Ebenfalls um eine rechtliche Fragestellung im Zusammenhang mit dem Vorabentscheidungsverfahren geht es in Rz. 56: „Die italienische Regierung hat die Zulässigkeit der Frage bestritten, da das vorlegende Gericht nicht erläutert habe, inwiefern diese Frage für das Ausgangsverfahren von Bedeutung sei. Insoweit braucht nur an die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofes erinnert zu werden, wonach das nationale Gericht am besten beurteilen kann, ob eine Vorabentscheidung vor Verkündung seines Urteils erforderlich ist (in diesem Sinne Urteil vom 17. November 1998, Aprile, Randnr. 11).“ In den Rz. 23 ff. hingegen geht es um Fragen des Abgabenrechts: „Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes stellt das Recht auf Erstattung von Abgaben [. . .] eine Ergänzung der Rechte dar, die den Einzelnen durch die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften [. . .] in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof eingeräumt worden sind (Urteil San Gior-
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gio, Randnr. 12; Urteile vom 2. Februar 1988 in der Rechtssache C-309/85, Barra, Slg. 1988, 355, Randnr. 17, und vom 6. Juli 1995 in der Rechtssache C-62/93, BP Soupergaz, Slg. 1995, I1883, Randnr. 40). Der Mitgliedstaat ist also grundsätzlich verpflichtet, unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht erhobene Abgaben zu erstatten (Urteil vom 14. Januar 1997 in den Rechtssachen C-192/95 bis 218/95, Comarteb u. a., Slg. 1997, I165, Randnr. 20).“ „Der Gerichtshof hat jedoch auch wiederholt festgestellt, dass die Anfechtung rechtswidriger Abgabenerhebungen oder die Erstattung zu Unrecht gezahlter Abgaben in den einzelnen Mitgliedstaaten [. . .] unterschiedlich geregelt ist [. . .] (vgl. zuletzt Urteil vom 17. November 1998 in der Rechtssache C-228/96, Aprile, Slg. 1998, I7141, Randnr. 17).“ „Diese Unterschiedlichkeit der nationalen Regelungen beruht vor allem darauf, dass es keine Gemeinschaftsregelung über die Erstattung zu Unrecht erhobener inländischer Abgaben gibt [. . .] (vgl. zuletzt Urteile vom 15. September 1998 in der Rechtssache C-231/96, Edis, Slg. 1998, I4951, Randnrn. 19 und 34, und in der Rechtssache C-260/96, Spac, Slg. 1998, I4997, Randnr. 18, sowie vom 17. November 1998, Aprile, Randnr. 18).“ In Rz. 26 und 27 wird sodann hinsichtlich des Effektivitäts- und des Äquivalenzgrundsatzes auf frühere Rechtsprechung verwiesen: „In Bezug auf den Effektivitätsgrundsatz hat der Gerichtshof anerkannt, dass die Festsetzung angemessener Ausschlussfristen für die Rechtsverfolgung im Interesse der Rechtssicherheit [. . .] mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist (Urteile Rewe, Randnr. 5, und Comet, Randnrn. 17 und 18, vom 27. März 1980 in der Rechtssache 61/79, Denkavit italiana, Slg. 1980, 1205, Randnr. 23; vgl. auch Urteile vom 10. Juli 1997 in der Rechtssache C-261/95, Palmisani, Slg. 1997, I4025, Randnr. 28, und vom 17. Juli 1997 in der Rechtssache C-90/94, Haahr Petroleum, Slg. 1997, I4085, Randnr. 48). Solche Fristen sind nicht geeignet, die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren [. . .] (vgl. Urteile Edis, Randnr. 35, Spac, Randnr. 19, und vom 17. November 1998, Aprile, Randnr. 19).“ „Die Wahrung des Äquivalenzgrundsatzes setzt voraus, dass die streitige Modalität ohne Unterschied für die auf die Verletzung des Gemeinschaftsrechts wie für die auf die Verletzung des nationalen Rechts gestützten Klagen gilt, sofern es sich um dieselbe Art von Abgaben oder Gebühren handelt [. . .] (Urteile Edis, Randnr. 36, Spac, Randnr. 20, und vom 17. November 1998, Aprile, Randnr. 20).“
Die Beispiele zeigen die Vielgestaltigkeit der Rechtsfragen, die in früherer Judikatur bereits geklärt wurden. Der EuGH bedient sich dieser mittels Verweises und verzichtet auf eine „originäre Auslegung“ anhand der klassischen Auslegungscanones. Der Verzicht auf „originäre Auslegung“ anhand der klassischen Auslegungscanones zu Gunsten des Verweises auf das Auslegungsergebnis einer früheren Entscheidung bewirkt die „Verselbstständigung“ dieses Auslegungsergebnisses. „Kehrseite“ der Arbeitsersparnis durch den Verweis auf das Auslegungsergebnis einer früheren Entscheidung ist also die „Verselbstständigung“ desselben. Der EuGH verlegt mit dem Verzicht auf eine „originäre Auslegung“ anhand der klassischen Auslegungscanones zu Gunsten des Verweises auf frühere Judikatur seine Argumentation auf eine andere Ebene. Bei der Rechtserzeugung anhand der klassischen Auslegungscanones ist das Auslegungsergebnis unmittelbar mit
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der Semantisierung des Normtextes verknüpft. Vorgang und Ergebnis der Normkonkretisierung liegen auf derselben Ebene. Das heißt, der EuGH beobachtet in diesem Sinne noch als Beobachter erster Ordnung Recht und begründet seine Entscheidung entsprechend durch die Darstellung eines rechtfertigenden originären Auslegungsvorgangs. Mit dem Verweis auf eine frühere Entscheidung jedoch hat sich die Rechtserzeugung gegenüber dem Angriff an der Semantisierung des Normtextes demgegenüber verselbstständigt. In diesem Sinne treten der „Auslegungsvorgang“ und sein Ergebnis auseinander und liegen auf verschiedenen Ebenen. Die Beobachtung des EuGH nunmehr als Beobachter zweiter Ordnung verlagert sich von dem anhand des Normtextes durch seine Semantisierung zu bezeugenden Recht auf das durch die frühere Entscheidung als Argument erzeugte Recht. Zur Verdeutlichung sei an dieser Stelle noch einmal beispielhaft auf das Urteil C99/96 vom 27.4.1999, Mietz, Seite I-2277 ff. hingewiesen, in dem die Formulierung „Kauf beweglicher Sachen auf Teilzahlung“ auszulegen war. In dieser Entscheidung selbst nimmt der EuGH keine Auslegung vor. Statt dessen verweist er auf das Auslegungsergebnis einer früheren Entscheidung. In Rz. 28 der Entscheidung heißt es: „Der Gerichtshof hat in Randnummer 20 des Urteils Bertrand festgestellt, dass unter dem Kauf beweglicher Sachen auf Teilzahlung ein Kaufgeschäft zu verstehen ist, bei dem der Kaufpreis in mehreren Teilzahlungen geleistet wird oder das mit einem Finanzierungsvertrag verbunden ist.“
Für die Entscheidungen des EuGH im Jahrgang 1999 soll der Prozess der „Verselbstständigung“ von Auslegungsergebnissen durch Verlagerung auf die Ebene des Beobachter zweiter Ordnung“ anhand von zwei Bereichen weiter verdeutlich werden. Und zwar zum einen anhand der Definition unbestimmter Rechtsbegriffe und zum anderen anhand des Verweises auf „ständige“ Rechtsprechung. Zunächst zur Definition unbestimmter Rechtsbegriffe. Der EuGH verweist in den Entscheidungen des Jahrgangs 1999 dafür insgesamt 14-mal auf frühere, bzw. auf „ständige“ Rechtsprechung. Betroffen sind die Begriffe „öffentliche Sicherheit“, „Entgelt“, „mittelbare Diskriminierung“, „Diskriminierung“, „Ableitung“, „Maßnahme gleicher Wirkung“, „Unternehmen“, „Arbeitnehmer“, „Vorverfahren“, „Vereinbarung, „Verwechslungsgefahr“, „höhere Gewalt“, „Mehrwertsteuer“ und „Nebenleistung“54. 54 C-273/97, Rz. 17 vom 26.10.1999, Sirdar, S. I-7403 ff., C-333/97, Rz. 19, 34, 36 vom 21.10.1999, Lewen, S. I-7243 ff., C-231/97, Rz. 22 vom 29.9.1999, Van Rooij, S. I-6355 ff., C-44/98, Rz. 16 vom 21.9.1999, BASF, S. I-6269 ff., C-67/96, Rz. 77 vom 21.9.1999, Albany, S. I-5751 ff., C-22/98, Rz. 26 vom 16.9.1999, Becu u. a., S. I5665 ff., C-217/97, Rz. 27 vom 9.9.1999, Kommission/Deutschland, S. I-5087 ff., C49/92 P, Rz. 130 vom 8.7.1999, Kommission/Anic Partecipazioni, S. I-4125 ff., C342/97, Rz. 17 vom 22.6.1999, Lloyd Schuhfabrik Meyer, S. I-3819 ff., C-376/97, Rz. 30 vom 10.6.1999, Wettwer, S. I-3449 ff., C-338/97, C-344/97 und C-390/97, Rz. 21 vom 8.6.1999, Pelzl u. a., S. I-3319 ff., C-349/96, Rz. 30 vom 25.2.1999, CPP, S. I-973 ff.
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So wird beispielsweise in der Entscheidung C-333/97, Rz. 19, 34, 36 vom 21.10.1999, Lewen, Seite I-7243 ff. gleich 3-mal zur Definition der Rechtsbegriffe „Entgelt“, „mittelbare Diskriminierung“ und „Diskriminierung“ auf frühere Rechtsprechung verwiesen. Zum Begriff „Entgelt“ heißt es in Rz. 19 der Entscheidung: „Nach ständiger Rechtsprechung umfasst der Begriff des Entgelts im Sinne von Artikel 119 Absatz 2 des Vertrages alle gegenwärtigen oder künftigen Leistungen, die der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer auf Grund des Dienstverhältnisses gewährt, unabhängig davon, ob sie auf Grund eines Arbeitsvertrages, kraft einer Rechtsvorschrift oder freiwillig gewährt werden (vgl. Urteile vom 25. Mai 1971 in der Rechtssache 80/70, Defrenne, Slg. 1971, 445, Randnr. 6; vom 9. Februar 1982 in der Rechtssache 12/81, Garland, Slg. 1982, 359, Randnr. 10, und vom 17. Mai 1990 in der Rechtssache C-262/88, Barber, Slg. 1990, I-1889, Randnr. 20).“ In Rz. 34 fährt der EuGH mit der Definition des Begriffs „mittelbare Diskriminierung“ fort: „Nach ständiger Rechtsprechung liegt eine mittelbare Diskriminierung vor, wenn eine nationale Maßnahme zwar neutral formuliert ist, in ihrer Anwendung aber wesentlich mehr Frauen als Männer benachteiligt (insbesondere Urteil Boyle u. a., Randnr. 76)“ und in Rz. 36 schließlich verweist der EuGH zur Definition des Rechtsbegriffs „Entgelt“ auf frühere Rechtsprechung: „Nach ständiger Rechtsprechung liegt eine Diskriminierung vor, wenn unterschiedliche Vorschriften auf gleiche Sachverhalte angewandt werden oder wenn dieselbe Vorschrift auf ungleiche Sachverhalte angewandt wird (Urteil Boyle u. a., Randnr. 39).“ Ein weiteres Beispiel findet sich auf dem Gebiet des Steuerrechts in der Entscheidung in der verbundenen Rechtssache C-338/97, C-344/97 und C-390/97 vom 8.6.1999, Pelzl u. a., Seite I-3319 ff., in deren Rz. 21 der EuGH den Begriff „Mehrwertsteuer“ definiert: „Der Gerichtshof sieht zu diesem Zweck als wesentliche Merkmale der Mehrwertsteuer an: allgemeine Geltung der Steuer für alle sich auf Gegenstände und Dienstleistungen beziehenden Geschäfte; Festsetzung ihrer Höhe proportional zum Preis, den der Steuerpflichtige als Gegenleistung für die Gegenstände und Dienstleistungen erhält; Erhebung der Steuer auf jeder Produktionsund Vertriebsstufe einschließlich der Einzelhandelsstufe, ungeachtet der Zahl der vorher bewirkten Umsätze; Abzug der auf den vorhergehenden Stufen bereits entrichteten Beträge von der vom Steuerpflichtigen geschuldeten Steuer, so dass sich die Steuer auf einer bestimmten Stufe nur auf den auf dieser Stufe vorhandenen Mehrwert bezieht und die Belastung letztlich vom Verbraucher getragen wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Mai 1992 in der Rechtssache C-347/90, Bozzi, Slg. 1992, I-2947).“ Ein letztes Beispiel schließlich bietet auf dem Gebiet des Verfahrensrechts die Entscheidung C-217/97 vom 9.9.1999, Kommission/Deutschland, Seite I-5087 ff., in der es um die Definition des „Vorverfahrens“ geht. Hierzu heißt es in Rz. 27 der Entscheidung: „Wie der Gerichtshof in seinem Urteil vom 17. Juni 1998 in der Rechtssache C-321/96 (Mecklenburg, Slg. 1998, I-3809) für Recht erkannt hat, ist ein Verwaltungsverfahren im Sinne von § 7 Absatz 1 Nummer 2 UIG, das lediglich eine Maßnahme der Verwaltung vorbereitet, nur dann ein „Vorverfahren“ im Sinne von Artikel 3 Absatz 2 dritter Gedankenstrich der Richtlinie, wenn es einem gerichtlichen oder quasigerichtlichen Verfahren unmittelbar vorausgeht und durchgeführt wird, um Beweise zu beschaffen oder ein Ermittlungsverfahren durchzuführen, bevor das eigentliche Verfahren eröffnet wird.“
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Die Beispiele zeigen die Verlagerung der Rechtserzeugung auf den Beobachter zweiter Ordnung. Der Richter führt den Konkretisierungsvorgang nicht mehr selbst durch. Er lässt sich das Ergebnis vorgeben. Auch der Verweis auf „ständige“ Rechtsprechung ist Ausdruck einer solchen „Verselbstständigung von Auslegungsergebnissen“. Die Anwendungsfälle sind jedoch vielfältiger, als die zuvor beschriebene Konstellation des Verweises auf frühere Rechtsprechung zur Definition von Rechtsbegriffen, die lediglich einen Unterfall des Verweises auf ständige Rechtsprechung darstellt. Dies wird etwa an der gerade gezeigten Definition des Begriffs „Entgelt“ deutlich, die auf ständiger Rechtsprechung beruht. So betreffen die Verweise auf „ständige“ Rechtsprechung nicht nur unterschiedliche Rechtsgebiete, wie beispielsweise zollrechtliche, steuerrechtliche und beamtenrechtliche Fragestellungen, sondern auch Grundrechte und allgemeine Rechtsgrundsätze wie die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und des Vertrauensschutzes sowie Regelungen zur Haftung der Gemeinschaft. Zu zollrechtlichen Fragen siehe etwa Rz. 16 der Entscheidung C-280/97 vom 9.2.1999, Rose Elektrotechnik, S. I-689 ff.: „Nach ständiger Rechtsprechung sind im Interesse der Rechtssicherheit [. . .] grundsätzlich die objektiven Merkmale und Eigenschaften einer Ware [. . .] das entscheidende Kriterium für deren zollrechtliche Tarifierung [. . .].“ Zu steuerrechtlichen Fragen etwa Rz. 15 der Entscheidung C-349/96 vom 25.2.1999, CPP, S. I-973 ff.: „Nach ständiger Rechtsprechung sind die in Artikel 13 der sechsten Richtlinie vorgesehenen Steuerbefreiungen autonome gemeinschaftsrechtliche Begriffe, die eine von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedliche Anwendung des Mehrwertsteuersystems vermeiden sollen [. . .].“ Zu beamtenrechtlichen Fragen etwa Rz. 13 der Entscheidung C-155/98 P vom 1.7.1999, Alexopoulou/Kommission, S. I-4069 ff.: „Diese Argumentation ist mit der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofes, nach der die Anstellungsbehörde bei der Einstufung in die Besoldungsgruppe über ein weites Ermessen verfügt [. . .] offensichtlich nicht zu vereinbaren.“ Zu Grundrechten etwa Rz. 137 in der Entscheidung C-235/ 92 P vom 8.7.1999, Montecatini/Kommission, S. I-4539 ff.: „Die Meinungsfreiheit sowie das Recht, sich friedlich zu versammeln, und die Vereinigungsfreiheit [. . .] gehören zu den Grundrechten, die nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes, die im Übrigen durch die Präambel der Einheitlichen Europäischen Akte und durch Artikel F Absatz 2 des Vertrages über die Europäische Union (nach Änderung jetzt Artikel 6 Absatz 2 EU) erneut bekräftigt wurde, in der Gemeinschaftsrechtsordnung geschützt werden [. . .].“ Zu allgemeinen Rechtsgrundsätzen wie denen der Verhältnismäßigkeit und des Vertrauensschutzes etwa Rz. 52 in der Entscheidung C-104/97 P vom 14.10.1999, Atlanta/Europäische Gemeinschaft, S. I-6983 ff.: „Zunächst hat das Gericht in Randnummer [. . .] des angefochtenen Urteils zutreffend die ständige Rechtsprechung herangezogen, nach der der Grundsatz des Vertrauensschutzes zu den tragenden Grundsätzen der Gemeinschaft zählt [. . .].“ Und zu den Regelungen zur Haftung der Gemeinschaft etwa Rz. 11 in der Entscheidung C-257/98 P vom 9.9.1999, Lucaccioni/Kommission, S. I-5251 ff.: „Wie das Gericht in Randnummer 56 des angefochtenen Urteils in Erinnerung gerufen hat, ist nach ständiger Rechtsprechung die Haftung der Gemeinschaft an das Zusammentreffen mehrerer Voraussetzungen [. . .] geknüpft [. . .].“
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Am häufigsten verweist der EuGH in den Entscheidungen des Jahrgangs 1999 im Zusammenhang mit Fragen des Vorabentscheidungsverfahrens i. S. v. Art. 177 EG-Vertrag auf „ständige“ Rechtsprechung. Ein solcher Verweis findet sich insgesamt 33-mal. So beispielsweise in der Entscheidung C-107/98, Rz. 34 vom 18.11.1999, Teckal, Seite I-8121 ff., in der es um den Fall ungenau formulierter Vorlagefragen geht: „Schließlich kann der Gerichtshof nach ständiger Rechtsprechung im Fall ungenau formulierter Fragen aus den vom vorlegenden Gericht gemachten Angaben [. . .] diejenigen gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften ermitteln, die unter Berücksichtigung des Streitgegenstandes einer Auslegung bedürfen [. . .].“ Oder in der Entscheidung C-200/98, Rz. 14 vom 18.11.1999, X und Y, Seite I-8261 ff., die die Qualifizierung als „Gericht“ i. S. v. Art. 177 EG-Vertrag behandelt: „Nach ständiger Rechtsprechung stellt der Gerichtshof zur Beurteilung der rein gemeinschaftsrechtlichen Frage, ob die vorlegende Einrichtung als Gericht im Sinne von Artikel 177 EG-Vertrag anzusehen ist, auf eine Reihe von Gesichtspunkten wie gesetzliche Grundlage der Einrichtung, ständigen Charakter, obligatorische Gerichtsbarkeit, streitiges Verfahren, Anwendung von Rechtsnormen durch die Einrichtung und ihre Unabhängigkeit ab [. . .].“
Am zweithäufigsten sind wettbewerbsrechtliche Fragestellungen i. S. v. Art. 85 ff. EG-Vertrag. Im Zusammenhang mit wettbewerbsrechtlichen Fragestellungen verweist der EuGH insgesamt 21-mal auf „ständige“ Rechtsprechung. Dieser Gruppe zugehörig ist beispielsweise die Entscheidung C-199/92 P, Rz. 158, vom 8.7.2999, Hüls/Kommission, Seite I-4287 ff., in der es um den Begriff „abgestimmte Verhaltensweise“ geht: „Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes handelt es sich bei der abgestimmten Verhaltensweise um eine Form der Koordinierung zwischen Unternehmen [. . .].“ Ein weiteres Beispiel ist die Entscheidung C-49/ 92 P, Rz. 99 vom 8.7.1999, Kommission/Anic Partecipazioni Seite I-4125 ff., in der der EuGH zur Anwendung von Artikel 85 EG-Vertrag Stellung nimmt: „Nach ständiger Rechtsprechung brauchen bei der Anwendung von Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages die tatsächlichen Auswirkungen einer Vereinbarung nicht berücksichtigt zu werden, wenn sich ergibt, dass diese eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs bezweckt [. . .].“
Am dritthäufigsten schließlich betrifft der Verweis auf „ständige“ Rechtsprechung in den Entscheidungen des Jahrgangs 1999 die Umsetzung einer Richtlinie durch einen Mitgliedstaat. Im Zusammenhang mit der Umsetzung einer Richtlinie durch einen Mitgliedstaat verweist der EuGH insgesamt 15-mal auf „ständige“ Rechtsprechung. So stellt der EuGH in der Entscheidung C-315/98, Rz. 10 vom 11.11.1999, Kommission/Italien, Seite I-8001 ff. fest, dass nach ständiger Rechtsprechung bloße Verwaltungspraktiken zur Umsetzung einer Richtlinie nicht ausreichend seien. In der Entscheidung heißt es: „Was die [. . .] angeht, so können nach ständiger Rechtsprechung bloße Verwaltungspraktiken [. . .] nicht als eine wirksame Erfüllung der Verpflichtungen aus dem EG-Vertrag angesehen werden [. . .].“ Zu einer ähnlichen Feststellung gelangt er auch in der Entscheidung C-212/98, Rz. 11 vom 25.11.1999,
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Kommission/Irland, Seite I-8571 ff.: „Zu den [. . .] Schwierigkeiten einer rechtzeitigen Umsetzung der Richtlinie ist daran zu erinnern, dass nach ständiger Rechtsprechung ein Mitgliedstaat sich nicht auf Vorschriften, Übungen oder Umstände seiner internen Rechtsordnung berufen kann, um die Nichteinhaltung der in einer Richtlinie festgelegten Verpflichtungen und Fristen zu rechtfertigen [. . .].“
Insgesamt 206-mal verweist der EuGH in den Entscheidungen des Jahrgangs 1999 auf „ständige“ Rechtsprechung. Dies ist etwa ein Fünftel, exakt 17,18%, aller Verweise auf frühere Rechtsprechung in diesem Jahrgang. In Bezug auf die übrigen Argumentationsformen, die Gegenstand der vorliegenden Untersuchung waren, bedeutet dies eine mit der teleologischen Auslegung vergleichbare Häufigkeit. Die teleologische Auslegung wird in den Entscheidungen des EuGH im Jahrgang 1999 insgesamt 230-mal verwendet. Und es bedeutet eine etwa doppelt so große Häufigkeit wie die der systematischen und der historischen Auslegung. Die historische und systematische Auslegung werden in den Entscheidungen des EuGH im Jahrgang 1999 insgesamt 112-, bzw. 110-mal verwendet. Die Verweise auf „ständige“ Rechtsprechung sind auf 132 Entscheidungen verteilt, d.h. 51% aller Entscheidungen des EuGH im Jahrgang 1999 enthalten wenigstens einen Verweis auf „ständige“ Rechtsprechung. Auch funktionell wird die „Verselbstständigung“ von Aussagen, die methodisch durch frühere Rechtsprechung belegt sind, in den Entscheidungen des EuGH im Jahrgang 1999 deutlich. So beruft sich der EuGH beispielsweise in der Entscheidung C-379/97 vom 12.10.1999, Upjohn, Seite I-6927 ff. auf „ständige“ Rechtsprechung, obwohl diese vom Gesetzgeber bereits in eine Richtlinie umgesetzt worden ist. Dazu heißt es in Rz. 13 der Entscheidung: „Nach ständiger Rechtsprechung, der der Gesetzgeber in Artikel 7 Absatz 1 der Richtlinie gefolgt ist, kann sich der Inhaber einer Marke, die nach dem Recht eines Mitgliedstaats geschützt ist, nicht auf dieses Recht berufen, um sich der Einfuhr oder dem Vertrieb einer Ware zu widersetzen, die von ihm selbst oder mit seiner Zustimmung in einem anderen Mitgliedstaat in Verkehr gebracht worden ist (siehe insbesondere Urteile vom 31. Oktober 1974 in der Rechtssache 16/74, Winthrop, Slg. 1974, 1183, Randnrn. 7 bis 11, vom 17. Oktober 1990 in der Rechtssache C-10/89, HAG, Slg. 1990, I-3711, Randnr. 12, und [. . .].“
Hier setzt der EuGH seine „ständige“ Rechtsprechung argumentativ über das geschriebene Recht: Er beruft sich ausdrücklich auf seine „ständige“ Rechtsprechung und ordnet dieser das geschriebene Recht mit der Bemerkung unter, der Gesetzgeber sei dieser „ständigen“ Rechtsprechung in einer Richtlinie gefolgt. Die Bedeutung des Verweises auf „ständige“ Rechtsprechung zeigt sich also auch funktionell, wenn sich der EuGH zur Begründung seiner Entscheidung primär auf seine „ständige“ Rechtsprechung und nur sekundär auf das geschriebene Recht stützt. Die Bedeutung des Verweises auf „ständige“ Rechtsprechung zeigt sich darüber hinaus aber auch in der Häufigkeit der Anwendung, die etwa
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Häufigk f eit (absolut)
200
150
100
50 230
206
112
110
SZ
st. R
H
SY
0 Argumentformen Die Abbildung zeigt die Häufigkeit des Verweises auf ständige Rechtsprechung (= st.R) im Vergleich zu der Häufigkeit der teleologischen (= SZ), historischen (= H) und systematischen Auslegung (= SY) in den Entscheidungen des EuGH im Jahrgang 1999.
Häufigkeit des Verweises auf ständige Rechtsprechung in den zu anderen Argumentformen Entscheidungen des EuGH im Jahrgang 1999 im Vergleich
ein Fünftel aller Verweise auf frühere Rechtsprechung in den Entscheidungen des Jahrgangs 1999 ausmacht und damit in etwa der der teleologischen Auslegung entspricht. Ein wichtiges Anwendungsfeld des Verweises auf die frühere Rechtsprechung durch den EuGH ist die Abgrenzung zu früherer Rechtsprechung. Zu der Häufigkeit des Verweises auf frühere Rechtsprechung als Argumentationsform in der Methodik des EuGH trägt auch der Umstand bei, dass der EuGH seine aktuellen Entscheidungen zu früherer Judikatur abgrenzt. Dies geschieht zum Teil aus rechtlichen Erwägungen des EuGH selbst, aber auch auf die Rechtsansicht einer Partei oder in Rechtsmittelentscheidungen des Gerichts erster Instanz oder aber auf eine Vorlagefrage hin. Insgesamt 31-mal nimmt der EuGH in den Entscheidungen des Jahrgangs 1999 in dieser Form eine Abgrenzung zu früherer Rechtsprechung vor. Ein Beispiel für die Abgrenzung der aktuellen Entscheidung zu einer früheren ist die Entscheidung C-262/96, Rz. 51 ff. vom 4.5.1999, Sürül, Seite I-2685 ff., in der der EuGH ausführt: „Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof im Urteil Taflan-Met u. a. (Randnrn. 21 und 22) entschieden hat, dass sich aus der Verbindlichkeit, die das Abkommen den Beschlüssen des Assoziationsrates EWG-Türkei verleiht, ergibt, dass der Beschluss Nr. 3/80 am Tag seines Erlasses, d.h. am 19. September 1980, in Kraft getreten ist und die Vertragsparteien seither bindet.“
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„In diesem Urteil hat der Gerichtshof für Recht erkannt, dass die Artikel 12 und 13 des Beschlusses Nr. 3/80 in den Mitgliedstaaten keine unmittelbare Wirkung haben und daher für den Einzelnen nicht das Recht begründen, sich vor den innerstaatlichen Gerichten auf sie zu berufen, solange der Rat nicht die zur Durchführung dieses Beschlusses unerlässlichen ergänzenden Maßnahmen erlassen hat.“ „In der Rechtssache Taflan-Met u. a. hatten die Kläger des Ausgangsverfahrens die Gewährung von Invaliditäts- oder Witwenrenten auf Grund der in den Artikeln 12 und 13 des Beschlusses Nr. 3/80 enthaltenen Koordinierungsvorschriften beantragt. Dort ging es somit um den Anspruch türkischer Wanderarbeitnehmer, die nacheinander in mehreren Mitgliedstaaten beschäftigt waren, bzw. um den Anspruch ihrer Hinterbliebenen auf bestimmte Leistungen der sozialen Sicherheit [. . .].“ „In diesem Kontext hat der Gerichtshof in den Randnummern 29 und 30 des Urteils TaflanMet u. a. ausgeführt, dass der Beschluss Nr. 3/80, wie sich aus einem Vergleich der Verordnung Nr. 1408/71 und der zu dieser ergangenen Durchführungsverordnung Nr. 574/72 mit diesem Beschluss ergibt, zwar auf eine Reihe von Bestimmungen dieser beiden Verordnungen verweist, aber viele genaue und detaillierte Bestimmungen nicht enthält, die für die Durchführung der Verordnung Nr. 1408/71 innerhalb der Gemeinschaft als unerlässlich angesehen worden sind. In Randnummer 32 hat der Gerichtshof insbesondere ausgeführt, dass der Beschluss Nr. 3/80 zwar [. . .] den wesentlichen Grundsatz der Zusammenrechnung der Versicherungszeiten für die Zweige Krankheit und Mutterschaft, Invalidität, Alter, Sterbegeld und Familienleistungen aufstellt, dass es für die Anwendung dieses Grundsatzes jedoch des vorherigen Erlasses ergänzender Durchführungsmaßnahmen bedarf, wie sie die Verordnung Nr. 574/72 enthält [. . .].“ „In der vorliegenden Rechtssache geht es dagegen nicht um solche Koordinierungsvorschriften in Titel III des Beschlusses Nr. 3/80. Die Klägerin stützt sich nämlich ausschließlich auf das in Artikel 3 Absatz 1 dieses Beschlusses verankerte Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit, um in dem Mitgliedstaat, in dem sie sich aufhält, nach den Vorschriften nur dieses Staates eine Leistung der sozialen Sicherheit unter den für die Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaates geltenden Voraussetzungen zu beanspruchen.“ Ein anderes Beispiel ist die Entscheidung C-67/96, Rz. 113 ff. vom 21.9.1999, Albany, Seite I-5751 ff., in der der EuGH Bezug auf das Urteil GB-Inno-BM nimmt und dieses inhaltlich zu dem aktuellen Rechtsstreit abgrenzt. Dazu heißt es in Rz. 113 ff. der Entscheidung: „Im Urteil GB-Inno-BM (Randnr. 28) hat der Gerichtshof für Recht erkannt, dass die Artikel 3 Buchstabe g, 86 und 90 des Vertrages es einem Mitgliedstaat untersagen, der Gesellschaft, die das öffentliche Fernmeldenetz betreibt, die Befugnis zu übertragen, Normen für Fernsprechgeräte zu erlassen und deren Einhaltung durch die Wirtschaftsteilnehmer zu überwachen, wenn diese Gesellschaft gleichzeitig auf dem Markt für diese Geräte im Wettbewerb mit den Wirtschaftsteilnehmern steht.“ „In Randnummer 25 dieses Urteils hat der Gerichtshof nämlich entschieden, dass die Vereinigung der Befugnisse in der Hand einer solchen Gesellschaft, den Anschluss von Fernsprechgeräten an das Netz zu genehmigen oder zu verweigern, und zum anderen die technischen Normen festzulegen [. . .] darauf hinausläuft, ihr die Befugnis zu übertragen, nach Belieben zu bestimmen, welche Endgeräte an das öffentliche Netz angeschlossen werden können, und ihr damit einen eindeutigen Vorteil gegenüber ihren Wettbewerbern zu verschaffen.“ „Der dem Ausgangsverfahren zu Grunde liegende Sachverhalt weist aber Unter-
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schiede gegenüber dem Sachverhalt auf, der Gegenstand des Urteils BG-Inni-BM ist.“
In insgesamt 18 Fällen nimmt der EuGH in den Entscheidungen des Jahrgangs 1999 die Abgrenzung zu früherer Rechtsprechung ausdrücklich auf die Rechtsansicht einer Partei hin vor55. In diesen Fällen hält er die frühere Entscheidung entgegen der Rechtsansicht der jeweiligen Partei nicht für einschlägig. So berufen sich die Klägerinnen beispielsweise in der Entscheidung C-310/97 P, Rz. 64 vom 14.9.1999, Kommission/AssiDomän Kraft Products u. a., Seite I5363 ff. auf die Urteile Snupat/Hohe Behörde und Asteris u. a./Kommission: „Die Klägerinnen sind jedoch der Auffassung, dass das Gericht die Grundsätze richtig angewandt hat, die sich aus den Urteilen vom 22. März 1961, Snupat/Hohe Behörde und Asteris u. a./Kommission ergeben.“ Der EuGH verneint die Übertragbarkeit dieses Urteils auf die aktuelle Entscheidung jedoch und führt dazu in Rz. 65 ff. aus: „Die Rechtssachen Snupat/Hohe Behörde und Asteris u. a./Kommission betrafen jedoch Fallgestaltungen, die sich von der des vorliegenden Verfahrens unterscheiden.“ „Im Urteil vom 22. März 1961, Snupat/Hohe Behörde hat der Gerichtshof auf Grund einer ganz außergewöhnlichen Fallgestaltung die Verpflichtungen der Hohen Behörde extensiv ausgelegt, die diese infolge des Urteils vom 17. Juli 1959 in den Rechtssachen 32/58 und 33/58 (Snupat/Hohe Behörde, Slg. 1958-1959, 289) trafen.“ „Zum einen hatte die Snupat die ihr eröffneten Klagewege systematisch ausgeschöpft; hingegen haben die Klägerinnen die in Artikel 173 Absatz 5 EG-Vertrag vorgesehene Zweimonatsfrist verstreichen lassen [. . .].“ „Zum anderen verursachten die den beiden anderen Erzeugern gewährten Freistellungen der Snupat einen direkten Schaden im Rahmen des damaligen Ausgleichssystems [. . .]. Bei dem Betrag der Geldbußen, die den einzelnen Adressaten der Zellstoffentscheidung jeweils auferlegt wurden, verhält es sich anders, da die Nichtigerklärung bestimmter Geldbußen keinen Einfluss auf den Betrag der nicht angefochtenen Geldbußen hat.“ „Die Klägerinnen können sich auch nicht auf das Urteil Asteris u. a./Kommission stützen, in dem der Gerichtshof entschieden hat, dass das betroffene Organ im Anschluss an ein Urteil, mit dem eine für ein Wirtschaftsjahr anwendbare landwirtschaftliche Verordnung für nichtig erklärt wurde, verpflichtet sei, aus den im Zeitpunkt dieses Urteils bereits erlassenen Verordnungen für spätere Wirtschaftsjahre 55 C-104/97 P, Rz. 36 vom 14.10.1999, Atlanta/Europäische Gemeinschaft, S. I6983 ff., C-310/97 P, Rz. 65 ff. vom 14.9.1999, Kommission/AssiDomän Kraft Products u. a., S. I-5363 ff., C-257/98 P, Rz. 28 vom 9.9.1999, Lucaccioni/Kommission, S. I-5251 ff., C-257/98 P, Rz. 15 vom 9.9.1999, Lucaccioni/Kommission, S. I5251 ff., C-281/97, Rz. 27 ff. vom 9.9.1999, Krüger, S. I-5127 ff., C-200/92 P, Rz. 65 vom 8.7.1999, ICI/Kommission, S. I-4399 ff., C-200/92 P, Rz. 28 vom 8.7.1999, ICI/ Kommission, S. I-4399 ff., C-309/97, Rz. 16 vom 11.5.1999, Angestelltenbetriebsrat der Wiener Gebietskrankenkasse, S. I-2865 ff., C-136/97, Rz. 18 vom 29.4.1999, Norbury Developments, S. I-2491 ff., C-360/97, Rz. 31 ff. vom 20.4.1999, Nijhuis, S. I1919 ff., C-87/97, Rz. 26 vom 4.3.1999, Consorzio Per La Tutela Del Formaggio Gorgonzola, S. I-1301 ff., C-73/97 P, Rz. 36, 39, 53 vom 21.1.1999, Frankreich/Comafrica u. a., S. I-185 ff., C-150/97, Rz. 22 vom 21.1.1999, Kommission/Portugal, S. I259 ff., C-303/97, Rz. 34 vom 28.1.1999, Sektkellerei Kessler, S. I-513 ff., C-416/96, Rz. 60 vom 2.3.1999, Eddline El-Yassini, S. I-1209 ff.
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diejenigen Bestimmungen zu entfernen, die der für rechtswidrig erklärten inhaltsgleich waren.“ „In jener Rechtssache ging es nämlich um die Nichtigerklärung von befristeten, aufeinanderfolgenden Verordnungen, so dass die Nichtigerklärung einer früheren Verordnung das Organ, das sie erlassen hatte, zwangsläufig dazu verpflichtete, bei der Erarbeitung der späteren Verordnungen das Urteil des Gerichtshofes zu beachten.“ Ein weiteres Beispiel ist die Entscheidung C-360/97 vom 20.4.1999, Nijhuis, Seite I-1919 ff., worin der EuGH den aktuellen Rechtsstreit zu mehreren in der Vergangenheit ergangenen Entscheidungen abgrenzt, auf die sich der Kläger und die Kommission berufen. So erklärt der EuGH in Rz. 31 ff. der Entscheidung: „Ein solcher Fall lag in der Rechtssache Vougioukas vor, in der es um bestimmte nationale Vorschriften ging, die diskriminierend waren, weil sie die Anerkennung von Versicherungszeiten nur deshalb ausschlossen, weil diese Zeiten in einem anderen Mitgliedstaat als dem in Rede stehenden Staat zurückgelegt worden waren [. . .].“ „Dagegen ist es im Ausgangsverfahren, in dem es um die Feststellung einer Leistung bei Invalidität nach einem Sondersystem für Beamte oder ihnen gleichge-stellte Personen eines Mitgliedstaats geht [. . .] unerlässlich, auf Koordinierungstechniken zur Regelung der Beziehungen zwischen den betreffenden nationalen Systemen zurückzugreifen [. . .].“ „Die Urteile Olivieri-Coenen sowie Grahame und Hollanders betreffen zwar ebenfalls die Feststellung von Leistungen bei Invalidität nach niederländischen Rechtsvorschriften, können jedoch in der vorliegenden Rechtssache nicht herangezogen werden. Sie betreffen die Frage der Berücksichtigung von Beschäftigungszeiten und gleichgestellten Zeiten, die vor dem 1. Januar 1967, dem Tag des Inkrafttretens der WAO, in den Niederlanden zurückgelegt wurden [. . .].“ Ein letztes Beispiel schließlich ist die Entscheidung C-136/97, Rz. 18 vom 29.4.1999, Norbury Developments, Seite I-2491 ff., in der der EuGH feststellt: „Der Gerichtshof hat zwar in Randnummer 17 des Urteils Kommission/Deutschland festgestellt, dass die Aufrechterhaltung teilweiser Befreiungen, die in den Übergangsbestimmungen des Artikels 28 Absatz 3 der sechsten Richtlinie nicht ausdrücklich vorgesehen seien, nicht zulässig sei, zumal dies gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit verstoßen würde. Dieses Urteil erging jedoch wegen einer von einem Mitgliedstaat nicht ordnungsgemäß vorgenommenen Umsetzung des Artikels 26 der Sechsten Richtlinie [. . .]. Das Urteil Kommission/Deutschland ist somit unter tatsächlich und rechtlich völlig anderen Umständen als denen des Ausgangsverfahrens erlassen worden, so dass Norbury sich zur Stützung ihres Vorbringens nicht mit Erfolg darauf berufen kann.“
Eine Abgrenzung zu früherer Rechtsprechung nimmt der EuGH aber auch auf die Rechtsansicht des EuG-I hin vor. So führt er in Rz. 34 der Rechtsmittelentscheidung C-73/97 P vom 21.1.1999, Frankreich/Comafrica u. a., Seite I-185 ff. aus: „In Randnummer 20 des Urteils Weddel/Kommission hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Verordnung (EWG) Nr. 2806/87 der Kommission vom 18. September 1987 betreffend die Erteilung von Einfuhrlizenzen für frisches, gekühltes oder gefrorenes hochwertiges Rindfleisch/ Abl. L 268, S. 59) angesichts der Rindfleischmengen erlassen wurde, für die in den ersten zehn Tagen des Monats September 1987 einzelne Einfuhrlizenzanträge eingereicht worden waren.“ In den folgenden Absätzen stellt der EuGH die relevante Pas-
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sage des zitierten Urteils Weddel/Kommission sowie den aktuellen Sachverhalt dar und kommt in Rz. 38 zu dem Ergebnis: „Das Gericht ist daher, gestützt auf das Urteil Weddel/Kommission, in Randnummer 41 des angefochtenen Urteils ebenfalls zu Unrecht zu dem Schluss gelangt, dass die Verordnung Nr. 3190/93 als Bündel von Einzelfallentscheidungen anzusehen sei, die sich an jeden Marktbeteiligten richteten und ihn in Wirklichkeit über die genauen Mengen informieren, die er 1994 einführen dürfe.“
Schließlich kann eine Abgrenzung zu früherer Rechtsprechung auch auf die Vorlagefragen des nationalen Gerichts hin erfolgen. Dies war beispielsweise in der Entscheidung C-379/97 vom 12.10.1999, Upjohn, Seite I-6927 ff. der Fall, in der der EuGH den aktuellen Rechtsstreit in seiner Stellungnahme zu der jeweiligen Vorlagefrage insgesamt 3-mal zu früherer Rechtsprechung abgrenzt. In diesem Sinne erklärt der EuGH in Rz. 20 der Entscheidung: „Während die Urteile Hoffmann-La Roche und Bristol-Myers Squibb u. a. den Fall betrafen, dass der Parallelimporteur ein mit einer Marke versehenes Produkt umpackt und darauf wieder die ursprüngliche Marke anbringt, bezog sich das in der zweiten Vorlagefrage genannte Urteil vom 10. Oktober 1978 in der Rechtssache 3/ 78 (American Home Products, Slg. 1978, 1823) auf den Fall, dass der Parallelimporteur die ursprüngliche Marke, die vom Inhaber im Ausfuhrmitgliedstaat benutzt wurde, durch die vom Inhaber im Einfuhrmitgliedstaat benutzte Marke ersetzt.“ In Rz. 21 fährt er fort: „In den Randnummern 14, 17 und 18 des letztgenannten Urteils hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Hauptfunktion der Marke [. . .] somit zum spezifischen Gegenstand des Markenrechts gehört [. . .]“ und in Rz. 22 schließlich heißt es: „Der Gerichtshof hat aber in den Randnummern 22 und 23 des Urteils American Home Products auch festgestellt, dass es eine verschleierte Beschränkung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten im Sinne des Artikels 36 Absatz 2 EGVertrag darstellt, wenn der Markeninhaber sich gegen eine nicht genehmigte Benutzung der Marke durch einen dritten zur Wehr setzt, soweit erwiesen ist, dass der Markeninhaber mit der Benutzung verschiedener Marken für die gleiche Ware das Ziel verfolgt, die Märkte abzuschotten.“
Die Abgrenzung zu früherer Judikatur in den Entscheidungen des EuGH ist also ein weiterer Baustein zur Begründung der Häufigkeit des Verweises auf frühere Rechtsprechung als Argumentationsform in der Methodik des EuGH. Dabei zeigt sich, dass die Abgrenzungen zum Teil aus rechtlichen Erwägungen des EuGH selbst, aber auch auf die Rechtsansicht einer Partei, des Gerichts erster Instanz oder auf eine Vorlagefrage hin vorgenommen werden.
V. Risiken und Chancen der Beobachtung zweiter Ordnung von Recht: Der EuGH als Beobachter seiner selbst Das Gewicht, das der Verweis auf die eigene Rechtsprechung für die Arbeit des EuGH hat, wirft natürlich auch die Frage nach der Beurteilung der Risiken und Chancen, die darin liegen, auf. Das Misstrauen von Rechtstheoretikern gegenüber einem sich an den eigenen Entscheidungen fortschreibenden „Richter-
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rechts“ ist, einmal ganz abgesehen von den verfehlten rechtstheoretischen Grundlagen, in denen es wurzelt, natürlich nicht völlig aus der Luft gegriffen.56 Gerade wenn man sich die Funktion einer „Arbeitsersparnis“ vor Augen hält, aber auch die Apostrophierung und Petrifizierung der eigenen Entscheidungspraxis zu einer „ständigen Rechtsprechung“, kommt einem jener Spruch in den Sinn, der die Problematik der Rechtsfortschreibung am eigenen Text auf den Punkt bringt. Ärzte, so heißt es, beerdigen ihre Fehler. Wenn jedoch ein Jurist einen Fehler macht, dann wird dies ein allgemeiner Rechtsgrundsatz. Dies weist deutlich auf das Risiko hin, das dem Einsatz des Verweises auf die eigene Rechtsprechung grundsätzlich anhaftet. „Arbeitsersparnis“ droht in die Fortschreibung von Fehlern, von Fehlentscheidungen zu münden. Sie kann den Juristen in der falschen Sicherheit einer einmal getroffenen und allzu schnell als schlussendlich betrachteten Entscheidung verführen. Und sie kann schließlich in die blinde Bindung an Präjudizien führen. Akzeptiert der Jurist vorschnell den Urteilsspruch als „ständig“ beständiges Recht, so droht Rückfall in positivistische Illusionen. Darüber aber lässt sich nicht vorab am grünen Tisch der Theorie urteilen. Es gibt so oder so kein Recht vor dem Fall. Weder gibt das Gesetz es her, indem es von ihm „vorbedeutet“ wäre, noch gibt ein Urteil es her, indem es von diesem „vorgefertigt“ wäre. Das Recht ist immer wieder am Fall neu in Arbeit zu nehmen, auch die eigene Vorentscheidung. Und die Frage ist, ob sich diese Semantisierung nach den Recht als Praxis definierenden Prinzipien und den diese einlösenden Regeln juristischer Kunst begründen lassen. Hier genau liegt auch die Chance von Verweisen auf die eigene Rechtsprechung. Denn sie vermögen die Arbeit an Recht als dessen Konstruktion unübersehbar zu machen. Der Bezug auf den eigenen Text fordert gegen alle Theorie um seiner selbst willen schon ein derartiges Maß an Begründung ab, dass der Jurist sich hier schlechterdings hinter der Metapher einer Erkenntnis von Recht aus dem Gesetz verstecken kann. Anders ausgedrückt unterliegt der Verweis auf die eigene Rechtsprechung einem derart verschärften normativen Druck, dass Autorität hier kaum lediglich beschworen werden, sondern eher nur als eigene Leistung in Anspruch genommen werden kann. Angesichts der praktischen Verhältnisse der Rechtsarbeit ist dies unumgänglich. Bei Entscheidungen handelt es sich nie um ein Anwenden, sondern immer 56 Siehe beispielsweise nur F. Bydlinski, Hauptpositionen zum Richterrecht, in: JZ 1985, S. 149 ff.; H. Sendler, Richterrecht – rechtstheoretisch und rechtspraktisch, in: NJW 1987, S. 3240 ff. Grundlegend zum Problem in kritischer Auseinandersetzung mit der herrschenden Lehre F. Müller, Richterrecht – rechtstheoretisch formuliert, in: Richterliche Rechtsfortbildung. Erscheinungsformen, Auftrag, Grenzen. Festschrift der Juristischen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, hrsg. von den Hochschullehrern der Juristischen Fakultät der Universität Heidelberg, Heidelberg 1986, S. 65 ff.; sowie ders., ,Richterrecht‘. Elemente einer Verfassungstheorie III, Berlin 1986.
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um das Erzeugen von Normen, anhand von Text. Der Text fungiert als Eingangsdatum für die Rechtserzeugung und in Gestalt einer darzustellenden Zurechenbarkeit von deren Ergebnissen zugleich als Maßstab für die Richtigkeit und Rechtmäßigkeit der Entscheidung. Der Normtext wird dafür immer als ein Bezugspunkt der Rechtsarbeit vorgesetzt, indem er für diese als ein geltender akzeptiert wird und werden muss. Dies ergibt sich aus den methodischen Standards, denen der Jurist unterworfen ist und über die er sich nur um den Preis hinwegsetzen kann, selbst nicht mehr als ein solcher gelten zu können. Genau auf diese Anforderungen nun an den Prozess der Semantisierung von Text bezieht sich auch das Erfordernis der Bindung. Und zwar vorderhand an jeglichen Text, der in Geltung gesetzt ist. Die Auszeichnung bestimmter Textsorten, etwa von Gesetzen, dafür vor anderen, etwa Gerichtsurteilen, ist dabei gleichfalls eine Angelegenheit der juristischen Standards so, wie sie etwa in Verfassungen zur Begründung eines bestimmten Rechtssystems formuliert werden. Auf keinen Fall aber geht diese Auszeichnung für eine Bindung von den Texten selbst aus etwa dergestalt, dass die einen die leitenden Normen enthielten und die anderen etwa nicht. „In Kraft“ gesetzt und praktisch wirksam werden die die Geltung von Text figurierenden Standards dann auch wiederum allein in der entsprechenden normativen Praxis als Spiel um die bindende Autorität im „Raum der Gründe“. Beobachtung allenthalben also und keinerlei Substanz. Text vermag so der Rechtsarbeit niemals einen fraglos in sich ruhenden und von ihr unberührbaren Fixpunkt zu bieten. Weder das Gesetz, noch die Vorentscheidung, das Präjudiz. Text vermag der Rechtsarbeit immer nur operationale Leitlinien und Orientierungen zu bieten, an denen sie auch kontrollierbar wird. Und zwar in diesem Sinne sowohl anhand des Gesetzes, als auch anhand der Vorentscheidung. Rechtsarbeit setzt dabei immer nur Text für Text und der sie vollziehende Jurist kann die daraus erwachsenden Begründungslasten niemals abschieben. Weder an den Gesetzgeber, noch an den Richterkollegen oder an seine eigene Vorentscheidung. D. h., dass auch der Verweis auf eine Rechtsprechung, die man selbst in der juristischen Welt gesetzt hat, nicht von einer neuerlich zu leistenden Begründung entbindet, wenn man auf sie verweist. Je nachdem nun, wie diese Bindung ausfällt, kann man zwischen der an Normtexte und einer argumentativen Bindung unterscheiden. Während man erstere nicht einfach durch Argumente überspielen darf, vermag zweitere zwar der Entscheidungen einen Rahmen bieten, kann aber als ein solcher durchaus weiteren Argumenten weichen. Vorausgesetzt nur, diese können ein Mehr an Einwandfreiheit und damit an Geltung für sich beanspruchen.57 Die Frage ist daher, welcherlei Bindungswirkung man dann Vorentscheidungen zubilligen
57 Dazu im Einzelnen R. Christensen/M. Sokolowski, Die Krise der Kommunikation und die Möglichkeit juristischen Argumentierens, i. Vorb.
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kann. Eine normtexthafte, die sie zum Zurechnungspunkt für die Entscheidung macht, oder aber eine argumentative, die ihr lediglich die Richtung weist? Aufschlüsse gibt hier wiederum die Praxis des EuGH. Besonders brisant für die anstehende Frage ist das Vorabentscheidungsverfahren58. Denn dies käme in seinen Ergebnissen am ehesten als Kandidat für eine normtextähnliche Wirkung der Entscheidungen des Gerichts in Betracht. In ihm werden auf deren Vorlage durch die nationalen Gerichte hin Fragen der Auslegung des Primärrechts bzw. sekundärrechtlicher Rechtsquellen vom EuGH auf Grund von Vorlagen nationaler Gerichte geklärt.59 Dabei entscheidet das Gericht weder über die Wirksamkeit nationaler Gesetze, noch über deren Interpretation, noch über deren Vereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht und auch nicht über dessen Anwendung auf den Einzelfall.60 Vielmehr geht es einzig und allein um die Konkretisierung von Gemeinschaftsrecht.61 Das Vorabentscheidungsverfahren bindet dann nach Maßgabe seines Tenors. Dieser ist im Licht der Entscheidungsgründe auszulegen und bildet eine verbindliche Vorgabe für das vorlegende Gericht. Allerdings ist es fraglich, ob die Bindungswirkung über das jeweilige Verfahren hinausreicht. Darüber hinaus gibt es eine präjudizielle Wirkung der Urteile des EuGH in ähnlich gelagerten Verfahren vor anderen Gerichten:62 Es ist davon auszugehen, „dass die Antworten des Gerichtshofes auf solche Fragen keineswegs etwa unverbindliche gutachtliche Stellungnahmen sind, sondern das vorlegende Gericht und auch alle in der Folge mit der Rechtssache befassten Instanzen verpflichten, dem Gerichtshof und seiner Auslegung des Gemeinschaftsrechts zu folgen, soweit dieses zur Anwendung kommt.“63 Dies folgt daraus, dass dem EuGH im 58 Siehe dazu grundsätzlich B. Schima, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH. Unter besonderer Berücksichtigung der Rechtslage in Österreich, 1997; sowie J. J. Barcelò, Precedent in European Community Law, in: N. MacCormik/R. S. Summers (Hrsg.), Interpreting Precedents: A Comparative Study, 1997, S. 407 ff.; U. Ehricke, Die Bindungswirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren nach deutschem Zivilprozessrecht und nach Gemeinschaftsrecht, in: Vorträge, Reden und Berichte aus dem Europa-Institut der Universität des Saarlandes, Nr. 364, 1997. 59 Vgl. dazu K. Bertelsmann, Vorabentscheidungsverfahren der Arbeitsgerichtsbarkeit zum Europäischen Gerichtshof, in: NZA 1993, S. 775 ff., 778. 60 Siehe EuGH Slg. 1967, S. 60 ff. (da Costa); sowie EuGH Slg. 1964, S. 379 ff. (Unger/Bedrijfsvereiging voor Detailhandel en Ambachten). 61 Dazu G. Hirsch, Die deutsche Arbeitsgerichtsbarkeit und der Europäische Gerichtshof. Eine wechselvolle Beziehung, in: RdA 1999, S. 48 ff., 50. 62 Vgl. dazu H. Krück, in: H. v. d. Groeben/J. Thiesing/C. D. Ehlermann, Kommentar zum EU-, EG-Vertrag, Bd. 3 Art. 137–209a EGV, 5. Aufl., 1997, Art. 177, Rn. 87. 63 B. Schima, Zur Wirkung von Auslegungsentscheidungen des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften, in: B. Feldner/N. Forgó (Hrsg.), Norm und Entscheidung, 2000, S. 280 ff., 285; vgl. dazu auch EuGH Slg. 1977, S. 163 ff. (Benedetti/ Munari); EuGH Slg. 1986, S. 947 ff. (Wünsche Handelsgesellschaft/BRD); EuGH Slg.
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System des Vertrages die Aufgabe der Auslegung zukommt und dass die innerstaatlichen Gerichte und Behörden das Gemeinschaftsrecht im aktuellen Entwicklungszustand anzuwenden haben.64 Damit gleicht diese Wirkung der von höchstrichterlichen Entscheidungen im nationalen Recht. Diese haben jedenfalls eine tatsächliche rechtsbildende Kraft insofern, als an ihnen aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit festgehalten wird. Beispiel für den Einfluss des EuGH auf die nationale Gerichtsbarkeit ist die „Paletta-Entscheidung“, EuGH Slg. 1992, S. I-3423 ff., 3458 ff. (Paletta u. a./Brennet). Hier ging es um die Frage, ob ein privater Arbeitgeber einem Arbeitnehmer Lohnfortzahlung leisten muss, wenn dieser eine im Ausland ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegt. Der EuGH übertrug seine im Hinblick auf öffentliche Sozialträger ergangene Rechtsprechung zu Art. 18 Abs. 1 bis 4 der Verordnung Nr. 574/72 auf den privaten Arbeitgeber und bejahte ohne Vorbehalt dessen rechtliche und tatsächliche Bindung an ein derartiges Attest. Dem Arbeitgeber bleibe nur die Möglichkeit, den Arbeitnehmer durch einen Arzt seiner Wahl untersuchen zu lassen. Dieses Urteil wurde in Deutschland stark kritisiert, da es Missbrauch ermögliche. Vor allem in dem fraglichen Verfahren bestand dieser Verdacht. Der Kläger hatte sich mit seiner Familie öfter im Anschluss an den Sommerurlaub in Italien für mehrere Wochen krankgemeldet. Auf Berufung und Revision des Arbeitgebers hin legte das Bundesarbeitsgericht dem EuGH zwei weitere Fragen zum selben Ausgangsfall vor. Daraufhin stellte der Gerichtshof im Urteil „Paletta II“ vom 2. Mai 1996 klar, dass das Gemeinschaftsrecht es dem Arbeitgeber nicht verwehre, Nachweise zu verlangen, anhand deren das nationale Gericht gegebenenfalls feststellen kann, dass sich der Arbeitnehmer nicht missbräuchlich oder betrügerisch arbeitsunfähig gemeldet hatte. Anhand dieser Ausführungen hat das Bundesarbeitsgericht den konkreten Fall dann dahingehend entschieden, dass keine Pflicht zur Lohnfortzahlung bestehe.65
Dieses Beispiel macht das Zusammenwirken des EuGH mit der nationalen Gerichtsbarkeit deutlich.66 Da der EuGH die fraglichen Streitfälle nicht entscheidet, sondern nur die „Definitionsmacht“ für das Gemeinschaftsrecht inne1991, S. I-6079 ff. (Gutachten 1/91); sowie J. D. Combrexelle, L’impact de l’arrêt de la Cour: étendue et limites des pouvoirs du juge national, in: V. Christianos (Hrsg.), Évolution récente du droit judiciaire communautaire, Band 1, 1994, S. 113 ff. 64 Vgl. dazu K. Hailbronner/S. Magiera/E. Klein/P. C. Müller-Graf, Handkommentar zum Vertrag über die Europäische Union, Stand September 1991, Art. 177 EWG, Rn. 45. 65 Zusammenfassend zu diesem Beispiel einer Wirkung von EuGH-Entscheidungen G. Hirsch, Die deutsche Arbeitsgerichtsbarkeit und der Europäische Gerichtshof. Eine wechselvolle Beziehung, in: RdA 1999, S. 48 ff., 50. Kritisch zur EuGH-Rechtsprechung in diesem Bereich demgegenüber H. Wißmann, Europäischer Gerichtshof und Arbeitsgerichtsbarkeit – Kooperation mit Schwierigkeiten, in: RdA 1995, S. 193 ff. 66 Zum Verhalten der nationalen Gerichte vgl. K. Alter, Explaining National Court Acceptance of European Court Jurisprudence: A Critical Evaluation of Theories of Legal Integration, in: A.-M. Slaughter/A. S. Sweet/J. Weiler (Hrg.), The European Court and National Courts – Doctrine and Jurisprudence. Legal Change in its Social Context, 1998, S. 227 ff.
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hat67, sind die Gerichte allein daran gebunden, das Auslegungsergebnis zu Grunde zu legen. Gegenstand der Bindung sind zunächst die verallgemeinerungsfähigen Rechtsansichten, die der EuGH in seiner Vorlageentscheidung formuliert. Sie formulieren, was der Normtext für eine bestimmte Klasse von Fällen bedeutet und vollenden mit dieser Rechtsnormerzeugung den vom Gesetzgeber mit der Normtextformulierung begonnenen Rechtsetzungsvorgang. Dies zeigt etwa die Entscheidung EuGH, Slg. 1995, S. I-4759 ff. (Strafverfahren gegen Colin und Dupré). Trotz der ganz am Einzelfall klebenden Vorlagefragen der nationalen Gerichte und der sehr präzisen Vorgaben im Bereich von Tarifierungsproblemen bemüht sich der EuGH um diesen generellen Charakter: „Pastillen wie die roten ,Pulmoll‘-Pastillen fallen angesichts ihrer Zusammensetzung, Aufmachung und Wirkung unter die Tarifnummer 17.04 des gemeinsamen Zolltarifs.“ Das entscheidende Wort ist hierbei das „Wie“. Damit wird die Rechtsnorm vom Einzelfall abgehoben.
Wie steht es nun mit dem normativen Moment? Sicher ist, dass die Auslegungsentscheidungen des EuGH künftigen Entscheidungen die Richtung zu geben vermögen, sofern sie einer methodischen Überprüfung standhalten. Fraglich ist aber, ob sie darüber hinaus eine normtextähnliche Rolle aufweisen. Diese würde zunächst dazu führen, dass der EuGH an seine Vorentscheidung selbst gebunden wäre. Das wäre auch für die Bindung der nationalen Gerichte nützlich.68 Aber dem EuGH würde dann die nötige Flexibilität fehlen, um auf Veränderungen reagieren zu können. Außerdem wäre er ständig mit dem Subsumieren unter eigene Leitsätze beschäftigt. Für eine Rechtsprechungsänderung wären dann jedes Mal der Gesetzgeber oder sogar die Vertragsparteien nötig.69 Zwar hat der EuGH eine Änderung seiner eigenen Rechtsprechung nur selten vorgenommen,70 aber trotzdem hält er sich durch die eigenen Urteile nicht für gebunden. Im Urteil „da Costa“71 hat Generalanwalt Lagrange diese Auffassung mit grundsätzlichen Erwägungen der notwendigen Flexibilität begründet, und seither ist es dabei geblieben. Wenn eine normtextähnliche Funktion anzunehmen wäre, müssten neben den vorlegenden Gerichten auch alle anderen nationalen Gerichte durch die Ent67 Vgl. dazu W. Blomeyer, Der Einfluss der Rechtsprechung des EuGH auf das Arbeitsrecht, in: NZA 1994, S. 633 ff., 640. 68 Vgl. U. Ehricke, Die Bindungswirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren nach deutschem Zivilprozessrecht und nach Gemeinschaftsrecht, in: Vorträge, Reden und Berichte aus dem Europa-Institut der Universität des Saarlandes, Nr. 364, 1997, S. 51. 69 L. N. Brown/T. Kennedy, The Court of Justice of the European Communities, 4. Aufl., 1994, S. 352 ff. Ein Tätigwerden der Vertragsparteien wurde z. B. von der belgischen Regierung als Reaktion auf das Urteil des EuGH, Slg. 1995, S. I-4921 ff. (Bosman) erwogen. 70 Vgl. dazu EuGH, Slg. 1990, S. I-3711 ff. (HAG GF). 71 EuGH, Slg. 1963, S. 63 ff. (da Costa u. a./Niederländische Finanzverwaltung).
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scheidung des EuGH gebunden werden. Dass auch dies nicht angenommen werden kann, sieht man schon daran, dass es den nationalen Gerichten erlaubt bleibt, die gleiche Frage erneut vorzulegen.72 Diese Möglichkeit wird von der einzelstaatlichen Justiz sogar als Chance für eine Rechtsprechungsänderung genutzt.73 Alles in allem ergibt sich, dass Präjudizien der aktuellen Entscheidung Richtung geben, sofern sie methodisch haltbar sind, und damit normativ wirken. Aber sie fungieren nicht als legitimierender Zurechnungspunkt neuer Entscheidungen. Sie sind nur Argumente. Aber das sind sie ganz sicher. Der Verweis auf die eigene Rechtsprechung als Beobachtung zweiter Ordnung von Gemeinschaftsrecht fungiert vollgültig als juristische Argumentform. Und etwas anderes steht der Praxis ohnehin nicht zur Verfügung. In einer Mikroanalyse soll abschließend daher noch einmal deren Einsatz durch den EuGH gezeigt werden. Der Verweis auf die eigene Rechtsprechung spielt gerade dort eine große Rolle, wo es dem EuGH seiner Verpflichtung gemäß um die Pflege und Entwicklung des Gemeinschaftsrechts geht. In der Sache geht es bei der zu betrachtenden Entscheidung um eines der ganz „heißen Eisen“ in der europäischen Rechtsprechung, um die Frage der Wettbewerbsfreiheit auf dem europäischen Binnenmarkt. Der EuGH ist hier immer wieder aufgerufen, gegen Wettbewerbsverzerrungen vorzugehen. Sei es durch einseitig begünstigende nationalstaatliche Maßnahmen oder sei es durch bestimmte unternehmerische bzw. betriebliche Organisationsformen. Das ist der Rahmen, in dem die hier zu betrachtende Rechtssache C-376/92 vom 13. Januar 1993 steht, in der der EuGH in einem Vorabentscheidungsersuchen des Oberlandesgerichts Düsseldorf zu urteilen hatte. Eine namhafte Selbstbedienungsgroßhandelskette verkauft Uhren der gehobenen Luxusklasse. Die Herstellerfirma, keine geringere als Cartier, weigert sich darauf hin, die kostenlose Herstellergarantie zu übernehmen, mit der Begründung, dass die Großhandelskette Metro nicht zum Kreis der von ihr bestallten Vertragshändler gehöre. Daraufhin verklagt Metro die Firma Cartier auf die Erbringung dieses kostenlosen Services. Im Zuge der Begründung dieser Klage macht die Firma Metro unter anderem geltend, dass das von Cartier etablierte Vertriebssystem ohnehin rechtswidrig sei. Die Frage nach dem hier in Rede stehenden „selektiven Vertriebssystem“ ist dem Gericht nicht neu. Der EuGH war damit zuvor schon in der Rechtssache 31/80 befasst. Entsprechend verweist der Generalanwalt auch für die „wohlbekannte stän72 Dieser Umstand ist geklärt seit EuGH, Slg. 1963, S. 60 ff. (da Costa u. a./Niederländische Finanzverwaltung); vgl. dazu auch Bebr, G., Preliminary Rulings of the Court of Justice: Their Authority and Temporal Effect, in: Common Market Law Review 18 (1981), S. 475 ff.; J. Streil, Das Vorabentscheidungsverfahren als Bindeglied zwischen europäischer und nationaler Rechtsprechung, in: Schwarze, J. (Hrsg.), Der Europäische Gerichtshof als Verfassungsgericht und Rechtschutzinstanz, 1983, S. 69 und 78 f. 73 Entsprechende Beispiele findet man bei K. Riechenberg, Note concernant les renvois préjudiciels qui réinterrogent la Cour, in: V. Christianos (Hrsg.), Évolution récente du droit judiciaire communautaire, Band I, 1994, S. 99.
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dige Rechtssprechung“ auf das „Urteil vom 11. Dezember 1980 in der Rechtssache 31/80 L’Oréal, Slg. 1980, 3775“ und schließt an diese mit der Feststellung an, „dass selektive Vertriebsbindungen (. . .) als mit Artikel 85 Absatz 1 vereinbar anzusehen sind, wenn die Auswahl der Händler auf Anforderungen beruht, die mit der Natur des Erzeugnisses zusammenhängen, und auf Grund objektiver Gesichtspunkte qualitativer Art erfolgt, die sich auf die fachliche Eignung des Wiederverkäufers, seines Personals und seiner sachlichen Ausstattung beziehen“. Wobei „diese Gesichtspunkte (. . .) im Übrigen einheitlich und ohne Diskriminierung für alle in Betracht kommenden Wiederverkäufer angewendet werden (. . .)“ (EuGH C-376/92 I-21). Demgemäß wäre dann eigentlich auch „die Errichtung einer selektiven Vertriebsbindung für Erzeugnisse, die wie die Cartier-Uhren zur Kategorie der Luxuserzeugnisse gehören, ohne Weiteres gerechtfertigt“, sofern dies eine „wichtige Voraussetzung für die Förderung des Image und des kaufmännischen Ansehens des Erzeugnisses“ (EuGH C-376/92, I-21) darstellt. Genau darum war es auch in der Vorentscheidung in der Rechtssache 31/80 vom 11.12.1980 gegangen. In der Sache hatte hier der EuGH auf Ersuchen der Rechtsbank von Koophandel Antwerpen darüber zu befinden, ob Vereinbarungen über ein „selektives Vertriebssystem“ „geeignet sind“, „den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen (. . .) und eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs bezwecken oder bewirken“, mithin ob solche Vereinbarungen unvereinbar sind mit Art. 85 Abs. 1 EWG-Vertrag (EuGH 31/80, 3775). Betroffen war ein Parfümeriegroßhändler, der Haarpflegemittel der Marke L’Oréal vertreibt, und von der Herstellerfirma verklagt wird. Die wirft dem Beklagten vor, „sich diese Erzeugnisse durch Mitwirkung an einer Vertragsverletzung beschafft zu haben“. Und dies sei nun einmal „mit redlichen Handelsbräuchen unvereinbar“. Folglich sei es, so das Ansinnen der Hersteller an die belgische Rechtbank van Koophandel Antwerpen, dem beklagten Großhändler zu untersagen, „die genannten Erzeugnisse zum Verkauf anzubieten, zu verkaufen oder sich zu beschaffen.“ Das mag nach unternehmerischer Willkür aussehen. Immerhin handelt es sich bei der Klägerin um ein namhaftes, multinationales Unternehmen. Ein durchaus rechtlicher Sinn von dessen Vorgehen erschließt sich mit näherem Blick auf die vertraglichen Grundlagen, auf die sich die Firma für ihre Klage beruft. Sie bindet den Vertrieb der fraglichen Produkte daran, dass diese ausschließlich von den dafür bestallten „Friseurberater(n) verkauft werden dürfen“ und hat dieses auch auf den Produkten selbst „ausdrücklich vermerkt“. Die beklagte „Großhändlerin im Parfümeriesektor“ gehört eben nicht dazu (EuGH 31/80, 3777, 3786).
Soweit ergibt sich im Verweis auf die eigene Rechtsprechung die Linie von der Entscheidung C-376/92 zurück zu EuGH 31/80, die den Normtext Art. 85 Abs. 1 EWG-Vertrag im Hinblick auf die Rechtmäßigkeit von selektiven Vertriebssystemen konkretisiert. Art. 85 Abs. 1 EWG-Vertrag bestimmt zwar einerseits, dass „mit dem Gemeinsamen Markt (. . .) alle Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen (unvereinbar und verboten sind), welche den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind und eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Gemeinsamen Marktes bezwecken oder bewirken“. Kompliziert
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wird die Sache aber dadurch, dass, wie immer, die Regel nicht ohne Ausnahme bleibt. Denn in besonderen, begründeten Fällen „können“ nach Absatz 3 „die Bestimmungen des Absatzes 1 (. . .) für nicht anwendbar erklärt werden auf – Vereinbarungen oder Gruppen von Vereinbarungen zwischen Unternehmen, – Beschlüsse oder Gruppen von Beschlüssen von Unternehmensvereinigungen, – aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen oder Gruppen von solchen, die unter angemessener Beteiligung der Verbraucher an dem entstehenden Gewinn zur Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung oder zur Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts beitragen, ohne dass den beteiligten Unternehmen a) Beschränkungen auferlegt werden, die für die Verwirklichung dieser Ziele nicht unerlässlich sind, oder b) Möglichkeiten eröffnet werden, für einen wesentlichen Teil der betreffenden Waren den Wettbewerb auszuschalten.“ (Art. 85 EWG-Vertrag, hier zit. als Art. 81 der konsolidierten Fassung). Was aber sind diese „besonderen, begründeten Fälle“? Genau darum geht der Streit der Parteien, dieses für sich in Anspruch zu nehmen bzw. der anderen in Abrede zu stellen. Und genau das stürzt die nationalen Gerichte in jene Unsicherheit, die sie sich an den EuGH mit dem Ersuchen um Klärung wenden lässt. Fraglich wird die so weit eigentlich klare Sache durch ein weiteres Kriterium der Rechtmäßigkeit selektiver Vertriebssysteme, das im Verfahren vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf ins Spiel gebracht wurde. Das der „Lückenlosigkeit“, die „bedeutet, dass ein nicht gebundener Händler vertriebsgebundene Ware nur durch Beteiligung an einem Vertragsbruch eines gebundenen Händlers beschaffen kann. Die Lückenlosigkeit muss sowohl theoretisch als auch praktisch bestehen.“ (EuGH C-376/92) Von der klagenden Großhandelskette Metro wurde nun das Argument einer fehlenden Lückenlosigkeit des Vertriebssystems der Firma Cartier mit Blick auf die erwünschte Rechtsfolge einer Verpflichtung zu kostenlosen Garantieleistungen ins Feld geführt. Cartiers System nämlich lasse zu, dass auch andere als die von ihm anerkannten Vertragshändler die Uhren der Firma vertreiben. Das OLG Düsseldorf geht diesbezüglich „davon aus, dass in Drittländern eine vertraglich abgesicherte und praktisch auch eingehaltene Vertriebsbindung für Cartier-Uhren fehle und dass diese somit in großem Umfang legal auf den Markt der Gemeinschaft kommen könnten, wo Metro sie frei verkaufen könne.“ Stellt man dies in Rechnung, so ist die alles entscheidende Frage, ob damit die Bindung durch das Vertriebssystem Cartiers überhaupt hinfällig wird. „Komme man (. . .) zu dem Ergebnis, dass der Umstand, dass Dritte sich die Ware tatsächlich beschaffen und sie sodann frei verkaufen könnten, und sogar die bloße Tatsache, dass sie einer solchen Tätigkeit nachgehen könnten, genüge, um die Vertriebsbindung zu Fall zu bringen, dann müsste bzw. könnte der Klage von Metro stattgegeben werden. Komme es hingegen auf Importe aus Drittländern, in denen schon theoretisch oder wenigstens praktisch eine Bindung nicht bestehe, nicht an, so sei die Klage von Metro abzuweisen“ (EuGH C-376/92, I-35). Das OLG ist damit in der gemeinschaftsrechtlichen Verlegenheit, sich klar darüber werden zu müssen, „ob die Lückenlosigkeit des selektiven Vertriebssystems in den Ländern außerhalb der Gemeinschaft eine Voraussetzung
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für die Rechtswirksamkeit des Systems innerhalb der EWG sei.“: „Ist einer die Anwendung des Artikels 85 Absätze 1 und 2 EWG-Vertrag ausschließenden EG-Vertragsbindung für Produkte des gehobenen Bedarfs (Uhren der gehobenen Preisklasse und Luxusklasse) die Anerkennung schon aus dem Grund zu versagen, dass in Ländern außerhalb der Europäischen Gemeinschaft eine Vertriebsbindung durch entsprechende Vertragsgestaltungen nicht oder nicht vollkommen besteht, so dass dort die in der EG gebunden Waren von Systemfremden frei erworben und legitim auf den Markt gebracht werden können?“ (EuGH C-376/92, I-36).
Im Grunde genommen könnte es sich der EuGH hier leicht machen und die Früchte seiner Arbeit unter anderem in der Rechtssache 31/80 genießen, indem er die Frage mit einem schlichten Nein beantwortet. Denn in seiner Vorentscheidung hat das Gericht eigentlich schon alles Wesentliche zur Frage der selektiven Betriebssysteme gesagt und man könnte sich fragen, warum es sich hier dann nicht die erneute Arbeit an Recht sparen soll. Streitig war in der Rechtssache 31/80, ob die klagende Firma L’Oreal Artikel 85 Absätze 1 EWG-Vertrag zu Gunsten des eigenen Vertriebssystems ins Feld führen kann und dieses mithin rechtmäßig sei. Die beklagte Großhandelsfirma bestreitet dies natürlich und macht geltend, „das so genannte ,selektive Vertriebssystem‘, das die Herstellerfirma für die fraglichen Produkte etabliert habe, „sei wegen Verstoßes gegen die gemeinschaftlichen Wettbewerbsvorschriften rechtswidrig.“ (EuGH 31/80, 3778). Dem sei nicht so, entgegnet verständlicherweise die Klägerin. Sie beruft sich dabei auf ein Schreiben der Kommission, die über die Rechtswidrigkeit zu befinden hat, in dem diese feststellt, dass „wegen des geringen Anteils, den L’Oreal auf dem Markt für Parfümerie-, Schönheits- und Toilettenartikel in den einzelnen Ländern besitze, und in Anbetracht der großen Zahl von konkurrierenden Unternehmen vergleichbarer Größe“ hier „nicht nach Artikel 85 Absatz 1 EWG-Vertrag gegen das Vertriebssystem von L’Oreal einzuschreiten“ sei (EuGH 31/80, 3778). Genau das nimmt die klagende Firma L’Oreal für sich in Anspruch. Und genau das bestreitet die beklagte Großhandelsfirma für das in Frage stehende „selektive Vertriebssystem“. Unstrittig ist zwischen den Parteien, dass dieses gewisse Einschränkungen im Handels- und Warenverkehr mit sich bringt, sofern es den Kreis derjenigen einschränkt, die die von ihr betroffenen Produkte vertreiben dürfen. Streitig indes ist, ob diese Einschränkungen tatsächlich zur „Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung oder zur Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts“ notwendig sind und eben nicht wettbewerbsverzerrend wirken. Was also muss geschehen, damit dieser Fall eintritt, und was, damit er es eben gerade nicht tut?
Diese Frontstellung der Parteien zeichnet dem EuGH genau die abzuarbeitende Aufgabe vor. Er muss eine Konkretisierung von Absatz 1 gegenüber der von Absatz 3 des Artikel 85 EWG-Vertrag leisten, um die Perspektive seiner „Anwendung“ auf den vom nationalen Gericht vorgelegten Fall vorzuzeichnen: „Kommt dem System paralleler Alleinvertriebsvereinbarungen zwischen Hersteller und Alleinimporteuren, das an selektive Vertriebsnetze zwischen den von ihnen ausgewählten Einzelhändlern gekoppelt ist, auf angeblichen qualitativen und quantitativen Auswahlkriterien beruht und sich nur auf einige Parfümerieartikel aus dem ganzen Warenprogramm bezieht, für eine Freistellung im Sinne
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von Artikel 85 Absatz 3 des Vertrages von Rom in Betracht, und trifft dies – gemeinschaftsrechtlich gesehen – im vorliegenden Fall für die L’Oreal NV (Brüssel) und die L’Oreal SA (Paris) zu?“ (EuGH 31/80, 3778 unter Ziffer 1). Genau so nimmt der EuGH denn auch den Normtext in Arbeit. Das alles entscheidende Wörtchen ist hier „qualitativ“. Denn wie anders sollte man die von Abs. 3 geforderten Kriterien etwa einer „Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung“ oder der „Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts“ verstehen, ganz zu schweigen von einer „angemessene(n) Beteiligung der Verbraucher an dem entstehenden Gewinn“? Hauptsächlich „quantitativ“, das hieße nein. Denn hier würde es sich um eine bloße Ausdehnung über den gesamten Markt handeln, die Festschreibung einer beherrschenden, alle anderen aus dem Spiel drängenden Position, die auf nichts anderes hinausläuft als auf „eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs“, auf eine „Einschränkung oder Kontrolle der Erzeugung, des Absatzes“, oder etwa eine „Aufteilung der Märkte oder Versorgungsquellen“, also summa summarum „die Anwendung unterschiedlicher Bedingungen bei gleichwertigen Leistungen gegenüber Handelspartnern, wodurch diese im Wettbewerb benachteiligt werden.“ (EuGH 31/80, 3778).
Die Vorträge in der Sache, die die Beteiligten dazu machen, sollen hier nicht im Einzelnen ausgebreitet werden.74 Denn es geht allein um das Ergebnis, zu dem der EuGH kommt, um zu sehen, wie der EuGH dann in der späteren Entscheidung darauf zurückgreift. Das Gericht konkretisiert folgendermaßen: Entsprechend seiner Aufgabenstellung und Befugnisse argumentiert der EuGH vom Normtext her hin auf die Frage nach den Kriterien zur Beurteilung des fraglichen Vertriebssystems. Dafür hält er erneut unter Berufung auf die eigene Rechtsprechung an der Ausnahme fest, dass „selektive Vertriebssysteme ein mit Artikel 35 Absatz 1 vereinbarer Bestandteil des Wettbewerbs sind, sofern die Auswahl der Wiederverkäufer auf Grund objektiver Kriterien qualitativer Art erfolgt, die sich auf die fachliche Eignung des Wiederverkäufers, seines Personals und seiner sachlichen Ausstattung beziehen, und sofern diese Voraussetzungen einheitlich für alle in Betracht kommenden Wiederverkäufer festgelegt und ohne Diskriminierung angewendet werden.“ (EuGH 31/80, 3790 f., 3796 ff.). Damit konkretisiert der EuGH als erstes die in Art. 85 Abs. 1 EWG-Vertrag aufgeführten Anforderungen, so wie sie noch einmal eingeschränkt werden. Im folgerichtigen zweiten Schritt konkretisiert der EuGH im Hinblick auf diese Einschränkungen hinsichtlich einer Freistellung, wie diese Anforderungen entsprechend Abs. 3 (a) zu überprüfen sind, der ja verlangt, dass die durch das Vertriebssystem auferlegten Beschränkungen tatsächlich auch unerlässlich sind. Denn die Notwendigkeit eines Produktsupports behauptet sich schnell, ohne dass dies allein schon unbedingt eine über übliche Serviceleistungen hinausgehende Reglementierung des Vertriebs erforderlich machen würde. Dem baut der EuGH also mit der weiteren Konkretisierung von Art 85 EWG-Vertrag Abs. 3 (a) und (b) vor. In Hinblick auf (a): „Um die tatsächliche Art dieser ,qualitativen‘ Kriterien für die Auswahl festzustellen, muss außerdem geprüft werden, ob 74 Zu einer Analyse der betrachteten Entscheidungen im Hinblick auf die Konkretisierung des Normbereichs siehe F. Müller/R. Christensen, Juristische Methodik. Band II: Europarecht, Berlin 2003.
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die Eigenschaften des fraglichen Erzeugnisses zur Wahrung seiner Qualität und zur Gewährleistung seines richtigen Gebrauchs ein selektives Betriebssystem erfordern und ob diese Ziele nicht bereits durch eine nationale Regelung des Zugangs zum Beruf des Wiederverkäufers oder der Verkaufsbedingungen des betreffenden Erzeugnisses erreicht werden.“ Mithin, ob sie nicht doch nicht „nicht unerlässlich“ sind. Und der EuGH konkretisiert im Hinblick auf (b): „Schließlich ist zu ermitteln, ob die aufgestellten Kriterien nicht über das hinausgehen, was erforderlich ist.“ Tun sie dies, „so fällt das Vertriebssystem unter das Verbot des Artikels 85 Absatz 1“, wie der EuGH zur Demarkation des Normbereichs speziell von Absatz 3 festhält. Und dafür, ob sie dies tun oder nicht, „muss (. . .) festgestellt werden, ob die Vereinbarung unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell den Warenverkehr zwischen Mitgliedsstaaten beeinflussen kann.“ (EuGH 31/80, 3791). Das heißt, „um (. . .) beurteilen zu können, ob eine Vereinbarung wegen der Wettbewerbsstörungen, die sie bezweckt oder bewirkt, als verboten anzusehen ist, muss der Wettbewerb betrachtet werden, wie er ohne die fragliche Vereinbarung bestehen würde.“ (EuGH 31/80, 3792). Damit bindet der EuGH seine so weit systematisch gewonnene Grenzziehung für den Normbereich auch noch einmal teleologisch an die Garantie eines freien Handels an.
Das also ist der Stand an Recht, den sich der EuGH geschaffen hat und den er sich nun anschickt, neuerlich retrospektiv in der aktuellen Rechtssache C-376/92 in Augenschein zu nehmen, oder besser gesagt tätig in Betracht zu ziehen. Den bequemen Weg, die eigene „ständige Rechtsprechung“ schlicht stehen und bestehen zu lassen, geht der EuGH dafür allerdings nicht. Immerhin ist mit dem Aspekt der „Lückenlosigkeit“ der Vertriebsbindung vom nationalen Gericht ein neuer Gesichtspunkt ins Spiel gebracht worden. Ansatzpunkt für den EuGH ist der Umstand, dass gemeinschaftsrechtlich die Frage nach der Lückenlosigkeit von Vertriebssystemen völlig „fremd“ ist (EuGH C-376/ 92, I-38, Rn. 25). Dieses Konzept ist überhaupt „erst vor dem Hintergrund des deutschen Rechts verständlich“ und wurde hier für „Klagen wegen unlauteren Wettbewerbs (Unterlassungs- und Schadensersatzklagen) gegen Dritte entwickelt (. . .), die Erzeugnisse vertreiben, die Gegenstand einer Alleinvertriebsvereinbarung sind, oder zu Preisen verkaufen, die unterhalb der vom Hersteller vertraglich vorgeschriebenen Preise liegen.“ Und „es wurde in der Folgezeit auf Klagen gegen Außenseiter eines selektiven Vertriebssystems ausgedehnt.“ (EuGH C-376/92, I-36). Und selbst wenn man hier darauf hinweisen kann, dass das Konzept der Lückenlosigkeit in „Verfahren wegen unlauteren Wettbewerbs“ im Hinblick auf Art. 85 EWG-Vertrag eine Rolle spielen kann, so „bedeutet (dies) nicht, „dass umgekehrt bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Vereinbarung nach Artikel 85 EWG-Vertrag zu prüfen wäre, ob die Voraussetzungen dafür erfüllt sind, dass diese Vereinbarung Außenseitern im Wege einer Klage wegen unlauteren Wettbewerbs entgegengehalten werden könnte.“ (EuGH C-376/92, I-37).
Im Grunde genommen könnte der EuGH es also bei seiner Rechtsprechung durch die Entscheidung EuGH 31/80 belassen, da scheinbar nichts Neues aufs Tapet gebracht wurde. So einfach allerdings macht es sich das Gericht aber nicht. Es argumentiert.
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Der EuGH geht also den methodisch einwandfreien Weg, im Hinblick auf die „Errichtung eines selektiven Vertriebssystems“ doch eigens „zu prüfen, ob die mangelnde Lückenlosigkeit des Systems seine Rechtmäßigkeit beeinträchtigen kann.“ (EuGH C-376/92, I-21). Diese Frage nämlich, so das Gericht, „unabhängig von der Bedeutung des Kriteriums im innerstaatlichen Recht“ noch einmal in Sonderheit als eine danach zu stellen, „ob auf Gemeinschaftsebene eine selektive Vertriebsbindung als mit Artikel 85 Absatz 1 unvereinbar anzusehen ist.“ (EuGH C-376/92, I-22). Mehr noch, der EuGH bringt sich zum Wohle einer Legitimität seiner schlussendlichen Entscheidung, dass dem nicht so ist, selbst ausdrücklich in die Begründungspflicht. Er weiß zwar darum, „dass weder die Kommission noch der Gerichtshof die Lückenlosigkeit jemals zu den Voraussetzungen gezählt haben, von denen die Rechtmäßigkeit einer selektiven Vertriebsbindung abhängt.“ (EuGH C-376/92, I-22).
Es damit gut sein zu lassen hieße jedoch, die Sache schlichtweg über den Kamm des eigenen Stands des Rechts scheren, sie rein nach dem eigenen Gusto eines normativ erreichten Stands zu formen. Und so ist für den EuGH denn auch „diese Bemerkung als solche natürlich nicht entscheidend. Was zählt, ist vielmehr die Erwägung, dass die Übertragung dieses Kriteriums auf den Bereich des Artikels 85 EWG-Vertrag durch kein wirkliches Erfordernis zum Schutze des Wettbewerbs gerechtfertigt erscheint.“ (EuGH C-376/92, I-22). Und der EuGH kommt dem damit aufgerissenen Begründungsbedarf auch nach. Von der Sache her bedenkt der Generalanwalt zunächst, dass eine mangelnde Lückenlosigkeit von selektiven Vertriebssystemen in so hochkomplexen wirtschaftlichen Zusammenhängen wie dem Handel mit der Europäischen Union und in ihr nahezu unvermeidlich ist. Daher „ist es ganz normal, dass Vertriebssysteme ein gewisses mehr oder minder hohes Maß an Lückenhaftigkeit aufweisen“ (EuGH C-376/92, I22). Der Sache tut es also keinen Abbruch, wenn man auf das Kriterium der Lückenlosigkeit verzichtet. Es besteht kein Bedarf, hier um der Sache willen mit den Mitteln des Rechts bewahrend einzugreifen. Das gilt „insbesondere für den europäischen Markt“. „Hier kann es einem Hersteller sehr wohl gelingen, ein selektives Vertriebssystem in nur einigen Staaten zu errichten, in denen seine Erzeugnisse in größerem Maße bekannt und in den Augen der Verbraucher angesehen sind und wo es deshalb leichter ist, Händler zu finden, die bereit sind, die Verpflichtungen und Belastungen auf sich zu nehmen, die mit einer selektiven Vertriebsvereinbarung verbunden sind, während der Vertrieb in anderen Staaten zumindest in einem bestimmten Zeitraum durch nicht vertriebsgebundene Händler erfolgt.“ (EuGH C-376/92, I22). Wäre es so weit also gar nicht notwendig, das Kriterium der Lückenlosigkeit in die Bestimmung des Normbereichs von Artikel 85 EWG-Vertrag mit einzubeziehen, so verschärft sich dieser Befund im Licht von dessen Regelungszweck dramatisch. Es wäre geradezu widersinnig. Denn „wollte man unter Berücksichtigung dieses tatsächlichen Hintergrunds die Rechtmäßigkeit einer selektiven Vertriebsbindung von ihrer Lückenlosigkeit auf europäischer Ebene oder gar weltweit abhängig machen, so würde man Gefahr laufen, das freie Spiel des Wettbewerbs zu verhindern, statt es zu schützen.“ (EuGH C-376/92, I-23) Dies gibt der Normtext, der sich diesen Schutz angelegen sein lässt, schon in seinem Aufbau zu erkennen. Die Rechtmäßigkeit selektiver Vertriebssysteme ist, wie die eingehenden Erwägungen des EuGH zum Normbereich in der Rechtssache 31/
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80 zeigen, von vornherein schon eine äußerst heikle Angelegenheit. Nicht nur, dass sie lediglich Ausnahme sein soll. Und nicht nur, dass sie anspruchsvollen Kriterien unterworfen sind. Diese sind mit Absatz (a) und (b) zudem selbst noch einmal einer strengen Rückversicherung ausgesetzt. Alles also, was hier eine zusätzliche Hermetik in die selektiven Vertriebssysteme bringen würde, würde ihren gemeinschaftsrechtlich gewünschten Stand der Ungeliebtheit unterminieren. Auf die Lückenlosigkeit trifft das, wie der Generalanwalt ausführt, ganz sicher zu. Denn „die Lückenlosigkeit zu einer wesentlichen Voraussetzung zu erklären“ hieße, „die Autonomie der Parteien in beträchtlichem Umfang einschränken“, hieße, „ein Element der Starrheit in die Handelsbeziehungen hineinzubringen“. Es würde nicht so nicht nur die Konkurrenz in unerwünschter Weise behindern, sondern wäre auch für die an einem selektiven Vertriebssystem interessierten Hersteller selbst mehr schädlich denn überhaupt irgend von Nutzen. Ihnen „würde (. . .) grundlos ein wichtiger Trumpf im Wettbewerb zwischen den Marken aus der Hand genommen, wenn man es ihm unmöglich machen würde, die selektive Vertriebsform zu wählen, nur weil es ihm nicht gelingt, eine bestimmte Anzahl von Verkäufen durch Systemfremde zu verhindern“ (EuGH C-376/92, I-23). Und das ist in der „wirtschaftlichen Realität“ schlechterdings unmöglich. Liefe also das Kriterium der Lückenlosigkeit dem Regelungszweck zuwider, so ist umgekehrt der Verzicht darauf diesem förderlich, weil „in wirtschaftlichen Sektoren, in denen alle größeren Hersteller sich für den Vertrieb selektiver Vertriebssysteme bedienen, die Möglichkeit von Verkäufen durch Systemfremde auch eine günstige Wirkung haben kann; diese Möglichkeit wirkt wie ein Sicherheitsventil, da sie, ohne dass die Rechtmäßigkeit der selektiven Vertriebssysteme in Frage gestellt wird, gleichwohl dazu führt, Erscheinungen einer übertriebenen Starrheit, insbesondere bezüglich der Preise einzuschränken, indem sie einem begrenzten Parallelhandel seitens systemfremder Händler einen kleinen Spalt öffnet.“ (EuGH C-376/92, I-23). Und was einen möglichen Schaden daraus angeht, so bleibt es den Herstellern fallweise unbenommen, ihre Interessen mit den „Rechtsinstrumente(n)“ des „innerstaatliche(n) Vertragsrecht(s)“ zu wahren (EuGH C-376/ 92, I-24). Sie wären also keineswegs schutzlos dem freien Spiel der Handelskräfte ausgeliefert. Womit hier auch kein eigener gemeinschaftsrechtlicher Handlungsbedarf besteht. Wollte man alles in allem also durch das Kriterium der Lückenlosigkeit die Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit selektiver Vertriebssysteme aufbessern, „so bestünde die Gefahr, dass man zu einer Therapie gelangte, die schlimmer ist als die Krankheit selbst, in dem Sinne, dass, um die Störungen der selektiven Vertriebsbindung durch Systemfremde zu beseitigen, die gesamte Vertriebsbindung nach Artikel 85 Absätze 1 und 2 für ungültig erklärt würde“ (EuGH C-376/92, I-24). Man würde nicht nur das Kind mit dem Bade des ganzen Regelungszwecks ausschütten, „wollte man die Rechtswirksamkeit eines selektiven Vertriebssystems nach Artikel 85 Absatz 1 EWG-Vertrag von seiner Lückenlosigkeit abhängig machen.“ Sondern dies hätte, schlimmer noch, „die paradoxe Folge, dass die starrsten und geschlossensten Vertriebssysteme nach Artikel 85 günstiger behandelt würden als die flexibleren und dem Parallelhandel stärker geöffneten Vertriebssysteme.“ (EuGH C-376/92, I-38, Rn. 26). Von daher bleibt dem EuGH auch nur das methodisch wohlerwogene Urteil: „Einer die Anwendung des Artikels 85 Absätze 1 und 2 EWG-Vertrag ausschließenden EG-Vertriebsbindung für Produkte des gehobenen Bedarfs (Uhren der gehobenen Preisklasse und Luxusklasse) ist die Anerkennung nicht schon aus dem
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Grund zu versagen, dass in Ländern außerhalb der Europäischen Gemeinschaft eine Vertriebsbindung durch entsprechende Vertragsgestaltung nicht oder nicht vollkommen besteht, so dass dort die in der Europäischen Gemeinschaft gebundenen Waren von Systemfremden frei erworben und legitim auf den Gemeinsamen Markt gebracht werden können.“ (EuGH C-376/92, I-40 f.).
Das Beispiel entwickelt minutiös noch einmal zweierlei. Es zeigt, wie der Verweis auf die eigene Rechtsprechung hier als ein abkürzendes Wortlautargument fungiert. Zugleich zeigt es, dass der Einsatz des Verweises auf die eigene Rechtsprechung die Kennzeichnung als Argument durchaus verdient. Der EuGH perpetuiert seine Entscheidung nicht einfach nur durch den wiederholenden Verweis. Vielmehr unterwirft er auch den von ihm in Geltung gesetzten Text neuerlich der Beobachtung, indem er durch dessen Semantisierung wiederum eine Unterscheidung als Recht elaboriert. Der EuGH sieht also durchaus, was er tut, wenn er Recht auch aus der eigenen Rechtsprechung schafft. Aufgabe einer Theorie der Praxis ist es, dies zu formulieren. VI. Rechtsprechung über Rechtsprechung oder das Maß der Rechtspraxis Wie aber steht es überhaupt mit einer Möglichkeit des Wissens um Recht, wenn dieses sich als Beobachtung zweiter Ordnung darstellt und sich daher ausgerechnet jene Unterscheidungen schafft, auf die es sich zugleich bezieht, wie steht es dann um eine Rechtsanwendung? Die Frage nach Recht scheint von einer merkwürdigen Leere gekennzeichnet und von daher dazu verurteilt zu sein, lediglich in sich zu kreisen. Ihr scheint jeglicher „Gegenstand“ zu fehlen.75 Wenn es „so etwas wie Recht nicht gibt“, wenn es nichts dergleichen „gibt“, „was man erkennen, beherrschen oder mit dem Text schon mit sich herumtragen könnte“, wenn man daher auch „die Vorstellung“ aufgeben muss, „es gebe eine klar umrissene vorgegebene Bedeutung, die sich die Juristen zu eigen machen und dann auf Einzelfälle anwenden“76, worauf soll dann die Frage noch bezogen werden können, „was“ eigentlich als Recht zur Anwendung kommt? Worauf die Frage, „was“ in der Beobachtung von Recht denn eigentlich beobachtet sei, noch bezogen werden können? Wenn man weiter in Konsequenz Recht allein in dieser Beobachtung als einer Praxis des Unterscheidens und Entscheidens von solchem sehen kann, dann scheint die Frage nach dem Recht auf sich selbst zurückgebogen zu sein. Die Frage nach dem Recht kann sich offenbar immer wieder nur auf die Frage nach dem Recht beziehen.
75 Grundsätzlich dazu auch A. Somek, Der Gegenstand der Rechtserkenntnis. Epitaph eines juristischen Problems, Baden-Baden 1996. 76 Vgl. R. Christensen/M. Sokolowski, Recht als Einsatz im semantischen Kampf, ersch. in: Zeitschrift für Semiotik.
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Und so verhält es sich in der Tat. Als Manko, oder gar als ein quälendes Problem kann dies nur empfunden werden, wenn man an eine vorgegebene Realität des Rechts glaubt.77 Demgegenüber stellt sich Realität immer als Ergebnis von Beobachtung als einer Praxis des Unterscheidens dar und nicht etwa als deren Voraussetzung. Bleibt man also bei der Frage, „was“ beobachtet wird, so ist die Antwort darauf von einer grundsätzlichen Zirkularität gekennzeichnet. Beobachtung als Prozess, als Operation, bezieht sich so immer auf Beobachtung als Produkt, als Resultat. Sie macht gewissermaßen ihren eigenen Output zum Input neuerlicher Beobachtung. Heinz von Foerster hat diese Zirkularität als ein „fundamentales Prinzip“ herausgestellt.78 Er betont, dass sich an ihm nur reiben kann, wer immer noch meint, einer linear realistischen Grundlogik nachhängen zu können. Entgegen einer referentiellen Position, die die Prozesse des Unterscheidens und des Umgangs mit den „Dingen“ meint monodirektional entweder auf diese hin oder von diesen her ausrichten zu können, ist von einer zirkulären Kausalität auszugehen. Foerster veranschaulicht diese „zirkuläre Kausalität“ mit dem einprägsamen Beispiel eines sich beständig korrigierenden Steuermanns, der also den Bezug seines Handelns aus dessen Ergebnissen zieht. „Was macht ein Steuermann, der sein Schiff sicher in den Hafen hineinmanövrieren möchte? Er absolviert kein ein für allemal festgelegtes Programm, sondern er variiert dies permanent. Wenn das Boot vom Kurs und seinem Ziel nach links abweicht, weil der Wind so stark bläst, schätzt er diese Kursabweichung ein, so dass er weiterhin auf den Hafen zufährt. Er versucht, den Fehler zu korrigieren. Und vielleicht steuert er etwas zu stark gegen. Das Ergebnis ist womöglich eine Kursabweichung nach rechts – und die Notwendigkeit, erneut gegenzusteuern. In jedem Moment wird die Abweichung in Relation zu dem ins Auge gefassten Ziel, dem Telos, das zum Beispiel ein Hafen sein kann, korrigiert. Das Betätigen des Steuers, eine Ursache, erzeugt also eine Wirkung; das ist die Kurskorrektur. Und diese Wirkung wird wieder zu einer Ursache, denn man stellt eine neue Kursabweichung fest. Und diese erzeugt ihrerseits eine Wirkung, nämlich wiederum eine Kurskorrektur. Solche Steuerungsvorgänge sind ein wunderbares Beispiel zirkulärer Kausalität.“79 Was beim Beobachten im Verhältnis zum Beobachteten vor sich geht, ist so gesehen also „ein Prozess der Informationsauswertung, der jeweils das eigene Verhalten verändert.“80 Und was, allgemein gesprochen, dabei als Gegenstand, als Bezugspunkt erscheint, verdankt sich einer Unterscheidung und der Bezeichnung als einem solchen. Mit anderen Worten: Man nimmt in der Beobachtung 77 Zur Kritik hier nur H. v. Foerster/B. Pörksen, Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker, 5. Aufl., Heidelberg 2003, S. 15 ff. 78 Foerster/Pörksen, S. 105 ff. 79 Foerster/Pörksen, S. 107. 80 Foerster/Pörksen, S. 107.
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nicht eine Welt wahr, sondern man macht sie sich durch die Beobachtung. Auch diesen Grundzug illustriert Foerster noch einmal einprägsam mit einem „kurzen Theaterstück“. „Dieses Theaterstück spielt seinerseits in einem Theater mit Publikum. Plötzlich geht der wunderschöne rote Samtvorhang auf – und der Blick auf die Bühne ist frei. Man sieht: einen Baum, eine Frau und einen Mann. Der Mann zeigt auf den Baum und sagt laut und theatralisch: ,Dort steht ein Baum!‘ – Darauf die Frau: ,Woher weißt Du, dass dort ein Baum steht?‘ – Der Mann: ,Weil ich ihn sehe!‘ – Darauf sagt die Frau mit einem kleinen Lächeln: ,Aha.‘ Und der Vorhang fällt.“81 Die Lehre, die hier dem Mann erteilt wird, ist natürlich, „dass er von dem Baum nur weiß, weil er ihn sieht.“82 Sie liegt, allgemeiner gesprochen, darin, „dass die Beobachtungen (. . .) die Ursache (sind) – und das Entstehen einer Welt, verstanden als eine Summe von Vorstellungen, (. . .) die Folge (ist).“83 Die Folgerung, die daraus wiederum für die Frage nach einer solchen Welt zu ziehen ist, führt dann wieder zurück zum Prinzip der Zirkularität. Denn sie kann nur als eine Selbstanwendung der Beobachtung gestellt werden. In dem Moment also, indem wir uns eines Verhältnisses zur Welt überhaupt gewahr werden, reflektieren wir im Modus einer zweiten Ordnung immer auf deren Vergegenwärtigung selbst. Beobachtung führt immer wieder nur zu Beobachtung, Unterscheidungen zum Unterscheiden und Bezüge zu Bezeichnung. Die Frage nach dem „Was“ löst sich in die Frage des „Wie“ auf. Das Verhältnis von Beobachtung und Beobachtetem ist ein internes. Jede Frage danach kann nur selbstbezüglich sein. Sie kann darauf zielen, die Blindheit der Beobachtung für sich selbst in der Beobachtung einer solchen Beobachtung wiederum aufzuheben und so zu einer Formulierung dessen zu kommen, dass und wie hier jeweils beobachtet wurde. Für die Rechtsanwendung stellt sich daher nicht die Frage, „was“ dadurch in einem realistischen Sinne beobachtet wird, nämlich „so etwas, wie Recht“. Vielmehr fragt sich auch hier nur, „wie“ wird unterschieden, wenn Recht und also Normativität beobachtet wird. Vor diesem Hintergrund weist die Praxis eines Gerichts wie dem EuGH auch schon den Weg zu einer Antwort. Beobachtung ist Operieren. Recht ist Praxis. Die Frage nach dem „Was“ an Recht wirft zurück auf die Frage danach, wie der Jurist praktisch in seiner Entscheidungsarbeit zum Recht kommt. In der Arbeit des EuGH lassen sich die Bezugspunkte ablesen, die dafür gesetzt werden, Recht zu unterscheiden und zu entscheiden. Es sind eben die geleisteten „Anwendungen“ entsprechender Normtexte, die in ihrer Legitimität und Geltung wiederum als Bezugspunkt dafür gesetzt sind, in dem erneut anstehenden Fall einer Frage nach der Norm zu Recht zu kommen. Das zeigt, dass der EuGH auf dem rech81 82 83
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ten Weg ist, wenn er dem Verweis auf die eigene Rechtsprechung einen so hohen Stellenwert einräumt. Denn ein Verhältnis von Norm und Anwendung lässt sich grundsätzlich gar nicht anders setzen. Wie Wittgenstein schon für den Begriff der Regel gezeigt hat, können Normen nie in eine irgendwie geartete äußerliche Beziehung zu ihrer Anwendung gesetzt werden.84 Das Befolgen leitet sich weder aus der Regel ab, noch zeichnet die Regel ihre Befolgung vor. „Die Regel steht ihrer Aktualisierung nicht als eine Instanz gegenüber, die außerhalb dieser Aktualisierung Bestand hätte. Es gibt kein Auseinanderstehen zwischen Regel und Aktualisierung derart, dass man betrachten könnte, inwieweit die Aktualisierung der Regel gerecht wird.“85 Vielmehr zeigt sich die Regel erst in der Praxis ihrer Anwendung. „Regel“, sagt Wittgenstein, ist das, was „sich, von Fall zu Fall der Anwendung, in dem äußert, was wir ,der Regel folgen‘ und was wir ,ihr entgegenhandeln‘ nennen.“86 Und das wiederum entscheidet sich daran, welche Ereignisse wir als die Anwendung von Regel auszeichnen.87 Indem wir dies tun, entziehen wir diesen Bezug unserem Handeln, „entäußern“ ihn, um diesem durch den Verweis auf die andere Anwendung als Fall von Regel ein Maß zu setzen. Zugleich hat das normativ anleitende Moment darin keinen anderen Sitz als in diesem Verhältnis der Beobachtung. Ganz analog dazu, dass wir die Welt nicht wahrnehmen, sondern sie uns durch die Beobachtung schaffen, ganz so befolgen wir nicht Regeln, sondern wir machen sie uns mit der Frage der Anwendung zu einer solchen. Wir machen „es uns zur“ Regel, in dieser und keiner anderen Weise vorzugehen. Damit ist jene Figur eines Verhältnisses von „Immanenz“ und „Transzendenz“ angezeichnet, die auch ein dekonstruktivistisches Verständnis von Norm ausmacht.88 Ganz so, wie von Wittgenstein bedeutet, greift die Anwendung nicht auf die Norm zu. Vielmehr wird diese erst eingesetzt. „Die Norm wird dadurch erneuert, dass der neue Fall in sie eingetragen wird. Sie tritt dem Fall nicht als gegebene Größe gegenüber. Der Eintrag macht sie zu einer neuen, immanenten Größe.“89 Dies kann aber nur die eine Seite der Medaille sein. Zwar ist damit das Verhältnis von Norm grundsätzlich als ein internes markiert. 84 Vgl. L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen. Werkausgabe Band 1, Frankfurt/M. 1984, §§ 195 ff. Dazu auch J. McDowell, Wittgenstein on Following a Rule, in: Synthese 58, 1984, S. 325 ff. 85 G. W. Bertram, Die Dekonstruktion der Normen und die Normen der Dekonstruktion, in: A. Kern/Chr. Menke (Hrsg.), Philosophie der Dekonstruktion. Zum Verhältnis von Normativität und Praxis, Frankfurt/M. 2002, S. 296. 86 Wittgenstein, Untersuchungen. § 201. 87 Zur Individuierung von Handlungen als Ereignissen und der entsprechenden Form von Handlungssätzen D. Davidson, Die logische Form von Handlungssätzen, in: ders., Handlung und Ereignis, Frankfurt/M. 1990, S. 155 ff. 88 Grundlegend J. Derrida, Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität“, Frankfurt/M. 1991. Bertram, S. 289 ff., hier v. a. S. 296 ff. 89 Bertram, S. 296.
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Bliebe es aber dabei, so fielen allerdings Norm und Anwendung amorph in sich zusammen. Wie schon Wittgenstein für die Praxis des Regelfolgens kritisch aufweist, genügt dessen Konstatierung nicht, „weil sonst der Regel zu folgen glauben dasselbe wäre, wie der Regel folgen.“90 Ganz so verhält es sich auch mit Norm und Anwendung. „Im Sinne der Immanenz gibt es keinen Abstand zwischen Norm und Anwendung. Es ist unmöglich, zwischen die Norm und ihre Anwendung zu treten und zu überprüfen, ob das eine auf das andere passt oder umgekehrt.“91 Das Normativität allein ausmachende interne Verhältnis von Anwendungsfall und Normauszeichnung hat sich seiner selbst noch wieder gewahr zu werden, um sich als ein solches unterscheiden und profilieren zu können. Die Blindheit des Normativen in der Anwendung ist also durch Beobachtung der darin liegenden Beobachtung von Handeln als normativ gehaltvoll aufzuheben. Genau hier kommt die Transzendenz der Norm ins Spiel. Der Verweis auf die Epiphanie der Norm im Ereignis Fall ihrer Anwendung richtet sich nicht auf das fragliche Handeln selbst zurück, verbleibt nicht bei diesem. Vielmehr wird das Ereignis dieses Handelns, indem seine Beobachtung als normativ gezeichnet wiederum beobachtet wird, in ein Verhältnis gesetzt. Jene Anwendung, die der Bezug des Handelns für seine Unterscheidung wiederum als normgerecht, als Erscheinen der Norm setzt, ist eine andere, vom Fall dadurch unterschiedene Anwendung. Sie ist die Anwendung eines anderen. „Wenn es sich auf andere Anwendungen der Norm bezieht, bezieht mein Anwenden sich auch immer auf andere als solche, die auch der Regel unterliegen.“92 Die andere Anwendung der Norm als die eines anderen steht dem zu entscheidenden Fall von Norm zwar nicht gegenüber. Sie wird ihm aber durch die Beobachtung des Handelns entgegen gestellt, als „Vergleichsobjekt“, wie es Wittgenstein immer wieder nennt.93 Dass heißt also, „dass die Erfindung der Regel im Moment ihrer Anwendung immer als eine Wieder-Erfindung erfolgt. Die Regel ist immanent nur eine, die zugleich transzendent ist. Die aktualisierte Regel kommt im Moment der Aktualisierung immer von anderswo her. Ihre normative Kraft liegt in diesem ,von anderswo her‘; sie liegt in den Aspekten normativen Geschehens, die nicht zu spontaner Selbstverwirklichung führen.“94 Das bedeutet nun aber nicht, dass damit durch die Hintertür doch noch ein Bezug nach außen gesetzt würde, eine doch noch unabhängige Instanz ins Spiel gebracht würde, die als neutraler Schiedsrichter über die Frage nach der Normativität wachen könnte. „Das andere Befolgen steht nicht außerhalb einer neuen Normanwen90 91 92 93 94
Wittgenstein, Untersuchungen, § 202. Bertram, S. 296. Bertram, S. 298. Siehe Wittgenstein, §§ 130, 131. Bertram, S. 297.
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dung. Die Beziehungen auf das andere Befolgen sind vielmehr intern. Sie werden implizit in einer neuen Normanwendung hergestellt. Wiedererfindung der Norm ist eine Anwendung in dem Sinn, dass sie anderes Befolgen der Regel als ein Befolgen der Regel impliziert, die eine erneute Anwendung findet. Die Korrelation von bisherigen Anwendungen mit einer neuen Anwendung kommt, so verstanden, intern zustande. Sie ergibt sich im Moment des neuen Regelfolgens.“95 Transzendenz und Immanenz greifen im Inneren der Frage der Normativität ineinander. Sie stellen beide gleichermaßen Momente der einen Beobachtung dar und sind als das „Wie“ der Unterscheidung von Normativität miteinander verzahnt. Während sich in dem einen Moment, der Immanenz, die Beobachtung vollzieht, wird diese zugleich in dem anderen Moment, der Transzendenz, beobachtet. Nämlich als Beobachtung von Norm. „Die Norm ist der Bezug auf anderes Anwenden der Norm. Dieser Bezug ist der Normanwendung immanent. Trotz dieser Immanenz bringt der Bezug in die Norm ein Moment von Transzendenz ein. Die andere Anwendung der Norm ragt wie ein innerer äußerer Anstoß, wie eine selbst gesetzte und doch von außen kommende Herausforderung in meine Normanwendung hinein.“96 Möglich und zugleich nötig wird dieses Verhältnis auf Grund der Sprachlichkeit alles Normativen. Ganz so, wie sich eigentlich auch schon das allein auf Beobachtung verwiesene und angewiesene Verhältnis von Welt nur in kommunikativer Entäußerung setzen kann97, ganz so steht es mit jenem komplexen Reflex von Immanenz und Transzendenz, durch den sich Normativität setzt. „Normativität ist: das eigene Tun von der Andersheit im Tun der anderen her entwickeln.“98 Dazu bedarf es nicht nur des Ausdrucks, durch den das eigene Tun profiliert und der Beziehung ausgesetzt werden kann. Dazu bedarf es zugleich auch des Verständnisses, durch das eben diese Beziehung gesetzt werden kann. Es bedarf dessen, „sich an den anderen in der Sprache des anderen zu richten“.99 Während durch das erste, dem kontrastiven Bezug des eigenen Handelns, „normative Kraft“ freigesetzt und dem Handeln beigemessen wird, wird durch das zweitere das damit gesetzte Verhältnis von Norm und Anwendung „inhaltlich“ gehaltvoll.100 „Normativität“ wird so zu einem „Geschehen mit bestimmten Inhalten (den Normen), das vielfältige Beziehungen zu anderen in ihrer Andersheit impliziert.“101 Die Verständigung, die dieses Geschehen in Gang setzt und einsetzt, erweist sich dabei selbst als ein intimes Geflecht von Norma95
Bertram, S. 298. Bertram, S. 298. 97 Dazu hier nur Foerster/Pörksen, S. 97 ff. 98 Bertram, S. 300. 99 J. Derrida, Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität“, Frankfurt/M. 1991, S. 35. 100 Zur Unterscheidung von „normativer Kraft“ und „normativen Inhalten“ S. 301. 101 Bertram, S. 301. 96
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tivität und Sprachlichkeit. Es hebt sozusagen diese beiden Momente ineinander auf und bleibt auf diese Weise wiederum ganz zirkulär auf sich selbst verwiesen. Denn „wer sich in einem sprachlichen Geschehen bewegt, bewegt sich immer zugleich in einem normativen Geschehen.“102 Und umgekehrt natürlich. Vom Sprachlichen her liegt das normative Moment darin, dass das Verstehen auf die Wiederholbarkeit von Ausdrücken angewiesen ist.103 „Jedes Verstehen bezieht sich konstitutiv auf solche anderen Gebrauchssituationen und damit auf andere, die die verstandenen sprachlichen Ausdrücke wiederholt verstehen.“104 Dabei bedeutet dies wohlgemerkt nicht, dass eine irgend vorgelagerte Sprache diese Wiederholbarkeit als eine in sich ruhende Identität des Ausdrucks mit sich brächte. Vielmehr stellt sich Verstehen ein, indem der Ausdruck als ein neuerlicher angenommen wird. „Die Wiederholbarkeit (. . .) bedeutet eine Wiederholbarkeit des Verstehens durch eine Benutzerin des sprachlichen Ausdrucks. Ein einmal verstandener Ausdruck kann konstitutiv immer noch einmal verstanden werden.“105 Wenn das Verstehen sich also auf die Beobachtung des Ausdrucks als einem wiederkehrenden einlässt, so bindet es sich zugleich an jenen anderen Ausdruck. Beobachtet wird also wiederum die selbstbezügliche Beobachtung von Sprache. Verstehen schafft sich so also nicht allein im Bezug auf sich selbst. Vielmehr setzt es sich in einer Unterscheidung als Verstehen des anderen zu sich in eine Beziehung, die sich in der Annahme des Ausdrucks als einem wiederkehrenden selbst wiederum bezeichnet. Das Verstehen überlässt sich so gewissermaßen der vom anderen gesetzten Verstehensweise des Ausdrucks. Es nimmt sich diese zum Maß und überlässt sich allein in diesem Sinne also einer normativen Bindung an den anderen, um sich selbst wiederum nicht als das eigene Verstehen, sondern eben als ein Verstehen des anderen beobachten zu können. „Die anderen, die sprachliche Ausdrücke gebrauchen, binden das Verstehen. Durch den Bezug auf andere sind die Ausdrücke Normen, haben sie nicht nur einen Gehalt, sondern vielmehr einen bindenden Gehalt.“106 Unverkennbar zeichnet sich hier genau wieder jenes Ineinandergreifen von Immanenz und Transzendenz ab, das zugleich auch Normativität kennzeichnet. Sprachlichkeit und Normativität erweisen sich als zwei Seiten der gleichen Medaille einer sich auf sich beziehenden Beobachtung. Und Recht ist nichts anderes als eine in ihren praktischen Ausführungen spezifisch formierte Ausarbeitung dessen. Dies ist also ein paradigmatischer Grundzug jeglicher Rechtsanwendung so, wie sein Wirken in der Arbeit eines Gerichts wie dem EuGH ver102
Bertram, S. 303. Grundsätzlich dazu J. Derrida, Signatur, Ereignis, Kontext, in: ders., Randgänge der Philosophie, Wien 1988, S. 124 ff. Des Nähren in Bezug auf die Rechtsarbeit auch R. Christensen/H. Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, Berlin 2001, S. 157 ff. 104 Bertram, S. 302. 105 Bertram, S. 302. 106 Bertram, S. 302. 103
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folgt und nachvollzogen werden kann. Recht ist Beobachtung zweiter Ordnung von Recht. Die Notwendigkeit, von der Beobachtung erster Ordnung zu der zweiter Ordnung überzugehen, ergibt sich daraus, dass das Objekt juristischer Erkenntnis nur in Sprache existiert. Sprache lässt sich aber nicht als Gegenstand von außen beobachten, sondern nur als teilnehmende Praxis. Und umgekehrt ist nichts Normatives dem Sprachlichen entzogen, sofern es immer darauf angewiesen ist, sich in der Beziehung zu einem anderen zu setzen. Akzeptiert man das, so vermag auch jene Verantwortung sichtbar zu werden, durch deren praktische Einlösung das Rechtsprechen auch zu einem rechten Sprechen zu werden vermag. Heinz von Foerster hat dies schon ganz grundsätzlich für einen Abschied vom „Mythos des Gegebenen“107 geltend gemacht. Denn „die Referenz auf die Außenwelt und das Gegebene lässt sich, so behaupte ich, wunderbar verwenden, um die eigene Verantwortung zu eliminieren. Das ist der tiefe Schrecken der Ontologie. Man führt die unschuldig erscheinende Formel ,es ist‘ ein, die ich einmal spaßeshalber und etwas geschwollen als den existentiellen Operator bezeichnet habe, und sagt mit autoritärer Gewalt: ,Es ist so . . . es gibt . . .‘ Und so weiter. Aber wer gibt? Wer behauptet, dass etwas der Fall ist? Ich plädiere dafür, dass wir dieses Wirkliche und vermeintlich Gegebene als unsere eigene Erzeugung und Erfindung begreifen.“108 Und wenn alles Beobachtung ist, da nicht anders, denn beobachtet werden kann, so gilt dies natürlich auch umstandslos für das Recht. Wollte man sich nicht von der Frage „was“ Recht sei lösen, um so weiter der Idee nachhängen zu können, es gebe so etwas wie Recht, welches damit in der Rechtsanwendung nur vom Baume der Erkenntnis zu pflücken wäre, so mündet dies zwangsläufig in die argumentative Beliebigkeit von Ontologie. Auch hier also ist demgegenüber die Frage zu stellen, wer Recht gibt und wie dieser das anstellt. Zu fragen ist schlicht: Wie funktioniert Rechtsanwendung?109 Beobachtung ist zu beobachten. Denn erst „die Begriffe zweiter Ordnung entbergen Einsichten in den Prozess des Beobachtens, die auf der Ebene der ersten Ordnung gar nicht möglich sind. Auf dieser Ebene handelt man einfach, verwendet bestimmte Konzepte, Vorannahmen und Theorien, die nicht reflektiert werden. Erst auf der Ebene der zweiten 107
Diese Formulierung nach W. Sellars, Der Empirismus und die Philosophie des Geistes, Paderborn 1999. Siehe auch G. W. Bertram, Prolegomena zu einer Rekonstruktion der linguistisch-epistemischen Wende – Von Quine und Sellars zu Husserl und Derrida, in: Journal Phänomenologie 13, 2000, S. 4 ff. In Bezug auf Recht dazu R. Christensen/M. Sokolowski, Wie normativ ist Sprache? Der Richter zwischen Sprechautomat und Sprachgesetzgeber, in: U. Haß-Zumkehr (Hrsg.), Sprache und Recht. Jahrbuch 2001 des Instituts für Deutsche Sprache, Berlin/New York 2002, S. 64 ff., 67 f. 108 Foerster/Pörksen, S. 25. 109 Die Ersetzung der „Was-ist-Fragen“ durch die „Wie-funktioniert-es-Fragen“, ist eines der grundlegenden Anliegen der Hermeneutik und wird etwa in der Arbeit von Jochen Hörisch betont. Vgl. dazu J. Hörisch, Die Wut des Verstehens, in: Der blaue Reiter, 1998/2, S. 60 ff., 67.
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Ordnung entsteht die Möglichkeit der Selbstreflexion. Nichts ist mehr einfach da, nichts ist mehr selbstverständlich. Entscheidend ist, dass der Beobachter für seine Beobachtungen, sein Sprechen und sein Handeln verantwortlich wird. Er ist untrennbar mit dem Gegenstand und Objekt seiner Beschreibung verbunden.“110 So kann auch Rechtsanwendung in einer Beobachtung zweiter Ordnung die kritische Reflexion auf sich entfalten. Sie kann die Blindheit der eigenen Beobachtung überwinden. Vom Moment der Verstrickung der Rechtsarbeit in Normativität her „sieht“ sie damit, wie weder der Gesetzgeber noch das Gesetz, der Normtext die Entscheidung des Falls vorzeichnen können. Sie sieht, wie allein der entscheidende Jurist dafür zu zeichnen vermag. Vom Moment der Verstrickung in Sprachlichkeit her „sieht“ Rechtsarbeit damit zugleich, wer spricht, wenn Recht gesprochen wird, und wem jenes Verständnis zuzurechnen ist, das seinen Ausdruck in der Bezeichnung von Recht findet. Zwar wird nach der Formel die Entscheidung von Recht „Im Namen des Volkes“ getroffen und der verantwortliche Jurist scheint in dem Moment, in dem er unverstellt spricht, durch den Ausdruck, den er sich gibt, schon wieder zu verschwinden. Aber „prinzipiell ist dies Unsinn, man kann nichts im Namen des anderen geben. Was man geben kann, gibt man prinzipiell nur im eigenen Namen. Wenn es dennoch möglich und notwendig ist, im Namen des anderen zu geben und diese Verantwortung zu übernehmen, bedeutet dies – und was ich jetzt sagen werde, mag sich sehr sonderbar und mit dem gesunden Menschenverstand äußerst unvereinbar anhören –, die Verantwortung, die wir übernehmen oder die wir übernehmen wollen, ist immer die Verantwortung für den anderen. Dies ist das Schwierigste, was es zu tun gibt. Wenn ich Verantwortung in meinem Namen für mich übernehme, und da ich nicht identisch mit mir bin, ich bin mir nur angewendet, dann bedeutet, die Verantwortung für mich selbst zu übernehmen, dass ich nach dem Gesetz eines anderen in mir handle.“111 Diese Verantwortung, die sich nicht einfach aneignen lässt, ist schwierig. Aber sie wird dem Juristen von außen auferlegt, schon durch die Zwänge des Verfahrens und die darin vorgebrachten Argumente; verbunden mit der Pflicht, die Entscheidung zu begründen, im Namen des Volkes. Daran zeigt sich denn nun auch endgültig, dass eine Beobachtung zweiter Ordnung die Rechtsarbeit nicht etwa bestätigend verdoppelt, sondern den Ansatzpunkt wirklicher Verantwortung im juristischen Handeln erst sichtbar machen kann. Jede Umsetzung des geltenden Rechts ist unvermeidbar auch dessen Verschiebung, Anreicherung, Komplizierung. Aber eine verantwortliche Umsetzung ist ein Gegenzeichnen des vom Parlament geschaffenen Textes. Gegenzeichnen heißt, „mit meinem Namen gegenzuzeich110
Foerster/Pörksen, S. 118. J. Derrida, Als ob ich tot wäre, Wien 2000, S. 37. Siehe auch J. Derrida, Politik der Freundschaft, Frankfurt/M. 2000. 111
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nen, aber in einer Weise, die dem anderen treu sein sollte. Ich würde wahr nicht falsch gegenüberstellen, sondern wahr im Sinne von Treue verstehen. Ich will etwas hinzufügen, dem anderen etwas geben, aber etwas, das der andere entgegennehmen und seiner- oder ihrerseits, tatsächlich oder als ein Geist, gegenzeichnen kann. Die Allianz also zwischen diesen beiden Gegenzeichnungen ist Anwendung. Man kann niemals sicher sein, dass es geschieht, es gibt kein Kriterium dafür, keine vorgegebene Norm, niemand kann im Voraus Regeln, Normen oder Kriterien anfügen.“112 Die Rechtsnorm wird konstruiert, aber nicht beliebig, sondern so, dass sie das Gesetz als Normtext anerkennt. Nur dann ist es die Konstruktion einer Rechtsordnung und damit – in diesem Sinn – Rechtsanwendung.
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J. Derrida, Als ob ich tot wäre, Wien 2000, S. 33.
Was heißt individuelle Betroffenheit des Klägers oder wie behandelt man einen Konflikt um die Lesart des Gesetzes? Tilman Kuhn und Ralph Christensen Bei dem im Folgenden darzustellenden Rechtsstreit geht es um einen Konflikt von Lesarten desselben Normtextes durch zwei europäische Gerichte. Wir stellen uns die Frage, woher die normativen Maßstäbe kommen, um diesen Konflikt zu entscheiden. I. Der Ausgangskonflikt 1. Die Klagebefugnis von Einzelpersonen gegen Verordnungen
Mit Urteil vom 3. Mai 2002 hat das Gericht erster Instanz in der Rechtssache, „Jégo-Quéré et Cie S.A. gegen Kommission der EG“ die Bedingungen für den Zugang von (natürlichen und juristischen) Einzelpersonen zur Gemeinschaftsgerichtsbarkeit gelockert. Der Begriff der individuellen Betroffenheit einer Person im Sinne des Art. 230 Abs. 4 des EG-Vertrages wird danach nicht mehr so ausgelegt, dass es Einzelpersonen nur ausnahmsweise gestattet ist, Verordnungen zu bekämpfen, sondern erhält eine neue Definition: Eine natürliche oder juristische Person ist durch eine Bestimmung eines generellen Gemeinschaftsrechtsaktes, die sie unmittelbar betrifft, auch individuell betroffen, wenn die fragliche Bestimmung ihre Rechtsposition unzweifelhaft und gegenwärtig beeinträchtigt, indem sie ihre Rechte einschränkt oder ihr Pflichten auferlegt. Ausweislich der Pressemitteilung vom 3. Mai 2002 auf der Website des EuGH geschah dies „in dem Bemühen um eine Stärkung des Rechtsschutzes der Bürger/Bürgerinnen und Unternehmen“. Der EuGH ist in seinem Urteil vom 25.07. 2002, „Unión de Pequeños Agricultores“, der Ansicht des Gerichts erster Instanz entgegengetreten und hat seine bisherige Rechtsprechung bestätigt. Neben dem wichtigen Inhalt der Urteile ist besonders die Rechtfertigung der Ergebnisse interessant. 2. Das Urteil Jégo-Quéré
Die Klägerin im Verfahren Jégo-Quéré et Cie S.A. ist ein Fischerei-/Reedereiunternehmen; sie hat ihren Sitz in Frankreich und übt ihr Gewerbe ständig süd-
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lich von Irland aus. Das Unternehmen besitzt vier Schiffe von über 30 Metern Länge und benutzt Fischfangnetze mit einer Maschenweite von 80 mm, die nunmehr durch eine neue Gemeinschaftsverordnung verboten sind. Die Klägerin beantragt, das Gericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften möge zwei Bestimmungen dieser Verordnung für nichtig erklären. Die Kommission beantragt, das Gericht möge die Klage für unzulässig erklären. Gemäß Art. 230 Abs. 4 EG-Vertrag kann „jede natürliche oder juristische Person [. . .] gegen die an sie ergangenen Entscheidungen sowie gegen diejenigen Entscheidungen Klage erheben, die, obwohl sie als Verordnung oder als eine an eine andere Person gerichtete Entscheidung ergangen sind, sie unmittelbar und individuell betreffen“. Die Kommission bestreitet nicht, dass Jégo-Quéré durch die angefochtenen Bestimmungen unmittelbar betroffen ist. Sie ist jedoch der Auffassung, dass Jégo-Quéré nicht individuell betroffen sei, weil sich die Bestimmungen bezüglich der Maschenweite von Fangnetzen auf alle im keltischen Meer tätigen Fischer und nicht in besonderer Weise auf das klagende Unternehmen beziehen. Aufgrund der bisher von der Gemeinschafts-rechtsprechung entwickelten Kriterien müsse das Gericht feststellen, dass die Klägerin nicht als individuell betroffen im Sinne des EG-Vertrages anzusehen ist, was zur Zurückweisung der Klage wegen Unzulässigkeit führen würde. Das Gericht führt zunächst aus, dass die angegriffenen Vorschriften der Verordnung allgemeine Geltung haben, da sie sich abstrakt an unbestimmte Personengruppen wenden und für bestimmte objektive Sachverhalte gelten. Die allgemeine Geltung einer Vorschrift schließe jedoch nach ständiger Rechtsprechung nicht aus, dass diese Vorschrift bestimmte Wirtschaftsteilnehmer unmittelbar und individuell betrifft. Die unmittelbare Betroffenheit der Kläger durch die Vorschriften, die ja selbst von der Kommission nicht bestritten worden war, nimmt das Gericht an. Problematisch war allerdings die individuelle Betroffenheit der Kläger. Nach der bisherigen Rechtsprechung konnte eine Einzelperson, die nicht Adressat der Maßnahme ist, einen Gemeinschaftsrechtsakt von allgemeiner Geltung nämlich nur dann anfechten, wenn dieser sie wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, sie aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt. Dies ist nach Auffassung des Gerichts bezüglich der Kläger tatsächlich nicht der Fall. Das Gericht erster Instanz – wie einige Generalanwälte, vor allem Generalanwalt Jacobs in der Rechtssache „Unión de Pequeños“ – befürwortet eine erweiterte Auslegung des Begriffs der „individuellen Betroffenheit“ im Sinne von Art. 230 Abs. 4 EG und damit im Ergebnis eine erweiterte Möglichkeit der Direktklage gegen Verordnungen im Sinne von Art. 249 Abs. 2 EG für natürliche und juristische Personen.
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3. Das Urteil „Unión de Pequeños Agricultores“
Im Ausgangsverfahren in der Sache „Unión de Pequeños Agricultores“ hatte ein Berufs- und Interessenverband von kleinen spanischen Landwirtschaftsbetrieben, die Unión de Pequeños Agricultores, ein Rechtsmittel gegen den Beschluss des Gerichts erster Instanz vom 23. November 1999 eingelegt, mit dem das Gericht seine Klage auf teilweise Nichtigerklärung einer Verordnung über eine gemeinsame Marktorganisation für Fette, die auch für den Olivenölmarkt gilt, abgewiesen hatte. Das Gericht erster Instanz hielt diese Klage noch auf Grundlage der bisherigen Rechtsprechung für offensichtlich unzulässig, da die Mitglieder des Verbandes von den Bestimmungen der fraglichen Verordnung nicht individuell betroffen seien. Es kommt damit zum entgegengesetzten Ergebnis, obwohl der GA Jacobs für die Auffassung des EuG argumentierte.
II. Die dogmatische Rechtfertigung 1. Die Erweiterung der Klagebefugnis durch das Gericht erster Instanz
Zur Begründung führt das Gericht erster Instanz aus, dass nach der bisherigen Rechtsprechung des EuGH vielen Einzelpersonen jede Möglichkeit genommen ist, mit der Nichtigkeitsklage Gemeinschaftsbestimmungen zu bekämpfen, die zwar generellen Normcharakter aufweisen, sie jedoch unmittelbar in ihrer Rechtsposition betreffen. Ferner erinnert das Gericht daran, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften der wirksame Zugang zu einem unabhängigen Richter ein Wesensbestandteil der auf dem EG-Vertrag aufbauenden Rechtsordnung sei. Diese hatte ein umfassendes Rechtsschutzsystem geschaffen, innerhalb dessen dem Gerichtshof die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Handlungen der europäischen Organe übertragen worden sei. Der Gerichtshof leitet dieses Grund-recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf vor einem zuständigen Gericht aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten sowie aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ab. Darüber hinaus sei dieses Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die am 7. Dezember 2000 in Nizza verkündet worden ist, aufgenommen worden. Dann prüft das EuG, ob in einer Rechtssache wie der vorliegenden die Unzulässigkeit der Nichtigkeitsklage den Klägern dieses Grundrecht nehmen würde. Das Gericht ist dabei der Auffassung, dass die anderen möglichen Klagearten im vorliegenden Fall nicht dazu geeignet sind, die Rechtswidrigkeit von Gemeinschaftsvorschriften feststellen zu lassen. Falls eine belastende Gemeinschaftsvorschrift ohne das Erfordernis einer innerstaatlichen Durchführungsmaßnahme, gegen die ein innerstaatliches Rechtsmittel ergriffen werden könnte,
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wirksam werde, sei es für eine Einzelperson nämlich unzumutbar, wissentlich Gemeinschaftsrecht verletzen zu müssen, um Zugang zu einem nationalen Gericht zu erlangen und so gegebenenfalls den Gerichtshof im Wege eines Vorabentscheidungsverfahrens mit der Frage befassen zu können. Auch eine gegen die Gemeinschaften gerichtete Schadenersatzklage erlaube es dem Gemeinschaftsrichter nicht, seiner Aufgabe der umfassenden Rechtmäßigkeitskontrolle nachzukommen, da ein Schadenersatz gegenüber Gemeinschaftsrechtsakten von allgemeiner Geltung nur unter sehr erschwerten Voraussetzungen gewährt werde. Vor allem erstrecke sich die Kontrolle des Gemeinschaftsrichters bei der Anfechtung einer Maßnahme allgemeiner Geltung wie einer Verordnung in einem derartigen Falle nicht auf sämtliche Faktoren, die die Rechtmäßigkeit dieser Maßnahme beeinträchtigen könnten, sondern beschränke sich darauf, die hinreichend qualifizierten Verstöße gegen Rechtsnormen zu sanktionieren, deren Zweck es ist, dem Einzelnen Rechte zu verleihen. Das Gericht befindet folglich, dass „im Lichte der Art. 6 und 13 EMRK sowie des Art. 47 Charta der Grundrechte“, um einen effektiven Rechtsschutz von Einzelpersonen zu sichern, eine natürliche oder juristische Person als durch eine Bestimmung eines generellen Gemeinschaftsrechtsaktes, die sie unmittelbar betrifft, individuell betroffen anzusehen sei, wenn die fragliche Bestimmung ihre Rechtsposition unzweifelhaft und gegenwärtig beeinträchtige, indem sie ihre Rechte einschränkt oder ihr Pflichten auferlege. Die Zahl oder die Lage anderer Personen, die von der Bestimmung gleichfalls betroffen sind oder betroffen sein könnten, seien für diese Beurteilung unmaßgeblich. Im vorliegenden Fall würden nach Ansicht des EuG dem Unternehmen JégoQuéré tatsächlich durch die angefochtenen Bestimmungen Verpflichtungen auferlegt, die dieses Unternehmen zwingen, für seine Fischereitätigkeiten nur Netze mit einer festgelegten Maschenweite zu verwenden. Das Unternehmen Jégo-Quéré sei daher individuell und unmittelbar durch die angefochtenen Bestimmungen betroffen. Folglich seien die von der Kommission erhobene Unzulässigkeitseinrede abzuweisen und die Fortsetzung des Verfahrens anzuordnen.
2. Die unterstützende Argumentation des GA Jacobs
Generalanwalt Jacobs untersucht in seinen Schlussanträgen in der Sache „Unión de Pequeños“, ob das Vorabentscheidungsverfahren zu einem vollständigen, effektiven gerichtlichen Rechtsschutz gegenüber allgemeinen Gemeinschaftshandlungen führt. Was das Vorabentscheidungsverfahren angehe, so sei dieses in seiner Funktion als Rechtsbehelf des Einzelnen gegenüber Gemeinschaftshandlungen sicherlich deutlich weniger geeignet, einen wirksamen Rechtsschutz des Einzelnen zu gewährleisten, als dies eine Klagemöglichkeit nach Art. 230 EG tun
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würde. Verfahren vor nationalen Gerichten garantierten Individualklägern nicht immer effektiven gerichtlichen Rechtsschutz und in einigen Fällen sogar keinerlei rechtlichen Schutz. Zum anderen ermutige die Rechtsprechung des Gerichtshofes zur Auslegung des Art. 230 Abs. 4 EG Kläger dazu, Fragen zur Gültigkeit von Gemeinschaftshandlungen mittelbar über nationale Gerichte vor den Gerichtshof zu bringen. Verfahren wie das nach Art. 230 EG, die unmittelbar beim EuGH geführt werden, seien hingegen eher geeignet, Gültigkeitsfragen zu beantworten als Verfahren vor dem Gerichtshof gemäß Art. 234 EG. Bei ersteren bestehe auch eine geringere Gefahr, dass Rechtsunsicherheit für den Einzelnen und die Gemeinschaftsorgane geschaffen werde. Dabei müsse berücksichtigt werden, dass nationale Gerichte im Gegensatz zum EuGH nicht befugt seien, Gemeinschaftsrecht für ungültig zu erklären. In einem Fall, in dem es um die Rechtmäßigkeit einer Gemeinschaftshandlung gehe, sei die Zuständigkeit des nationalen Gerichts darauf beschränkt, ob die Argumente des Klägers genügend Zweifel an der Gültigkeit der angefochtenen Handlung aufwerfen, um ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof zu rechtfertigen. Ferner erfordere der Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes, dass der Kläger Zugang zu einem Gericht habe, das dafür zuständig sei, Rechtsschutz zu gewähren, der geeignet sei, ihn vor den Auswirkungen rechtswidriger Handlungen zu schützen. Der Zugang zum Gerichtshof über Art. 234 EG sei jedoch kein Rechtsbehelf, der Individualklägern von Rechts wegen zur Verfügung stehe. Nationale Gerichte könnten es ablehnen, Fragen vorzulegen, und auch wenn letztinstanzliche Gerichte nach Art. 234 Abs. 3 EG zur Vorlage grundsätzlich verpflichtet seien, seien Rechtsbehelfe innerhalb der nationalen Gerichtssysteme in der Regel mit langen Verfahrensdauern verbunden, die für sich selbst mit dem Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes und dem Bedürfnis nach Rechtssicherheit unvereinbar sein könnten. Nationale Gerichte – selbst höchsten Ranges – könnten bei der ersten Beurteilung der Gültigkeit allgemeiner Gemeinschaftshandlungen Rechtsfehler begehen und es deshalb ablehnen, dem Gerichtshof Fragen zur Gültigkeit vorzulegen. Zwar könne auch der EuGH oder das Gericht erster Instanz „falsch“ entscheiden, jedenfalls würde dem Bürger aber eine zusätzliche Prüfungsebene verschafft, wenn diese überhaupt mit der Sache befasst würden. Darüber hinaus sei es im Rahmen des Art. 234 EG grundsätzlich Sache des nationalen Gerichts, die Fragen zu formulieren, die der Gerichtshof beantworten solle. Individualkläger könnten daher ihr Klagebegehren von der Vorlagefrage neu definiert sehen. Durch die von nationalen Gerichten formulierten Fragen könnten zum Beispiel der Umfang der Gemeinschaftshandlungen, die der Kläger anficht, oder die Ungültigkeitsgründe, auf die er sich beruft, eingeschränkt werden. Außerdem könne es für Individualkläger schwierig und in Einzelfällen sogar unmöglich sein, Gemeinschaftshandlungen anzufechten, die – wie es bei der
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angefochtenen Verordnung in „Unión“ der Fall sei – keiner Durchführungsmaßnahmen durch die nationalen Behörden bedürfen. Unter Umständen gebe es unter diesen Voraussetzungen keine Handlung, die geeignet sei, eine Grundlage für eine Klage vor nationalen Gerichten zu bilden. Der Umstand, dass ein Einzelner, der von einer Gemeinschaftshandlung betroffen sei, in einzelnen Fällen die Gültigkeit dieser Gemeinschaftshandlung vor den nationalen Gerichten anfechten könne, indem er die mit ihr aufgestellten Vorschriften verletze, um sich dann zu seiner Verteidigung in einem gegen ihn gerichteten Straf- oder Zivilverfahren auf die Ungültigkeit dieser Vorschriften zu berufen, stelle für den Einzelnen kein geeignetes Mittel zur Erlangung von gerichtlichem Rechtsschutz dar. Es könne von dem Einzelnen eindeutig nicht verlangt werden, dass er Gesetze verletze, um zu seinem Recht zu kommen. Unter der gleichen Prämisse müsse ein Rechtsschutz über Art. 235, 288 Abs. 2 EG als nicht gegenüber Art. 230 EG gleich geeignet angesehen werden. Der Bürger müsse einen Schaden eintreten lassen, den er dann liquidieren könne. Gleichzeitig müsse er sich dann aber ein Mitverschulden bei der Schadensentstehung entgegenhalten lassen, was seinen Anspruch auf Kompensation wiederum einschränken würde. Eine Abwehr der Handlung zur Verhinderung eines Schadenseintritts wäre aber nach den dargestellten Grundsätzen gar nicht möglich. Ein wahrer „vicious circle“ für den Kläger. Schließlich wiesen Verfahren vor nationalen Gerichten im Vergleich zu einer Direktklage beim Gericht ernsthafte Nachteile für Individualkläger auf, vor allem, indem sie erhebliche weitere Verzögerungen und Kosten mit sich brächten. Dieses Verzögerungspotential mache es in vielen Fällen wahrscheinlich, dass vorläufiger Rechtsschutz erforderlich werde. Die nationalen Gerichte seien zwar befugt, eine nationale Handlung – so eine solche denn existiere – und die auf einer Gemeinschaftshandlung beruhe, vorläufig auszusetzen oder eine einstweilige Anordnung zu erlassen, bis der Gerichtshof über ein Vorabentscheidungsersuchen entschieden hat. Doch unterliege die Ausübung dieser Befugnis einer Reihe von Bedingungen und sei trotz allem zu einem gewissen Grad vom Ermessen der nationalen Gerichte abhängig. Jedenfalls wäre eine solche einstweilige Anordnung auf den betreffenden Mitgliedstaat beschränkt, dessen Gericht sie erlassen habe. Der Kläger könnte deshalb gezwungen sein, Verfahren in mehreren Mitgliedstaaten einzuleiten. Das Verfahren nach Art. 230 EG sei auch geeigneter, um über Gültigkeitsfragen zu entscheiden, weil das Organ, das die angefochtene Handlung erlassen hat, von Anfang bis Ende als Partei beteiligt sei, und weil eine Direktklage zu einem vollständigen Austausch der Argumente führe, im Gegensatz zu einmaligen Stellungnahmen im Rahmen des Art. 234 EG, denen mündliche Ausführungen vor dem Gerichtshof folgen. Eine Direktklage stelle insgesamt die Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts besser sicher. Vor allem sei es aus Gründen
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der Rechtssicherheit angezeigt, dass die Anfechtung der Gültigkeit von Gemeinschaftshandlungen so früh wie möglich nach deren Erlass erfolge. Dies stelle die Zulässigkeitsvoraussetzung der Klagefrist gemäß Art. 230 Abs. 5 EG sicher. Schließlich habe die erweiternde Auslegung des Begriffs eine Reihe von Vorteilen. Sie scheine der einzige Weg zu sein, ein vollständiges Fehlen von Rechtsschutz in einzelnen Fällen zu verhindern. Der gerichtliche Rechtsschutz würde insgesamt verbessert. Hinzu komme, dass die restriktive Haltung des Gerichtshofes gegenüber Individualklägern angesichts seiner Rechtsprechung zu anderen Aspekten der gerichtlichen Überprüfung im Rahmen des Art. 230 EG und jüngster Entwicklungen im Verwaltungsrecht der Mitgliedstaaten als ungewöhnlich erscheine. In einigen Aspekten lege der Gerichtshof Art. 230 EG extensiv aus, so dass es widersinnig erscheine, die Klagebefugnis nunmehr restriktiv zu interpretieren. Daneben fordere der Gerichtshof von den Mitgliedstaaten und ihren Gerichten in besonderem Maße die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes durch gemeinschaftskonforme Auslegung des nationalen Verfahrens- und Prozessrechts sowie den innerstaatlichen materiell-rechtlichen Bestimmungen. Diese müssten sich an den Grundsätzen der Äquivalenz und vor allem der Effektivität orientieren, wenn es um die Geltendmachung von aus dem Gemeinschaftsrecht abgeleiteten Rechtspositionen vor den nationalen Gerichten gehe. Dies sei eine paradoxe Situation, besonders angesichts der ständigen Sorge wegen mangelnder demokratischer Legitimation der Gemeinschaftsgesetzgebung, der die Gemeinschaft der Gefahr des Widerstands nationaler Gerichte aussetzt, die wiederholt ihre Entschlossenheit bekundet haben, sicherzustellen, dass Entwicklungen im Gemeinschaftsrecht den gerichtlichen Schutz des Einzelnen nicht untergraben. Auch vor diesem Hintergrund scheine eine Änderung der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 230 Abs. 4 EG angezeigt. Vor allem die Uneinheitlichkeit innerhalb der Rechtsprechung des EuGH – gerade auch im Verhältnis zu den nationalen Gerichten – lasse dies sinnreich erscheinen. Generalanwalt Jacobs ist schließlich der Auffassung, die Zunahme der Nichtigkeitsklagen würde durch einen Rückgang der Verfahren nach Art. 234 EG ausgeglichen.
3. Die Ablehnung der Klagebefugnis durch den EuGH
Die rechtlichen Fragestellungen in der Sache „Unión de Pequeños“ lassen sich wie folgt eingrenzen: zum einen geht es darum, ob einer natürlichen oder juristischen Person (Einzelner), die im Sinne von Art. 230 Absatz 4 EG in seiner Auslegung durch die Rechtsprechung unmittelbar, aber nicht individuell betroffen ist, allein deshalb dennoch eine Klagebefugnis zuzugestehen ist, weil ihm anderenfalls wegen Schwierigkeiten bei der indirekten Anfechtung der Ver-
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ordnung vor nationalen Gerichten das Recht auf effektiven gerichtlichen Schutz versagt würde, oder ob eine Klagebefugnis unabhängig davon festzustellen ist, ob eine solche indirekte Anfechtungsmöglichkeit zur Verfügung steht. Zum anderen ist erheblich, ob sich aus sonstigen Gründen im Hinblick auf effektiven Rechtsschutz des Einzelnen ein Bedürfnis zur Erweiterung des bisherigen Begriffsverständnisses der individuellen Betroffenheit ergibt. Der Gerichtshof führt dazu aus, nach dem EG-Vertrag könne jede „natürliche oder juristische Person gegen die an sie ergangenen Entscheidungen sowie gegen diejenigen Entscheidungen Klage erheben, die, obwohl sie als Verordnung oder als eine an eine andere Person gerichtete Entscheidung ergangen sind, sie unmittelbar und individuell betreffen“. Nach ständiger Rechtsprechung könne somit ein Einzelner gegen eine Handlung allgemeiner Geltung nur dann vorgehen, wenn diese Handlung ihn wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder wegen besonderer, ihn aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berühre. Eine natürliche oder juristische Person, die diese Voraussetzung nicht erfülle, könne keine Nichtigkeitsklage gegen eine Verordnung erheben. Der Gerichtshof weist jedoch darauf hin, dass die Europäische Gemeinschaft eine Rechtsgemeinschaft sei, in der die Handlungen ihrer Organe darauf hin kontrolliert würden, ob sie mit dem EG-Vertrag und den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, zu denen auch die Grundrechte gehörten, vereinbar seien. Die Einzelnen müssten daher einen effektiven gerichtlichen Schutz der Rechte in Anspruch nehmen können, die sie aus der Gemeinschaftsrechtsordnung herleiten; dies gehöre zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergäben. Dieses Recht sei auch in den Artikeln 6 und 13 der EMRK verankert. Der EG-Vertrag habe ein vollständiges System von Rechtsbehelfen und Verfahren geschaffen, das die Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Handlungen der Organe, mit der der Gemeinschaftsrichter betraut werde, gewährleisten solle. Nach diesem System hätten natürliche oder juristische Personen, die wegen der Zulässigkeitsvoraussetzungen Gemeinschaftshandlungen allgemeiner Geltung nicht unmittelbar anfechten könnten, die Möglichkeit, die Ungültigkeit solcher Handlungen – entweder vor dem Gemeinschaftsrichter inzident durch eine Klage gegen die in Anwendung der fraglichen Handlung getroffene Maßnahme der Gemeinschaft – oder vor den nationalen Gerichten geltend zu machen, die sich, da sie die Ungültigkeit der genannten Handlungen nicht selbst feststellen könnten, mit einem Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof wendeten. Was den letztgenannten Fall betreffe, so sei es Sache der Mitgliedstaaten, ein System von Rechtsbehelfen und Verfahren vorzusehen, mit dem die Einhaltung
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des Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz gewährleistet werden könne. Gemäß dem im EG-Vertrag aufgestellten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art. 10 EG) hätten die nationalen Gerichte die innerstaatlichen Verfahrensvorschriften so auszulegen, dass natürliche und juristische Personen die Rechtmäßigkeit einer in Anwendung einer Verordnung getroffenen nationalen Maßnahme gerichtlich anfechten und dabei die Gültigkeit der Verordnung in Frage stellen könnten. Der Gerichtshof hält für den Fall, dass die nationalen Verfahrensvorschriften es einem Einzelnen nicht gestatten, eine Klage zu erheben, mit der er die Gültigkeit der streitigen Gemeinschaftshandlung in Frage stellen kann, eine Direktklage mit dem Ziel der Nichtigerklärung beim Gemeinschaftsrichter nicht für zulässig, da der Gemeinschaftsrichter dann das nationale Verfahrensrecht auslegen müsste. Im übrigen sei der Begriff der individuellen Betroffenheit zwar aus Gründen eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes unter Berücksichtigung der verschiedenen Umstände, die einen Kläger individualisieren könnten, auszulegen, doch könne eine solche Auslegung nicht zum Wegfall dieser ausdrücklich im EG-Vertrag vorgesehenen Voraussetzung führen. Andernfalls würde der Gemeinschaftsrichter seine Befugnisse überschreiten. Auch wenn ein anderes System der Rechtmäßigkeitskontrolle der Gemeinschaftshandlungen allgemeiner Geltung als das durch den ursprünglichen Vertrag geschaffene und in seinen Grundzügen nie geänderte sicherlich vorstellbar sei, seien nur die Mitgliedstaaten gemäß dem Verfahren zur Änderung des EGVertrages (Art. 48 EU) befugt, dieses System der Rechtmäßigkeitskontrolle der Gemeinschaftshandlungen allgemeiner Geltung zu ändern.
III. Welche Rolle spielt die Sprache für die Entscheidung des Auslegungskonflikts? Die Aufgabe der europäischen Gerichte, den Begriff individueller Betroffenheit zu profilieren, ist Alltagsgeschäft der Rechtsarbeit überhaupt. Diese hat es immer mit sprachlicher Bedeutung zu tun. Und über diese wiederum muss anhand der Lesarten von Art. 230 Abs. 4 EG entschieden werden. Dabei darf diese Entscheidung nicht willkürlich getroffen werden. Das Gericht muss seine Entscheidung begründen. Für eine solche Begründung aber kann wieder nur ausgerechnet jener Normtext herhalten, über den das Gericht zu befinden hat. Nichts anderes besagt, auf den praktischen Punkt gebracht, die methodische Leitfigur einer „Auslegung nach dem Wortlaut“. Sie stürzt das Gericht in das Dilemma, erst schaffen zu müssen, worauf es sich für seine Entscheidung zugleich zu berufen hat.
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Tilman Kuhn und Ralph Christensen 1. Sprache als normative Instanz
In dieser mehr als prekären Situation ist es eine lange Tradition, die Rechtfertigung der Entscheidungen in der Sprache zu suchen. Sie soll als Instanz ausschlaggebende Dritte im Streit darum sein, welche Grenzen dem Gebrauch eines Ausdrucks wie hier dem der „individuellen Betroffenheit“ vom Wort her gezogen sind, dem im Art. 230 Abs. 4 EG niedergelegten „Buchstaben des Gesetzes“. Bereits Wittgenstein allerdings hatte solcher Erwartung eine alles entscheidende Macht der Sprache und ihrer Bedeutung entgegengehalten, dass es in ihr keine Grenzen gibt, es sei denn, wir ziehen sie „für einen besondern Zweck“, etwa dem einer Entscheidung von Recht eben. Sprache ist keine ideale Form, die dem Sprechen als bloßer Performanz vorgeordnet wäre und somit als idealer Maßstab herangezogen werden könnte. Die Hinterwelt der Form wurde in der neuen Sprachphilosophie abgeschafft. An die Stelle einer zweistufigen tritt eine flache Ontologie, wo das Sprechen über Sprache nur ein Sprachspiel neben anderen ist, und damit gerade nicht den Sprachspielen übergeordnet. Sprache ist ein Medium. Normative Maßstäbe liegen ihr nicht als ideale Form zugrunde, sondern müssen in ihr begründet werden, wenn man sie benötigt. Und ganz in diesem Geiste weist seit einiger Zeit auch eine avancierte Rechtslinguistik beharrlich darauf hin, dass die Hoffnung auf eine „normative Kraft der Sprache“ bestenfalls eine trügerische sein kann. Jeder Versuch, das Geschäft einer Entscheidung über Sprache, das dem Juristen vom Rechtsstreit auferlegt ist, auf die Form abzuschieben, ist damit zum Scheitern verurteilt. Der Jurist ist doch immer wieder darauf zurückgeworfen, sie selbst im Medium Sprache treffen zu müssen. Wie aber kann eine solche Entscheidung von Sprache noch frei von Willkür sein, wie es dem Juristen gleichfalls von den essentiellen Legitimationsanforderungen an sein Tun her abverlangt wird? Die Rechtslinguistik lässt ihn hier keineswegs im Stich. Sie leistet die Wittgenstein’sche Kärrnerarbeit, Geröll und Schutt unhaltbarer Sprachtheorie beiseite zu räumen. Indem sie diese als „Luftgebäude“ erweist, legt sie den „Grund der Sprache frei, auf dem sie standen“. Jener Sprache, die immer und auch noch in der Form eines Theoretisierens über sie Praxis ist. Rechtslinguistische Reflexion vermag so dem Juristen den Weg in solche Praxis von Sprache zu weisen. Einen Weg, den der Jurist und hier insbesondere der EuGH ohnehin zu beschreiten hat und in der Regel auch beschreitet. Ein solches „Luftgebäude“ ist zuallererst jene Auffassung von Sprache, die Juristen herkömmlich als Flucht aus der Mühsal und Verantwortung für die ihnen auferlegte Entscheidung über sie dienen soll. Jene Auffassung nämlich, der auch Donald Davidson mit seinem berühmten Fazit aus der Praxis eines letztlich problemlos verständigen Umgangs mit auch noch bizarrsten und abstrusesten Formen des Sprachgebrauchs, den Malapropismen, den Garaus macht. Davidson kommt zu dem „Schluss, dass es so etwas wie Sprache gar nicht gibt, sofern eine Sprache der Vorstel-
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lung entspricht, die sich viele Philosophen und Linguisten“, und – so kann man hinzufügen – auch viele Juristen, „von ihr gemacht haben. Daher gibt es auch nichts dergleichen, was man lernen, beherrschen oder von Geburt an in sich tragen könnte. Die Vorstellung, es gebe eine klar umrissene Struktur, die sich die Sprachbenützer zu eigen machen und dann auf Einzelfälle anwenden, müssen wir aufgeben.“ Und mit dieser Vorstellung fällt auch die „Annahme, die sprachliche Kommunikation verlange, dass Sprecher und Interpret eine gemeinsame Methode oder Theorie der Interpretation gelernt oder sonst wie erworben haben, dass sie imstande sind, auf der Grundlage gemeinsamer Konventionen, Regeln oder Regelmäßigkeiten zu verfahren.“ 2. Konkurrierende Lesarten im semantischen Kampf
Pikanterweise wird diese zunächst vielleicht als allzu radikal empfundene Konsequenz genau durch die alltägliche Grundsituation im Rechtsstreit bestätigt. Es ist die des semantischen Kampfes. In ihm stehen sich die Lesarten des Normtextes in ihrem Anspruch, die einzig legitim mögliche zu sein, einander unversöhnlich entgegen. Ihr Widerstreit kann nicht dadurch geschlichtet werden, dass die eine als sprachkonform akzeptiert, die andere dagegen als abweichend verworfen wird. Denn das ist längst ausgemacht. Um als Rechtsmeinung überhaupt vor Gericht in Streit geraten zu können, ist die Frage der Konformität und Akzeptanz bereits zugunsten beider Lesarten entschieden. Es kann damit nicht um ein Verständnis von Normtexten gehen. Die Feuerprobe darauf haben die vorgebrachten Lesarten des Gesetzes bereits bestehen müssen, damit das Anliegen der Parteien überhaupt als ein rechtliches gelten und akzeptiert werden kann. Mit dem Eintritt in das Verfahren steht also nicht mehr die Frage einer Sprachkonformität zur Debatte. Es geht vielmehr darum, was als in Hinblick auf den Normtext in seiner Bedeutung als Recht gelten soll. Allein die Möglichkeit eines solchen semantischen Kampfes entzieht den Vorstellungen eines sprachlichen Normaktivismus oder auch nur Regelianismus zugunsten eines semantischen Minimalismus, bzw. Antiregelianismus im Sinne des Davidson’schen Schlusses den Boden. Zugunsten der „Einsicht, dass wir im kommunikativen Handeln im Allgemeinen, im sprachlichen Handeln im Besonderen, nicht einfach vorgegebenen oder explizit ausgehandelten Regelschemata folgen“. Die Verhältnisse im Rechtsstreit treiben dabei lediglich auf die Spitze, was im alltäglichen kommunikativen Leben gang und gebe ist. Die Entscheidung über Regelkonformität einer sprachlichen Äußerung kann nicht durch Sprache als Form vorgegeben sein; nicht einmal die Entscheidung darüber, ob die Verwendung eines Ausdrucks sich noch im Rahmen des Üblichen bewegt. Und schon gar nicht vermag eine Form bzw. Regel eindeutig und unwiderruflich vorzuzeichnen, was in jedem Einzelfall ihre Befolgung ist. Und damit auch nicht die Entscheidung darüber, welche Lesart eines Normtextes wie Art. 230
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Abs. 4 EG den Regeln für den Gebrauch des Ausdrucks „individuelle Betroffenheit“ entspricht und von daher jeder anderen, damit abweichenden, vorzuziehen sei. Die Sprache ist kein dem Sprecher fertig vorgegebenes und technischinstrumentell anwendbares Regelwerk, sondern ein Medium zur Konstitution von Bedeutung, die so, bezogen auf ihre Ausdrucksformen, in ständigem Fluss ist. Die Folgerung des Antiregelianismus mag angesichts der in der Rechtsarbeit besonders unübersehbaren „Verhältnisse unserer Sprache“ mehr als einleuchtend sein. Angesichts unserer Erfahrungen mit ihr als Praxis scheint sie dennoch nur schwer hinnehmbar. Schließlich wissen wir, dass wir uns in der Wahl unserer Worte irren können. Wir bemerken, dass wir uns falsch ausgedrückt haben, wenn wir auf Unverständnis stoßen. Wir werden auf Fehler aufmerksam gemacht und zurechtgewiesen. Wir werden darüber belehrt, was man so sagt und was nicht. Uns wird vorgehalten, vernünftig zu reden und manchmal auch kommunikativen Anstand zu wahren. All dies scheint doch auf Maßstäbe hinzuweisen, die in der Sprache als eine Leitlinie und Maßregel für das rechte Sprechen liegen. Das Problem indes ist hier die Lösung. Die Äußerungen selbst über die normative Situation zeigen es an. Wenn Sprache konsequent und restlos Praxis ist, dann eben auch und vor allem im Aspekt der unser Sprechen orientierenden Normen und Werte. Fragen der Korrektheit, Kritik und Konformität des Sprachgebrauchs sind keine der Sprache als abstrakte Form. Sie sind nicht einmal solche, die sie zum Gegenstand hätten. Sie schaffen sie erst in Gestalt der Antworten, die ihnen gegeben und auf den Wegen des Lernens, der Sozialisierung, der Gewohnheit, Gepflogenheit und Sanktion, der Drohung und Überredung, der Anordnung und der Überzeugung als verbindlich durchgesetzt werden. Normativität wird in Gestalt von derlei Praktiken so wie „alles“ „in der Sprache ausgetragen“. Fragen der Verbindlichkeit und Maßgeblichkeit von Bedeutung und Regeln verweisen auf eine normative Praxis, deren Ergebnis erst all die Konventionen, Regeln, Normen und Werte sind, an denen unser Sprachgebrauch bemessen und beurteilt wird und an denen wir uns orientieren. Regeln, Normen und Werte treten nur als eine solche Praxis jeweils in Erscheinung. Und das heißt natürlich auch, dass sie mit ihr der ständigen Revision und Veränderung ausgesetzt sind. Regeln, Normen und Werte können sich also immer wieder erst praktisch als solche erweisen. „Unsere normativen Bewertungen des Richtigen und Falschen sind immer im Bezug auf das richtige gemeinsame Tun und Können zu verstehen.“ Und das gilt im Übrigen auch für Fragen der Wahrheit. Wahrheit, Norm und Wert als jene Instanzen, die für eine Entscheidung über Bedeutung und Lesarten in Anspruch genommen werden, verfallen somit genau dieser Praxis des Entscheidens und Durchsetzens. Sie stehen so nicht nur mit ihr ständig auf dem Spiel. Sondern im Fall eines Konflikts ist vorderhand jede Entscheidung erst einmal so gut wie die andere. Eine unabhängige Instanz als ideale Form gibt es nicht. Weder als Sprache; denn zu der muss man im Aus-
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gang des Konflikts erst einmal wieder kommen. Noch als Recht; denn dieses ist mit der Entscheidung über Sprache im Verfahren erst zu schaffen. Dann allerdings stellt sich die Frage, wie Juristen überhaupt noch zu einer Legitimierung ihres Tuns kommen können, der sie doch unabdingbar verpflichtet sind. Und es dürfte nun nicht mehr verwundern, wenn die Antwort abermals insistent lautet: als Praxis. 3. Kann man die Entscheidung eines semantischen Kampfes legitimieren?
Linguistisch lässt sich das Geschäft des Juristen als das der Sprachkritik betrachten, so wie sie Rainer Wimmer bestimmt. Ihren Anlass findet solche Sprachkritik genau in jenem Konflikt um sprachliche Normierungen, den vor Gericht der Antagonismus der Lesarten evoziert. Diese beanspruchen eine Kodifizierung eingefahrener kommunikativer Gepflogenheiten und wollen sich Verbindlichkeitscharakter beilegen. Genau dieser Anspruch ist Gegenstand der Kritik, die durch das Spiel der Beibringung von Gründen zu einer Entscheidung führen soll. „Zur Kritik des eigenen normativen Verhaltens gehört das Verfahren, fortlaufend nach weiteren Begründungen für die befolgten Normen zu fragen.“ Diese Begründungen dienen dazu, aus einer Brachialität der Überwältigung auszubrechen und Akzeptanz zu ermöglichen. Mit der dadurch praktizierten Thematisierung und Reflexion des Sprachgebrauchs einschließlich und vorrangig des jeweils eigenen soll und kann Überredung in Überzeugung, sprachliche Gewalt in kommunikative Ordnung und damit Nötigung in Entscheidung überführt werden. Mangels einer übergeordneten Instanz allerdings können die Gründe nur aus dem jeweiligen Sprachspiel selbst geschöpft werden, das sie in seinem Fundament zugleich eben „be“gründen, konstituieren. Normierungen schweben nicht als ideale Form über der Praxis. Sie haben selbst ihren Grund, ihre Berechtigung allein in ihr. Für die juristische Entscheidungsarbeit der europäischen Gerichte in den Rechtssachen „Jégo-Quéré et Cie S.A.“ und „Unión de Pequeños Agricultores“ ergibt sich aus der rechtslinguistischen Reflexion das folgende Bild. Im Konflikt der Lesarten der einschlägigen Normtexte muss die Entscheidung aus dem ganzen sprachlichen und praktischen Zusammenhang der Verwendung heraus entschieden werden. Dies macht das Moment der Reflexion aus. Diese Entscheidung wiederum kann nur in einer Ausgrenzung von Verwendungsweisen liegen. Dies macht das Moment des Kritischen auch in einem ganz elementaren Sinne des Scheidens aus. Juristisches Entscheiden ist in den umstrittenen Bereichen semantische Arbeit an der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke. Diese Arbeit besteht in der Entscheidung von Bedeutungskonflikten zur Festlegung auf Sprachnormen. Und die wiederum deuten auf legitimatorische Standards und verlangen nach diesen. Dies macht das Moment der Begründetheit des sprachkritischen Geschäfts aus, das den Juristen auf den Königsweg zum Recht führt.
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Bedeutung, Regeln und Sprache können dabei allerdings nicht als Berufungsinstanz herhalten. Ihnen ist nichts Normatives zu Eigen. Im Gegenteil, über diese Normativität ist erst zu entscheiden und damit auch wieder erneut Sprache zu schaffen. Sprache, Bedeutung ist also Gegenstand juristischer Textarbeit. Die in ihrem Ergebnis erreichten Bedeutungsfestlegungen können nur aus der Sache heraus gerechtfertigt werden, für die sie von Bedeutung sind, der Entscheidung von Recht. Für die Semantik, auf die sich der Jurist festzulegen hat, hat er nach den Regeln der Kunst zu argumentieren. Das Rüstzeug dafür bieten ihm die Canones der Auslegung als wesentliche das Spiel des Rechts begründenden Praktiken. Der Gebrauch sprachlicher Ausdrücke lässt sich daher immer nur durch seine Konsistenz, seine Plausibilität und seine Akzeptanz im jeweiligen System, mit einem Wort durch die Kohärenz der für unabdinglich und damit verbindlich angesehenen Überzeugungen rechtfertigen. Die sich aus den Canones der juristischen Methodik ergebenden Fragerichtungen verknüpfen jene Texte, von denen der Streit ums Recht seinen Ausgang nimmt, mit weiteren Kontexten, um so durch Abgrenzung und Verbindung die Bedeutung des Normtextes zu bestimmen. Als juristische Argumentformen dienen sie der Widerlegung oder der Integration von Gegenargumenten. Im ersten Fall fungieren sie als Verknappungsinstanzen, welche die Flut von Verständnisweisen reduzieren, die den Normtext zu überschwemmen drohen. Im zweiten Fall führen sie dagegen zu einer größeren Bedeutungsvielfalt. Die Eröffnung von Kontexten wie Lexika, andere Gesetze, Materialien usw. bringt diese Kontexte im juristischen Diskurs in eine Ordnung. Aufgrund der gebotenen Bindungen an Recht und Gesetz hat dabei der engere, der spezifischere Kontext im Konfliktfall den weiteren und vom Normtext entfernteren Kontext aus dem Felde geschlagen. Indem es um die Auslese von Verständnisweisen geht, kann Sprache nicht maßgebender Gegenstand des Verfahrens sein. Die Sprache ist vielmehr Plausibilitätsraum. Durch das Herbeiziehen von Kontexten wird eine bestimmte Lesart des Gesetzes möglich, erscheint vielleicht besser als andere Lesarten oder wird sogar evident. Die realistische Einschätzung der Bedingungen juristischen Handelns durch rechtslinguistische Reflexion ermöglicht eine entsprechend unvoreingenommene Einschätzung der mit der juristischen Praxis einhergehenden Begründungslasten. Und die Frage ist nun, wie ihnen die europäischen Gerichte gerecht zu werden vermögen. IV. Struktur der dogmatischen Rechtfertigung Im Folgenden sind zunächst die Argumente der beiden Seiten einzuordnen. Sodann soll dargelegt werden, ob eine und wenn ja welche Rangordnung einzelner Argumente entwickelt werden kann. Schließlich sollen auf dieser Grundlage die Ergebnisse der beiden Gerichte bewertet werden.
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1. Das Gemeinschaftsgrundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf
Das Gericht erster Instanz gewinnt sein Verständnis des Art. 230 Abs. 4 EG aus dem „Gemeinschaftsgrundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf“. Dies ist an keiner Stelle des primären oder sekundären Gemeinschaftsrechts kodifiziert. Die im Rahmen der Regierungskonferenz von Nizza eingeführte EU-Grundrechtscharta stellt lediglich eine „feierliche Proklamation“ des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission dar und ist im Hinblick auf Dogmatik und Verbindlichkeit nicht mit dem Grundrechtskatalog im GG vergleichbar. Der EuGH wird sie, wie das EuG im hier dargestellten Urteil, primär als zusätzliche Auslegungshilfe bezüglich der Gemeinschaftsgrundrechte anwenden. Der Gerichtshof musste die Gemeinschaftsgrundrechte daher selbst entwickeln und hat dies im Wege der rechtsvergleichenden Auslegung getan. Bei der Referenz zu dem Gemeinschaftsgrundrecht (in beiden Urteilen) handelt es sich um eine Kombination von rechtsvergleichender und systematischer Auslegung. Rechtsvergleichend wird das Gemeinschaftsgrundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gewonnen. Sodann wird Art. 230 Abs. 4 EG im Lichte dieses allgemeinen Rechtsgrundsatzes, also des Grundrechts, ausgelegt. Dies ist keine Erscheinungsform der gemeinschaftskonformen Auslegung von Gemeinschaftsrecht wie beispielsweise die Auslegung von Sekundärrecht in Übereinstimmung mit normhierarchisch höherrangigem Primärrecht, sondern der systematischen Auslegung des Gemeinschaftsrechts. Denn Primärrecht (Art. 230 EG) und Gemeinschaftsgrundrechte stehen normhierarchisch auf derselben Stufe. 2. Der Begriff der „individuellen Betroffenheit“
Der EuGH legt seinem Verständnis des Begriffs der „individuellen Betroffenheit“ vorrangig die grammatische Auslegung zugrunde. Dies kommt bereits durch die Art der Formulierung des EuGH zum Ausdruck, dass ein anderes Verständnis als das seiner ständigen Rechtsprechung zugrunde liegende „zum Wegfall der fraglichen Voraussetzung, die ausdrücklich im EG-Vertrag vorgesehen ist, führen“ würde. Er setzt also sein durch eigene Rechtsprechung geschaffenes Verständnis dem Normtext gleich. Die Begründung ist knapp. In Rdnrn. 44 und 45 des Urteils führt der Gerichtshof aus, dass die individuelle Betroffenheit „(. . .) zwar im Licht des Grundsatzes eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes unter Berücksichtigung der verschiedenen Umstände, die einen Kläger individualisieren können, auszulegen [ist]; doch kann eine solche Auslegung nicht, ohne dass die den Gemeinschaftsgerichten durch den Vertrag verliehenen Befugnisse überschritten würden, zum Wegfall der fraglichen Voraussetzung, die ausdrücklich im EGVertrag vorgesehen ist, führen“. Ein anderes Verständnis käme einer Vertragsänderung gleich, die nach Art. 48 EU Sache der Mitgliedstaaten sei.
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In dieser Passage des Urteils wird deutlich, dass der EuGH sich aus Gründen der funktionellen Gewaltenteilung zwischen Gemeinschaft(-sorgan EuGH) und Mitgliedstaaten daran gehindert sieht, den Begriff der individuellen Betroffenheit anders als in seiner bisherigen Rechtsprechung auszulegen. 3. Konflikt zwischen grammatischer und systematischer Auslegung
Die Gründe, die für das Verständnis der Voraussetzung im Sinne des EuGH sprechen, sind genauer zu betrachten. Zunächst ist festzustellen, dass es zwar auch nach Ansicht des EuGH unzumutbar ist, wissentlich Gemeinschaftsrecht verletzen zu müssen, um die Rechtmäßigkeit einer Gemeinschaftshandlung überprüfen lassen zu können. Doch reicht laut EuGH das bisherige Rechtsschutzsystem mit den vorhandenen Klagearten für den Rechtsschutz des Bürgers aus. Das Gemeinschaftsgrundrecht gebiete also keine andere Auslegung. Der EuGH bestreitet nicht, dass ein anderes als das derzeitige Rechtsschutzsystem, insbesondere vor dem Hintergrund des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz, vorstellbar wäre, er hält sich aber nicht für befugt, den Begriff der individuellen Betroffenheit beim Stand des gegenwärtigen Primärrechts erweiternd (im Sinne des EuG) auszulegen. Letztendlich handelt es sich folglich um einen Konflikt zwischen grammatischer und systematischer Auslegung des Begriffs. Die Problematik der gegenläufigen Entscheidungen lässt sich dann auf folgende gemeinsame Formel bringen: gebietet das Gemeinschaftsrecht, namentlich das Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf, es, den Begriff der individuellen Betroffenheit im Sinne des Art. 230 Abs. 4 EG im Sinne des Urteils „Jégo Quéré“ oder der bisherigen Rechtsprechung auszulegen oder sind beide Auslegungsvarianten legitim. Ist letzteres der Fall, so ist zu untersuchen, welches Auslegungsergebnis überzeugender ist. V. Rangfolge der Argumente Zur Entscheidung des dargestellten Konflikts muss die Stärke der vorgebrachten Argumente bewertet werden. Damit stößt man auf das alte Problem einer Rangfolge juristischer Argumente. 1. Das Rangfolgeproblem in der europarechtlichen Literatur
In der europarechtlichen Literatur werden Möglichkeit und Notwendigkeit einer Rangfolge von Argumenten kontrovers diskutiert. Zum Teil wird behauptet, eine Rangordnung von Argumenten führe zu einer Isolierung der Auslegungsinstrumente und sei unverträglich mit der Aufgabe der Justiz, zu einer einzel-
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fallbezogenen Abwägung zu gelangen. Andererseits wird eine solche Rangordnung im Interesse der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes nicht nur gefordert, sondern zum Teil auch mit sprachlichen Erwägungen begründet. Die Aufgabe, eine Rangfolge der Argumente zu entwickeln, ist für die herkömmliche methodische Lehre unlösbar. Sie kann nicht zu einer Rangfolge juristischer Argumente kommen, weil es aus ihrer Sicht bei der Interpretation um die einheitliche Erkenntnis einer im Text vorgegebenen Bedeutung geht. Die Mittel dieser Erkenntnis sind dann gleichrangig, denn Erkenntnisinstrumente ordnet man nicht nach Gewicht, sondern allenfalls nach Erfolg oder Misserfolg. Bei einem Widerspruch zwischen den Ergebnissen verschiedener Konkretisierungselemente stellt sich dann nicht die Frage nach dem besseren Argument; sondern der Widerspruch wird in die Bedeutung hinein verlagert, die dann etwa als mehrdeutig oder inkonsistent gilt. Etwas anderes ergibt sich aber für die neue Sichtweise, die sich von der Fiktion des Ermittelns einer im Normtext vorgegebenen Bedeutung löst. Wenn die Bedeutung des Normtextes realiter in einem Argumentationsprozess erst hergestellt wird, dann stellen sich die Fragen nach dem besseren Argument und nach der Rangfolge mit systematischer Notwendigkeit. Gegen die Möglichkeit einer rechtsstaatlich kontrollierbaren Rangfolge juristischer Argumente wird ferner vorgebracht, dass eine solche nicht abstrakt und generell vorherbestimmt werden könne, sondern sich nur aus dem Gewicht der Argumente im Einzelfall ableiten lasse. Die Begründung dieser Sicht arbeitet mit dem Argument, hinter den Auslegungsmethoden oder besser den Elementen zur Konkretisierung einer Rechtsnorm aus einem Normtext heraus (Konkretisierungselemente) stünden Interessen, die im konkreten Fall in unterschiedlicher Intensität betroffen seien. Vorrangregeln sind aber grundsätzlich möglich. Die Konkretisierungselemente sind nicht Ausdruck isolierter Interessen, sondern Fragerichtungen, die dazu dienen, Kontexte in den Entscheidungsprozess einzubeziehen. Erst wenn man die vergebliche Suche nach einem hinter den Mitteln der Interpretation stehenden Wesen aufgibt, kann man dann die Frage stellen, was es heißt, dass deren Ergebnisse für die Entscheidung „im Einzelfall“ verschiedene Aussagekraft haben. Der Einzelfall ist nicht dadurch gekennzeichnet, dass in generelle Interessen verschieden intensiv eingegriffen wird, sondern dadurch, dass zwischen den Parteien Streit um die Fallerzählung und die Lesart des Normtextes besteht. Es stehen sich damit mindestens zwei konkurrierende Interpretationen gegenüber, die sich auf die von den Konkretisierungselementen erfragten Kontexte in unterschiedlicher Weise beziehen können. Zentral ist aber, ob die von einer der Interpretationen vorgeschlagene Verknüpfungsweise durch das Ergebnis eines bestimmten Konkretisierungselements eindeutig ausgeschlossen wird. Die fragliche Interpretation lässt sich dann nur noch dadurch „retten“, dass ein höherrangiges Konkretisierungselement dieses Zwischenergebnis seinerseits eindeutig aus dem Feld schlagen kann.
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Es stehen sich also nicht generelle, sondern konkret erfragte Kontexte gegenüber. Diese werden auch nicht abstrakt abgewogen oder verglichen, sondern nur unter der Voraussetzung, dass ein Konfliktfall vorliegt, d. h. dass sie das Schicksal der sich im Streit befindenden Interpretationen in gegensätzlicher Weise beeinflussen. Wenn man also den oft beschworenen „Einzelfall“ näher betrachtet, wird deutlich, dass generelle Vorrangregeln nicht nur nötig, sondern auch möglich sind. 2. Ist eine Rangfolge der Argumente in der Rechtsprechung des EuGH erkennbar?
Auch wenn von der Rechtsprechung nicht erwartet werden kann, ein theoretisches Gesamtkonzept juristischer Methodik zu entwickeln, so ist doch zur Vermeidung von Willkür methodische Rationalität erforderlich. Die Überzeugungskraft und das Gewicht von Argumenten können nicht entlang gesellschaftlicher Machtverhältnisse bestimmt werden, sie bedürfen möglichst objektivierbarer Kriterien und Vorzugsregeln. Solange die Rangfolgeprobleme nicht gelöst sind, gilt insoweit, „dass diese Methodologie die Rechtfertigung beliebiger Ergebnisse gestattet“. Der EuGH lässt in seiner praktischen Textarbeit tatsächlich eine Rangfolge erkennen. Quantitativ sind grammatische und teleologische Auslegung die in seinen Urteilsgründen am häufigsten verwendeten Formen. Das spricht für ihre besondere Bedeutung, muss aber noch qualitativ bewertet werden. Zum Teil wird aus prominenten Entscheidungen abgeleitet, der EuGH praktiziere auch einen Vorrang der teleologischen Methode. Vor allem aus der Entscheidung Continental Can wurde der Schluss gezogen, der EuGH räume der Teleologie sogar Vorrang vor dem Wortlaut ein. Das ist allerdings schon für die genannte Entscheidung nicht haltbar. Denn der EuGH setzt sich dort mit dem Wortlaut auseinander und kommt zu dem zutreffenden Ergebnis, er gebe für die Lösung des streitigen Problems nichts her. Deswegen stützt er seine Erwägungen dann nur noch auf Systematik und Teleologie. Einen Konflikt zwischen grammatischer und teleologischer Auslegung gab es dabei also gar nicht. Auch im allgemeinen lässt sich ein Vorrang der Teleologie nicht nachweisen.1 Schon quantitativ ist das Wortlautargument häufiger und qualitativ bildet es für den EuGH das Ziel des Interpretationsvorgangs. Die Teleologie wird der Erreichung dieses Ziels untergeordnet, wie vor allem der Stellenwert der gemeinschaftsbezogenen Bedeutung zeigt. Schließlich ist die Teleologie nur ein unselbständiges Argument, weil der Zweck vom EuGH immer vorab begründet wird, entweder sub1 Vgl. M. Dederichs, Die Methodik des EuGH: Häufigkeit und Bedeutung methodischer Argumente in den Begründungen des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften, Baden-Baden 2004, im Erscheinen; dies., Die Methodik des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften EuR 2004, S. 345 ff.
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jektiv mit der Entstehungsgeschichte oder objektiv mit der Systematik des Textes. Das teleologische Argument hat damit eine transitorische Struktur. Es entsteht aus den Materialien oder der Systematik und mündet in die grammatische Auslegung. Erst wenn man dies berücksichtigt, wird die tatsächliche Praxis des EuGH bezüglich der Rangfolge von Argumenten klar. Häufig wird hier ein Vorrang der Teleologie vor der historischen Auslegung behauptet: „So hat sich der EuGH in den Urteilen „APS“ und „Kommission/Rat“ eindeutig für einen Vorrang der teleologischen gegenüber der historischen Auslegung ausgesprochen, indem er betont, dass für die Ermittlung der zutreffenden Rechtsgrundlage eines Gemeinschaftsrechtsakts nicht die subjektive Auffassung des rechtsetzenden Organs entscheidend ist, die sich aus den Begründungserwägungen (Art. 190 EGV) ergibt, sondern das objektiv mit der Regelung verfolgte Ziel.“ Tatsächlich geht es dort aber nicht um einen Vorrang der Teleologie, sondern um einen der Systematik vor der Entstehungsgeschichte. Denn auch in jenen Fällen war das teleologische Argument zuvor aus der Systematik entwickelt worden. Richtigerweise kann man in der Praxis des EuGH eine Priorität der Systematik und des grammatischen Arguments vor der Entstehungsgeschichte feststellen: „Ein Vorrang der grammatischen vor der historischen Auslegung kommt in den Urteilen „Antonissen“ und „Kommission/Italien“ zum Ausdruck. Danach können Protokollerklärungen des Rates dann nicht zur Auslegung einer Verordnung oder Richtlinienbestimmung herangezogen werden, wenn der Inhalt der Erklärung im Wortlaut der fraglichen Bestimmung keinen Ausdruck gefunden und damit keine rechtliche Bedeutung erlangt hat.“ Wegen dieses Vorrangs der näher am Text stehenden Argumente vor der Entstehungsgeschichte wird immer wieder davon gesprochen, dass der EuGH die objektive Auslegungslehre vertrete. Richtig daran ist nur, dass er die Kontexte ebenso gewichtet, wie die objektive Lehre es tut. Als Auslegungsdoktrin hat er sie aber niemals übernommen. Er begründet den Vorrang der textnäheren Gesichtspunkte mit Vertrauensschutzargumenten normativ, gerade nicht vom Ziel der Auslegung her. 3. Systematisierung der Ansätze des Gerichts
Die Judikatur lässt in der Tat eine Rangfolge der verwendeten Argumente erkennen, ohne dass diese aber näher begründet würde. An dieser Stelle liegt der Ansatzpunkt einer Rechtserzeugungsreflexion. Eine „wenigstens im Ansatz kontrollierbare Rangfolge“ wird einer grundsätzlichen Analyse unterzogen. Dabei ist als Vorgabe für den EuGH vor allem das Apriori seiner primärrechtlichen Grundlagen von Bedeutung. Diese werden als Strukturvorgaben für die Praxis des Gerichtshofs aufgefasst. Zu denken ist dabei vor allem an rechtsstaatliche Vorschriften wie Tatbestandsbestimmtheit, Textklarheit der Verfas-
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sung, Rationalität und Kontrollierbarkeit juristischen Arbeitens. Die rechtsstaatlichen Grundsätze stellen, soweit sie methodenbezogen sind, als normative Grundlage der Praxis des EuGH bestimmte Anforderungen an dessen Argumentationskultur. Das Ergebnis dieser Einwirkung des Primärrechts auf die Argumentation lässt sich so formulieren: Hinter der vorgeblich objektiven Bedeutung des Gesetzestextes oder der Idee der Gerechtigkeit führt eine praktische Reflexion der Rechtswissenschaft der Sache nach zu einer rechtsstaatlichen juristischen Methodik. Von Bedeutung sind dabei primärrechtlich nicht nur die methodenbezogenen Normen in Art. 220, 288 und 314 EG, sondern auch der aus den nationalen Traditionen entwickelte Rechtsstaatsgedanke, der als bürgerschützende und formstrenge Vorgabe dem Normtext eine zentrale Stellung zuweist. Wenn man über diese normativen Daten hinaus noch die von der Strukturierenden Rechtslehre entwickelte Rechtsnormtheorie begrifflich berücksichtigt, wird deutlich, dass die von der Judikatur angestellten Überlegungen zur Rangfolge tatsächlich an die Normtextnähe der betreffenden Argumente anknüpfen. Dieser Gesichtspunkt erlaubt es, die von den Konkretisierungselementen ins Spiel gebrachten unterschiedlichen Kontexte zu gewichten, wobei etwa ein Argument aus der Systematik des Gesetzes einem Argument aus den Materialien im Zweifelsfall vorzuziehen ist. Mit einer solchen rechtsstaatlichen Rangfolge der Argumente kann die Verknüpfung von Normtext und tragendem Leitsatz an einem objektivierbaren Maßstab gemessen werden. Eine Interpretation ist dann besser, wenn sie die von der Zeichenkette und dem vorliegenden Bedeutungskonflikt gelieferten Anschlussmöglichkeiten für die Argumentation wirksamer nutzt; das heißt, dass sie die Einwände oder Widerlegungen des Gegners entweder in die eigene Argumentation integrieren oder sie ausräumen kann. Eine Rechtserzeugungsreflexion kann auch die alte Frage der einzelfallbezogenen Wertung von Vorrangregeln lösen. Wenn man an die bereits praktizierten Kriterien anknüpft, ergibt sich im Fall von Konflikt oder Widerlegung die Notwendigkeit, in zwei Phasen zu gewichten. Erstens sind die Elemente normstrukturell oder abstrakt zu bewerten. Zweitens müssen sie konkret nach Intensität oder Schwere eingeordnet werden. Normstrukturell ist das Gewicht eines Arguments umso größer, je näher es am Normtext steht. Das heißt, textbezogene schlagen Normbereichselemente aus dem Feld, und diese wiederum bloß rechtspolitische Bewertungen usw. Neben diese Einordnung des Elements in die Normstruktur als direkt textbezogen, indirekt textbezogen oder normgelöst muss dann noch eine konkrete Bewertung treten. Diese lässt sich kaum vom jeweiligen Fall abstrahieren. Als allgemeine Kriterien bieten sich Möglichkeit, Plausibilität und Evidenz an. Möglich ist in diesem Sinn ein Argument, das nicht von vornherein ausgeschlossen ist. Plausibel heißt, dass es überzeugt, dass aber Al-
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ternativen bestehen. Evident ist ein Argument dann, wenn zur Zeit keine Alternativen denkbar sind.
VI. Bewertung der Argumente 1. Der Wortlaut von Art. 230 Abs. 4 in der Systematik des Rechtsschutzes
Da Art. 230 Abs. 4 EG seinem Wortlaut nach eine Anfechtung von Gemeinschaftshandlungen nur zulässt, wenn es sich um eine Entscheidung im Sinne des Art. 249 Abs. 4 EG oder um eine Verordnung im Sinne des Art. 249 Abs. 2 EG handelt, die in ihren Auswirkungen einer Entscheidung gleichkommt, ist nach Ansicht des EuGH der Begriff enger zu verstehen. Für diese Sichtweise ließe sich auch die innere Struktur des gesamten Art. 230 EG im Allgemeinen und seines Absatzes 4 im Besonderen anführen. Denn Art. 230 EG differenziert in seinen Absätzen zwischen privilegierten, teilweise privilegierten und nicht-privilegierten Klägern. Die nach Artikel 230 Abs. 2 EG sog. privilegierten Klageberechtigten müssen keine Klagebefugnis geltend machen. Zum Teil wird sogar nicht einmal ein Rechtsschutzbedürfnis gefordert. Die nach Art. 230 Abs. 3 EG teilprivilegierten Klageberechtigten müssen eine Verletzung in eigenen Rechten geltend machen. Für die nicht-privilegierten Klageberechtigten nach Absatz 4 gelten die bislang diskutierten Erfordernisse der Adressatenstellung oder der unmittelbaren und individuellen Betroffenheit. Somit stellt Absatz 4 gesteigerte Anforderungen an die Klagebefugnis, insbesondere im Verhältnis zur bloßen Betroffenheit in eigenen Rechten gemäß Art. 230 Abs. 3 EG. Ferner ergibt sich aus den einzelnen Fallvarianten, die in Absatz 4 von Art. 230 EG angelegt sind, dass diese vergleichbar sein müssen. Die Bestimmung sieht in der ersten Alternative vor, dass eine natürliche oder juristische Person, die Adressat einer Entscheidung ist, diese im Wege der Nichtigkeitsklage angreifen kann. In der zweiten Alternative ist eine Anfechtungsmöglichkeit vorgesehen für eine sonstige unmittelbare und individuelle Betroffenheit durch eine Verordnung oder eine Entscheidung, deren Adressat eine dritte Person ist. Hier ließe sich anführen, dass Art. 230 Abs. 4 EG eine Vergleichbarkeit der Situation der zweiten Alternative mit der der ersten verlangt. Es müsste mithin, was eine Verordnung angeht, eine vergleichbare Betroffenheit vorliegen, als wenn der Einzelne Adressat der Maßnahme wäre. Nötig wäre eine Entscheidung gegenüber dem Kläger, die nur im Gewand einer Verordnung ergangen wäre, vergleichbar einem Einzelfall- oder Maßnahmegesetz im Sinne des Art. 19 I 1 GG. Folglich wäre eine enge Auslegung des Art. 230 Abs. 4 EG im Sinne der bisherigen ständigen Rechtsprechung des EuGH angezeigt. Die unmittelbare und individuelle Betroffenheit muss also der Adressatenstellung vergleichbar sein. Dafür kann vom allgemeinen Sprachgebrauch und vor
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allem vom juristischen Fachsprachgebrauch her eine „unzweifelhafte und gegenwärtige Beeinträchtigung der Rechtsposition“ nicht ausreichen. Ebenso muss der Begriff der „Individualität“ eine andere Bedeutung haben als der Begriff der „Unmittelbarkeit“. Heißt aber „unmittelbar betroffen“, „dass sich die beanstandete Gemeinschaftsmaßnahme unmittelbar auf die Rechtsstellung des Einzelnen auswirkt und dass sie ihren Adressaten, die mit ihrer Durchführung betraut sind, keinerlei Ermessensspielraum lässt, wobei die Durchführung rein automatisch erfolgt und sich allein aus der Gemeinschaftsregelung ergibt, ohne dass dabei weitere vermittelnde Rechtsakte erlassen werden müssten“, dann kann der Begriff „individuell“ nicht – entsprechend dem Gericht erster Instanz – so verstanden werden, dass das Kriterium erfüllt ist, „wenn die fragliche Bestimmung ihre Rechtsposition unzweifelhaft und gegenwärtig beeinträchtigt, indem sie ihre Rechte einschränkt oder ihr Pflichten auferlegt“. Beide Begriffe sind sich dann zu ähnlich, als dass es sinnvoll erscheint, seitens der Normtextsetzer (Mitgliedstaaten) nicht nur einen von beiden verwendet zu haben.
2. Bewertung der Argumente nach Normstruktur und Stärke
Erstens sind die Auslegungselemente normstrukturell zu bewerten, zweitens müssen sie konkret nach Intensität oder Schwere eingeordnet werden. Normstrukturell sind die Erwägungen gleichrangig. Das EuG und Generalanwalt Jacobs favorisieren die systematische, der EuGH die grammatische Auslegung. Beide Argumentformen sind textbezogen. Die Bewertung ist folglich nach der Intensität und Stärke der Argumente, also anhand der aufgezeigten Kategorien („dreistufige Argumenthierarchie“) der Möglichkeit, Plausibilität und Evidenz vorzunehmen. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass weder das Gericht erster Instanz, noch der EuGH oder Generalanwalt Jacobs eine umfassende rechtsvergleichende Analyse vorgenommen haben, um den genauen Inhalt und die Reichweite des Grundrechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz näher zu bestimmen. Auch der Rahmen dieser Kommentierung der Urteile würde durch eine solche gesprengt. Insbesondere muss aber berücksichtigt werden, dass das Gemeinschaftsgrundrecht als „allgemeiner Rechtsgrundsatz“ dem Art. 230 Abs. 4 EG als Bestandteil des Primärrechts nicht normhierarchisch übergeordnet ist. Somit ist der erste Teil der aufgeworfenen Fragestellung bereits jetzt zu beantworten. Das erwähnte Grundrecht gebietet weder die eine noch die andere Lesart des Art. 230 Abs. 4 EG. Somit muss das Problem dahingehend gelöst werden, dass eine Lesart ausgewählt wird, die methodisch überzeugt (beispielsweise dem angeführten Grundrecht am besten gerecht wird), und – vor allem kompetenzrechtlich – legitim ist.
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Es sind zunächst beide Lesarten des Normtextes möglich. Sie unterscheiden sich aber bereits auf der zweiten Stufe der Plausibilität. Die Lösung des EuGH ist plausibel, das heißt sie überzeugt wegen der aufgezeigten Struktur des Art. 230 EG und des allgemeinen und Fachsprachgebrauchs. Die Argumentation des EuG und des Generalanwalts erreichen diese Stärke aus zwei Gründen nicht. Zum einen führen beide an, es gebe keinerlei Hindernisse, das Verständnis des Begriffs zu ändern. Doch gerade der Wortlaut der Bestimmung stellt eine solche Barriere auf. Die Argumente des EuGH hätten insoweit widerlegt werden müssen. Zum anderen ist naturgemäß bei der vorliegenden Problemlösung auch das telos der Gemeinschaftsordnung und ihres Rechtsschutzsystems im Allgemeinen und des Art. 230 Abs. 4 EG im Besonderen zu berücksichtigen. Es ist folglich systematisch-teleologisch zu überprüfen, ob der von dem Gemeinschaftsrecht selbst geforderte effektive gerichtliche Rechtsschutz gegenüber allgemeinen Gemeinschaftshandlungen durch die Möglichkeiten, die Art. 235, 288 Abs. 2 EG und 234 EG vorsehen, ausreichend gewährleistet ist. Dabei ist das Konzept des Rechtsschutzsystems im EG-Vertrag zu berücksichtigen. Rechtsakte von allgemeiner Geltung sollen im Regelfall gerade nicht von Einzelnen angefochten werden können, was nicht zuletzt im Wortlaut des Art. 230 Abs. 4 EG zum Ausdruck kommt. Die vorgebrachten Überlegungen zu Ungereimtheiten in der EuGH-Rechtsprechung insgesamt können ein anderes Ergebnis nicht stützen. Überlegungen zur Zweckmäßigkeit einer Änderung des Rechtsschutzsystems, die der Generalanwalt unter anderem mit „Ist die Zeit reif für eine Weiterentwicklung des Begriffs der individuellen Betroffenheit?“ einleitet, beschränken sich auf rechtspolitische Argumente, die normstrukturell bereits hinter die Wortlautargumentation zurücktreten müssen. Letztendlich ist nicht dargelegt, dass der bestehende Rechtsschutz völlig ineffektiv ist. Zwar ist die Überprüfung nationaler Rechtsschutzmöglichkeiten aus oben genannten Gründen durch den EuGH nicht en detail möglich, es sind aber in begrenztem Umfang insbesondere prozessuale Mittel wie die Einholung von Expertengutachten oder Meinungen von qualifizierten Mitarbeitern, etwa der Kabinette der EuGH-Richter, vor allem des- oder derjenigen, die die Rechtsordnung des Betroffenen repräsentieren, denkbar. Dann hätte der EuGH nicht nationales Recht anzuwenden oder auszulegen, sondern könnte von bestimmten Tatsachen ausgehen, beispielsweise dem vollständigen Fehlen nationaler Rechtsbehelfe gegen die Handlung. Vor diesem Hintergrund könnte dann das Grundrecht auf einen effektiven Rechtsbehelf im Einzelfall ein anderes Verständnis des streitbefangenen Begriffs fordern. Das Gleiche gilt, wenn eindeutig wäre, – was nicht der Fall ist – dass das gemeinschaftsrechtliche Rechtsschutzsystem die Rechte der Betroffenen nicht ausreichend schützt. Solange dies aber nicht dargelegt ist, ist der Argumentation des EuGH zu folgen. Der Wortlaut der Vorschrift steht einer erweiternden Auslegung entgegen.
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Tilman Kuhn und Ralph Christensen 3. Ergebnis
Die vom Gericht erster Instanz gewählte Lesart käme in ihren Auswirkungen der Ausweitung der Gesetzesverfassungsbeschwerde im deutschen Verfassungsprozessrecht nahe. Ob tatsächlich eine Klageflut über die Gemeinschaftsgerichte hereinbrechen würde, ist schwer abzuschätzen, jedoch nicht unwahrscheinlich. Vor diesem Hintergrund dürfte das Gericht auf ein baldiges In-Kraft-Treten des Vertrages von Nizza und der dort vorgesehenen Reform des Gerichtssystems2 gehofft haben, worauf auch der Generalanwalt Jacobs in „Union“ verweist. Der EuGH könnte in Anbetracht der zum Zeitpunkt seiner Entscheidung noch ausstehenden Zustimmung der irischen Bevölkerung gerade dies auch in seine Erwägungen einbezogen haben. Möglicherweise entschärft sich die Problematik mit der Änderung des Gemeinschaftsgerichtssystems. Das Grundrecht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz gebietet jedoch keine der beiden kontroversen Auslegungsvarianten, verbietet aber auch keine aus kompetenzrechtlichen Gründen, wie der EuGH unzutreffend in „Unión“ annimmt. Es sind keine zwingenden Gründe ersichtlich, das in der bisherigen Rechtsprechung des EuGH verwendete Erfordernis der „Heraushebung“ aufzugeben. Vielmehr ist bei den gegebenen Sachverhalten ein Vorrang der Wortlautargumentation des EuGH anzunehmen. Soweit Gericht erster Instanz und GA Jacobs systematisch argumentieren, sind die Argumente des EuGH im Hinblick auf ihre Intensität stärker, da sie im Gegensatz zu den systematischen nicht nur möglich sondern auch plausibel sind. Soweit rechtspolitische Erwägungen herangezogen werden, etwa die Auswirkungen eines erweiterten Rechtsschutzes Einzelner auf die Akzeptanz der Gemeinschaft als solcher und die Schaffung eines „Europas der Bürger“, so treten diese bereits normstrukturell hinter die Argumente des EuGH zurück. Keine der beiden Lesarten ist aber evident. Kann im Einzelfall das vollständige Fehlen effektiver gerichtlicher Überprüfung von Gemeinschaftsmaßnahmen allgemeiner Geltung nachgewiesen werden, kann eine andere Bewertung auf der Stufe der Plausibilität gerechtfertigt sein. Bis dahin ist zu erwarten, dass der Gerichtshof in gleicher Weise auch über das Rechtsmittel in der Sache „Jégo Quéré“ entscheiden wird.3
2 Siehe Entwurf eines Beschlusses zur Änderung des Protokolls über die Satzung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften, http://www.curia.eu.int/de/instit/ txtdocfr/aurestxts/51_54.htm. 3 Das Gericht erster Instanz hat sich mittlerweile „gefügt“, d. h. dem EuGH angeschlossen, s. EuG, Urt. v. 21.03.2003, Rs. T-167/02, „Établissements Toulorge gegen EP/Rat“. Der EuGH hat – wie zu erwarten war – auch das Urteil des Gerichts erster Instanz in der Sache „Jégo Quéré“ mit Urteil vom 01.04.2004 aufgehoben, EuZW 2004, S. 343 ff.
Der Schlussantrag am Anfang Zur Rolle des Schlussantrags in einer juristischen Methodik des Gemeinschaftsrechts Wolfgang Buerstedde Bevor die Richter des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft in Luxemburg sich in ihr Beratungszimmer zurückziehen, um eine Entscheidung zu fällen, werden sie mit dem Schlussantrag eines der 8 Generalanwälte konfrontiert. Art. 66 § 3 der Verfahrensordnung bestimmt: „Der Gerichtshof entscheidet nach Anhörung des Generalanwalts in nichtöffentlicher Sitzung.“ Für die Richter steht so regelmäßig der – schriftliche – Schlussantrag am Anfang ihrer Entscheidungsfindung1. Im Folgenden soll nun der Frage nachgegangen werden, wie der Gerichtshof den Schlussantrag in seine Entscheidungsfindung einbezieht und ob diese Arbeitsweise den methodischen Anforderungen des Gemeinschaftsrechts entspricht. Zuvor soll ein kurzer Blick auf Aufbau und Inhalt eines Schlussantrags und der dem Generalanwalt gemeinschaftsrechtlich zugewiesenen Aufgaben gerichtet werden. I. Herkunft der Institution des Generalanwalts Die Institution der Generalanwälte ist der deutschen Rechtstradition fremd. Die Tradition eines allwissenden Richters, der nur eine mögliche Entscheidung treffen kann, bedarf keiner weiteren Institution, die möglicherweise Zweifel erzeugt. Die Institution der Generalanwälte entspringt der französischen Rechtstradition2. In den Vorarbeiten zum Montanvertrag findet man unübersehbare Hinweise auf die französische Vorläuferinstitution: den Commissaire du Gouverne1 Die Satzung sieht die Möglichkeit des Absehens eines Schlussantrages vor, wenn der Gerichtshof meint, dass der Fall keine neue Rechtsfrage aufwerfe (vgl. § 16 Abs. 4 der Satzung des Gerichtshofs). Diese Vorschrift dient der Arbeitserleichterung des Gerichtshofs. 2 Vgl. hierzu die umfassenden Ausführungen von C. I. Gaissert, Der Generalanwalt – eine unabdingbare Institution am Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften?, in: Europäische Hochschulschriften Bd. 658, 1987, S. 54–107.
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ment am französischen Conseil d’Etat. Der offizielle Bericht der französischen Verhandlungsdelegation ist vom französischen Prozessrecht inspiriert3. Die deutsche Gesetzesbegründung übernimmt diese These4: „Der Generalanwalt ist in Anlehnung an die Stellung des Commissaire du Gouvernement im französischen Verwaltungsgerichtssystem nicht Vertreter einer Partei, insbesondere nicht der Organe der Gemeinschaft, sondern er hat im wesentlichen die Aufgabe, dem Gerichtshof durch sein Schlussplädoyer eine objektive Darstellung des zu regelnden Streitfalles zu geben. Wie die Geschichte der französischen Verwaltungsrechtsprechung lehrt, hat diese besonders geartete Stellung des Generalanwalts im Prozess zu einer außerordentlichen theoretischen Fortbildung des französischen Verwaltungsrechts beigetragen.“
Diese Berichte deuten die bereits unabhängige und unparteiliche Stellung der Generalanwälte an. Diese wichtigen Charakteristika des Generalanwalts wurden auch rechtlich verankert. II. Rechtliche Verankerung der Institution des Generalanwalts Art. 222 Abs. 2 EG5 legt die Aufgaben der Generalanwälte und wie sie zu erfüllen sind fest: „Der Generalanwalt hat in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit begründete Schlussanträge zu den dem Gerichtshof unterbreiteten Rechtssachen öffentlich zu stellen, um den Gerichtshof bei der Erfüllung seiner in Artikel 220 bestimmten Aufgaben zu unterstützen.“
Die Anknüpfung an die Aufgaben des Gerichtshofs – der Wahrung des Rechts6 – macht deutlich, dass der Generalanwalt weder die Staaten noch die Gemeinschaft repräsentiert, sondern – so wie ein Richter – der Wahrung des Rechts verpflichtet ist. Ihre Ernennung wird im selben Atemzug wie die Ernennung der Richter genannt: Art. 233 EG bestimmt: 3 „Cette institution, sous réserve de la dénomination, qui aurait pu prêter à équivoque, est l’homologue des ,commissaires du gouvernement‘ qui existent généralement en France devant les juridictions administratives, et, notamment, devant le Conseil d’Etat statuant au contentieux. Nul n’ignore le haut degré d’indépendance dont le corps de commissaires du Gouvernement du Conseil d’Etat est traditionnellement animé, ni l’importance du rôle que ces magistrats ont exercé et continuent d’exercer tant dans le développement de la jurisprudence que dans la collaboration que la publicité de leurs conclusions permet d’assurer avec ce qu’on est convenu la ,doctrine‘. C’est avec la conviction qu’une telle institution procurera à la nouvelle Cour les mêmes effet bienfaisants, que nos partenaires ont accepté de la faire profiter des fruits d’une expérience essentiellement française“, Rapport officiel de la délégation française sur le Traité instituant la C.E.C.A., S. 32. 4 BT-Drucks. 2401/51, Anlage 3, S. 27. 5 Früher Art. 166 Abs. 2 EWGV, 138 Abs. 2 EAGV, 32 a Abs. 2 EGKSV. 6 Artikel 220 EGV lautet: „Der Gerichtshof sichert die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung dieses Vertrags“.
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„Zu Richtern und Generalanwälten sind Persönlichkeiten auszuwählen, die jede Gewähr für Unabhängigkeit bieten und in ihren Staaten die für die höchsten richterlichen Ämter erforderlichen Voraussetzungen erfüllen oder Juristen von anerkannt hervorragender Befähigung sind.“
Auch im Gerichtsverfahren stehen ihm alle wesentlichen Befugnisse, insbesondere im Rahmen der mündlichen Verhandlung und des Beweisverfahrens zu7. Diese Befugnisse sind die Grundlage für die Erarbeitung von Schlussanträgen, die auf derselben Informationsebene ergehen wie die Entscheidungen des Gerichtshofs. Besonderes Gewicht wird den Schlussanträgen schließlich dadurch verliehen, dass sie öffentlich gestellt werden und in die Rechtsprechungssammlung des Gerichtshofs aufgenommen werden. III. Inhalt und Aufbau des Schlussantrags Der Generalanwalt liefert dem Gerichthof mit dem Schlussantrag einen Entscheidungsvorschlag. Der Schlussantrag fasst das schriftliche Verfahren zusammen, nennt die anwendbaren Vorschriften des Gemeinschaftsrechts und des nationalen Rechts, schildert den Sachverhalt und das Vorbringen der Beteiligten (Parteien, Kommission, Streithelfer). Daraufhin unternimmt der Generalanwalt eine umfassende rechtliche Würdigung – insbesondere unter Beachtung der bisherigen Rechtssprechung des Gerichtshofs. Rechtliche Erörterungen bleiben nicht offen; sie werden mit einem Entscheidungsvorschlag abgeschlossen, der einem Urteilstenor vergleichbar ist. Der entscheidende Unterschied zum Urteilstenor ist, dass der Schlussantrag nicht in Rechtskraft erwächst; er entfaltet auch für die Richter keine bindende Wirkung. Auch fehlt dem Generalanwalt die kommunikative Atmosphäre des Beratungszimmers. Er nimmt an den Beratungen der Richter nicht teil. Sein Vorschlag enthält somit eine persönliche Note. Der Generalanwalt ist kein General, der ein Heer von Anwälten befehligt. Meist stehen ihm nur zwei wissenschaftliche Mitarbeiter zur Verfügung. Seine Waffe ist das Wort. Von diesem macht er – jedenfalls nach dem Seitenumfange der Anträge – reichlich Gebrauch. Nicht selten sind sie doppelt so lang wie die Entscheidungsgründe des Gerichthofs. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass dem Generalanwalt im Gemeinschaftsrecht eine starke – richtergleiche – Stellung eingeräumt wird. Dem7 Vgl. weitere Befugnisse des Generalanwalts u. a., Art. 59 u. 62 der Satzung sowie § 7 und § 45 der Verfahrensordnung.
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entsprechend müssten auch seine schriftlichen und öffentlichen Stellungnahmen eine starke Stellung im Rahmen einer Methodik des Gemeinschaftsrechts haben. IV. Behandlung der Schlussanträge durch den Gerichtshof Ob dem Schlussantrag tatsächlich diese hervorgehobene Stellung vom Gerichtshof eingeräumt wird, kann nur indirekt ermittelt werden. In einem Rechtssystem schriftlicher Entscheidungen bietet sich hierfür eine Analyse dieser Entscheidungen an. Die Bedeutung der Schlussanträge kann man zunächst formal durch die Anzahl der Verweise auf diese in den Entscheidungen des Gerichtshofs einschätzen. Nach den Untersuchungen von Dederichs verweist der Gerichtshof insgesamt 123 Mal in den Entscheidungen des Jahrgangs 1999 auf die Schlussanträge des Generalanwalts8. Das sind knapp 30 % aller Entscheidungen; davon etwa die Hälfte auf je eine Entscheidung; etwa je ein Fünftel auf Entscheidungen mit je zwei, bzw. drei Verweisen. Drei Entscheidungen mit je vier und eine Entscheidung mit zehn Verweisen auf die Schlussanträge des Generalanwalts bilden die Ausnahme. In ihren Untersuchungen kommt Dederichs zum Ergebnis, dass es bei den Verweisen im Wesentlichen um die Darstellung und Bewertung des Sachverhalts sowie um Beweiswürdigungen geht. Die Verweise hätten i. d. R. die Funktion, die Ausführungen des Gerichtshofs zu verkürzen. Sie nennt noch eine Reihe anderer Funktionen: Die Verweise auf die Schlussanträge würden gutachterliche Erwägungen berücksichtigen, die nach Auffassung des Gerichtshofs letztlich nicht relevant seien9, dienten der Darstellung und Bewertung des Sachverhalts10 sowie der Bewertung tatsächlicher Zusammenhänge11 und der Erwiderung auf solche Rechtsansichten von Verfahrensbeteiligten, die nach Auffassung des Gerichtshofs nicht zutreffend sind12. Ferner diene der Verweis auch der Subsumption eines Sachverhalts unter die Voraussetzungen eines gemeinschaftsrechtlichen Rechtsbegriffs13. Schließlich mache sich der Gerichtshof durch Verweis auf den Schlussantrag die rechtliche Bewertung des Generalan8 Die empirische Promotionsarbeit von M. Dederichs über die Argumentationsweisen des Europäischen Gerichtshofs ist im Erscheinen begriffen. 9 Vgl. C-6/98, Rz. 23 ff. vom 28.10.1999, ARD, Seite I-7599 ff. 10 Vgl. z. B. C-280/97, Rz. 30 vom 9.2.1999, S. I-623 ff. 11 Vgl. z. B. C-63/97, Rz. 60 vom 23.2.1999, S. I-905 ff. sowie C-222/97, Rz. 32 vom 16.3.1999, Trummer und Mayer, S. I-1661. 12 Vgl. C-149/96 vom 23.11.1999, Portugal/Rat, Rz. 57. Seite I-8395 ff.. 13 Vgl. z. B. C-200/98, Rz. 16 vom 18.11.1999, X und Y, Seite I-8261 ff. sowie C275/98, Rz. 15 vom 18.11.1999, Unitron Scandinavia und 3-S, Seite I-8291 ff., jeweils zu dem gemeinschaftsrechtlichen Rechtsbegriff des „Gerichts“ i. S. v. Art. 177 EG-Vertrag.
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waltes zu Eigen14. Einen seltenen ausdrücklichen Verweis auf die Argumentation des Generalanwalts findet man in der Rechtssache 292/89: „Dieses Vorbringen trifft nicht zu. Wie der Generalanwalt zu Recht ausgeführt hat, gibt es keinen zwingenden Zusammenhang zwischen dem Anspruch auf Leistungen des Herkunftsmitgliedstaats bei Arbeitslosigkeit und dem Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat.“ 15
Diese Untersuchungsergebnisse von Dederichs befremden. Dem Gerichtshof stehen zahlreiche Möglichkeiten offen, sich mit den Schlussanträgen auf vielfältige Weise inhaltlich zu beschäftigen. Neben Verweise auf übereinstimmende Beurteilungen wären Verweise auf die Ablehnung oder eben auch die inhaltliche Auseinandersetzung mit den Schlussanträgen denkbar. Betrachtet man die Entscheidungen, wundert man sich über die Zurückhaltung des Gerichtshofs, sich mit den Schlussanträgen ausdrücklich zu befassen. Wie kann es sein, dass nur bei rund 30 % der Entscheidungen auf den Schlussantrag verwiesen wird, wo es sich doch um einen Entscheidungsvorschlag handelt, der nicht nur den Sachverhalt darstellt, sondern diesen auch rechtlich bewertet? Wie kommt es, dass meist nur auf Übereinstimmendes hingewiesen wird und eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Ausführungen in den Schlussanträgen unterbleibt? Es kommt einem so vor, als ob der Gerichtshof von den Schlussanträgen keine Kenntnis nimmt. Man wundert sich über diese stiefmütterliche Behandlung der Schlussanträge durch den Gerichtshof; das gilt insbesondere dann, wenn man eine Verpflichtung des Gerichtshofs sieht, die Schlussanträge mit den Entscheidungen zu vernetzen. V. Inhalt des Vernetzungsgebots des Gerichtshofs Der Begriff „Vernetzungsgebot“ ist bislang kein rechtstechnischer Begriff. Darunter soll die Pflicht des Gerichtshofs verstanden werden, sich mit dem fallspezifischen Schlussantrag inhaltlich auseinandersetzen. Dieses Gebot umfasst zum einen die Pflicht des Gerichthofs darzulegen, ob er mit den Maßstäben und der Argumentationsweise, insbesondere der Gewichtung der Argumente im Schlussantrag übereinstimmt. Sollte er indes mit den Ausführungen im Schlussantrag nicht übereinstimmen, ergebe sich für ihn daraus die Pflicht darzulegen, warum und auf welche Weise er sich auf andere Argumentationsweisen beruft.
14 Vgl. z. B. verbundene Rechtssachen C-289/96, C-293/96, C-299/96, Rz. 28 vom 16.3.1999, Dänemark/Kommission, Seite I-1541 ff. sowie, C-44/97, Rz. 14 vom 21.10.1999, Deutschland/Kommission, Seite I-7177 ff., C-81/98, Rz. 37 vom 28.10.1999, Alcatel Austria u. a., Seite I-7671 ff. 15 Rs. 292/89, Slg. 1991 S. 745 Rz. 20.
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VI. Herleitung des Vernetzungsgebots 1. aus rechtsstaatlichen Prinzipien
Um die Begründungspflicht von Entscheidungen der Verwaltung zu begründen, verweist man darauf, dass dem Betroffenen die Möglichkeit gegeben werden muss, sich effektiv zu verteidigen. Dies geht allerdings nur, wenn man den Grund für die Entscheidung kennt. Begründet man die Begründungspflicht bei letztentscheidenden Gerichten, muss man weiter ausholen und in abstraktere Argumentationstopoi eintauchen: So soll die Begründung dem Rechtsfrieden dienen – der Befriedung durch Einsicht in die Gerechtigkeit der Entscheidung. Auch wird auf die Kontrolle durch die Wissenschaft verwiesen. Auch Rechtseinheit und Rechtssicherheit können nur verwirklicht werden, wenn man der jeweiligen Entscheidung Analogiefähigkeit zuspricht. Analogieschlüsse können aber nur da sachgerecht gezogen werden, wenn man weiß, worauf die Analogie gestützt werden soll. Ohne Begründung geht dies nicht. Auch die inhaltliche Einbeziehung der Schlussanträge in die Entscheidungsgründe des Gerichtshofs würde in ganz wesentlichem Maße der Rechtssicherheit und Rechtseinheit dienen. Dies gilt umso mehr, als in diesen Anträgen umfangreiche Argumentationsstrukturen aufgebaut werden und das Gemeinschaftsrecht systematisiert wird. Dadurch würde zum einen die Vorhersehbarkeit der Entscheidung wesentlich verbessert und die Akzeptanz der Parteien durch die bessere Nachvollziehbarkeit erhöht werden. Die knappen Entscheidungsgründe des Gerichtshofs dienen diesen Zielen nur sehr eingeschränkt. Die eben genanten Gründe können das Vernetzungsgebot jedoch nicht zwingend begründen. Prinzipien des Rechtsstaats, der Rechtssicherheit und der Rechtseinheit geben keinen bestimmten Grad ihrer rechtlichen Verwirklichungsreichweite vor. Die Reichweite wird bestimmt durch die Praxis innerhalb des Rechtssystems. Des Weiteren finden diese Prinzipien, ihre Grenzen in tatsächlichen Gegebenheiten (im Kostenaufwand und dem Faktor Mensch) sowie in rechtlichen Erfordernissen (z. B. einer zeitnahen Entscheidung). Und man kann argumentieren, dass die Begründungen ausreichend sind, um den genannten Prinzipien zu entsprechen. Maßgeblich ist daher eine andere Begründungsstrategie, die nun entfaltet werden soll. 2. aus der vertraglichen Institution der Generalanwälte
Wie bereits dargelegt haben die Generalanwälte aufgrund der Gemeinschaftsverträge eine ähnliche Stellung wie die Richter des Gerichtshofs. Diese herausgehobene Stellung würde missachtet werden, wenn keine – auch für jeden Dritten sichtbare – Auseinandersetzung mit den Schlussanträgen durchgeführt wird.
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Der Vertrag sieht vor, dass eine dritte völlig unabhängige und unparteiliche Institution eine Einschätzung des Sachverhalts und der rechtlichen Verhältnisse vornimmt. Die Augen eines Dritten sollen in die Entscheidung einfließen. Damit wird gewährleistet, dass eine möglicherweise andere Sichtweise auf Sachverhalt und rechtliche Würdigung Eingang in die Entscheidung des Gerichtshofs finden. Der Gerichtshof kann daraufhin überprüfen, ob seine Sichtweise richtig ist. Aus diesem Grunde besteht für den Gerichtshof die Pflicht, den Schlussantrag zu beachten. Ob eine entsprechende Beachtung stattfindet, kann der Gerichtshof nur dadurch deutlich machen, dass er seine Entscheidung mit den Schlussanträgen vernetzt und sich so inhaltlich mit diesen erkennbar auseinandersetzt. Die besondere Ausgestaltung dieser gemeinschaftsrechtlichen Institution begründet somit das Vernetzungserfordernis. VII. Zusammenfassung Die herausgehobene Stellung der Institution der Generalanwälte als kompetenten Dritte erfordert, dass sich ihre Schlussanträge in den Entscheidungen des Gerichtshofs angemessen berücksichtigt finden. Das heißt, dass die Entscheidungsgründe deutlich machen müssen, ob und wieweit sie den Schlussanträgen folgen und falls sie von diesen abweichen, warum sie dies tun. Die Auseinandersetzung mit den Schlussanträgen ist nur dann nachvollziehbar, wenn eine – sichtbare – inhaltliche Auseinandersetzung mit den Schlussanträgen in den Entscheidungsgründen erfolgt.
Autorenverzeichnis Berteloot, Pascale, Dr., Leiterin der Abteilung „Zugang zum Recht“, Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften; 2, rue Mercier, 2985 Luxemburg, Luxemburg. [email protected] Burr, Isolde, Dr., Privatdozentin und Akademische Oberrätin am Romanischen Seminar der Universität zu Köln; Albertus-Magnus-Platz, 50923 Köln. [email protected] Buerstedde, Wolfgang, Rechtsanwalt; Deutschherrenstraße 37, 53117 Bonn. [email protected] Caussignac, Gérard, Fürsprecher, Leiter des Rechtsdiensts, Staatskanzlei des Kantons Bern; Postgasse 68, 3008 Bern, Schweiz. [email protected] Christensen, Ralph, Dr. Dr., Repetitor für Öffentliches Recht, Neckarstraße 24, 68549 Ilvesheim. [email protected] / www.recht-und-sprache.de Dederichs, Mariele, Dr., Rechtsanwältin; Godesberger Allee 125–127, 53175 Bonn. [email protected] Gallas, Tito, Dr., Leiter der Abteilung Rechts- und Sprachsachverständige des Rates der EU; rue de la Loi 175, 1048 Bruxelles, Belgien. [email protected] Groh, Thomas, Dr., Wissenschaftlicher Assistent, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Europa- und Völkerrecht (Prof. Dr. Ulrich Fastenrath), Juristische Fakultät, Universität Dresden; 01062 Dresden. [email protected] Hanschmann, Felix, ERP-Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes, Visiting Scholar am European Law Research Center/Harvard Law School. 1563 Massachusetts Avenue, USA - Cambridge, MA 02138. [email protected] Kuhn, Tilman, LL.M. (Amsterdam; EU Business Law), Rechtsanwalt; Theodor-HeussRing 9, 50668 Köln. [email protected] Müller, Friedrich, Dr., em. Universitätsprofessor; Von der Tann-Straße 15, 69126 Heidelberg. [email protected] / www.recht-und-sprache.de Pescatore, Pierre, Dr. mult., em. Universitätsprofessor, ehem. Richter am Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft; 16 rue Ignace de la Fontaine, 1532 Luxemburg, Luxemburg Sandrini, Peter, Dr. Assistenzprofessor, Institut für Translationswissenschaft der Universität Innsbruck; Herzog-Siegmund-Ufer 15, 6020 Innsbruck, Österreich. [email protected] Schiffauer, Peter, Dr., Referatsleiter, Sekretariat des Ausschusses für konstitutionelle Angelegenheiten Generaldirektion Interne Politikbereiche, Europäisches Parlament; rue Wiertz, 1047 Brüssel, Belgien. [email protected] Sokolowski, Michael, Medientheoretiker, philosophischer Praktiker, freier Autor, Bergstraße 63, 69121 Heidelberg. [email protected] / www.recht-und-sprache.de