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German Pages 327 Year 2015
Schriften zum Strafrecht Band 285
Rechtshilfe, Anerkennung und Vertrauen – Die Europäische Ermittlungsanordnung
Von
Philipp Ronsfeld
Duncker & Humblot · Berlin
PHILIPP RONSFELD
Rechtshilfe, Anerkennung und Vertrauen – Die Europäische Ermittlungsanordnung
Schriften zum Strafrecht Band 285
Rechtshilfe, Anerkennung und Vertrauen – Die Europäische Ermittlungsanordnung
Von
Philipp Ronsfeld
Duncker & Humblot · Berlin
Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel hat diese Arbeit im Jahre 2015 als Dissertation angenommen.
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Meinen Eltern
Vorwort Diese Arbeit wurde im Wintersemester 2014 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Christan-Albrechts-Universität zu Kiel als Dissertation angenommen. Sie hat den Entstehungsprozess der Richtlinie über die Europäische Ermittlungsanordnung intensiv bis zu ihrem Erlass im Mai 2014 begleitet und diskutiert ausführlich ihre Chancen und Risiken. Grundlage bildeten hierfür insbesondere die Dokumente des Rats der Europäischen Union. Unerlässlich bei der wissenschaftlichen Arbeit war der fachliche Rat und die Unterstützung von Prof. Dr. Andreas Hoyer. Kernfragen konnte ich umfassend mit ihm in mehreren Gesprächen erörtern und den prinzipiellen Aufbau dieser Arbeit diskutieren. Trotz der weiten Distanz zwischen der Universität Kiel und meinem Wohnort Freiburg fühlte ich mich optimal betreut. Bei jedem Wiedersehen waren mir Hinweise auf entsprechende Veranstaltungen und Bestärkung in meinem Forschungsvorhaben gewiss. Des Weiteren danke ich Prof. Dr. Georg-Friedrich Güntge, Oberstaats anwalt beim Oberlandesgericht Schleswig-Holstein, für die Erstellung des Zweitgutachtens. Für meine Studien in Freiburg war die Bibliothek des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht von unschätzbarem Wert. Bedanken möchte ich mich auch besonders bei den Mitarbeitern der Juristischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und der Bibliothek der Christan-Albrechts-Universität zu Kiel: Sie haben mich bei meiner Arbeit in vielen Formen unterstützt. Mein herzlicher Dank gilt auch Ulrike Will, Sekretärin von Prof. Hoyer, die stets vorausschauend und humorvoll alle organisatorischen Aspekte der Promotion begleitete. Meinem Vater Thomas Ronsfeld gebührt ein besonderer Dank. Als Rechtshilfedezernent der Staatsanwaltschaft Kiel war er ein wertvoller Diskussionspartner, der jeden Teil dieser Arbeit durch seine Kommentare und Hinweise bereichert hat. Ohne ihn wäre diese Arbeit um zahlreiche Details / Praxisbeispiele ärmer. Ebenso möchte ich meiner Freundin Marie de la Croix danken. Ohne ihren Einsatz und ihr Verständnis hätte ich die Arbeit nicht so schnell beenden können.
8 Vorwort
Abschließend bedanke ich mich bei Timm Janda, Till Bettels nicht nur für ihre persönliche Unterstützung, sondern auch für ihre Rückfragen, die mein fachliches Verständnis und meine Thesen zusätzlich geschärft haben. Freiburg, im Juli 2015
Philipp Ronsfeld
Inhaltsverzeichnis 1. Teil Einführung
25
2. Teil Darstellung
29
1. Kapitel
Die klassische Beweisrechtshilfe
29
A. Die Funktion der Rechtshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 I. Der Begriff der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen . . . . . . . . . . 29 II. Anwendungsbereich der Rechtshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 1. Achtung der Gebietshoheit (innere Souveränität) . . . . . . . . . . . . . . . . 30 2. Der Begriff des hoheitlichen Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 B. Rechtsquellen des Rechtshilferechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 C. Aufbau des Rechtshilfeverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 I. Stadien des Rechtshilfeverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 II. Verfahrensarten der Rechtshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 D. Materielles Rechtshilferecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 I. Grundsätze der Rechtshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 1. Grundsatz der Gegenseitigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2. Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 a) Wirkung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 b) Herleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 aa) Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 bb) Das Prinzip nulla poena sine lege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 cc) Gegenseitigkeit und staatliche Souveränität . . . . . . . . . . . . . . 39 dd) Schutzverpflichtungen gegenüber eigenen Bürgern . . . . . . . . 40 3. Grundsatz der Spezialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 4. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 II. Rechtshilfehindernisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 1. Grundsatz des ordre public . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 a) Vorbemerkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 b) Innerstaatliche Belange des ersuchenden Staates . . . . . . . . . . . . . 44 c) Strafe und Vollzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
10 Inhaltsverzeichnis
aa) Drohende Todesstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 bb) Übermäßig harte Bestrafung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 cc) Unmenschliche Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 2. Verbot doppelter Strafverfolgung (ne bis in idem) . . . . . . . . . . . . . . . 48 E. Formelles Rechtshilferecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 I. Zuständigkeit und Geschäftswege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 1. Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 2. Richterliche Unabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 3. Geschäftswege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 II. Verfahrensfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 1. Verfahren für eingehende Ersuchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 a) Allgemeiner Ablauf. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 b) Zulässigkeitsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 c) Bewilligungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 d) Vornahmeverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 2. Fragen der Beweiserhebung und -verwertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 a) Fremdrechtsanwendung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 b) Forum shopping der Strafverfolgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 III. Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 F. Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 I. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 II. Rechtsweg im ersuchenden Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 1. Ansicht zur umfassenden Überprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 2. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 3. Eigene Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 III. Rechtsweg im ersuchten Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 1. Rechtsschutz bezüglich der Leistungsermächtigung . . . . . . . . . . . . . . 68 2. Rechtsschutz bezüglich der Vornahmeermächtigung . . . . . . . . . . . . . . 69 2. Kapitel
Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung in der Beweisrechtshilfe
70
A. Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 I. Einführungsphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 II. Konsolidierung durch den Vertrag von Lissabon . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 III. Bestand der EU-Kooperationswerkzeuge im Sekundärrecht . . . . . . . . . . 73 B. Prinzip der gegenseitigen Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 I. Unionseigene Konzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 1. Konzeptionsquelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 2. Abgrenzung zur traditionellen Rechtshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 3. Anwendungsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76
Inhaltsverzeichnis11
4. Erscheinungsformen der gegenseitigen Anerkennung im Strafrecht . . 77 5. Parameter für ein effizientes Anerkennungsverfahren . . . . . . . . . . . . . 78 II. Außenbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 1. Abgrenzung zur traditionellen Rechtshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 2. Wirkungsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 a) Exkurs: Der Begriff des Exequaturverfahrens. . . . . . . . . . . . . . . . 80 b) Unmittelbare Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 c) Mittelbare Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 d) Vermittelnde Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 III. Eigene Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 C. Ausnahmen zur beiderseitigen Strafbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 I. Rechtssetzungstechnik des Ausnahmekatalogs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 II. Bestimmtheit des Ausnahmekatalogs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 1. Kritik an mangelnder Klarheit des Katalogs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 2. Beteiligung der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 3. Eigene Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 III. Bestimmtheit und Rechtssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 1. Prinzip nulla poena sine lege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 2. Rechtssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 a) Rechtssicherheit in der internationalen Zusammenarbeit. . . . . . . 97 b) Kritik an mangelnder Rechtssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 c) Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . 99 aa) Maßgeblicher räumlicher Bezug. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 bb) Hinreichende sachliche Anknüpfungsmomente . . . . . . . . . . . 100 d) Eigene Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 aa) Maßgeblicher räumlicher Bezug. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 bb) Eintritt in einen fremden Rechtskreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 cc) Grenzüberschreitende Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 dd) Besondere Schwere der Tat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 IV. Demokratiedefizit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 1. Kritik am Rechtssetzungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 2. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 3. Zustimmung aus der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 4. Eigene Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 D. Regelungscharakter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 I. Einordnung der gegenseitigen Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 II. Verwirklichung im Kontext des Binnenmarkts bzw. des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 III. Grenzen der Übertragbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 E. Nivellierung des Strafrechts und Missbrauchsmöglichkeiten . . . . . . . . . 115 I. Materielles Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 1. Gefahr der maximalen Punitivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 2. Eigene Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
12 Inhaltsverzeichnis
II. Formelles Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 1. Gefahr des Abbaus und Missbrauchs von Verfahrensrechten . . . . . . 118 2. Eigene Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 F. Systembruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 I. Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 II. Lösungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 3. Kapitel
Die Europäische Ermittlungsanordnung
126
A. Historie und Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 I. Entstehungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 II. Aufbau der Richtlinie und Begriffsbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 1. Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 2. Begriffsbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 B. Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 I. Rechtsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 II. Zusammenführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 1. Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 2. Rahmenbeschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 III. Einzelne Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 IV. Schlussbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 C. Anordnungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 I. Zuständigkeiten und Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 1. Rechtsgrundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 2. Gerichtliche vs. justizielle Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 a) Gerichtliche Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 aa) Vorgaben des EU-Rechts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 bb) Ausschluss der polizeilichen Zusammenarbeit . . . . . . . . . . . 138 cc) Umgehung des Richtervorbehalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 b) Justizielle Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 c) Eigene Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 aa) Qualität der Entscheidung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 bb) Polizeiliche Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 cc) Richtervorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 II. Erlass der Anordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 1. Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 2. Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 3. Verteidigungsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 III. Übermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 D. Vollstreckungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 I. Rechtsanwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 1. Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
Inhaltsverzeichnis13
2. Ausnahmen vom Rückgriff auf Ermittlungsmaßnahmen anderer Art . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 3. Nationaler ordre public . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 4. Mitwirkung ausländischer Amtsträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 II. Fristen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 1. Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 2. Effizienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 a) Beschleunigung durch Formalisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 b) Zweifel an der Verschlankung des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . 159 c) Eigene Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 III. Übermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 E. Bindungswirkung und Vollstreckungsschranken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 I. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 II. Aufschieben der Anerkennung und Vollstreckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 III. System der Versagungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 IV. Normierte Versagungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 1. Staatliche Sicherheitsinteressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 2. Besondere drittschützende Versagungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 a) Vorbemerkung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 b) Immunitäten und Vorrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 c) Zustimmungsbedürftigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 3. Anwendungsvorrang eigenen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 a) Allgemeine Versagungsgründe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 b) Spezielle Versagungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 4. Das Prinzip ne bis in idem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 5. Beiderseitige Strafbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 a) Allgemeine Regelungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 b) Besondere Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 6. Europäischer ordre public . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 a) Regelungen der Richtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 aa) Endgültige Bestimmungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 bb) Regelungen des Vorentwurfs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 b) Allgemeine Diskussion über einen Grundrechtsvorbehalt . . . . . . 172 aa) Rechtsprechung des EuGH zum RB EHB. . . . . . . . . . . . . . . 172 bb) Grundrechtsvorbehalt ablehnende Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . 172 cc) Grundrechtsvorbehalt befürwortende Ansicht . . . . . . . . . . . . 173 c) Eigene Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 7. Nationaler ordre public . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 V. Ungeschriebene Versagungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 1. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 a) Vorbemerkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 b) Annahme eines generellen Versagungsgrunds . . . . . . . . . . . . . . . . 180
14 Inhaltsverzeichnis
c) Ablehnung eines generellen Versagungsgrunds . . . . . . . . . . . . . . 181 d) Eigene Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 2. Formfehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 F. Obliegenheiten und Verfahrensrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 I. Kosten und Haftung für behördliches Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 1. Vollstreckungskosten einer EEA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 2. Verantwortlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 II. Datenschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 III. Rechtsbehelfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 1. Einlegen eines Rechtsbehelfs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 2. Suspensiveffekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 3. Beweisverwertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 IV. Informationspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 4. Kapitel
Gegenseitiges Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit der Strafjustiz der Mitgliedstaaten
194
A. Vertrauen als Grundlage der gegenseitigen Anerkennung in Strafsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 I. Der unionseigene Standpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 II. Außenbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 1. Befürwortende Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 2. Ablehnende Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 3. Eigene Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 B. Vertrauen und Komplexität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 I. Der Begriff des Vertrauens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 1. Methodologische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 2. Vertrauen als soziale Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 a) Vertrauensbeziehungen nach Hobbes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 b) Vertrauensbeziehungen in der Systemtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . 200 3. Wirkung von Vertrauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 a) Der Begriff der Komplexität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 b) Reduktion von Komplexität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 II. Anforderungen der modernen Gesellschaft an die justizielle Zusammenarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 1. Komplexität aufgrund gesellschaftlicher Veränderung . . . . . . . . . . . . 204 a) Globalisierung als gesellschaftlicher Wandel. . . . . . . . . . . . . . . . . 204 b) Transnationale Kriminalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 2. Vertrauen als Grundlage staatlicher, transnationaler Zusammenarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 C. Vertrauenswürdigkeit als Vertrauensgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 I. Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
Inhaltsverzeichnis15
II. Sozialwissenschaftliche Erkenntnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 1. Vertrauenswürdigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 a) Vorbemerkung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 b) Originäre Vertrauenswürdigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 c) Derivative Vertrauenswürdigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 2. Ebenen und Stadien des Vertrauens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 a) Vertrauensschwellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 b) Vertrauensebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 III. Schlussfolgerungen für die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen . 217 1. Rechtsstaatlichkeit als Bezugsobjekt des Vertrauens . . . . . . . . . . . . . . 217 2. Vertrauenswürdigkeit der Rechtshilfepartner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 3. Vertrauensbildende Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 a) Vorbemerkung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 b) Gemeinsames Referenzsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 c) Gegenseitiges Verständnis und Koordination . . . . . . . . . . . . . . . . 222 d) Transparenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 e) Integrität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 D. Strafrechtliche Mindeststandards für die Rechtsstaatlichkeit als Vertrauensgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 I. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 II. Europäische Menschenrechtskonvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 1. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 2. Ablehnende Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 3. Befürwortende Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 4. Unionseigener Standpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 5. Eigene Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 III. Harmonisierung und supranationales Strafrecht durch EU-Sekundärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 1. Standpunkt und Maßnahmen der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 2. Rangverhältnis zwischen gegenseitiger Anerkennung und Rechts angleichung nach Art. 82 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 3. Subsidiarität und kulturelle Abhängigkeit des Strafrechts . . . . . . . . . . 234 a) Ausgangslage. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 b) Befürworter einer Harmonisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 c) Gegner der Harmonisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 d) Rechtsvereinheitlichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 4. Eigene Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 IV. Bestand rechtsangleichender Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 1. Formelles Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 2. Materielles Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244
16 Inhaltsverzeichnis
5. Kapitel
Aktuelle Entwicklungen
248
A. Vertrauenskrise und Vertrauensverlust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 I. Grundlegende Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 II. Erscheinungsformen der Vertrauenskrise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 1. Rechtseinheit und Gegenseitigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 a) Allgemeine Betrachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 b) Nationale Vorbehalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 2. Intransparenz behördlicher Vorgänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 3. Ineffizienz und Korruption in der Justiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 a) Vorbemerkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 b) Ineffizienz der Justiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 c) Korruption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 4. Rechtsstaatliche Defizite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 B. Reform der europäischen Rechtshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 I. Reformbedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 II. Reaktionen auf die europäischen Reformbemühungen . . . . . . . . . . . . . . 262 1. Ablehnende Haltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 2. Vermittelnde Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 3. Gegenmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 III. Eigene Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 C. Kontrollmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 I. Anpassung und Aussetzung der Zusammenarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 II. Suspendierungsverfahren nach Art. 7 EUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 III. Aussetzung bzw. Anpassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 1. Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 2. Übertragbarkeit der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 a) Vergleichbare Interessenlage. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 b) Planwidrige Regelungslücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 IV. Zukünftige Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 D. Umsetzung der Europäischen Ermittlungsanordnung in Deutschland . . 279 I. Gegenwärtiger Rechtsbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 II. Kritik am IRG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 III. Lösungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 3. Teil Schlussbetrachtung
282
Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Stichwortverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325
Abkürzungsverzeichnis 1. EHB-Gesetz
Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union vom 21. Juli 2004
1. ZP EMRK
Erstes Zusatzprotokoll zur EMRK
1. ZP-EuRhÜbk
Zusatzprotokoll zum Europäischen Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen
2. ZP-EuRhÜbk
Zweites Zusatzprotokoll zum Europäischen Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen
6. ZP EMRK
Sechstes Zusatzprotokoll zur EMRK
13. ZP EMRK
Dreizehntes Zusatzprotokoll zur EMRK
AA
Auswärtiges Amt
a. A.
andere Ansicht
a. a. O.
am angegebenen Ort
Abl.
Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften bzw. Union
Abs. Absatz A-ErgV EuRhÜbk
Vertrag zwischen Deutschland und Österreich über die Ergänzung des Europäischen Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen
AEUV
Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union
Alt. Alternative Anm. Anmerkung Art. Artikel AS
Amtliche Sammlung des Bundesrechts (Schweiz)
Az. Aktenzeichen BayObLGSt
Sammlung des Bayerischen Obersten Landesgerichts
BBl
Bundesblatt (Schweiz)
Beschl. Beschluss BfJ
Bundesamt für Justiz
BfJG
Gesetz über die Errichtung des Bundesamts für Justiz
BGBl. Bundesgesetzblatt BGH Bundesgerichtshof BGHSt
Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen
18 Abkürzungsverzeichnis
BMJ
Bundesministerium der Justiz
BT-Drs. Bundestagsdrucksache BVerfG Bundesverfassungsgericht BVerfGE
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
BVerfGK
Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
bzw. beziehungsweise CBM
Confidence-Building Measures
C.C.C.
Canadian Criminal Cases
CDL
La Commission européenne pour la démocratie par le droit
CH-ErgV EuRhÜbk
Vertrag zwischen Deutschland und der Schweiz über die Ergänzung des Europäischen Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen
CLF
Criminal Law Forum
CLSC
Crime, Law and Social Change
CMLR
Common Market Law Review
CPP
Codice di procedura penale (Italien)
CVM
Cooperation and Verification Mechanism
CZ-ErgV EuRhÜbk
Vertrag zwischen der Deutschland und der Tschechischen Republik über die Ergänzung des Europäischen Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen
DAG
Deutsches Auslieferungsgesetz
D-A PolV
Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zur polizeilichen Gefahrenabwehr und in strafrechtlichen Angelegenheiten
DÖV
Die Öffentliche Verwaltung
DRiZ
Deutsche Richter-Zeitung
Dublin-II-Verordnung
Verordnung (EG) Nr. 343 / 2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung von Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist, den ein Staatsangehöriger eines Drittlandes in einem Mitgliedstaat gestellt hat
DVBl
Deutsches Verwaltungsblatt
EBA
Europäische Beweisanordnung
ECHR
Reports of Judgments and Decisions
EEA
Europäische Ermittlungsanordnung
EGMR
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
EGMR-E
Deutschsprachige Sammlung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
Abkürzungsverzeichnis19
EG-ne bis in idem-Übk Übereinkommen vom 25. Mai 1987 zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften über das Verbot der doppelten Strafverfolgung EG-VollstrÜbk
Übereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften über die Vollstreckung ausländischer strafrechtlicher Verurteilungen vom 13. November 1991
EHB
Europäischer Haftbefehl
EHRR
European Human Rights Reports
EJCCL
European Journal of Crime, Criminal Law and Criminal Justice
EJN
Europäisches Justizielles Netz
EJTN
European Judicial Training Network
ELJ
European Law Journal
ELW U
Eser, Albin / Lagodny, Otto / Wilkitzki, Peter, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 2. Auflage, Freiburg 1993
EMRK
Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten bzw. Europäische Menschenrechtskonvention
ERA
Europäische Rechtsakademie
EU
Europäische Union
EuAlÜbk
Europäisches Auslieferungsübereinkommen
EU-AuslÜbk
Übereinkommen über die Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union
EuCLR
European Criminal Law Review
EuConst
European Constitutional Law Review
EuG
Gericht der Europäischen Union
EuGeldwäscheÜbk
Übereinkommen über Geldwäsche sowie Ermittlung, Beschlagnahme und Einziehung von Erträgen aus Straftaten
EuGH
Gerichtshof der Europäischen Union
EuGRZ
Europäische Grundrechte-Zeitschrift
EU-JZG
Bundesgesetz über die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (Österreich)
EuR Europarecht EuRhÜbk
Europäisches Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen
EU-RhÜbk
Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union vom 29. Mai 2000
EuTerrÜbk
Übereinkommen des Europarats zur Verhütung des Terrorismus
20 Abkürzungsverzeichnis
EUV
Vertrag über die Europäische Union
EVV
Vertrag über eine Verfassung für Europa
EWG
Europäische Wirtschaftsgemeinschaft
f.
die folgende
ff.
die folgenden
Fn. Fußnote GA
Goltdammer’s Archiv für Strafrecht
GEG
Gemeinsame Ermittlungsgruppe
GG
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland
GoJIL
Goettingen Journal of International Law
GPS
Global Positioning System
GRCh
Charta der Grundrechte der Europäischen Union
GVG Gerichtsverfassungsgesetz h. M.
herrschende Meinung
HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
HS. Halbsatz ICJ Reports
International Court of Justice Reports
ICLQ
International & Comparative Law Quarterly
I-ErgV EuRhÜbk
Vertrag zwischen Deutschland und Italien über die Ergänzung des Europäischen Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen
IGH
Internationaler Gerichtshof
IP Internetprotokoll IPbpR
Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte
IRG
Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen
IRSG
Bundesgesetz über internationale Rechtshilfe in Strafsachen (Schweiz)
IRZ
Deutsche Stiftung für internationale rechtliche Zusammenarbeit
IStGH-Statut
Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofs
i. V. m.
in Verbindung mit
JA
Juristische Arbeitsblätter
JBl
Juristische Blätter
JIT
Joint Investigation Team
JR
Juristische Rundschau
JRP
Journal für Rechtspolitik
Abkürzungsverzeichnis21
JSt
Journal für Strafrecht
JuS
Juristische Schulung
JZ
Juristen Zeitung
KG Kammergericht KOM
Legislativvorschläge und sonstige Mitteilungen der Euro päischen Kommission an den Rat und / oder an die anderen Organe sowie die entsprechenden vorbereitenden Dokumente
Kommission
Europäische Kommission
KritV
Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft
lit. Litera m. w. N.
mit weiteren Nachweisen
n. Numero NJECL
New Journal of European Criminal Law
NJW
Neue Juristische Wochenschrift
NL-ErgV EuRhÜbk
Vertrag zwischen Deutschland und den Niederlanden über die Ergänzung des Europäischen Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen
NLMR
Newsletter Menschenrechte
No. Number NStZ
Neue Zeitschrift für Strafrecht
NStZ-RR
Neue Zeitschrift für Strafrecht Rechtsprechungsreport
Nr. Nummer NVwZ
Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht
ÖAnwBl
Österreichisches Anwaltsblatt
ÖBGBl.
Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich
OECD
Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
OGH
Oberster Gerichtshof
ÖJZ
Österreichische Juristen Zeitung
OLG Oberlandesgericht ÖRAK
Österreichischer Rechtsanwaltskammertag
OSZE
Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
OVG Oberverwaltungsgericht PCIJ Series A
Publications of the Permanent Court of International Just ice, Series A
PJZS
Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen
22 Abkürzungsverzeichnis
Pl-ErgV EuRhÜbk
Vertrag zwischen Deutschland und Polen über die Ergänzung des Europäischen Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen
Rat
Rat der Europäischen Union
Ratsdok.
Dokument des Rats der Europäischen Union
RB Rahmenbeschluss RB EBA
Rahmenbeschluss 2008 / 978 / JI des Rates vom 18. Dezember 2008 über die Europäische Beweisanordnung zur Erlangung von Sachen, Schriftstücken und Daten zur Verwendung in Strafsachen
RB EHB
Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten
RB-Sicherstellung
Rahmenbeschluss 2003 / 577 / JI des Rates vom 22. Juli 2003 über die Vollstreckung von Entscheidungen über die Sicherstellung von Vermögensgegenständen oder Beweismitteln in der Europäischen Union
RdC
Recueil des cours
Reports
Reports of Judgments and Decisions of the European Court of Human Rights
REV Revised RG Reichsgericht RGSt
Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen
RIDP
Revue internationale de droit pénal
RiVASt
Richtlinien für den Verkehr mit dem Ausland in strafrechtlichen Angelegenheiten
RL Richtlinie RL EEA
Richtlinie über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen
Rn. Randnummer Rs. Rechtssache RuP
Recht und Politik
Rz. Randzeichen S. Satz SchlHA
Schleswig-Holsteinische Anzeigen
SDÜ
Schengener Durchführungsübereinkommen
SEV
Sammlung der Europäischen Verträge bzw. Europaratsverträge
Slg.
Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofes und des Gerichts Erster Instanz
Abkürzungsverzeichnis23
SN
Schlussfolgerungen der Präsidentschaft des Europäischen Rates
StGB Strafgesetzbuch StIGH
Ständiger Internationaler Gerichtshof
StPO Strafprozessordnung StraFo
Strafverteidiger Forum
StRR StrafRechtsReport STS
Sentencia de Tribunal Supremo (Spanien)
StV Strafverteidiger u. a.
unter anderem
UAbs. Unterabsatz ÜberstÜbk
Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen vom 21. März 1983
UK
Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland
UKSC
Supreme Court of the United Kingdom
ULR
Utrecht Law Review
Urt. Urteil USA
Vereinigte Staaten von Amerika
v. vom vgl. vergleiche VN-Antifolter- konvention
Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984
VN-Antikorruptions- Übk
Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Korruption
VN-Charta
Charta der Vereinten Nationen
VN-Suchtstoff-Übk
Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen den unerlaubten Verkehr mit Suchtstoffen und psychotropen Stoffen vom 20. Dezember 1988
VO Verordnung vs. versus wistra
Zeitschrift für Wirtschafts- und Steuerstrafrecht
WVRK
Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge
ZEuS
Zeitschrift für Europarechtliche Studien
Ziff. Ziffer ZIS
Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik
ZJS
Zeitschrift für das Juristische Studium
24 Abkürzungsverzeichnis
ZP EU-RhÜbk
Zusatzprotokoll zum Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europä ischen Union
ZRP
Zeitschrift für Rechtspolitik
ZStW
Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft
ZustV
Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Landesregierungen von Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, MecklenburgVorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, SchleswigHolstein und Thüringen über die Zuständigkeit im Rechtshilfeverkehr mit dem Ausland in strafrechtlichen Angelegenheiten vom 28. April 2004
1. Teil
Einführung Europa hat sich schon immer über seine Kultur und seine Werte als Kontinent definiert und wird so auch von den anderen Erdteilen wahrgenommen. Tiefgreifende Veränderungen der Moderne haben dazu geführt, dass sich europäische Nationalstaaten zunehmend als Gemeinschaft organisierten. Die Hauptziele waren dabei Friedenssicherung und Bewältigung wirtschaftlicher und sozialer Herausforderungen. Als zentrale Institutionen dieses Gemeinschaftswillens sind der Europarat und sodann Schritt für Schritt die Europäische Union (EU) entstanden. Erklärtes Ziel dieser Zusammenarbeit ist die europäische Integration. Wichtige Meilensteine auf dem Weg dorthin waren innerhalb der EU die Eröffnung eines Binnenmarkts, der Abbau der Grenzkontrollen zwischen den Mitgliedstaaten, die Einführung des Euro als einheitliches Zahlungsmittel und die stetige räumliche Erweiterung der EU. Zuletzt wurden mit dem Vertrag von Lissabon und der Charta der Grundrechte der EU (GRCh) die Rechtsgrundlagen für eine wesentliche Vertiefung der Integration geschaffen. Auf dieser Grundlage kann nun die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten vereinfacht, deren Zusammenhalt untereinander gefestigt und so letztlich auch deren Gesamtgewicht nach außen gestärkt werden. Erstmals sind alle Rechtsgebiete und Rechtsbeziehungen Bestandteil einer europäischen Architektur. Dies betrifft insbesondere auch das Strafrecht. Soweit Staaten Straftaten mit grenzüberschreitendem Bezug zu verfolgen haben, bedienen sie sich der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen. Dafür schafft die EU auf der Grundlage gegenseitigen Vertrauens zwischen ihren Mitgliedern Rechtsinstrumente zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung. Dazu gehört eine Richtlinie über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen (RL EEA). Diese Richtlinie soll das Rechtshilfeverfahren in Bezug auf Ermittlungsmaßnahmen effektiver und effizienter gestalten. Langwierige Verfahren sollen hierdurch vermieden und Straftätern Rückzugsmöglichkeiten genommen werden. Zugleich mehren sich jedoch Stimmen gegen einen Richtlinienerlass. Dies lässt sich zum einen auf ernstliche rechtliche Bedenken zurückführen, zum anderen auf eine gewisse Europaskepsis bzw. -müdigkeit. Befürchtet wird im transnationalen Verfahren ein Ungleichgewicht zu Lasten des einzelnen Beschuldigten gegenüber der vernetzten Strafverfolgung. Erkennbar ist außerdem eine gewisse Be-
26
1. Teil: Einführung
sorgnis vor einem „Dammbruch“ bei der Rechtsstaatlichkeit des eigenen Strafverfahrens durch zunehmende transnationale Bezüge. Im Strafrecht ist den Mitgliedstaaten im Vergleich zum Zivil- und Verwaltungsrecht bisher ein eigener Regelungsbereich verblieben. Maßnahmen der EU werden insoweit verstanden als Aufgabe nationaler Souveränitätsvorbehalte. Deshalb lehnen viele Kritiker die Vertiefung der europäischen Integration ab und wähnen sich darin bestärkt durch aktuelle Krisen im Wirtschaftsbereich und das wachsende Gefühl unzureichender Beteiligung an der Politik der EU. Für das Strafrecht gilt Entsprechendes. Demgegenüber wird die vorliegende Arbeit aufzeigen, dass eine transnationale Strafverfolgung eine intensivere Form der Zusammenarbeit benötigt. Ein wesentlicher Bestandteil ist hierfür die europäische Integration. Neben einem einheitlichen Binnenmarkt muss daher auch das Postulat vom Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts Realität werden. Anhand der RL EEA zeigt die vorliegende Arbeit in fünf Kapiteln die Entwicklung und die Herausforderungen der justiziellen Zusammenarbeit der EU-Mitgliedstaaten bei der Verfolgung transnationaler Kriminalität auf. Das erste Kapitel beschreibt die internationale Rechtshilfe in Strafsachen als traditionellen Kooperationsmechanismus. In einem ersten Schritt wird die Rechtshilfe von anderen Formen der Zusammenarbeit abgegrenzt. Hierfür wird ihr Anwendungsbereich umrissen sowie ihre Rechtsquellen werden benannt. Inhaltlich enthält die RL EEA Regelungen, die der Beweisrechtshilfe entsprechen. Hierzu gehören alle Ermittlungsmaßnahmen von Justizbehörden, einschließlich Zwangs- und Überwachungsmaßnahmen. In einem zweiten Schritt werden die Grundsätze und Hindernisse der Rechtshilfe dargestellt. Hierzu gehören die Grundsätze der Gegenseitigkeit, der beiderseitigen Strafbarkeit, der Spezialität und der Verhältnismäßigkeit sowie die Rechtshilfehindernisse des ordre public und des ne bis in idem. In einem dritten Schritt werden Zuständigkeit, Verfahren und Form der Rechtshilfe beschrieben. Hierzu gehört als besondere Verfahrensfrage – die auch für die RL EEA von wesentlicher Bedeutung ist – die Anwendung fremden Rechts im ersuchten Staat. In einem vierten und letzten Schritt wird unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des BVerfG der Rechtsschutz im Rechtshilfeverfahren aus deutscher Sicht behandelt. Das zweite Kapitel stellt die justizielle Zusammenarbeit nach dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung – auf dem auch die RL EEA beruht – als neuen Kooperationsmechanismus vor. Zuerst wird die Wirkung einer fremden Entscheidung im Anordnungsstaat aufgezeigt. Besonders berücksichtigt werden hierbei Primärquellen, d. h. Mitteilungen der EU-Organe. Sodann geht es um den beschränkten Verzicht auf den Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit. In diesem Zusammenhang werden unter besonderer Berück-
1. Teil: Einführung27
sichtigung der Rechtsprechung des BVerfG Fragen der Bestimmtheit und Rechtssicherheit untersucht. Es folgt eine Erörterung der häufigsten Kritikpunkte an der gegenseitigen Anerkennung, welche im Übrigen auch gegen die RL EEA erhoben werden (die Vollstreckung fremder Entscheidungen nach EU-Sekundärrecht verstoße gegen das Demokratieprinzip; das in anderem Zusammenhang entwickelte Prinzip der gegenseitigen Anerkennung lasse sich nicht auf das Strafrecht übertragen, es entwerte das materielle und formelle Strafrecht der Mitgliedstaaten und begünstige ein sogenanntes forum shopping). Schließlich werden die Auswirkungen der Systemunterschiede zwischen den nationalen Strafrechtsordnungen auf die Beweisrechtshilfe und die gegenseitige Anerkennung diskutiert. Im dritten Kapitel werden die Regelungen der RL EEA vorgestellt und – aufbauend auf den ersten beiden Kapiteln – kommentiert. Die Richtlinie ist anwendbar auf fast alle Ermittlungsmaßnahmen und führt verschiedene bestehende Rechtsakte zusammen. Fragen der Zuständigkeit und des Anwendungsbereichs werden unter dem Begriffspaar „gerichtlicher“ oder „justizieller“ Entscheidung erörtert. Untersucht wird ferner, ob und inwieweit die Richtlinie durch formelle Vereinfachungen (etwa Standardformulare, besondere Regelungen über die Anwendung eigenen und fremden Rechts sowie Übermittlungsfristen) zur Effizienz der Zusammenarbeit beitragen kann. Sodann wird die Wechselbeziehung der Vollstreckungsverpflichtung mit dem System der Vollstreckungsschranken dargestellt. Insbesondere Fragen zum Grundsatz des ordre public, zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und zum Umgang mit Formfehlern werden vertieft erörtert. Hierfür wird ein Vergleich mit den Regelungen zum Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl gezogen, und die Rechtsprechung des EuGH, des EGMR sowie die höchstrichterliche Rechtsprechung in Deutschland besonders berücksichtigt. Abschließend wird auf einzelne Obliegenheiten und Verfahrensrechte im Rahmen der Richtlinienanwendung eingegangen. Das vierte Kapitel untersucht die Bedeutung des gegenseitigen Vertrauens in die Rechtsstaatlichkeit der Strafrechtspflege der jeweiligen EU-Mitgliedstaaten als Grundlage des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung. Ausgehend vom EU-Konzept wird in einem ersten Schritt die Kontroverse über Vertrauen als Kooperationsgrundlage zwischen den Mitgliedstaaten dargestellt. Hierzu gehören: die Tauglichkeit von Vertrauen überhaupt als normative Grundlage europäischer Zusammenarbeit, die Annahme bereits bestehenden Vertrauens sowie die Auswirkungen rechtsstaatlicher Defizite auf jenes Vertrauen. In einem zweiten Schritt wird Vertrauen identifiziert als insbesondere soziales Phänomen. Daraufhin werden der Bedarf an und die Bedingungen für Vertrauen anhand soziologischer Theorien erörtert und anschließend auf den Staatenverkehr übertragen. Nach einführenden grundsätzlichen Überlegungen von Hobbes wird sodann unter besonderer Berück-
28
1. Teil: Einführung
sichtigung systemtheoretischer Thesen von Luhmann und Sztompka aufgezeigt, dass Vertrauen als soziale Beziehung Komplexität reduzieren kann und wie sich diese definieren lässt. In einem dritten Schritt wird unter besonderer Berücksichtigung der Theorien Becks und Giddens zur reflexiven Modernisierung dargestellt, dass die Moderne zu gesellschaftlichen Veränderungen führte, welche zusammen eine komplexe Situation erzeugten (Globalisierung, Europäisierung). Erörtert wird, ob und inwieweit solche Veränderungen auch Auswirkung haben auf die Kriminalität, insbesondere innerhalb der EU, und welche Aufgabe Vertrauen bei der transnationalen Strafverfolgung übernehmen kann. In einem vierten Schritt wird die Vertrauensbildung untersucht. Insbesondere die Aspekte der Vertrauenswürdigkeit und des Systemvertrauens werden vertieft diskutiert. Bei der Übertragung dieser Überlegungen auf die Zusammenarbeit der Nationalstaaten wird insbesondere die Bedeutung vertrauensbildender Maßnahmen berücksichtigt. Als gemeinsames Referenzsystem gehören hierzu insbesondere strafrechtliche Mindeststandards für die Rechtsstaatlichkeit der jeweiligen Strafrechtspflege. In einem fünften Schritt werden diese vorgestellt und erörtert. Dabei wird untersucht, ob und inwieweit die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) als Referenzsystem geeignet ist und ob eine Harmonisierung oder Vereinheitlichung des formellen und materiellen Strafrechts der Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung dient. Das fünfte Kapitel zeigt, wie durch verschiedene Faktoren eine Vertrauenskrise bei der justiziellen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten entstanden ist. Gegenwärtig nehmen Bedenken gegen eine weitergehende Europäisierung allgemein zu. Mit immer mehr Skepsis wird die Grundidee betrachtet, dass eine fortschreitende Intensivierung der europäischen Zusammenarbeit den bisher erreichten Standard noch verbessern kann. In diesem Zusammenhang wird der Reformbedarf der europäischen Rechtshilfe erörtert. Die Bedeutung von Kontrollmaßnahmen für das Aufrechterhalten und Wiedergewinnen von Vertrauen wird dargestellt. Hierbei werden – unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH – Möglichkeiten zur Suspendierung der gegenseitigen Anerkennung aufgezeigt. Abschließend werden die Umsetzungsmöglichkeiten für die RL EEA in Deutschland vorgestellt und deren Erfolgsaussichten im Hinblick auf aktuelle Strafrechtspolitik abgewogen.
2. Teil
Darstellung 1. Kapitel
Die klassische Beweisrechtshilfe A. Die Funktion der Rechtshilfe Die Funktion und das Wesen der Rechtshilfe erschließt sich erst in einer Gesamtbetrachtung ihres völkerrechtlichen und innerstaatlichen Zusammenhanges. I. Der Begriff der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen Internationale Rechtshilfe ist die Unterstützung der Staaten untereinander auf dem Gebiet der Rechtspflege. Ein souveräner Staat bittet einen anderen um Unterstützung seiner Justizbehörden, in aller Regel durch ein formelles Rechtshilfeersuchen.1 Aufgrund dieser zwischenstaatlichen Ausgestaltung gehört die internationale Rechtshilfe zum Sachbereich der auswärtigen Angelegenheiten, Art. 32 GG i. V. m. Art. 73 Nr. 1 GG.2 Dadurch unterscheidet sich die internationale von der innerstaatlichen Rechtshilfe.3 Teilnehmer sind sowohl gerichtliche als auch behördliche Justizorgane.4 Demgegenüber regelt die innerstaatliche Rechtshilfe den Rechtsverkehr zwischen den deutschen Gerichten. Sie erfasst also im Wesentlichen nur richterliche Handlungen. Soweit eine Behörde ersucht wird, handelt es sich dagegen stets um Amtshilfe.5 Eine Sonderform bestand bis zur Wiedervereinigung Deutschlands für den justiziellen Rechts- und Amtshilfeverkehr 1 Güntge, SchlHA 2013, 346, 346, Güntge bezeichnet daher die internationale Rechtshilfe auch als „Amtshilfe auf internationalem Parkett“. 2 Wilkitzki, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, § 60 IRG, Rn. 2. 3 Franke, in: Erb / Esser / Franke / Graalmann-Scheerer / Hilger / Ignor (Hg.), Löwe / Rosenberg, Vor § 156 GVG, Rn. 24 ff.; Lagodny, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 59 IRG, Rn. 2. 4 Vogel, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, § 1 IRG, Rn. 2. 5 Franke, in: Erb / Esser / Franke / Graalmann-Scheerer / Hilger / Ignor (Hg.), Löwe / Rosenberg, Vor § 156 GVG, Rn. 1 ff., Rn. 14.
30
2. Teil: Darstellung
zwischen beiden deutschen Staaten, der von den äußeren Abläufen her weitgehend den Formen des internationalen Rechtsverkehrs folgte, aber mit teilweise abweichenden Regelungen und Termini besetzt war, um dem besonderen Verhältnis beider Teilstaaten zu einander Rechnung zu tragen.6 Für verschiedene Rechtsgebiete sind unterschiedliche Verfahren vorgesehen. Man unterscheidet zwischen Rechtshilfe in Verwaltungs-, Zivil- und Strafsachen. National normiert sind Letztere in Deutschland im Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG). Daneben wird die Rechtshilfe geprägt von einer Vielzahl völkerrechtlicher Abkommen in bioder gar multilateraler Form.7 Für das Gebiet der Europäischen Union (EU) und das Verhältnis der Mitgliedstaaten zueinander gelten überdies spezielle Regelungen über die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. In Deutschland unterscheidet das Rechtshilfeverfahren zwischen der Auslieferung (§§ 2 ff. IRG), der Vollstreckungshilfe (§§ 48 ff. IRG) und der sonstigen Rechtshilfe (§§ 59 ff. IRG).8 Gegenstand dieser Arbeit ist im Wesentlichen nur der Teilbereich sonstige Rechtshilfe. Ausdrücklich für die sonstige Rechtshilfe in strafrechtlichen Angelegenheiten wird die Umsetzung ausländischer Rechtshilfeersuchen durch § 59 Abs. 2 IRG legaldefiniert. Im Grunde gilt dies aber allgemein für jede Art von Rechtshilfe, wie Nr. 2 RiVASt präzisiert. Die Begriffe Strafsache oder strafrechtliche Angelegenheit sind weit zu verstehen und können neben der Verfolgung von Straftaten auch Ordnungswidrigkeiten umfassen. Entscheidend ist, dass ein Verhalten mit einer strafrechtlichen Sanktion bewehrt ist, vgl. § 1 Abs. 2 IRG. Verfahren, die primär der Durchsetzung von deliktischen Schadenersatzansprüchen oder präventivpolizeilichen Zwecken dienen, werden nicht erfasst.9 II. Anwendungsbereich der Rechtshilfe 1. Achtung der Gebietshoheit (innere Souveränität) Grundsätzlich kann jeder Staat uneingeschränkt hoheitlich handeln. Er ist hierbei nur an sein eigenes Recht gebunden. Benötigt der Staat jedoch eine Handlung außerhalb seines Hoheitsgebietes (extraterritorial), muss er die 6 Gesetz
über die innerdeutsche Rechts- und Amtshilfe in Strafsachen. in: Erb / Esser / Franke / Graalmann-Scheerer / Hilger / Ignor (Hg.), Löwe / Rosenberg, Vor § 156 GVG, Rn. 24 ff. 8 Dazu näher unten 2. Teil 1. Kapitel C. II. 9 Vogel, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, § 1 IRG, Rn. 9 ff.; Wilkitzki, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, § 59 IRG, Rn. 36. 7 Franke,
1. Kap.: Die klassische Beweisrechtshilfe31
Gebietshoheit fremder Staaten achten. Auf dem eigenen Territorium haben allein diese die exklusive Befugnis zur Wahrnehmung staatlicher Funktionen.10 Dieser Grundsatz wird aufgrund der gleichberechtigten Souveränität aller Staaten aus Art. 2 Nr. 1 VN-Charta und dem Völkergewohnheitsrecht hergeleitet. In Deutschland findet er so über Art. 25 GG Anwendung.11 Damit korrespondiert auch ein Achtungsanspruch im zwischenstaatlichen Verhältnis. Jegliche Beeinträchtigung fremder Gebietshoheit ist zu unterlassen. Dies gilt nicht nur für militärische Aktionen auf fremdem Staatsgebiet, sondern auch für hoheitliches Handeln im zivilen Bereich.12 Das Ganze wird auch völkerrechtliches Territorialitätsprinzip genannt.13 Zwar braucht ein Staat fremde hoheitliche Maßnahmen auf seinem Staatsgebiet grundsätzlich nicht hinzunehmen.14 Völkerrechtlich ist er jedoch nicht daran gehindert, einem fremden Staat oder sonstigem Völkerrechtssubjekt die Befugnis zur unmittelbaren Vornahme oder Vollstreckung von Hoheitsakten durch dessen Organe einzuräumen oder wenigstens zu dulden, vgl. auch Art. 89 AEUV, Art. 41 Abs. 1 SDÜ, Art. 54 Abs. 2, 3, 57 Abs. 3 lit. d IStGH-Statut. Stattdessen kann er allerdings auch im Rahmen der Rechtshilfe handeln, was bislang noch die Regel ist.15 Um dem völkerrechtlichen Territorialitätsprinzip gerecht zu werden und um dem Rechtsverkehr der Staaten untereinander eine verlässliche Grundlage zu geben, wurde das internationale Rechtshilferecht entwickelt. Wünscht ein Staat hoheitliches Handeln auf fremdem Staatsgebiet, so muss er den dortigen Staat in der Regel um Rechtshilfe ersuchen. Da die Staatengemeinschaft im Bereich der transnationalen Kriminalität auf wechselseitige Hilfe angewiesen ist, gilt das Gebot internationaler Solidarität bei der Verfolgung und Aburteilung von Straftaten sowie bei der Vollstreckung von Strafen.16 10 Stein / von Buttlar,
Völkerrecht, 186 f., 211. Beiderseitige Strafbarkeit, 93 f.; Krüßmann, Transnationales Strafprozessrecht, 223. 12 Stein / von Buttlar, Völkerrecht, 186 f., 211; BVerfG BVerfGE 63, 343, 358; Burchard, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 537, 538. 13 Vogel, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 1 IRG, Rn. 16, maßgeblich beeinflusst wurde das Völkerrecht hier durch die Rechtsprechung, StIGH, Frankreich / Türkei, 7.9.1927, PCIJ Series A, No. 10 (Lotus); StIGH, Niederlande / USA, 4.4.1928, RIAA II, 829 ff. (Las Palmas); IGH, Vereinigtes Königreich / Albanien, 25.3.1948, ICJ Reports 1947–1948, 15 ff. (Korfu). 14 Vogel, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 1 IRG, Rn. 16. 15 Stein / von Buttlar, Völkerrecht, 188; BVerfG BVerfGE 63, 343, 361; RG RGSt 8, 372, 376; Vogel, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 1 IRG, Rn. 25; Hackner / Schierholt, Rechtshilfe, 40 f.; Satzger, Internationales und Europä isches Strafrecht, 30, 172; eine Mischform wäre, ausländische Amtsträger als Prozessbeobachter bei den Rechtshilfehandlungen zuzulassen, vgl. Art. 4 EuRhÜbk. 16 Vogel, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 1 IRG, Rn. 24. 11 Conrad,
32
2. Teil: Darstellung
2. Der Begriff des hoheitlichen Handelns Nach völkerrechtlichem Territorialitätsprinzip hat es ein Staat zu unterlassen, Hoheitsakte auf fremdem Boden unbefugt durchzuführen. Hierbei ist der Begriff des Hoheitsaktes allerdings umstritten. Während davon im kontinentaleuropäischen Bereich staatliche Maßnahmen jeder Art erfasst sind, werden im angloamerikanischen Rechtskreis nur staatlich veranlasste Zwangsmaßnahmen als Akt hoheitlichen Handelns auf fremdem Staatsgebiet betrachtet.17 Beide Rechtskreise legen den Begriff des hoheitlichen Handelns extensiv aus. Handeln ist nicht statusrechtlich, sondern funktional als hoheitlich zu qualifizieren. Hoheitlich handeln daher nicht nur Amtsträger im engeren Sinne. Eine Person kann in diesem Sinne auch kraft Beleihung, Auftrag oder auch nur Duldung hoheitlich handeln. Dies betrifft insbesondere verschleierte Amtshandlungen, die von scheinbar privat motivierten Personen durchgeführt werden.18 Rein private Handlungen erfüllen nicht die Anforderungen eines Hoheitsakts und verstoßen so nicht gegen das Territorialitätsprinzip.19 Dennoch kann es hier zu internationalen Spannungen kommen, wenn ein Staat zwar private Ermittlungen nicht initiiert, jedoch deren Ergebnisse für hoheitliche Zwecke nutzt. Aktuell zeigt sich das Problem in dem Ankauf sogenannter Steuer-CDs aus der Schweiz und Liechtenstein durch Deutschland und andere Staaten. Durch den Ankauf wird letztlich ein Markt geschaffen, dessen Angebot staatliche Käufer durch ihre Nachfrage beeinflussen.
B. Rechtsquellen des Rechtshilferechts Der Rechtshilfeverkehr kann, muss aber nicht vertraglich geregelt sein. Normen sind neben innerstaatlichen und internationalen auch supranationale Rechtsquellen.20 Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit ist das Rechtshilferecht der EU-Mitgliedstaaten mit dem Schwerpunkt Deutschland. 17 Vogel, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 1 IRG, Rn. 17, Lagodny, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 59 IRG, Rn. 5 ff., Lagodny, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, § 59 IRG, Rn. 39; hierzu sehr anschaulich Krüßmann, Transnationales Strafprozessrecht, 224 f., 237 ff. 18 Vogel, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 1 IRG, Rn. 17. 19 Vogel, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 1 IRG, Rn. 17. 20 Hackner, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, Einführung in den Hauptteil I, Rn. 72; zur Bedeutung innerstaatlicher und internationaler Rechtsquellen für die internationale Rechtshilfe s. a. von Liszt, in: von Liszt (Hg.), Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, 90, 99 ff.
1. Kap.: Die klassische Beweisrechtshilfe33
Eine innerstaatliche Regelung enthält das deutsche Recht mit dem IRG. Konkretisiert wird dieses durch die Richtlinien für den Verkehr mit dem Ausland in strafrechtlichen Angelegenheiten (RiVASt). Als Verwaltungsvorschrift für die Praxis bestimmt, bieten sie letztlich eine erste Auslegungshilfe für das IRG, vgl. Nr. 1 Abs. 1 RiVASt.21 Gemäß § 1 Abs. 3 IRG gehen (ratifizierte) völkerrechtliche Vereinbarungen dem innerstaatlichen Recht vor.22 Dies sind insbesondere multilaterale Abkommen internationaler Organisationen. Das Hoheitsgebiet der EU-Mitgliedstaaten wird je nach Ratifikationsstand vom räumlichen Geltungsbereich der Übereinkommen der Vereinten Nationen und des Europarats umfasst. Übereinkommen der Vereinten Nationen beschränken sich in ihrem sachlichen Anwendungsbereich auf bestimmte Deliktsfelder, entfalten jedoch als global wirksame Regelung Modellcharakter.23 Hierzu gehört etwa das Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen den unerlaubten Verkehr mit Suchtstoffen und psychotropen Stoffen vom 20. Dezember 1988 (VN-Sucht stoff-Übk). Bereichsspezifische Übereinkommen enthält auch der Rechtsbestand des Europarats. Hierzu gehört etwa das Strafrechtsübereinkommen über Korruption vom 27. Januar 1999. Von eher allgemeiner Bedeutung ist dagegen das Europäische Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen vom 20. April 1959 (EuRhÜbk). Es gilt als die Mutterkonvention aller nachfolgenden Rechtshilfeübereinkommen.24 Sein Erfolg misst sich auch an seinem räumlichen Geltungsbereich, der über den Mitgliederbestand des Europarats hinausgeht. Der sachliche Anwendungsbereich ist nicht bereichsspezifisch beschränkt, sondern deliktsneutral gestaltet.25 Novelliert wurde es durch zwei Zusatzprotokolle aus den Jahren 1978 und 2001. Einige Mitgliedstaaten des Europarats haben diese Zusatzprotokolle nicht ratifiziert, die EU-Mitgliedstaaten sind 21 Vogel, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 1 IRG, Rn. 51; Dicker, KritV 2012, 417, 422. 22 Rackow, in: Ambos (Hg.), Europäisches Strafrecht post-Lissabon, 117, 118, Rackow vergleicht das Entstehen von einander überlappenden Abkommen mit einem komplexen Netz. 23 Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, Einleitung, Rn. 61 ff. 24 Gleß, Beweisrechtsgrundsätze, 109 f.; Schomburg, in: Sieber / Brüner / Satzger / von Heintschel-Heinegg (Hg.), Europäisches Strafrecht, 127, 131; Lagodny, in: Schom burg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, EuRhÜbk, Rn. 2; Zeder, JSt 2011, 65, 65; Hecker, in: Ruggeri (Hg.), Transnational inquiries, 269, 271; Güntge, SchlHA 2013, 346, 348. 25 Hackner / Schierholt, Rechtshilfe, 10.
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2. Teil: Darstellung
dem jedoch überwiegend gefolgt. Weitere wichtige Rechtshilfeübereinkommen des Europarats sind das Europäische Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 (EuAlÜbk) mit dessen Zusatzprotokollen aus den Jahren 1975, 1978 und 2010 sowie das Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen vom 21. März 1983 (ÜberstÜbk) mit dessen Zusatzprotokollen aus dem Jahr 1997. Innerhalb der EU und des Schengenraums bestehen weitere multilaterale Abkommen, die bedeutende Rechtshilferegelungen enthalten. Aufgrund des Schengener Abkommens vom 14. Juni 1985 wurde so das Schengener Durchführungsübereinkommen vom 19. Juni 1990 (SDÜ) geschlossen. Den „Schengen-acquis“ übernahm die EU mit dem Vertrag von Amsterdam in ihren eigenen Rechtsbestand. Hierzu gehören vor allem das Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union vom 29. Mai 2000 (EU-RhÜbk) mit Zusatzprotokoll vom 16. Oktober 2001 (ZP EU-RhÜbk), ansonsten auch das Übereinkommen über die Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union vom 27. September 1996 (EU-AuslÜbk) und das Übereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften über die Vollstreckung ausländischer strafrechtlicher Verurteilungen vom 13. November 1991 (EG-VollstrÜbk) sowie das Übereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften über das Verbot der doppelten Strafverfolgung vom 25. Mai 1987 (EG-ne bis in idem-Übk)26. Darüber hinaus gibt es zwischen den EU-Mitgliedstaaten eine Vielzahl bilateraler Rechtshilfeverträge. In die derzeitige Entwicklung des Rechtshilferechts greift die EU durch supranationale Rechtsakte selbst ein. Hierzu gehören insbesondere die Maßnahmen zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen in Strafsachen. Bestes Beispiel hierfür ist der Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl (RB EHB).
C. Aufbau des Rechtshilfeverfahrens I. Stadien des Rechtshilfeverfahrens Ein Rechtshilfeverfahren durchläuft drei Stadien: das Erstellen eines ausgehenden Ersuchens, die Übermittlung des Ersuchens und die Bewilligung des eingehenden Ersuchens.27 Spiegelbildlich werden diese Stadien durch26 BGBl. 1998 27 Vogel,
II S. 2226, 2002 II S. 600. in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 1 IRG, Rn. 102.
1. Kap.: Die klassische Beweisrechtshilfe35
laufen, indem der ersuchte Staat die bewilligte Rechtshilfe vornimmt, das Ergebnis dem ersuchenden Staat übermittelt und dieser die Erledigungsstücke entgegennimmt. Die jeweilige Übermittlung ist ein zwischenstaatliches, völkerrechtliches Verfahren.28 Sie betrifft die Außenbeziehungen zweier Staaten und verlagert so die Ausgestaltung und Perspektive der Rechtshilfe auf eine staatliche Ebene. Der von der Rechtshilfe Betroffene wird hierbei nach herkömmlicher Auffassung nicht beteiligt.29 Als prägendes äußeres Element der Rechtshilfe wurde dies auch inhaltlich auf die Rechtshilfe schlechthin übertragen, als sogenanntes zweidimensionales Modell.30 Mit Ausnahme der Übermittlung unterliegen alle übrigen Stadien des Rechtshilfeverfahrens einem innerstaatlichen Verfahren,31 entweder in dem ersuchenden oder in dem ersuchten Staat. Dessen Natur richtet sich nach seiner jeweiligen Stellung im Gesamtgefüge der Verfahrensarten und kann nicht einheitlich bestimmt werden. Indizien für ein justizielles Verfahren sind die Mitwirkung der ordentlichen Gerichte sowie die gesetzliche Subsidiarität des Strafverfahrensrechts gegenüber dem IRG, vgl. § 77 IRG.32 Staatliche Eingriffsmöglichkeiten, welche die Bewilligung der Rechtshilfe betreffen, deuten hingegen auf den außenpolitischen Bereich hin. Demgemäß ist der Rechtscharakter des Bewilligungsverfahrens umstritten.33 In der Regel handelt es sich jedoch bei den innerstaatlichen Stadien um justizielle Verfahren mit strafverfahrensähnlichem Charakter.34 Dies gilt etwa für die Prüfung der Rechtmäßigkeit der jeweiligen Rechtshilfemaßnahme, mag es sich dabei um ein- oder ausgehende Ersuchen handeln. Im Auslieferungsund Vollstreckungshilferecht, im Rahmen der sonstigen Rechtshilfe auch bei der Herausgabe von Sachen, nimmt das Zulässigkeitsverfahren breiten Raum ein.35 28 Vogel,
in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 1 IRG, Rn. 101. aber unten 2. Teil 1. Kapitel F. III. 1. 30 Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, Einleitung, Rn. 2. 31 Vogel, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 1 IRG, Rn. 102. 32 Vogel, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 1 IRG, Rn. 101. 33 Lagodny spricht in diesem Zusammenhang von außenpolitischer Rückendeckung bzw. Entlastung durch die Gerichte, Lagodny, in: Schomburg / Lagodny /Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 59 IRG, Rn. 17, 43; Lagodny, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, § 61 IRG, Rn. 4; Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRGKommentar, Einleitung, Rn. 184 ff.; Johnson, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRGKommentar, § 61 IRG, Rn. 2. 34 Vogel, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 1 IRG, Rn. 9. 35 Vogel, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 1 IRG, Rn. 9. 29 Siehe
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2. Teil: Darstellung
Anders als in einem rein zwischenstaatlichen Verfahren müssen in einem partiell justiziellen Verfahren auch die Rechte des Betroffenen gewahrt werden. Dieser darf nicht lediglich zum Objekt des Verfahrens degradiert werden.36 Nach neuerer Sichtweise wird auch der individuell Betroffene als Beteiligter der Rechtshilfe anerkannt. Man spricht hier vom dreidimensionalen Modell.37 II. Verfahrensarten der Rechtshilfe In Deutschland unterscheidet das Rechtshilfeverfahren zwischen der Auslieferung (§§ 2 ff. IRG), der Vollstreckungshilfe (§§ 48 ff. IRG) und der sonstigen Rechtshilfe (§§ 59 ff. IRG).38 Die sonstige Rechtshilfe beinhaltet alle übrigen Formen der Rechtshilfe, welche nicht der Auslieferung oder Vollstreckungshilfe zugeordnet werden können. Diese Auffangfunktion führt zu einer gewissen Unschärfe, wenn man nur Untersuchungshandlungen erfassen möchte. Als Präzisierung wurde daher der Begriff der Beweisrechtshilfe eingeführt.39 Die Beweisrechtshilfe ist wesentlicher, aber nicht alleiniger Gegenstand der sonstigen Rechtshilfe. Hauptsächlich, aber nicht abschließend, betrifft sie den Rechtshilfeverkehr, der auf die Vornahme von Untersuchungshandlungen gerichtet ist. Hierzu gehören im weiteren Sinne alle Ermittlungsmaßnahmen von Justizbehörden einschließlich von Zwangs- und Überwachungsmaßnahmen.
36 So allgemein BVerfG BVerfGE 9, 89, 95; 26, 66, 71; speziell im Rechtshilferecht: BGH BGHSt 58, 32, 38, nach dem BGH entspricht es ohnehin dem mittlerweile ganz überwiegenden völkerrechtlichen Verständnis, den Einzelnen als Subjekt des Völkerrechts anzuerkennen und seine Interessen im Rahmen der Rechtshilfe zu berücksichtigen; Schomburg / Lagodny / Schallmoser, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 495, 498 f.; Gaede, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 97, 100. 37 Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, Einleitung, Rn. 9 ff.; Gaede, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 97, 99 f.; Burchard, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 537, 539. 38 Synonym werden auch die Begriffe kleine Rechtshilfe und Rechtshilfe im engeren Sinne verwendet; Güntge, SchlHA 2013, 346, 347. 39 Gleß, Beweisrechtsgrundsätze, 110 f.; Gleß, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 611, 613, 618, nach Gleß versteht man unter Beweisrechtshilfe im klassischen Rechtshilferecht die Akte der Sicherung und Übergabe von Informationen oder Gegenständen für Beweiszwecke in einem ausländischen Strafverfahren; Vogel spricht hier von Beweishilfe, Vogel, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 1 IRG, Rn. 2; BGH BGHSt 58, 32, 36 f.
1. Kap.: Die klassische Beweisrechtshilfe37
D. Materielles Rechtshilferecht I. Grundsätze der Rechtshilfe 1. Grundsatz der Gegenseitigkeit Nach dem Grundsatz der Gegenseitigkeit (Reziprozität) leistet der ersuchte Staat nur Rechtshilfe, wenn der ersuchende Staat seinerseits einem vergleichbaren Ersuchen entsprechen würde.40 Hierdurch entsteht eine Absicherung in Form eines do ut des, welche als Grundlage jeder Form von zwischenstaatlicher Zusammenarbeit betrachtet werden kann. Als solche schützt sie nicht die Interessen des Einzelnen, sondern nur die von Staaten.41 Einem ersuchten Staat steht es frei, auf die Anwendung dieses Grundsatzes zu verzichten.42 Demgemäß besteht Deutschland im Rahmen des vertragslosen Rechtshilfeverkehrs nur bei eingehenden Auslieferungsersuchen auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit (§ 5 IRG), nicht jedoch bei Vollstreckungshilfeersuchen oder Ersuchen der sonstigen Rechtshilfe.43 Aufgrund des wirtschaftlichen Anreizes der Einziehung und Verwertung inkriminierter Vermögenswerte wird auch insoweit regelmäßig auf den Grundsatz der Gegenseitigkeit verzichtet. So entscheidet das zuständige Bundesamt für Justiz (BfJ) im Einvernehmen mit dem Auswärtigen Amt (AA) gemäß Art. 74 Abs. 1 IRG im Bewilligungsverfahren bedarfsgerecht, ob es sich im Einzelfall auf den Grundsatz der Gegenseitigkeit beruft.44 Im vertraglichen Rechtshilfeverkehr begründet jedes völkerrechtliche Abkommen konkludent ein Gegenseitigkeitsverhältnis.45
40 Vogel, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 1 IRG, Rn. 73; Vogel, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, § 5 IRG, Rn. 6; Lagodny, in: Sieber / Brüner / Satzger / von Heintschel-Heinegg (Hg.), Europäisches Strafrecht, 491, 497; Hackner / Schierholt, Rechtshilfe, 34; Conrad, Beiderseitige Strafbarkeit, 88 ff. 41 Hackner / Schierholt, Rechtshilfe, 34; Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 38; Häde, Der Staat 1997, 1, 5. 42 Conrad, Beiderseitige Strafbarkeit, 90; Häde, Der Staat 1997, 1, 6 f.; insoweit wohl auch BGH BGHSt 58, 32, 39 f. 43 Hackner / Schierholt, Rechtshilfe, 109, 178; Wilkitzki, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 59 IRG, Rn. 6, vgl. so noch § 41 Abs. 1 DAG. 44 Hackner / Schierholt, Rechtshilfe, 236 f.; Hackner, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, Einführung in den Hauptteil I, Rn. 32. 45 Hackner / Schierholt, Rechtshilfe, 34; Riedo / Fiolka / Niggli, Schweizerisches Strafprozessrecht, 585.
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2. Teil: Darstellung
2. Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit a) Wirkung Nach dem Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit sowie Verfolgbarkeit46 wird Rechtshilfe nur gewährt, wenn das Verhalten, welches das Ausgangsverfahren als Straftat verfolgt, im Vollstreckungsstaat ebenso als Straftat verfolgbar wäre. In abgeschwächter Form (beiderseitige Sanktionierbarkeit) reicht es sogar aus, dass das verfolgte Verhalten überhaupt mit einer Sanktion bewehrt ist, vgl. § 66 Abs. 2 Nr. 1 IRG, Art. 5 Abs. 1 lit. a EuRhÜbk. Der Tatbestand muss weder identisch gestaltet sein noch das gleiche Rechtsgut betreffen. Es reicht aus, dass sowohl der ersuchende als auch der ersuchte Staat – gegebenenfalls nach Umstellung des Sachverhalts – das konkrete Verhalten als strafbares oder wenigstens sanktionierbares Unrecht betrachten. Des Weiteren dürfen im ersuchten Staat keine Verfolgungshindernisse bestehen.47 Der Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit besteht bei der Auslieferung und der Vollstreckungshilfe, §§ 2, 3 Abs. 1, 49 Abs. 1 Nr. 3 IRG. Für die sonstige Rechtshilfe stellt er hingegen – wie bereits erwähnt – die absolute Ausnahme dar, vgl. § 66 Abs. 2 Nr. 1 IRG.48 Folglich werden bei der sonstigen Rechtshilfe, anders als bei der Auslieferung, vgl. § 9 Nr. 2 IRG, Verfolgungshindernisse des ersuchten Staates nicht beachtet. Dies gilt insbesondere für eine Verjährung der verfolgten Tat nach deutschem Recht.49 b) Herleitung aa) Vorbemerkung Die Herkunft, vor allem aber Sinn und Zweck des Prinzips der beiderseitigen Strafbarkeit, sind rechtsdogmatisch umstritten. Umfang und Grenzen des Anwendungsbereichs hängen von der zutreffenden Einordnung ab.
46 Vogel,
in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 1 IRG, Rn. 74. Rechtshilfe, 35. 48 Wilkitzki, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 59 IRG, Rn. 7, 8; Conrad, Beiderseitige Strafbarkeit, 221. 49 OLG Frankfurt NJW 1968, 1585, 1586; Johnson, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, § 66 IRG, Rn. 29; a. A. Schädel, Bewilligung internationaler Rechtshilfe, 212 ff.; Güntge, SchlHA 2013, 346, 349. 47 Hackner / Schierholt,
1. Kap.: Die klassische Beweisrechtshilfe39
bb) Das Prinzip nulla poena sine lege Ein Teil der Literatur verortet den Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit beim Prinzip nulla poena sine lege. Dies besagt, dass ein Verhalten nur nach einer zur Tatzeit gesetzlich geltenden Bestimmung bestraft werden darf, vgl. Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB. Der Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit verhindere, dass der ersuchte Staat seine Strafverfolgung ohne gesetzliche Grundlage betreibe.50 Im Rahmen der Rechtshilfe betreibt jedoch der ersuchte Staat gar keine eigene Strafverfolgung, sondern leistet lediglich Hilfe zur fremden Strafverfolgung.51 Einzig letztere muss dem Prinzip nulla poena sine lege entsprechen, nicht jedoch das darauf beruhende Handeln des ersuchten Staates. Aus dem Prinzip nulla poena sine lege lässt sich der Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit mithin nicht herleiten.52 cc) Gegenseitigkeit und staatliche Souveränität Der überwiegende Teil der Literatur sieht im Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit eine historisch gewachsene spezielle Ausprägung des Prinzips der Gegenseitigkeit.53 Ebenso wie die Gegenseitigkeit gelte der Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit regelmäßig nicht bei der sonstigen Rechtshilfe. Dem ist zuzustimmen. Eine darüber hinaus gehende Ab50 Blakesley, Utah Law Review 1984, 685, 739, Blakesley begründet den Grundsatz mit: basis in the longstanding maxim, nulla poena sine lege; Blakesley / Lagodny, in: Eser / Lagodny (Hg.), Principles and procedures for a new transnational criminal law, 47, 84 ff.; Warbrick / McGoldrick, ICLQ 1997, 948, 949; Suominen, Mutual recognition, 176. 51 von Liszt, in: von Liszt (Hg.), Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, 90, 102; Murschetz, Auslieferung, 119; Asp / Hirsch / von Frände, ZIS 2006, 512, 513; a. A.: Blakesley, Utah Law Review 1984, 685, 739; Suominen, Mutual recognition, 176. 52 So sieht denn auch Hackner aufgrund der lediglich unterstützenden Funktion der Rechtshilfe im Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit eine Systemwidrigkeit im arbeitsteiligen Verfahren, Hackner, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, Einführung in den Hauptteil I, Rn. 33; Conrad, Beiderseitige Strafbarkeit, 97 ff. 53 Grützner, ZStW 1969, 119, 124; Vogler, ZStW 1969, 163, 169; Wilkitzki, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 59 IRG, Rn. 7, 8; Krüßmann, Transnationales Strafprozessrecht, 431; Lagodny, in: Sieber / Brüner / Satzger / von Heintschel-Heinegg (Hg.), Europäisches Strafrecht, 491, 497; Suominen, Mutual recognition, 175; Hackner / Schierholt, Rechtshilfe, 34; Riedo / Fiolka / Niggli, Schweizerisches Strafprozessrecht, 536; Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, Einleitung, Rn. 31; Böse, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, § 81 IRG, Rn. 21; Conrad, Beiderseitige Strafbarkeit, 43.
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2. Teil: Darstellung
leitung aus dem Prinzip der Achtung der fremden staatlichen Souveränität54 ist indes abzulehnen. Jedem Staat ist es selbst überlassen, in welchem Umfang er Rechtshilfe gewährt. Dabei kann er auch auf Teile der aus der staatlichen Souveränität resultierenden Handlungsfreiheit willentlich verzichten.55 So kann ein Staat etwa bei übergeordneten politischen Interessen von der Anwendung des Prinzips der beiderseitigen Strafbarkeit auch ganz absehen.56 dd) Schutzverpflichtungen gegenüber eigenen Bürgern Nach einer vordringenden Ansicht in der Literatur kommt der ersuchte Staat durch den Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit seinen Schutzverpflichtungen gegenüber seinen Bürgern nach.57 Der Grundsatz diene auch dem Schutz der Menschenrechte.58 Nach Gleß räumt das dreidimensionale Modell dem Individuum einen wesentlichen Platz und Schutz ein. Folglich enthalte auch der Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit drittschützende Elemente. Bei der Rechtshilfe bestehe die Gefahr, dass der ersuchte Staat durch Unterstützung einer fremden Strafverfolgung das Rechtsstaats- und das Schuldprinzip verletze. Er handle dabei nämlich bisweilen so, wie es ihm nach innerstaatlichem Recht bei eigener Strafverfolgung gerade nicht erlaubt sei. Gleß nennt dies eine Überschreitung der innerstaatlichen Legitimation nach außen. Der Bürger werde verunsichert, nach welcher Rechtsordnung er sich zu richten habe. Dies werde durch den Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit korrigiert.59 Dementsprechend sieht Suominen im Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit eine Manifestation sowohl eines gewissen Maßes an Rechtssicherheit als auch von Vorhersehbarkeit der Strafverfolgung.60 Mavany wendet hiergegen ein, dass der ersuchte Staat seine Schutzverpflichtungen auch in anderer Weise erfüllen kann. Hierbei habe er einen freien Gestaltungsspielraum. Es bleibe ihm auch völkerrechtlich überlassen, auf den Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit zu verzichten. Würde man jenen Grundsatz als erweiterten Rechtsschutz verstehen, müsse er umfasbei Conrad, Beiderseitige Strafbarkeit, 36 f., 91 ff. Stein allgemein zur staatlichen Souveränität, Stein / von Buttlar, Völkerrecht, 517, 93 ff. 56 Stein / von Buttlar, Völkerrecht, 517; Häde, Der Staat 1997, 1, 6 f. 57 Alegre / Leaf, ELJ 2004, 200, 208; Schünemann, StV 2003, 531, 532. 58 Sieber, ZStW 2009, 1, 29. 59 Gleß, Internationales Strafrecht, 96. 60 Suominen, Mutual recognition, 176; eingeschränkt zustimmend Conrad, Beiderseitige Strafbarkeit, 134. 54 Vgl. 55 So
1. Kap.: Die klassische Beweisrechtshilfe41
send für die gesamte sonstige Rechtshilfe gelten und nicht bloß für einzelne Bereiche.61 Mavany ist überwiegend zuzustimmen. Richtig ist jedoch auch, dass das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit den Mangel effektiven Rechtsschutzes ausgleicht und dadurch zur Rechtssicherheit erheblich beiträgt. Aufgrund dieser Wechselbeziehung sollte die traditionelle Schranke beiderseitiger Strafbarkeit nur gegen den Aufbau von mehr Rechtssicherheit abgebaut werden.62 3. Grundsatz der Spezialität Nach dem Grundsatz der Spezialität63 wird Rechtshilfe nur bedingt gewährt. Der ersuchende Staat verpflichtet sich, die geleistete Rechtshilfe nur zur Verfolgung der seinem bewilligten Ersuchen zugrunde liegenden Tat oder nur unter bestimmten rechtlichen Gesichtspunkten zu verwenden. Völkergewohnheitsrechtlich anerkannt ist der Grundsatz der Spezialität im Auslieferungsrecht, vgl. z. B. Art. 14 EuAlÜbk. In Deutschland ist er dort normiert in § 11 IRG. Im Recht der sonstigen Rechtshilfe ist dieser Grundsatz völkergewohnheitsrechtlich nicht anerkannt.64 So verzichtet auch Deutschland auf eine entsprechende Norm für den vertragslosen Rechtshilfeverkehr. Einige Staaten wie die Schweiz, Ungarn und Liechtenstein verwenden jedoch häufig Spezialitätsvorbehalte im bilateralen Rechtshilfeverkehr.65 Vereinzelt enthalten völkerrechtliche Übereinkommen zur sonstigen Rechtshilfe Spezialitätsklauseln, vgl. Art. 39 Abs. 2 SDÜ. Der Grundsatz der Spezialität hat sich bei der sonstigen Rechtshilfe von einem Verfahrenshindernis zu einem Zweckbindungsgrundsatz entwickelt.66 Die Spezialität bietet eine Möglichkeit, den Datenschutz für Betroffene im 61 Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 123; ähnlich auch Vogel, JZ 2001, 937, 942; Vogel, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, § 73 IRG, Rn. 59; Böse, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, § 81 IRG, Rn. 18 ff.; Conrad, Beiderseitige Strafbarkeit, 134 f. 62 Siehe hierzu weiter unten 2. Teil 2. Kapitel C. III. 63 Vogel, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 1 IRG, Rn. 78; Andreou, Gegenseitige Anerkennung, 284 f. 64 BVerfG BVerfGE 57, 9, 27 f.; NJW 2011, 591, 592; Wilkitzki, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 59 IRG, Rn. 13; Hackner / Schierholt, Rechtshilfe, 36. 65 Riedo / Fiolka / Niggli, Schweizerisches Strafprozessrecht, 586 ff. 66 Hackner / Schierholt, Rechtshilfe, 36; nach Lagodny handelt es sich bei der Spezialität nur noch um einen überlieferten Begriff, welcher mit neuem Inhalt besetzt werden muss, Lagodny, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, § 59 IRG, Rn. 19.
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2. Teil: Darstellung
Rahmen der Informationsrechtshilfe zu integrieren und die Datenweitergabe auf strafrechtliche Angelegenheiten zu beschränken bzw. etwa für Fiskaldelikte oder Ordnungswidrigkeiten auszuschließen, vgl. § 66 IRG, Art. 102, 126, 50 Abs. 3 SDÜ, Art. 25 2. ZP-EuRhÜbk, Nr. 77a Abs. 1 S. 3 lit. b RiVASt.67 Ein Verstoß gegen den Grundsatz der Spezialität führt zu einem Beweisverwertungsverbot.68 4. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Auch für die Leistung der Rechtshilfe gilt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Danach muss die ersuchte Vornahmehandlung zu der Schwere der Straftat des Ausgangsverfahrens im ausgewogenen Verhältnis stehen. Lediglich geringfügige Vergehen, welche eine gewisse Bagatellgrenze unterschreiten, sollen jedenfalls keine schwerwiegenden Eingriffe in die Rechtssphäre des Betroffenen zulassen (de minimis non curat praetor).69 Neben jener Abwägung der Verhältnismäßigkeit der Rechtshilfe in Bezug auf den davon Betroffenen sind, jedenfalls bei ausgehenden Ersuchen, auch der fiskalische und administrative Aufwand im Hinblick auf die Bedeutung der Sache und die Erfolgsaussichten zu berücksichtigen.70 Dies gilt etwa für beträchtliche Übersetzungs- und Vervielfältigungskosten oder einen besonders personalintensiven Geschäftsweg für die Übermittlung des Ersuchens. Dabei handelt es sich um einen allgemeinen Rechtsgedanken im öffentlichen Recht, der in den Nrn. 88 Abs. 1 lit. c, 130 Abs. 2 RiVASt gerade für den Bereich der Rechts- und Amtshilfe mit dem Ausland besondere Erwähnung findet. Ausnahmsweise wird man vor diesem Hintergrund auch die Ausführung eines eingehenden Ersuchens als unzumutbar verweigern können, sofern dessen Erledigung im Einzelfall mit einem unverhältnismäßigen Aufwand verbunden wäre.71 Eine Ablehnung wegen genereller Überlastung der ersuchten Behörde ist jedoch unzulässig.72 67 Vogel, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 1 IRG, Rn. 78; Gleß, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 611, 620 f. 68 BGH BGHSt 34, 334, 341 ff.; BVerfG NJW 2011, 591, 592; Hackner / Schierholt, Rechtshilfe, 36. 69 Wilkitzki, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 59 IRG, Rn. 12; Lagodny, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, § 59 IRG, Rn. 33; Vogel, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 1 IRG, Rn. 77; so ausdrücklich auch Art. 4 IRSG (Schweiz). 70 BGH BGHSt 27, 222. 71 Wilkitzki, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 59 IRG, Rn. 12; Vogel, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 1 IRG, Rn. 77. 72 Lagodny, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, § 59 IRG, Rn. 37.
1. Kap.: Die klassische Beweisrechtshilfe43
II. Rechtshilfehindernisse 1. Grundsatz des ordre public a) Vorbemerkungen Als allgemeines Rechtshilfehindernis besteht der Grundsatz des ordre public.73 Rechtshilfe kann danach nur geleistet werden, wenn im ersuchenden Staat ein rechtsförmiges Verfahren eingehalten wird. Dieses ausländische Verfahren muss sich hierbei – gerade im Hinblick auf Art. 25 GG – nicht nach deutschem Recht richten. So kann die Rechtsstaatlichkeit eines fremden Verfahrens nicht unmittelbar am Maßstab des Grundgesetzes gemessen werden. Allerdings besteht ein verfassungsrechtliches Gebot, dass das ausländische Verfahren den völkerrechtlich verbindlichen Mindeststandards und den unabdingbaren Grundsätzen der verfassungsrechtlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland genügen muss.74 Im deutschen Recht ist dies in § 73 IRG ausdrücklich geregelt. Danach ist es unzulässig, Rechtshilfe zu leisten, wenn sie wesentlichen Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung widersprechen würde, § 73 S. 1 IRG. Die Missachtung dieser Mindeststandards durch einen fremden Staat führt indes nicht per se zu einer Unzulässigkeit der Rechtshilfeleistung. Bestehen begründete Anhaltspunkte für einen drohenden Verstoß gegen den ordre public, sind völkerrechtlich verbindliche Zusicherungen grundsätzlich geeignet, diese auszuräumen.75 Durch eine entsprechende Zusicherung ändert der ersuchende Staat zwar nicht seine Rechtsordnung, jedoch öffnet er sie im konkreten Fall für die Anforderungen des ersuchten Staats. Der ersuchende Staat garantiert dem ersuchten Staat eine rechtliche Besserstellung des Betroffenen, mag sie auch von seiner eigenen Rechtsordnung oder Rechtspraxis abweichen. Im Rahmen der Gegenseitigkeit ist der Einhaltung einer abgegebenen Zusicherung und dem damit verbundenen Respekt vor der fremden Rechtsordnung zu vertrauen. Treuwidriges Verhalten einer 73 Vogel, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, § 73 IRG, Rn. 2; Vogel, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 1 IRG, Rn. 100; Wilkitzki, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 59 IRG, Rn. 12. 74 BVerfG BVerfGE 59, 280, 282 ff.; 63, 332, 337 ff.; 63, 343, 366; 75, 1, 16, 19; 108, 129, 136; BVerfGK 2, 165, 171; 3, 27, 31 f.; 3, 159, 163; 3, 314, 317; 6, 13, 17 f.; 6, 334, 341 f.; 13, 128, 133; Häde, Der Staat 1997, 1, 22 f.; Hackner / Schierholt, Rechtshilfe, 37; Keller, in: Degener / Heghmanns (Hg.), FS Dencker, 183, 190 f.; BT-Drs. 9 / 1338 S. 93; kritisch Lagodny, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, § 73 IRG, Rn. 14 ff. 75 BVerfG BVerfGE 63, 215, 224; 109, 38, 62; BVerfGK 2, 165, 172 f.; 3, 159, 163; 6, 13, 19; 6, 334, 343; 13, 557, 561; 14, 372, 377.
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2. Teil: Darstellung
Seite würde den Rechtshilfeverkehr empfindlich stören.76 Besteht jedoch im Einzelfall Grund zur Besorgnis, dass der ersuchende Staat aus eigenem Interesse jene Vereinbarung missachten könnte, verfehlt das Zusicherungsmodell von vorneherein seinen Zweck.77 In die Abwägung auf Seiten des ersuchten Staates sind auch etwaige Manipulationen des Verfahrens und politische Verfolgung des Betroffenen im ersuchenden Staat mit einzubeziehen.78 Neben dem deutschen ordre public besteht auch ein europäischer ordre public in der EU. Jeder Mitgliedstaat achtet die in Art. 6 Abs. 1 EUV genannten Grundsätze und somit auch den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit.79 Der Anwendungsbereich des ordre public lässt sich in typische Fallgruppen einteilen.80 Die nachfolgende Übersicht beschränkt sich auf allgemeingültige Rechtshilfehindernisse und ist nicht als abschließend zu verstehen. Spezielle Regelungen wie die Nichtauslieferung eigener Staatsangehöriger,81 die für die weitere Bearbeitung ohne Bedeutung sind, werden hier nicht wiedergegeben. b) Innerstaatliche Belange des ersuchenden Staates Grundsätzlich ist die Rechtshilfe auf die Unterstützung einer fremden Strafverfolgung gerichtet, allerdings nicht uneingeschränkt. Ausnahmen kann es geben für bloße innerstaatliche Belange eines fremden Staates. Fremde Staaten haben regelmäßig kein Interesse, in innerstaatliche Auseinandersetzungen hineingezogen zu werden.82 Deshalb bleibt es den einzelnen Staaten überlassen, fremde staatliche Belange vom Rechtshilfeverkehr auszunehmen. Solche Rechtshilfehindernisse können sich aus der Verfolgung militärischer, fiskalischer oder politischer Straftaten ergeben. Während eine Auslieferung wegen einer militärischen Straftat gemäß § 7 IRG unzulässig ist, ist 76 BVerfG BVerfGK 14, 372, 378; Gittermann, in: von Olenhusen (Hg.), FS-OLG Celle, 549, 556; eine besondere Form der Zusicherung stellt das freie Geleit dar, Art. 12 EuRhÜbk. 77 BVerfG BVerfGE 63, 215, 224; 109, 38, 62; BVerfGK 2, 165, 172 f.; 3, 159, 163; 6, 13, 19; 6, 334, 343; 13, 557, 561; 14, 372, 377. 78 Hackner / Schierholt, Rechtshilfe, 38. 79 BVerfG BVerfGE 113, 273, 299; siehe hierzu weiter unten 2. Teil 3. Kapitel E. IV. 6. 80 Hackner / Schierholt, Rechtshilfe, 37. 81 Hackner / Schierholt, Rechtshilfe, 112 ff.; Lagodny, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, § 59 IRG, Rn. 23. 82 Hackner / Schierholt, Rechtshilfe, 121; Riedo / Fiolka / Niggli, Schweizerisches Strafprozessrecht, 547; Vogel, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, § 6 IRG, Rn. 24.
1. Kap.: Die klassische Beweisrechtshilfe45
dies im IRG bei der sonstigen Rechtshilfe nicht normiert. Für Rechtshilfe bei militärischen Straftaten ist jedoch der Anwendungsbereich des EuRhÜbk nicht eröffnet, Art. 1 Abs. 2 EuRhÜbk. Die Rechtshilfe für eine fiskalische Straftat kann gemäß Art. 2 lit. a Alt. 3 EuRhÜbk grundsätzlich verweigert werden, was jedoch für den engeren Bereich der EU durch die Verpflichtung zur Rechtshilfe gemäß Art. 50 Abs. 1 SDÜ und Art. 8 EU-RhÜbk relativiert wird. Die Rechtshilfe zur Verfolgung politischer Straftaten und der damit zusammenhängenden Taten ist grundsätzlich unzulässig. Normiert ist dies etwa für die Auslieferung durch § 6 Abs. 1 S. 1 IRG und für die sonstige Rechtshilfe (zumindest fakultativ) in Art. 2 lit. a Alt. 1, 2 EuRhÜbk. Ausgenommen werden davon jedoch regelmäßig Tötungsdelikte und terroristische Akte, vgl. § 6 Abs. 1 S. 2 IRG, Art. 1 EuTerrÜbk. Unzulässig ist die Rechtshilfe zur rechtsstaatswidrigen Verfolgung.83 Erfasst sind hiervon alle Verfolgungen und Bestrafungen oder sonstigen Benachteiligungen einer Person aufgrund ihrer Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Anschauung, vgl. § 6 Abs. 2 IRG. Dies gilt für alle Formen der Rechtshilfe und ist eine Ausprägung des völkerrechtlichen ius cogens.84 Erforderlich sind dafür nicht mehr gesicherte aktuelle Erkenntnisse deutscher Behörden über eine Gefahr der politischen Verfolgung. Vielmehr reichen mittlerweile entsprechende Aussagen von Nichtregierungsorganisationen über ein reales Verfolgungsrisiko aus.85 c) Strafe und Vollzug aa) Drohende Todesstrafe In Deutschland und dem größten Teil Europas ist die Todesstrafe abgeschafft, vgl. Art. 102 GG, Art. 1 6. ZP EMRK, Art. 1 13. ZP EMRK, Art. 2 Abs. 2 GRCh. Dennoch ist ein Rechtshilfehindernis bei drohender Todesstrafe völkergewohnheitsrechtlich nicht anerkannt.86 In Deutschland ist es jedoch gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, Art. 102 i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG unzulässig, einem ersuchenden Staat bei einem Verfahren Rechtshilfe zu leisten, welches die Todesstrafe für den Verfolgten vorsieht.87 83 Hackner / Schierholt, Rechtshilfe, 123; Riedo / Fiolka / Niggli, Schweizerisches Strafprozessrecht, 548, 564 f. 84 Riedo / Fiolka / Niggli, Schweizerisches Strafprozessrecht, 507; Vogel, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 1 IRG, Rn. 96; vgl. zur sonstigen Rechtshilfe auch OLG Hamburg StV 1984, 521. 85 EGMR, Urt. v. 25.9.2012, El Haski . / . Belgien, Az. 649 / 08, NLMR 2012, 314. 86 Vogel, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 1 IRG, Rn. 99. 87 BGH BGHSt 41, 317, 325; Hackner / Schierholt, Rechtshilfe, 127.
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2. Teil: Darstellung
Im Auslieferungsverfahren ist dieses Rechtshilfehindernis gemäß § 8 IRG, Art. 11 EuAlÜbk und Art. 19 Abs. 2 GRCh normiert. Eine entsprechende Normierung fehlt zwar bei der sonstigen Rechtshilfe. Als Sondervorschrift für die Auslieferung lässt sich § 8 IRG weder direkt noch analog anwenden. Aus der Regelungslücke kann jedoch auch nichts Gegenteiliges hergeleitet werden, da die §§ 73, 59 IRG insgesamt eher allgemein gehalten sind.88 Das verfassungsrechtliche Verbot der Unterstützung ausländischer Verfahren mit Todesstrafe gilt vielmehr auch für die sonstige Rechtshilfe. Ermittlungsergebnisse deutscher Behörden dürfen nicht dazu dienen, ein Verfahren mit drohender Todesstrafe zu unterstützen. Ebenso wenig dürfen von Deutschland ausgehende Ersuchen auch bloß mittelbar Anstoß für ein derartiges Verfahren im ersuchten Staat geben.89 Allerdings sind für eine drohende Todesstrafe im anderen Staat – wie bei der rechtsstaatswidrigen Verfolgung – nicht schon eine dahingehende bloße Befürchtung oder ein vager Hinweis ausreichend, sondern zumindest die glaubhafte Aussage einer Nichtregierungsorganisation über ein real bestehendes Risiko.90 bb) Übermäßig harte Bestrafung Ebenso wie die drohende Todesstrafe verstößt auch eine übermäßig harte Bestrafung im ersuchenden Staat zumindest aus deutscher Sicht gegen den ordre public, vgl. Art. 19 Abs. 2 GRCh.91 Nicht nur für die eigene Strafverfolgung, sondern auch für die Hilfe bei fremder Strafverfolgung gilt der aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitende Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Eine Strafe darf nicht willkürlich angedroht oder verhängt werden, sie wäre sonst schlechterdings unangemessen. Die Strafandrohung oder Verurteilung muss vielmehr von der Schwere der Straftat und dem Verschulden des Täters abhängen. Auch Tatbestand und Rechtsfolge bedürfen einer sachgerechten Abstimmung.92 88 Schomburg / Hackner, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRGKommentar, § 8 IRG, § 8 IRG, Rn. 26, anders aber OLG Karlsruhe NStZ 1991, 138, 139. 89 Lagodny, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, § 59 IRG, Rn. 21; BGH NStZ 1999, 634; Hackner / Schierholt, Rechtshilfe, 179; EGMR, Urt. v. 7.7.1989, Soering . / . Vereinigtes Königreich, Az. 14038 / 88, EGMR-E 4, 376, 390 f.; Keller, in: Degener / Heghmanns (Hg.), FS Dencker, 183, 186 f., 198. 90 Gittermann, in: von Olenhusen (Hg.), FS-OLG Celle, 549, 556; EGMR, Urt. v. 25.9.2012, El Haski . / . Belgien, Az. 649 / 08, NLMR 2012, 314. 91 Hackner / Schierholt, Rechtshilfe, 127 f. 92 BVerfG BVerfGE 75, 1, 16.
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Innerstaatliche Rechtsstandards in Deutschland sind indes nicht das Maß aller Dinge. So gelten im internationalen Rechtsverkehr andere Maßstäbe als im rein innerstaatlichen Strafverfahren.93 Eine ausländische Strafe kann zwar bei strenger Beurteilung nicht mehr dem deutschen Verfassungsrecht entsprechen, sofern sie in Deutschland als in hohem Maße hart anzusehen ist. Der internationale Rechtshilfeverkehr bleibt hiervon jedoch zunächst unberührt. Durch seine Integration in die Völkerrechtsordnung der Staatengemeinschaft hat Deutschland fremde Rechtsordnungen und -anschauungen grundsätzlich zu achten (Präambel, Art. 24–26 GG). Ein Rechtshilfehindernis liegt erst vor, wenn der oben genannte unabdingbare Kernbereich der Verhältnismäßigkeit betroffen ist. Dies ist der Fall, wenn die im ersuchenden Staat drohende oder verhängte Strafe unerträglich hart, mithin unter jedem denkbaren Gesichtspunkt unangemessen erschiene, vgl. auch Art. 3 EMRK, Art. 49 Abs. 3 GRCh.94 Die äußerste Grenze der Angemessenheit und damit ihr Kernbereich lassen sich jeweils nur im Einzelfall bestimmen. Wesentliches Element der Abwägung stellt das spezifische Gefährdungspotenzial des jeweiligen Delikts im fremden Staat und dessen damit zusammenhängender Strafrechtspolitik dar. Beispielsweise stellt Drogenkriminalität Anbau- und Transitstaaten vor größere existenzielle Probleme als bloße Abnehmerländer. Dies mag dort etwa die Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafen für bloßen Drogenhandel rechtfertigen.95 Selbst eine lebenslange Freiheitsstrafe ist damit grundsätzlich kein Rechtshilfehindernis. Voraussetzung ist jedoch, dass diese nach einer angemessenen Zeitspanne zur Wahrung der Menschenwürde überprüf- und verkürzbar ist.96 cc) Unmenschliche Behandlung Sofern dem Betroffenen im ersuchenden Staat Folter droht, ist jede Art der Rechtshilfe ausgeschlossen. Dies folgt aus dem Völkergewohnheits93 Keller,
in: Degener / Heghmanns (Hg.), FS Dencker, 183, 186 f. BVerfGE 75, 1, 16 f.; 108, 129, 137; BVerfG NJW 2001, 3110; 2006, 1652, 1653; Schomburg / Hackner, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, § 15 IRG, Rn. 37b; vgl. auch Böse, in: Maiwald / Momsen / Bloy / Rackow (Hg.), FS-Maiwald, 233, 239; Keller, in: Degener / Heghmanns (Hg.), FS Dencker, 183, 199. 95 BVerfG BVerfGK 6, 334, 343. 96 BVerfG NJW 2005, 3483, 3485 f., NStZ-RR 2006, 149, 150; StraFo 2010, 63, 63 ff.; EGMR, Urt. v. 9.7.2013, Vinter u. a. . / . Vereinigtes Königreich, Az. 66069 / 09, 130 / 10, 3896 / 10; Lagodny, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRGKommentar, § 73 IRG, Rn. 60a; Hackner / Schierholt, Rechtshilfe, 128. 94 BVerfG
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2. Teil: Darstellung
recht.97 Entsprechendes gilt, wenn die Strafe im ersuchenden Staat als solche grausam, unmenschlich oder erniedrigend wäre, vgl. Art. 1 Abs. 1 VN-Antifolterkonvention, Art. 19 Abs. 2 GRCh.98 Wurden Beweismittel im ersuchten Staat unter Verwendung von Folter gewonnen, dürfen diese im ersuchenden Staat nicht verwertet werden, vgl. Art. 15 VN-Antifolterkonvention, Art. 3 EMRK, § 136a StPO.99 Für die Annahme einer solchermaßen unmenschlichen Behandlung sind allerdings ebenfalls gesicherte Erkenntnisse erforderlich. 2. Verbot doppelter Strafverfolgung (ne bis in idem) Als weiteres Rechtshilfehindernis wirkt das Verbot doppelter Strafverfolgung (ne bis in idem).100 Danach soll eine rechtswidrige Tat, welche schon in einem anderen Staat verfolgt wird, nicht auch im Inland verfolgt werden dürfen. Für innerstaatliche Urteile gilt dies etwa in Deutschland nach Art. 103 Abs. 3 GG. Daneben gibt es für ausländische Urteile regelmäßig kein entsprechendes Völkergewohnheitsrecht.101 In Europa allerdings ist jener Grundsatz – teilweise mit länderspezifischen Vorbehalten – innerhalb des Europäischen Wirtschaftsraums größtenteils wirksam, vgl. Art. 1 EG-ne bis in idem-Übk, Art. 54 SDÜ, Art. 50 GRCh. Das Prinzip ne bis in idem ist zwar vom ursprünglichen Konzept her eindeutig, in den praktischen Details jedoch sehr umstritten. Streitig ist etwa, ob und inwieweit Verfahrenseinstellungen ebenfalls hiervon erfasst sind.102 Auch der Begriff „derselben“ Tat ist strittig.103 Einigkeit besteht immerhin, dass ein rechtskräftiges Strafurteil des einen Vertragsstaats die Strafverfolgung gegen eine Person in einem anderen Vertragsstaat wegen desselben Lebenssachverhaltes verhindern soll, wobei jedoch wiederum streitig ist, ob erst der Beginn der Strafvollstreckung die Schutzwirkung aktiviert. Im Ergebnis wird Schomburg zuzustimmen sein, dass man zwar 97 BVerfG NJW 1994, 2883; Vogel, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, § 73 IRG, Rn. 70; Lagodny, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRGKommentar, § 73 IRG, Rn. 90 f. 98 BVerfG BVerfGE 75, 1, 16. 99 BVerfG EuGRZ 1996, 324, 328; BVerfGK 2, 82; BGH NStZ 2008, 643, 644; Nagler, StV 2013, 324, 327. 100 Vogel, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 1 IRG, Rn. 90; Schomburg, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, Exkurs: Vor Art. 54–58 SDÜ, Rn. 1 ff. 101 BVerfG BVerfGE 75, 1, 16, 18; Schädel, Bewilligung internationaler Rechtshilfe, 230; Ireland-Piper, ULR 2013, 68, 80 f. 102 Hackner / Schierholt, Rechtshilfe, 255 ff. 103 Radtke, NStZ 2012, 479, 479 ff.; Hackner / Schierholt, Rechtshilfe, 252 ff.
1. Kap.: Die klassische Beweisrechtshilfe49
mit dem Prinzip ne bis in idem einen wichtigen Grundsatz im europäischen Recht verankert habe, jedoch der erforderliche solide Unterbau für die verantwortungsvolle Handhabe dieses Grundrechts derzeit noch fehle.104
E. Formelles Rechtshilferecht I. Zuständigkeit und Geschäftswege 1. Zuständigkeit Die internationale Rechtshilfe gehört zur Pflege der Beziehungen zu auswärtigen Staaten und ist demnach Sache des Bundes, Art. 32 GG i. V. m. Art. 73 Nr. 1 GG.105 Dieser hat die Zuständigkeit im Rechtshilfeverfahren in § 74 IRG geregelt. Grundsätzlich zuständig ist gemäß § 74 Abs. 1 S. 1 IRG das Bundesministerium der Justiz (BMJ) im Einvernehmen mit dem AA und anderen Bundesministerien, deren Geschäftsbereiche von der Rechtshilfe betroffen sind. Gemäß § 2 Abs. 1, 2 Nr. 3 lit. b BfJG106 i. V. m. § 74 Abs. 1 S. 3 IRG delegiert das BMJ seine Zuständigkeit an das BfJ, einen ausgegliederten, ehemaligen Fachbereich des BMJ. Für den Rechtshilfeverkehr mit EU-Mitgliedstaaten und die sonstige Rechtshilfe ganz allgemein hat die Bundesregierung gemäß § 74 Abs. 2 S. 1 IRG i. V. m. ZustV107 ihre Zuständigkeit an die Landesregierungen delegiert. Somit sind grundsätzlich die Landesjustizministerien zuständig. Hiervon haben die meisten wiederum ihre Befugnis mit Erlass an die Landesjustizverwaltung gemäß § 74 Abs. 2 S. 2 IRG subdelegiert. Neben den Landesjustizministerien wird demnach namentlich bei der sonstigen Rechtshilfe die 104 Schomburg, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, Exkurs: Vor Art. 54–58 SDÜ, Rn. 20; Zeder, JRP 2009, 172, 181 f.; Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston vom 15.6.2006, C-467 / 04, Gasparini, Slg. 2006 I-9203, Rz. 108 ff. 105 Vogel, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 1 IRG, Rn. 51; Krüßmann, Transnationales Strafprozessrecht, 532 f.; Güntge, SchlHA 2013, 346, 348. 106 Gesetz über die Errichtung des Bundesamts für Justiz vom 17. Dezember 2006, BGBl. 2006 Teil I S. 3171. 107 Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Landesregierungen von Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen über die Zuständigkeit im Rechtshilfeverkehr mit dem Ausland in strafrechtlichen Angelegenheiten vom 28. April 2004.
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2. Teil: Darstellung
Zuständigkeit des jeweils örtlich zuständigen Generalstaatsanwalts, Leitenden Oberstaatsanwalts oder des Land- bzw. Amtsgerichtspräsidenten begründet, vgl. beispielsweise für Schleswig-Holstein die Allgemeine Verfügung des Ministeriums für Justiz, Frauen, Jugend und Familie vom 2. November 2004.108 Diese innerstaatlichen Zuständigkeitsregelungen treten subsidiär hinter speziellerem Völkerrecht zurück, § 1 Abs. 3 IRG. Das nationale Kompetenzgefüge wird von völkerrechtlichen Übereinkommen nur selten berührt.109 So bestehen in einigen Staaten Zentralbehörden für den Rechtshilfeverkehr, während in anderen, eher föderal strukturierten Staaten wie z. B. Deutschland eine dezentrale Verwaltung bevorzugt wird. 2. Richterliche Unabhängigkeit Innerhalb der Delegationskette bleibt das jeweilige Landesjustizministerium grundsätzlich weisungsbefugt.110 Dies entspricht der hierarchischen Struktur der öffentlichen Verwaltung. Für die Judikative hingegen gilt der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit. Zwischen Weisungsabhängigkeit und richterlicher Unabhängigkeit besteht ein Spannungsfeld, soweit für die Rechtshilfe die Zuständigkeit eines Gerichts oder Richters begründet ist. Grundsätzlich bleibt die Unabhängigkeit der Gerichte auch im Rechtshilfeverfahren unangetastet.111 Unterscheiden muss man jedoch zwischen zwei Stufen der innerstaatlichen Verfahren. Dies gilt sowohl für eingehende als auch für ausgehende Ersuchen. Betrifft die richterliche Entscheidung den Erlass eines ausgehenden Rechtshilfeersuchens oder die Zulässigkeit eines eingehenden Rechtshilfe ersuchens, dient sie der mittelbaren Rechtsfindung und ergeht in einem justiziellen Verfahren. Sie bleibt so von der Unabhängigkeitsgarantie geschützt.112 108 Zuständigkeiten im Rechtshilfeverkehr mit dem Ausland in strafrechtlichen Angelegenheiten (SchlHA 2005, 14). 109 Krüßmann, Transnationales Strafprozessrecht, 532 f.; vgl. zur völkerrecht lichen Spezialität auch 2. Teil 1. Kapitel B. 110 Johnson, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, § 60 IRG, Rn. 6. 111 Vogel / Burchard, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, § 77 IRG, Rn. 23 f. 112 OLG Hamm in Eser / Lagodny / Wilkitzki, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Nr. U 67, 247, 258; BGH DRiZ 1964, 375; DRiZ 1978, 214; NJW 1983, 2769, 2770; Vogel / Burchard, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, § 77 IRG, Rn. 26; siehe zum Rechtscharakter des innerstaatlichen Verfahrens 2. Teil 1. Kapitel C. I.
1. Kap.: Die klassische Beweisrechtshilfe51
Soll dagegen ein Richter – wie der Präsident eines Amts- oder Landgerichts – eingehende Rechtshilfeersuchen bewilligen oder ausgehende übermitteln, ist er in seiner Entscheidung nicht mehr unabhängig. Bei der Übermittlung handelt es sich um ein Verwaltungsverfahren.113 Daran ändert sich nichts, wenn kein Beamter, sondern ein Richter entscheidet. Die Befugnis zur Übermittlung von Rechtshilfeersuchen steht im Grunde der Bundesregierung zu. Delegation und Subdelegation von Ausübungsbefugnissen lassen den Rechtscharakter des Verfahrens unberührt. Jene Befugnisse werden durch Überleitung nicht zu richterlichen.114 Dasselbe gilt für das Bewilligungsverfahren. Durch Weisungen an einen Richter als Bewilligungsbehörde kann nicht die richterliche Unabhängigkeit verletzt werden.115 3. Geschäftswege Für die Übermittlung ein- und ausgehender Rechtshilfeersuchen gibt es unterschiedliche Geschäftswege. Der diplomatische Geschäftsweg betrifft den Geschäftsverkehr zwischen einer Regierung mit einer ihr fremden diplomatischen Vertretung, Nr. 5 Abs. 1 lit. a RiVASt. Er ist die Regel, soweit kein anderer Geschäftsweg zugelassen ist, Nr. 5 Abs. 2 RiVASt. Dabei sind Rechtshilfeersuchen an aufwändige Formalien gebunden, vgl. Nr. 30 Abs. 4 lit. a, Nr. 86 Abs. 4 S. 2, Nr. 93a Abs. 1, Nr. 140 Abs. 3 lit. a RiVASt. Eher selten kommuniziert eine konsularische Vertretung im Gebiet des ersuchten Staates auf dem konsularischen Geschäftsweg mit den Behörden dieses Staates, Nr. 5 Abs. 1 lit. c RiVASt. Dies gilt etwa für die Türkei. Praktisch bedeutsamer (zumindest außerhalb der EU) ist der ministerielle Geschäftsweg.116 Hier treten die obersten Justiz- und Verwaltungsbehörden beider Staaten miteinander in Kontakt, Nr. 5 Abs. 1 lit. b RiVASt. Durch Delegation sind dies in Deutschland in der Regel das BfJ und die jeweiligen Landesjustizverwaltungen. Beim unmittelbaren Geschäftsweg treten die ersuchende und die ersuchte Behörde direkt miteinander in Verbindung, Nr. 5 Abs. 1 lit. d RiVASt. Hier113 Hackner / Schierholt,
Rechtshilfe, 70. Hamm in Eser / Lagodny / Wilkitzki, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Nr. U 67, 247, 259; BGH NJW 1983, 2769. 115 Vogel / Burchard, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, § 77 IRG, Rn. 25; Vogel, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 1 IRG, Rn. 115; siehe zum Rechtscharakter des innerstaatlichen Verfahrens 2. Teil 1. Kapitel C. I. 116 Vogel, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 1 IRG, Rn. 121. 114 OLG
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2. Teil: Darstellung
bei handelt es sich um den einfachsten und schnellsten Geschäftsweg,117 da neben dem Entstehen eines unmittelbaren Kontakts auf „Arbeitsebene“ auch einige innerstaatliche Vorlage- und Unterrichtungspflichten entfallen, Nr. 30 Abs. 4, Nr. 144 Abs. 1, Nr. 146 Abs. 1 S. 1 RiVASt. Der unmittelbare Geschäftsweg stellt jedenfalls im Verhältnis zu Deutschlands Anrainerstaaten und dem EU-Gebiet keine Besonderheit dar.118 Für den Rechtshilfeverkehr zwischen den EU-Mitgliedstaaten ist der unmittel bare Geschäftsweg sogar die Regel, Art. 6 Abs. 1 S. 2 EU-RhÜbk.119 Öffnungsklauseln waren bereits 1959 im EuRhÜbk bekannt, vgl. Art. 15 EuRhÜbk. In diesem Rechtsrahmen wurde in den letzten Jahrzehnten in bilateralen Ergänzungsverträgen mit Italien, den Niederlanden, Österreich, Tschechien, Polen und der Schweiz der unmittelbare Geschäftsweg zwischen Justizbehörden vereinbart.120 Für das Schengengebiet wird er gemäß Art. 53 Abs. 1 SDÜ eröffnet. II. Verfahrensfragen 1. Verfahren für eingehende Ersuchen a) Allgemeiner Ablauf Man unterscheidet beim innerstaatlichen Verfahren zwischen der Leistungs- und der Vornahmeermächtigung. Während für die Leistungsermächtigung überprüft wird, ob gegenüber dem ersuchenden Staat Rechtshilfe überhaupt geleistet werden darf, betrifft die Vornahmeermächtigung die Frage, ob und gegebenenfalls wie im konkreten Fall geholfen werden darf. Dies entspricht hier dem allgemeinen Strafverfahrensrecht und ist keine Besonderheit der Rechtshilfe, vgl. §§ 59 Abs. 3, 77 Abs. 1 IRG, Nr. 22 Abs. 1 S. 1 RiVASt.121 117 Hackner / Schierholt,
Rechtshilfe, 40. noch Mavany, wonach für Rechtshilfeersuchen der unmittelbare Geschäftsweg unzulässig ist, Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 37; den direkten Geschäftsweg beschreibt er als Rennstrecke im Vergleich zur trägen Übermittlung auf dem mittelbaren Geschäftsweg, a. a. O., 112. 119 Beck, Weltrisikogesellschaft, Rn. 1; Krüßmann, Transnationales Strafprozessrecht, 451; Ligeti, Strafrechtliche Zusammenarbeit, 150; Zeder, ÖJZ 2009, 992, 995; Ahlbrecht, StV 2013, 114, 119. 120 Art. IX Abs. 1 I-ErgV EuRhÜbk, Art. IX Abs. 1 NL-ErgV EuRhÜbk, Art. XII Abs. 1 A-ErgV EuRhÜbk, Art. 11 Abs. 1 CZ-ErgV EuRhÜbk, Art. 10 Pl-ErgV EuRhÜbk, Art. VIII Abs. 1 CH-ErgV EuRhÜbk. 121 Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, Einleitung, Rn. 44 ff.; Lagodny, in: Schomburg / Lagodny / 118 Anders
1. Kap.: Die klassische Beweisrechtshilfe53
Die Leistungsermächtigung gliedert sich wiederum in zwei Abschnitte. Im ersten Teil – dem Zulässigkeitsverfahren – wird die Rechtmäßigkeit einer Rechtshilfemaßnahme überprüft. Im zweiten Schritt wird insbesondere die Zweckmäßigkeit der Rechtshilfeleistung geprüft.122 Dies ist das Bewilligungsverfahren, in dem die Bewilligungsbehörde entscheidet, vgl. Nr. 7 Abs. 1 lit. a RiVASt. In der Regel im Anschluss entscheidet im Vornahmeverfahren die Vornahmebehörde bzw. das Vornahmegericht, vgl. Nr. 7 Abs. 1 lit. c RiVASt; § 61 Abs. 1 S. 1 IRG.123 Neben den Bewilligungs- und Vornahmebehörden gibt es noch die Prüfungsbehörde, welche über die Erledigung und Abfassung der ein- und ausgehenden Rechtshilfeersuchen wacht, Nr. 7 Abs. 1 lit. b, Nr. 23 Abs. 1 RiVASt. b) Zulässigkeitsverfahren Die Zulässigkeitsverfahren sind je nach Art der Rechtshilfe unterschiedlich ausgestaltet. Für eingehende Auslieferungsersuchen ist ein gerichtliches Zulässigkeitsverfahren vorgesehen, §§ 12 ff. IRG. Zuständig sind die Oberlandesgerichte, §§ 13 f. IRG. Der Gerichtsbeschluss über die Zulässigkeit der Auslieferung erfolgt vor deren Bewilligung.124 Im vereinfachten Auslieferungsverfahren, § 41 IRG, wird auf ein gerichtliches Zulässigkeitsverfahren verzichtet. Lediglich summarisch prüft die Bewilligungsbehörde die Zulässigkeit eines entsprechenden Ersuchens.125 Ein gerichtliches Zulässigkeitsverfahren – allerdings unter Mitwirkung der Landgerichte – ist auch der Bewilligung der Rechtshilfe in Form von Vollstreckungshilfe, § 56 IRG, vorgeschaltet.126 Eine Besonderheit der Vollstreckungshilfe ist im Zulässigkeitsverfahren integriert. Im selben Verfahren Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 59 IRG, Rn. 6 ff.; Lagodny, in: Sieber / Brüner / Satzger / von Heintschel-Heinegg (Hg.), Europäisches Strafrecht, 491, 495 f.; Hackner, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, Einführung in den Hauptteil I, Rn. 77 ff.; Güntge, SchlHA 2013, 346, 347. 122 Vogel, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 1 IRG, Rn. 102; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 175. 123 Lagodny, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 59 IRG, Rn. 15. 124 Hackner / Schierholt, Rechtshilfe, 66. 125 Hackner / Schierholt, Rechtshilfe, 97 f. 126 Vogel spricht in diesem Zusammenhang von einem präventiven Offizialverfahren, Vogel, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 1 IRG, Rn. 104.
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2. Teil: Darstellung
wird nicht nur die Zulässigkeit der Vollstreckungshilfe, das „Ob“ der Vollstreckung, sondern auch die Art der Anerkennung und Vollstreckung einer ausländischen Sanktion, das „Wie“ der Vollstreckung, geprüft, vgl. Art. 1 ÜberstÜbk; Art. 1 EG-VollstrÜbk. Grundsätzlich wird die mit einer solchen ausländischen Gerichtsentscheidung verhängte Sanktion nicht unmittelbar von den deutschen Justizbehörden vollstreckt, sondern in eine dem deutschen Recht entsprechende Sanktion umgewandelt. Dies geschieht im Zuge der Vollstreckbarkeitserklärung des ausländischen Urteils im sogenannten Exequaturverfahren, § 54 Abs. 1 S. 1, 2 IRG.127 Neben der Umwandlung der ausländischen Entscheidung besteht noch eine andere Art der Anerkennung und Vollstreckung eines ausländischen Urteils. Hierbei handelt es sich um die fortgesetzte bzw. unmittelbare Vollstreckung, vgl. Art. 10 Abs. 1 ÜberstÜbk; Art. 8 Abs. 1 lit. a Alt. 1 EGVollstrÜbk. Eine ausländische Sanktion wird hier ohne Umwandlung direkt oder leicht angepasst als solche fortgeführt.128 Soweit sich der Urteilstaat nicht auf eine der beiden Umsetzungsformen festgelegt hat, hat der Vollstreckungsstaat ein Wahlrecht. Deutschland bevorzugt bei eingehenden Ersuchen nach Möglichkeit das Umwandlungsverfahren. Bei der sonstigen Rechtshilfe besteht in der Regel kein gerichtliches Zulässigkeitsverfahren. Hier prüft die Bewilligungsbehörde sowohl die Zulässigkeit als auch die Zweckmäßigkeit der Rechtshilfe, vgl. Nr. 22 Abs. 1 S. 1, Nr. 19 Abs. 3 RiVASt.129 Das Zulässigkeitsverfahren ist grundsätzlich entbehrlich, wenn die Bewilligungsbehörde die Bewilligung der Rechtshilfe schon im Vorfeld abgelehnt hat oder ablehnen wird. Denn wenn sie keine Rechtshilfe leisten will, kann dahinstehen, ob sie diese andernfalls hätte leisten dürfen. Dem 127 Hackner / Schierholt, Rechtshilfe, 160 f.; Hackner, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, Einführung in den Hauptteil I, Rn. 89; Schomburg / Hackner, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, Art. 9 ÜberstÜbk, Rn. 4 ff.; Schomburg / Hackner, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, § 54 IRG, Rn. 1 ff.; Grotz, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, § 54 IRG, Rn. 1 ff.; Grotz, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 48 IRG, Rn. 20; so auch in der Schweiz: Riedo / Fiolka / Niggli, Schweizerisches Strafprozessrecht, 624; siehe unten 2. Teil 2. Kapitel B. II. 2. a). 128 Schomburg / Hackner, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRGKommentar, Art. 9 ÜberstÜbk, Rn. 4 ff. 129 Vogel, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 1 IRG, Rn. 104; Lagodny, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 59 IRG, Rn. 6 ff.; Mavany geht fehl, wenn er behauptet, dass auch bei der sonstigen Rechtshilfe das OLG im Rahmen des Zulässigkeitsverfahrens überprüft, ob die materiellen Unterstützungsvoraussetzungen vorliegen und keine Rechtshilfehindernisse vorliegen, Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 37.
1. Kap.: Die klassische Beweisrechtshilfe55
kann im Einzelfall lediglich das Feststellungsinteresse des Verfolgten entgegenstehen.130 c) Bewilligungsverfahren In der Regel wird aber im Bewilligungsverfahren erst nach dem Zulässigkeitsverfahren entschieden.131 Für die Bewilligungsbehörde ist es zumeist effizienter, die Entscheidung im Zulässigkeitsverfahren abzuwarten, da eine negative gerichtliche Entscheidung über die Zulässigkeit bindende Wirkung hat, vgl. §§ 12, 45 Abs. 3, 56 Abs. 1, 61 Abs. 4 IRG.132 Im Bewilligungsverfahren kann die Bewilligungsbehörde die ersuchte Rechtshilfe bewilligen oder eben ablehnen. Aufgrund des zwischenstaatlichen Charakters der Rechtshilfe kann sie sich bei der Ablehnung der Bewilligung sowohl auf rechtliche als auch auf politische Gründe stützen. Im vertragslosen Rechtshilfeverkehr besteht völkerrechtlich aufgrund der staatlichen Souveränität für die Bewilligungsbehörde ein möglichst weiter Spielraum, den sie grundsätzlich nach freiem Ermessen ausschöpfen kann, Nr. 16 Abs. 2 RiVASt.133 Ausgeschlossen sind jedoch im Hinblick auf Art. 3 GG völlige Willkürakte.134 Auf rein rechtlicher Ebene kann die Bewilligungsbehörde sich nicht auf eine etwaige gerichtliche Zulässigkeitsprüfung verlassen, sondern muss in eigener Verantwortung die Zulässigkeit der Rechtshilfe prüfen.135
130 Lagodny, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, § 12 IRG, Rn. 11, 19. 131 Hackner / Schierholt, Rechtshilfe, 70. 132 Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, Einleitung, Rn. 168; Hackner / Schierholt, Rechtshilfe, 70; Vogel, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 1 IRG, Rn. 103; Lagodny spricht hier von einer außenpolitischen Entlastung der Bewilligungsbehörde, Lagodny, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 59 IRG, Rn. 43; Güntge, SchlHA 2013, 346, 347; so bereits allgemein von Liszt, in: von Liszt (Hg.), Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, 90, 105 f. 133 Lagodny, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, § 12 IRG, Rn. 12, 14; Wilkitzki, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, § 59 IRG, Rn. 15; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 175. 134 Lagodny, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, § 12 IRG, Rn. 12; Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, Einleitung, 169; Vogel, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 1 IRG, Rn. 114. 135 Lagodny, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, § 12 IRG, Rn. 8 f.; Hackner / Schierholt, Rechtshilfe, 71; Vogel, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 1 IRG, Rn. 114.
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Im vertraglichen Rechtshilfeverkehr muss die Bewilligungsbehörde prüfen, ob entsprechende Verpflichtungen zur Leistung von Rechtshilfe bestehen. Gegebenenfalls hat sie nur noch ein reduziertes Ermessen, Nr. 16 Abs. 1, Nr. 3 Abs. 1 RiVASt.136 d) Vornahmeverfahren Im Vornahmeverfahren führt die Vornahmebehörde das bewilligte fremde Ersuchen aus. Vornahmebehörde ist diejenige Institution, welche auch im deutschen Strafverfahren eine entsprechende Verfahrenshandlung durchführen würde. Dabei folgt sie dem Strafverfahrensrecht, als ob das Ersuchen von einer deutschen Behörde gestellt worden wäre, §§ 59 Abs. 3, 77 Abs. 1 IRG, Nr. 22 Abs. 1 S. 1 RiVASt.137 Ausnahmsweise kann die Vornahmebehörde das Ersuchen vor der Bewilligung der Rechtshilfe erledigen. Dies bietet sich jedoch allein in einfach gelagerten und dringenden Fällen an, in denen die Erledigungsstücke vorrätig gehalten und noch nicht übermittelt werden, vgl. §§ 16, 67 IRG.138 Grundsätzlich soll die Erledigung erst nach der Bewilligung erfolgen, Nr. 22 Abs. 2 RiVASt. Die Vornahmebehörde prüft neben der Zulässigkeit einzelner Maßnahmen wiederum die Zulässigkeit der Rechtshilfe.139 Dabei ist sie jedoch an die Entscheidung der Bewilligungsbehörde gebunden, § 60 S. 1 IRG, Nr. 21 Abs. 1 RiVASt.140 Dies gilt aufgrund der richterlichen Unabhängigkeit nicht für Vornahmegerichte, vgl. §§ 60 S. 2, 61 Abs. 1 S. 1 IRG, Nr. 21 Abs. 1 S. 2 RiVASt.141 Durch Delegation sind Vornahme- und Bewilligungsbehörde vielfach identisch, vgl. Nr. 7 Abs. 2 S. 3, Nr. 76 Abs. 2 RiVASt.142 Vornahmegerichte sind neben den die Rechtshilfe unmittelbar ausführenden Gerichten auch diejenigen, welche eine Zwangsmaßnahme im Vornah136 Hackner / Schierholt,
Rechtshilfe, 70 f. Rechtshilfe, 39; Hackner, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, Einführung in den Hauptteil I, Rn. 77; Lagodny, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 59 IRG, Rn. 14; Johnson, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, § 60 IRG, Rn. 9. 138 Wilkitzki, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, § 60 IRG, Rn. 13; Johnson, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, § 60 IRG, Rn. 10 f. 139 Hackner / Schierholt, Rechtshilfe, 39; Johnson, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, § 60 IRG, Rn. 2. 140 Vogel, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 1 IRG, Rn. 104; Wilkitzki, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, § 60 IRG, Rn. 11. 141 Wilkitzki, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, § 60 IRG, Rn. 14; Johnson, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, § 61 IRG, Rn. 5. 142 Hackner / Schierholt, Rechtshilfe, 39. 137 Hackner / Schierholt,
1. Kap.: Die klassische Beweisrechtshilfe57
meverfahren anordnen sollen, vgl. §§ 61 Abs. 1 S. 1, 67 Abs. 3 IRG, Nr. 75, 77 Abs. 1 RiVASt.143 2. Fragen der Beweiserhebung und -verwertung a) Fremdrechtsanwendung Für das innerstaatliche Verfahren der Rechtshilfe gilt grundsätzlich das Recht des jeweils ausführenden Staates (locus regit actum).144 Dieser Grundsatz muss in einem Rechtshilfeübereinkommen nicht ausdrücklich erwähnt werden, findet dort jedoch häufig Bestätigung, vgl. Art. 3 Abs. 1 EuRhÜbk, Art. 22 EuAlÜbk.145 Insbesondere bei der Beweisrechtshilfe können sich im Bereich der Beweisverwertung im ersuchenden Staat Probleme ergeben. Die Rechtshilfe übereinkommen enthalten keine umfassenden Regelungen zur Beweisverwertung, dies bleibt den jeweiligen Vertragsstaaten selbst überlassen. Einzelne Ausnahmen finden sich überwiegend bei der zweckgebundenen Überlassung von Erkenntnissen, vgl. Art. 39 Abs. 2 SDÜ.146 Der fremde Verfahrensgang zur Gewinnung eines ersuchten Beweismittels entspricht häufig nicht den im ersuchenden Staat notwendigen Erfordernissen. In der Staatenpraxis ist man jedoch schon seit über einem Jahrhundert bemüht, solche fremden, Makel behafteten147 Beweismittel auch im inländischen Strafverfahren nutzen zu können. Fehlt eine gewisse Regelung im fremden Verfahren, welche im ersuchenden Staat vorhanden ist, ist eine Nichtanwendung dieser Regelung nach nationalem Recht in der Regel unbeachtlich, solange nur das fremde Recht ordnungsgemäß angewendet wur143 Johnson, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, § 61 IRG, Rn. 6; Lagodny, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 59 IRG, Rn. 15, 39; Vogler, GA 1989, 541, 541; a. A. OLG Stuttgart NJW 1989, 3104; die Einordnung des Beschwerdegerichts ist strittig, ablehnend KG JR 1998, 83; befürwortend OLG Dresden NStZ-RR 2011, 146. 144 Vogler, ZStW 1993, 3, 18; Vogel, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 1 IRG, Rn. 110; Klip, European criminal law, 324 f.; Conrad, Beiderseitige Strafbarkeit, 225. 145 Vogel, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 1 IRG, Rn. 102. 146 BGH BGHSt 34, 334, 342 ff.; Nagler, StV 2013, 324, 325; im Verhältnis zu Österreich beachte noch Art. 7 Abs. 5 D-A PolV und § 39 Abs. 1 S. 1 SDÜ i. V. m. Art. 7 Abs. 2 D-A PolV; vgl. allgemein zur völkerrechtswidrigen Erlangung von Erkenntnissen, Vogel, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 1 IRG, Rn. 23. 147 Burchard, in: Beck / Burchard / Fateh-Moghadam (Hg.), Strafrechtsvergleichung, 275, 281.
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2. Teil: Darstellung
de, vgl. Nr. 26 S. 1 HS. 2 RiVASt. Neben dem deutschen Recht148 richten sich in der EU zumindest auch das österreichische,149 spanische,150 englische, walisische151 und ungarische152 Recht nach diesem Grundsatz. Die EU befürwortet und unterstützt diese Lösung.153 Dies gilt sogar ausnahmsweise bei einem Verstoß gegen fremdes Prozessrecht, solange die einzelne fremde Regelung strenger als die eigene ist.154 Eine andere – eher pragmatischere – Lösung wird mit der Fremdrechtsanwendung verfolgt. Hier wird der ersuchte Staat darum gebeten, die Formvorschriften des ersuchenden Staates bei der Erledigung des Rechtshilfeersuchens einzuhalten. Vereinzelt ist der ersuchte Staat sogar grundsätzlich verpflichtet, das Recht des ersuchenden Staates bei der Erledigung des Rechtshilfeersuchens anzuwenden (forum regit actum). Seine enge Grenze findet dieses Prinzip gegenwärtig in den wesentlichen Rechtsgrundsätzen des ersuchten Staates, vgl. Art. 3 Abs. 2 EuRhÜbk, Art. 8 2. ZP EuRhÜbk, Art. 4 Abs. 1 EU-RhÜbk, Art. 7 Abs. 12 VN-SuchtstoffÜbk.155 In der Regel kommen deutsche Justizbehörden nach Nr. 22 Abs. 1 S. 2 RiVASt den besonderen Wünschen der ersuchenden Stelle nach, soweit dem nicht zwingende Vorschriften entgegenstehen. Umgekehrt erwartet das die deutsche Seite auch von ausländischen Behörden, vgl. Nr. 26 S. 2 RiVASt. 148 In Deutschland ständige Rechtsprechung RG GA 47 (1900), 164; RGSt 11, 391; 15, 409; 29, 236; 46, 50; BGH BGHSt 1, 219; 2, 300, 304; 7, 15; 35, 82; 42, 86, 90; 46, 93, 106; 51, 150, 155 f.; GA 1964, 176; 1976, 218, 219; 1982, 40; StV 1981, 393; 1984, 455; 2001, 66; 2001, 663; NStZ 1983, 181; 1985, 376; 1994, 595; 1996, 609; 2010, 410, 411 ff.; NStZ-RR 2002, 67; Schomburg / Hackner, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 68 IRG, Rn. 11 ff. 149 OGH JBl 2005, 601. 150 Bachmaier Winter, ZIS 2010, 580, 588, Bachmaier Winter verweist hierbei auf zwei entsprechende Urteile des Tribunal Supremo. Sala de lo Penal vom 19.1.1995 – STS 140 / 1995 und vom 20.9.2005, STS 5375 / 2005; Gascón Inchausti, in: Ruggeri (Hg.), Transnational inquiries, 475, 482 f. 151 Vgl. Vogler, in: Ruggeri (Hg.), Transnational inquiries, 387, 393 f. 152 Vgl. Bárd, in: Höpfel / Huber (Hg.), Beweisverbote, 223, 229 ff. 153 Tampere Programm, Ratsdokument Nr. SN 200 / 99, vom 15. / 16.10.1999, 9; Grünbuch vom 11.12.2001, KOM(2001) 715 endgültig, S. 64 f. 154 BGH GA 1976, 218, 219; NStZ 1985, 376. 155 Vogel, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 1 IRG, Rn. 110; Gleß, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, Art. 8 2. ZPEuRhÜbk, Rn. 1, 2; Gleß, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRGKommentar, Kurzübersicht 2. ZP-EuRhÜbk, Rn. 1; Gleß, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 611, 619; Ahlbrecht, StV 2013, 114, 119 f.; Böse, ZStW 2002, 148, 181 f.; Juppe, Die gegenseitige Anerkennung, 156; Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 63; Nagler, StV 2013, 324, 325; Ruggeri, in: Ruggeri (Hg.), Transnational inquiries, 279, 300 f.
1. Kap.: Die klassische Beweisrechtshilfe59
In diesem Zusammenhang eröffnen sich auf beiden Seiten jeweils wesentliche Fehlerquellen, welche die Verwertbarkeit im ersuchenden Staat beeinträchtigen können:156 Entweder werden fehlerhafte ausländische Ersuchen nach dem Recht des ersuchten Staates im Inland ordnungsgemäß umgesetzt oder es werden ordnungsgemäße Ersuchen im ersuchten Staat fehlerhaft umgesetzt. Ein Beispiel für das fehlerhafte, aber ordnungsgemäß umgesetzte Ersuchen wäre etwa die Nichtbeachtung ausländischer Teilnahmerechte von Verfahrensbeteiligten, sofern das Ersuchen darauf keinen Hinweis enthielt. Dagegen wäre ein ordnungsgemäßes Ersuchen fehlerhaft ausgeführt, wenn danach der zu vernehmenden Auskunftsperson eine detaillierte Belehrung nach dem Recht des ersuchenden Staates vorzulegen gewesen wäre und dies unterbleibt. Geht das Ersuchen von Deutschland aus, so kann ein wesentlicher Verstoß gegen deutsche Rechtsgrundsätze vorliegen. Maßstab ist hier der deutsche ordre public.157 In diese Richtung weist auch die Rechtsprechung zur EMRK. Nach dem Beschluss des 2. Strafsenats des BGH vom 2. März 2010 führt allein ein Verstoß gegen die EMRK noch nicht zu einem Beweisverwertungsverbot. Der Verfahrensgang im ersuchten Staat werde nicht Deutschland als ersuchendem Staat allgemein zugerechnet, da die EMRK kein einheitliches Verfahrensrecht der Vertragsstaaten mit einer unbeschränkten Zurechnung schaffen würde. Zumindest sei das „Makel behaftete“ übermittelte Beweismittel verwertbar, wenn das Gericht seine Überzeugung nicht allein darauf gestützt hat. An die Beweiswürdigung seien so erhöhte Anforderungen gestellt.158 Im Hinblick 156 BGH BGHSt 58, 32, 37 f., nach dem BGH wird sich ein inländisches Beweisverwertungsverbot grundsätzlich aus der Verletzung der maßgeblichen inländischen Beweiserhebungsregeln ergeben, wenn der ersuchte ausländische Staat rechtshilferechtlich zur Vornahme der erbetenen Beweiserhebung nach dem Recht des ersuchenden Staates verpflichtet ist; ebenso, wenn auch weniger deutlich BGH BGHSt 42, 86, 89 f. 157 Schomburg / Hackner, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRGKommentar, Vor § 68 IRG, Rn. 11c. 158 BGH BGHSt 55, 70, 77 f., Zöller, ZJS 2010, 441, 444 ff., nach Zöller haften die Konventionsstaaten nur für eigene, nicht aber auch für fremde Konventionsverletzungen. … Eine „Schicksalsgemeinschaft“, wonach jeder Konventionsstaat im Wege der Zurechnung auch für Konventionsverletzungen aller anderen EMRK-Mitgliedstaaten verantwortlich wäre, existiere nicht … und sei ausgeschlossen; Mosbacher, JuS 2010, 689, 692 f.; grundsätzlich zustimmmend: Stiebig, JR 2011, 172, 174 ff.; Stiebig, ZJS 2012, 614, 614 ff.; sehr kritisch: Schramm, HRRS 2011, 156, 159 f., nach Schramm ist zumindest die konventionswidrige Zeugenvernehmung im Wege der Rechtshilfe von der deutschen Justiz durch den Antrag auf Rechtshilfe sozusagen sehenden Auges verursacht worden. … Der Antrag zur Zeugenvernehmung im Ausland begründe somit eine Mitverursachung und damit Mitverantwortung der deutschen Justiz für die unzureichende Zeugenvernehmung in der Türkei. … Bei einem solchen Beweismitteltransfer müsse auch die deutsche Justiz ihre eige-
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2. Teil: Darstellung
auf das Urteil des EGMR im Fall Stojkovic159 ist diese Rechtsmeinung des BGH jedoch zu präzisieren: Dort hielt der zuständige französische Untersuchungsrichter den Betroffenen für tatverdächtig und ersuchte in Belgien um dessen Vernehmung. Hierbei sollte der Betroffene gemäß dem französischen Recht in Gegenwart eines Anwalts aussagen (témoin assisté). Im Einklang mit dem belgischen Recht wurde dies jedoch unterlassen. Dennoch wurde die Vernehmung im französischen Strafverfahren verwertet. Der EGMR rügte hier einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3 lit. c i. V. m. Art. 6 Abs. 1 EMRK, da das Verfahren im Ganzen nicht mehr dem Grundsatz des fairen Verfahrens entspreche. Frankreich hätte hier ex post für einen wirksamen Ausgleich suchen müssen. Folgt man jener Entscheidung des EGMR, so liegt allerdings von der Wirkung her durchaus eine Zurechnung vor.160 Auch der 1. Strafsenat des BGH scheint dieser Ansicht zu folgen. In seinem Beschluss vom 21. November 2012 lehnt er zwar im konkreten Fall ein Beweisverwertungsverbot aufgrund der Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahrens im ersuchten Fall ab, weist jedoch allgemein auf die Möglichkeit eines solchen Verbots hin.161 Im Hinblick auf eine immer engere justizielle Zusammenarbeit in der EU sollte für den Bereich der Fremdrechtsanwendung und in diesem Zusammenhang auch der Beweisverwertung ein einheitliches Recht geschaffen werden, um einen effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten. ne originäre Bindung an die EMRK beachten. Soweit die EMRK dabei Aussagen treffe, die für alle Mitgliedstaaten maßgeblich seien, stelle sie insoweit in der Tat ein einheitliches Verfahrensrecht der einzelnen Mitgliedstaaten dar; anderer Ansicht als der BGH: Sommer, StraFo 2010, 284, 284, nach Sommer trägt ein deutsches Strafgericht Verantwortung für den Umgang mit konventionswidrigen Beweisergebnissen. … Ein Ausgleich der ersatzlosen Ignorierung des Konfrontationsrechts durch besonders hohe Anforderungen an die Beweiswürdigung sei ein rechtslogisch tief verwurzeltes Paradoxon, das auch durch Wiederholungen und verfassungsgerichtliche Absegnung nicht aufgelöst werde. … Die Fortschreibung der Beweiswürdigungslösung sei der durchsichtige Versuch, an die erkennbare Verletzung eines menschenrechtlichen Verteidigungsrechts keine weiteren verfahrensmäßigen Konsequenzen knüpfen zu müssen. 159 EGMR, Stojkovic . / . Frankreich und Belgien, Urt. v. 27.10.2011, Az. 25303 / 08, NJW 2012, 3709; vgl. auch EGMR, Soering . / . Vereinigtes Königreich, Urt. v. 7.7.1989, Az. 14038 / 88, Series A Nr. 161, Rn. 91 In so far as any liability under the Convention is or may be incurred, it is liability incurred by the extraditing Contracting State by reason of its having taken action which has a direct consequence the exposure of an individual to proscribed ill-treatment. 160 Esser / Gaede / Tsambikakis, NStZ 2012, 619, 623; Nagler, StV 2013, 324, 325 f.; Gleß, ULR 2013, 90, 93 f., Gleß spricht hier von shared responsibilities. 161 BGH BGHSt 58, 32, 40 f., der 1. Strafsenat des BGH betont hier, dass es dabei darauf ankomme, ob unter der Geltung der inländischen Rechtsordnung eine zuverlässige Beweisführung in einem fairen Verfahren möglich sei.
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b) Forum shopping der Strafverfolgung Das Verfahren für ausgehende Ersuchen richtet sich grundsätzlich nach dem sechsten Teil des IRG. Die zuständige Stelle muss befugt sein, ein Rechtshilfeersuchen an das Ausland zu stellen. Fraglich ist, inwieweit die gewünschte Maßnahme auch im ersuchenden Staat zulässig sein müsste. Die Rechtslage etwa zu den Eingriffsvoraussetzungen der Telefonüberwachung in Europa ist sehr unterschiedlich. Ist es den Justizbehörden in Deutschland so nicht möglich, einen Verdächtigen abzuhören, könnte sich die Rechtslage im Ausland für die dortige Strafverfolgung günstiger darstellen. Denkbar wäre in einem grenzüberschreitenden Fall, dass die deutsche Justizbehörde den fremden Staat um eine schwerwiegende Eingriffsmaßnahme ersucht, welche ihr aufgrund der rechtlichen Situation in Deutschland verwehrt bliebe. Diesen Vorgang nennt man auch forum shopping. Weder das IRG noch die RiVASt treffen hierzu ausdrückliche Aussagen.162 Man geht jedoch davon aus, dass ein Rechtshilfeersuchen an das Ausland unzulässig wäre, sollte ein Beweiserhebungsverbot im Inland bestehen. Hiermit sollen Umgehungsversuche im Wege der Rechtshilfe ausgeschlossen werden, vgl. § 66 Abs. 2 Nr. 2 IRG.163 Dieser Grundsatz ist im kontinentaleuropäischen Rechtskreis herrschend.164 III. Form Für den Rechtshilfeverkehr muss das Rechtshilfeersuchen gewissen formellen und inhaltlichen Vorgaben entsprechen. Die formellen Standards hängen meistens vom ersuchten Staat ab. Innerhalb der EU sind diese Standards jedoch erheblich gesenkt worden. Während nach dem DAG noch eine beglaubigte Abschrift der Akten des Ausgangsfalls erforderlich war, ist dies nach dem IRG nicht mehr nötig. Neben der Schriftform – einschließlich Telefax – soll sogar das mündliche Ersuchen 162 So auch § 59 Abs. 3 IRG, dem Wortlaut nach allerdings nur für eingehende Ersuchen. 163 BGH NStZ 1988, 563 f. Anm. Naucke; BayObLGSt NF 1, 113 (Nr. 25); Schomburg / Hackner, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 68 IRG, Rn. 11c; Krüßmann, Transnationales Strafprozessrecht, 289; Hackner / Schierholt, Rechtshilfe, 6 f.; Nagler, StV 2013, 324, 326. 164 Krüßmann, Transnationales Strafprozessrecht, 283 ff.; dies gilt insbesondere für die Schweiz nach Art. 30 Abs. 1 IRSG, für Italien nach Art. 727 CPP und für die Niederlande, vgl. Haentjens, in: Swart / Klip (Hg.), International Criminal Law, 123, 142; im amerikanischen Rechtskreis gilt teilweise das Gegenteil, vgl. Supreme Court of Canada C.C.C. 1998, 124, 129 Schreiber vs. Canada (Attorney General).
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ausreichen können.165 Der deutschen Praxis entspricht jedoch das schriftliche Ersuchen, vgl. Nr. 27 RiVASt. Für Rückfragen außerhalb des Ersuchens wird aber gerne auch informell auf das Telefon, E-Mail, Skype und das Intranet des EJN zurückgegriffen.166 Formell zulässig sind jedoch nur Ersuchen einer zuständigen Justizbehörde, vgl. Nr. 4 Abs. 1 HS. 1 RiVASt. Auch an den Inhalt des Ersuchens werden keine allzu hohen Maßstäbe mehr angelegt. Ausreichend ist hier, wenn der ersuchende Staat die dem Ersuchen zugrundeliegende Straftat schlüssig darstellt.167 Es gilt hier grundsätzlich das Vertrauensprinzip, welches eine Prüfung des Schuldverdachts in der Regel erübrigt.168 Mindestanforderungen können jedoch vertraglich vereinbart worden sein, vgl. Art. 14 EuRhÜbk. In der Beweisrechtshilfe ist allein die potenzielle Bedeutung des gewünschten Beweismittels darzu stellen. Gefragt ist hier Plausibilität. Dafür reicht es aus, dass die Beweiserheblichkeit der von dem Ersuchen umfassten Beweismittel nicht ausgeschlossen ist, vgl. §§ 66 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 2, 67 Abs. 1, 2 IRG. Den ausländischen Justizbehörden ist eine sichere Entscheidung über eine konkrete Beweiseignung – aus der Ferne und ohne Ortskenntnis – oft nicht möglich. Erst aufgrund der übermittelten Erkenntnisse könnten sich unter Umständen Anknüpfungspunkte für präzisere Folgeersuchen ergeben.169 Unerwünscht sind jedoch sogenannte fishing-expeditions, vgl. Art. 1 Abs. 4 165 Wilkitzki, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, § 59 IRG, Rn. 4; vgl. zum alten Recht BGH BGHSt 24, 158. 166 Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, Einleitung, Rn. 68, 224; Gittermann, in: von Olenhusen (Hg.), FS-OLG Celle, 549, 552 f., OLG Celle, Beschl. v. 16.2.2005 – 1 Ars 1 / 05, NStZ-RR 2005, 215; StV 2005, 215. 167 BVerfG BVerfGK 16, 283, 291. 168 Hackner / Schierholt, Rechtshilfe, 67 ff.; Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, Einleitung, Rn. 134; Hackner, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, Einführung in den Hauptteil I, Rn. 59; Lagodny, Schomburg und Hackner sprechen hier von kontinentaler Tradition, Lagodny / Schomburg / Hackner, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, § 10 IRG, Rn. 5, 29; Wilkitzki, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, § 59 IRG, Rn. 5; Lagodny, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, § 59 IRG, Rn. 56; Johnson, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, § 66 IRG, Rn. 31; OLG Köln, 12.2.2004, Ausl 25 / 04; mit Hinweis auf eine sinnvolle Befragung und Belehrungsmängel fordert das OLG Köln zumindest eine genaue Mitteilung des Sachverhalts, OLG Köln, 2.2.2009, AuslS 9 / 09; Böse, ZIS 2014, 152, 157; a. A. Brodowski, JR 2009, 402, 410; Vogel / Burchard, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, § 77 IRG, Rn. 30. 169 BVerfG NStZ-RR 2002, 16, 17; BGH BGHSt 20, 170, 173; 27, 222, 227; OLG Köln NStZ-RR 2010, 377, 378; OLG Köln NStZ 2012, 101, 102; Johnson, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, § 66 IRG, Rn. 12.
1. Kap.: Die klassische Beweisrechtshilfe63
ZP EU-RhÜbk; Art. 27 Abs. 1 lit. e Ziff. ii EuGeldwäscheÜbk.170 Hierunter versteht man reine Ausforschungsmaßnahmen des ersuchenden Staates, welche überhaupt erst der Verdachtschöpfung dienen sollen. Wie wichtig eine sorgfältige Abgrenzung zur Verdachtsprüfung ist, zeigt sich etwa bei Maßnahmen gegen Unternehmen zur Erlangung von Beweismitteln, welche auch Geschäftsgeheimnisse offenbaren; solche Erhebungen können gelegentlich auch der Wirtschaftsspionage dienen.171 Umstritten ist jedoch, wie klar das Ziel eines Rechtshilfeersuchens umrissen sein muss. Dies gilt insbesondere für den Umfang der Rechtshilfe. Grundsätzlich werden nur die ersuchte Maßnahme oder als Ausnahme die die Ausführung des Ersuchens begleitenden Maßnahmen erledigt, vgl. Nr. 4 Abs. 1 S. 1 HS. 2, Abs. 2 RiVASt. Weitergehende Maßnahmen werden im Rahmen der Auslegung nur nach Sinn und Zweck und bei Offensichtlichkeit berücksichtigt, vgl. Nr. 4 Abs. 1 S. 2 RiVASt.172 Beweismittel müssen lediglich hinreichend bestimmbar bezeichnet werden.173 Kommt es aufgrund von Ungenauigkeiten oder Unkenntnis der ausländischen Stelle dennoch zu unverständlichen Ersuchen, wird die Rechtshilfe häufig wegen Formmangels abgelehnt. Entsprechendes gilt für Vernehmungsersuchen, wenn die ersuchende Stelle den Beteiligtenstatus der Auskunftsperson nicht mitteilt und selbst auf Nachfrage der ersuchten Stelle offen lässt. Die Behörden des ersuchten Staates assistieren dem ersuchenden Staat lediglich. Von daher sind sie nicht befugt, den Beteiligtenstatus der zu vernehmenden Auskunftsperson eigenmächtig festzulegen, mag sie auch aus der Sicht des ersuchten Staates bereits als materiell Beschuldigter erscheinen. Aus dieser Funktion des ersuchten Staates verbietet es sich allerdings auch, eine Auskunftsperson, die nach dem Willen des ersuchenden Staates einzig als mehr oder minder verdächtiger Zeuge vernommen werden soll, als Beschuldigten einzustufen und verantwortlich zu vernehmen. Wird jedoch eine Auskunftsperson versehentlich falsch benannt oder wird gar nicht die konkrete Person, sondern ihr funktioneller Nachfolger gesucht, weichen die Auslegungen des Ersuchens erheblich voneinander ab. Nach 170 Lagodny, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, Art. 8 EuGeldwäscheÜbk, Rn. 4, 6; Gleß / Schomburg, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, Art. 1 1. ZP-EuRhÜbk, Rn. 16. 171 Nach dem BGH wird dies im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung der Rechtshilfe berücksichtigt, BGH BGHSt 27, 222, 228; Lagodny, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, § 59 IRG, Rn. 25; Johnson, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, § 66 IRG, Rn. 39. 172 Etwa: Beschlagnahme von Gegenständen, sofern das Ersuchen lediglich auf Durchsuchung gerichtet war. 173 Johnson, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, § 66 IRG, Rn. 36; BGH BGHSt 27, 222, 227 f.
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einer Ansicht ist das Ersuchen nach Sinn und Zweck weit auszulegen: Danach bezieht es sich nicht immer bloß auf eine bestimmte natürliche Person, sondern etwa in Unternehmen auf denjenigen, welcher deren Funktion innehat. Letztlich kann nur dieser die gewünschten betrieblichen Auskünfte erteilen. Somit wäre das Ersuchen erst erledigt, wenn auch der faktische oder rechtliche Nachfolger vernommen wurde.174 Stattdessen will die Gegenansicht das Ersuchen restriktiv auslegen. Nennt das Ersuchen nur eine konkrete Person, so sei allein diese zu vernehmen. Deren Rechts- oder Funktionsnachfolger werde von dem konkreten Ersuchen nicht erfasst und werde auch nicht vernommen. Sei nach der Person nur in der konkreten Funktion gefragt, müsse dies ausdrücklich erwähnt werden. Vermutete Auskunftspersonen könnten hierbei hilfsweise angeführt werden, beschränkten jedoch nicht das Ersuchen. Dies diene der Entlastung der Vornahmebehörde, da diese keine ausufernden Ermittlungen führen müsse, die von der ersuchenden Behörde gar nicht erwünscht wären. Gegebenenfalls könne der ersuchende Staat ein Folgeersuchen nachreichen, welches auf den Funktionsträger abstelle.175 Gegen diese Ansicht sprechen jedoch hauptsächlich zwei Aspekte: Zum einen nimmt der internationale Rechtshilfeverkehr immer mehr zu und hat so mit den Jahren an Routine erheblich hinzugewonnen. Von daher ist die mit der Gegenmeinung verbundene Erwartungshaltung, der ersuchende Staat werde sich auch mit einer halbherzigen Erledigung seines Ersuchens zufrieden geben, nicht berechtigt. Insoweit würde eine formalistische, auf den bloßen Wortlaut abstellende Erledigung dem ersuchten Staat nur einen überschaubaren zeitlichen Vorteil bringen. Voraussichtlich würde der ersuchende Staat seinem Anliegen mit einem Folgeersuchen Nachdruck verleihen, welches auf beiden Seiten den administrativen und womöglich auch fiskalischen Aufwand noch erhöhen würde. Neben diesem praktischen Argument, welches eher für eine wohlwollende Erledigung im ersuchten Staat spricht, steht aber auch der Gedanke der Gegenseitigkeit. Denn je kleinlicher Deutschland ein ausländisches Rechtshilfeersuchen erledigt, umso weniger Großzügigkeit darf es im umgekehrten Fall vom Ausland erwarten.176 Es muss daher der Grundsatz der rechtshilfefreundlichen Auslegung gelten.177 Dies entspricht auch dem Rechtsgedanken der offensichtlichen Sachnähe von Nr. 4 Abs. 1 S. 2 RiVASt.
174 Wilkitzki, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, § 59 IRG, Rn. 2; Wilkitzki, GA 1999, 67, 68 ff. 175 OLG Jena, Beschl. v. 1.10.1998, Az. AR (S) 177 / 98, im Auszug bei Wilkitzki, GA 1999, 67. 176 Wilkitzki, GA 1999, 67, 68 ff. 177 Vogel, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 1 IRG, Rn. 28, 52; Schädel, Bewilligung internationaler Rechtshilfe, 170 ff.
1. Kap.: Die klassische Beweisrechtshilfe65
F. Rechtsschutz I. Grundlagen Das innerstaatliche deutsche Verfahren (Rechtshilfe und Vornahme) kann den Schutzbereich des Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG tangieren, obwohl die Rechtshilfe eine fremde Strafjustiz unterstützt und auf einer ausländischen Entscheidung beruht. Die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen durch deutsche Behörden stellen Eingriffe der deutschen öffentlichen Gewalt dar. Gegen eine Rechtsverletzung durch die öffentliche Gewalt steht nach Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG dem Betroffenen der Rechtsweg offen. Die Rechtsweggarantie gilt auch für behördliche Ermessensentscheidungen über die Leistung der Rechtshilfe. Erforderlich ist jedoch ein subjektives Recht des Betroffenen. Eine solche Rechtsposition ergibt sich etwa in der Vollstreckungshilfe aus dem Resozialisierungsziel für Verurteilte. Für die Verletzung eines subjektiven Rechts müsste dieses weiterhin von der konkreten Aufgabenstellung („Entscheidungsprogramm“) der zuständigen Behörde umfasst sein.178 Der Rechtsschutz des von der Rechtshilfe Betroffenen ist traditionell in zwei Rechtswege gespalten. Will der Betroffene Sachgründe wie etwa den Tatverdacht angreifen, muss er dies im ersuchenden Staat tun. Wendet sich der Betroffene indes gegen materielle oder formelle Fragen der Rechtshilfe oder das Vornahmeverfahren, muss er dagegen im ersuchten Staat vorgehen. II. Rechtsweg im ersuchenden Staat 1. Ansicht zur umfassenden Überprüfung Die Rechtswegspaltung ist umstritten. Nach einer Ansicht müssten auch Sachfragen gemäß Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG, Art. 13 EMRK in Deutschland als ersuchtem Staat umfassend überprüfbar sein (révision au fond).179 Für den Betroffenen sei es unzumutbar, außerhalb seines Heimatstaats Rechtsschutz zu suchen, da er hier eine andere Rechtsordnung und / oder gar eine andere Sprache beachten müsse. Auch die Distanz erschwere seine Bemühungen.180 178 BVerfG BVerfGE 63, 343, 375; 96, 100, 114 f.; Lagodny, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 59 IRG, Rn. 24 ff. 179 Beschwerdeführer in der Entscheidung BVerfG BVerfGE 63, 343, 350; Roger, GA 2010, 27, 41. 180 Satzger, StV 2003, 137, 140; Satzger, KritV 2008, 17, 32; Gleß, StV 2004, 679, 682; Andreou, Gegenseitige Anerkennung, 300; Heine, Rechtsstellung des Beschuldigten; 138; Roger, GA 2010, 27, 41.
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2. Teil: Darstellung
2. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Entgegen der Ansicht zur umfassenden Überprüfung genügt nach der Rechtsprechung des BVerfG zur Wahrung des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG der traditionelle Verweis auf den Rechtsweg im ersuchenden Staat.181 Im internationalen Rechtshilfeverkehr sei insbesondere zweierlei abzuwägen: Zum einen müsse man an Rechtshilfeübereinkommen und ausländische Entscheidungen verfassungsrechtliche Mindestanforderungen stellen. Für Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG beträfe dies die institutionelle und verfahrensmäßige Ausgestaltung des Rechtsschutzes. Zum anderen habe Deutschland ein verfassungsrechtlich begründetes Interesse an vielfältigen, internationalen Beziehungen und so auch an der Aufrechterhaltung seines internationalen Rechtshilfeverkehrs. Insofern müsse zwar der ersuchende Staat die Mindestanforderungen von Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG einhalten. Deutschland als ersuchter Staat brauche jedoch die sachliche Rechtmäßigkeit der ausländischen Entscheidung (z. B. Vollstreckungstitel) nicht zu überprüfen. Andernfalls würde eine regelmäßige Prüfung den Rechtshilfeverkehr mit Deutschland praktisch zum Erliegen bringen. Solange ein Maß an Rechtsschutz im Ausland tatsächlich eröffnet sei, das gewissen Mindestanforderungen an Rechtsstaatlichkeit genüge, könne auch eine fremde Entscheidung in Deutschland anerkannt und vollstreckt werden. Zu diesen Mindestanforderungen gehörten der Zugang zu Gericht, die richterliche Unabhängigkeit und Unparteilichkeit sowie ein faires Verfahren. Zudem seien rechtliches Gehör, das Recht auf rechtskundigen Beistand sowie eine hinreichende, dem Rechtsschutzbegehren angemessene Prüfungs- und Entscheidungsmacht der Gerichte über das Rechtsschutzbegehren zu gewährleisten. Etwaige rechtsstaatliche Defizite im ersuchenden Staat würden sich jedoch – in Übereinstimmung mit Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG – bei Bedarf durch entsprechende Vorbehalte ausgleichen lassen.182 In Hinblick auf jenes Grundrecht sei es dem Gesetzgeber zudem untersagt, willkürlich sein Recht so zu gestalten, dass eine Anerkennung oder Vollstreckung einer fremden Entscheidung von wenigen, unter Umständen nur formellen Punkten abhänge und damit den wirklichen Gehalt der Entscheidung richterlicher Überprüfung vorenthalte.183 Mithin habe der Betroffene im Rechtshilfeverfahren ausreichende Möglichkeiten, seinen Rechtsschutz wahrzunehmen. Womöglich willkürlichen Entscheidungen des ausländischen Staates sei er so nicht hilflos ausgesetzt. Das Grundgesetz bekenne sich zum Ziel einer internationalen Zusammen181 BVerfG
BVerfGE 63, 343, 377. BVerfGE 63, 343, 377 f., 379 f. 183 BVerfG BVerfGE 63, 343, 376. 182 BVerfG
1. Kap.: Die klassische Beweisrechtshilfe67
arbeit. Von daher und in dem Interesse, den Grundsatz der rechtshilferechtlichen Gegenseitigkeit zu bewahren, sei es sachgerecht und dem Betroffenen zuzumuten, seine Rechtsverletzung auch im Ausland zu rügen.184 Dies gelte insbesondere für die Überprüfung des Schuldverdachts. Im Rechtshilferecht finde eine Regelüberprüfung durch den ersuchten Staat völkergewohnheitsrechtlich nicht statt.185 Im vertraglichen Rechtshilfeverkehr bestehe ein generelles Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit der Vertragsstaaten. Jener Vertrauensgrundsatz rechtfertige es, materielle Voraussetzungen (wie den dringenden Tatverdacht) bei entsprechender Unterrichtung durch die ersuchende Behörde zu unterstellen. Doch auch im vertragslosen Rechtshilfeverkehr würden rechtsstaatliche Verhältnisse im ersuchenden Staat gegebenenfalls diese Richtigkeitsunterstellung im Rahmen des individuellen Rechtshilfeverfahrens implizieren.186 Die Überprüfung im ersuchenden Staat liege auch im Interesse des Betroffenen. Aufgrund größerer Tatnähe habe der ersuchende Staat bessere Aufklärungsmöglichkeiten als der ersuchte Staat. Eine Beweisaufnahme fernab vom Tatort sei dagegen schwierig. Im Auslieferungsverfahren würden dem Verfolgten durch eine Verlagerung der Tatverdachtsprüfung in den ersuchten Staat erhebliche Nachteile entstehen. Etwaige Nachforschungen des ersuchten Staates im ersuchenden Staat könnten die Auslieferungshaft unnötig verlängern.187 3. Eigene Stellungnahme Dem BVerfG ist zuzustimmen, dass die Rechtswegspaltung in der Rechtshilfe im Einklang mit Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG steht. Die §§ 10 Abs. 2, 30 184 BVerfG
BVerfGE 63, 343, 379 f. BVerfGE 60, 348, 356; von Liszt, in: von Liszt (Hg.), Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, 90, 106, von Liszt schrieb bereits 1882, dass die Prüfung der Tatfrage nur eine summarische sein darf und kann. Es genüge hierfür die Bescheinigung der behaupteten Tatsachen durch die auswärtige Regierung; RG RGSt 29, 288, 290 f.; Vogler, ZStW 1993, 3, 17. 186 BVerfG BVerfGE 60, 348, 355 f.; Hackner / Schierholt, Rechtshilfe, 67 ff.; Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, Einleitung, Rn. 134; sprechen hier von kontinentaler Tradition; Lagodny / Schomburg / Hackner, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRGKommentar, § 10 IRG, Rn. 5, 29; Wilkitzki, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRGKommentar, § 59 IRG, Rn. 5; Lagodny, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, § 59 IRG, Rn. 56; Johnson, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, § 66 IRG, Rn. 31; OLG Köln, 12.2.2004, Ausl 25 / 04; mit Hinweis auf eine sinnvolle Befragung und Belehrungsmängel fordert das OLG Köln zumindest eine genaue Mitteilung des Sachverhalts, OLG Köln, 2.2.2009, AuslS 9 / 09. 187 BVerfG BVerfGE 60, 348, 356. 185 BVerfG
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2. Teil: Darstellung
IRG bieten hinreichenden gerichtlichen Rechtsschutz, im konkreten Einzelfall evidenten materiellen Mängeln des Rechtshilfeersuchens im ersuchenden Staat entgegenzuwirken. Die Tatverdachtsprüfung nach § 10 Abs. 2 IRG ist immer dann geboten, wenn sie für die Feststellung rechtsstaatlicher Mängel des Verfahrens im ersuchenden Staat hilfreich ist.188 Fehlt offensichtlich ein Zusammenhang zwischen Beweismittel und Tatverdacht, ist auch eine Beweisrechtshilfe unzulässig.189 III. Rechtsweg im ersuchten Staat 1. Rechtsschutz bezüglich der Leistungsermächtigung Nach herrschender Meinung ist in der traditionellen Rechtshilfe die Bewilligungsentscheidung grundsätzlich unanfechtbar. Gemäß dem BVerfG betrifft die Entscheidung nur das Verhältnis zwischen ersuchendem und ersuchtem Staat und sei daher kein Hoheitsakt, welcher in das Grundrecht des von der Rechtshilfe Betroffenen eingreifen könne.190 Die Rechtshilfe folge einem zweistufigen Verfahren (Leistungs- und Vornahmeermächtigung), wovon nicht jede Stufe Rechte des Betroffenen berühre. Die Entscheidung der Bewilligungsbehörde orientiere sich – ihrer Rolle im Verhältnis zur Vornahmebehörde entsprechend – allein an allgemein-, insbesondere außenpolitischen Belangen. Dem von der Rechtshilfe Betroffenen stehe insoweit kein Recht auf fehlerfreie Ermessensausübung zu.191 Im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG muss jedoch die Leistungsermächtigung als solche gerichtlich überprüfbar sein. Bei der Auslieferung und Vollstreckungshilfe übernimmt diese Funktion das präventive gerichtliche Zulässigkeitsverfahren. Bei der sonstigen Rechtshilfe fehlt – abgesehen vom Rechtsschutz durch die Vornahmegerichte – ein solcher effektiver Rechtsschutz, vgl. §§ 61 Abs. 1 S. 1, S. 2, 66, 67 IRG. Jene Rechtsschutzlücke beruht noch auf dem Verständnis der Rechtshilfe als Verkehrsregelung für Völkerrechtssubjekte (zweidimensionales Modell).192 Im Zuge eines moderneren Verständnisses der Rechtshilfe als dreidimensionales Modell 188 BVerfG
BVerfGK 6, 334, 342; BGH BGHSt 32, 314 ff. NStZ-RR 2002, 16, 17; BGH BGHSt 20, 170, 173; 27, 222, 227; OLG Köln NStZ-RR 2010, 377, 378; Johnson, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRGKommentar, § 66 IRG, Rn. 12. 190 BVerfG GA 1967, 111; a. A. OVG Berlin NVwZ 2002, 114, 115; besondere Regelungen sind allerdings für die EU-Rechtshilfe zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung vorgesehen, vgl. § 79 Abs. 2 S. 3 IRG. 191 BVerfG BVerfGE 96, 100, 118. 192 OLG Hamburg GA 1985, 325; OLG Hamm GA 1975,150; 1975, 178. 189 BVerfG
1. Kap.: Die klassische Beweisrechtshilfe69
unter Beteiligung des Betroffenen hat das BVerfG im Einklang mit Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG Ende der 1980er Jahre im Rechtsschutz gegen die Vornahme der Rechtshilfe eine mittelbare Prüfung der Leistungsermächtigung vorgesehen (Integrationslösung).193 2. Rechtsschutz bezüglich der Vornahmeermächtigung Für den Rechtsschutz im Vornahmeverfahren gelten die allgemeinen Verfahrensregeln, vgl. etwa § 77 IRG i. V. m. §§ 304 ff. StPO. Auch eine erledigte Vornahmehandlung kann ein vom Schutzbereich des Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG umfasstes Feststellungsinteresse berühren.194 Besonderheiten gelten für die integrierte Prüfung der Leistungsermächtigung bei Verfahren, welche sich gegen Vornahmehandlungen richten. Bezüglich der Prüfung der Voraussetzungen für die Leistung der Rechtshilfe (§ 61 Abs. 1 S. 1 IRG) bleibt die systematische Vorlagepflicht an das zuständige OLG erhalten.195
193 BVerfG Beschl. v. 16.7.1987, Az. 2 BvR 682 / 87; Beschl. v. 30.9.1987, Az. 2 BvR 510 / 85; Beschl. v. 9.8.1990; Az. 2 BvR 1128 / 88; Beschl. v. 24.6.1997, Az. 2 BvR 1581 / 95; OLG Frankfurt NStZ 2005, 349; OLG Dresden NStZ-RR 2011, 146; Lagodny, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 59 IRG, Rn. 24 ff.; Johnson, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, § 61 IRG, Rn. 15; Gärditz, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 887, 905 f. 194 Lagodny, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 59 IRG, Rn. 33 ff.; BVerfG BVerfGE 96, 27. 195 Lagodny, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 59 IRG, Rn. 39 ff.
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2. Teil: Darstellung
2. Kapitel
Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung in der Beweisrechtshilfe A. Entwicklung I. Einführungsphase Gegenwärtig steht die justizielle Zusammenarbeit innerhalb der EU vor einer Abkehr von der klassischen Rechtshilfe hin zu einer neuen Form der Kooperation. Mit dem Vertrag von Amsterdam196 vom 2. Oktober 1997 verpflichteten sich die Mitgliedstaaten zur Verwirklichung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, Art. 29 EUV (1997). Gemäß Art. 31 EUV (1997) galt dies auch für den Bereich der justiziellen Zusammenarbeit. Am 15. und 16. Juni 1998 auf der Ratstagung in Cardiff ersuchte der Europäische Rat den Rat der EU197, die Möglichkeit der Einführung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung in Strafsachen zu prüfen.198 Im Ergebnis wurde die Kommission mit dem Entwurf eines Aktionsplans zur Umsetzung der Zielbestimmungen des Vertrags von Amsterdam betraut. Am 3. Dezember 1998 nahm der Rat jenen Wiener Aktionsplan an. Demnach sollte innerhalb von zwei Jahren nach Inkrafttreten des Vertrages von Amsterdam am 1. Mai 1999 ein Prozess im Hinblick auf die Erleichterung der gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen in Strafsachen und ihrer Vollstreckung eingeleitet werden.199 Ausgehend von dieser Entwicklung und entschlossen, die Union zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts auszubauen, stellte der Europäische Rat das Tampere Programm vom 16. Oktober 1999 auf.200 Wegen seiner detaillierten Positionierung zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung gilt dieses Programm als erster Entwurf eines Konzepts zur Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung in Strafsachen.201 Bereits im Tampere Programm wurde neben dem Ausliefe196 Vertrag
von Amsterdam, Abl. 1997 C 340 / 1. fortan als „Rat“ bezeichnet. 198 Wiener Aktionsplan, Abl. Abl. 1999 C 19 / 1; Mitteilung vom 26.7.2000, KOM(2000) 495 endgültig. 199 Wiener Aktionsplan, Abl. Abl. 1999 C 19 / 1, 12 f. 200 Tampere Programm, Ratsdokument Nr. SN 200 / 99, vom 15. / 16.10.1999, Vorbemerkungen. 201 Tampere Programm, Ratsdokument Nr. SN 200 / 99, vom 15. / 16.10.1999, 1 f., nach dem Europäischen Rat sollen Urteile und Entscheidungen in der gesamten Union unter Wahrung der grundlegenden Rechtssicherheit der Bürger und der Wirtschaftsteilnehmer anerkannt und vollstreckt werden. 197 Hier
2. Kap.: Prinzip der gegenseitigen Anerkennung in der Beweisrechtshilfe71
rungsrecht auch die Beweisrechtshilfe als Hauptanwendungsgebiet des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung hervorgehoben.202 In einer Mitteilung vom 26. Juli 2000 an das Europäische Parlament stellte die Kommission verschiedene Anwendungsbereiche für das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung vor und erläuterte die wesentlichen Unterschiede zwischen dem traditionellem Rechtshilferecht der Mitgliedstaaten und der neuen justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen, basierend auf jenem Prinzip. Weiterhin bereitete die Kommission in sogenannten „Paketen“ Beiträge vor für ein Maßnahmenprogramm zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen.203 Jenes Programm stellten Kommission und Rat am 15. Januar 2001 auf Ersuchen des Europäischen Rates vor.204 Nicht bloß die bisherige Ausgestaltung der Rechtsinstrumente gemäß dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, sondern auch dessen flankierende EU-Rechtssetzung orientiert sich an diesem Maßnahmenprogramm. Einen besonderen Impuls erhielt der Rechtssetzungsprozess durch die Terroranschläge vom 11. September 2001 in New York und Washington. Unter dem Eindruck der Geschehnisse wurde nun mit besonderer Dringlichkeit EU-Sekundärrecht vorbereitet und erlassen.205 Hierbei bediente man sich des Rechtsinstruments des Rahmenbeschlusses, Art. 34 Abs. 2 lit. b EUV (1997). Im Bereich Justiz und Inneres ersetzten solche Rahmenbeschlüsse das Institut der gemeinsamen Maßnahme, Art. K.3 Abs. 2 lit. b EUV (1992).206 Richtlinien konnten innerhalb der dritten Säule der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS) nicht erlassen werden. Die erste und bislang erfolgreichste Maßnahme zur Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung in Strafsachen war der RB EHB.207 202 Tampere
Programm, Ratsdokument Nr. SN 200 / 99, vom 15. / 16.10.1999, 9. vom 26.7.2000, KOM(2000) 495 endgültig. 204 Maßnahmenprogramm vom 15.1.2001, Abl. 2001 C 12 / 10. 205 Mitteilung vom 10.6.2009, KOM(2009) 263 endgültig, 2. 206 Dieses Institut wurde seinerseits durch den Vertrag von Maastricht vom 7.2.1992 eingeführt, Abl. 1992 C 191 / 1. 207 RB 2002 / 584 / JI, Abl. 2002 L 190 / 1; Schünemann bezeichnet den EHB als Speerspitze des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung, Schünemann, ZRP 2003, 185, 186; so auch derselbe in Schünemann, StraFo 2003, 344, 347; der EHB wird von einigen Autoren als flagship ‚mutual recognition‘ instrument bezeichnet, Heard / Mansell, NJECL 2011, 133, 134; Heard / Mansell, NJECL 2011, 353, 354; Murphy, in: Eckes / Konstadinides (Hg.), Crime within the area of freedom, security and justice, 224, 229; Suominen, EuCLR 2011, 170, 179; Hecker, Europäisches Strafrecht, 437; Satzger, in: Streinz / Kruis / Michl (Hg.), EUV / AEUV-Kommentar, Art. 82 AEUV, Rn. 7; der EHB wird auch als Lackmustest im Hinblick auf das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung angesehen, Rackow / Birr, GoJIL 2010, 1087, 1101. 203 Mitteilung
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2. Teil: Darstellung
Weitere Präzisierungen des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung erfolgten im Haager Programm vom 5. November 2004, dem Nachfolger des Tampere Programms. Auch dies war ein Fünfjahresprogramm zur Weiterentwicklung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts.208 Angenommen wurde das Haager Programm unter dem Eindruck der Terroranschläge vom 11. März 2004 in Madrid.209 Der von Kommission und Rat aufgestellte Aktionsplan zum Haager Programm210 enthielt wiederum enge zeitliche und inhaltliche Vorgaben zur Umsetzung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung. Die Umsetzung des Haager Programms verzögerte sich jedoch durch die weitere Entwicklung: In den Jahren 2004 bis 2007 wuchs die EU um zwölf Neumitglieder auf 27 Mitgliedstaaten an. Durch den Beitritt der neuen Mitgliedstaaten sowie das Einstimmigkeitserfordernis der dritten Säule entstanden neue Rahmenbedingungen in der EU, die auch die planmäßige Entwicklung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung aufhielten.211 II. Konsolidierung durch den Vertrag von Lissabon Mit dem am 1. Dezember 2009 in Kraft getretenen Vertrag von Lissabon212 wurde das EU-Primärrecht grundlegend reformiert und auch das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung darin verankert. Wichtig hierfür ist insbesondere der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV).213 Gemäß Art. 67 Abs. 3 AEUV soll die EU darauf hinwirken, dass durch die gegenseitige Anerkennung strafrechtlicher Entscheidungen ein hohes Maß an Sicherheit gewährleistet wird. Für den Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen wird die Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung in Kapitel 4 AEUV konkretisiert. Gemäß Art. 82 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV beruht die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen in der Union auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen. 208 Haager Programm, Abl. 2005 C 53 / 1; das Haager Programm gilt laut Kommission als Blaupause der EU für die Realisierung ihrer Vision im Bereich der gegenseitigen Anerkennung, Mitteilung vom 10.6.2009, KOM(2009) 263 endgültig, 2. 209 Mitteilung vom 10.6.2009, KOM(2009) 263 endgültig, 2. 210 Haager Programm, Abl. 2005 C 198 / 1. 211 Mitteilung vom 10.6.2009, KOM(2009) 263 endgültig, 3, 15; die Kommission bekräftigte zu diesem Zeitpunkt, an ihrer bisherigen Linie festzuhalten. Verbessern wollte sie die Voraussetzungen des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens sowie die Wirksamkeit bestehender Rechtsinstrumente, Mitteilung vom 10.6.2009, KOM(2009) 263 endgültig, 16 ff.; Mitteilung vom 19.5.2005, KOM(2005) 195 endgültig. 212 Vertrag von Lissabon, Abl. 2007 C 306 / 1. 213 Abl. 2010 C 83 / 47.
2. Kap.: Prinzip der gegenseitigen Anerkennung in der Beweisrechtshilfe73
Die Einbindung der EU-Organe in das Rechtsetzungsverfahren zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung wird durch den AEUV gesteuert. Insbesondere das Europäische Parlament, der Rat und die Kommission erhalten zusätzliche Kompetenzen. Gemäß Art. 82 Abs. 1 UAbs. 2 lit. a AEUV erlassen das Europäische Parlament und der Rat gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren Maßnahmen, um Regeln und Verfahren festzulegen, mit denen die Anerkennung aller Arten von Urteilen und gerichtlichen Entscheidungen in der gesamten Union sichergestellt wird. So kann die EU anstelle von Rahmenbeschlüssen auch Richtlinien und Verordnungen erlassen. Eine besondere Aufgabe kommt neben dem Rat auch der Kommission zu. Beide Organe sollen einvernehmlich Maßnahmen erlassen, die die umfassende Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung fördern, Art. 70 AEUV. Für eine erleichterte gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen können gemäß Art. 82 Abs. 2 UAbs. 1 AEUV das Europäische Parlament und der Rat durch Richtlinien Mindestvorschriften festlegen. Die derzeitige Entwicklung wird insbesondere bestimmt durch das Stockholmer Programm214 des Europäischen Rats vom 4. Mai 2010, den Nachfolger des Haager Programms, und den dazugehörigen Aktionsplan215 der Kommission vom 20. April 2010. Als wichtigstes Projekt im justiziellen Bereich des Stockholmer Programms gilt der Erlass einer RL EEA. Auf Initiative von sieben Mitgliedstaaten216 wurden die Verhandlungen im Rechtsetzungsverfahren aufgenommen. Die Richtlinie wurde inzwischen erlassen.217 III. Bestand der EU-Kooperationswerkzeuge im Sekundärrecht Im Bereich der Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen unter Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung wurden neben dem RB EHB weitere Rechtsinstrumente entwickelt. Hierzu gehören: • Rahmenbeschluss über die Vollstreckung von Entscheidungen über die Sicherstellung von Vermögensgegenständen oder Beweismitteln in der Europäischen Union (RB-Sicherstellung)218 • Rahmenbeschluss über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen219 • Beschluss über den Austausch von Informationen aus dem Strafregister220 214 Stockholmer
Programm, Abl. 2010 C 115 / 1. zum Stockholmer Programm, KOM(2010) 171 endgültig. 216 Initiativentwurf RL EEA von Belgien, Bulgarien, Estland, Spanien, Österreich, Slowenien und Schweden vom 29.4.2010, Ratsdok. 9145 / 10 COPEN 115. 217 RL EEA vom 3.4.2014, Abl. 2014 L 130 / 1. 218 RB 2003 / 577 / JI, Abl. 2003 L 196 / 45. 219 RB 2005 / 214 / JI, Abl. 2005 L 76 / 16. 220 Beschluss 2005 / 876 / JI, Abl. 2005 L 322 / 33. 215 Aktionsplan
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2. Teil: Darstellung
• Rahmenbeschluss über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Einziehungsentscheidungen221 • Rahmenbeschluss zur Berücksichtigung der in anderen Mitgliedstaaten der EU ergangenen Verurteilungen in einem neuen Strafverfahren222 • Rahmenbeschluss über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der EU223 • Rahmenbeschluss über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile und Bewährungsentscheidungen im Hinblick auf die Überwachung von Bewährungsmaßnahmen und alternativen Sank tionen224 • Rahmenbeschluss über die Europäische Beweisanordnung zur Erlangung von Sachen, Schriftstücken und Daten zur Verwendung in Strafsachen (RB EBA)225 • Rahmenbeschluss zur Änderung der Rahmenbeschlüsse 2002 / 584 / JI, 2005 / 214 / JI, 2006 / 783 / JI, 2008 / 909 / JI und 2008 / 947 / JI, zur Stärkung der Verfahrensrechte von Personen und zur Förderung der Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Entscheidungen, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, zu der die betroffene Person nicht erschienen ist226 • Rahmenbeschluss über die Anwendung – zwischen den Mitgliedstaaten der EU – des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Entscheidungen über Überwachungsmaßnahmen als Alternative zur Untersuchungshaft227 • Richtlinie über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen228
221 RB
2006 / 783 / JI, 2008 / 675 / JI, 223 RB 2008 / 909 / JI, 224 RB 2008 / 947 / JI, 225 RB 2008 / 978 / JI, 226 RB 2009 / 299 / JI, 227 RB 2009 / 829 / JI, 228 RL 2014 / 41 / EU, 222 RB
Abl. 2006 Abl. 2008 Abl. 2008 Abl. 2008 Abl. 2008 Abl. 2009 Abl. 2009 Abl. 2014
L 328 / 59. L 220 / 32. L 327 / 27. L 337 / 102. L 350 / 72. L 81 / 24. L 294 / 20. L 130 / 1.
2. Kap.: Prinzip der gegenseitigen Anerkennung in der Beweisrechtshilfe75
B. Prinzip der gegenseitigen Anerkennung I. Unionseigene Konzeption 1. Konzeptionsquelle Das Konzept des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung in Strafsachen ergibt sich zunächst aus der Primärquelle. Dies sind für das EU-Recht die Verlautbarungen der EU-Organe. Hierzu gehören unter anderem das Europäische Parlament, der Europäische Rat, der Rat, die Kommission. Bezüglich der Rechtsprechung werden neben dem EuGH und dem EuG auch die Schlussanträge der Generalanwälte vor dem EuGH berücksichtigt.229 2. Abgrenzung zur traditionellen Rechtshilfe Als wesentliches Merkmal der Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung im justiziellen Bereich wird die Abgrenzung zur traditionellen Rechtshilfe hervorgehoben. Die Kommission unterscheidet so zwischen der traditionellen und einer neuen justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen, auf die das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung angewendet wird. Nach der Kommission beruht das traditionelle Rechtshilferecht auf einem „Ersuchens“-Prinzip. Einzig im nationalen, territorialen Rechtsverkehr würden nationale Beschlüsse und Entscheidungen eine unmittelbare Wirkung entfalten können, jedoch nicht mehr in Verfahren mit extraterritorialem Bezug. Hier sei gegebenenfalls noch ein Rechtshilfeersuchen an den ersuchten Staat erforderlich. Es liege im Ermessen des ersuchten Staates, dem Ersuchen nachzukommen.230 Dementgegen stellt die EU die Rechtshilfe auf eine neue Grundlage. Ziel sei hier über die territoriale Wirksamkeit hinaus auch die extraterritoriale Wirksamkeit der Entscheidung innerhalb der EU. Nach dem Europäischen Rat sollen Urteile und Entscheidungen in der gesamten Union anerkannt und vollstreckt werden.231 Eine nationale Entscheidung würde somit automatisch in allen anderen Mitgliedstaaten anerkannt werden und dort dieselben oder zumindest ähnliche Wirkungen haben.232 229 Hinsichtlich der Bedeutung der Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung im Rahmen des Auslieferungsrechts spricht Generalanwalt beim EuGH Ruiz-Jarabo Colomer von einer geradezu kopernikanischen Wende, Schlussanträge des Generalanwalts Ruiz-Jarabo Colomer vom 12.9.2006, C-303 / 05, Advocaten voor de Wereld VZW . / . Leden van de Ministerraad, Slg. 2007 I-3638, 3650. 230 Mitteilung vom 26.7.2000, KOM(2000) 495 endgültig, 2. 231 Tampere Programm, Ratsdokument Nr. SN 200 / 99, vom 15. / 16.10.1999, 8. 232 Mitteilung vom 26.7.2000, KOM(2000) 495 endgültig, 2.
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2. Teil: Darstellung
3. Anwendungsvoraussetzungen Dem Anwendungsbereich des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung in Strafsachen unterliegt eine bestimmte Maßnahme, die in einem Mitgliedstaat getroffen wird und extraterritoriale Konsequenzen entfaltet. Dabei geht es in erster Linie um gerichtliche Entscheidungen, es kommen aber auch Entscheidungen von anderen Justizbehörden in Betracht.233 Die Kommission macht deutlich, dass sie bei der Konzeption des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung hauptsächlich an Endentscheidungen (final decisions) gedacht hat. Gemeint sind damit alle Entscheidungen, mit denen die materiellrechtliche Seite einer Strafsache geregelt wird und gegen die kein ordentliches Rechtsmittel mehr eingelegt werden kann bzw. dieses in Fällen, in denen dies noch möglich ist, keine aufschiebende Wirkung hat. Laut Kommission kann jedoch das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung auf justizielle Vorfeldentscheidungen ebenso Anwendung finden. Auch insoweit bevorzugt sie Gerichtsentscheidungen, insbesondere Urteile.234 Sowohl der Europäische Rat als auch der Rat gehen von einem möglichst extensiven Anwendungsbereich des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung aus. So müsse die gegenseitige Anerkennung in allen Stadien des Strafverfahrens, sowohl vor und bei der Urteilsfindung als auch im Anschluss daran, angestrebt werden und solle auch schon für Anordnungen im Ermittlungsverfahren gelten. Der Europäische Rat hebt hier behördliche Anordnungen zur Beweissicherung besonders hervor.235 Der Begriff der Strafsache ist nach der Kommission weit zu verstehen und umfasst alle sanktionierenden Verfahren gegen natürliche und juristische Personen. Hierzu gehören auch entsprechende Bußgeldverfahren.236 Neben den formalen Anforderungen ist auch ein gewisser Konsens der Mitgliedstaaten erforderlich. Namentlich das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihre jeweilige Strafgerichtsbarkeit ist eine weitere Voraussetzung für das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung. Dieses Vertrauen soll jedoch nicht willkürlich gewährt werden. Vielmehr bestehe ein gemeinsamer Sockel von Überzeugungen, der es rechtfertige, Vertrauen zu gewähren. Dieser beruhe auf dem gemeinsamen Eintreten der Mitgliedstaaten für die Grundsätze der Freiheit, der Demokratie und der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie des Rechtsstaates.237 233 Mitteilung vom 26.7.2000, KOM(2000) 495 endgültig, 2, 5; Tampere Programm, Ratsdokument Nr. SN 200 / 99, vom 15. / 16.10.1999, 8. 234 Mitteilung vom 26.7.2000, KOM(2000) 495 endgültig, 2, 5. 235 Tampere Programm, SN 200 / 99, 9; Maßnahmenprogramm vom 15.1.2001, Abl. 2001 C 12 / 1, 11, so auch Erwägungsgrund 5 RB EHB. 236 Mitteilung vom 26.7.2000, KOM(2000) 495 endgültig, 5 f.
2. Kap.: Prinzip der gegenseitigen Anerkennung in der Beweisrechtshilfe77
4. Erscheinungsformen der gegenseitigen Anerkennung im Strafrecht Das Konzept der EU setzt bei der Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung grundsätzlich auf eine unmittelbare, automatische Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen. Im Idealfall […] erfolge die gegenseitige Anerkennung direkt und automatisch, ohne einen zusätzlichen Verfahrensschritt.238 Diese Reinform der gegenseitigen Anerkennung wird jedoch von der EU noch äußerst restriktiv eingesetzt. Mit dem RB EHB haben das Europäische Parlament, der Rat und die Kommission einen ersten Rechtsakt erlassen, der diesem Modell folgen soll. Ein vereinfachtes System der Übergabe von Personen soll das derzeitige Auslieferungsrecht ersetzen, Erwägungsgrund 5 RB EHB. Hierzu soll ein freier Verkehr strafrechtlicher justizieller Entscheidungen entstehen. Darüber hinaus hält die EU die Zeit für eine extensive Anwendung noch nicht für gekommen. Für die Zukunft werden jedoch Anwendungsszenarien bereits entworfen.239 Übergangsweise lassen Rat und Kommission eine Abwandlung der ursprünglichen Konzeption zu. Entscheidend nach der Kommission ist die Anerkennung einer Entscheidung. Dies bedeute vor allem, die darin vorgesehene Rechtsfolge zu verwirklichen, d. h. die Entscheidung zu vollstrecken. Das Völkerrecht biete hierfür unterschiedliche Möglichkeiten. Häufig sei vertraglich eine indirekte Form der Vollstreckung vorgesehen. Danach führe die ursprünglich im Ausland ergangene Entscheidung zu einer neuen Entscheidung der inländischen Stellen. Letztere könne entweder rein formal oder „assimiliert“ ergehen. Die formale Entscheidung wiederhole die ursprüngliche Entscheidung vollständig, während bei der „assimilierten“ Variante eine Entscheidung getroffen werde, die den Behörden offengestanden hätte, wenn sie ursprünglich mit dem Fall befasst gewesen wären.240 Auch der Rat weist auf bestehende Rechtshilfeübereinkommen hin, die es den Vertragsparteien erlauben, zwischen der weiteren Vollstreckung der Entscheidung und deren Umwandlung zu wählen. Letzteres bezeichnet der Rat als Grundsatz der Umwandlung der Entscheidung.241 Die Kommission hält diese Umwandlung nach dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung aufgrund der unmittelbaren Wirkung ihrer Reinform im Idealfall für nicht erforderlich.242 Jenes Ideal entspreche jedoch meist nicht der Praxis. Schon eine Übersetzung der ursprünglichen Entscheidung im 237
237 Maßnahmenprogramm vom 15.1.2001, Abl. 2001 C 12 / 1, 10; dazu näher unten 2. Teil 4. Kapitel A. 238 Mitteilung vom 26.7.2000, KOM(2000) 495 endgültig, 2, 19. 239 Vgl. Tampere Programm, Ratsdokument Nr. SN 200 / 99, vom 15. / 16.10.1999, 9. 240 Mitteilung vom 26.7.2000, KOM(2000) 495 endgültig, 8. 241 Maßnahmenprogramm vom 15.1.2001, Abl. 2001 C 12 / 1, 11 f. 242 Mitteilung vom 26.7.2000, KOM(2000) 495 endgültig, 19.
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2. Teil: Darstellung
Vollstreckungsstaat verändere diese. Als notwendiger Zwischenschritt bei einer Einschränkung des Anwendungsbereichs der gegenseitigen Anerkennung im Vollstreckungsverfahren sei eine Überprüfung erforderlich, die sicherstelle, dass die getroffene Entscheidung innerhalb dieses Anwendungsbereichs liege. Der Vollstreckungsstaat sei gehalten zu überprüfen, ob es sich überhaupt um eine justizielle Entscheidung in Strafsachen handele und ob sie von einer für solche Entscheidungen zuständigen Behörde getroffen worden sei. Überdies könne die Einhaltung bestimmter verfahrensrechtlicher Schutzbestimmungen eine entsprechende Prüfung erforderlich machen.243 Auch der Rat hält diese Einschränkung für vereinbar mit dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, da jene mancherlei Erscheinungsformen haben könne.244 Die Kommission weist jedoch darauf hin, dass der Zweck der gegenseitigen Anerkennung, die Verwirklichung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, durch jede Einschränkung ihrer Reinform weiter verfehlt werde: Mit jedem zusätzlichen Punkt, der zu prüfen sei, bevor eine Entscheidung vom ausführenden Mitgliedstaat anerkannt würde, werde das Vollstreckbarkeitsverfahren länger und komplizierter, wobei die Hauptvorteile der gegenseitigen Anerkennung, die Geschwindigkeit und Einfachheit, unterminiert würden. Ein zu komplexes Vollstreckbarkeitsverfahren bewirke, dass die Regelung der gegenseitigen Anerkennung in der Praxis dem traditionellen „Ersuchens“-Mechanismus nahekäme.245 5. Parameter für ein effizientes Anerkennungsverfahren Auf welche Weise die gegenseitige Anerkennung erfolgt, richtet sich nach unterschiedlichen Modalitäten, welche von der Art der jeweiligen Entscheidung bzw. Strafe abhängen. Die Art der Erscheinungsform und des damit verbundenen Verfahrens wird von dem Bestehen und dem Inhalt bestimmter Parameter beeinflusst. Der Rat stellt Parameter für ein Übergangsverfahren auf. Sind diese vollumfänglich umgesetzt, kann das letztendliche Ziel verwirklicht werden, ein umfassendes Instrument für alle Entscheidungen, Verfahrensstadien und Strafsachen zu schaffen. Soweit jedoch eine eher weniger weitreichende Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung bevorzugt wird, können je nach Art der betreffenden Entscheidung die einzelnen Parameter unterschiedlich stark berücksichtigt werden.246 Zu diesen Parametern gehören:247 243 Mitteilung
vom 26.7.2000, KOM(2000) 495 endgültig, 19. vom 15.1.2001, Abl. 2001 C 12 / 1, 11 f. 245 Mitteilung vom 26.7.2000, KOM(2000) 495 endgültig, 19. 246 Maßnahmenprogramm vom 15.1.2001, Abl. 2001 C 12 / 1, 11 f.; Erwägungsgrund 3 RL 2010 / 64 / EU, Abl. 2010 L 280 / 1; Erwägungsgrund 3 RL 2012 / 13 / EU, Abl. 2012 L 142 / 1; Erwägungsgrund 4 RL 2013 / 48 / EU, Abl. 2013 L 294 / 1. 247 Maßnahmenprogramm vom 15.1.2001, Abl. 2001 C 12 / 1, 11 f. 244 Maßnahmenprogramm
2. Kap.: Prinzip der gegenseitigen Anerkennung in der Beweisrechtshilfe79
• Allgemeine oder auf bestimmte Delikte begrenzte Tragweite der geplanten Maßnahme. Maßnahmen […] können auf schwere Straftaten begrenzt werden. • Beibehaltung oder Abschaffung des Erfordernisses der beiderseitigen Strafbarkeit als Bedingung für die Anerkennung • Mechanismen für den Schutz der Rechte von Dritten, Opfern und verdächtigen Personen • Festlegung der gemeinsamen Mindestnormen, deren es zur Erleichterung der Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung bedarf • unmittelbare oder mittelbare Vollstreckung der betreffenden Entscheidung • Festlegung und Umfang einer Gültigkeitsprüfung für die „mittelbare“ Vollstreckung • Bestimmung und Tragweite der Anerkennungsverweigerungsgründe, die auf der Souveränität oder anderen wesentlichen Interessen des ersuchten Staates beruhen oder mit der Rechtmäßigkeit zusammenhängen • Regelung für die Haftung der Staaten im Fall einer auf Einstellung des Verfahrens oder Freispruch lautenden Entscheidung Zur Herstellung von Rechtssicherheit und -klarheit sollten mehrere geeignete, gleichartige Maßnahmen in einem einzigen Instrument zusammengefasst werden.248 II. Außenbetrachtung 1. Abgrenzung zur traditionellen Rechtshilfe Mit seinem Einfluss auf die traditionelle Rechtshilfe wird das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung in den Mitgliedstaaten unterschiedlich kritisch betrachtet. Jener Grundsatz sei eine Weiterentwicklung des Anerkennungsprinzips, welches jeder Form der Rechtshilfe innewohne. Auch bei der traditionellen Rechtshilfe bringe der ersuchte Staat durch seine Bewilligungsentscheidung konkludent sein Vertrauen in die Zuverlässigkeit der ausländischen Strafrechtspflege zum Ausdruck und erkenne diese als gleichwertig an.249 So würden sich beide Staaten im Rechtshilfeverkehr als souveräne, gleichwertige Subjekte begegnen, welche sich dafür zur Gegenseitigkeit verpflichtet hätten.250 248 Maßnahmenprogramm
vom 15.1.2001, Abl. 2001 C 12 / 1, 12. in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 1 IRG, Rn. 172; Andreou, Gegenseitige Anerkennung, 25, 42 f., 50; Nalewajko, Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, 89. 250 Siehe unten 2. Teil 4. Kapitel C. III. 1. 249 Vogel,
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2. Teil: Darstellung
Über die Gegenseitigkeit der Rechtshilfe geht jedoch das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung hinaus. Dessen wesentlicher Gehalt und somit seine Wirkungsweise und Bedeutung hängen von der Unmittelbarkeit des Anerkennungs- und Vollstreckungsverfahrens ab. Entweder wird auf eine umfassende Überprüfung und einen Transformationsakt der fremden Entscheidung ins nationale Recht verzichtet oder es wird an der bisherigen Form der Bewilligung von Rechtshilfeersuchen festgehalten.251 Ob man die Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung schon als Revolution oder nur als Reform ansieht, hängt so vor allem vom Grad der Unmittelbarkeit der extraterritorialen Entscheidung und ihres Einflusses auf die traditionelle Rechtshilfe ab. Hierzu dominieren zwei Auffassungen. Nach der einen führt die Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung im justiziellen Bereich zum Verschwinden bzw. zur Abschaffung der traditionellen Rechtshilfe und zur weitgehend automatisierten Anerkennung von Haftbefehlen, Prozesshandlungen, prozessualen Anordnungen und Urteilen. Die traditionelle Rechtshilfe bleibe so nur im Verhältnis zu Drittstaaten bestehen.252 Nach anderer Auffassung reformiert das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung nur das bisherige Rechtshilfeverfahren. Diese Modifikation beruhe ebenso wie die bisherige Rechtshilfe auf einem Antrags- und Bewilligungsverfahren. Lediglich die Ablehnungsgründe würden reduziert. Das traditionelle Rechtshilferecht bleibe so erhalten.253 2. Wirkungsweise a) Exkurs: Der Begriff des Exequaturverfahrens Der Begriff Exequaturverfahren kommt aus der Vollstreckungshilfe und wird dort im Rahmen der Leistungsermächtigung für das gerichtliche Zulässigkeitsverfahren verwendet. Er betrifft insoweit die Vollstreckbarkeitserklä251 Belfiore, EJCCL 2009, 1, 6, 8, Belfiore nennt dies den crucial point des neuen Verfahrens. Den Aspekt der Unmittelbarkeit der Entscheidung bezeichnet sie als ultra-territorial binding force of judicial decisions. Würde die weitere Entwicklung der Rechtshilfe diesem Gesichtspunkt folgen, handele es sich dabei um einen revolutionary mechanism gegenüber der bisherigen Rechtshilfe; auch Riedo, Fiolka, Niggli sprechen im Hinblick auf die Unmittelbarkeit der Entscheidung von einer grundlegenden Umgestaltung der Rechtshilfe der Mitgliedstaaten, Riedo / Fiolka / Niggli, Schweizerisches Strafprozessrecht, 503; nach Ahlbrecht hat der Europäische Haftbefehl das Auslieferungsrecht und den Auslieferungsverkehr innerhalb der Europäischen Uninon revolutionär vereinfacht, Ahlbrecht, StV 2013, 114, 114; vgl. auch Vogel, JZ 2001, 937, 937. 252 Riedo / Fiolka / Niggli, Schweizerisches Strafprozessrecht, 503; Andreou, Gegenseitige Anerkennung, 25, 42 f., 50; Hackner / Schierholt, Rechtshilfe, 18 f. 253 Sieber, ZStW 2009, 1, 18 f., 34.
2. Kap.: Prinzip der gegenseitigen Anerkennung in der Beweisrechtshilfe81
rung eines ausländischen Urteils und kann auf zwei Arten realisiert werden: entweder durch ein Umwandlungsverfahren oder durch die Fortsetzung der Vollstreckung der ausländischen Sanktion.254 Indem er auch synonym verwendet wird für den Begriff der Transformationsentscheidung aus der übrigen Rechtshilfe, erfuhr der Begriff der Exequatur durch einige Autoren eine untechnische Bedeutungserweiterung. Eine Transformationsentscheidung ist die Umwandlung des Ersuchens einer ausländischen Behörde in eine inländische Entscheidung durch eine Justizbehörde.255 Dieser Vorgang ist notwendig, da eine ausländische Entscheidung grundsätzlich keine unmittelbare extraterritorielle Wirkung entfalten kann. Schwierig ist die Einordnung des Begriffs Exequatur in der Diskussion über die unmittelbare Wirkung einer justiziellen Entscheidung zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung. Hier wird der Terminus Exequatur für jede Form der Rechtshilfe verwendet. Exequatur sei die Umwandlung bzw. Transformation jeglicher ausländischer Entscheidungen durch deutsche Justizbehörden in der Rechtshilfe.256 Hauptsächlich Gegner des Anerkennungsverfahrens verengen hingegen den Terminus Exequatur auf das Bewilligungsverfahren.257 b) Unmittelbare Wirkung Einem Teil der Literatur zufolge gilt das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung in seiner reinen Form. Nach der traditionellen Rechtshilfe werde eine ausländische Entscheidung nicht unmittelbar vollstreckt. Hierfür bedürfe es immer einer innerstaatlichen Transformationsentscheidung. Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung führe hingegen zur unmittelbaren Wirkung einer ausländischen Entscheidung im Inland. Es verpflichte die Mitgliedstaaten, dieses sogenannte Exequaturverfahren – insbesondere die Bewilligungsentscheidung – abzuschaffen.258 Die fremde Entscheidung sei mithin einer inländischen ohne Weiteres gleichzustellen.259 Hierdurch entständen bei einer europäischen Anordnung – etwa einer EBA – ein Automatismus und eine Unmittelbarkeit des Anerkennungs- und Vollstreckungsverfahrens.260 254 Dazu
näher oben 2. Teil 1. Kapitel E. II. 1. b). European criminal law, 351. 256 Vorschlag für einen RB EBA vom 14.11.2003, KOM(2003) 688 endgültig, 5; Esser, in: Heinrich / Jäger / Achenbach / Amelung / Bottke / Haffke / Schünemann / Wolter (Hg.), FS-Roxin, 1497, 1499. 257 Vogel, in: Vogel / Grotz (Hg.), Perspektiven des internationalen Strafprozessrechts, 1, 52. 258 Vogel, in: Vogel / Grotz (Hg.), Perspektiven des internationalen Strafprozessrechts, 1, 52; Esser, in: Heinrich / Jäger / Achenbach / Amelung / Bottke / Haffke / Schüne mann / Wolter (Hg.), FS-Roxin, 1497, 1499; Swoboda, HRRS 2014, 10, 17 f. 259 Vogel, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 1 IRG, Rn. 172. 255 Klip,
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Laut Mavany folgt dies für die EBA aus Art. 11 Abs. 1 HS. 1 RB EBA, da die Vollstreckungsbehörde eine EBA ohne weitere Formalität anerkennen soll. Dabei gebe es keine weitere Überprüfung der fremden Entscheidung. Die EBA stehe so einer innerstaatlichen Beweisanordnung gleich und müsse folglich wie eine solche behandelt werden. Eine EBA bedürfe keiner Umwandlung in einen innerstaatlichen Rechtsakt.261 Die Anerkennung der EBA sei kein formeller Akt, sondern diese ergebe sich konkludent aus ihrer Vollstreckung.262 260
Andere Autoren stellen ab auf die amtliche Terminologie der Rechtsakte zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung. Ein Befehl wie ein EHB oder eine Anordnung wie eine EBA ließen der ausführenden Behörde im Gegensatz zu einem Ersuchen keinen Entscheidungsspielraum, so dass auch kein Platz mehr sei für ein Bewilligungsverfahren.263 c) Mittelbare Wirkung Nach anderer Ansicht haben fremde Entscheidungen im Rahmen des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung nur mittelbare Wirkung. Zwar habe es in älteren Dokumenten der Kommission geheißen, dass nach dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung eine Entscheidung eines Richters automatisch anerkannt werden solle. Jedoch würden in den EU-Rechtsakten zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung die Begriffe automaticity, direct execution und automatic enforcement vermieden und eher der Begriff immediate enforcement verwendet. Die nationale Souveränität solle so gewahrt bleiben.264 260 Vogel, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 1 IRG, Rn. 172; Vogel, JZ 2001, 937, 940; Ligeti, Strafrechtliche Zusammenarbeit, 181 f.; Stefano poulou, JR 2011, 54, 57; Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 37, 116, 143; nach Burchard entstände durch die Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung nach der RL EEA in der Beweisrechtshilfe eine neue Form der extraterritorialen Beweiserhebung, was zu einer „Enthegung“ staatlicher Herrschaftsgewalt führen würde, Burchard, in: Beck / Burchard / Fateh-Moghadam (Hg.), Strafrechtsvergleichung, 275, 275, 283. 261 Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 116, 137; Hecker, Europäisches Strafrecht, 470; Esser, in: Heinrich / Jäger / Achenbach / Amelung / Bottke / Haffke / Schünemann / Wolter (Hg.), FS-Roxin, 1497, 1499; Ligeti, Strafrechtliche Zusammenarbeit, 219 f.; Klip, European criminal law, 339; Hauck, in: Böse (Hg.), Enzy klopädie Europarecht, 413, 438. 262 Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 116. 263 Bachmaier Winter, ZIS 2010, 580, 582; Ambos, ZIS 2010, 557, 557; Ambos, Internationales Strafrecht, 507; Hecker, Europäisches Strafrecht, 430 Fn. 45. 264 Belfiore, EJCCL 2009, 1, 8; Nilsson, in: Kerchove / Weyembergh (Hg.), La confiance mutuelle, 30, 31 f.; Mitsilegas, CMLR 2006, 1277, 1282.
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Die Mittelbarkeit der Entscheidung mache sich im Anerkennungsverfahren bemerkbar. Danach bedürfe es einer Anerkennungsentscheidung im Vollstreckungsstaat, welche sich grundsätzlich nach dessen nationalem Recht richte.265 Die neue Terminologie, welche die EU-Rechtsakte zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung eingeführt hätten, gebe nur bedingt Hinweise darüber, ob ein EHB, eine EBA oder eine andere Europäische Anordnung unmittelbare oder mittelbare Wirkung im Vollstreckungsstaat entfalte. Die Begriffe Befehl und Anordnung würden gegenüber dem Begriff des Rechtshilfeersuchens eine Verbindlichkeit nur suggerieren. Ein Rückschluss auf die Unmittelbarkeit der Entscheidung sei zwar denkbar, dränge sich hierdurch jedoch nicht auf. Zwar stelle der Übergang vom Ersuchen zur Anordnung dogmatisch einen Paradigmenwechsel dar.266 Faktisch aber sei die Verbindlichkeit von EU-Rechtsakten zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung nichts wirklich Neues. Bereits in früheren Rechtshilfeübereinkommen der Mitgliedstaaten sei ein hinreichendes Maß an Verbindlichkeit vereinbart worden.267 Für Schierholt und Ambos stellt daher die neue Terminologie keine große Veränderung dar. Zwar verwende die traditionelle Rechtshilfe formal noch Ersuchen, der ersuchte Staat sei aber bereits jetzt verpflichtet, grundsätzlich mit einem auf null reduzierten Ermessen zu entscheiden.268 Die Anordnungsstruktur der europäischen Rechtsinstrumente solle die Ermessensentscheidung über die Ausführung eines Ersuchens erleichtern, eine solche Entscheidung jedoch nicht verhindern.269 Nach Vogel ist eine Europäische Anordnung im Grundsatz verpflichtend, stellt aber selbst noch keinen Vollstreckungstitel dar. Die wirkliche Bedeutung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung bestehe vielmehr in der Reichweite der Mitwirkungsbefugnis bei der Gestaltung der Rechtshilfe. Diese werde durch den Wandel vom internationalen zum supranationalen Rechtsrahmen hervorgerufen.270 265 Vogel nennt dies exequatur, Vogel, in: Hilf / Nettesheim (Hg.), EUV, AEUVKommentar, Art. 82 AEUV, Rn. 25, 27. 266 Schierholt, ZIS 2010, 567, 567; Böse, in: Maiwald / Momsen / Bloy / Rackow (Hg.), FS-Maiwald, 233, 240; Gittermann, in: von Olenhusen (Hg.), FS-OLG Celle, 549, 553; so auch Rackow zur justiziellen Entscheidung gem. Art. 82 Abs. 1 AEUV, die von ihrer Begrifflichkeit auch einfache Rechtshilfeersuchen umfassen soll, Rackow, in: Ambos (Hg.), Europäisches Strafrecht post-Lissabon, 117, 130. 267 Spencer, ZIS 2010, 602, 602; Klip, European criminal law, 330. 268 Schierholt, ZIS 2010, 567, 567 f.; Ambos, ZIS 2010, 557, 557, auch Asp weist auf diesen eingeengten Anwendungsbereich hin mit seinen Aussagen runs the risk of coming very close to a traditional „request for cooperation-system“ und the shift from cooperation to Mutual Recognition is not necessarily as big as we tend to think, räumt dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung jedoch eine größere Perspektive ein, Asp, in: Husabø / Strandbakken (Hg.), Harmonization of criminal law in Europe, 23, 30 f. 269 Belfiore, EJCCL 2009, 1, 9.
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Zudem werde ein bloßer Automatismus durch die konkrete Ausgestaltung der Rechtsinstrumente zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung verhindert. Soweit sie mit grundrechtsintensiven Eingriffen verbunden wären, seien diese Rechtsinstrumente von einem System der Versagungs- und Ablehnungsgründe geprägt. So müsse eine Entscheidung nicht anerkannt und vollstreckt werden, falls einer der zahlreichen Verweigerungsgründe vorliege. Eine Überprüfung der Entscheidung werde dadurch gerade notwendig, selbst wenn ein Verweigerungsgrund nur fakultativ ausgestaltet sein sollte.271 Die zahlreichen Ausnahmemöglichkeiten würden die Bindungswirkung wieder auf das bisherige Maß zurückführen. Entscheidend sei so immer der konkrete Einzelfall.272 Nach Rackow ergibt sich somit kein großer Unterschied zur traditionellen Rechtshilfe. Sie präsentiere sich lediglich im neuen Gewand. Die Prüfung werde bloß verlagert und finde jetzt innerhalb der Ablehnungsgründe statt. Der Entscheidung über die Bewilligung werde so ein Bekenntnis zur Hilfswilligkeit vorangestellt.273 270
In der Ausweitung und Erweiterung der Ablehnungsgründe in der RL EEA sieht Rackow das schrittweise Scheitern an den sich ergebenden Sachproblemen und letztendlich die Kapitulation des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung. Als Sachproblem versteht er die Verschiedenheit der nationalen Rechtssysteme. So werde insbesondere nicht auf die Rechtshilfehindernisse und Rechtshilfevoraussetzungen wie die beiderseitige Strafbarkeit und 270 Vogel, in: Hilf / Nettesheim (Hg.), EUV, AEUV-Kommentar, Art. 82 AEUV, Rn. 25, 29; Böse, in: Schwarze / Becker / Bär-Bouyssière (Hg.), EU-Kommentar, Art. 82 AEUV, Rn. 15; nach Hofmanski besteht der durch den EHB und andere Rechtsinstrumente zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung geschaffene Fortschritt darin, dass die Möglichkeit der Rechtshilfeversagung radikal eingeschränkt wird, Hofmanski, in: Joerden / Scheffler / Sinn / Wolf (Hg.), FS-Szwarc, 667, 673; OLG München StV 2013, 313, 314, nach OLG München ist der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung nicht in dem Sinne „self-executing“, dass er auch ohne Umsetzung im jeweils einschlägigen Auslieferungs- und Rechtshilferecht anwendbar wäre. 271 Rackow, in: Ambos (Hg.), Europäisches Strafrecht post-Lissabon, 117, 131, Rackow bezeichnet dies daher als neuralgischen Punkt der jeweiligen Rechtsinstrumente; Ambos, Internationales Strafrecht, 526, nach Ambos verbleibt dem Vollstreckungsstaat aufgrund dieser Verweigerungsgründe noch so viel eigenständige Prüfungs- und Beurteilungskompetenz, dass er nicht als blinder Vollstrecker angesehen werden kann; Dicker, KritV 2012, 417, 428. 272 Schierholt, ZIS 2010, 567, 567 f.; Sieber, ZStW 2009, 1, 35; Böse, in: Maiwald / Momsen / Bloy / Rackow (Hg.), FS-Maiwald, 233, 241; a. A.: Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 93 f., nach Mavany ist die Vollstreckungsbehörde nicht zur Überprüfung der Anordnung berufen, sondern grundsätzlich lediglich zum realen Tätigwerden verpflichtet, so dass sich die Verwendung einer neuen Terminologie nicht in einer Umgestaltung der klassischen Nomenklatur erschöpft. 273 Rackow, in: Ambos (Hg.), Europäisches Strafrecht post-Lissabon, 117, 131, 136.
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Territorialität verzichtet.274 Dicker sieht in der Umwandlung der justiziellen Entscheidung eines anderen EU-Mitgliedstaats generell die Schwäche der RL EEA. Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung biete […] bei konsequenter Verwirklichung […] die Möglichkeit, die innerstaatlichen Abläufe des tradierten Rechtshilfeverfahrens […] zu optimieren. Durch den weiten Regelungsumfang der Richtlinie, […] blieben eröffnete Möglichkeiten zur Beschleunigung und Vereinfachung des innerstaatlichen Verfahrens letztlich ungenutzt. Die notwendigen Verfahrensschritte verhinderten einen wirklichen Effizienzgewinn.275 Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung modifiziere so lediglich die traditionelle Rechtshilfe, lasse sie aber in ihren Grundzügen wie dem Bewilligungsverfahren unberührt.276 d) Vermittelnde Ansicht Neben jenen beiden polarisierenden Ansichten gibt es verschiedene Ansätze, die die Unmittelbarkeit der Entscheidung zwar relativieren, sie jedoch grundsätzlich anerkennen. Nalewajko differenziert zwischen drei Formen der Rechtshilfe mit unterschiedlichen Graden der Unmittelbarkeit der Entscheidung. Nach der traditionellen Rechtshilfe werde im Rahmen einer Exequatur eine ausländische Entscheidung inkorporiert. Im Anerkennungsverfahren der reinen Lehre des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung entfalte eine ausländische Entscheidung im Inland ihre Wirkungsweise möglichst unangepasst. Daneben existiere noch eine eingeschränkte Form der gegenseitigen Anerkennung. In dieser Form unterliege das Anerkennungsverfahren noch einigen Restriktionen und Kontrollen im Vollstreckungsstaat. Aufgrund eines entsprechenden Vorbehalts könne die Anerkennung bei definiertem Bedingungsausfall abge274 Rackow, in: Ambos (Hg.), Europäisches Strafrecht post-Lissabon, 117, 132, 136, nach Rackow ist das Potenzial des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung nur begrenzt und wird überschätzt. 275 Dicker, KritV 2012, 417, 431. 276 Dicker, KritV 2012, 417, 432, nach Dicker mag in einer vorläufigen Gesamtbetrachtung die mit der Richtlinie EEA beabsichtigte Abkehr von der traditionellen Rechtshilfe mit Ersuchen hin zu einem System der gegenseitigen Anerkennung mit Anordnungen zwar formal ein Paradigmenwechsel sein – in der Wirklichkeit deutscher Anwendungspraxis wird sich dies voraussichtlich aber als weit weniger erheblich darstellen; Böse, ZIS 2014, 152, 163, nach Böse folgen die Beweiserhebung und der Beweistransfer auf der Grundlage einer Europäischen Ermittlungsanordnung weitgehend den bisher geltenden Grundsätzen der internationalen Beweisrechtshilfe; Rackow, in: Ambos (Hg.), Europäisches Strafrecht post-Lissabon, 117, 132, 136; so einschränkend auch OLG Stuttgart NJW 2004, 3437.
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lehnt werden. Die eingeschränkte Anerkennung stelle eine Übergangsform dar zwischen der traditionellen Rechtshilfe und der strikten Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung.277 Die strikte Form der gegenseitigen Anerkennung gehe von der Äquivalenz der justiziellen Entscheidungen der Mitgliedstaaten aus. Dabei nehme das Vertrauen in die Gleichwertigkeit der justiziellen Entscheidungen eine zentrale Bedeutung ein.278 Je mehr Vertrauen gewährt werden könne, desto weniger Anlass bestehe für eine Überprüfung der fremden Entscheidung. Neben diesem Vertrauen spiele die Rechtsharmonisierung für das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung eine wichtige Rolle. Nach Epiney besteht in jedem Anwendungsbereich des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung ein enger Zusammenhang zwischen Harmonisierung und diesem Prinzip. Eine absolute Verpflichtung zur Anerkennung sei möglich, setze jedoch eine entsprechende Mindestharmonisierung voraus. Gegebenenfalls würden die Mitgliedstaaten eine Anerkennung nur aufgrund von EU-Primärrecht versagen dürfen.279 Ebenso ist nach Möstl eine automatische Anerkennung im Rechtsrahmen des Sekundärrechts nur bei entsprechender Rechtsangleichung möglich.280 Ohne gewisse Mindestvoraussetzungen ist auch für Vogel eine Anerkennung nach dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung unzulässig: Zwar solle durch Rechtsinstrumente gemäß Art. 82 Abs. 1 UAbs. 2 lit. a AEUV eine solche Anerkennung sichergestellt werden, eine Pflicht zur bedingungslosen Anerkennung – um jeden Preis – werde hierdurch jedoch nicht begründet.281 Beide Gesichtspunkte beeinflussen die tatsächliche Umsetzung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung. Nach Asp gibt es mehrere Grade der gegenseitigen Anerkennung, welche allesamt von deren Grundkonzept gedeckt sind. Der Vollstreckungsstaat könne für die Anerkennung die fremde Entscheidung entweder einer inländischen umfassend gleichstellen (on one end of the scale) oder ein mühsames und bedingungsreiches Überprüfungsverfahren wählen, welches für inländische Entscheidungen nicht vorgesehen sei (on the other end of the scale). Die Art und Weise der Überprüfung sei 277 Nalewajko, Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, 89 f.; ähnlich auch Andreou, Gegenseitige Anerkennung, 46 ff. 278 Nalewajko, Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, 89. 279 Epiney, in: Riklin / Niggli / Hurtado Pozo / Queloz (Hg.), FS-Riklin, 365, 372, Epiney kritisiert jedoch die Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung im Strafrecht aufgrund von wesentlichen Strukturunterschieden zwischem dem Binnenmarkt und dem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. 280 Möstl, in: Bernreuther / Freitag / Leible / Sippel / Wanitzek (Hg.), FS Spellenberg, 717, 723 ff. 281 Vogel, in: Hilf / Nettesheim (Hg.), EUV, AEUV-Kommentar, Art. 82 AEUV, Rn. 56.
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ihm grundsätzlich freigestellt (in between).282 Der Abbau von Kontrollen und die konkrete Ausgestaltung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung sei aber von gewissen Faktoren abhängig,283 eine unmittelbare Anerkennung aller Entscheidungen sei gegenwärtig noch nicht umsetzbar (direct enforcement to mean a totally unconditional recognition without any validation procedure at all, it seems clear that this is not an option at the moment).284 Die verschiedenen Grade der gegenseitigen Anerkennung würden insbesondere im Rahmen der Bewilligungsverfahren der Mitgliedstaaten sichtbar. Da die gegenwärtige EU-Rechtssetzung kein klares Bekenntnis für eine unmittelbare Anerkennung einer europäischen Anordnung enthalte, bleibe somit die Umwandlung einer ausländischen Entscheidung in eine inländische zulässig. Die EU-Rechtssetzung greife auch nicht in den strukturellen Aufbau der Verwaltung in den Mitgliedstaaten ein. Zumindest dulde die EU auch das innerstaatliche zweistufige Rechtshilfeverfahren, solange die Ziele ihres entsprechenden Sekundärrechts ordnungsgemäß umgesetzt würden. Eine europäische Anordnung dürfe so grundsätzlich nicht mehr aufgrund politischer Vorbehalte abgelehnt werden. Die Mitgliedstaaten könnten so weiterhin an einem zweistufigen Rechtshilfeverfahren festhalten. Von dieser Möglichkeit habe insbesondere Deutschland Gebrauch gemacht, während etwa Österreich und Polen das Bewilligungsverfahren insgesamt abgeschafft hätten.285 Das Bewilligungsverfahren als solches sei so vom Umfang zwar stark beschränkt und partiell beseitigt, bleibe aber im Grundsatz – mit Billigung der Kommission, trotz anderer Konzeption – erhalten.286 282 Asp, in: Husabø / Strandbakken (Hg.), Harmonization of criminal law in Europe, 23, 30 f.; ähnlich auch Krüßmann, Krüßmann, Transnationales Strafprozessrecht, 576. 283 Nalewajko, Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, 89; Krüßmann, Transnationales Strafprozessrecht, 576. 284 Asp, in: Husabø / Strandbakken (Hg.), Harmonization of criminal law in Europe, 23, 30 f. 285 Krüßmann, Transnationales Strafprozessrecht, 597, 614; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 175 ff., nach Satzger wird zumindest auf eine politische Bewilligungsentscheidung ganz verzichtet, 175, es wäre jedoch vorzugswürdig gewesen, auf das Bewilligungsverfahren zu verzichten und so der europäischen Zielsetzung zu entsprechen, 178. 286 Andreou, Gegenseitige Anerkennung, 52 f.; Mitteilung vom 26.7.2000, KOM(2000) 495 endgültig, 2, 9, 19; nach Krüßmann wird die Bewilligungsentscheidung durch den RB EHB zwar verrechtlicht und unionsweit einem Kanon von Ablehnungsgründen unterworfen, seine Existenz als solche bleibt jedoch unberührt, Krüßmann, Transnationales Strafprozessrecht, 596; Krüßmann erkennt jedoch an, dass die Reihe der Umsetzungsmaßnahmen zeigt, dass durch Europäischen Haftbefehl, Europäische Sicherstellungsanordnung sowie zuletzt die Europäische Beweisanordnung die Axt an die Wurzel der mitgliedstaatlichen Bewilligungsverfahren gelegt ist, welche die Rechtshilfezusammenarbeit bislang charakterisieren, Krüßmann, Transnationales Strafprozessrecht, 613 f.
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III. Eigene Stellungnahme Der vermittelnden Ansicht ist weitestgehend zuzustimmen. Nach dem gegenwärtigen Stand des Sekundärrechts soll eine europäische Anordnung zwar unmittelbare Wirkung haben können, sie muss es aber nicht zwingend. Den Mitgliedstaaten bleibt es überlassen, ihr nationales Rechtshilferecht an das ursprüngliche Konzept der EU zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung anzupassen oder weiterhin eine europäische Anordnung – wie bisher schon ein traditionelles Rechtshilfeersuchen – in eine inländische Entscheidung umzuwandeln. Auch im Exequaturverfahren der Vollstreckungshilfe hat der Vollstreckungsstaat grundsätzlich ein Wahlrecht, ob er die Vollstreckung einer ausländischen Verurteilung fortsetzt oder ob er die Sanktion des Urteilsstaats in eine inländische Entscheidung umwandelt. Hieran orientiert sich momentan insgesamt das Rechtshilferecht zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung. Eine fortgesetzte, unmittelbare Anerkennung und Vollstreckung einer ausländischen Entscheidung mag sich wie in der Vollstreckungshilfe insbesondere für Urteile anbieten, vgl. Art. 9–11 ÜberstÜbk. Rechtskräftige und vollstreckbare Urteile haben im In- und Ausland einen besonderen Rang, welcher eine Gleichbehandlung rechtfertigt. Im sonstigen Rechtshilferecht werden jedoch Gerichtsbeschlüsse und andere Arten justizieller Entscheidungen verwendet. Wie die EU bereits erläutert hat,287 ist hier eine Gleichbehandlung und somit unmittelbare Anerkennung und Vollstreckung von mehreren Parametern abhängig. Sind diese erfüllt, ist auch eine allgemeine Analogie zur Vollstreckungshilfe zulässig. Die transnationale, unmittelbare Wirkung einer behördlichen Entscheidung ist außerdem kein Novum. Im internationalen Verwaltungsrecht wird bereits seit Längerem über die unmittelbare Wirkung eines transnationalen Verwaltungsakts diskutiert.288 Angeführt werden hier ähnliche Argumente. Erst eine umfassende Angleichung der nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten rechtfertige die Anerkennung ausländischer Verwaltungsentscheidungen.289 Auch hier ist der Anwendungsbereich äußerst begrenzt. Unmittelbar anerkannt werden so z. B. ausländische Führerscheine, Hochschuldiplome, Produktstandards und einheitliche Visa.290 287 Vgl.
2. Teil 2. Kapitel B. I. 5. DVBl 1993, 924; Becker, DVBl 2001, 855; Ruffert, Die Verwaltung 2001, 453; Engel, Die Verwaltung 1992, 437; Neßler, NVwZ 1995, 863; Böse, in: Maiwald / Momsen / Bloy / Rackow (Hg.), FS-Maiwald, 233, 235. 289 Schmidt-Aßmann, DVBl 1993, 924, 936. 290 Richtlinie des Rates vom 21. Dezember 1988 über eine allgemeine Regelung zur Anerkennung der Hochschuldiplome, die eine mindestens dreijährige Berufsausbildung abschließen (89 / 48 / EWG, Abl. 1989 L 19 / 16; Art. 250 Verordnung (EWG) Nr. 2913 / 92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der 288 Schmidt-Aßmann,
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Obwohl die EU mit ihrem Sekundärrecht keine klaren Regelungen zur innerstaatlichen Behördenstruktur der Mitgliedstaaten im Rechtshilfeverfahren getroffen hat, ist durchaus umstritten, ob das zweistufige Rechtshilfeverfahren in Deutschland zulässig bleibt.291 Zwar wird durch ein solches Verfahren das Ziel des EU-Sekundärrechts nicht beeinträchtigt, justizielle Entscheidungen ungehindert anzuerkennen, da die Bewilligungsbehörde hinsichtlich ihrer Entscheidung über einen EHB gegenüber der traditionellen Auslieferung nur noch ein reduziertes Ermessen hat. Weil außenpolitische Erwägungen nicht mehr berücksichtigt werden, wird vertreten, dass das Bewilligungsverfahren an justiziellem Charakter gewänne.292 Doch mag man im Rahmen des Rechtshilfeverkehrs mit den Mitgliedstaaten in der Tat darüber diskutieren, ob Deutschland wenigstens bei der sonstigen Rechtshilfe Abstand vom Bewilligungsverfahren nehmen sollte: Bewilligungsbehörde und Vornahmebehörde sind hier in vielen Bundesländern identisch. Für die Mitgliedstaaten wäre es insofern womöglich um einiges einfacher, wenn die Ebene ihres deutschen Gegenübers in vergleichbaren Fällen bundesweit übereinstimmte. Dies entspräche auch dem Konzept eines transnationalen Strafverfahrens.
C. Ausnahmen zur beiderseitigen Strafbarkeit I. Rechtssetzungstechnik des Ausnahmekatalogs Der Verzicht auf das Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit kennzeichnet das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung. Zwar setzt auch schon Gemeinschaften, Abl. 1992 L 302 / 1 sowie Abl. 1997 L 17 / 1; Art. 2 Abs. 1 Richtlinie 2006 / 126 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 über den Führerschein; Abl. 2006 L 403 / 18; Art. 10 SDÜ. 291 Dafür etwa Krüßmann, Transnationales Strafprozessrecht, 597, 614; das OLG Hamburg macht jedoch in einem Beschluss vom 20.3.2008 deutlich, dass die Zweigleisigkeit zwischen Zulässigkeitsverfahren und Bewilligungsverfahren im Gegensatz zum Rahmenbeschluss steht, da dieser nur von einem justiziellen Verfahren ausgeht, OLG Hamburg NStZ 2009, 460, 461; sehr kritisch auch Schomburg, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, § 83b IRG, Rn. 3 ff.; Hackner bezeichnet daher die deutsche Umsetzung des RB EHB als rahmenbeschlusswidrig, Hackner, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, Einführung in den Hauptteil I, Rn. 62; Hackner / Schierholt, Rechtshilfe, 70; Hackner / Schomburg / Lagodny / Gleß, NStZ 2006, 663, 665; Wasmeier, in: Sieber / Brüner / Satzger / von Heintschel-Heinegg (Hg.), Europäisches Strafrecht, 504, 511; von Heintschel-Heinegg, in: Sieber / Brüner / Satzger / von Heintschel-Heinegg (Hg.), Europäisches Strafrecht, 581, 590; Burchard, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 537, 545; Swoboda, HRRS 2014, 10, 17; zweifelnd auch Vogel, in: Hilf / Nettesheim (Hg.), EUV, AEUV-Kommentar, Art. 82 AEUV, Rn. 31. 292 Böhm, NJW 2006, 2592, 2596; a. A. Hackner / Schomburg / Lagodny / Gleß, NStZ 2006, 663, 666.
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die traditionelle Rechtshilfe die beiderseitige Strafbarkeit nur in eingeschränkter Form voraus,293 jedoch erweitert die Grundkonzeption des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung diesen Verzicht auf alle Arten von Maßnahmen, vgl. etwa § 81 Nr. 4 IRG.294 Jener Verzicht gilt allerdings noch nicht für die diversen Übergangsformen. So soll er sich zunächst nur auf schwere Straftaten erstrecken. Dabei bedient sich die EU einer besonderen Regelungstechnik. Grundsätzlich können alle Entscheidungen ohne Überprüfung der beiderseitigen Strafbarkeit anerkannt werden. Jedoch gibt es bereits zahlreiche Ausnahmen im entsprechenden Sekundärrecht. So unterliegt die Anordnung von Zwangsmaßnahmen ebenso wie bei der traditionellen Rechtshilfe grundsätzlich dem Erfordernis der beiderseitigen „Strafbarkeit“.295 Als neues Rechtssetzungselement führte die EU ein Katalogsystem ein. Lässt sich die mit der Anordnung verfolgte Straftat einem Katalogeintrag zuordnen, ist diese Anordnung vom Vollstreckungsstaat ohne Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit anzuerkennen. Der Katalog vermeidet die Benennung konkreter Straftatbestände und die Definition supranationaler Tatbestandsmerkmale. Aufgeführt werden im Katalog allein Kriminalitätsbereiche. Zwar sprechen die Rahmenbeschlüsse zum EHB und zur EBA, sowie die Rahmenbeschlüsse 2003 / 577 / JI, 2005 / 214 / JI, 2006 / 783 / JI, 2008 / 909 / JI, 2008 / 947 / JI, 2009 / 829 / JI etwas irreführend von „Straftaten“. Straftatbestände im technischen Sinne sind damit aber nicht gemeint. Vielmehr wählt die EU für die Bekämpfung schwerer transnationaler Straftaten bevorzugt die Regelungstechnik des Katalogsystems. Dies gilt sowohl für das Sekundärrecht als auch das Primärrecht. Katalogsysteme existierten bereits 1995 vor Einführung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung in einer Gemeinsamen Maßnahme zu Europol (95 / 73 / JI). Hier werden die Katalogeinträge jedoch als Kriminalitätsfelder bezeichnet. Auch in Art. 83 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV werden enumerativ Kriminalitätsbereiche für die Harmonisierung des materiellen Strafrechts aufgezählt, die sich überwiegend mit den Katalogeinträgen der genannten Rahmenbeschlüsse decken.296 Die Begriffe Kriminalitätsbereich und Straftat sind nicht synonym. Die Wortwahl des Primärrechts ist hier vorzuziehen.
293 Siehe
oben 2. Teil 1. Kapitel D. I. 2. BVerfG spricht hier von einer zentralen Grundentscheidung des Gesetzgebers und der EU, BVerfG BVerfGE 113, 273, 317; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 172, Satzger sieht hierin einen Paradigmenwechsel. 295 Siehe oben 2. Teil 1. Kapitel D. I. 2. 296 Böse, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, § 81 IRG, Rn. 23 ff. 294 Das
2. Kap.: Prinzip der gegenseitigen Anerkennung in der Beweisrechtshilfe91
II. Bestimmtheit des Ausnahmekatalogs Den Mitgliedstaaten bleibt es überlassen, einen nationalen Straftatbestand einem dieser Kriminalitätsbereiche zuzuordnen. Voraussetzung ist jedoch, dass der Straftatbestand nach dem nationalen Recht des ersuchenden Staates mit einer Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Höchstmaß von mindestens drei Jahren bedroht ist.297 Umstritten ist hierbei, ob diese Konstruktion zu einem hinreichend bestimmten Anwendungsbereich führt. 1. Kritik an mangelnder Klarheit des Katalogs Nach einer Ansicht genügt das Katalogsystem in seiner konkreten Ausgestaltung nicht dem rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebot. Vor dem EuGH berief sich der belgische Verein Advocaten voor de Wereld auf diesen Umstand. Im Ausnahmekatalog würden keine Straftaten mit ausreichend klarem und bestimmtem normativen Inhalt aufgelistet, sondern lediglich vage beschriebene Kategorien unerwünschter Verhaltensweisen.298 Dies entspricht der Kritik, welche bereits seit der Einführung des Katalogsystems gegen die Deliktsliste vorgebracht wurde. Dogmatisch unhaltbar sei demnach zudem die Gleichsetzung von unspezifischen Deliktsgruppen und Straftaten.299 Ei297 Vgl. Art. 2 Abs. 2 HS. 3 RB EHB, Art. 14 Abs. 2 HS. 3 RB EBA, Art. 7 Abs. 1 HS. 2 RB 2008 / 909 / JI, Art. 10 Abs. 1 HS. 2 RB 2008 / 947 / JI, Art. 14 Abs. 1 HS. 2 RB 2009 / 829 / JI, ähnlich auch Art. 3 Abs. 2 HS. 2 RB 2003 / 577 / JI, Art. 6 Abs. 1 HS. 2 RB 2006 / 783 / JI. 298 EuGH, Urt. v. 3.5.2007, C-303 / 05, Advocaten voor de Wereld VZW . / . Leden van de Ministerraad, Slg. 2007 I-3672, Rz. 13. 299 Schünemann spricht in diesem Zusammenhang von einer Karikatur einer rechtsstaatlichen Regelung, Schünemann, ZRP 2003, 185, 188; Schünemann, StraFo 2003, 344, 348; Schünemann, StV 2003, 531, 532; so auch Gazeas, Gazeas, ZRP 2005, 18, 21; so auch Hefendehl, ZIS 2006, 229, 230 f.; Ranft, wistra 2005, 361, 364 f.; Hecker spricht von einer eher kriminologisch denn tatbestandsorientierten Positivliste, Hecker, Europäisches Strafrecht, 433; Ambos, Internationales Strafrecht, 524; Rackow, in: Ambos (Hg.), Europäisches Strafrecht post-Lissabon, 117, 119 Fn. 15; Leutheusser-Schnarrenberger, StraFo 2007, 267, 270; Zimmermann / Glaser / Motz, EuCLR 2011, 56, 67; Weigend kritisiert, mit dieser Vorgehensweise würde auch der EU plein pouvier für eine beliebige gesetzgeberische Ausfüllung gegeben, Weigend, ZStW 2004, 275, 285; Nestler, ZStW 2004, 332, 337; Murphy spricht hier von einem labelling anstelle eines defining criminal offences, welches den Zugang und die Vorhersehbarkeit des jeweils geltenden Gesetzes erschwert, Murphy, in: Eckes / Konstadinides (Hg.), Crime within the area of freedom, security and justice, 224, 233; Kotzurek, ZIS 2006, 123, 128; so auch Epiney, Epiney, in: Riklin / Niggli / Hurtado Pozo / Queloz (Hg.), FS-Riklin, 365, 373; Esser, in: Heinrich / Jäger / Achenbach / Amelung / Bottke / Haffke / Schünemann / Wolter (Hg.), FS-Roxin, 1497, 1511; Ditscher, Europäische Beweise, 113.
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2. Teil: Darstellung
nige Autoren befürchten eine erhebliche Missbrauchsgefahr sowohl von Seiten der EU als auch ihrer Mitgliedstaaten. Klip ist besorgt, die Mitgliedstaaten könnten ihr nationales Recht unter einem der unbestimmten Katalogeinträge bündeln und so auch unpassende Umfelddelikte in den Anwendungsbereich des Katalogs überführen.300 Andere kritisieren bereits den Katalog als solchen. Die EU werde den ursprünglich nur für schwere Kriminalität vorgesehenen Katalog auch auf einfache Kriminalität ausweiten. Die Auflistung einzelner Kriminalitätsfelder erhöhe eine Dammbruchgefahr, die das Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit zunehmend aushöhlen und letztlich abschaffen werde. Die Verweisung auf Deliktsgruppen sei die konzeptionelle Schwachstelle der gegenseitigen Anerkennung. Bloße Deliktsgruppen wären das Einfallstor für jegliches Strafverfolgungsinteresse. Dies habe die Erfahrung mit den ständig erweiterten Straftatenkatalogen im nationalen Recht gezeigt, vgl. etwa § 100a StPO.301 Dem Katalogsystem liege auf Seiten der EU ein Denkfehler zugrunde. Danach setzten alle katalogisierten Deliktsgruppen eine grundsätzliche Strafbarkeit in den Mitgliedstaaten voraus. Diese sei jedoch nicht gegeben.302 Nach Gittermann sind insbesondere Tatbestände problematisch, die über eine gewisse Akzessorietät im Zivil- oder Verwaltungsrecht verfügen. Ein entsprechender Spielraum oder eine Genehmigung oder Duldung verhindere so etwa eine Strafverfolgung wegen Betruges oder Betäubungsmitteldelikten. Zwar werde der strafrechtliche Unwert der Tat von allen Staaten anerkannt, dieser richte sich jedoch national danach, was zivilrechtlich oder verwaltungsrechtlich erlaubt oder verboten sei.303 Bei den klassischen Straftatbeständen bestehe ein Konsens nur für deren Kernbereich. In Randbereichen etwa der Tötungsdelikte gibt es erhebliche Unterschiede in der Kriminalisierung. Aufgrund der Verschiedenartigkeit der Rechtstraditionen und der anhaltenden Diskussion im Inland befürworten mehrere Autoren die Beibehaltung des Erfordernisses der beiderseitigen Strafbarkeit für die Bereiche Sterbehilfe, Abtreibung, Stammzellforschung und sonstiger Embryonenschutz.304
300 Klip, European criminal law, 353; Burchard, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 537, 561. 301 Ahlbrecht bezeichnet diese Konstruktion als trojanisches Pferd im Sinne einer versteckten unzulässigen Kompetenzerweiterung der europäischen Rahmengesetzgebung, Ahlbrecht, NStZ 2006, 70, 72; Hefendehl, ZIS 2006, 229, 230 f. 302 Ahlbrecht, NStZ 2006, 70, 72. 303 Gittermann, in: von Olenhusen (Hg.), FS-OLG Celle, 549, 557. 304 Hert / Weis / Cloosen, NJECL 2009, 55, 72.
2. Kap.: Prinzip der gegenseitigen Anerkennung in der Beweisrechtshilfe93
2. Beteiligung der Mitgliedstaaten Nach anderer Ansicht ist die Ausgestaltung des Ausnahmekatalogs bestimmt genug. Laut EuGH ist die Unschärfe der Katalogeinträge systembedingt. Nicht der Katalog müsse konkrete Straftatbestände umfassen, sondern erst das Recht des Anordnungsstaats. Die EU-Rechtsakte zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung seien nicht auf eine Angleichung der fraglichen Straftaten hinsichtlich ihrer Tatbestandsmerkmale oder der angedrohten Strafen gerichtet. Maßgeblich für die Definition und Strafandrohung der spezifischen Straftatbestände sei vielmehr das Recht des Ausstellungsmitgliedstaats. Dass die Mitgliedstaaten in ihren Umsetzungsgesetzen der EU-Rechtsakte zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung die dort enthaltenen Kataloge unverändert übernähmen, sei so ohne Belang.305 Dieser bereits vom Generalanwalt Ruiz-Jarabo Colomer in seinen Schlussanträgen formulierten Ansicht haben sich weite Teile der Literatur angeschlossen.306 3. Eigene Stellungnahme Der befürwortenden Ansicht ist zuzustimmen, dass die EU-Rechtsakte zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung keine Harmonisierung des materiellen Strafrechts der Mitgliedstaaten vorsehen. Ein Rahmenbeschluss war eo ipso nur ein Modell für eine konkrete Ausgestaltung in den Mitgliedstaaten und sollte möglichst vage gestaltet werden. Selbst eine Richtlinie lässt genügend Spielraum für ihre Umsetzung in nationales Recht. Diese Replik allerdings weicht der grundsätzlichen Kritik an dem Regelungsmechanismus der Katalogeinträge aus. Zwar ist es der EU im Rahmen der Rechtshilfe unbenommen, nach dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung auch vollständig auf das Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit zu verzichten. Jedoch hat selbst die EU den vollständigen Verzicht als Zukunftsziel ausgelobt, während sie gegenwärtig den schrittweisen Abbau der beiderseitigen Strafbarkeit bevorzugt. Durch Verwendung vager Begrifflichkeiten handelt die EU ihrer Absicht zuwider, Maßnahmen, welche das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung betreffen, vorerst nur im Bereich der schweren 305 EuGH, Urt. v. 3.5.2007, C-303 / 05, Advocaten voor de Wereld VZW . / . Leden van de Ministerraad, Slg. 2007 I-3672, Rz. 52 f. 306 Schlussanträge des Generalanwalts Ruiz-Jarabo Colomer vom 12.9.2006, C-303 / 05, Advocaten voor de Wereld VZW . / . Leden van de Ministerraad, Slg. 2007 I-3638, 3669; Vogel, in: Hilf / Nettesheim (Hg.), EUV, AEUV-Kommentar, Art. 82 AEUV, Rn. 34; Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 60; Klip, European criminal law, 173; Böse, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, § 81 IRG, Rn. 24; Böse, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 149, 156.
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2. Teil: Darstellung
Kriminalität anzuwenden. Begriffe wie etwa Cyberkriminalität und Sabotage lassen auch die Einbeziehung einer Reihe von Um- und Vorfeldhandlungen zu, welche selbst bei Beachtung der Dreijahresmindestgrenze, vgl. Art. 14 Abs. 2 HS. 3 RB EBA, einen gewissen Erheblichkeitsgrad nicht überschreiten müssen. Diesen Widerspruch scheint auch der EuGH zu sehen, wenn er versichert, dass der Rat die Katalogeinträge korrekt ausgewählt habe. Aufgrund der Schwere der Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch eine im Katalog aufgelistete Verhaltensweise habe der Rat diese in einen Katalog einordnen dürfen. Die Voraussetzung für die Abschaffung des Erfordernisses der beiderseitigen Strafbarkeit würde mit dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung und dem hohen Maß an Vertrauen und Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten vorliegen.307 Somit verlagert die EU das Ausgangsproblem der Bestimmtheit lediglich auf die Mitgliedstaaten. Dass sich diese untereinander solidarisch verhalten, kann die EU nicht gewährleisten. Zwar verpflichten die EU-Rechtsakte mit entsprechendem Katalog die Mitgliedstaaten zu dessen Übernahme. Jedoch haben einige Mitgliedstaaten wie Italien und Belgien gegen diese Umsetzungspflicht verstoßen. Das italienische Umsetzungsgesetz zum RB EHB vom 22. April 2005 orientiert sich zwar am Ausnahmekatalog des Art. 2 Abs. 2 HS. 3 RB EHB, führt aber mit Art. 8 lit. a–z eigene Definitionen und Verweise auf das italienische Strafgesetzbuch ein, die den Verzicht auf das Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit letztlich konterkarieren.308 Aufgrund der klaren Normierung sieht Fichera hierin einen Rückschritt zur traditionellen Rechtshilfe. Der bisherige Freiraum habe ein kooperativeres Verhalten im Bereich der beiderseitigen Strafbarkeit ermöglicht, als es das italienische Umsetzungsgesetz nun erlaube.309 Weniger schwerwiegende Veränderungen enthält das belgische Umsetzungsgesetz zum RB EHB vom 19. Dezember 2003. In Art. 5 Abs. 2 jenes Umsetzungsgesetzes wird zwar der komplette Katalog des RB EHB übernommen. Jedoch werden gemäß Art. 5 Abs. 4 des Umsetzungsgesetzes die Straftatbestände Abtreibung und Sterbehilfe aus dem Katalogeintrag vorsätzliche Tötung ausgenommen.310 307 EuGH, Urt. v. 3.5.2007, C-303 / 05, Advocaten voor de Wereld VZW . / . Leden van de Ministerraad, Slg. 2007 I-3672, Rz. 57 f. 308 Marin, EuConst 2008, 251, 261 ff.; Fichera, ELJ 2009, 70, 79, 88 f.; dies aufgrund von Bestimmtheitsgesichtspunkten befürwortend Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 125; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 178; vgl. italienisches Umsetzungsgesetz: Legge 22 aprile 2005, n. 69. Disposizioni per conformare il diritto interno alla decisione quadro 2002 / 584 / GAI del Consiglio, del 13 giugno 2002, relativa al mandato d’aressto europeo e alle procedure di consegna tra Stati membri – Gazzetta Ufficiale della Repubblica Italiana 29.4.2005 n. 98. 309 Fichera, ELJ 2009, 70, 89. 310 Vgl. belgisches Umsetzungsgesetz: Loi relative au mandat d’arrêt européen du 19 Décembre 2003, Moniteur Belge 22.12.2003, S. 60075.
2. Kap.: Prinzip der gegenseitigen Anerkennung in der Beweisrechtshilfe95
Auch Deutschland war mit der Ausgestaltung des Ausnahmekatalogs unzufrieden und wollte den Anwendungsbereich der Ausnahmekataloge begrenzen. Deutschland wählte indes einen anderen Weg als Italien und Belgien. Die deutsche Delegation wirkte bereits in den Ratsverhandlungen über den RB EHB und den RB EBA darauf hin, dass der Ausnahmekatalog nicht sein volles Ausmaß entfalten konnte. In den entsprechenden Verhandlungen erklärte Deutschland (vgl. etwa Art. 23 Abs. 4 RB EBA), dass für in Deutschland eingehende EHB und EBA aufgrund der sechs Katalogkategorien Terrorismus, Cyberkriminalität, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, Sabotage, Erpressung und Schutzgelderpressung sowie Betrug eine besondere Form eingehalten werden müsse. Die Anordnungsbehörde müsse im entsprechenden EHB / EBA-Formular versichern, dass die verfolgte Straftat den dort aufgeführten speziellen Definitionen entspricht.311 Diese Definitionen verweisen größtenteils auf bereits bestehende supranationale Maßnahmen und internationale Abkommen, enthalten jedoch auch eigene Tatbestandsmerkmale, etwa beim Betrug.312 Mag der Ausnahmekatalog der EU-Rechtsakte auch rechtmäßig sein, so bleibt er doch ihre Schwachstelle. Die gewünschte Effizienz der neuen Rechtsinstrumente leidet, wenn sie zur Ahndung von außerplanmäßigen Straftatbeständen mit bisweilen fragwürdigem Erheblichkeitsgrad missbraucht werden. Zudem sinkt so auch in den Mitgliedstaaten die Akzeptanz jener Rechtsinstrumente, wenn sie gewachsenen Rechtstraditionen zuwiderlaufen. Dies zeigt auch die jüngste Rechtsprechung des EuGH zur Vorratsdatenspeicherung. In seinem Urteil vom 8. April 2014 (Digital Rights Ireland) – Az. C-293 / 12 – hat der EuGH die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung (RL 2006 / 24 / EG) für ungültig erklärt. Der EuGH begründet dies mit unverhältnismäßigen Eingriffen in Art. 7 und 8 GRCh durch die Bestimmungen der Richtlinie.313 Dabei stützt sich der EuGH auch auf die mangelnde Bestimmtheit der Richtlinie:314 Neben dem generellen Fehlen von Einschränkungen sieht die Richtlinie kein obkjektives Kriterium vor, das es ermöglicht, den Zugang der zuständigen nationalen Behörden zu den Daten 311 Vermerk des Generalsekretariats des Rates vom 30.5.2006, Ratsdok. 9516 / 2 / 06 REV 2 COPEN 57. 312 Vermerk des Generalsekretariats des Rates vom 12.2.2008, Ratsdok. 6388 / 1 / 08 COPEN 28; Vermerk des Generalsekretariats des Rates vom 6.5.2008, Ratsdok. 6388 / 1 / 08 REV 1 COPEN 28; Erklärung Deutschlands vom 15.7.2008, Ratsdok. 10100 / 1 / 08 REV 1 COPEN 109; Erklärung Deutschlands vom 14.7.2008, Ratsdok. 10100 / 1 / 08 COPEN 109. 313 EuGH, Urt. v. 8.4.2014, C-293 / 12, Digital Rights Ireland, Rz. 65. 314 Umstritten ist folgende Passage: Bevorraten von Daten zum Zwecke der Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von schweren Straftaten, wie sie von jedem Mitgliedstaat in seinem nationalen Recht bestimmt werden, Art. 1 Abs. 1, Erwägungsgrund 21 RL 2006 / 24 / EG.
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2. Teil: Darstellung
und deren spätere Nutzung zwecks Verhütung, Feststellung oder strafrechtlicher Verfolgung auf Straftaten zu beschränken, die im Hinblick auf das Ausmaß und die Schwere des Eingriffs in die in Art. 7, 8 GRCh verankerten Grundrechte als hinreichend schwer angesehen werden können, um einen solchen Eingriff zu rechtfertigen. Die Richtlinie […] nimmt im Gegenteil […] lediglich allgemein auf die von jedem Mitgliedstaat in seinem nationalen Recht bestimmten schweren Straftaten Bezug.315 Der EuGH rügt hier die mangelnde Bestimmtheit des Sekundärrechts, das keinen angemessenen Rahmen für seine Umsetzung in nationales Recht der Mitgliedstaaten biete. Diesen bleibe es überlassen, Straftaten zu definieren, die von ihrer Schwere als Anknüpfungspunkt für erhebliche Grundrechtseingriffe geeignet seien. Diese Ansicht vertrat im genannten Verfahren auch Generalanwalt Cruz Villalón in seinen Schlussanträgen: Es sei Sache des Unionsgesetzgebers, die Grundprinzipien zu definieren, die für die Festlegung der Mindestgarantien zur Beschränkung des Zugangs zu den erhobenen und auf Vorrat gespeicherten Daten und ihrer Auswertung gelten sollten. In Anbetracht der Stärke des Eingriffs oblag es ihm, die Straftatbestände, die den Zugang der zuständigen nationalen Behörden zu den erhobenen und auf Vorrat gespeicherten Daten rechtfertigen können, mit einem über die Angabe „schwere Straftaten“ hinausgehenden Maß an Präzision zu beschreiben.316 Diese Kritik an der Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung lässt sich zwangslos auch auf Grundrechtseingriffe im Rahmen der Auslieferung aufgrund eines EHB oder auf Zwangsmaßnahmen aufgrund einer EEA übertragen. Abgesehen davon, dass in den Mitgliedstaaten wegen unterschiedlicher Sprachen und Rechtstraditionen einzelne Katalogfelder unterschiedlich ausgelegt werden,317 erhöht die Unschärfe der von der EU gewählten Begriffe die Unklarheit über den Anwendungsbereich der Ausnahmekataloge. Als Konsequenz ergreifen einzelne Mitgliedstaaten unzulässige bzw. unerwünschte Abwehrmechanismen gegen den Abbau der beiderseitigen Strafbarkeit. Dies läuft jedoch dem Konzept der EU zuwider, ihre Rechtsinstrumente rechtsstaatlich, grundrechtskonform und dennoch möglichst effizient zu gestalten. Deshalb bietet sich eher eine supranationale Lösung an, welche den Aspekt der Verhältnismäßigkeit in den Vordergrund rückt. Hierfür muss die Schwere der Tat ausschlaggebend sein. Gemeint sind damit Verfehlungen auf höchster Stufe nach dem Maßstab aller Mitgliedstaaten. Zum besseren Verständnis könnte in den Ausnahmekatalogen auf den EU-Rechtsbestand zum materiellen Strafrecht verwiesen werden. Eine wesentliche Rolle 315 EuGH,
Urt. v. 8.4.2014, C-293 / 12, Digital Rights Ireland, Rz. 60. des Generalanwalts Cruz Villalón vom 12.12.2013, C-293 / 12, Digital Rights Ireland, Rz. 124 f. 317 Fichera, ELJ 2009, 70, 88 f. 316 Schlussanträge
2. Kap.: Prinzip der gegenseitigen Anerkennung in der Beweisrechtshilfe97
spielt hierbei der Grad der Harmonisierung, der es rechtfertigt, auf das Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit zu verzichten.318 III. Bestimmtheit und Rechtssicherheit 1. Prinzip nulla poena sine lege Nach einer Ansicht wird durch den Verzicht auf das Prinzip der beiderseitigen Strafbarkeit der Grundsatz nulla poena sine lege verletzt, vgl. Art. 7 Abs. 1 EMRK, Art. 15 Abs. 1 S. 3 IPbpR, Art. 49 GRCh.319 Wie indes bereits oben dargestellt, gilt jener Grundsatz nur im materiellen Strafrecht. Sowohl das formelle Strafrecht als auch das Rechtshilferecht werden von diesem Grundsatz nicht erfasst.320 2. Rechtssicherheit a) Rechtssicherheit in der internationalen Zusammenarbeit Eine staatliche Vornahmehandlung im Rechtshilfeverfahren, sei es nun eine Auslieferung, Vollstreckungshilfe oder sonstige Rechtshilfe, berührt die Rechte des Betroffenen. Sie orientiert sich am deutschen Verfahrensrecht, vgl. § 77 IRG. Während der Betroffene im deutschen Strafverfahren von der Anwendung des eigenen materiellen Strafrechts ausgehen kann, wird er im Rechtshilfeverfahren auch mit fremden Strafrechtsordnungen konfrontiert. Bislang 27 sind dies allein innerhalb der EU. Diese Vielfalt stellt besondere Anforderungen an den Grundsatz der Rechtssicherheit, welcher sich aus dem Rechtsstaatsprinzip herleitet.321 Rechtssicherheit gehört zu den funda318 Siehe
unten 2. Teil 4. Kapitel D. III., IV. 2. ZIS 2006, 521, 530; Juppe, Die gegenseitige Anerkennung, 130 f.; Schünemann, StV 2003, 531, 532; Kinzler, Grenzüberschreitende Strafverfahren, 186 ff.; Möstl, CMLR 2010, 405, 433 f.; Ditscher, Europäische Beweise, 163; Braum, GA 2005, 681, 692; Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 123 ff. 320 BVerfG BVerfGE 25, 269, 286 f.; 63, 343, 359; 112, 304, 315; BVerfGK 17, 178, 185; OLG Karlsruhe NJW 1985, 2096; OLG München StV 2013, 313, 314; Weigend, in: Müller-Dietz / Müller / Kunz / Radtke / Britz / Momsen / Koriath (Hg.), FS-Jung, 1069, 1073; Böse, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 78 IRG, Rn. 5; Böse, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, § 81 IRG, Rn. 10 f.; Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 59 f., 120 ff.; Krüßmann, Transnationales Strafprozessrecht, 593; Conrad, Beiderseitige Strafbarkeit, 171 ff.; Burchard, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 537, 549; s. a. 2. Teil 1. Kapitel D. I. 2. b) aa). 321 BVerfG BVerfGE 45, 142, 167 f.; 63, 343, 357. 319 Kaiafa-Gbandi,
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2. Teil: Darstellung
mentalen Verfassungsprinzipien, da die Verlässlichkeit der Rechtsordnung wesentliche Voraussetzung für die Freiheit des Einzelnen ist.322 Der Grundsatz der Rechtssicherheit schützt die Beständigkeit und Vorhersehbarkeit gesetzlicher Regelungen und gewährleistet den Vertrauensschutz des Bürgers. Hieran müssen sich auch rein verfahrensrechtliche Bestimmungen des Rechtshilfeverkehrs messen lassen.323 Das gilt umso mehr für eingriffsintensive Maßnahmen. Insoweit wird in den Rechtsinstrumenten zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung bekanntlich auf den Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit teilweise verzichtet. Im Gegenzug bestehen jedoch entsprechende Versagungsgründe, welche die Auswirkungen dieses Verzichts gerade im Hinblick auf die Rechtssicherheit wieder relativieren sollen. Für Straftaten, welche ganz oder teilweise im ersuchten Staat begangen worden sind, bleibt das Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit (zumindest fakultativ) bestehen, Art. 4 Nr. 7 lit. a RB EHB, Art. 13 Abs. 1 lit. f Ziff. i RB EBA. Das Gleiche gilt für Straftaten, welche außerhalb des Hoheitsgebietes des ersuchenden Staates begangen worden sind, falls der ersuchte Staat die Verfolgung solcher Straftaten nicht mit seinem Strafanwendungsrecht vereinbaren kann, Art. 4 Nr. 7 lit. b RB EHB, Art. 13 Abs. 1 lit. f Ziff. ii RB EBA. b) Kritik an mangelnder Rechtssicherheit Einzelnen Kritikern des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung genügt das nicht. Durch den Verzicht auf das Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit sei die Rechtssicherheit nicht mehr gewährleistet.324 Aufgrund von Sprachbarrieren und kulturellen Differenzen sei für den von der Rechtshilfe Betroffenen regelmäßig nicht mehr objektiv vorhersehbar, was ein anderer Mitgliedstaat als strafwürdig betrachte und welche Sanktion er dafür vorgesehen habe. Ebenso regelmäßig sei ihm die Auslegung des Strafgesetzes in der dortigen Rechtspraxis unbekannt.325
322 BVerfG
BVerfGE 60, 253, 268; 63, 343, 357. BVerfGE 63, 343, 358. 324 Braum, GA 2005, 681, 692; Epiney, in: Riklin / Niggli / Hurtado Pozo / Queloz (Hg.), FS-Riklin, 365, 373 f.; in der Kritik etwas abgeschwächt: Gleß, EuCLR 2011, 114, 118 ff.; Fuchs, ZStW 2004, 368, 368, nach Fuchs hat zwar jeder Mitgliedstaat das Recht auf ein kulturell bedingtes Sonderstrafrecht. Der Grundsatz der Gemeinschaftstreue erfordere jedoch keine diesbezügliche Rechtshilfe. 325 Braum, GA 2005, 681, 692. 323 BVerfG
2. Kap.: Prinzip der gegenseitigen Anerkennung in der Beweisrechtshilfe99
c) Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aa) Maßgeblicher räumlicher Bezug Demgegenüber hält das BVerfG die Rechtssicherheit durch den Verzicht auf das Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit nicht für gefährdet. Die Rechtsprechung des BVerfG zur Rechtssicherheit bei der Leistung von Rechtshilfe wird insbesondere von zwei Entscheidungen geprägt, welche hier kurz gestreift werden sollen. In dem ersten Urteil326 vom 22. März 1983 – 2 BvR 475 / 78 – geht es um einem deutsch-österreichischen Rechtshilfevertrag, während sich das zweite Urteil327 vom 18. Juli 2005 – 2 BvR 2236 / 04 – mit der Überprüfung des ersten Umsetzungsgesetzes zum RB EHB (1. EHB-Gesetz) befasst. Anhand jener beiden Urteile entwickelte das BVerfG eine Verhältnismäßigkeitsprüfung für die Rechtshilfeleistung, welche sich an dem Inlandsbezug der verfolgten Tat bemisst. Demnach komme es darauf an, ob die jeweilige Tat einen maßgeblichen Inlands- oder aber Auslandsbezug hat. Leiste Deutschland einem anderen Staat Rechtshilfe wegen einer Tat mit maßgeblichem Inlandsbezug, so verschlechtere sich dadurch die verfahrensrechtliche Stellung des Betroffenen. Ursächlich dafür seien vor allem Sprachhindernisse, kulturelle Unterschiede, abweichendes Prozessrecht sowie andersartige Verteidigungsmöglichkeiten. Die europäische Integration habe diese Unterschiede in den Mitgliedstaaten noch nicht zufriedenstellend ausgeglichen. Darüber hinaus entfalte das fremde materielle Strafrecht eine gewisse Bindungswirkung im Rechtshilfeverfahren. Wem im eigenen Staate zuzumuten sei, sein Handeln kritisch zu hinterfragen und sich über geltendes Recht zu informieren, der müsse fremdes Recht nicht kennen. Wer mit dem jeweiligen nationalen öffentlichen Kontext nicht vertraut sei, dem bleibe eine hinreichend sichere Parallelwertung in der Laiensphäre oft verschlossen. Anders als im deutschen Recht habe der Betroffene auch keinerlei Einfluss darauf, das fremde Recht demokratisch mitzugestalten.328 Habe jedoch die dem Rechtshilfeersuchen zugrunde liegende Tat einen maßgeblichen Auslandsbezug, seien stattdessen andere Kriterien ausschlaggebend: Zu berücksichtigen seien dann insbesondere der bewusste Eintritt in einen fremden Rechtskreis, die Schwere der Tat und ihre typische grenzüberschreitende Dimension.329 326 BVerfG
BVerfGE BVerfGE 328 BVerfG BVerfGE 329 BVerfG BVerfGE 327 BVerfG
63, 343. 113, 273. 113, 273, 302 f. 113, 273, 303.
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2. Teil: Darstellung
bb) Hinreichende sachliche Anknüpfungsmomente Nach jener Rechtsprechung des BVerfG erfordert die Unterscheidung zwischen Inlands- und Auslandsbezug gewisse Abgrenzungskriterien, welche das Gericht hinreichende sachliche Anknüpfungsmomente nennt.330 Regelmäßig sei so ein hinreichend sachliches Anknüpfungsmoment gegeben, wenn auf ausländischem Boden gehandelt worden und der tatbestandliche Erfolg auf dem Hoheitsgebiet jenes anderen Staates eingetreten sei. Hierfür reichten bereits ein mittäterschaftlicher Tatbeitrag und die Absicht der Tatbestandsverwirklichung als notwendiger Zwischenschritt zum eigentlichen Ziel. Zudem seien die Rechtsinstrumente zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung nur für Mitgliedstaaten gedacht.331 Seien Handlungs- und Erfolgsort verschieden, erhöhe sich der Prüfungsbedarf, ob die gewählte Anknüpfung verhältnismäßig sei. Hierzu müsse im Einzelfall eine konkrete Abwägung getroffen werden. Auf der einen Seite falle ins Gewicht das grundrechtlich geschützte Interesse des Betroffenen. Dem gegenüber ständen zum einen insbesondere das Gewicht des Tatvorwurfs und die typische grenzüberschreitende Dimension der Tat, zum anderen aber auch die praktischen Erfordernisse und Möglichkeiten einer effektiven Strafverfolgung. Letzteres gelte umso mehr, als die Vereinfachungsziele in den EU-Rechtsinstrumenten angelegt seien. Generell müsse man bei der Abwägung die mit der Schaffung eines Europäischen Rechtsraums verbundenen Ziele beachten.332 In der „Inlandsklausel“ der entsprechenden Rechtsinstrumente zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung sieht das BVerfG den Garanten für die Rechtssicherheit der jeweiligen Umsetzungsgesetze. Die im konkreten Fall (1. EHB-Gesetz) betroffene Auslieferungsfreiheit gemäß Art. 16 Abs. 2 GG sei hierbei nur eine spezielle Ausprägung der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes eigener Staatsangehöriger bei der Auslieferung. Bei Sachverhalten mit maßgeblichem Inlandsbezug könne die Rechtshilfe weiterhin 330 BVerfG BVerfGE 63, 343, 369 f., nach dem BVerfG ist eine Begrenzung der staatlichen internationalen Regelungskompetenz notwendig, um einer völkerrechtswidrigen Einmischung in den Hoheitsbereich eines fremden Staates vorzubeugen. Voraussetzung für eine solche Anknüpfung und Sachnähe sei ein Mindestmaß an Einsichtigkeit. Im Strafrecht orientiere man sich dabei an den Grundsätzen des Strafanwendungsrechts. Die Berücksichtigung dieser Grundsätze schränke den Kreis der Sachverhalte ein, welche der Staat mit Regelungen seiner eigenen Rechtsordnung zulässigerweise erfassen dürfe; Mann, RdC 1964, 9, 46, Mann meint, dieses Mindestmaß an Einsichtigkeit ergiebt sich by the objective standards of international law and not by the idiosyncrasies or the discretion of States or judges; Stein / von Buttlar, Völkerrecht, 213, nach Stein ergibt sich dies aus dem Nebeneinander gleichberechtigter, souveräner Staaten. 331 BVerfG BVerfGE 63, 343, 370 f.; 113, 273, 303. 332 BVerfG BVerfGE 113, 273, 303 f.
2. Kap.: Prinzip der gegenseitigen Anerkennung in der Beweisrechtshilfe101
mit dem Hinweis auf mangelnde beiderseitige Strafbarkeit verweigert werden.333 In Deutschland stelle jener Mangel bei entsprechendem Inlandsbezug ein Verfahrenshindernis dar, an welches auch die Bewilligungsbehörde in ihrer Entscheidung gebunden sei.334 d) Eigene Stellungnahme aa) Maßgeblicher räumlicher Bezug Der Rechtsprechung des BVerfG ist weitestgehend zuzustimmen. Ein Fall mit Auslandsbezug ist anders zu behandeln als ein Fall mit ausschließlichem Inlandsbezug. Fehlt ein wenigstens überwiegend territorialer Bezug ins Ausland, muss sich der Bürger auch nicht an fremdem Recht messen lassen.335 Dem BVerfG ist auch insoweit zu folgen, dass es Abgrenzungskriterien geben muss für die Bestimmung des maßgeblichen Auslandsbezugs. Zwar hat die nationale Gesetzgebung auch im extraterritorialen Bereich die grundsätzliche Freiheit in der Regelungskompetenz.336 Doch vereinfacht eine Begrenzung die Zusammenarbeit in der Staatengemeinschaft. Der Begriff des „hinreichend sachlichen Anknüpfungsmoments“ wird allgemein auch als genuine link bezeichnet.337 Überzeugend stellt das BVerfG klar, dass die Rechtsinstrumente zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung dem Vollstreckungsstaat mit ihrer Inlandsklausel zur beiderseitigen Strafbarkeit weiterhin einen wesentlichen Versagungsgrund der Rechtshilfe bieten.338 Mit dem bewussten Eintritt in einen fremden Rechtskreis, der typischen grenzüberschreitenden Dimension der Tat und der besonderen Schwere der 333 BVerfG
BVerfGE 113, 273, 303, 317. BVerfGE 113, 273, 318 f.; das BVerfG führt hier aus, dass die Einführung des EHB und des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung der Bewilligungsbehörde keine rechtspolitische Option eröffnet hat, im Rechtshilfeverkehr mit den Mitgliedstaaten allein nach Gesichtspunkten der Opportunität oder Effektivität der Strafrechtspflege zu entscheiden. 335 So auch Conrad, Beiderseitige Strafbarkeit, 132 ff., auch Conrad überträgt diese Grundsätze aus dem Auslieferungsrecht auf die sonstige Rechtshilfe, 227 ff., 238 f.; Gaede, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 97, 125 f.; Burchard, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 537, 549; vgl. Keller, in: Degener / Heghmanns (Hg.), FS Dencker, 183, 193 f. 336 StIGH, PCIJ Series A 10 (1927), 1, Frankreich . / . Türkei (Lotus-Fall); Stein / von Buttlar, Völkerrecht, 211 f. 337 Mann, RdC 1964, 9, 46, 82 ff.; Stein / von Buttlar, Völkerrecht, 213. 338 So auch Gleß, ZStW 2004, 353, 360; Burchard, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 537, 562. 334 BVerfG
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2. Teil: Darstellung
Tat339 hat das BVerfG auch praktikable Kriterien für einen maßgeblichen räumlichen Bezug zum ersuchenden Mitgliedstaat aufgestellt, welche der Gesetzgeber jedenfalls für die Auslieferung eines Deutschen an einen anderen Mitgliedstaat in § 80 Abs. 1 IRG ausdrücklich aufgegriffen hat. bb) Eintritt in einen fremden Rechtskreis Der Eintritt in eine fremde Rechtsordnung stellt – in Übereinstimmung mit dem BVerfG – einen tauglichen Anknüpfungspunkt dar für ein berechtigtes Strafverfolgungsinteresse im jeweiligen Ausland. Im Strafrecht existiert kein geschlossenes internationales Kollisionsrecht vergleichbar dem internationalen Zivilprozessrecht. Nicht jeder Aspekt des deutschen Strafanwendungsrechts ist völkerrechtlich anerkannt. Jurisdiktionskonflikte sind daher nicht unüblich. Konsens besteht – zumindest innerhalb der EU – bei der Anwendung der Grundform des Territorialitätsprinzips, welche Identität von Handlungs- und Erfolgsort voraussetzt.340 Das Territorialitätsprinzip besteht jedoch nicht nur in jener strengen Form. Andere Spielarten jenes Prinzips knüpfen lediglich alternativ an die Handlung oder den Erfolg an, betrachten sogar eine bloße „Auswirkung“ der Tat im anderen Staat als ausreichend.341 Bedeutsam ist dies insbesondere im Hinblick auf neue Medien wie das Internet. Die EU stellt regelmäßig nur darauf ab, an welchem Ort die Tat ganz oder wenigstens zu einem wesentlichen Teil begangen wurde; der Erfolgsort wird hier nicht erwähnt, vgl. Art. 4 Nr. 7 RB EHB, Art. 13 Abs. 1 lit. f RB EBA. Jedoch ist nicht ersichtlich, dass sich die EU durch jene Wortwahl allein auf den Handlungsort festlegen wollte. Daher hat das BVerfG die Reichweite des territorialen Bezugs mit der Einbeziehung des Erfolgsorts342 zutreffend bestimmt. Eine weite Auslegung ist hier geboten, weil der tatbestandliche Erfolg das Strafverfolgungsinteresse maßgeblich bestimmt. Offen bleibt jedoch, was als wesentliche Tathandlung im Sinne des § 80 Abs. 1 S. 2 IRG anzusehen ist.343 Die Inlandsklausel verzichtet auf eine nähere Bestimmung des Erfolgsorts, was gerade für Deliktsbereiche mit 339 Diesen Aspekt hebt Conrad besonders hervor, Conrad, Beiderseitige Strafbarkeit, 226. 340 Stein / von Buttlar, Völkerrecht, 214 f. 341 Vgl. Böse, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, § 80 IRG, Rn. 22 f. 342 Lagodny, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, § 80 IRG, Rn. 19; Böse, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, § 80 IRG, Rn. 24; Buermeyer, HRRS 2005, 273, 276. 343 Weigend, in: Müller-Dietz / Müller / Kunz / Radtke / Britz / Momsen / Koriath (Hg.), FS-Jung, 1069, 1079; Böse, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, § 80 IRG, Rn. 24 f.; Böhm, NJW 2006, 2592, 2593.
2. Kap.: Prinzip der gegenseitigen Anerkennung in der Beweisrechtshilfe103
Distanzdelikten wie die Cyberkriminalität ausschlaggebend ist.344 Daher ist Sieber zuzustimmen, wonach das Europäische Strafrecht im Hinblick auf diese spezifisch europäischen Probleme – vor allem im Wirtschafts- und im Internetstrafrecht – durch klare Regelungen des Strafanwendungsrechts und durch möglichst ähnliche Verbotsbereiche für Rechtssicherheit und die Vorhersehbarkeit des Rechts sorgen muss.345 Weigend, welcher zudem den einseitigen Bezug auf das Territorialitätsprinzip im RB EHB kritisiert, ist dagegen nicht zu folgen. Aus seiner Sicht sind auch andere Grundsätze des Strafanwendungsrechts wie das aktive und passive Personalitätsprinzip sowie das Stellvertretungsprinzip – entsprechend dem deutschen Recht – zu berücksichtigen, vgl. §§ 5, 7 Abs. 1 StGB.346 Mit jener Inlandsklausel zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung wollten indessen weder die EU noch Deutschland verbindliche Regeln für das Strafanwendungsrecht schaffen. Die Klausel soll lediglich die Rechtssicherheit wahren. Jurisdiktionskonflikte zu vermeiden, bleibt der – erhofften – EU-Rechtssetzung zum Strafanwendungsrecht überlassen.347 Unter dem Gesichtspunkt des Eintritts in einen fremden Rechtskreis sind vor allem zwei Konstellationen denkbar: Da wäre zunächst der bösgläubig handelnde Bürger, der mit vollem Unrechtsbewusstsein vorsätzlich handelt. Im Schutze seiner Heimatrechtsordnung setzt er auf ein Strafbarkeitsgefälle zwischen ersuchendem und ersuchtem Staat. Hierzu gehören etwa die praxisrelevanten Fälle der Internetbetrügereien. Wer sich darüber im Klaren ist, dass er sich durch sein Verhalten in einem anderen Mitgliedstaat strafbar macht, und mit diesem Wissen in dessen Rechtskreis eintritt, muss – nicht bloß in einem zusammenwachsenden Europa – auch in dem für ihn fremden Staat verfolgbar bleiben. Nur so lässt sich dem Problem von Strafbarkeitsoasen bei gleichzeitiger Grenzöffnung begegnen. Mit dem BVerfG gesprochen: Wer in einer anderen Rechtsordnung handelt, muss damit rechnen, auch hier zur Verantwortung gezogen zu werden.348 Daraus folgt zugleich, dass selbst Fahrlässigkeitstaten davon grundsätzlich nicht ausgenommen bleiben sollen. Denn auch hier gebietet 344 Nach Böse wird vom Erfolg selbst eine reine Auswirkung der Tat (effect principle) im anderen Mitgliedstaat erfasst, Böse, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRGKommentar, § 80 IRG, Rn. 22 f.; Gittermann, in: von Olenhusen (Hg.), FS-OLG Celle, 549, 558, vgl. zum effect principle auch Ireland-Piper, ULR 2013, 68, 78 f. 345 Sieber, ZStW 2009, 1, 14, Sieber hält zudem die Anerkennung des Herkunftslandsprinzips für erforderlich. 346 Weigend, in: Müller-Dietz / Müller / Kunz / Radtke / Britz / Momsen / Koriath (Hg.), FS-Jung, 1069, 1079, zum deutschen Recht vgl. Hoyer, Systematischer Kommentar zum StGB, Vor § 3 StGB, Rn. 8 ff.; Stein / von Buttlar, Völkerrecht, 214 ff. 347 Deiters, ZRP 2003, 359, 361, so auch Gleß, ZStW 2004, 353, 361. 348 BVerfG BVerfGE 113, 273, 303.
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die völkerrechtsfreundliche Ausrichtung des Grundgesetzes die Unterstützung fremder Strafverfolgung. Abzuwägen ist stets das schutzwürdige Interesse des Bürgers an Rechtssicherheit vor allem gegen die beiden weiteren Kriterien der grenzüberschreitenden Dimension und der besonderen Schwere der Tat sowie die Zielvorgabe der europäischen Integration. cc) Grenzüberschreitende Dimension Mit dem Merkmal der typischen grenzüberschreitenden Dimension der Tat orientiert sich das BVerfG am Primärrecht der EU. Der Begriff „Straftat mit grenzüberschreitender Dimension“ findet sich bereits vor dem Urteil zum 1. EHB-Gesetz in Art. III-271 Abs. 1 UAbs. 1 EVV und gegenwärtig in Art. 83 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV. Ebenso wie die EU geht das BVerfG bei einigen Deliktfeldern von einem erhöhten grenzüberschreitenden Potenzial aus, welches zu einer Typizität führt. Hierzu zählt es vor allem den internationalen Terrorismus sowie den organisierten Drogen- und Menschenhandel.349 Es handelt sich hier jedoch lediglich um Beispiele, wie sich bereits aus der Aufzählung in Art. 83 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV und deren Erweiterungsmöglichkeit nach UAbs. 3 ergibt. Die grenzüberschreitende Dimension soll auch nur kumulativ mit der gegebenenfalls besonderen Schwere der Tat ein hinreichend sachliches Anknüpfungsmoment darstellen.350 In der grenzüberschreitenden Dimension und der besonderen Schwere der Tat351 sieht das BVerfG zu Recht wichtige Faktoren für einen maßgeblichen Auslandsbezug. Jedoch bleiben jene Kriterien bei näherer Betrachtung teilweise an der Oberfläche. So heißt es etwa im Urteil zum 1. EHB-Gesetz:352 Der Auslandsbezug ist auch und gerade dann anzunehmen, wenn die Tat von vornherein eine typische grenzüberschreitende Dimension hat und eine entsprechende Schwere aufweist, wie beim internationalen Terrorismus oder beim organisierten Drogen- oder Menschenhandel; wer sich in solche verbrecherischen Strukturen einbindet, kann sich auf den Schutz der Staatsangehörigkeit vor Auslieferung nicht in vollem Umfang berufen. Dass so vage Begriffe wie „Einbindung in verbrecherische Strukturen“ oder „grenzüberschreitende Dimension“ bereits eine geeignete Grundlage für eine ausgewogene Abwägung sein sollen, erscheint fraglich. Man stelle sich vor, dass ein allein auf die Schlagworte al-Qaida bzw. Mafia gestütztes 349 BVerfG
BVerfGE 113, 273, 303. in: Streinz / Kruis / Michl (Hg.), EUV / AEUV-Kommentar, Art. 83 AEUV, Rn. 9; Böse, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 149, 154 f. 351 BVerfG BVerfGE 113, 273, 303. 352 BVerfG BVerfGE 113, 273, 303. 350 Satzger,
2. Kap.: Prinzip der gegenseitigen Anerkennung in der Beweisrechtshilfe105
ausländisches Ersuchen den Grundrechtsschutz des Betroffenen in Deutschland beschränken könnte. Die Abgrenzung zur Rechtlosstellung ist unscharf. Hier erscheint ein höheres Maß an Bestimmtheit erforderlich:353 Für eine grundlegende Systematik einer rechtsstaatlichen, internationalen Zusammenarbeit sollte der Ansatz der grenzüberschreitenden Dimension der Tat eher im Einzelfall anhand der Intensität des auswärtigen Handelns beurteilt werden. Als Korrektiv für das schutzwürdige Interesse des Bürgers an Rechtssicherheit sollte die Qualität seines Verhaltens berücksichtigt werden. So ließe sich Ersuchen entgegenwirken, welche lediglich Bagatellkriminalität zum Gegenstand haben. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung stehen sich das berechtigte Strafverfolgungsinteresse eines fremden Staates und das Individualrecht auf Rechtssicherheit gegenüber. Dabei kann der innerstaatliche Maßstab der Rechtssicherheit nicht ohne Weiteres auf das Ausland übertragen werden. Schon die fremde Rechtsordnung, womöglich noch die fremde Sprache, setzen dem feste Grenzen. Im Spannungsfeld zwischen der eigenen Rechts tradition und einer fremden Rechtsordnung hat der am internationalen Rechtsverkehr teilnehmende Bürger Obliegenheiten, sich über das fremde Recht zu informieren. Er kann nicht darauf vertrauen, dass das deutsche Recht auch im Ausland gelten würde. Dies gilt etwa für den Straßenverkehr, aber nicht bloß dort. Das Kriterium der grenzüberschreitenden Dimension sollte hier dazu dienen, die Reichweite dieser Obliegenheit zu begründen. Je intensiver die transnationale Dimension wird, desto mehr steigen die Anforderungen an den Bürger, sich mit der Rechtsordnung des fremden Staates vertraut zu machen. Was für lediglich sporadische Auslandskontakte reichen mag, genügt für einen ständigen Aufenthalt im Ausland oder eine ständige Geschäftsbeziehung dorthin sicher nicht. Dies gilt umso mehr für ein transnationales Verhalten, welches sogar auf eine Mehrzahl von Staaten angelegt ist. Durch diese Abgrenzung werden der einfache Tourist und der bedingt grenzüberschreitend tätige Geschäftsmann ausreichend geschützt. Andererseits mag bei entsprechender Schwere der Tat auch der einmalige Kontakt ins Ausland ausreichen.
353 So mit Hinweis auf die Unschuldsvermutung insgesamt ablehnend das Sondervotum von Broß, BVerfGE 113, 273, 323, 327; Buermeyer, HRRS 2005, 273, 276 f.; Hackner / Schomburg / Lagodny / Gleß, NStZ 2006, 663, 667; Satzger, in: Streinz / Kruis / Michl (Hg.), EUV / AEUV-Kommentar, Art. 83 AEUV, Rn. 9; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 177 f.; Kretschmer, in: Vedder / Heintschel von Heinegg (Hg.), EVV-Kommentar, Art. III-271 EVV, Rn. 4 f.; a. A. Burchard, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 537, 546.
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2. Teil: Darstellung
dd) Besondere Schwere der Tat Das Kriterium der besonderen Schwere der Tat richtet sich nach dem Ausmaß und der Sozialschädlichkeit des verbotswidrigen Verhaltens.354 Die Bewertung ist indes abhängig von den jeweils herrschenden Rechtstradi tionen, Moralvorstellungen und dem gesellschaftlichen Wandel. Innerhalb der EU besteht zumindest Konsens hinsichtlich der besonderen Schutzwürdigkeit der höchstpersönlichen Rechtsgüter Leben, Gesundheit und Freiheit. Namentlich für die Bereiche des internationalen Terrorismus und des organisierten Menschen- und Drogenhandels besteht in der EU ein allgemeines Verfolgungsinteresse.355 Darüber hinaus kann sich der Bürger aufgrund des in der EU verbreiteten ultima ratio-Gedankens darauf verlassen, dass sich die Mitgliedstaaten bei der Kriminalisierung von Verhaltensweisen auf wesentliche Bereiche des Zusammenlebens beschränken.356 Neben dieser grundsätzlichen Übereinstimmung bestehen jedoch erhebliche (traditionelle) Unterschiede beim strafrechtlichen Rechtsgüterschutz. Das Rechtsgut Leben wird etwa durch den Bereich von Abtreibung357 und Sterbehilfe berührt. Gesundheitliche Aspekte spielen eine wichtige Rolle bei der Freigabe von Betäubungsmitteln. Diese Bereiche sind im europäischen Strafrecht stark umstritten und werden von Staat zu Staat unterschiedlich behandelt. Jene Abweichungen – zumindest in der Gesamtschau – werden dem Bürger zumeist unbekannt sein. Das Korrektiv des ultima ratioGrundsatzes auch im europäischen Strafrecht, die fortschreitende Angleichung des nationalen Strafrechts und das hohe Verfolgungsinteresse des fremden Staates an besonders schwerer Kriminalität rechtfertigen es, den Anspruch des Bürgers auf Rechtssicherheit einzuschränken. Dem transnational agierenden Bürger obliegt es, sich in einzelnen Bereichen zu informieren, wobei sich die Obliegenheit erhöht mit der Qualität seines Handelns. Läuft er Gefahr, im Ausland in ein besonders schutzwürdiges Rechtsgut einzugreifen, ist es ihm zuzumuten, sich vorab über das fremde Recht umfassend zu informieren.
354 Satzger,
Rn. 9.
355 BVerfG
in: Streinz / Kruis / Michl (Hg.), EUV / AEUV-Kommentar, Art. 83 AEUV,
BVerfGE 113, 273, 303. BVerfGE 120, 224, 239 f.; Rosenau / Petrus, in: Vedder / Heintschel von Heinegg (Hg.), EUV, AEUV-Kommentar, Art. 83 AEUV, Rn. 17. 357 Vgl. die strikte Rechtslage in Irland und Malta. 356 BVerfG
2. Kap.: Prinzip der gegenseitigen Anerkennung in der Beweisrechtshilfe107
IV. Demokratiedefizit 1. Kritik am Rechtssetzungsverfahren Neben grundsätzlicher Kritik358 sehen einige Autoren in der Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung einen Verstoß gegen das Demokratieprinzip gemäß Art. 20 Abs. 1, 2 GG. Dies gelte zum einen für das EU-Recht generell, zum anderen – durch den Wegfall des Erfordernisses der beiderseitigen Strafbarkeit – für die Anwendung ausländischen Rechts in Deutschland. Einzig nach dem Recht, an dessen Entstehung der Bürger aktiv habe mitwirken können, dürfe er von staatlichen Eingriffen betroffen werden. Insbesondere gelte dies für das Strafrecht und die davon abhängige Strafverfolgung. Das fremde Recht habe demgegenüber ein Demokratiedefizit.359 Rahmenbeschlüsse aus dem gubernativen Bereich der „dritten Säule“ seien demokratisch nicht legitimiert, da das Europäische Parlament inhaltlich nur unzureichend beteiligt sei.360 Dies gelte selbst für Rechtsakte (Richtlinien), welche unter Beteiligung des Europäischen Parlaments erlassen würden, da die Zusammensetzung jenes Gremiums gegen Grundsätze eines demokratischen Wahlrechts verstoße.361 Der mangelnde Spielraum bei der Umsetzung des EU-Sekundärrechts verhindere überdies eine demokratische Kompensation auf nationaler Ebene.362 2. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Die Kritik an der demokratischen Gestaltung des europäischen Rechts beschränkt sich nicht nur auf das Strafrecht. Zum Spannungsverhältnis zwischen dem Demokratieprinzip und der Eingliederung Deutschlands in die internationale Staatengemeinschaft, insbesondere die Integration Deutsch358 Hecker, in: Marauhn (Hg.), Europäisches Beweisrecht, 33 ff.; Schünemann spricht in diesem Zusammenhang vom trojanischem Pferd und Wolf im Schafspelz, sowie Totengräber des fair trial; Schünemann, ZRP 2003, 185, 186 f.; Schünemann, GA 2004, 193, 202. 359 Schünemann, ZRP 2003, 185, 188 f.; Schünemann, GA 2004, 193, 203; Schüne mann, KritV 2008, 6, 13; Möstl, CMLR 2010, 405, 408; Nestler, ZStW 2004, 332, 338 f.; Braum, GA 2005, 681, 688 ff.; Zimmermann / Glaser / Motz, EuCLR 2011, 56, 63; Ditscher, Europäische Beweise, 164. 360 Schünemann, ZRP 2003, 185, 188 f.; Schünemann, GA 2004, 193, 200, 203; Schünemann, KritV 2008, 6, 13; Lüderssen, GA 2003, 71, 71 ff.; Heine, Rechtsstellung des Beschuldigten, 62; zu formalen Legitimationsdefiziten allgemein Braum, GA 2005, 681, 688 f.; Ditscher, Europäische Beweise, 119 ff. 361 Schünemann, KritV 2008, 6, 12; Streinz, Europarecht, 108; Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 57. 362 Braum, GA 2005, 681, 688 ff.; Ditscher, Europäische Beweise, 122 ff.
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lands in die EU, hat das BVerfG in mehreren Urteilen Stellung genommen. Besonders hervorzuheben sind das „Maastricht-Urteil“363, das „LissabonUrteil“364 und die bereits erwähnten Urteile zur Rechtshilfe365. Nach Auffassung des BVerfG ist im internationalen Rechtsverkehr an das Demokratieprinzip gemäß Art. 20 Abs. 1, 2 GG – insbesondere die politische Willensbildung – ein anderer Maßstab anzulegen als an ein deutsches innerstaatliches Verfahren. Dies rechtfertige sich aus dem verfassungsrechtlichen Ziel, Deutschland in die internationale Staatengemeinschaft und den Staatenverbund der EU – auch im Sinne einer Völkerrechts- und Friedensordnung – einzugliedern, vgl. Präambel, Art. 23–26 GG.366 Diese Integration sei unerlässlich, weil in einer Demokratie nur durch internationale Zusammenarbeit einer zunehmend mobilen und grenzüberschreitend vernetzten Gesellschaft begegnet werden könne.367 Wolle man an das Völkerrecht die gleichen Maßstäbe anlegen wie ans innerstaatliche Recht, sei Deutschland verfassungsrechtlich weithin zur Unfähigkeit verurteilt, sich am internationalen Rechtsverkehr zu beteiligen.368 Für das EU-Recht dürfe keine Ausnahme gelten, da es sich auch hierbei um Völkerrecht handele.369 Die Grenze setze der nach Art. 79 Abs. 3 GG unantastbare Gehalt des Demokratieprinzips.370 Essentiell sei deshalb, dass trotz dieser Eingliederung in eine zwischenstaatliche Gemeinschaft, sei sie auch supranational organisiert, die Legitimation staatlichen Handelns weiterhin vom Volk ausgehe und dessen Einflussnahme erhalten bleibe, vgl. Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG.371 Für diesen Zurechnungszusammenhang sei ein bestimmtes Maß an parlamentarischem Einfluss („Legitimationsniveau“) erforderlich. Dies könne jedoch auch durch die Rückkoppelung des Handelns der internationalen Staatengemeinschaft bzw. des Staatenverbundes an die nationalen Parlamente erreicht werden.372 Eine mangelnde Beteiligung des Europäischen Parlaments bei Rahmenbeschlüssen aus dem Bereich der „dritten Säule“ verstoße daher nicht gegen das Demokratieprinzip.373 Das Europäische Parlament nehme für die EU zunehmend eine zumindest die Demokratie stützende Funktion ein.374 363 BVerfG 364 BVerfG 365 BVerfG 366 BVerfG 367 BVerfG 368 BVerfG 369 BVerfG 370 BVerfG 371 BVerfG 372 BVerfG 373 BVerfG 374 BVerfG
BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE
89, 155. 123, 267. 63, 343; 113, 273. 63, 343, 369 f.; 89, 155, 182 ff.; 123, 267, 344. 123, 267, 345. 63, 343, 369 f.; 123, 267, 344. 113, 273, 301. 89, 155, 182; 123, 267, 344. 89, 155, 182. 89, 155, 185. 113, 273, 301. 89, 155, 186.
2. Kap.: Prinzip der gegenseitigen Anerkennung in der Beweisrechtshilfe109
Dass bei einer Anwendung fremden Rechts ein deutscher Staatsbürger keine Möglichkeit habe, dieses aktiv demokratisch mitzugestalten, treffe zwar zu.375 Dieser Mangel dürfe jedoch nicht dazu führen, die Fremdrechtsanwendung der deutschen Justiz lahm zu legen.376 Bereits ein maßgeblicher Auslandsbezug zum ersuchenden Staat rechtfertige es, dass Deutschland als ersuchter Staat fremdes Recht anwende.377 3. Zustimmung aus der Literatur Die befürwortende Ansicht in der Literatur folgt der Rechtsprechung des BVerfG. Nach Mavany wird das Demokratieprinzip gewahrt durch den Einfluss, welchen der Bundestag in der EU als Staatenverbund tatsächlich hat.378 Auch Andreou sieht zwar Demokratiedefizite im Bereich der „dritten Säule“, meint jedoch, dass diese durch die innerstaatlichen Umsetzungsverfahren kompensiert werden. Den Mitgliedstaaten würde hier immer noch genügend Spielraum für eine demokratische Gestaltung ihrer Gesetze verbleiben.379 Hinsichtlich der Fremdrechtsanwendung müsse man zwischen dem Verdächtigen und dem unbeteiligten Dritten unterscheiden. Wechsle ein Bürger von seinem Heimatstaat in einen anderen Staat, müsse er sich dem dort herrschenden Recht (lex loci) unterwerfen.380 Im Übrigen gelte die deutsche Strafrechtsordnung auch für nicht wahlberechtigte Minderjährige und Ausländer.381 Doch selbst im Inland müsse ein unbeteiligter Dritter dulden, aufgrund eines ausländischen Rechtshilfeersuchens von einem hoheitlichen Handeln betroffen zu werden. Andernfalls wäre Deutschland gehindert, am internationalen Rechtshilfeverkehr teilzunehmen. Eine solche Selbstbeschränkung widerspräche auch dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes.382 375 BVerfG
BVerfGE 113, 273, 302. BVerfGE 63, 343, 369 f. 377 BVerfG BVerfGE 63, 343, 369 f.; 113, 273, 303. 378 Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 58; so auch Böse, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 78 IRG, Rn. 5 f.; Gärditz, in: Böse, Enzyklopädie Europarecht, 227, 234 f.; Vogel, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 269, 283. 379 Andreou, Gegenseitige Anerkennung, 103 ff. 380 Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 55; Wasmeier, ZEuS 2006, 23, 34; Conrad, Beiderseitige Strafbarkeit, 118 ff. 381 Deiters, ZRP 2003, 359, 360; Juppe, Die gegenseitige Anerkennung, 128; Andreou, Gegenseitige Anerkennung, 190 f.; Conrad, Beiderseitige Strafbarkeit, 120; Gärditz, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 227, 235. 382 Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 55 f.; Gärditz, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 227, 235, nach Gärditz können in einem Mehrebenensystem unterschiedliche Lösungen der demokratischen Legitimation verfolgt werden. 376 BVerfG
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4. Eigene Stellungnahme Der Rechtsprechung des BVerfG ist zuzustimmen. Für Deutschland ergibt sich aus der EU-Mitgliedschaft kein Demokratiedefizit bei der Umsetzung der EU-Rechtssetzung. Diese ist aufgrund der Ausgestaltung der EU als Staatenverbund, welcher die Souveränität Deutschlands unangetastet lässt, an die Legitimation durch die Staatsvölker der Mitgliedstaaten gebunden. So besteht in der EU letztendlich auch eine Rückkoppelung ihrer Rechtssetzung an den deutschen Bundestag. Das schließt nicht aus, dass auf europäischer Ebene ein höheres Maß an Demokratie wünschenswert wäre. Die gouvernementale Organisation, d. h. der große Einfluss der nationalen Regierungen innerhalb der EU-Institutionen, ist zwar durch den Vertrag von Lissabon zugunsten des Europäischen Parlaments eingeschränkt worden. Hierdurch hat sich auch die Diskussion zum Demokratiedefizit von Rechtsakten aus dem Bereich der „dritten Säule“ erledigt, vgl. Art. 294 AEUV. Doch auch die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments sollte den allgemeinen Wahlrechtsgrundsätzen genügen. Die derzeitige Entwicklung und Transparenz der Arbeit der EU-Organe ist im Hinblick auf ein demokratisches Verständnis eines europäischen Zusammenlebens begrüßenswert.383 Das verfassungsrechtliche Ziel, Deutschland in die internationale Staatengemeinschaft einzugliedern, erfordert auch eine Teilnahme am internationalen Rechtshilfeverkehr. Systembedingt kann ein deutscher Staatsbürger nicht am ausländischen Strafrecht aktiv mitwirken. Dennoch kann er zum Betroffenen im internationalen Rechtshilfeverkehr werden, ohne dass hierdurch das Demokratieprinzip verletzt wird. Internationale Rechtshilfeübereinkommen lassen im Übrigen die Souveränität Deutschlands unberührt, vgl. Art. 4 VN-Antikorruptions-Übk, Art. 4 VN-SuchtstoffÜbk.
D. Regelungscharakter I. Einordnung der gegenseitigen Anerkennung Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung in Strafsachen wird nicht nur aufgrund seiner konkreten Ausgestaltung, sondern auch wegen seiner Herkunft bzw. Einführungsgeschichte kritisiert. Hierbei werden vor allem zwei Positionen vertreten: Nach einer Ansicht ist das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung ein neutrales Verfahrensmodell. Es diene lediglich der Anerkennung fremder 383 Gauck,
Europa: Vertrauen erneuern, 1 f.
2. Kap.: Prinzip der gegenseitigen Anerkennung in der Beweisrechtshilfe111
justizieller Entscheidungen in der EU.384 Gleß sieht darin allein einen rechtshilferechtlichen Modus.385 Nach anderer Ansicht stammt das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung aus dem Handelsrecht, nämlich dem Binnenmarkt, und diene dort der Warenverkehrsfreiheit. Durch die Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung im Binnenmarkt werde dem Bürger ein Mehr an Freiheiten eingeräumt, da er seine Waren und Dienstleistungen leichter in der EU vertreiben könne. Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung diene so der Verwirklichung der Grundfreiheiten. Im Strafrecht hingegen scheitere die analoge Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung an mangelnder Vergleichbarkeit mit den liberalen Verhältnissen im Binnenmarkt. Durch die Anerkennung justizieller Entscheidungen werde dem Bürger keine neue Freiheit eingeräumt, sondern im Gegenteil seine bestehende Freiheit beschnitten. Das Rekurrieren auf das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung als Grundkonzept eines europäischen Strafrechts sei daher unzulässig.386 Nach Allegrezza ergibt sich dies auch aus fehlender Standar384 Gleß, ZStW 2004, 353, 356; Kotzurek, ZIS 2006, 123, 126; Böse, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 78 IRG, Rn. 11; Böse, in: Schwarze / Becker / Bär-Bouyssière (Hg.), EU-Kommentar, Art. 82 AEUV, Rn. 15; Allegrezza, ZIS 2010, 569, 572; Wasmeier, ZStW 2004, 320, 322; Vogel, in: Hilf / Nettesheim (Hg.), EUV, AEUV-Kommentar, Art. 82 AEUV, Rn. 24; Andreou, Gegenseitige Anerkennung, 74 f.; Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 53, 63; Gaede, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 97, 120; Karsai, in: Ruggeri (Hg.), Transnational inquiries, 419, 431 ff. 385 Gleß, ZStW 2004, 353, 360. 386 Nestler sieht daher in der Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung in Strafsachen den Geburtsfehler des europäischen Strafrechts, Nestler, ZStW 2004, 332, 352; Braum bezeichnet das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung als eine Art Alleskleber europäischer Integration. Es sei gerade kein neutrales rechtstechnisches Instrument, Braum, GA 2005, 681, 682, 688, nach Braum hat die bloße Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung in Strafsachen nur kontraproduktive Effekte im Hinblick auf das Zusammenwachsen Europas, weil sie den Bürger benachteiligt; Ditscher hält das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung schon theoretisch als Basis der europäischen Gesetzgebung für ungeeignet, Ditscher, Europäische Beweise, 108 f.; Kaiafa-Gbandi, ZIS 2006, 521, 527; Mitsilegas, CMLR 2006, 1277, 1280; Schünemann / Roger, ZIS 2010, 92, 92; Ambos, ZIS 2010, 557, 559; Hecker, Europäisches Strafrecht, 449 f.; Hecker, in: Ruggeri (Hg.), Transnational inquiries, 269, 276 f.; Leutheusser-Schnarrenberger spricht hier von einer kurzschlüssigen Übertragung aus dem Binnenmarkt, Leutheusser-Schnarrenberger, StraFo 2007, 267, 269; Braum, GA 2005, 681, 688; Zimmermann / Glaser / Motz, EuCLR 2011, 56, 63; Schünemann, ZRP 2003, 185, 187 f.; Möstl hält dies für problematisch und mahnt daher zu einem vorsichtigen Vorgehen, Möstl, CMLR 2010, 405, 418; Bárd, NJECL 2011, 9, 14; Satzger, in: Streinz / Kruis / Michl (Hg.), EUV / AEUVKommentar, Art. 82 AEUV, Rn. 13; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 173 f.; Epiney, in: Riklin / Niggli / Hurtado Pozo / Queloz (Hg.), FS-Riklin, 365, 371; Rosenau / Petrus, in: Vedder / Heintschel von Heinegg (Hg.), EUV, AEUV-
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2. Teil: Darstellung
disierung subjektiver Rechte im Strafverfahren. Wer von einem Strafverfahren betroffen sei, agiere – ebenso wie ein Verbraucher von Binnenmarktprodukten – als criminal justice consumer. Während man die Mitgliedstaaten innerhalb des Warenverkehrs zur Einführung von verbraucherschützenden Qualitätsstandards verpflichtet habe, sei dies im vergleichbaren Fall im Strafrecht versäumt worden.387 Auf einen anderen Anwendungsbereich des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung sind Grundsätze einer Regelung nur übertragbar, wenn diese vergleichbar sind. Für eine weitere Betrachtung ist daher der Kontext der Einführung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung im Bereich des Binnenmarkts einerseits sowie im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts andererseits wichtig. Unstreitig handelt es sich beim Prinzip der gegenseitigen Anerkennung um eine rechtshilferechtliche Verfahrensregelung. Ob und inwieweit es darüber hinaus noch inhaltlich besetzt ist, hängt von der Programmatik der EU-Rechtssetzung ab. II. Verwirklichung im Kontext des Binnenmarkts bzw. des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts Tatsächlich ist das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung erstmals durch die Rechtsprechung des EuGH zur Warenverkehrsfreiheit eingeführt worden. Danach soll ein Produkt, welches im Herkunftsland vertrieben werden darf, grundsätzlich auch in allen anderen Mitgliedstaaten angeboten werden können, ohne dass dort mit Einschränkungen gerechnet zu werden braucht. Andere Mitgliedstaaten müssen so – innerhalb der europäischen Produktstandards – den Vertrieb ausländischer Produkte im Inland anerkennen.388 Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung dient hier so der Realisierung des Binnenmarkts und damit verbunden auch der Realisierung der Grundfreiheiten aus dem EUV, Art. 3 Abs. 3 EUV, Art. 26 Abs. 1, 2 AEUV.389 Sowohl die Warenverkehrsfreiheit als auch der Binnenmarkt unterliegen Kommentar, Art. 82 AEUV, Rn. 3; Heine, Rechtsstellung des Beschuldigten, 81 f.; Schädel, Bewilligung internationaler Rechtshilfe, 162; Zeder, ÖAnwBl 2008, 249, 264 f.; Zeder, JRP 2009, 172, 184 f.; Zeder, ÖJZ 2009, 992, 996; Die Linke (Bundestagsfraktion), Stellungnahme zum Grünbuch, 1; Unione Camere Penali Italiane Osservatorio Europa, Stellungnahme zum Grünbuch, 2; Nettesheim, in: Mestmäcker / Möschel / Nettesheim (Hg.), Verfassung und Politik, 117, 134 f. 387 Allegrezza, ZIS 2010, 569, 572. 388 EuGH, Urt. v. 20.2.1979, C-120 / 78, REWE . / . Bundesmonopolverwaltung für Branntwein (Cassis de Dijon), Slg. 1979, 649; Urt. v. 11.7.1974, C-8 / 74, Procureur du Roi . / . Benoît . / . Dassonville, Slg. 1974, 837; Streinz, Europarecht, 316 f., 371 ff. 389 Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 49.
2. Kap.: Prinzip der gegenseitigen Anerkennung in der Beweisrechtshilfe113
dabei keinem Selbstzweck, sondern dienen dem Schutz des Handels, der Wettbewerber und der Verbraucher.390 In Strafsachen hingegen ist die Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung eng mit der Begründung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts verknüpft. Im Tampere Programm entschloss sich der Europäische Rat, die EU zu einem Raum, der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts auszubauen. Straftäter sollten keine Möglichkeiten finden dürfen, die Unterschiede in den Justizsystemen der Mitgliedstaaten auszunutzen. Es sei zu gewährleisten, dass es in der Union keine Verstecke für Straftäter oder die Erträge aus Straftaten gibt. Zu diesem Zweck sollten Urteile und Entscheidungen in der gesamten Union unter Wahrung der grundlegenden Rechtssicherheit der Bürger und der Wirtschaftsteilnehmer anerkannt und vollstreckt werden. Als Eckstein der justiziellen Zusammenarbeit würde das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung diese Funktion übernehmen.391 Dies ergibt sich jetzt auch aus dem Primärrecht, vgl. Art. 67 Abs. 1, Abs. 3 AEUV. Daraus folgt, dass in Strafsachen das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung dem Ziel der Realisierung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts dienen soll und hierfür originär geschaffen wurde. Diese Zielsetzung ist eine ganz andere als die der Verwirklichung des Binnenmarkts und der damit verbundenen Grundfreiheiten des EUV.392 Dies bedeutet jedoch nicht, dass das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung die Freiheit der Bürger außer Acht lässt. Vielmehr besteht eine Wechselwirkung zwischen der Gewährung von Freiheit und der Aufrechterhaltung von Sicherheit, so dass jene beiden Faktoren nicht im Gegensatz zueinander stehen, sondern sich wechselseitig bedingen, vgl. Art. 2, 3 Abs. 2 EUV.393 390 Tiedemann, in: Arnold / Burkhardt / Gropp / Heine / Koch / Lagodny / Perron / Walther (Hg.), FS-Eser, 889, 892; nach Albrecht und Braum sollte mit dem europäischen Binnenmarkt der weitgehend entfesselte Prozess des Kapitaltransfers reguliert werden, Albrecht / Braum, KritV 1998, 460, 475; a. A. Satzger, StV 2003, 137, 142. 391 Tampere Programm, Ratsdokument Nr. SN 200 / 99, vom 15. / 16.10.1999, Vorbemerkungen, S. 2, 8. 392 Juppe, Die gegenseitige Anerkennung, 127; Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 50; Harms / Knauss, in: Heinrich / Jäger / Achenbach / Amelung / Bottke / Haffke / Schünemann / Wolter (Hg.), FS-Roxin, 1479, 1487 ff.; ähnlich bereits Böse, Böse, in: Maiwald / Momsen / Bloy / Rackow (Hg.), FS-Maiwald, 233, 238; a.A. Vogel, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 1 IRG, Rn. 172; Ditscher, Europäische Beweise, 699; Andreou sieht im Prinzip der gegenseitigen Anerkennung im Strafrecht keine Analogie zum EU-Recht, sondern spricht von der Weiterentwicklung eines Anerkennungsgedankens aus dem traditionellen Rechtshilferecht, A ndreou, Gegenseitige Anerkennung, 71; Böse, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 78 IRG, Rn. 11. 393 Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 50.
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2. Teil: Darstellung
III. Grenzen der Übertragbarkeit Zwar lässt sich das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung bedingt generalisieren, soweit es jeweils lediglich um verfahrensrechtliche Wirkmechanismen geht. Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung ist ein methodischer Ansatz, der im EU-Recht in bislang zwei unterschiedlichen Materien Anwendung findet, nämlich im Binnenmarkt und jetzt auch im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts.394 Jedoch sind bei der Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung die individuellen Ziele und Rahmenbedingungen der jeweiligen Materie zu beachten. Ziel ist zum einen die Verwirklichung des Binnenmarkts, zum anderen die Schaffung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Der Binnenmarkt und der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts bilden jeweils für sich ein System rechtlicher Gestaltungen. Jedes System setzt unabhängig voneinander die Rahmenbedingungen für die gegenseitige Anerkennung. Die Systematik des Binnenmarkts lässt sich nicht ohne Rücksicht auf desssen besondere Struktur auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts übertragen. Im Wege der gegenseitigen Anerkennung werden jedoch gar keine wirtschaftsrechtlichen Grundprinzipien auf den Sicherheitsbereich übertragen. Vielmehr sind beide Anwendungsbereiche des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung isoliert zu betrachten. Zulässig sind im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts alle Rechtsakte, die die Realisierung dieses Raums fördern und nicht behindern. Rechtliche Gestaltungen wie die gegenseitige Anerkennung müssen sich bei ihrer Umsetzung hieran messen lassen.395 Das rechtstechnische Instrument der gegenseitigen Anerkennung absorbiert als solches jedoch noch nicht die vorgegebene Zielsetzung. Vielmehr handelt es sich um ein neutrales Verfahrensmodell, welches die Charakteristika des jeweiligen Rechtsgebiets respektiert, sie jedoch nicht selbst annimmt.396 Deshalb ist der Vergleich zwischen dem Verbraucher und dem Betroffenen der Rechtshilfe, welchen Allegrezza zieht, unscharf. Zwar zielt etwa eine EBA darauf ab, bereits ermitteltes Beweismaterial auch in einem anderen Mitgliedstaat nutzbar zu machen. Dies dient jedoch keinem Selbstzweck, sondern folgt aus der Erkenntnis, dass Kriminalität in der EU zunehmend transnational geworden ist. Der freie Warenverkehr soll vor allem dem Handel dienen, während die Öffnung der Grenzen ungewollt auch der Krimina394 Burchard, in: Beck / Burchard / Fateh-Moghadam (Hg.), Strafrechtsvergleichung, 275, 284 f. 395 Ähnlich Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 50 ff. 396 Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 52 f., Mavany meint, dass hinsichtlich der Klassifizierung des Rechtsprinzips selbst der Inhalt des Bezugsobjekts gleichgültig ist.
2. Kap.: Prinzip der gegenseitigen Anerkennung in der Beweisrechtshilfe115
lität hilft. Deshalb soll der erleichterte Beweisverkehr die Sicherheit und das Recht durch die Strafverfolgung gewährleisten.397 Auch der Verbraucherschutz findet seine Schranken in den Rechten der Unternehmer sowie im allgemeinen Interesse an der Aufrechterhaltung des freien Warenverkehrs und des Binnenmarkts.398
E. Nivellierung des Strafrechts und Missbrauchsmöglichkeiten I. Materielles Strafrecht 1. Gefahr der maximalen Punitivität Dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung wird weiterhin entgegengehalten, dass es im materiellen Strafrecht zur Anwendung des jeweils strengsten Strafrechts der Mitgliedstaaten führen werde, da der Verzicht auf das Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit eine umfassende Pönalisierung zur Folge hätte. So würde sich aus dem Strafrecht der Mitgliedstaaten kumulativ das strengste Strafrecht herauskristallisieren. Die nationalen Strafverfolgungsbehörden hätten es in der Hand, das für sie im Einzelfall strengste Strafrecht eines Mitgliedstaats für ein Ausgangsverfahren zu wählen, derweil der Betroffene dem hilflos gegenüber stände. Daraus ergebe sich die Gefahr der maximalen Punitivität, da das europäische Strafrecht keine entkriminalisierenden Elemente enthalte.399 397 Deiters meint, in Anbetracht der von der EU gewährten Freizügigkeit ihrer Bürger ist die Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung von Strafgesetzen ein Gebot politischer Klugheit, Deiters, ZRP 2003, 359, 360, Deiters spricht auch von der Kehrseite der europäischen Freizügigkeit, Deiters, ZRP 2003, 359, 362; Juppe, Die gegenseitige Anerkennung, 163; Harms / Knauss, in: Heinrich / Jäger / Achenbach / Amelung / Bottke / Haffke / Schünemann / Wolter (Hg.), FS-Roxin, 1479, 1488. 398 Nach Klip ist die Situation im Strafrecht im Übrigen nicht vergleichbar, da Staaten ein Strafverfolgungsmonopol haben und nicht im Wettbewerb stehen, Klip, European criminal law, 352. 399 Ahlbrecht, NStZ 2006, 70, 72; Gazeas, ZRP 2005, 18, 21; LeutheusserSchnarrenberger, StraFo 2007, 267, 271; Schünemann, ZRP 2003, 185, 185, 187; Schünemann, StraFo 2003, 344, 347 f.; Schünemann, GA 2004, 193, 202 f.; Schünemann, KritV 2008, 6, 15; Albrecht, KritV 2008, 39, 53; Nelles, ZStW 1997, 727, 750; Nestler, ZStW 2004, 332, 336; Wehnert, in: Widmaier / Lesch / Müssig / Wallau (Hg.), FS-Dahs, 523, 526; Kretschmer, in: Vedder / Heintschel von Heinegg (Hg.), EVV-Kommentar, Art. III-270 EVV, Rn. 10; Epiney, in: Riklin / Niggli / Hurtado Pozo / Queloz (Hg.), FS-Riklin, 365, 372 f.; Rosenau / Petrus, in: Vedder / Heintschel von Heinegg (Hg.), EUV, AEUV-Kommentar, Art. 82 AEUV, Rn. 4; Heine, Rechtsstellung des Beschuldigten, 78 f.; Ditscher, Europäische Beweise, 110.
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2. Teil: Darstellung
2. Eigene Stellungnahme Durch die teilweise Aufgabe des Grundsatzes der beiderseitigen Strafbarkeit in der Rechtshilfe werden zwar mehr Verhaltensweisen zu Straftaten, als dies noch vor Einführung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung möglich war. Doch wird der Gefahr der maximalen Punitivität des europäischen Strafrechts insoweit entgegengewirkt, als die verfolgte Straftat ein hinreichendes sachliches Anknüpfungsmoment für den verfolgenden Staat haben muss.400 Gäbe es derartige Anknüpfungsmomente aber gleich für mehrere Staaten, so dürfte grundsätzlich jeder dieser Staaten die Initiative zur Strafverfolgung ergreifen. Wäre dies – womöglich gar regelmäßig – der Staat mit dem strengsten Strafrecht, würde dies die Maßnahme nicht unzulässig machen. Zudem sieht die Wirklichkeit zumeist noch anders aus: Einfache grenzüberschreitende Straftaten werden selten in allen Mitgliedstaaten begangen, so dass üblicherweise auch nur ein Teil des nationalen Strafrechts davon berührt wird. Längerfristig allerdings besteht durch die teilweise Harmonisierung des materiellen Strafrechts innerhalb Europas durchaus die Tendenz einer Verschärfung des europäischen Strafrechts. Wünschenswert wäre deshalb – im Hinblick auf den ultima ratio-Gedanken des Strafrechts – im gleichen Maße auch eine Entkriminalisierung.401 Im Übrigen kann ein transnationales Verfahren auch einem Beschuldigten einen – wenngleich eingeschränkten – Gestaltungsspielraum bieten. Bei Bedarf kann er darauf hinwirken, dass ein Verfahren gegen ihn in einen bestimmten beteiligten Mitgliedstaat geführt wird. Durch das Prinzip ne bis in idem wird hierdurch grundsätzlich die Verfolgung in einem anderen Mitgliedstaat verhindert oder jedenfalls erschwert. Da der Beschuldigte einen Gerichtsstand in einem Mitgliedstaat unter diesem Gesichtspunkt bevorzugt, wird dieses Phänomen auch ne bis in idem-shopping genannt.402 Beispielsweise kann nach deutschem Recht auch am Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthaltsort des Beschuldigten ein Gerichtsstand begründet werden, vgl. § 8 Abs. 1, 2 StPO. Ein Beschuldigter mit Wohnsitz oder 400 BVerfG BVerfGE 113, 273, 317, an gleicher Stelle kritisiert es jedoch die Wahl einer Positivliste anstelle einer Negativliste als maßgebliche Grundlage des Mechanismus der gegenseitigen Anerkennung und die damit verbundene Pönalisierung; Hecker, Europäisches Strafrecht, 438 f.; Heger, RuP 2012, 88, 93. 401 Heger, RuP 2012, 88, 93 f.; einschränkend auch Vogel, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 269, 284. 402 Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston vom 15.6.2006, C-467 / 04, Gasparini, Slg. 2006 I-9203, Rz. 104; Eckstein, ZStW 2012, 490, 501 f.; Gleß, StV 2013, 317, 320; Schomburg, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRGKommentar, Exkurs: Vor Art. 54–58 SDÜ, Rn. 21; Sieber, ZStW 2009, 1, 12; allgemein auch Heger, ZIS 2013, 289, 290 f.; Kühne, in: Müller-Graff (Hg.), Europäische Zusammenarbeit, 85, 93 ff.
2. Kap.: Prinzip der gegenseitigen Anerkennung in der Beweisrechtshilfe117
Aufenthalt in Deutschland könnte sich in einem transnationalen Verfahren an einem dieser Orte selbst anzeigen oder den Strafverfolgungsbehörden stellen und so Ermittlungen gegen sich selbst initiieren. Eine Verurteilung in diesem Mitgliedstaat könnte aufgrund des Grundsatzes ne bis in idem ein Hindernis für ein Strafverfahren wegen derselben Tat in einem anderen Mitgliedstaat darstellen. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass in Deutschland die Strafverfolgung von Auslandstaten nicht dem Legalitätsprinzip, sondern dem Opportunitätsprinzip folgt, vgl. § 153c StPO. Es liegt grundsätzlich im pflichtgemäßen Ermessen der jeweiligen Staatsanwaltschaft, ob sie wegen einer Auslandstat Anklage in Deutschland erhebt. Gründe für ein ne bis in idem-shopping können günstigere rechtliche Umstände wie eine geringere Straferwartung oder besondere Erleichterungen im Strafverfahren des ausgewählten Mitgliedstaats gegenüber anderen beteiligten Mitgliedstaaten darstellen. Daneben können persönliche Gründe wie die gesellschaftliche Stellung den Beschuldigten bestimmte Orte für die Verfolgung meiden lassen. Eine besonders hohe Straferwartung droht Beschuldigten beispielsweise im griechischen Betäubungsmittelstrafrecht. Ein rechtshistorisches Beispiel für eine solche Prozesstaktik bietet das Kieler Strafverfahren gegen den Beschuldigten Daimler wegen seiner Beteiligung an der Versenkung des Frachtschiffes Lucona im Jahre 1977 im indischen Ozean, bei der von der 12 köpfigen Besatzung die Hälfte umgekommen war. Nachdem in Österreich noch im Ermittlungsstadium Haftbefehle gegen den Beschuldigten und seinen mutmaßlichen Tatgenossen Proksch ergangen waren, verließen beide das Land mit unbekanntem Ziel. Daimler floh schließlich nach Deutschland, dessen Gerichtsbarkeit er als Deutscher unterlag (§ 7 Abs. 2 Nr. 1 StGB), und nahm im Jahre 1989 gezielt Wohnsitz in Raum Kiel. Gemäß § 8 Abs. 1 StPO begründet dies in Deutschland einen Gerichtsstand. In Kiel stellte er sich der Staatsanwaltschaft, die gegen ihn Anklage erhob. Nach eigenen Angaben erhoffte er sich in Deutschland ein faireres Verfahren als in Österreich. In Deutschland genoß Daimler als Deutscher gemäß Art. 6 Abs. 1 lit. a EuAlÜbk i. V. m. Art. 16 Abs. 2 GG aF uneingeschränkten Auslieferungsschutz, auch gegenüber Österreich. Darüber hinaus hätte eine Entscheidung der deutschen Behörden über sein Strafverfahren den Auslieferungsvorbehalt des non bis in idem gemäß Art. 9 EuAlÜbk berührt. Vom LG Kiel wurde Daimler u. a. wegen Beihilfe zum Mord zu einer Freiheitsstrafe von 14 Jahren verurteilt. Bereits zuvor war in Österreich sein Tatgenosse aufgrund derselben Tat wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden.403 403 Drews / Hiebner / Wisser, Bericht der Kieler Nachrichten vom 5.4.1989, 3; Bericht des Holsteinischen Courier vom 3.4.1989, 8; Bericht des Spiegels vom 13.7. 1992, 76; Bericht der Hamburger Morgenpost vom 28.6.2001.
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2. Teil: Darstellung
II. Formelles Strafrecht 1. Gefahr des Abbaus und Missbrauchs von Verfahrensrechten Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung könne dazu verleiten, Verfahrensschritte wie etwa die Überwachung der Telekommunikation eines Beschuldigten im Mitgliedstaat mit den geringsten Beschränkungen durchzuführen. Insofern sei zu besorgen, dass die Strafverfolgungsbehörden das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung missbrauchen könnten. Im sogenannten forum shopping könnten sie sich aus allen Strafverfahrensordnungen der Mitgliedstaaten die jeweils für sie günstigsten Regelungen aussuchen.404 Wollte man etwa eine Telefonüberwachung in einem grenzüberschreitenden Fall mit spanischer Beteiligung anordnen, könne man sich hierbei der Regelung des spanischen Art. 579 Abs. 2 Ley Enjuiciamiento Criminal bedienen, um nur besonders niedrige Mindestanforderungen erfüllen zu müssen. Diese Ausgangssituation würde sich auch durch eine Harmonisierung der Verfahrensrechte nicht wesentlich verbessern. Letztlich würde auch diese bloß zur Nivellierung jener Rechte auf den niedrigsten gemeinsamen Nenner führen. So könne es zu einem sogenannten race to the bottom kommen.405 404 Biehler / Gleß / Parra / Zeitler, Analyse des Grünbuchs EStA, 79; Kotzurek, ZIS 2006, 123, 129; Juppe, Die gegenseitige Anerkennung, 140 f.; Ambos, Internationales Strafrecht, 391, 450; Gleß, ZStW 2004, 353, 361 f.; Zimmermann / Glaser / Motz, EuCLR 2011, 56, 73; Weigend, ZStW 2004, 275, 293; Nelles, ZStW 1997, 727, 738; Nelles / Tinkl / Lauchstädt, in: Schulze / Zuleeg / Kadelbach (Hg.), Europarecht, 2294, 2336; Nestler, ZStW 2004, 332, 343 f.; Fuchs, ZStW 2004, 368, 369; Heydenreich, StraFo 2012, 439, 441; differenzierend Möstl, der diesen Vorwurf in den aktuellen Regelungen der EU aufgegriffen sieht, Möstl, CMLR 2010, 405, 421; Perron, in: Hettinger / Zopfs / Hillenkamp / Köhler / Rath / Streng / Wolter (Hg.), FS-Küper, 429, 438; Hofmanski, in: Joerden / Scheffler / Sinn / Wolf (Hg.), FS-Szwarc, 667, 675; Scheuermann, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, 138 f.; Heine, Rechtsstellung des Beschuldigten, 79; Kretschmer, in: Vedder / Heintschel von Heinegg (Hg.), EVV-Kommentar, Art. III-270 EVV, Rn. 10, 29; Blackstock, NJECL 2010, 481, 490; Rosenau / Petrus, in: Vedder / Heintschel von Heinegg (Hg.), EUV, AEUV-Kommentar, Art. 82 AEUV, Rn. 4; Ditscher, Europäische Beweise, 159 f., 305; Österreichische Rechtsanwaltskammertag (ÖRAK), Stellungnahme zum Grünbuch, 2; Kühne, Strafprozessrecht, 22; Karsai, in: Ruggeri (Hg.), Transnational inquiries, 419, 435. 405 Epiney, in: Riklin / Niggli / Hurtado Pozo / Queloz (Hg.), FS-Riklin, 365, 372; Nalewajko, Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, 146, 148; Schädel, Bewilligung internationaler Rechtshilfe, 162; Heydenreich, StraFo 2012, 439, 441; Die Linke (Bundestagsfraktion), Stellungnahme zum Grünbuch, 2; Bundesrepublik Deutschland, Stellungnahme zum Grünbuch, 3; Allegrezza, ZIS 2010, 569, 575; Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, 8; Kühne, Strafprozessrecht, 22.
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2. Eigene Stellungnahme Teile der Kritik stellen das forum shopping als Ganzes in Frage. Differenzierend wird man jedoch von zwei Alternativen auszugehen haben: Im ersten Fall sind zwei Mitgliedstaaten zur Anordnung einer Maßnahme berechtigt, jedoch erleichtert das Recht des ersuchten Staates die Durchführung jener Maßnahme. Im zweiten Fall gestattet lediglich das Recht des ersuchten Staates die Anordnung einer Maßnahme. Ein darauf gerichtetes Ersuchen würde damit das eigene nationale Recht des ersuchenden Staats umgehen. In beiden Fällen lassen Zweckmäßigkeitserwägungen den ersuchenden Staat eine Maßnahme im Ausland durchführen. Zulässig davon ist jedoch nur die erste Alternative. Die internationale Rechtshilfe lässt den beteiligten Staaten hier einen weiten Spielraum für das Erstellen eines Rechtshilfeersuchens. Die vereinfachte Durchführung einer Maßnahme dient der Prozessökonomie und entspricht somit auch dem Rechtsgedanken einer arbeitsteiligen transnationalen Zusammenarbeit. Hingegen ist die zweite Alternative unzulässig wegen Gestaltungsmissbrauchs. Die Anordnungsbehörde nutzt die Anerkennungspflicht der Vollstreckungsbehörde aus, um auf dem Umweg über das Ausland Erkenntnisse zu gewinnen, die ihr nach dem eigenen nationalen Recht verschlossen geblieben wären. Forum shopping als Verallgemeinerung suggeriert stets ein Handeln jenseits der vorgesehenen Regelungen. Daher ist unter forum shopping im engeren Sinne erst der Missbrauch eines Rechtshilfeersuchens zu verstehen, nicht jedoch das regelkonforme Handeln im arbeitsteiligen Verfahren. Um ein solches forum shopping im engeren Sinne zwischen den Mitgliedstaaten zu verhindern, enthält das maßgebliche EU-Sekundärrecht (RL EEA, RB EBA) einige Vorkehrungen. So bedingt das Erstellen einer EEA durch die Anordnungsbehörde, dass die gewünschte Maßnahme auch im Anordnungsstaat zulässig ist, und die Anordnungsbehörde hat dies im Standardformular auch ausdrücklich zu versichern.406 Konkludent ergibt sich hieraus ein Verbot des forum shoppings. Allerdings begründet ein Verstoß gegen dieses Verbot grundsätzlich kein Vollstreckungshindernis. Die Mitgliedstaaten prüfen die Rechtmäßigkeit einer Maßnahme lediglich am Maßstab ihres eigenen Rechts. Hinsichtlich der Rechtmäßigkeit einer Maßnahme nach fremdem Recht wird dem jeweiligen Anordnungsstaat eine höhere 406 Siehe unten 2. Teil 3. Kapitel C. II. 2.; für eine EBA gilt die entsprechende Regelung des RB EBA, Art. 7 lit. b, Anhang B Ziff. ii RB EBA; Krüßmann, StraFo 2008, 458, 460; Stefanopoulou, JR 2011, 54, 57; Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 104 f.; so auch die Bedeutung dieser Regelung anerkennend Gleß, Gleß, Beweisrechtsgrundsätze, 169 f.; Vermeulen / Bondt / van Damme, EU cross-border gathering, 32.
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2. Teil: Darstellung
Fachkompetenz eingeräumt. Andernfalls würde man die Grundlage sowohl der internationalen Rechtshilfe als auch der gegenseitigen Anerkennung – das gegenseitige Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit der jeweils anderen Rechtspflege – ignorieren. Eine weitreichende Prüfungsobliegenheit der Vollstreckungsbehörde verstieße gegen diesen Vertrauensgrundsatz. Nur im Einzelfall kann die Vermutung der Rechtsstaatlichkeit jedoch widerlegt werden. Handelt eine Anordnungsbehörde offensichtlich gegen eigenes Recht, kann ein schwerer Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens vorliegen. Als Vollstreckungshindernis kommt hier der Grundrechtsvorbehalt der RL EEA in Betracht.407 Zusätzlich verbietet oft schon das jeweils eigene Recht den Mitgliedstaaten, eine Verfahrenshandlung im Ausland zu erwirken, welche im Inland verboten ist.408 Im Übrigen ist die Gefahr der Herabsetzung des Standards nationaler rechtlicher Anforderungen nicht nur im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ein Problem der gegenseitigen Anerkennung. Auch im Binnenmarkt droht ein solches race to the bottom oder auch ein Delaware-Effekt409, um Standortvorteile für die Inlandsproduktion zu sichern.410 Die Lösung dieser Frage sowohl im Binnenmarkt als auch im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts liegt in der Gestaltung eines europäischen Mindestschutzniveaus, sei es etwa im Bereich des Umwelt-, Gesundheits- und Verbraucherschutzes oder aber bei den Verfahrensrechten des Betroffenen. Hier sollte auch das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung seine Grenze finden.411 Ob dies nun durch eine Rechtsvereinheitlichung mittels einer Verordnung oder durch Rechtsangleichung im Wege teilweiser Harmonisierung des nationalen Rechts geschieht, ist hierfür zunächst unerheblich. Der Erlass von Mindestvorschriften hinsichtlich des Strafverfahrens im Zusammenhang mit dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung ist in Art. 82 Abs. 2 UAbs. 1 S. 1 AEUV ausdrücklich vorgesehen. Dabei kann und soll das Schutzniveau in den Mitgliedstaaten eher höher sein, Art. 82 Abs. 2 UAbs. 3 AEUV.412 407 Siehe
unten 2. Teil 3. Kapitel E. IV. 6. näher oben 2. Teil 1. Kapitel E. II. 2. b); Schomburg / Hackner, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 68 IRG, Rn. 11c, 27; Mavany irrt insofern, wenn er so eine Verletzung der Umsetzungspflicht des Sekundärrechts im traditionellen Rechtshilferecht verortet und eine Abhilfe fordert, Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 106. Diese Regelungslücke wurde bereits vor dem RB EBA zumindest in Deutschland durch Rechtfortbildung geschlossen. 409 Hierbei handelt es sich um ein Phänomen, welches in den USA im Steuerrecht beobachtet wird. Überdurchschnittlich viele Unternehmen verlegen hier ihren Sitz in den Bundesstaat Delaware, um von dessen liberalem Steuerrecht zu profitieren. 410 Streinz, Europarecht, 374. 411 Streinz, Europarecht, 374. 412 Vgl. unten 2. Teil 4. Kapitel D; Erwägungsgrund 54 RL 2013 / 48 / EU, Abl. 2013 L 294 / 1. 408 Vgl.
2. Kap.: Prinzip der gegenseitigen Anerkennung in der Beweisrechtshilfe121
F. Systembruch I. Ausgangslage Die Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung wird insbesondere wegen der Zusammenführung unterschiedlicher nationaler Strafprozessordnungen kritisiert. Hierbei handelt es sich zunächst um ein allgemeines Problem der Rechtshilfe. Jedes nationale Strafverfahren gliedert sich in einzelne Abschnitte, in denen eine notwendige Verfahrenshandlung vorzunehmen ist. Diese Abschnitte können sich von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterscheiden. Am ausgeprägtesten sind jene Unterschiede jedoch zwischen Staaten mit adversatorischem und jene mit inquisitorischem Strafverfahren.413 Die Rechtshilfe durchbricht diese abgeschlossenen Systeme und konfrontiert eine nationale Rechtsordnung mit einer ihr in dieser Phase des eigenen Verfahrens fremden Maßnahme. Unter Umständen könnte dies entweder zu einer Überregulierung – im Sinne einer doppelten Kontrolle – oder zu einem Kontrollausfall führen. van Hoek und Luchtmann nennen dieses Phänomen anschaulich einen „Systembruch“ (systeembreuk).414 Nach einer Ansicht verstärkt das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung diesen Effekt. Dies gelte insbesondere für die Beweisrechtshilfe, welche durch den RB EBA bzw. die RL EEA massiv umgestaltet werde. Zwar gebe es diese Gefahr bereits mit der Einführung des EHB. Doch sei ein Beweis komplexer als ein Haftbefehl. Ein Haftbefehl werde in einem abgeschlossenen isolierten Haftverfahren erlassen, während ein Beweis innerhalb des gesamten Strafverfahrens verwertbar sein müsse.415 Ein Beweis sei jedoch kein fertiges Produkt und könne so nicht wie eine Ware beliebig zwischen den Mitgliedstaaten transferiert werden. Eine Analogie zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung im Binnenmarkt sei daher unzulässig.416 413 Hörnle,
ZStW 2005, 801, 803 ff. Hoek und Luchtmann sprechen hier weiter von einem crack in the system of international cooperation in criminal matters, welcher entweder zur doppelten Kontrolle oder zu einem legal vacuum führt, van Hoek / Luchtman, ULR 2005, 1, 14 f.; ähnlich Sieber, Sieber, ZStW 2009, 1, 11, 28, 33; Krüßmann, Transnationales Strafprozessrecht, 143; Zeder, ÖJZ 2009, 992, 999; Kühne, Strafprozessrecht, 22. 415 Roger, GA 2010, 27, 31; Schünemann / Roger, ZIS 2010, 92; 95; Ambos, ZIS 2010, 557, 559; Gleß, ZStW 2004, 353, 366 f.; Gleß, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 611, 615; Rackow, in: Ambos (Hg.), Europäisches Strafrecht postLissabon, 117, 120; Rackow / Birr, GoJIL 2010, 1087, 1107; Ditscher, Europäische Beweise, 109; Bundesrat, Stellungnahme zum Grünbuch, 3. 416 Radtke, GA 2004, 1, 17 f.; Nestler, ZStW 2004, 332, 346; Gleß, in: Armenta Deu / Gascón Inchausti / Bachmaier Winter (Hg.), El derecho procesal penal en la 414 van
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2. Teil: Darstellung
Ein Beweis sei vielmehr ein normatives Konstrukt einer Rechtsordnung.417 Gerade im Ermittlungsverfahren beständen erhebliche Unterschiede, wann und in welchem Umfang Verfahrensrechte bei der Beweiserhebung zu beachten seien. Verstöße gegen diese Verfahrensweisen hätten in den verschiedenen Rechtssystemen auch unterschiedliche Konsequenzen – etwa bei der Beweisverwertung. Jeder Mitgliedstaat verfüge im Beweisrecht über wirksame Ausgleichsmechanismen, sei es in der Phase der Beweiserhebung, Beweisverwertung oder Beweiswürdigung, sei es im Ermittlungs- oder im Hauptverfahren. Die gewonnenen Erkenntnisse würden jedoch durch den verpflichtenden, unmittelbaren Beweismitteltransfer einer EBA bzw. einer EEA aus ihrem normativen Zusammenhang gerissen. Spezifische verfahrensrechtliche Vorgaben des Vollstreckungsstaats würden so ignoriert.418 Die Übermittlung der ersuchten Erkenntnisse zerstöre letztlich die innerprozessuale Balance. Die Beweismittel stellten im in sich stimmigen Recht des Anordnungsstaats einen Fremdkörper dar.419 Inkompatibel miteinander seien so namentlich das kontinentaleuropäische und das anglo-amerikanische Strafverfahrensrecht.420 Deutlich würde dieser Missstand insbesondere am Unión Europea, 121, 124; Gleß, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 611, 615; Heine, Rechtsstellung des Beschuldigten, 79. 417 Gleß, ZStW 2004, 353, 366; Gleß, in: Vervaele (Hg.), European evidence warrant, 121, 123; Gleß, in: Armenta Deu / Gascón Inchausti / Bachmaier Winter (Hg.), El derecho procesal penal en la Unión Europea, 121, 129; Meyer, GA 2007, 15, 25 f.; Sieber, ZStW 2009, 1, 37; Schünemann / Roger, ZIS 2010, 92, 92. 418 Ambos, ZIS 2010, 557, 559, 562; Krüßmann weist daraufhin, dass Transferprobleme in der Beweisrechtshilfe nicht nur in der Beweiswürdigung auftreten können, sondern bereits in früheren Verfahrensstadien, etwa als Ermittlungsansatz, Krüßmann, Transnationales Strafprozessrecht, 143 f.; Ambos, Internationales Strafrecht, 390, 538; Biehler / Gleß / Parra / Zeitler, Analyse des Grünbuchs EStA, 46 f.; Gleß, ZStW 2003, 131, 148; Bendler, StV 2003, 133, 135 f.; Satzger, StV 2003, 137, 139 ff.; Radtke, GA 2004, 1, 17 ff. 419 Schünemann, ZRP 2003, 185, 187; Schünemann / Roger, ZIS 2010, 92; 93; Nestler, ZStW 2004, 332, 346; Heine, Rechtsstellung des Beschuldigten, 79; Weigend spricht in diesem Zusammenhang von einer Kontamination des eigenen Verfahrens durch Beweismittel, welche im Ausland nach europäischen Mindeststandards erhoben wurden, Weigend, ZStW 2004, 275, 291; nach Gleß haben die übermittelten Beweismittel weder einen losgelösten Bedeutungsgehalt noch eine losgelöste Legitimationsgrundlage und sind dem Recht des Vollstreckungsstaats zuzuordnen. Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung führe so zu einer Rechtsharmonisierung durch die Hintertür, Gleß, ZStW 2004, 353, 365; Stefanopoulou, JR 2011, 54, 57; Luxemburger Bankenvereinigung (ABBL), Stellungnahme zum Grünbuch, 4; Sommer, StraFo 2010, 284, 285; Gaede, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 97, 123; Swoboda, HRRS 2014, 10, 18. 420 Hecker, Europäisches Strafrecht, 450; Weigend, ZStW 2004, 275, 293; Meyer, GA 2007, 15, 25; Andreou, Gegenseitige Anerkennung, 308; Rosenau / Petrus, in: Vedder / Heintschel von Heinegg (Hg.), EUV, AEUV-Kommentar, Art. 82 AEUV, Rn. 4; Ruggeri, in: Ruggeri (Hg.), Transnational inquiries, 279, 287.
2. Kap.: Prinzip der gegenseitigen Anerkennung in der Beweisrechtshilfe123
unterschiedlich ausgestalteten Rechtsschutz des von der Rechtshilfe Betroffenen. Die jeweiligen nationalen Rechtsbehelfe seien in unterschiedlichen Phasen des Prozesses zulässig und von entsprechenden Rügen der Betroffenen abhängig.421 Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung führe zu einem schwer überschaubaren, inkohärenten Gesamtgebilde, welches die Verfassung der Mitgliedstaaten untergrabe und verfälsche.422 Nach Ambos wird die Divergenz der Verfahrensordnungen durch die Mehrstufigkeit der Rechtshilfe noch begünstigt: Zunächst erfolge die Beweisanordnung im Anordnungsstaat. Auf diese folge die Beweiserhebung im Vollstreckungsstaat. Die Ergebnisse dieser Erhebung würden sodann im anschließenden Beweistransfer übermittelt. Der Anordnungsstaat könne dann die Beweise verwerten. Jede dieser Stufen beanspruche eine eigene Rechtsanwendung, bei der jeweils Friktionen mit der fremden Rechtsordnung auftreten könnten.423 II. Lösungsansätze Der Systembruch ist sowohl Ursache als auch Folge bei der Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung. Aufgrund fehlender Angleichung der Strafprozesssysteme der Mitgliedstaaten ist das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung als Hilfsmechanismus der Rechtshilfe installiert 421 Roger, GA 2010, 27, 30; Schünemann / Roger, ZIS 2010, 92, 97; Satzger, KritV 2008, 17, 32 f.; Sieber, ZStW 2009, 1, 37; für die auftretenden Diskrepanzen beim Beweistransfer zwischen Rechtsschutz und Strafverfolgung wählt Krüßmann den Begriff „transplant-Effekt“. Ähnlich wie bei einer Transplantation könne es auch beim Beweistransfer zu Abstoßungserscheinungen kommen, da die einzelnen Komponenten nicht aufeinander abgestimmt seien. Die Ergebnisse der Beweisrechtshilfe können nicht losgelöst von der Gewinnungssituation und Ursprungsrechtsordnung übermittelt werden, Krüßmann, Transnationales Strafprozessrecht, 143 f.; Amnesty International EU Office, Stellungnahme zum Grünbuch, 6, nach amnesty international darf ein Beweistransfer, um den Betroffenen insbesondere in seinen Menschenrechten zu schützen, nicht in einem Vakuum stattfinden. Der Beweistransfer müsse in einem System von Verfahrensgarantien – wie im Stockholmer Programm vorgesehen – eingebettet sein; Gleß, ZStW 2013, 573, 574. 422 Hecker, Europäisches Strafrecht, 451; insbesondere Schünemann spricht hier von außer Kontrolle geratenenen hybriden Systemen, Schünemann, GA 2004, 193, 205; Weigend, ZStW 2004, 275, 293; Heine, Rechtsstellung des Beschuldigten, 79; Scheuermann, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, 137 f.; nach Radtke setzt das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung auf ein nicht vorhandenenes Referenzsystem, Radtke, GA 2004, 1,18 f.; Zimmermann / Glaser / Motz, EuCLR 2011, 56, 71; sprechen hier von patchwork system, wild west und anarchy scenario bei fremdermittelten Beweisen, so auch Klip, European criminal law, 351; Heydenreich, StraFo 2012, 439, 441 f. 423 Ambos, ZIS 2010, 557, 560 ff.
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2. Teil: Darstellung
worden. Die aus den Strukturunterschieden der einzelnen Prozessordnungen resultierende Unstimmigkeit wird hierdurch jedoch nicht behoben, sondern durch die sowohl verpflichtende als auch unmittelbare Wirkungsweise des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung gegenüber der traditionellen Rechtshilfe sogar noch kumulativ verstärkt. Zwar kann ein erhobenes Beweismittel nicht aus seiner Meta-Verfahrensstruktur herausgelöst werden, doch wird gerade der Gegensatz zwischen etwa deutschem und englischem Strafverfahrensrecht von der Kritik überzeichnet dargestellt. In beiden Rechtsordnungen unterliegt das Beweismittel einem strengen Prüfungsverfahren. Während sich im kontinentalen Offizialverfahren die Verwertbarkeit eines Beweismittels in der Regel erst nachträglich im Hauptverfahren auswirkt, besteht im Parteiverfahren des common law bereits in einem Vorverfahren eine richterliche Vorkontrolle (inadmissibility), welche die Beweiseinführungsverbote beachtet (exclusionary rules).424 Die Einführung der EMRK stellte die Vertragsparteien 1950 vor ein ähnliches Problem. Zum einen wollte man einen einheitlichen Schutzstandard schaffen, ohne unmittelbar in die Systematik der nationalen Rechtsordnungen einzugreifen. Zum anderen handelte es sich um die Zusammenführung relativ heterogener Rechtssysteme.425 Die jahrzehntelange Rechtspraxis und Rechtsprechung des EGMR zeigte die grundsätzliche Ähnlichkeit der nationalen Prozessordnungen auf und trug zur gegenseitigen Annäherung bei. Wesentliche Unterschiede bleiben jedoch. Die Vertragsstaaten können durch verschiedene Ausgestaltungen ihres Rechts die Vorgaben der EMRK einhalten (margin of appreciation).426 Einzelne bedeutsame Verfahrensbereiche im Strafverfahren eines Mitgliedstaats können den entsprechenden Ausgestaltungen eines anderen durchaus widersprechen und trotzdem ist eine Zusammenarbeit möglich. Die Frage der Beweisverwertung wird sowohl von der RL EEA als auch vom RB EBA ausgeklammert. Schon die traditionelle Rechtshilfe kennt keine umfassenden rechtshilferechtlichen Übereinkommen zur Beweisverwertung, sie hat jedoch einen eigenen Hilfsmechanismus entwickelt. Nach Möglichkeit soll der ersuchte Staat bei Erledigung des Ersuchens auf Wunsch des ersuchenden Staats dessen fremdes Recht beachten, vgl. Art. 7 Abs. 12 VN-Suchtstoff-Übk, Art. 3 Abs. 2 EuRhÜbk, Art. 8 2. ZP EuRhÜbk, Art. 4 Abs. 1 EU-RhÜbk. Dieser Tradition folgen auch die Rechtsinstrumente zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, vgl. Art. 8 Abs. 2 RL EEA, 424 Ambos, ZIS 2010, 557, 562; Vernimmen-Van Tiggelen / Surano, Future of mutual recognition, 18; Krüßmann, Transnationales Strafprozessrecht, 143 f. 425 Streinz, Europarecht, 30. 426 EGMR, Urt. v. 7.12.1976, Handyside . / . Vereinigtes Königreich, Nr. 5493 / 72; Gaede, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 97, 188 f.
2. Kap.: Prinzip der gegenseitigen Anerkennung in der Beweisrechtshilfe125
Art. 5 Abs. 1 S. 2 RB-Sicherstellung, Art. 12 RB EBA.427 Nach Ambos kann den durch die Mehrstufigkeit der Rechtshilfe aufgeworfenen Friktionen durch eine frühzeitige Antizipation des fremden Rechts entgegengewirkt werden. Beiden beteiligten Staaten bleibe unbenommen, auf ihrer Handlungsebene frei zu entscheiden, ob sie auf der Anwendung ihres Rechts bestehen oder fremdes Recht bei der Rechtsanwendung berücksichtigen. Weder der Anordnungsstaat noch der Vollstreckungsstaat hätten ein Interesse daran, dass die Anordnung oder Beweisübermittlung im jeweils anderen Staat aufgrund der Anwendungsfriktionen nicht ausgeführt oder verwertet werden könnten. Der Vollstreckungsstaat hätte sich zudem unnötig mit aussichtslosen Ersuchen zu beschäftigen, wenn die Ergebnisse im Anordnungsstaat aufgrund der genannten Friktionen gar nicht verwertet werden könnten. Um solchen blinden Anordnungen vorzubeugen und diese zu reduzieren, sei vielmehr das fremde Recht zu berücksichtigen.428 Um die Missbrauchsgefahr der Verfolgungspotenziale bei der Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung abzuwenden, werden verschiedene Lösungen angeboten und verfolgt. Der traditionellen Rechtshilfe folgend, schlägt Mavany eine europäische Beweiswürdigungslösung auf nationaler Ebene vor, etwa entsprechend dem derzeit in Deutschland gewählten Weg.429 Daneben bestehen einige programmatische Ansätze, welche ein Europäisches Beweiszulassungsverfahren430, ein (teilweise) supranationales Strafverfahrensrecht431 bzw. eine umfassende Harmonisierung des nationalen Strafverfahrensrechts432 vorsehen. Eigen ist jedoch jedem Lösungsansatz, dass er das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung nicht uneingeschränkt gelten lässt. Der Missbrauchsfrage könne nur durch Restriktion der Umsetzung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung in der nationalen Gesetzgebung der Mitgliedstaaten begegnet werden.433
Ruggeri, in: Ruggeri (Hg.), Transnational inquiries, 279, 300 f. ZIS 2010, 557, 560 ff. 429 Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 63. 430 Biehler / Gleß / Parra / Zeitler, Analyse des Grünbuchs EStA, 46; Gleß, ZStW 2003, 131, 148 ff.; Gleß, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 611, 616; Hetzer, EJCCL 2004, 166, 181 ff.; Radtke, GA 2004, 1, 19 f.; Hecker, Europäisches Strafrecht, 453; Hecker, in: Ruggeri (Hg.), Transnational inquiries, 269, 278; Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 63; Ditscher, Europäische Beweise, 306 f., 309 f.; Heydenreich, StraFo 2012, 439, 442. 431 Sieber, ZStW 2009, 1, 35 ff.; Hetzer, EJCCL 2004, 166, 182; Schwarzburg / Hamdorf, NStZ 2002, 617, 623 f. 432 Esser, ZEuS 2004, 289, 306 ff. 433 Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 61. 427 Vgl.
428 Ambos,
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2. Teil: Darstellung
3. Kapitel
Die Europäische Ermittlungsanordnung A. Historie und Systematik I. Entstehungsgeschichte Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung wird von der EU nicht nur im Bereich der Auslieferung (RB EHB) eingeführt. Seit 1999 bereitet sie die Einführung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung auch für den gesamten Bereich der Beweisrechtshilfe vor.434 Mit dem RB-Sicherstellung (freezing order) wurde 2003 hierfür der vorsichtige erste Schritt getan.435 Demnach wird eine Sicherstellungsentscheidung, d. h. jede von einer zuständigen Justizbehörde des Entscheidungsstaats getroffene Maßnahme, mit der vorläufig jede Vernichtung, Veränderung, Verbringung, Übertragung oder Veräußerung von Vermögensgegenständen verhindert werden soll, deren Einziehung angeordnet werden könnte oder die ein Beweismittel darstellen könnten (Art. 2 lit. c RB-Sicherstellung), in einem anderen Mitgliedstaat anerkannt und vollstreckt, Art. 5 Abs. 1 RB-Sicherstellung. Bereits während der Verhandlungen zu jenem Rahmenbeschluss wurde erörtert, wie man eine Zersplitterung der Beweisrechtshilfe vermeiden könnte.436 Ende 2003 legte die Kommission einen Vorschlag für einen RB EBA vor.437 Dieser Rahmenbeschluss sollte nach der Kommission der erste Schritt zu einem einheitlichen Rechtsinstrument sein, welches alle bisherigen Rechtsinstrumente zur sonstigen Rechtshilfe in sich vereinigen und ersetzen sollte.438 2004 unterstützte der Europäische Rat im Haager Programm den Erlass eines RB EBA.439 Schließlich erließ am 18. Dezember 2008 der Rat nach Stellungnahme des Europäischen Parlaments den RB EBA zur Anerkennung und Vollstreckung einer EBA.440 Dabei ist eine EBA eine von einer zuständigen Behörde eines Mitgliedstaats erlassene justizielle Entscheidung zur Erlangung von Sachen, Schriftstücken und Daten aus einem anderen Mitgliedstaat (Art. 1 Abs. 1 RB EBA), welche sich bereits vor ihrem Erlass im Besitz der zuständigen Vollstreckungsbehörde befinden (Art. 4 Abs. 4 RB EBA).441 434 Tampere
Programm, Ratsdokument Nr. SN 200 / 99, vom 15. / 16.10.1999, 9. in: Ambos (Hg.), Europäisches Strafrecht post-Lissabon, 117, 118. 436 Hert / Weis / Cloosen, NJECL 2009, 55, 57. 437 Vorschlag für einen RB EBA vom 14.11.2003, KOM(2003) 688 endgültig. 438 Hert / Weis / Cloosen, NJECL 2009, 55, 57. 439 Haager Programm, Abl. 2005 C 53 / 1, 12. 440 RB EBA, Abl. 2008 L 350 / 72. 435 Rackow,
3. Kap.: Die Europäische Ermittlungsanordnung127
Knapp ein Jahr später am 11. November 2009 brachte die Kommission ein Grünbuch zur Erlangung verwertbarer Beweise in Strafsachen aus einem anderen Mitgliedstaat heraus.442 Dieses wurde schnell von der weiteren Entwicklung überholt: Am 29. April 2010 legten Belgien, Bulgarien, Estland, Spanien, Österreich, Slowenien und Schweden im Einklang mit Art. 76 lit. b AEUV einen Entwurf für eine RL EEA vor.443 Ausgehend von diesem Initiativentwurf befassten sich nun der Rat, das Europäische Parlament und die Kommission mit der RL EEA. 441
Als vorläufiges Verhandlungsergebnis der nationalen Delegationen präsentierte der Rat am 17. Juni 2011 eine partielle allgemeine Ausrichtung [im Folgenden: Vorentwurf oder RL EEA (2011)].444 Bereits am 24. August 2010 äußerte sich die Kommission zum Initiativentwurf.445 Schließlich traten alle drei Organe in einen sogenannten Trilog446 ein, um den Initiativent wurf gemeinsam fortzuentwickeln. Am 27. Februar 2014 nahm das Europäische Parlament in einer ersten Lesung den endgültigen Text der Richtlinie an (im Folgenden: RL EEA). Der Text wurde auch vom Rat am 11. März 2014 angenommen. Am 3. April 2014 haben das Europäische Parlament und der Rat die Richtlinie als Richtlinie 2014 / 41 / EU erlassen. Sie wurde am 1. Mai 2014 im Amtsblatt der EU veröffentlicht.447 II. Aufbau der Richtlinie und Begriffsbestimmungen 1. Aufbau Der Aufbau der Richtlinie gliedert sich jeweils in eine Einleitung, einen Hauptteil und einen Anhang. Die Einleitung gibt die Gründe für den Richtlinienerlass enumerativ wieder und liefert einen Leitfaden, der den generellen Gebrauch der EEA abstrakt darstellt. Der Hauptteil enthält den tatsächlichen Richtlinieninhalt und ist in mehrere Kapitel unterteilt. Das erste 441 Die allgemeine Umsetzungsfrist endete im Januar 2011, Art. 23 Abs. 1 RB EBA. Bisher haben lediglich Dänemark und Finnland den RB EBA in nationales Recht umgesetzt. 442 Grünbuch Beweiserlangung, KOM(2009) 624 endgültig. 443 Initiativentwurf RL EEA von Belgien, Bulgarien, Estland, Spanien, Österreich, Slowenien und Schweden vom 29.4.2010, Ratsdok. 9145 / 10 COPEN 115. 444 Vermerk des Vorsitzes des Rates vom 17.6.2010, Ratsdok. 11193 / 10 COPEN 137. 445 Http: / / ec.europa.eu / justice / news / intro / doc / comment_2010_08_24_de.pdf. (geprüft am 17.05.2015). 446 Sprachgebrauch der EU für ein Treffen von Vertretern des Europäischen Parlaments, des Rats und der Kommission. 447 RL EEA vom 3.4.2014, Abl. 2014 L 130 / 1.
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2. Teil: Darstellung
Kapitel widmet sich vor allem Legaldefinitionen, dem Anwendungsbereich und allgemeinen formellen Bedingungen. Im zweiten Kapitel liegt der Schwerpunkt auf dem Anordnungsverfahren, im dritten Kapitel hingegen auf dem Vollstreckungsverfahren. Rechtsbehelfe, zivil- und strafrechtliche Amtshaftung, Datenschutz und Kostenübernahme werden schließlich im dritten Kapitel normiert. In drei weiteren Kapiteln (IV-VI) werden spezielle Ermittlungsmaßnahmen geregelt. Das letzte Kapitel enthält Schlussbestimmungen. Im Anhang befinden sich Formblätter. 2. Begriffsbestimmungen Bei einer EEA handelt es sich gemäß Art. 1 Abs. 1 S. 1 RL EEA um eine gerichtliche Entscheidung, die von einer Justizbehörde eines Mitgliedstaats zur Durchführung einer oder mehrerer spezifischer Ermittlungsmaßnahme(n) in einem anderen Mitgliedstaat zur Erlangung von Beweisen […] erlassen oder validiert wird. Die beiden beteiligten Mitgliedstaaten werden als Anordnungs- und Vollstreckungsstaat, die jeweils beteiligten Behörden als Anordnungs- und Vollstreckungsbehörde bezeichnet. In Art. 2 RL EEA werden diese Begriffe legaldefiniert: Danach ist ein Anordnungsstaat der Mitgliedstaat, in dem die EEA erlassen wird (lit. a); der die EEA vollstreckende Mitgliedstaat, in dem die Ermittlungsmaßnahme durchzuführen ist, ist der Vollstreckungsstaat (lit. b). Anordnungsbehörde ist ein Richter, ein Gericht, ein Ermittlungsrichter oder ein Staatsanwalt, der / das in dem betreffenden Fall zuständig ist (lit. c Ziff. i), oder jede andere vom Anordnungsstaat bezeichnete zuständige Behörde, die in dem betreffenden Fall in ihrer Eigenschaft als Ermittlungsbehörde in einem Strafverfahren nach nationalem Recht für die Anordnung der Erhebung von Beweisen zuständig ist (lit. c Ziff. ii S. 1). Vollstreckungsbehörde ist eine Behörde, die für die Anerkennung einer EEA und für die Sicherstellung ihrer Vollstreckung gemäß dieser Richtlinie und den in vergleichbaren innerstaatlichen Fällen anzuwendenden Verfahren zuständig ist (lit. d S. 1).
B. Anwendungsbereich I. Rechtsgrundlage Rechtsgrundlage der Richtlinie ist laut Bezugsvermerk der Präambel Art. 82 Abs. 1 UAbs. 2 lit. a AEUV. Danach kann die EU durch Maßnahmen Regeln und Verfahren für die Anerkennung aller Arten von Urteilen und Entscheidungen festlegen. Die RL EEA soll eine solche Maßnahme im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit sein (vgl. Erwägungsgründe 1, 2 RL EEA), welche die Anerkennung und Vollstreckung einer gerichtlichen
3. Kap.: Die Europäische Ermittlungsanordnung129
Entscheidung eines anderen Mitgliedstaats zur Durchführung einer oder mehrerer spezifischer Ermittlungsmaßnahmen nach dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung ermöglicht, vgl. Erwägungsgründe 6, 7, Art. 1 Abs. 1 S. 1 RL EEA. Eine EEA kann nur nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung vollstreckt werden, Art. 1 Abs. 2 RL EEA. Aufgrund des konkreten Regelungsgehalts der RL EEA hält eine Ansicht dagegen Art. 82 Abs. 2 UAbs. 2 lit. a AEUV für sedes materiae. Die Ermittlungsmaßnahmen, welche von dieser Richtlinie erfasst würden, führten zu Beweismitteln, welche in anderen Mitgliedstaaten verwendet würden. Hierdurch werde auch das Beweisrecht der Mitgliedstaaten maßgeblich beeinflusst. Daher sei nicht Art. 82 Abs. 1 UAbs. 2 lit. a AEUV sondern Art. 82 Abs. 2 UAbs. 2 lit. a AEUV taugliche Rechtsgrundlage der RL EEA.448 Indes sieht die herrschende Meinung Art. 82 Abs. 1 UAbs. 2 lit. a AEUV als taugliche Rechtsgrundlage an. Art. 82 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV sei eine taugliche Ermächtigungsgrundlage für Richtlinien, welche die Kooperation der Mitgliedstaaten bei der Rechtshilfe beträfen, auch wenn sie dienende Begleitregelungen für das Strafverfahrensrecht enthielten. Dies gelte etwa für den RB EBA und die RL EEA. Art. 82 Abs. 2 UAbs. 2 lit. a AEUV betreffe lediglich die Beweisgewinnung und Beweisverwertung sowie die sonstige Zulässigkeit von Beweismitteln.449 Der herrschenden Meinung ist zuzustimmen. Auch wenn eine Richtlinie zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung Regelungen für bestimmte Ermittlungsmaßnahmen vorsieht und ein Beweismittel aufgrund dieser Richtlinie vom Vollstreckungsstaat in den Anordnungsstaat übermittelt wird, führt dies nicht zwingend auch zu einer Beweisverwertung im Anordnungsstaat. Im Rahmen des EEA-Verfahrens werden nicht Beweismittel, sondern Entscheidungen aus einem anderen Mitgliedstaat anerkannt. Beweise als solche erfüllen diese Anforderung nicht. Vielmehr handelt es sich um das 448 Rosenau / Petrus, in: Vedder / Heintschel von Heinegg (Hg.), EUV, AEUVKommentar, Art. 82 AEUV, Rn. 16; Kretschmer, in: Vedder / Heintschel von Heinegg (Hg.), EVV-Kommentar, Art. III-270 EVV, Rn. 28; Esser, in: Heinrich / Jäger / Achenbach / Amelung / Bottke / Haffke / Schünemann / Wolter (Hg.), FS-Roxin, 1497; 1509; Suhr, in: Calliess / Ruffert (Hg.), EUV, AEUV-Kommentar, Art. 82 AEUV, Rn. 35; Art. 82 Abs. 2 S. 1 AEUV könne hingegen nicht Grundlage einer so weitgehenden Richtlinie wie der RL EEA sein, Esser, in: Heinrich / Jäger / Achenbach / Amelung / Bottke / Haffke / Schünemann / Wolter (Hg.), FS-Roxin, 1497, 1511; Busemann, ZIS 2010, 552, 555; BR-Drs 906 / 1 / 09 Nr. 5, 6. 449 Satzger, in: Streinz / Kruis / Michl (Hg.), EUV / AEUV-Kommentar, Art. 82 AEUV, Rn. 20; so auch Vogel, in: Hilf / Nettesheim (Hg.), EUV, AEUV-Kommentar, Art. 82 AEUV, Rn. 42, 84; Sieber, ZStW 2009, 1, 58; Böse, in: Schwarze / Becker / Bär-Bouyssière (Hg.), EU-Kommentar, Art. 82 AEUV, Rn. 27, 44; Böse, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 149, 168 f.; 173.
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2. Teil: Darstellung
gewonnene Substrat der jeweiligen Ermittlung, die auf der europäischen Anordnung beruht. Ein Beweis ist etwas Dynamisches. Seine Funktion ergibt sich nicht eo ipso, sondern ist abhängig von der jeweiligen Be- und Verwertung. Hingegen ist eine Entscheidung eher etwas Statisches, Produktgleiches. Sie kann als Titel im vorgesehenen Verfahren verwendet werden. Somit ist es irreführend, in Bezug auf das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung von einer Verkehrsfähigkeit der Beweise zu sprechen.450 Das Ergebnis eines erfolgreichen EEA-Verfahrens ist zwar eine Beweisübermittlung, jedoch nur aufgrund einer konkreten einzelnen europäischen Anordnung eines Mitgliedstaats. Um bereits ermittelte Beweise können so auch andere Mitgliedstaaten ersuchen. Das sich hieraus ergebende Spannungsfeld der Sach- und Informationsweitergabe verortet Vogel jedoch richtig beim Verfügbarkeitsprinzip und nicht beim Prinzip der gegenseitigen Anerkennung. Es handelt sich so um eine Frage der Beweisverwertung.451 II. Zusammenführung 1. Vorbemerkungen Die RL EEA führt bereits bestehende Rechtsinstrumente zusammen und ersetzt sie. Sie bildet ein einheitliches Instrument mit übergreifendem Charakter, welches für alle Ermittlungsmaßnahmen gelten soll, Erwägungsgründe 7, 8 RL EEA. Ohne ihre Anwendbarkeit im Drittverhältnis und bezüglich Übergangsbestimmungen zu berühren, ersetzt die RL EEA ab dem 22. Mai 2017 gemäß Art. 34 Abs. 1 lit. a–c RL EEA im Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten das EuRhÜbk nebst 1. ZP EuRhÜbk und 2. ZP EuRhÜbk (lit. a), das SDÜ (lit. b) sowie das EU-RhÜbk nebst ZP EU-RhÜbk (lit. c). Der Vorrang des Sekundärrechts gegenüber bi- und multilateralen Übereinkommen wird in einer eigenen Schutzklausel aufgenommen: Die Mitgliedstaaten dürfen über die RL EEA hinaus nach dem 22. Mai 2017 nur dann bilaterale oder multilaterale Übereinkünfte oder Vereinbarungen mit anderen Mitgliedstaaten schließen oder weiterhin anwenden, wenn diese Übereinkünfte oder Vereinbarungen die Möglichkeiten bieten, die Vorschriften dieser Richtlinie weiter zu verstärken, oder zu einer weiteren Vereinfachung oder Erleichterung der Verfahren zur Beweiserhebung beitragen, und sofern 450 Vogel, in: Hilf / Nettesheim (Hg.), EUV, AEUV-Kommentar, Art. 82 AEUV, Rn. 42; Böse, ZStW 2002, 148, 181 Fn. 164; Böse, in: Maiwald / Momsen / Bloy / Rackow (Hg.), FS-Maiwald, 233, 249; anders aber Gleß, ZStW 2003, 131, 131; Gleß, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 611, 615; Busemann, ZIS 2010, 552, 552; Swoboda, HRRS 2014, 10, 18. 451 Vogel, in: Hilf / Nettesheim (Hg.), EUV, AEUV-Kommentar, Art. 82 AEUV, Rn. 42.
3. Kap.: Die Europäische Ermittlungsanordnung131
das in dieser Richtlinie niedergelegte Schutzniveau gewahrt ist, Art. 34 Abs. 3 RL EEA, vgl. Erwägungsgrund 35 RL EEA. Eine solche Weiteroder Neuanwendung von Übereinkommen ist der Kommission bis zum 22. Mai 2017 anzuzeigen, Art. 34 Abs. 4 RL EEA. Durch die Vereinheitlichung der bestehenden Rechtsinstrumente zur Beweisrechtshilfe kommt die EU mit der RL EEA der langwährenden Kritik am europäischen Strafrecht nach. Allgemein wird bzw. wurde gerügt, dass mit der Einführung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung ein Aktionismus und Anarchismus in die EU-Rechtssetzung eingekehrt sei.452 Die Übersichtlichkeit der traditionellen Rechtshilfe (z. B. EuRhÜbk) sei durch die Normenflut der EU zerstört worden.453 Dabei habe die EU bisher kein zusammenhängendes Gesamtkonzept im Sinne einer geschlossenen EU-Rechts hilfeverfahrensordnung454 präsentiert, sondern reagiere auf aktuelle Entwicklungen lediglich punktuell.455 Die Gefahr einer rechtswidrigen Entscheidung durch einen Rechtsanwender steige proportional mit der anwachsenden Fülle von ad-hoc-Regelungen und der sich hieraus ergebenden Unklarheit und Unsicherheit.456 2. Rahmenbeschlüsse Eine EEA erstreckt sich auch auf bereits bestehende Beweismittel, was dem Regelungsgehalt des RB EBA entspricht. gemäß Art. 1 Abs. 1 S. 2, Erwägungsgründe 7, 8 RL EEA. Die RL EEA ersetzt insbesondere den 452 Leutheusser-Schnarrenberger, StraFo 2007, 267, 273; Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, Einleitung, Rn. 72. 453 Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, Einleitung, Rn. 70, 76; Gleß, Internationales Strafrecht, 147; Ruggeri, in: Ruggeri (Hg.), Transnational inquiries, 279, 285; Böse, ZIS 2014, 152, 152. 454 Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, Einleitung, Rn. 79. 455 Ahlbrecht, NStZ 2006, 70, 71; Schomburg, Lagodny, Gleß und Hackner nennen dies auch EU-Salami-Rechtsakte, Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, Einleitung, Rn. 70; Spencer, ZIS 2010, 602, 605 f.; Perron meint, dies habe zwar den Charakter bloß punktueller Maßnahmen längst verlassen, ergebe aber dennoch eher ein Bild einer Patchworkdecke als eines römischen Mosaiks, Perron, in: Hettinger / Zopfs / Hillenkamp / Köhler / Rath / Streng / Wolter (Hg.), FS-Küper, 429, 433; Sieber spricht von einem Flickenteppich von Vorschriften, Sieber, ZStW 2009, 1, 1; Zeder, ÖJZ 2009, 992, 996; Zeder, JSt 2011, 65, 65; Gleß, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 611, 614. 456 Österreichische Rechtsanwaltskammertag (ÖRAK), Stellungnahme zum Grünbuch, 3; Zeder, JRP 2009, 172, 184; Zeder, ÖJZ 2009, 992, 997.
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2. Teil: Darstellung
B-Sicherstellung und den RB EBA. Dies gilt für alle Mitgliedstaaten, die R durch die RL EEA gebunden sind, Art. 34 Abs. 2 UAbs. 1 RL EEA. Bezugnahmen auf die zu ersetzenden Rahmenbeschlüsse sind hier als solche auf die RL EEA zu lesen, Art. 34 Abs. 2 UAbs. 2 RL EEA. Anlass für die Zusammenführung und Ersetzung war die Auffassung der EU, dass der bestehende Rahmen für die Erhebung von Beweismitteln zu fragmentiert und zu kompliziert sei. Der Anwendungsbereich der vorhandenen beiden Rahmenbeschlüsse sei äußerst begrenzt und erfordere regelmäßig ein zweistufiges Verfahren. In der Praxis werde daher meistens von der weiterhin zulässigen, flexiblen Alternative der traditionellen Rechtshilfe Gebrauch gemacht. Mit der RL EEA solle nun ein effizienteres, einheitliches und flexibleres Rechtsinstrument geschaffen werden, vgl. Erwägungsgründe 3–6 RL EEA. Da eine EEA zwischen zwei Staaten eine Rechtsbeziehung herstellen solle und dieses Ziel von den Mitgliedstaaten nicht ausreichend verwirklicht werden könne, regle dies die RL EEA im Einklang mit dem Subsidiaritätsund Verhältnismäßigkeitsprinzip aus Art. 5 EUV, Erwägungsgrund 38 RL EEA. Insbesondere der RB-Sicherstellung und der RB EBA führen zu einem Nebeneinander von traditioneller Rechtshilfe und der Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung. In jenem Überlappungsbereich steht es einer Strafverfolgungsbehörde frei, ihr Anliegen an den fremden Staat in einem traditionellen Ersuchen zusammenzufassen oder aber in mehrere rahmenbeschlusskonforme Ersuchen aufzuteilen, vgl. etwa Art. 10 RB-Sicherstellung. Wo allerdings bereits eine Anordnung aufgrund eines Rahmenbeschlusses vollständig zielführend wäre, muss auch dieser Weg anstelle eines traditionellen Ersuchens gewählt werden.457 Aufgrund dieses begrenzten Anwendungsbereichs sind sowohl der RB-Sicherstellung als auch der RB EBA auf viel Ablehnung gestoßen.458 Es sei praktikabler, ein standardisiertes Ersuchen auf dem traditionellen Rechtshilfeweg zu stellen, als zu dem gleichen Zweck mehrere Formulare für den jeweils einschlägigen Anwendungsbereich zu verwenden. Die Anzahl der zu verwendenden Rechtsquellen erhöhe den Zeitaufwand der Vorbereitung eines Rechtshilfeersuchens.459 Letztlich verdränge so die traditionelle Rechts457 Zeder,
ÖJZ 2009, 992, 995; Zeder, JSt 2011, 65, 66. ZIS 2006, 123, 139; Gazeas, ZRP 2005, 18, 22; Bachmaier Winter, ZIS 2010, 580, 583; Blackstock, NJECL 2010, 481, 481 f.; Belfiore, EJCCL 2009, 1, 16; Busemann, ZIS 2010, 552, 555. 459 Hackner, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 91 IRG, Rn. 3; Deutscher Richterbund (DRB), Stellungnahme zum Grünbuch, 4. 458 Kotzurek,
3. Kap.: Die Europäische Ermittlungsanordnung133
hilfe die neu eingeführte Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung.460 Dementsprechend betrachteten viele Mitgliedstaaten den RB EBA lediglich als notwendigen Zwischenschritt hin zu einer umfassenden Lösung der Beweiserhebung und verzichteten auf seine Umsetzung ins nationale Recht.461 So haben lediglich Dänemark und Finnland ein Umsetzungsgesetz geschaffen. Plakativ wurde die erwartete umfassende Lösung von einigen Autoren als EBA II bzw. 2 bezeichnet.462 Tatsächlich übernahm der Initiativentwurf zur RL EEA unverändert weite Teile des RB EBA und verzichtete so auf große inhaltliche Diskussionen. Demgegenüber kritisiert eine andere Ansicht die mangelnde Umsetzung des RB EBA. Bevor eine umfassende Lösung gesucht werde, sollten erst die Erfahrungen mit einem abgeschlossenen Bereich der Beweisrechtshilfe abgewartet werden. Sodann könnten diese Erfahrungen – auch mittels empirischer Erhebung – in ein neues Rechtsinstrument eingebracht werden.463 Ein Scheitern der EBA könnte auch die Vorzüge der traditionellen Rechtshilfe hervorheben und deren Reform forcieren. Einen Effizienzgewinn verspreche man sich zudem aus den Erfahrungen mit den neuen EU-Rechtsinstrumenten zur traditionellen Rechtshilfe. Eine erneute Änderung würde nicht den erhofften Effizienzgewinn bringen, sondern die Zusammenarbeit destabilisieren.464 Angesichts der geringen Neigung, den RB EBA umzusetzen, und eines mangelnden Drucks, es gleichwohl tun zu müssen, ist eine verbindliche umfassende Richtlinie für Ermittlungsmaßnahmen vorzuziehen. Das Nebeneinander zwischen traditioneller Rechtshilfe und Rechtshilfe zum Prinzip 460 Klip, European criminal law, 352; Rackow, in: Ambos (Hg.), Europäisches Strafrecht post-Lissabon, 117, 119; Rackow / Birr, GoJIL 2010, 1087, 1107; Ruggeri, in: Ruggeri (Hg.), Transnational inquiries, 279, 285. 461 Republik Österreich, Stellungnahme zum Grünbuch, 2; Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK), Stellungnahme zum Grünbuch, 9; Bachmaier Winter, ZIS 2010, 580, 588; Bachmaier Winter, in: Ruggeri (Hg.), Transnational inquiries, 85, 97. 462 Vermerk vom 21.11.2005, Ratsdok. 14760 / 05 COPEN 186; Zeder, ÖAnwBl 2008, 249, 259; Zeder, JRP 2009, 172, 178; Zeder, ÖJZ 2009, 992, 994 f.; Zeder, JSt 2011, 65, 65 f.; Roger, GA 2010, 27, 33 Fn. 45; Stefanopoulou, JR 2011, 54, 56; vgl. auch Erwägungsgrund 25 RB EBA. 463 Republik Zypern, Stellungnahme zum Grünbuch, 1; Allegrezza, ZIS 2010, 569, 569; Ambos, ZIS 2010, 557, 559; Ambos, Internationales Strafrecht, 538. 464 Bundesrepublik Deutschland, Stellungnahme zum Grünbuch, 2; Esser, in: Heinrich / Jäger / Achenbach / Amelung / Bottke / Haffke / Schünemann / Wolter (Hg.), FS-Roxin, 1497, 1510 f.; Zimmermann / Glaser / Motz, EuCLR 2011, 56, 70; Spencer weist hier auf das englische Rechtsverständnis hin: „If it ain’t broke, don’t fix it“; and similarly, if it is only slightly broken, a minor repair is preferable to „heroic surgery“, Spencer, Stellungnahme zum Grünbuch, 3; so auch ders., ZIS 2010, 602, 604; Ambos, ZIS 2010, 557, 559.
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2. Teil: Darstellung
der gegenseitigen Anerkennung beeinträchtigt einen Effizienzgewinn. Erfahrungen kann man lediglich durch Anwendung erwerben. Richtig ist es jedoch, bereits vorhandene Erfahrungen bei der Anwendung bestehender Rechtsinstrumente zur Rechtshilfe in den Richtlinienentwurf einzubeziehen. III. Einzelne Maßnahmen Grundsätzlich werden von der RL EEA alle Ermittlungsmaßnahmen erfasst, Erwägungsgrund 8, Art. 3 RL EEA. Einige Ermittlungsmaßnahmen werden jedoch in Kapitel IV – Besondere Bestimmungen für bestimmte Ermittlungsmaßnahmen, Kapitel V – Überwachung des Telekommunikationsverkehrs sowie Kapitel VI – Vorläufige Maßnahmen besonders hervorgehoben. Hierzu gehören: • die zeitweilige Überstellung von inhaftierten Personen an den Anordnungs- (Art. 22) bzw. Vollstreckungsstaat (Art. 23) zum Zwecke der Durchführung einer Ermittlungsmaßnahme • Vernehmung per Videokonferenz oder sonstiger audiovisueller Übertragung (Art. 24) bzw. per Telefonkonferenz (Art. 25) • Maßnahmen zur Erlangung von Informationen über Bank- und sonstige Finanzkonten (Art. 26) bzw. von Informationen über Bank- und sonstige Finanzgeschäfte (Art. 27) • Ermittlungsmaßnahmen zur Erhebung von Beweismitteln in Echtzeit, fortlaufend oder über einen bestimmten Zeitraum (Art. 28), wie beispielsweise die Überwachung von Bank- oder sonstigen Finanzgeschäften, die über ein oder mehrere konkret benannte Bankkonten durchgeführt werden (Abs. 1 lit. a), kontrollierte Lieferungen im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsstaats (Abs. 1 lit. b) • Verdeckte Ermittlungen (Art. 29) • Überwachung des Telekommunikationsverkehrs mit technischer Hilfe eines anderen Mitgliedstaats (Art. 30) bzw. mit Unterrichtung und Genehmigung in einem anderen Mitgliedstaat (Art. 31) • Vorläufige Maßnahmen (Art. 32) Ausdrücklich ausgenommen werden vom Anwendungsbereich der Richtlinie die Bildung gemeinsamer Ermittlungsgruppen und die Beweiserhebung im Rahmen dieser Ermittlungsgruppe. Hierfür gelten weiterhin Art. 13 EU-RhÜbk und der Rahmenbeschluss über gemeinsame Ermittlungsgruppen (RB 2002 / 465 / JI), vgl. Erwägungsgrund 8, Art. 3 RL EEA. Erfasst sind jedoch gruppenunterstützende Ermittlungsmaßnahmen nichtteilnehmender Staaten nach Art. 13 Abs. 8 EU-RhÜbk und Art. 1 Abs. 8 RB 2002 / 465 / JI, vgl. Art. 3 aE RL EEA.
3. Kap.: Die Europäische Ermittlungsanordnung135
Die Exklusion der gemeinsamen Ermittlungsgruppe (joint investigation teams – JIT) ist das Ergebnis einer im Vorfeld der Initiative geäußerten Kritik. Innerhalb einer JIT gäbe es keinen Bedarf für eine EEA. Beweismittel würden zwischen den Gruppenteilnehmern aufgrund entsprechender Vereinbarungen bereits relativ formlos zirkulieren.465 Grenzüberschreitende Observationen nach Art. 40 SDÜ sind ebenso aus dem Anwendungsbereich der Richtlinie ausgenommen, Erwägungsgrund 9 RL EEA. Kritik richtete sich auch gegen die Aufnahme von Ermittlungsmaßnahmen zur Überwachung von Bankgeschäften und des Telekommunikationsverkehrs, vgl. Art. 28 Abs. 1 lit. a, Art. 30, Art. 31 RL EEA. Zum einen seien diese Maßnahmen bereits im traditionellen Rechtshilferecht (zu extensiv) geregelt. Eine weitere rechtliche Ausweitung gefährde das Gleichgewicht zwischen Betroffenen und Strafverfolgung. Zum anderen würde die sehr detailliert geregelte Materie die Richtlinie insgesamt destabilisieren und zu dogmatischen Brüchen mit dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung führen.466 Dieser Kritik teilweise folgend, beschränkte der Initiativentwurf zur RL EEA den Anwendungsbereich der Richtlinie auf Ermittlungsmaßnahmen, welche nicht der Überwachung der Telekommunikation dienten, vgl. Erwägungsgrund 8, Art. 3 Abs. 2 lit. b, c Initiativentwurf RL EEA. Inzwischen ist diese Beschränkung wieder aufgehoben worden. Dies entspricht auch dem Ziel und Zweck der Richtlinie, bereits bestehende Ermittlungsmaßnahmen zusammenzuführen. Da die Regelungen zur Überwachung von Bankgeschäften in Art. 28 RL EEA und Art. 3 ZP EU-RhÜbk größtenteils miteinander inhaltlich identisch sind, wird den Justizbehörden kein größerer Handlungsspielraum eingeräumt. Die Benutzerfreundlichkeit und Rechtsklarheit der Richtlinie rechtfertigt die Aufnahme von – teilweise sehr detaillierten – Einzelregelungen.467 Die Richtlinie soll nur Maßnahmen zur Beweiserhebung erfassen. Dies gilt auch für vorläufige Maßnahmen, Art. 32 RL EEA. Die Abgrenzung zwischen einer vorläufigen Maßnahme zur Beweissicherung und einer solchen zur Einziehung lässt sich häufig nur im Einzelfall vornehmen. Die beteiligten Behörden sollen dies berücksichtigen und im Hinblick auf die verschiedenen zu Verfügung stehenden Rechtsinstrumente einen reibungslo465 Königreich Belgien, Stellungnahme zum Grünbuch, 3; Französische Republik, Stellungnahme zum Grünbuch, 3; Tschechische Republik, Stellungnahme zum Grünbuch, 4. 466 Luxemburger Bankenvereinigung (ABBL), Stellungnahme zum Grünbuch, 2, die ABBL verweist auf das ZP EU-RhÜbk vom 16.10.2001; Französische Republik, Stellungnahme zum Grünbuch, 3; Königreich Belgien, Stellungnahme zum Grünbuch, 3. 467 Republik Bulgarien, Stellungnahme zum Grünbuch, 1; Vermerk des Vorsitzes des Rates vom 19.4.2011, Ratsdok. 8474 / 11 COPEN 67, 19 Fn. 15.
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2. Teil: Darstellung
sen Ausgleich suchen. Die Richtlinie stellt jedoch klar, dass die Bewertung, ob der Gegenstand als Beweismittel zu verwenden ist und daher einer EEA unterliegen sollte, Sache der Anordnungsbehörde ist, Erwägungsgrund 34 RL EEA. IV. Schlussbestimmungen Am Ende enthält die RL EEA einige Schlussbestimmungen: Die Mitgliedstaaten treffen gemäß Art. 33 Abs. 1 lit. a–c RL EEA umfangreiche – bis zum 22. Mai 2017 befristete – Informationsverpflichtungen gegenüber der Kommission. Hierzu gehören eine Mitteilung über alle in Frage kommenden Behörden, die als Anordnungs- oder Vollstreckungsbehörde handeln können (lit. a), über alle zulässigen Sprachen für die Übermittlung einer EEA (lit. b) und über alle gegebenenfalls eingesetzten Zentralbehörden (lit. c S. 1). Die Behörden des Anordnungsstaats sind durch diese Angaben über die zentralen Behörden an die bezeichneten Adressaten gebunden (lit. c S. 2). Ferner kann jeder Mitgliedstaat der Kommission die Liste der notwendigen Schriftstücke übermitteln, die er im Rahmen des Art. 22 Abs. 4 RL EEA zur zeitweiligen Überstellung inhaftierter Personen verlangen würde, Art. 33 Abs. 2 RL EEA. Gemäß Art. 33 Abs. 3 RL EEA unterrichten die Mitgliedstaaten die Kommission über spätere Änderungen der Angaben gemäß Absätze 1 und 2. Alle Angaben werden von der Kommission für alle Mitgliedstaaten zugänglich gemacht. Die Dokumentation findet sich dabei auf einer Website des EJN, Art. 33 Abs. 4 RL EEA. Übergangsbestimmungen regeln den Anwendungsbereich für bereits eingegangene Rechtshilfeersuchen und Entscheidungen nach dem RB-Sicherstellung. Hier gelten für vor dem 22. Mai 2017 eingegangene Rechtshilfeersuchen weiterhin die bestehenden Rechtsinstrumente, Art. 35 Abs. 1 RL EEA. Gemäß Art. 35 Art. 2 RL EEA wird die EEA aufgrund einer Entscheidung nach dem RB-Sicherstellung analog zu Art. 8 Abs. 1 RL EEA ergänzend erlassen. Gemäß Art. 38 RL EEA tritt die Richtlinie am zwanzigsten Tag nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der EU in Kraft.468 Sie ist gemäß den Verträgen an die Mitgliedstaaten gerichtet, Art. 39 RL EEA. Außer Irland und Dänemark beteiligen sich alle Mitgliedstaaten an dieser Richtlinie, Erwägungsgründe 43–45 RL EEA. 468 RL
EEA vom 3.4.2014, Abl. 2014 L 130 / 1, veröffentlicht am 1. Mai 2014.
3. Kap.: Die Europäische Ermittlungsanordnung137
Für die Richtlinie gilt eine bis zum 22. Mai 2017 befristete Umsetzungsverpflichtung der Mitgliedstaaten, Art. 36 Abs. 1 RL EEA. Bei der Umsetzung muss zumindest im Rahmen der amtlichen Veröffentlichung auf die Richtlinie verwiesen werden, Art. 36 Abs. 2 RL EEA. Jedes Umsetzungsgesetz muss der Kommission vom jeweiligen Mitgliedstaat im Wortlaut bis zum 22. Mai 2017 mitgeteilt werden, Art. 36 Abs. 3 RL EEA, vgl. auch Erwägungsgrund 37 RL EEA. Schließlich soll die Kommission innerhalb von fünf Jahren nach dem 21. Mai 2014 die Richtlinienanwendung evaluieren und dies dokumentieren, Art. 37 RL EEA.
C. Anordnungsverfahren I. Zuständigkeiten und Anwendungsbereich 1. Rechtsgrundlagen Im Anordnungsverfahren erlässt und übermittelt die Anordnungsbehörde eine EEA an die Vollstreckungsbehörde. Handelt es sich bei der Anordnungsbehörde um eine Behörde im Sinne des Art. 2 lit. c Ziff. ii S. 1 RL EEA, muss die EEA vor ihrer Übermittlung an die Vollstreckungsbehörde von einem Richter, einem Gericht, einem Ermittlungsrichter oder einem Staatsanwalt im Anordnungsstaat validiert werden, nachdem dieser bzw. dieses überprüft hat, ob die Voraussetzungen für den Erlass einer EEA nach dieser Richtlinie, insbesondere die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1, eingehalten sind, Art. 2 lit. c Ziff. ii S. 2 RL EEA.469 Den sachlichen Anwendungsbereich der EEA regelt Art. 4 RL EEA.470 Danach kann eine EEA erlassen werden in Bezug auf Strafverfahren, die eine Justizbehörde wegen einer nach dem nationalen Recht des Anordnungsstaats strafbaren Handlung eingeleitet hat oder mit denen sie befasst werden kann (lit. a); bei Verfahren, die Verwaltungsbehörden wegen Handlungen eingeleitet haben, die nach dem nationalen Recht des Anordnungsstaats als Zuwiderhandlungen gegen Rechtsvorschriften geahndet werden, sofern gegen die Entscheidung ein auch in Strafsachen zuständiges Gericht angerufen werden kann (lit. b); bei Verfahren, die Justizbehörden wegen Handlungen eingeleitet haben, die nach dem nationalen Recht des Anordnungsstaats als Zuwiderhandlungen gegen Rechtsvorschriften geahndet 469 Im Richtlinienentwurf findet sich diese Regelung in Art. 5a Abs. 3 RL EEA (2011). Die neue Ausgestaltung trägt zu mehr Übersichtlichkeit bei. 470 Diese Regelung entspricht Art. 5 RB EBA.
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2. Teil: Darstellung
werden, sofern gegen die Entscheidung ein auch in Strafsachen zuständiges Gericht angerufen werden kann und (lit. c) im Zusammenhang mit Verfahren gemäß den Buchstaben a, b und c, die sich auf Straftaten oder Zuwiderhandlungen beziehen, für die im Anordnungsstaat eine juristische Person zur Verantwortung gezogen oder bestraft werden kann (lit. d). 2. Gerichtliche vs. justizielle Entscheidung a) Gerichtliche Entscheidung aa) Vorgaben des EU-Rechts Nach einer Ansicht muss eine EEA stets von einem Gericht erlassen werden.471 Dies ergebe sich zunächst aus dem ausdrücklichen Wortlaut des Primär- und Sekundärrechts der EU. Im Lissabonner Vertrag ebenso wie in der Richtlinie sei nur von gerichtlichen Entscheidungen die Rede, vgl. Art. 82 Abs. 1 UAbs. 2 lit. a AEUV, Art. 1 Abs. 1 S. 1 RL EEA.472 Demgemäß sei etwa eine Entscheidung der Staatsanwaltschaft ohne richterliche Beteiligung unwirksam.473 So gesehen, sei die weite Ausdehnung der Anordnungszuständigkeit in Art. 2 lit. c RL EEA auch auf Behörden unzulässig. bb) Ausschluss der polizeilichen Zusammenarbeit Des Weiteren soll nach jener Auffassung die Richtlinie nur die justizielle Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten regeln. Insofern habe die Einbeziehung von Verwaltungsverfahren in Art. 4 lit. a, lit. b RL EEA diesen Anwendungsbereich jedoch unzulässig erweitert.474 Von der Definition in Art. 2 lit. c Ziff. ii S. 1 RL EEA seien auch Polizeibehörden umfasst, da in einigen Mitgliedstaaten das Ermittlungsverfahren maßgeblich von diesen bestimmt werde.475 Mit der Einbeziehung von Verwaltungsverfahren werde so auch ein präventiver Bereich geregelt, was zu erheblichen Abgrenzungsproblemen führe. Für polizeiliche Belange sei ausschließlich das Kapitel V 471 Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK), Stellungnahme zum Grünbuch, 4; European Criminal Bar Association (ECBA), Stellungnahme zum Grünbuch, 4. 472 Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK), Stellungnahme zum Grünbuch, 13; Ambos, ZIS 2010, 557, 565; Esser, in: Heinrich / Jäger / Achenbach / Amelung / Bottke / Haffke / Schünemann / Wolter (Hg.), FS-Roxin, 1497, 1512. 473 Esser, in: Heinrich / Jäger / Achenbach / Amelung / Bottke / Haffke / Schünemann / Wolter (Hg.), FS-Roxin, 1497, 1512. 474 Zimmermann / Glaser / Motz, EuCLR 2011, 56, 70. 475 Rackow, in: Ambos (Hg.), Europäisches Strafrecht post-Lissabon, 117, 126.
3. Kap.: Die Europäische Ermittlungsanordnung139
Polizeiliche Zusammenarbeit (Art. 87 ff. AEUV) vorgesehen. Dieses gehe im Wege der Spezialität dem Kapitel IV Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (Art. 82 ff. AEUV) vor. Es fehle daher bereits die kompetenzrechtliche Grundlage für einen Rechtsakt der EU, welcher zugleich beide Bereiche der Zusammenarbeit betreffe. Art. 82 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV sei zumindest keine taugliche Ermächtigungsgrundlage.476 cc) Umgehung des Richtervorbehalts Schließlich laufe die Anerkennung und Vollstreckung einer behördlichen justiziellen Entscheidung den bestehenden nationalen Regelungen zum Richtervorbehalt zuwider. Dies könne sowohl das Anordnungs- als auch das Vollstreckungsverfahren betreffen. In einer Mehrzahl der Staaten bedürften bestimmte polizeiliche Eingriffsmaßnahmen einer richterlichen oder zumindest staatsanwaltlichen Autorisierung. Diese werde umgangen, wenn Polizeibehörden einander transnational Anweisung zur Ermittlung geben könnten.477 Auch die richtlinienkonforme Anerkennung und Vollstreckung einer ausländischen behördlichen justiziellen Entscheidung durch ein deutsches Gericht verstoße gegen den deutschen Richtervorbehalt, vgl. Art. 13 GG i. V. m. § 105 StPO.478 Das Anordnungsverfahren sehe zwar für behördliche Entscheidungen nach Art. 2 lit. c Ziff. ii S. 1 RL EEA im Anordnungsstaat eine Validierung durch einen Richter oder Staatsanwalt vor. Doch füge sich zum einen die Bestätigung eines Staatsanwalts innerhalb der deutschen Kontrollhierarchie zwischen Richter und Staatsanwalt qualitativ nicht genügend ein.479 Zum anderen sei zu besorgen, dass sich die Validierung in einem formellen Verfahren als bloße Gegenzeichnung er476 Rackow, in: Ambos (Hg.), Europäisches Strafrecht post-Lissabon, 117, 127; Rackow / Birr, GoJIL 2010, 1087, 1112 f. 477 Rackow, in: Ambos (Hg.), Europäisches Strafrecht post-Lissabon, 117, 127 f. 478 Esser, in: Heinrich / Jäger / Achenbach / Amelung / Bottke / Haffke / Schünemann / Wolter (Hg.), FS-Roxin, 1497, 1501 f.; Gazeas, ZRP 2005, 18, 21; Ahlbrecht, NStZ 2006, 70, 72, 74; Stefanopoulou, JR 2011, 54, 56; Ambos, Internationales Strafrecht, 541; Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 94 f.; Ditscher, Europäische Beweise, 155; ähnlich auch Roger, GA 2010, 27, 34; Leutheusser-Schnarrenberger, StraFo 2007, 267, 271; Swoboda, HRRS 2014, 10, 19. 479 Esser, in: Heinrich / Jäger / Achenbach / Amelung / Bottke / Haffke / Schünemann / Wolter (Hg.), FS-Roxin, 1497, 1503; Heydenreich, StraFo 2012, 439, 443; Ahlbrecht, StV 2013, 114, 116; Böse, ZIS 2014, 152, 158, nach Böse ist die im Anordnungsstaat vorgenommene Validierung der Ermittlungsanordnung kein gleichwertiger Ersatz für einen Richtervorbehalt, da sie auch von einem Staatsanwalt ausgestellt werden kann und somit nicht in gleicher Weise eine unabhängige Prüfung garantiert, dass der für die Anordnung der Maßnahme erforderliche Verdacht einer Straftat gegeben ist.
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2. Teil: Darstellung
schöpfen werde.480 Selbst die Anerkennung einer ausländischen gericht lichen Entscheidung durch ein deutsches Gericht verstoße gegen den deutschen Richtervorbehalt. Anders als der deutsche Richter sei sein ausländischer Kollege in seiner Entscheidung nicht an die gleichen strikten Vor gaben durch das Grundgesetz und die Entscheidungen des BVerfG gebunden.481 Im Vollstreckungsstaat müsse sich der Richter bei einer EEA jedoch mit einer summarischen Darstellung des Sachverhalts begnügen; ein Formblatt im grenzüberschreitenden Verfahren ersetze eine vollständige Akte im nationalen Verfahren. Eine eigenverantwortliche Prüfung des erforderlichen Tatverdachts482 im Ausland sei dem deutschen Richter verwehrt; faktisch könne er die Vorgaben des BVerfG zum Richtervorbehalt nicht einhalten.483 b) Justizielle Entscheidung Nach anderer Ansicht handelt es sich bei einer EEA um eine nicht bloß gerichtliche, sondern um eine justizielle Entscheidung.484 Zwar spreche der deutsche Wortlaut des Art. 82 Abs. 1 UAbs. 2 lit. a AEUV dagegen, dass davon auch behördliche Entscheidungen erfasst sein können, da eine gerichtliche Entscheidung im Gegensatz zu einer justiziellen Entscheidung nur 480 Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 141 f., Mavany vermisst hier zudem eine neutrale, unabhängige Kontrolle; Heydenreich, StraFo 2012, 439, 443; Heard und Mansell befürchten hier eine „rubber-stamping“ exercise, Heard / Mansell, NJECL 2011, 353, 357. 481 Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 141 f. 482 BVerfG BVerfGK 1, 126; NVwZ 2007, 1049. 483 Esser, in: Heinrich / Jäger / Achenbach / Amelung / Bottke / Haffke / Schünemann / Wolter (Hg.), FS-Roxin, 1497, 1501 f.; Heydenreich bezeichnet die Rolle des Richters des Vollstreckungsstaats daher auch als „Grüß-Gott-August“, Heydenreich, StraFo 2012, 439, 443; Stefanopoulou, JR 2011, 54, 56; Roger, GA 2010, 27, 34; kritisch auch Dicker, KritV 2012, 417, 428 f.; vgl. zum EHB: Burchard, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 537, 552 ff.; Böse, ZIS 2014, 152, 157 f., nach Böse kann der für die Anordnung der jeweiligen Maßnahme erforderliche Verdachtsgrad zwischen Anordnungs- und Vollstreckungsstaat erheblich voneinander abweichen. Zudem bestehe keine vergleichbare Konvergenz der nationalen Strafprozessordnungen bei den Ermittlungsmaßnahmen, die einen Richtervorbehalt voraussetzen. Dies könne im Vollstreckungsstaat zu einer Verkürzung des präventiven Rechtsschutzes führen, wenn und soweit dem Richter dort die Prüfung des Tatverdachts entzogen wird. 484 Herrnfeld, in: Schwarze / Becker / Bär-Bouyssière (Hg.), EU-Kommentar, Art. 67 AEUV, Rn. 17; Böse, in: Schwarze / Becker / Bär-Bouyssière (Hg.), EU-Kommentar, Art. 82 AEUV, Rn. 24; Böse, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 149, 168; Vogel, in: Hilf / Nettesheim (Hg.), EUV, AEUV-Kommentar, Art. 82 AEUV, Rn. 41; Suominen, Mutual recognition, 21 f.; Zimmermann / Glaser / Motz, EuCLR 2011, 56, 74; Schneiderhan, DRiZ 2012, 294, 297; Schneiderhan, DRiZ 2014, 176, 177.
3. Kap.: Die Europäische Ermittlungsanordnung141
von Richtern erlassen werden kann. Unstreitig erfasst wären alle Urteile und Entscheidungen von in Strafsachen zuständigen Gerichten.485 Der deutsche Wortlaut sei jedoch im Zweifel nicht maßgeblich, da er nur eine der vielen Amtssprachen der EU widerspiegle. Vielmehr gehe es nach dem Sinn und Zweck der Regelung um die Verbesserung der justiziellen Zusammenarbeit. Hierzu würden in Ermittlungsverfahren gerade auch die justiziellen Entscheidungen der Staatsanwaltschaften gehören, wie schon in der traditionellen Beweisrechtshilfe. Solange es im ausländischen Strafverfahren einen wenigstens nachträglichen gerichtlichen Rechtsschutz gegen eine Ermittlungsmaßnahme gebe, sei ein Richtervorbehalt entbehrlich. Eine behördliche Entscheidung müsse jedoch immer auf einer in der Sache unabhängigen, unparteiischen Sachprüfung beruhen.486 c) Eigene Stellungnahme aa) Qualität der Entscheidung Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung führt zu einer Gleichstellung aus- und inländischer Entscheidungen, allerdings nur in einem engen Rahmen. In Betracht kommen hier insbesondere solche, welche von den Gerichten im Strafverfahren getroffen werden. Aufgrund der hohen Fachkompetenz der Entscheidungsträger kommt diesen eine besondere rechtsstaatliche Qualität zu. Im Auslieferungsrecht etwa, in dem es um die Einschränkung persönlicher Freiheitsrechte geht, ist die gerichtliche Entscheidung der Regelfall. An den nationalen Strafverfahren der Mitgliedstaaten sind jedoch nicht nur Gerichte, sondern auch Behörden beteiligt, namentlich die Staatsanwaltschaft und deren Ermittlungsbeamte. Auch die Staatsanwaltschaft ist dem Bereich der Justiz zugeordnet; sie ist daher eine Justizbehörde. Ihr Handeln ist in der Regel auf den Erlass sogenannter justizieller Entscheidungen ausgerichtet. In Deutschland führt die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen, sie ist „Herrin des Vorverfahrens“. Die RL EEA soll die justizielle Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten im Bereich der Ermittlungsmaßnahmen gestalten, dennoch ist in der deutschen Fassung nur von der Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen die Rede. Die Regelung ist daher auslegungsbedürftig. Zunächst handelt es sich bei der RL EEA um Sekundärrecht der EU. Als solches unterliegt es den allge485 Vogel, in: Hilf / Nettesheim (Hg.), EUV, AEUV-Kommentar, Art. 82 AEUV, Rn. 40. 486 Vogel, in: Hilf / Nettesheim (Hg.), EUV, AEUV-Kommentar, Art. 82 AEUV, Rn. 41.
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2. Teil: Darstellung
meinen europarechtlichen Auslegungsmethoden, welche vom EuGH als ermächtigtem EU-Organ entwickelt wurden. Nicht allein der deutsche Wortlaut der RL EEA spricht von einer gerichtlichen Entscheidung. Ebenso ist in der deutschen Fassung des Art. 82 AEUV von gerichtlichen Urteilen und Entscheidungen die Rede. Auch hier wird nach der herrschenden Meinung der Begriff gerichtlich nicht nur auf den Begriff Urteile, sondern auch auf den Begriff Entscheidungen bezogen. Der von der RL EEA zu ersetzende RB EBA sprach hingegen selbst auf Deutsch noch von einer justiziellen Entscheidung, Art. 1 Abs. 1 RB EBA. Ebenso wird die traditionelle Rechtshilfe geprägt von justiziellen Ersuchen oder solchen anderer Stellen, die nach dem jeweiligen nationalen Recht des ersuchenden Staates justiziellen Ersuchen gleichgestellt sind.487 Sowohl im Sekundär- als auch im Primärrecht ist indes für die Auslegung des konkreten Rechtsaktes die jeweils herrschende Landessprache nicht ausschlaggebend. So ist zwar auch der deutsche Wortlaut im deutschsprachigen Raum ein gewichtiges Indiz für die Auslegung eines europäischen Rechtsakts. Jedoch haben alle Fassungen in den offiziellen 23 Arbeitssprachen der EU grundsätzlich den gleichen Rang und sind somit der deutschen Fassung ebenbürtig. Bei begrifflichen Abweichungen zwischen den verschiedenen Versionen reicht für eine inhaltliche Auseinandersetzung schon eine repräsentative Anzahl von Divergenzen aus. Dafür wäre gegebenenfalls eine Mehrzahl von Übereinstimmungen gegenüber der Minderheit auch nur einer Version nicht entscheidend.488 Setzt man sich mit den Abweichungen inhaltlich auseinander, so verwenden die verschiedenen Sprachfassungen sowohl des entsprechenden Primär- als auch des Sekundärrechts hier zum einen Termini, die dem Begriff der justiziellen Entscheidung entsprechen bzw. neben der Bedeutung gerichtliche Entscheidung zumindest auch für den Begriff justizielle Entscheidung synonym verwendet werden. Hierzu gehören judicial decision (englisch),489 décision judiciaire (französisch), decisione giudiziaria (italienisch), deċiżjoni ġudizzjarja (maltesisch), decisão judicial (portugiesisch), decizie judiciară (rumänisch), justičné rozhod nutie (slowakisch), resolución judicial (spanisch), rozhodnutí justičního 487 Vogel, in: Hilf / Nettesheim (Hg.), EUV, AEUV-Kommentar, Art. 82 AEUV, Rn. 41; Herrnfeld, in: Schwarze / Becker / Bär-Bouyssière (Hg.), EU-Kommentar, Art. 67 AEUV, Rn. 17; Krüßmann, StraFo 2008, 458, 459; Hert / Weis / Cloosen, NJECL 2009, 55, 62. 488 Herrmann, in: Streinz / Kruis / Michl (Hg.), EUV / AEUV-Kommentar, Art. 342 AEUV, Rn. 35; vgl. Art. 4 Verordnung Nr. 1 zur Regelung der Sprachenfrage für die EWG; Streinz, Europarecht, 99 f. 489 UK Supreme Court, Urt. v. 30.5.2012, Assange . / . The Swedish Prosecution Authority, [2012] UKSC 22; nach Souminen werden auch justizielle Entscheidungen erfasst, zur Klarstellung hätte der Begriff judgement verwendet werden müssen, Suominen, Mutual recognition, 21 f.
3. Kap.: Die Europäische Ermittlungsanordnung143
(tschechisch). Zum anderen stützen andere fremdsprachige Fassungen die deutsche Sprachregelung und verwenden ihrerseits Begriffe, die der gerichtlichen Entscheidung entsprechen. Hierzu gehören rechterlijke beslissing (niederländisch) und sodna odločba (slowenisch). Da somit kein sicheres Ergebnis durch eine wörtliche Auslegung erzielt werden kann, muss auf weitere Auslegungsmethoden zurückgegriffen werden.490 In Betracht kommen hier vor allem die systematische und die teleologische Auslegung. Die RL EEA soll die traditionelle Beweisrechtshilfe durch die Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung ersetzen. Voraussetzung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung ist ein hohes Maß an Vertrauen der Mitgliedstaaten in die Rechtsstaatlichkeit der Strafverfahren anderer Mitgliedstaaten. Eine gerichtliche Entscheidung verspricht eine besonders hohe Güte, da in allen Mitgliedstaaten nur besonders qualifizierte Juristen Richter werden können und diese ihre Entscheidungen aufgrund der Gewaltenteilung unabhängig und unparteiisch zu treffen haben.491 Doch auch das Handeln der Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden ist rechtsstaatlich gebunden. Ermittlungsbehörden verfügen ebenfalls über gut qualifizierte Beamte, welche ihre Entscheidungen im Vorverfahren durch besondere Sachnähe gleichfalls nach rechtsstaatlichen Maßstäben zu treffen haben. Das Vertrauensprinzip der gegenseitigen Anerkennung gilt darüber hinaus uneingeschränkt für das gesamte Strafverfahren eines anderen Mitgliedstaats, nicht bloß für einzelne Abschnitte. So muss bereits justiziellen Entscheidungen eines anderen Mitgliedstaats ein entsprechendes Vertrauen entgegengebracht werden.492 Im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit ist letztlich auch die Anerkennung justizieller Entscheidungen gewollt.493 So werden auch im Verwaltungsrecht ausländische behördliche Entscheidungen anerkannt. Für die Anerkennung aller justizieller Entscheidungen spricht letztendlich die Systematik der RL EEA. So soll eine EEA auch von Justizbehörden 490 Herrmann, in: Streinz / Kruis / Michl (Hg.), EUV / AEUV-Kommentar, Art. 342 AEUV, Rn. 35; Böse, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 149, 168. 491 Vogel, in: Hilf / Nettesheim (Hg.), EUV, AEUV-Kommentar, Art. 82 AEUV, Rn. 39. 492 Ähnlich Vogel, in: Hilf / Nettesheim (Hg.), EUV, AEUV-Kommentar, Art. 82 AEUV, Rn. 41, vgl. auch Erwägungsgrund 8 RB EBA: Dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung liegt ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten zugrunde. Um dieses Vertrauen zu fördern, sollte dieser Rahmenbeschluss wichtige Garantien zum Schutz der Grundrechte enthalten. Die Europäische Beweisanordnung sollte daher nur durch Richter, Gerichte, Ermittlungsrichter, Staatsanwälte und bestimmte andere von den Mitgliedstaaten nach diesem Rahmenbeschluss bezeichnete Justizbehörden erlassen werden. 493 Vogel, in: Hilf / Nettesheim (Hg.), EUV, AEUV-Kommentar, Art. 82 AEUV, Rn. 41.
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2. Teil: Darstellung
angeordnet werden können, Art. 2 lit. c RL EEA. Die besondere Qualität auch staatsanwaltlicher Entscheidungen ergibt sich zudem aus der Validierungsbefugnis von Gerichten und von Staatsanwaltschaften gleichermaßen, Art. 2 lit. c Ziff. ii S. 2 RL EEA.494 bb) Polizeiliche Entscheidungen Die Einbeziehung polizeilicher Entscheidungen in den Anwendungsbereich der RL EEA rechtfertigt sich mit einem Blick auf den Aufbau der Justizsysteme in den Mitgliedstaaten. In den meisten davon obliegt die Strafverfolgung der Staatsanwaltschaft. In einzelnen Staaten wird diese Aufgabe jedoch von der Polizei wahrgenommen, vgl. etwa Skandinavien. Insoweit ist sie hier auch einer Justizbehörde gleichzustellen. Bereits im Rahmen der traditionellen Rechtshilfe können die Staaten selbst bestimmen, welche Behörden sie nach außen mit ihrer Strafverfolgung betrauen wollen, vgl. Art. 24 EU-RhÜbk. Die gegenwärtige justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen erfasst so auch behördliche Entscheidungen. Die RL EEA bezweckt nicht, diese Behördenstruktur zu harmonisieren. Ausgeschlossen werden sollten daher nur Gefahrenabwehrmaßnahmen der Polizeibehörden. Auch im deutschen Ordnungswidrigkeitenrecht sind die Aufgaben der Bußgeldstelle und der Strafjustiz eng miteinander verzahnt. Teilweise wird der Bereich solcher Zuwiderhandlungen bereits von der traditionellen Rechtshilfe erfasst, vgl. z. B. Art. 3 Abs. 1 EU-RhÜbk.495 Daher besteht kein Anlass, Verwaltungsentscheidungen über Ordnungswidrigkeiten aus dem Anwendungsbereich der RL EEA grundsätzlich auszunehmen. Bei der Anerkennung polizeilicher Entscheidungen im Strafverfahren bestanden bereits bei den Verhandlungen über den RB EBA Unstimmigkeiten zwischen den Delegationen. Als Kompromiss wurde in Art. 11 Abs. 5 RB EBA ein Validierungsvorbehalt u. a. für polizeiliche Entscheidungen vorgesehen. Entsprechende Erklärungen wurden von Frankreich und Österreich beim Generalsekretariat des Rates abgegeben.496 Mit Art. 11 Abs. 4 RB EBA wurde zudem ein fakultativer Versagungsgrund für durch Verwal494 Bemerkenswert ist, dass die EU selbst die Missverständlichkeit ihrer Begriffswahl erkannt zu haben scheint: Erwägungsgrund 2 RL 2013 / 48 / EU, Abl. 2013 L 294 / 1 spricht mittlerweile vom Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung von Urteilen und anderen Entscheidungen von Justizbehörden (judgements and other decisions of judicial authorities). 495 Kritisch hingegegen Stefanopoulou, JR 2011, 54, 55. 496 Vermerk des Generalsekretariats des Rates vom 18.12.2008, Ratsdok. 15414 / 1 / 08 REV 1 ADD 1 COPEN 220; Vermerk des Generalsekretariats des Rates vom 18.11.2008, Ratsdok. 15414 / 1 / 08 REV 1 COPEN 220; Hert / Weis / Cloosen, NJECL 2009, 55, 63; Stefanopoulou, JR 2011, 54, 56 f.
3. Kap.: Die Europäische Ermittlungsanordnung145
tungsbehörden angeordnete Durchsuchungen und Beschlagnahmen vorgesehen.497 An diesen Regelungen orientiert sich nun auch die generelle Validierungspflicht des Anordnungsstaats für behördliche Entscheidungen nach Art. 2 lit. c Ziff. ii S. 2 RL EEA.498 cc) Richtervorbehalt Soweit einige Autoren unter Berufung auf das BVerfG499 eine eigenverantwortliche Prüfung des erforderlichen Tatverdachts durch einen Richter im ersuchten Staat auch im Rechtshilfeverkehr fordern, sei auf die Ausführungen zum Rechtsschutz gegen Rechtshilfehandlungen verwiesen. Als vorherige Gestattung einer behördlichen Eingriffsmaßnahme darf der Richtervorbehalt jedoch nicht anders behandelt werden als die nachträgliche Kontrolle derselben. Seine Reichweite kann daher nicht weiter gehen als diejenige des entsprechenden nachträglichen Rechtsschutzes. Im internationalen Rechtsverkehr gilt jedoch – wie bereits ausgeführt – ein anderer Maßstab als im innerstaatlichen Verfahren. Somit ist auch eine wiederholte Tatverdachtsprüfung im ersuchten Staat grundsätzlich entbehrlich.500 Die Validierung darf sich nicht auf eine bloße Gegenzeichnung beschränken. Stattdessen muss der Richter, das Gericht oder der Staatsanwalt für die konkrete behördliche Entscheidung gemäß Art. 2 lit. c Ziff. ii S. 2 RL EEA überprüfen, ob die Voraussetzungen für den Erlass einer EEA nach dieser Richtlinie, insbesondere die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 RL EEA, eingehalten sind. Auch der deutsche Richtervorbehalt hat sich in der Praxis bewährt und beschränkt sich nicht lediglich auf die Gegenzeichnung einer von der Staatsanwaltschaft vorbereiteten Entscheidung. Schwächen des Validierungsverfahrens werden sich so erst in der Praxis zeigen und werden dann dementsprechend behoben werden müssen.
497 Hert / Weis / Cloosen,
NJECL 2009, 55, 70. Validierungsvorbehalte finden sich auch in bilateralen Rechtshilfeverträgen, vgl. Art. 17 Abs. 2 Nr. 1 CZ-ErgV EuRhÜbk, Art. 16 Abs. 2 Nr. 1 Pl-ErgV EuRhÜbk; vgl. zum umstrittenen Wortlaut des § 66 Abs. 2 Nr. 2 IRG: Johnson, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, § 66 IRG, Rn. 34 f.; Gleß / Spencer, StV 2006, 269, 271 ff.; OLG Köln StV 2006, 229. 499 BVerfG BVerfGK 1, 126; NVwZ 2007, 1049. 500 BVerfG NStZ-RR 2002, 16, 17; BVerfGE 77, 1; BGH BGHSt 20, 170, 173; Böse, ZIS 2014, 152, 153. 498 Ähnliche
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2. Teil: Darstellung
II. Erlass der Anordnung 1. Form Für den Erlass einer EEA verwendet die Anordnungsbehörde ein der Richtlinie anhängendes Standardformular (Anhang A). Dieses Formular wird von ihr ausgefüllt und unterzeichnet, Art. 5 Abs. 1 UAbs. 1 HS. 1 RL EEA. Grundsätzlich muss die EEA in einer Amtssprache des Vollstreckungsstaats gefasst sein. Daneben können die Mitgliedstaaten festlegen, welche weiteren Amtssprachen der EU-Organe sie für die Anordnung einer EEA akzeptieren, Art. 5 Abs. 2 RL EEA. Das ausgefüllte Formblatt in Anhang A soll durch die zuständige Behörde des Anordnungsstaats in eine Amtssprache des Vollstreckungsstaats oder jede andere von diesem in Übereinstimmung mit Abs. 2 angegebene Sprache übersetzt werden, Art. 5 Abs. 3 RL EEA. Die Anordnungsbehörde muss zum einen die Genauigkeit und inhaltliche Richtigkeit der in der EEA enthaltenen Angaben bestätigen, Art. 5 Abs. 1 UAbs. 1 HS. 2 RL EEA.501 Zum anderen versichert sie, dass die EEA von einer zuständigen Behörde angeordnet wurde, Einleitung S. 1 Anhang A RL EEA. Eine EEA kann auch auf einer bereits bestehenden EEA aufbauen. Gegebenenfalls muss die Anordnungsbehörde dies im Formblatt in Anhang A entsprechend angeben, Art. 8 Abs. 1, Abschnitt D Anhang A RL EEA.502 Für eine ergänzende EEA gelten die gleichen Form- und Validierungsvorschriften wie für die ursprüngliche EEA, Art. 8 Abs. 3 RL EEA. Gemäß Art. 5 Abs. 1 UAbs. 2 lit. a–e RL EEA soll eine EEA insbesondere folgende Informationen beinhalten:503 Angaben zur Anordnungsbehörde und gegebenenfalls zur validierenden Behörde (lit. a), Gegenstand und Gründe der EEA (lit. b), die erforderlichen verfügbaren Angaben zu der / den betroffenen Person(en) (lit. c), eine Beschreibung der strafbaren Handlung, die Gegenstand der Ermittlungen oder des Verfahrens ist, sowie die anwendbaren Bestimmungen des Strafrechts des Anordnungsstaats (lit. d),504 eine Beschreibung der erbetenen Ermittlungsmaßnahme(n) und der zu erhebenden Beweismittel (lit. e).505 501 Diese
Regelung entspricht Art. 6 RB EBA. Regelung entspricht Art. 9 RB EBA. 503 Bis auf entsprechende Rubriken im Richtlinienanhang A enthielt der Vorentwurf der RL EEA noch keine konkreten Vorgaben über die Bestandteile der EEA. 504 Vgl. zur traditionellen Rechtshilfe: Art. 14 EuRhÜbk; Johnson, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, § 66 IRG, Rn. 31. 505 Vgl. zur ähnlichen Problematik beim RB EHB: Böse, in: Maiwald / Momsen / Bloy / Rackow (Hg.), FS-Maiwald, 233, 246. 502 Diese
3. Kap.: Die Europäische Ermittlungsanordnung147
Werden spezielle Eingriffsmaßnahmen gewünscht, so hat dies die Anordnungsbehörde besonders zu begründen, vgl. auch Abschnitt H Anhang A RL EEA. Im Fall der Telekommunikationsüberwachung macht sie in der EEA Angaben, die zum Zweck der Identifizierung der Zielperson der Überwachung erforderlich sind, zur gewünschten Dauer der Überwachung sowie ausreichende technische Daten, insbesondere der Zielkennung, Art. 30 Abs. 3 lit. a–c RL EEA. Zudem soll sie (wiederum) ausreichende Informationen übermitteln wie Angaben zu der strafbaren Handlung, die Gegenstand der Ermittlungen ist, Erwägungsgrund 32 RL EEA. Diese Regelungen sollen zum einen gewährleisten, dass die EEA vollstreckt werden kann, Art. 30 Abs. 3 aE RL EEA, zum anderen, dass die Vollstreckungsbehörde beurteilen kann, ob die Maßnahme in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall genehmigt würde, Erwägungsgrund 32 RL EEA. Im Fall der Informationsbeschaffung über Bank- und sonstige Finanzkonten teilt die Anordnungsbehörde in der EEA die verfügbaren Informationen mit, die die Vollstreckung der EEA erleichtern können, Art. 26 Abs. 5 S. 2 RL EEA. Bei einer vorläufigen Maßnahme gibt sie in der EEA den Zeitpunkt ihrer Aufhebung oder den voraussichtlichen Zeitpunkt der Vorlage des Ersuchens um Übermittlung der Beweismittel an den Anordnungsstaat an, wenn die Beweismittel im Vollstreckungsstaat verbleiben sollen, Art. 32 Abs. 4, Abschnitt H3 Anhang A RL EEA. Diese strenge Form der EEA soll zum einen der Vollstreckungsbehörde Klarheit verschaffen bei der Vollstreckung der EEA. Zum anderen wird so auch einer bloßen Ausforschung seitens der Anordnungsbehörde vorgebeugt. Sie muss sich (wenn auch kurz) über den Sachverhalt und die Verhältnismäßigkeit des Ersuchens erklären.506 2. Verfahren Will die Anordnungsbehörde eine EEA erlassen, so muss sie jedes Mal zunächst eine Vorprüfung durchführen, Art. 6 Abs. 2, Abs. 1 lit. a, b RL EEA: Es muss gewährleistet sein, dass der Erlass der EEA für die Zwecke der Verfahren nach Art. 4 RL EEA unter Berücksichtigung der Rechte der verdächtigen oder beschuldigten Person notwendig und verhältnismäßig ist (lit. a, vgl. auch Erwägungsgrund 11 RL EEA). Als weitere Bedingung für den Erlass einer EEA kommt es darauf an, ob die in der EEA genannte(n) 506 Im Vorfeld der Richtlinie wurde die Missbrauchsmöglichkeit einer EEA zum Abschöpfen von Erkenntnissen und zur Wirtschaftsspionage (fishing- bzw. discovery-Verfahren) befürchtet, Heydenreich, StraFo 2012, 439, 443 f.; Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK), Stellungnahme zum Grünbuch, 12; kritisch zur Ausforschung auch Schünemann, Schünemann, StraFo 2003, 344, 350.
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2. Teil: Darstellung
Ermittlungsmaßnahme(n) in einem vergleichbaren nationalen Fall unter denselben Bedingungen angeordnet werden können hätte(n) (lit. b). Dies versichert die Anordnungsbehörde zudem ausdrücklich im Formblatt der EEA, Einleitung S. 2 Anhang A RL EEA. Für die Informationserlangung über Bank- und sonstige Finanzgeschäfte, für Echtzeitermittlungen, verdeckte Ermittlungen und Telekommunikationsüberwachungen gibt die Anordnungsbehörde in der EEA zusätzlich zu den allgemeinen Angaben die Gründe dafür an, weshalb sie die erbetenen Auskünfte für das betreffende Strafverfahren für relevant erachtet, Art. 27 Abs. 4, Art. 28 Abs. 3, 29 Abs. 2 S. 1, 30 Abs. 4 RL EEA, vgl. Abschnitt H4 Abs. 2, Abschnitt H5, Abschnitt H6 Abs. 1, Abschnitt H7 Abs. 1 Anhang A RL EEA. Im Fall der Informationserlangung über Bank- und sonstige Finanzkonten gibt sie in der EEA die Gründe an, weshalb die erbetenen Auskünfte für das betreffende Strafverfahren wahrscheinlich von wesentlichem Wert sind und weshalb sie annimmt, dass die Konten von Banken im Vollstreckungsstaat geführt werden, und – soweit dies möglich ist – welche Banken möglicherweise betroffen sind, Art. 26 Abs. 5 S. 1 RL EEA. Mit Art. 6 Abs. 1 lit. a RL EEA wird der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als materielle Anordnungsvoraussetzung für eine EEA normiert. Im Initiativentwurf war er ursprünglich nicht vorgesehen, dafür jedoch in Art. 7 S. 1 lit. a RB EBA.507 Reagiert wurde damit auf die weitverbreitete Kritik an den Rechtsinstrumenten zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung bezüglich einer missbräuchlichen Verwendung in Bagatellfällen. Die Rückkopplung zum nationalen Recht des Anordnungstaats in Art. 6 Abs. 1 lit. b RL EEA soll hingegen forum shopping der Anordnungsbehörden verhindern.508 3. Verteidigungsrechte Auch eine verdächtige oder beschuldigte Person kann den Erlass einer EEA beantragen. Ein Rechtsanwalt kann sie dabei vertreten. Geltende Ver507 Dies entspricht auch der traditionellen Rechtshilfe, vgl. Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 106; Bachmaier Winter, in: Ruggeri (Hg.), Transnational inquiries, 85, 98 f., nach Bachmaier Winter ist dieser Hinweis unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR nur deklaratorisch; für die Schweiz vgl. Art. 30 Abs. 1 IRSG; vgl. auch Burchard, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 537, 553. 508 Heard / Mansell, NJECL 2011, 353, 357; Stefanopoulou, JR 2011, 54, 57; Hert / Weis / Cloosen, NJECL 2009, 55, 65; Krüßmann, Transnationales Strafprozessrecht, 606; Gaede, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 97, 122; Gleß, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 611, 622; Swoboda, HRRS 2014, 10, 17 f.; Mangiaracina, ULR 2014, 113, 126; Böse, ZIS 2014, 152, 153; vgl. 2. Teil 1. Kapitel E. II. 2. b) und 2. Teil 2. Kapitel E. II.
3. Kap.: Die Europäische Ermittlungsanordnung149
teidigungsrechte und nationales Strafverfahrensrecht können jedoch die Antragsbefugnis begrenzen, Art. 1 Abs. 3 RL EEA. Durch diese Regelung sollte der Kritik begegnet werden, dass dem Beschuldigten in vielen Mitgliedstaaten im grenzüberschreitenden Strafverfahren keine angemessenen Entlastungsmöglichkeiten zur Verfügung ständen. Ermittle der Staat nicht auf Antrag des Beschuldigten Entlastungsbeweise, könnten nur noch vermögende Beschuldigte diese privat im Ausland ermitteln.509 In Deutschland erlaubt bereits jetzt das Beweisantragsrecht des Angeklagten den Entlastungsbeweis im Ausland. Zu den in der Richtlinie erfassten zulässigen Beschränkungen der Antragsbefugnis aus nationalem Recht gehört in Deutschland die Beweisantizipation bei der Vernehmung von Auslandszeugen nach § 244 Abs. 5 S. 2 StPO. III. Übermittlung Sowohl die Übermittlung einer EEA als auch der sonstige Amtsverkehr im Rahmen des EEA-Verfahrens finden grundsätzlich unmittelbar zwischen der Anordnungs- und der Vollstreckungsbehörde statt, Art. 7 Abs. 1, 2 RL EEA.510 Anordnungsbehörde können auch die an der Validierung beteiligten Justizbehörden sein, Art. 2 lit. c Ziff. ii S. 3 RL EEA. Nicht nur die Vollstreckungsbehörden, sondern auch andere Behörden können zuständiger Empfänger einer EEA sein. Jeder Mitgliedstaat kann nach seinem Recht eine oder mehrere Zentralbehörden zur Unterstützung der zuständigen Behörden benennen und auch den amtlichen Verkehr über diese abwickeln, Art. 7 Abs. 3 RL EEA. Wirken Behörden des Anordnungsstaats gemäß Art. 9 Abs. 4 RL EEA an der Vollstreckung der EEA mit, kann eine Ergänzung der EEA auch ohne Beteiligung einer etwaigen Zentralbehörde unmittelbar der Vollstreckungsbehörde übermittelt werden, Art. 8 Abs. 2 RL EEA.511 Die Einrichtung von Zentralbehörden wird teilweise kritisiert. Die Drittbeteiligung führe zu einer bloßen Verfahrensverzögerung. Dolmetscher509 Heard / Mansell, NJECL 2011, 353, 366; Hert / Weis / Cloosen, NJECL 2009, 55, 75; Allegrezza, ZIS 2010, 569, 576 f.; Ambos, ZIS 2010, 557, 565; Ditscher, Europäische Beweise, 155; Esser, in: Heinrich / Jäger / Achenbach / Amelung / Bottke / Haffke / Schünemann / Wolter (Hg.), FS-Roxin, 1497, 1507; Ruggeri, in: Ruggeri (Hg.), Transnational inquiries, 279, 305; Krüßmann stellt dar, dass im common law die Verteidigung den Richter zur Inanspruchnahme von Rechtshilfe ersuchen kann, Krüßmann, Transnationales Strafprozessrecht, 141; Mangiaracina, ULR 2014, 113, 124, nach Mangiaracina wird so die equality of arms wieder hergestellt. 510 Vogel, in: Hilf / Nettesheim (Hg.), EUV, AEUV-Kommentar, Art. 82 AEUV, Rn. 31; Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 37; vgl. 2. Teil 1. Kapitel E. I. 3. 511 Diese Verfahrensweise entspricht den Regelungen der Art. 8 Abs. 2, Art. 9 Abs. 2 RB EBA.
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2. Teil: Darstellung
dienste könnten durchaus dezentral und nichtstaatlich organisiert werden; die Kosten blieben insoweit dieselben.512 Zwar ließe sich in einem föderalen Flächenstaat wie Deutschland mit unterschiedlichen justiziellen Subzentren über den Vorteil entsprechender Zentralbehörden auf Bundes- oder wenigstens Landesebene durchaus diskutieren. So würden ausländische Stellen, welche zumeist keine Detailkenntnis über den inländischen Behördenaufbau haben, einen klaren Ansprechpartner erhalten. Auch arbeiten andere Mitgliedstaaten seit Jahren erfolgreich mit derartigen Zentralbehörden, durch die sich Irrläufer effektiv vermeiden und die zügige Weiterleitung von Rechtshilfeersuchen gewährleisten lassen.513 Dem lässt sich für den Mitgliedstaat Deutschland jedoch entgegenhalten, dass mit dem BfJ und den Landesjustizverwaltungen längst deutsche Einrichtungen existieren, die bereits einzelne Koordinierungsaufgaben wahrnehmen, ohne dass es darüber hinaus noch einer grundlegenden Strukturreform bedürfte. Die Übermittlungsproblematik aufgrund fehlerhafter Adressierung wird auch in Art. 7 RL EEA aufgegriffen. Zur Lösung wurde ein breit gefächertes Verfahren normiert: Ist die Vollstreckungsbehörde nicht bekannt, so nimmt die Anordnungsbehörde alle erforderlichen Anfragen vor – auch über die Kontaktstellen des EJN –, um diese beim Vollstreckungsstaat in Erfahrung zu bringen, Art. 7 Abs. 5 RL EEA. Ist eine EEA dennoch einer nicht zuständigen Behörde im Vollstreckungsstaat zugegangen, muss diese die EEA an die zuständige Vollstreckungsbehörde weiterleiten und die Anordnungsbehörde entsprechend unterrichten, Art. 7 Abs. 6 RL EEA. Die Anordnungsbehörde hat ihre EEA der Vollstreckungsbehörde in einer für diese verifizierbaren Form zu übermitteln, Art. 7 Abs. 1 RL EEA. Kommt es bezüglich Art oder Form der Übermittlung, insbesondere der Echtheit der Vollstreckungsunterlagen, zu Irritationen, werden diese unmittelbar zwischen den betreffenden Anordnungs- und Vollstreckungsbehörden erörtert. Zentrale nationale Behörden können die beiden Behörden darin unterstützen, Art. 7 Abs. 7 RL EEA. Grundsätzlich kann die Anordnungsbehörde von jedem möglichen / einschlägigen Übermittlungsweg Gebrauch machen. Hervorgehoben werden das gesicherte Telekommunikationssystem des EJN und Eurojust, Erwägungsgrund 13 RL EEA. Die Übermittlung der EEA über das Telekommunikationssystem des EJN wird auch in Art. 7 Abs. 4 RL EEA erwähnt. Eine Pflicht, diesen Weg zu bevorzugen, besteht jedoch trotz Kritik am ungesicherten Poststandardversand einiger Mitgliedstaaten nicht.514 512 Mavany,
Die europäische Beweisanordnung, 112 f.; Roger, GA 2010, 27, 35. JR 2011, 54, 57. 514 Tschechische Republik, Stellungnahme zum Grünbuch, 7; Französische Republik, Stellungnahme zum Grünbuch, 3. 513 Stefanopoulou,
3. Kap.: Die Europäische Ermittlungsanordnung151
D. Vollstreckungsverfahren I. Rechtsanwendung 1. Vorbemerkungen Das Vollstreckungsverfahren orientiert sich grundsätzlich am nationalen Verfahrensrecht des Vollstreckungsstaats. Eine EEA ist dabei der Anordnung einer Ermittlungsmaßnahme einer nationalen Behörde gleichzustellen, Art. 9 Abs. 1 RL EEA. Sie muss ebenso wie eine solche von der Vollstreckungsbehörde vollstreckt werden. Bei diesem Verfahren ist zu beachten, dass es gegebenenfalls eine richterliche Genehmigung im Vollstreckungsstaat erfordert, sofern das nationale Recht dieses Staates dies vorsieht, Art. 2 lit. d S. 2 RL EEA. Zwar muss die Vollstreckungsbehörde bei der Vollstreckung einer EEA die Form und das Verfahren einhalten, welche von der Anordnungsbehörde ausdrücklich angegeben wurden, Art. 9 Abs. 2 RL EEA, doch bleibt auch hier das innerstaatliche Recht des Vollstreckungsstaats für die Vollstreckung der EEA letztlich maßgebend.515 So braucht die Vollstreckungsbehörde die EEA nach Art. 10 Abs. 1 lit. a, b RL EEA nicht zu vollstrecken, wenn die in der EEA angegebene Ermittlungsmaßnahme nach dem Recht des Vollstreckungsstaats nicht besteht (lit. a)516 oder die in der EEA angegebene Ermittlungsmaßnahme in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall nicht zur Verfügung stehen würde (lit. b). In Erwägungsgrund 10 RL EEA wird klargestellt, was unter letzterer Alternative zu verstehen ist: Verfügbarkeit sollte sich auf Anlässe beziehen, bei denen die angegebene Ermittlungsmaßnahme nach dem Recht des Vollstreckungsstaats zwar existiert, aber nur unter bestimmten Umständen rechtmäßig zur Verfügung steht, beispielsweise wenn die Ermittlungsmaßnahme nur bei Straftaten eines gewissen Schweregrads, nur gegen Personen, gegen die bereits bestimmte Verdachtsmomente bestehen, oder nur mit der Zustimmung der betreffenden Personen durchgeführt werden kann. Die Entscheidung über die Anerkennung und Vollstreckung einer EEA, die nach diesem Artikel erlassen wurde, wird in jedem Einzelfall von den zuständigen Behörden des Vollstreckungsstaats unter gebührender Beachtung seiner nationalen Rechtsvorschriften und Verfahren getroffen, Art. 29 Abs. 2 S. 2 RL EEA. 515 Diese
Regelung entspricht Art. 12 RB EBA. Abs. 1 lit. a, b RL EEA (2011) wurde unverändert übernommen; vgl. Tschechische Republik, Stellungnahme zum Grünbuch, 4. 516 Art. 9
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2. Teil: Darstellung
Sie darf ihre Hilfe jedoch nicht gänzlich verweigern, sondern muss, wann immer möglich, auf eine nicht in der EEA vorgesehene Ermittlungsmaßnahme zurückgreifen, Art. 10 Abs. 1 HS. 1 RL EEA, d. h. dass die Vollstreckungsbehörde die Vollstreckung der EEA nicht verweigern darf, wenn die EEA in leicht veränderter Form vollstreckt werden könnte. Den gleichen Weg kann die Vollstreckungsbehörde auch gehen, wenn die von ihr gewählte Ermittlungsmaßnahme mit weniger einschneidenden Mitteln das gleiche Ergebnis wie die in der EEA angegebene Ermittlungsmaßnahme erreichen würde, Art. 10 Abs. 3 RL EEA.517 Hierzu gehören vor allem weniger stark in die Grundrechte der betroffenen Person eingreifende Mittel, Erwägungsgrund 10 RL EEA. Wird die ursprüngliche Anordnung so bewusst verändert, muss die Vollstreckungsbehörde die Anordnungsbehörde zunächst unterrichten. Diese hat die Möglichkeit, ihre bisherige Anordnung zurückzunehmen oder zu ergänzen, Art. 10 Abs. 4 RL EEA.518 Nur ausnahmsweise darf die Unterstützung versagt werden, solange überhaupt keine Übereinstimmung im nationalen Recht gefunden werden kann; dies wäre gegebenenfalls der Anordnungsbehörde mitzuteilen, Art. 10 Abs. 5 RL EEA.519 Sind die in der EEA genannten Beweismittel bereits in Besitz der Vollstreckungsbehörde, muss diese die gewünschte Ermittlungsmaßnahme nicht durchführen, Art. 12 Abs. 4 RL EEA. Durch diese Regelungen hält die Richtlinie an dem Grundsatz der traditionellen Rechtshilfe fest, dass für die Ausführung des Rechtshilfeersuchens bzw. Vollstreckung der Anordnung das Recht des ersuchten Staates maßgeblich ist (locus regit actum). Ist eine Maßnahme nach dessen Recht nicht ausgeschlossen, muss der Vollstreckungsstaat jedoch die durch den Anordnungsstaat vorgegebenen Vorschriften bei der Vollstreckung der EEA einhalten. Hierdurch wird eine teilweise Fremdrechtsanwendung verbindlich (forum regit actum).520 Dies entspricht dem Regelungsgehalt moderner Rechtshilfeverträge und des Art. 12 RB EBA.521 Aufgrund der unterschiedlichen Prozesssysteme scheint dies eine praktikable Lösung, um für den Anordnungsstaat verwertbare Beweismittel zu gewinnen. Die korrekte Ausführung der einzuhaltenden Vorschriften wird jedoch von einer verständlichen, vor allem ausreichend bestimmten Anwei517 Art. 9
Abs. 1a RL EEA (2011) wurde unverändert übernommen. Abs. 2 RL EEA (2011) wurde leicht verändert übernommen. 519 Art. 9 Abs. 3 RL EEA (2011) wurde unverändert übernommen. 520 Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 117; Swoboda, HRRS 2014, 10, 18 f.; Ruggeri, ZStW 2013, 407, 422 f. 521 Kotzurek, ZIS 2006, 123, 131; Roger, GA 2010, 27, 36; Vermeulen / Bondt / van Damme, EU cross-border gathering, 105; Stefanopoulou, JR 2011, 54, 57; Böse, ZIS 2014, 152, 153. 518 Art. 9
3. Kap.: Die Europäische Ermittlungsanordnung153
sung der Anordnungsbehörde abhängen. Sprachbarrieren lassen sich nur durch gute Übersetzungen überwinden. Mangelnde Kenntnis des fremden Rechts und komplexe Prozesssituationen erfordern eine umfassende Anleitung durch die Anordnungsbehörde. Nur so ist es der Vornahmebehörde möglich, die dem Ersuchen entsprechende Maßnahme zu finden und ordnungsgemäß auszuführen.522 2. Ausnahmen vom Rückgriff auf Ermittlungsmaßnahmen anderer Art Zu berücksichtigen ist, dass sich der Rückgriff auf Ermittlungsmaßnahmen anderer Art durch die Vollstreckungsbehörde nach Art. 10 Abs. 1 RL EEA nicht auf alle Maßnahmen anwenden lässt. Nach Art. 10 Abs. 2 lit. a–e RL EEA müssen in diesem Fall folgende Maßnahmen nach dem Recht des Vollstreckungsstaats stets zur Verfügung stehen:523 • die Erlangung von Informationen oder Beweismitteln, die sich bereits im Besitz der Vollstreckungsbehörde befinden, wenn die Informationen oder Beweismittel nach dem Recht des Vollstreckungsstaats im Rahmen eines Strafverfahrens oder für die Zwecke der EEA hätten erlangt werden können (lit. a); • die Erlangung von Informationen, die in Datenbanken der Polizei oder der Justizbehörden enthalten sind und zu denen die Vollstreckungsbehörde im Rahmen eines Strafverfahrens unmittelbar Zugang hat (lit. b); • die Vernehmung eines Zeugen, eines Sachverständigen, eines Opfers, einer verdächtigen oder beschuldigten Person oder einer dritten Partei im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsstaats (lit. c); • eine nicht invasive Ermittlungsmaßnahme nach Maßgabe des Rechts des Vollstreckungsstaats (lit. d);524 • die Identifizierung von Inhabern eines bestimmten Telefonanschlusses oder einer bestimmten IP-Adresse (lit. e). 522 Dicker,
Kriminalistik 2012, 195, 197. Abs. 1a HS. 1 RL EEA (2011) wurde verändert übernommen. Weggefallen ist aus dem Vorentwurf insbesondere ein Verweis auf Durchsuchung und Beschlagnahme (lit. f). 524 Ruggeri, in: Ruggeri (Hg.), Transnational inquiries, 279, 294 ff., Ruggeri stört sich am englischen Begriff coercive measure und möchte ihn nach dem deutschen Begriff „Zwangsmaßnahme“ definieren. Hierzu gehörten auch alle verdeckten Maßnahmen mit Grundrechtseingriffen; Ruggeri, ZStW 2013, 407, 425 ff.; die Richtlinie selbst erläutert den Begriff in Erwägungsgrund 16 RL EEA: Nicht invasive Ermittlungsmaßnahmen könnten beispielsweise Maßnahmen sein, die das Recht auf den Schutz der Privatsphäre oder das Recht auf Eigentum gemäß dem nationalen Recht nicht verletzen. 523 Art. 10
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2. Teil: Darstellung
Indem diese Maßnahmen in der Richtlinie für unverzichtbar erklärt werden, harmonisiert die EU – zumindest in grenzüberschreitenden Fällen – die Befugnisse der Strafverfolgung. 3. Nationaler ordre public Verstößt die partielle Fremdrechtsanwendung bei Vollstreckung einer EEA gegen wesentliche Rechtsgrundsätze des Vollstreckungsstaats, bleibt es bei der Anwendung eigenen Rechts, Art. 9 Abs. 2 RL EEA. Mit dieser Anwendungsklausel wird der nationale ordre public teilweise berücksichtigt.525 Zwar ist die Vollstreckungsbehörde weiterhin verpflichtet, eine EEA zu vollstrecken. Doch muss sie hierbei kein fremdes Recht anwenden, welches wesentlichen Rechtsgrundsätzen der eigenen Rechtsordnung entgegensteht. Es handelt sich hierbei um einen „unechten“ Versagungsgrund, da die EEA weiterhin vollstreckt werden muss. Nach einer Ansicht wird ein Verstoß gegen den deutschen Richtervorbehalt durch die Anwendungsklausel nicht erfasst: Der Wortlaut des Art. 9 Abs. 2 RL EEA bzw. Art. 12 RB EBA spreche lediglich von einem Widerspruch der angegebenen Formvorschriften und Verfahren zu den wesentlichen Rechtsgrundsätzen des Vollstreckungsstaats. Jedoch werde hier der Begriff Zuständigkeit nicht erwähnt. Würde eine ausländische Staatsanwaltschaft ihrem Recht konform eine Durchsuchung anordnen (z. B. in Schweden) und auf ihrer Rechtsanwendung bestehen, müsste eine deutsche Staatsanwaltschaft diese auch ohne richterliche Anordnung vollstrecken. Dies führte indes zu einem Verstoß gegen den deutschen Richtervorbehalt gemäß § 105 Abs. 1 StPO, § 67 Abs. 3 IRG, Art. 13 Abs. 2 GG.526 Für den deutschen Staatsanwalt wäre es zudem unklar, ob er in solchen Fällen die Vollstreckung versagen müsse.527 Diese Auffassung verkennt indes das Regel- / Ausnahmeverhältnis der Rechtsanwendung in der RL EEA. Grundsätzlich gilt das Recht des Vollstreckungsstaats. Soweit das Verfahren offen ist für weitere Regeln, kann es durch fremdes Recht konkretisiert werden. Werden dem Beschuldigten mehr 525 Esser, ZEuS 2004, 289, 303; Gleß, StV 2004, 679, 681; kritisch Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 133; die Regelung entspricht Art. 12 S. 1 RB EBA. 526 Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 133, 137 f.; ähnlich auch Heydenreich, StraFo 2012, 439, 443. 527 Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 141, nach Mavany ist die dargestellte Problematik für die Rechtspraxis drängend. Ein Angehöriger der deutschen Vollstreckungsbehörde benötige eine klare Richtschnur, ob er eine EBA entgegen dem nationalen Recht vollstrecken solle oder ob er die Vollstreckung versagen könne, gegebenenfalls sogar versagen müsse.
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Rechte eingeräumt bzw. stellt die gewünschte Maßnahme eine mildere Maßnahme gegenüber dem Betroffenen dar, ist dies unproblematisch. Soll jedoch eine für den Betroffenen nachteilige Regel eingehalten werden, bestimmt sich dies nach den wesentlichen Grundsätzen des Vollstreckungsstaats. Der Grundsatz forum regit actum ist daher nur als abstrakter Rechtsgedanke integriert. Überdies erschöpft sich der deutsche Richtervorbehalt nicht bloß in einer formalen Zuständigkeitsfrage. Vielmehr handelt es sich um eine tragende Verfahrensregel, welche auch im Vollstreckungsverfahren nach der RL EEA immer eingehalten werden muss. Sowohl die RL EEA als auch der RB EBA orientieren sich in ihrer Terminologie und Systematik nicht an der deutschen Gesetzgebung. Es handelt sich um Rechtssetzung der EU. Weder Art. 9 Abs. 2 RL EEA noch Art. 12 RB EBA knüpfen an den Zuständigkeitsbegriff an, da die Zuständigkeit zur Vollstreckung einer EEA bereits an anderer Stelle geregelt wurde, Art. 2 lit. d RL EEA. Es ist Sache des Vollstreckungsstaats, die Zuständigkeit seiner Justizbehörden zu regeln. Bestimmt er ein Gericht, ist dieses auch bei der Vollstreckung einer EEA einzubeziehen. Auch so bleibt der deutsche Richtervorbehalt gewahrt. Im Übrigen hebt nunmehr die Richtlinie den Richtervorbehalt nach nationalem Recht des Vollstreckungsstaats ausdrücklich hervor, Art. 2 lit. d S. 2 RL EEA. 4. Mitwirkung ausländischer Amtsträger Auch am Vollstreckungsverfahren können die Behörden des Anordnungsstaats unterstützend teilnehmen. Dazu muss die Anordnungsbehörde die Vollstreckungsbehörde entsprechend ersuchen. Der formelle Teilnahmewunsch ist für die Vollstreckungsbehörde grundsätzlich bindend. Bedingung ist jedoch, dass die vom Anordnungsstaat benannte Behörde nach dessem nationalen Recht auch dort bei der Vollstreckung einer entsprechenden Ermittlungsmaßnahme mitwirken dürfte, und dass die Unterstützung nicht den wesentlichen Rechtsgrundsätzen des Vollstreckungsstaats zuwiderläuft und nicht seinen wesentlichen nationalen Sicherheitsinteressen schadet, Art. 9 Abs. 4 RL EEA. Der konkrete Umfang der Mitwirkung wird zwischen der Anordnungs- und der Vollstreckungsbehörde vereinbart, Art. 9 Abs. 5 S. 2 RL EEA. Mit der Beteiligung ausländischer Beamter bei der Vollstreckung der EEA wird die Leistung der Rechtshilfe allgemein und die Fremdrechtsanwendung im Besonderen vereinfacht. Eine Präsenz ausländischer Beamter vor Ort erleichtert taktische Absprachen gegenüber einer Mitwirkung aus der Distanz. Etwa für Entscheidungen bei Gefahr im Verzug besteht so ein unmittelbarer Kontakt ohne Zwischenschritte. Prozesstaktische Fragen lassen sich so schnell und unkompliziert klären. Bisweilen entfällt auch ein langwieriger und kostenträchtiger Übersetzungsaufwand. Aufgrund der
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2. Teil: Darstellung
Sachnähe der ausländischen Beamten zum Ausgangsverfahren lassen sich Beweismittel bei einer Durchsuchung schneller identifizieren, dies gilt auch für etwaige Zufallsfunde. Sofern die rechtlichen Voraussetzungen dafür vorliegen, können gewonnene Beweismittel den ausländischen Beamten direkt ausgehändigt werden bzw. diese können ihre Dienststelle direkt und formlos über die gewonnenen Erkenntnisse informieren. Die Teilnahme ausländischer Beamter gewährleistet zudem die korrekte Fremdrechtsanwendung. Und schließlich steht der ausländische Beobachter dem Ausgangsverfahren im Anordnungsstaat als leicht erreichbarer Zeuge zur Verfügung, ohne dass es dort für die Wahrung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes noch auf die Vernehmung von Beamten des ersuchten Staates unerlässlich ankäme.528 Auf dem Hoheitsgebiet des Vollstreckungsstaats sind die Behörden des Anordnungsstaats bei der Vollstreckung der EEA an das Recht des Vollstreckungsstaats gebunden und dürfen selbst grundsätzlich keine Strafverfolgungsbefugnisse ausüben. Ausnahmen sind nur nach Vereinbarung und nach dem nationalen Recht des Vollstreckungsstaats möglich, Art. 9 Abs. 5 S. 2 RL EEA, vgl. auch Art. 28 Abs. 4, Art. 29 Abs. 4 RL EEA. Diese Regelung stößt indes auf teilweise massive Bedenken. Ausländische Beamte seien in der Regel weder mit dem Recht des Vollstreckungsstaats vertraut noch mit dessen Rechtspraxis. Dazu fehle ihnen die Ausbildung. Ein solches Wissensgefälle zwischen den in- und ausländischen Hoheitsträgern führe absehbar zu Rechtsverletzungen und würde die Zusammenarbeit nur verunsichern.529 Dem ist entgegenzuhalten, dass die Einräumung von Hoheitsbefugnissen im Rechtshilfeverkehr zwar noch die absolute Ausnahme ist. Jedoch innerhalb Europas ist sie kein absolutes Novum mehr, vgl. etwa die Nacheile im SDÜ oder im deutsch-schweizerischen Polizeivertrag. Sie bedarf im konkreten Fall auch nach der RL EEA einer besonderen Vereinbarung. Zeugenvernehmungen könnten relativ unkompliziert nach entsprechender Einweisung auch von ausländischen Beamten übernommen werden, Nrn. 22 Abs. 3, 138–142 RiVASt. Bei Fragen bezüglich des Vollstreckungsverfahrens und der Zusammenarbeit mit Drittbehörden können sich überdies die Anordnungs- und die Vollstreckungsbehörde in geeigneter Weise gegenseitig konsultieren, Art. 9 Abs. 6 RL EEA.
528 Dicker, Kriminalistik 2012, 195, 198; Ouwerkerk, in: Fijnaut / Ouwerkerk (Hg.), The future of police and judicial cooperation in the European Union, 259, 283; Spinellis, in: Joerden / Scheffler / Sinn / Wolf (Hg.), FS-Szwarc, 701, 703; Mos, in: Vervaele (Hg.), European evidence warrant, 33, 35 f. 529 Heard / Mansell, NJECL 2011, 353, 358.
3. Kap.: Die Europäische Ermittlungsanordnung157
II. Fristen 1. Vorbemerkungen Bei ihrer Entscheidung über die Anerkennung und Vollstreckung der EEA ist die Vollstreckungsbehörde nicht nur sachlich, sondern auch zeitlich gebunden. Grundsätzlich gilt dafür eine Frist von spätestens 30 Tagen nach Eingang der EEA bei der zuständigen Vollstreckungsbehörde, Art. 12 Abs. 3 RL EEA. Für die Durchführung der Vollstreckungsentscheidung gilt grundsätzlich eine Frist von weiteren 90 Tagen, Art. 12 Abs. 4 RL EEA. Unabhängig davon ist die Vollstreckungsbehörde gehalten, ihre Entscheidung so bald wie möglich, mindestens jedoch genauso rasch und vorrangig zu treffen wie in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall, Art. 12 Abs. 1, 3 RL EEA. Die Durchführung der entsprechenden Ermittlungsmaßnahme soll zudem unverzüglich folgen, Art. 12 Abs. 1, 4 RL EEA. Beide Fristen gelten jedoch nicht starr. Eine etwaige Dringlichkeit für den Anordnungsstaat hat die Vollstreckungsbehörde möglichst weitgehend zu berücksichtigen, Art. 12 Abs. 2 RL EEA. Dies ist der Fall, wenn die Anordnungsbehörde angibt, dass aufgrund eigener Verfahrensfristen, der Schwere der Straftat oder anderer besonders dringender Umstände eine kürzere Erledigungsfrist benötigt wird. Im Gegenzug kann diese auch um bis zu 30 Tage verlängert werden, falls die Vollstreckungsbehörde sie im Einzelfall nicht einhalten kann, Art. 12 Abs. 5 RL EEA. Gegebenenfalls muss dafür die Vollstreckungsbehörde der Anordnungsbehörde ihr Unvermögen unverzüglich anzeigen. Jene Mitteilung muss die Verzögerungsgründe und die voraussichtliche Entscheidungsdauer enthalten. Eine ähnliche Regelung besteht auch für das bloße Unvermögen, die Vornahmefrist einzuhalten. Hier kann die Durchführung der Maßnahme jedoch auf einen unbestimmten, passenderen Zeitpunkt verschoben werden, welcher mit der Anordnungsbehörde frei vereinbart wird, Art. 12 Abs. 6 RL EEA. Gemäß Erwägungsgrund 21 RL EEA sind diese Fristen zur Gewährleistung einer raschen, effektiven und kohärenten Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten in Strafsachen erforderlich. Durch die Fristsetzung soll die Vollstreckung einer EEA innerhalb eines angemessenen Zeitraums sichergestellt werden. 2. Effizienz a) Beschleunigung durch Formalisierung Nach einer Ansicht führt die RL EEA zu einem effizienteren Verfahren in der Beweisrechtshilfe. Neben der Anwendung des Prinzips der gegenseiti-
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2. Teil: Darstellung
gen Anerkennung liege dies vor allem an der Einführung von Standardformularen für die Anordnungsbehörde und an der Einführung von Bearbeitungsfristen für die Vollstreckungsbehörde. Insbesondere die einheitlichen Fristen führten zu einem beschleunigten Verfahren.530 Standardformulare, gegenseitige Anerkennung und der unmittelbare Geschäftsweg würden das Verfahren zudem vereinfachen und so auch beschleunigen.531 Die traditionelle Rechtshilfe hingegen sei dringend reformbedürftig. Sie sei langsam und wenig effizient.532 Angesichts etwa drohender Verjährung im Ausgangsverfahren sei es unzumutbar, mindestens ein halbes Jahr, wenn nicht gar mehrere Jahre, auf die Beantwortung durch den ersuchten Staat warten zu müssen.533 Vereinzelt wird auch angenommen, dass die traditionelle Rechtshilfe relativ gut funktioniert und die Einführung der EEA anfänglich zu einer erhöhten Arbeitsbelastung führen wird. Dieser Nachteil werde jedoch mit zunehmender Routine durch den Vorteil verbesserter Rahmenbedingungen der transnationalen Ermittlungen aufgewogen. Das Rechtshilfeverfahren würde sich so auch zeitlich verkürzen.534 Ein deutliches Interesse an einer Neugestaltung der Beweisrechtshilfe zeigen auch nationale Wirtschaftsverbände. Ihnen zufolge wäre ein zügiges 530 The General Council of the Bar of England & Wales, Stellungnahme zum Grünbuch, 5; Hecker, Europäisches Strafrecht, 438; Hert / Weis / Cloosen, NJECL 2009, 55, 61. 531 Hert / Weis / Cloosen, NJECL 2009, 55, 61; Sieber, in: Sieber (Hg.), Europä ische Einigung, 157, 159; Stefanopoulou, JR 2011, 54, 57 f. 532 Mitteilung vom 26.7.2000, KOM(2000) 495 endgültig, 2; Hecker, in: Marauhn (Hg.), Europäisches Beweisrecht, 27–37, 29 f.; Hecker, in: Ruggeri (Hg.), Transnational inquiries, 269, 272; Kotzurek, ZIS 2006, 123, 127; Schierholt, ZIS 2010, 567, 567; Wasmeier spricht von einem Nachhinken der Justiz, Wasmeier, ZStW 2004, 320, 320 f.; Sieber, in: Sieber (Hg.), Europäische Einigung, 157, 159; Nelles, ZStW 1997, 727, 746; Perron, in: Militello / Arnold / Paoli (Hg.), Organisierte Kriminalität, 33, 35; Perron, in: Hettinger / Zopfs / Hillenkamp / Köhler / Rath / Streng / Wolter (Hg.), FS-Küper, 429, 436; Hofmanski, in: Joerden / Scheffler / Sinn / Wolf (Hg.), FS-Szwarc, 667, 669; Spinellis, in: Joerden / Scheffler / Sinn / Wolf (Hg.), FS-Szwarc, 701, 703 f.; Williams, in: Vervaele (Hg.), European evidence warrant, 69, 69 ff., 71; von Bubnoff, ZEuS 2002, 185, 189; Fätkinhäuer vergleicht das tatsächliche Vorgehen von Straftätern im transnationalen Bereich mit der Reise in einer Concorde, während er die Arbeit der Strafverfolgung mit der Fahrt in einer Postkutsche vergleicht, Fätkinhäuer, Der Kriminalist 1994, 257, 258. 533 Nehm, DRiZ 2000, 355, 356, 358; Nehm, DRiZ 1996, 41, 43 ff.; Sieber, ZRP 2000, 186, 188. 534 Farries, NJECL 2010, 425, 432, Farries sieht so zwar im Prinzip der gegenseitigen Anerkennung einen besorgniserregenden neuen Ansatz der Rechtshilfe. Im Kontext der gegenwärtigen Vertragsgestaltung sieht er jedoch in deren Ausgestaltungen keine Revolution der Rechtshilfe, sondern eine wohltuende Reform schwerfälliger und unpräziser Zusammenarbeit.
3. Kap.: Die Europäische Ermittlungsanordnung159
Beweisaufnahmeverfahren auch für die betroffenen Unternehmen vorteilhaft. Offene Strafverfahren könnten wesentliche Ressourcen des betroffenen Unternehmens binden. Zusätzlich verliere das Unternehmen aufgrund der Komplexität transnationaler Verfahren auch seinen Einfluss auf die Beendigung dieses Zustands. Selbst wenn am Ende keine Schuld erwiesen sei, hätte das Unternehmen infolge des Strafverfahrens maßgebliche Kosten, welche es in aller Regel ganz oder überwiegend allein tragen müsse. Schnellere Ermittlungs- und Gerichtsverfahren – noch dazu mit erhöhter Kompetenz – könnten so zu einer wesentlichen Entlastung der Unternehmen führen.535 b) Zweifel an der Verschlankung des Verfahrens Nach anderer Ansicht sollte am traditionellen Rechtshilfeverkehr festgehalten werden.536 Die Befürworter der RL EEA würden einen Effizienzgewinn durch die Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung nur behaupten, indes würden die praktischen Erfahrungen mit dem EHB dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung keine solche Leistungsfähigkeit attestieren.537 Vielmehr würde die RL EEA ein bestehendes System der Beweisrechtshilfe eher schwächen. Die transnationale Strafverfolgung müsse das unterschiedliche Vorgehen der nationalen Strafjustiz berücksichtigen. Durch eine unreglementierte, in der Regel auch unbestimmte Zusammenarbeit ließen sich normative und faktische Unterschiede einfacher überwinden. Mit dem RB EBA bzw. der RL EEA würde eine bisher funktionierende Zusammenarbeit durch Formalisierung und Bürokratisierung erheblich beschränkt. Während die bisherige internationale Rechtshilfe in Strafsachen lediglich ein Schreiben erfordere, bestände eine Anordnung basierend auf dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung aus mindestens drei Dokumenten: der Anordnung, einem Formblatt und einem Übermittlungsersuchen.538 Zudem sei der Umgang mit einer europäischen Anordnung für den Rechtsanwender zu kompliziert, da die EU trotz eines komplexen Verfahrens nur eine unzureichend informative Anleitung bieten würde. Aufgrund dieser tatsächlichen Probleme würden die eingeführten Fristen das Rechtshilfeverfahren nicht wesentlich beschleunigen, sondern nur den psychologischen Druck auf die Vollstreckungsbehörde erhöhen.539 535 Wirtschaftskammer
Österreich (WKÖ), Stellungnahme zum Grünbuch, 2. (BRAK), Stellungnahme zum Grünbuch, 3, 11; Nelles, ZStW 1997, 727, 750; Abweichende Meinung des Richters Broß BVerfGE 113, 273, 322. 537 Ambos, ZIS 2010, 557, 557 f., Nelles, ZStW 1997, 727, 750. 538 Tschechische Republik, Stellungnahme zum Grünbuch, 2. 539 Tschechische Republik, Stellungnahme zum Grünbuch, 3. 536 Bundesrechtsanwaltskammer
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2. Teil: Darstellung
Allerdings sei die traditionelle Rechtshilfe aufgrund ihrer Rahmenbedingungen durchaus reformbedürftig. Strukturelle Mängel der jeweils einschlägigen Rechtsquellen führten zu einer informellen bzw. entformalisierten Rechtshilfe, welche für ein rechtsstaatliches Verfahren eine erhebliche Bedrohung darstellen würde. Eine einheitliche Regelung würde diesen Missstand beseitigen.540 Des Weiteren müsse man zur Kenntnis nehmen, dass Justizapparate einzelner Mitgliedstaaten wie etwa Italien ineffizient zu arbeiten pflegten. Ausgehende Ersuchen in solche Länder blieben häufig monate- bis jahrelang unbeantwortet oder gingen sogar verloren. Hierfür gebe es vielfältige Gründe. Zum einen würden ausländische Ersuchen nicht ebenso zuverlässig behandelt wie inländische, zum anderen seien einige Justizsysteme chronisch überlastet. Für die Umsetzung ausländischer Ersuchen fehle das nötige Geld, die technische Ausrüstung oder schlicht das ausreichende Personal. Darüber hinaus seien einige Beweismittel nur schwer zu erlangen oder würden erst noch für eigene Verfahren benötigt.541 Die Friktionen mit dem Beweisrecht anderer Mitgliedstaaten und die daraus resultierenden Vorbehalte und Verweigerungsgründe des Vollstreckungsstaats würden zudem zu einer annähernden Parallelität mit dem traditionellen Rechtshilferecht führen. Der erhoffte Mehrwert bliebe so aus.542 An dem Modell der traditionellen Rechtshilfe solle daher festgehalten werden, es solle aber (punktuell) verbessert werden. In Betracht käme etwa eine beschleunigte Form der Ergänzung eines Rechtshilfeersuchens.543 Der dringende Bedarf nach einer effektiven transnationalen Zusammenarbeit der Strafverfolgungsbehörden rechtfertige jedoch keine Rechtsgestaltung um jeden Preis.544 Die Erfahrungen mit dem EHB ließen sich auf die Beweisrechtshilfe nicht übertragen, da diese anders strukturiert sei. Mehr noch als die Auslieferung sei die Beweisrechtshilfe an das Verfahrensrecht des ersuchten Staates gebunden und habe weitaus mehr Stufen. Dies mache die Beweisrechtshilfe komplexer als das Auslieferungsrecht, da die Struktur- und Detailunterschiede der europäischen Verfahrensordnungen sich deutlicher auswirken würden.545 540 Allegrezza, ZIS 2010, 569, 570, Allegrezza spricht hier von einem labyrinth of the European texts und einer „underground cooperation“ bei strafrechtlichen Ermittlungen. 541 Allegrezza, ZIS 2010, 569, 571; Lach, eucrim 2009, 107, 107; Bundesrat, Stellungnahme zum Grünbuch, 2 f.; Dicker, Kriminalistik 2012, 195, 199, nach Dicker erschöpft sich die Fristsetzung mangels Kontrollmechanismus in einer Appellfunktion. 542 Ambos, ZIS 2010, 557, 560, 561. 543 Ambos, ZIS 2010, 557, 565; Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland, Stellungnahme zum Grünbuch, 1 f. 544 Allegrezza, ZIS 2010, 569, 570. 545 Ambos, ZIS 2010, 557, 557.
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c) Eigene Stellungnahme Der befürwortenden Ansicht ist zuzustimmen. Die Einführung von Fristen, Formstandards und der Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung führen kumuliert zu einer deutlichen Beschleunigung und Effizienz der Rechtshilfe. Dies zeigt auch ein Vergleich mit dem RB EHB, welcher eben diese Komponenten enthält. Der EHB hat sich in der Praxis bewährt. Seit seiner Einführung ist die Zahl der Ersuchen kontinuierlich gestiegen.546 Aufgrund der Standardisierung hat es der zuständige Richter leichter, ausländische Ersuchen zu bearbeiten. Dadurch ist das Verfahren effektiver geworden.547 Nach mehrjähriger Praxis verlaufen die EHB-Verfahren routiniert und somit auch effizienter. Darüber hinaus hat der EHB das Auslieferungsrecht nachhaltig geprägt,548 wenn auch nicht in jeder Hinsicht. So wurden langjährige erfolgreiche Rechtshilfepartnerschaften intensiviert, während ein schleppender Rechtshilfeverkehr auch durch die Einführung des RB EHB nicht immer verbessert wurde. Vorbildlich sei etwa die Zusammenarbeit mit Polen, dies zeige insbesondere die Qualität der dortigen Ersuchen. Mangelnde Qualität der Ersuchen führe hingegen zu einer Verzögerung der Rechtshilfe, da sie ergänzende Erläuterungen und die Vorlage weiterer Unterlagen nach sich zögen. Dies sei etwa bei der Zusammenarbeit mit Italien, Spanien und Rumänien zu beobachten.549 III. Übermittlung Grundsätzlich ohne unnötige Verzögerung übermittelt die Vollstreckungsbehörde dem Anordnungsstaat die Beweismittel, die aufgrund der Vollstreckung der EEA erlangt wurden oder sich bereits im Besitz der zuständigen Behörden des Vollstreckungsstaats befinden, Art. 13 Abs. 1 UAbs. 1 RL EEA. Sofern Behörden des Anordnungsstaats im Vollstreckungsverfahren unterstützend mitwirken, können jenen diese Beweismittel – auf ein entsprechendes Ersuchen in der EEA und im Einklang mit dem Recht des Vollstreckungsstaats – unmittelbar übermittelt werden, Art. 13 Abs. 1 UAbs. 2 RL EEA. Die Beweismittel können dem Anordnungsstaat vorübergehend oder endgültig überlassen werden. Möchte die Vollstreckungsbehörde die Beweismittel letztendlich zurückerhalten, verbindet sie die Übermittlung der erlangten Beweismittel mit einem darauf gerichteten Vorbehalt. Der Anordnungsstaat 546 Gittermann,
in: in: 548 Gittermann, in: 549 Gittermann, in: 547 Gittermann,
von Olenhusen von Olenhusen von Olenhusen von Olenhusen
(Hg.), (Hg.), (Hg.), (Hg.),
FS-OLG FS-OLG FS-OLG FS-OLG
Celle, Celle, Celle, Celle,
549, 549, 549, 549,
549. 550. 551, 563. 550.
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2. Teil: Darstellung
hat dem zu entsprechen, sobald er die Beweismittel nicht mehr benötigt, Art. 13 Abs. 3 RL EEA.550 Mavany weist hier zu Recht darauf hin, dass die Verwendungsdauer an den ursprünglichen Verwendungszweck des Ausgangsverfahrens gebunden ist. Mit Eintritt der Rechtskraft des verfahrensbeendenden Akts entfalle so nicht nur dieser Zweck, sondern auch das Besitzrecht der Vollstreckungsbehörde.551 Dies folgt auch dem traditionellen Rechtshilferecht.552 Werden die Beweismittel vor Übermittlung bereits für andere Verfahren benötigt, besteht die Möglichkeit einer bedingten vorübergehenden Übermittlung. Anordnungs- und Vollstreckungsbehörde können hierbei die Rückgabe der Beweismittel an den Vollstreckungsstaat einvernehmlich knüpfen an deren Verwendungsfortfall („Ausgebrauch“), den Eintritt eines bestimmten Zeitpunkts oder einer bestimmten Gelegenheit. Entscheidend ist, dass jene Regelung vor Übermittlung der Beweismittel getroffen wurde und durch ein ausdrückliches Ersuchen der Anordnungsbehörde und eine Konsultierung der Vollstreckungsbehörde zustande kam, Art. 13 Abs. 4 RL EEA.
E. Bindungswirkung und Vollstreckungsschranken I. Vorbemerkung Die EEA ist für die Vollstreckungsbehörde grundsätzlich bindend. erkennt die wirksam übermittelte EEA ohne jede weitere Formalität Art. 9 Abs. 1 HS. 1 RL EEA.553 Die Vollstreckungsbehörde kann jedoch Anerkennung versagen oder die Vollstreckung aufschieben, sofern Richtlinie dazu ermächtigt, Art. 9 Abs. 1 HS. 3 RL EEA.
Sie an, die die
II. Aufschieben der Anerkennung und Vollstreckung Der Anerkennung oder Vollstreckung einer EEA können Hinderungsgründe entgegenstehen. Gegebenenfalls kann die Anerkennung oder Vollstreckung aufgeschoben, in veränderter Form durchgeführt oder gar gänzlich versagt werden. Gründe für einen derartigen Aufschub nennt Art. 15 Abs. 1 RL EEA. Danach kann die Anerkennung und Vollstreckung einer EEA im Vollstreckungsstaat aufgeschoben werden, wenn die Vollstreckung der An550 Die
Regelung entspricht Art. 15 Abs. 6 RB EBA. Die europäische Beweisanordnung, 144. 552 Johnson, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, § 66 IRG, Rn. 40; OLG München Beschl. v. 19.12.1984 – Ausl. 113 / 82 ELW U 100. 553 Dies entspricht Art. 11 Abs. 1 RB EBA. 551 Mavany,
3. Kap.: Die Europäische Ermittlungsanordnung163
ordnung eine laufende strafrechtliche Ermittlung oder Verfolgung beeinträchtigen könnte, und zwar solange, wie der Vollstreckungsstaat dies für angemessen hält (lit. a), oder wenn die betreffenden Sachen, Schriftstücke oder Daten bereits in anderen Verfahren verwendet werden, und zwar solange, bis sie zu diesem Zweck nicht mehr benötigt werden (lit. b). Grundsätzlich bestimmt der Vollstreckungsstaat die Dauer jener Aussetzung. Sie richtet sich im Fall der Verfahrensbeeinträchtigung nach der Angemessenheit des Aufschubs, bei der anderweitigen Verwendung nach dem Wegfall des Bedarfs. Ist jedoch der Aufschubsgrund weggefallen, muss die Vollstreckungsbehörde der Anordnungsbehörde dies schriftlich mitteilen und die EEA nun unverzüglich vollstrecken, Art. 15 Abs. 2 RL EEA. III. System der Versagungsgründe In der Richtlinie sind verschiedene Versagungsgründe für die Anerkennung und Vollstreckung einer EEA vorgesehen. Sie sind alle fakultativ ausgestaltet. Aufgeführt wird das System der Versagungsgründe insbesondere in Art. 11 RL EEA: Die Versagungsgründe werden grundsätzlich in Abs. 1 lit. a–h enumerativ aufgelistet. Zwei davon (lit. g und lit. h) gelten nach Abs. 2 nicht für den Maßnahmenkatalog des Art. 10 Abs. 2 lit. a–e RL EEA.554 Daneben besteht eine Vielzahl von speziellen Versagungsgründen, welche die allgemeinen Versagungsgründe des Art. 11 RL EEA unberührt lassen. IV. Normierte Versagungsgründe 1. Staatliche Sicherheitsinteressen Die Anerkennung und Vollstreckung einer EEA kann von der Vollstreckungsbehörde aus staatlichen Sicherheitsinteressen versagt werden. Ein Versagungsgrund nach Art. 11 Abs. 1 lit. b RL EEA liegt vor, wenn die Vollstreckung einer EEA in einem bestimmten Fall wesentlichen nationalen Sicherheitsinteressen schaden, die Informationsquelle gefährden oder die Verwendung von Verschlusssachen über spezifische nachrichtendienstliche Tätigkeiten voraussetzen würde.
554 Vgl.
Art. 10 Abs. 1a RL EEA (2011).
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2. Teil: Darstellung
2. Besondere drittschützende Versagungsgründe a) Vorbemerkung Einige Versagungsgründe dienen vor allem dem Schutz von Verdächtigen, Beschuldigten und Inhaftierten. Betrifft eine Ermittlungsmaßnahme ihren Rechtskreis, kann diese von deren Zustimmung bzw. deren Verzicht auf ein bestimmtes Recht abhängen. Unter Umständen kommt auch ein spezielles Aufhebungsverfahren in Betracht. b) Immunitäten und Vorrechte Einen Versagungsgrund, welcher vor allem die von der Maßnahme Betroffenen schützt, ist in Art. 11 Abs. 1 lit. a RL EEA normiert. Danach kann die Anerkennung oder Vollstreckung einer EEA versagt werden, wenn es unmöglich ist, die EEA zu vollstrecken, sei es aufgrund bestehender Immunitäten oder Vorrechte nach dem Recht des Vollstreckungsstaats, sei es aufgrund bestehender Vorschriften zur Bestimmung und Beschränkung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit in Bezug auf die Pressefreiheit und die Freiheit der Meinungsäußerung in anderen Medien.555 Beruht die Unmöglichkeit auf einem Vorrecht oder auf Immunität, muss die für deren Aufhebung zuständige Stelle unverzüglich darum ersucht werden. Handelt es sich dabei um eine Behörde des Vollstreckungsstaats, obliegt dies der Vollstreckungsbehörde, ist es hingegen eine Behörde eines anderen Mitgliedstaates oder eine internationale Organisation, so ist dies Aufgabe der Anordnungsbehörde, Art. 11 Abs. 5 RL EEA. Im EU-Recht gibt es keine supranationalen Definitionen für Immunitäten oder Vorrechte im Strafverfahren. So soll die RL EEA mit diesem Versagungsgrund auch nicht das Strafverfahrensrecht der Mitgliedstaaten harmonisieren. Vielmehr soll es gemäß Erwägungsgrund 20 RL EEA den Mitgliedstaaten selbst überlassen bleiben, entsprechende Definitionen im eigenen Recht festzulegen. Dies gilt insbesondere für Schutzvorschriften zugunsten von medizinischen Berufen und Rechtsberufen, aber auch für Regeln über die Pressefreiheit und die Meinungsfreiheit in anderen Medien. Relevant ist dieser Versagungsgrund für Zeugnisverweigerungsrechte und die damit einhergehenden Beschlagnahmeverbote.556 555 Der Versagungsgrund orientiert sich an Art. 7 Abs. 1 lit. b RB-Sicherstellung und Art. 13 Abs. 1 lit. d RB EBA. 556 Gleß, Beweisrechtsgrundsätze, 169; Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 130 f., 139; kritisch Gazeas, ZRP 2005, 18, 21; Leutheusser-Schnarrenberger, StraFo 2007, 267, 271.
3. Kap.: Die Europäische Ermittlungsanordnung165
c) Zustimmungsbedürftigkeit Daneben gibt es besondere Versagungsgründe, welche an den Verfahrensstatus der jeweiligen Person anknüpfen. Verdächtige, Beschuldigte und Inhaftierte genießen aufgrund ihrer besonderen Rechtsstellung bestimmte Verfahrensrechte, die auch in der Rechtshilfe beachtet werden müssen. Gemäß Art. 22 Abs. 2 lit. a RL EEA besteht ein Versagungsgrund für eine EEA, welche die zeitweilige Überstellung einer im Vollstreckungsstaat inhaftierten Person zum Zwecke der Durchführung einer Ermittlungsmaßnahme nach Art. 22 Abs. 1 RL EEA vorsieht, wenn die inhaftierte Person nicht zustimmt. Während das Erfordernis „Zustimmungsbedürftigkeit des Inhaftierten“ bisher von einer Selbstverpflichtung des jeweiligen Mitgliedstaats abhing, vgl. Art. 9 Abs. 3, 6 EU-RhÜbk, soll im Rahmen der Beweisrechtshilfe kein Inhaftierter mehr gegen seinen Willen in ein anderes Land überstellt werden. Ein Versagungsgrund besteht hier zudem, wenn die Überstellung geeignet ist, die Haft der Person zu verlängern, Art. 22 Abs. 2 lit. b RL EEA. Zustimmungsbedürftig sind auch besondere Vernehmungsmethoden. Die Vernehmung eines Verdächtigen oder Beschuldigten per Videokonferenz oder sonstiger audiovisueller Übertragung, Art. 24 Abs. 1 UAbs. 2 RL EEA, hängt von dessen Zustimmung ab. Fehlt diese Zustimmung, liegt ein Versagungsgrund im Sinne des Art. 24 Abs. 2 lit. a RL EEA vor. Dies entspricht der Regelung des Art. 10 Abs. 9 S. 5 EU-RhÜbk. 3. Anwendungsvorrang eigenen Rechts a) Allgemeine Versagungsgründe Die Reichweite der Fremdrechtsanwendung durch die Vollstreckungsbehörde nimmt in der Richtlinie eine zentrale Rolle ein. Während das Verfahren nach Art. 10 Abs. 1 RL EEA einer abwendbaren Versagung der Anerkennung und Vollstreckung einer EEA gleichkommt,557 bietet die Richtlinie für Kollisionsfälle auch strenge Versagungsgründe. Gemeinsam ist allen, dass sie ein Korrektiv im Sinne des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bilden, weil entweder der Ermittlungsanlass weniger schwerwiegend oder die Eingriffsintensität besonders hoch ist. Nach Art. 11 Abs. 1 lit. c RL EEA hängt die Versagung der Anerkennung und Vollstreckung von zwei Bedingungen ab. Zum einen muss die EEA in einem Verfahren nach Art. 4 lit. a, b RL EEA erlassen worden sein, zum 557 Siehe
oben 2. Teil 3. Kapitel D. I. 1.
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2. Teil: Darstellung
anderen darf die Maßnahme nach dem Recht des Vollstreckungsstaats in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall nicht unzulässig sein. Bußgeldverfahren bilden aufgrund der mangelnden Schwere des Fehlverhaltens gegenüber Strafverfahren einen weniger wichtigen Anlass für die gegenseitige Anerkennung von justiziellen Entscheidungen. Daher ist der Vollstreckungsbehörde eine entsprechende Versagungsmöglichkeit zu gewähren. Nach Art. 11 Abs. 1 lit. h RL EEA kann die Vollstreckung versagt werden, wenn die Anwendung der in der EEA angegebenen Ermittlungsmaßnahme nach dem Recht des Vollstreckungsstaats auf eine Liste oder Kategorie von Straftaten oder Straftaten, die mit einem bestimmten Mindestmaß bedroht sind, beschränkt ist und die Straftat, die der EEA zugrunde liegt, keine dieser Straftaten ist. Ausgenommen sind jedoch gemäß Art. 11 Abs. 2 RL EEA weniger eingriffsintensive Maßnahmen aus dem Katalog des Art. 10 Abs. 2 lit. a–e RL EEA. Mit diesem Versagungsgrund billigt die Richtlinie den Mitgliedstaaten eine Einschätzungsprärogative zu, welche Straftaten nach dem jeweiligen Strafrechtssystem für den Einsatz eingriffsintensiver Zwangsmaßnahmen erforderlich sind. Hierdurch soll wiederum der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und das Wertungsgefüge der nationalen Strafrechtsordnungen Berücksichtigung finden. b) Spezielle Versagungsgründe Ohne die allgemeinen Versagungsgründe selbst zu beschränken, bestehen daneben weitere Versagungsgründe für die Maßnahmen zur Erlangung von Informationen über Bank- und sonstige Finanzkonten bzw. -geschäfte sowie deren Überwachung, kontrollierte Lieferungen im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsstaats, verdeckte Ermittlungen und Überwachung des Telekommunikationsverkehrs mit technischer Hilfe eines anderen Mitgliedstaats. Einzige Bedingung ist hierfür, dass die Durchführung der Ermittlungsmaßnahme in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall nicht genehmigt würde, vgl. Art. 26 Abs. 6 S. 3, Art. 27 Abs. 5 S. 3, Art. 28 Abs. 1, Art. 29 Abs. 3 lit. a, Art. 30 Abs. 5 S. 1 RL EEA. Für die Überwachung der Telekommunikation kann der Vollstreckungsstaat zudem auf die Erfüllung jeglicher Bedingungen bestehen, welche in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall zu erfüllen wären, Art. 30 Abs. 5 S. 2 RL EEA. Die verdeckte Ermittlung kann auch versagt werden, wenn keine Einigung über ihre Ausgestaltung erzielt werden konnte, Art. 29 Abs. 3 lit. b RL EEA. Die genannten Maßnahmen zeichnen sich durch eine hohe Eingriffsintensität aus. Die Versagungsgründe bilden hierfür wiederum ein verlässliches Korrektiv.
3. Kap.: Die Europäische Ermittlungsanordnung167
4. Das Prinzip ne bis in idem Anders als der ursprüngliche Initiativentwurf und entgegen vieler Vorbehalte558 enthält die Richtlinie den Versagungsgrund eines transnationalen Doppelverfolgungsverbots für Ermittlungsmaßnahmen. Damit orientiert sie sich am traditionellen Rechtshilferecht und an Art. 13 Abs. 1 lit. a RB EBA.559 Nach Art. 11 Abs. 1 lit. d RL EEA kann die Anerkennung oder Vollstreckung einer EEA für den Fall versagt werden, dass die Vollstreckung der EEA dem Grundsatz ne bis in idem zuwiderlaufen würde.560 Verwiesen wird dabei auf die GRCh und die Rechtsprechung des EuGH, Erwägungsgrund 17 RL EEA.561 Ausnahmen bestehen jedoch, wenn festgestellt werden soll, ob die EEA möglicherweise mit dem Grundsatz ne bis in idem kollidiert, oder wenn die Anordnungsbehörde zugesichert hat, dass die aufgrund der Vollstreckung der EEA übermittelten Beweismittel nicht dazu verwendet würden, eine Person, deren Verfahren in einem anderen Mitgliedstaat wegen desselben Sachverhalts rechtskräftig abgeschlossen wurde, zu verfolgen oder zu bestrafen, Erwägungsgrund 17 RL EEA. Begründet werden diese Ausnahmen mit der Vorläufigkeit562 des der EEA zugrunde liegenden Verfahrens, Erwägungsgrund 17 RL EEA. 558 Zeder hält diesen Grundsatz im Ermittlungsverfahren für verzichtbar, Zeder, ÖJZ 2009, 992, 1000; während der Ratsverhandlungen meldeten Frankreich, Tschechien, Österreich, Bulgarien, Lettland, Italien und Finnland Vorbehalte an, Vermerk des Vorsitz des Rates vom 8.6.2011, Ratsdok. 10749 / 2 / 11 REV 2 COPEN 130, 27 Fn. 12. 559 Siehe oben 2. Teil 1. Kapitel D. II. 2.; Roger, GA 2010, 27, 36 f., 39, Roger kritisiert jedoch, dass der Versagungsgrund nur noch fakultativ und nicht mehr verbindlich ausgestaltet ist. 560 Ruggeri, in: Ruggeri (Hg.), Transnational inquiries, 279, 296 f., Ruggeri kritisiert die fakultative Ausgestaltung des Versagungsgrunds. Dies sei ein Rückschritt gegenüber dem RB EHB und gefährde die klare Aussage der GRCh. 561 EuGH, Urt. v. 11.2.2003, C-187 / 01 und C-385 / 01, Gözütok u. Brügge, Slg. 2003 I-1345; Urt. v. 10.3.2005, C-469 / 03, Miraglia, Slg. 2005 I-2009; Urt. v. 9.3.2006, C-436 / 04, Van Esbroeck, Slg. 2006 I-2333; Urt. v. 28.9.2006, C-150 / 05, Van Straaten, Slg. 2006 I-9327; Urt. v. 28.9.2006, C-467 / 04, Gasparini, Slg. 2006 I-9199; Urt. v. 18.7.2007, C-288 / 05, Kretzinger, Slg. 2007 I-6441; Urt. v. 18.7.2007, C-367 / 05, Kraaijenbrink, Slg. 2007 I-6619; Urt. v. 11.12.2008, C-297 / 07, Bourquain, Slg. 2008 I-9425; Urt. v. 22.12.2008, C-491 / 07, Turansky, Slg. 2008 I-11039; Urt. v. 16.11.2010, C-261 / 09, Mantello, Slg. 2010 I-1147; Urt. v. 26.2.2013, C-617 / 10, Akerberg Fransson. 562 Der Versagungsgrund war aufgrund nationalstaatlicher Bedenken noch nicht im Initiatitventwurf enthalten. Er wurde erst nachträglich eingefügt und an die Bedingung geknüpft, dass die Vollstreckungsbehörde nach Erwägungsgrund 12a RL EEA (2011) gehalten sei, die Anordnungsbehörde vor einer entsprechenden Versagung über den Mangel zu unterrichten und zu konsultieren, um ihr so die Möglichkeit zur Mangelbeseitigung zu geben. Dies gebiete insbesondere die Vorläufigkeit
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2. Teil: Darstellung
5. Beiderseitige Strafbarkeit a) Allgemeine Regelungen Nach Art. 11 Abs. 1 lit. e RL EEA kann die Anerkennung oder Vollstreckung einer EEA versagt werden, wenn die EEA sich auf eine Straftat bezieht, die außerhalb des Hoheitsgebiets des Anordnungsstaats und ganz oder teilweise im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsstaats begangen worden sein soll, und die Handlung, aufgrund deren die EEA erlassen wird, im Vollstreckungsstaat keine Straftat darstellt. Die ersten beiden Bedingungen berücksichtigen das Territorialitätsprinzip und normieren eine Auslandsklausel. Der Anordnungsstaat kann sich zur Anerkennung seiner EEA nur auf einen maßgeblichen Inlandsbezug des verfolgten Verhaltens berufen. Die letzte Bedingung orientiert sich am Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit. Indem jedoch alle Maßnahmen erfasst werden, reicht der Anwendungsbereich weiter als bei der sonstigen Rechtshilfe, wo üblicherweise nur noch Zwangsmaßnahmen erfasst werden.563 Indem diese Bedingungen kumulativ vorliegen müssen, entfällt grundsätzlich jedoch bei einem maßgeblichen Inlandsbezug im Anordnungsstaat der Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit als Versagungsgrund.564 b) Besondere Regelungen Nach Art. 11 Abs. 1 lit. g RL EEA kann die Vollstreckung versagt werden, wenn die Handlung, aufgrund deren die EEA erlassen wurde, nach dem Recht des Vollstreckungsstaats keine Straftat darstellt, es sei denn, sie betrifft eine Straftat, die unter den in Anhang D aufgeführten Kategorien von Straftaten genannt wird – wie von der Anordnungsbehörde in der EEA angegeben –, und sofern die Straftat im Anordnungsstaat mit einer Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Höchstmaß von mindestens drei Jahren bedroht ist. Ausgenommen sind jedoch gemäß Art. 11 Abs. 2 RL EEA weniger eingriffsintensive Maßnahmen aus dem Katalog des Art. 10 Abs. 2 lit. a–e RL EEA. Die Katalogisierung von des der EEA zugrunde liegenden Verfahrens und das komplizierte Verfahren nach Art. 54 SDÜ; vgl auch Gleß, in: Sieber / Brüner / Satzger / von Heintschel-Heinegg (Hg.), Europäisches Strafrecht, 596, 605; Andreou, Gegenseitige Anerkennung, 240. 563 Siehe oben 2. Teil 1. Kapitel D. I. 1. a); Zeder, ÖJZ 2009, 992, 1000, nach Zeder sollte der Einwand der beiderseitigen Strafbarkeit generell unzulässig sein. 564 Eine EBA konnte noch alternativ wegen einer dieser Bedingungen versagt werden, vgl. Art. 13 Abs. 1 lit. b, lit. f Ziff. i, ii RB EBA; Böse, ZIS 2014, 152, 154.
3. Kap.: Die Europäische Ermittlungsanordnung169
Straftaten orientiert sich an den bereits bestehenden Rechtsinstrumenten zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, vgl. Erwägungsgrund 36 RL EEA.565 Besondere Regeln gelten für Straftaten in Verbindung mit Steuern oder Abgaben, Zöllen und Devisen, Art. 11 Abs. 3 RL EEA. Danach kann die Vollstreckungsbehörde die Anerkennung oder Vollstreckung nicht versagen, wenn das Recht des Vollstreckungsstaats keine gleichartigen Steuern oder Abgaben vorschreibt oder keine gleichartige Steuer- oder Abgabe-, Zollund Devisenregelung enthält wie das Recht des Anordnungsstaats.566 6. Europäischer ordre public a) Regelungen der Richtlinie aa) Endgültige Bestimmungen Nach der Richtlinie soll keine EEA vollstreckt werden, die gegen den europäischen ordre public verstößt. Gemäß Art. 11 Abs. 1 lit. f RL EEA kann die Anerkennung oder Vollstreckung der EEA versagt werden, wenn berechtigte Gründe für die Annahme bestehen, dass die Vollstreckung einer in der EEA angegebenen Ermittlungsmaßnahme mit den Verpflichtungen des Vollstreckungsstaats nach Art. 6 EUV und der GRCh unvereinbar wäre. Auf Art. 6 EUV und die GRCh verweist die Richtlinie auch an anderen Stellen. So berührt sie gemäß Art. 1 Abs. 4 RL EEA nicht die Verpflichtung zur Achtung der Grundrechte und der Rechtsgrundsätze, die in Art. 6 EUV verankert sind, einschließlich der Verteidigungsrechte von Personen, gegen die ein Strafverfahren geführt wird; die Verpflichtungen der Justizbehörden in dieser Hinsicht bleiben unberührt. Gemäß Erwägungsgrund 39 RL EEA wahrt die RL EEA die Grundrechte und Grundsätze, die in Art. 6 EUV und in der GRCh, insbesondere deren Titel VI, in ihren jeweiligen Anwendungsbereichen im Völkerrecht und durch internationale Übereinkünfte, bei denen die Union oder alle Mitgliedstaaten Vertragsparteien sind, darunter insbesondere die EMRK, sowie in den Verfassungen der Mitgliedstaaten anerkannt werden. Die Erwägungsgründe erläutern das Verhältnis zwischen Vollstreckung und Grundrechtsschutz. Die gegenseitige Anerkennung verdrängt nicht den 565 Siehe
oben 2. Teil 2. Kapitel C. I. der traditionellen Rechtshilfe lagen hier häufig Rechtshilfehindernisse vor, siehe oben 2. Teil 1. Kapitel D. II. 1. b). 566 In
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2. Teil: Darstellung
Grundrechtsschutz, Erwägungsgrund 18 S. 1, 2 RL EEA: […] Die Richtlinie berührt nicht die Verpflichtung zur Achtung der Grundrechte und der allgemeinen Rechtsgrundsätze, die gemäß Art. 6 EUV und der GRCh niedergelegt sind, was im Übrigen auch für alle anderen Rechtsinstrumente zur gegenseitigen Anerkennung gilt (S. 1).567 Die Einfügung einer spezifischen Bestimmung in den Richtlinientext soll dies verdeutlichen (S. 2). Dieser Grundrechtsvorbehalt ist jedoch an ein strenges Regel / Ausnahmeverhältnis gebunden. Das verdeutlicht Erwägungsgrund 19 RL EEA: Die Schaffung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts innerhalb der EU beruht auf dem gegenseitigen Vertrauen sowie auf der Vermutung, dass andere Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die Grundrechte einhalten. Diese Vermutung ist jedoch widerlegbar. Wenn berechtigte Gründe für die Annahme bestehen, dass die Vollstreckung einer in der EEA angegebenen Ermittlungsmaßnahme einen Verstoß gegen ein Grundrecht der betreffenden Person zur Folge hätte und der Vollstreckungsstaat seine Verpflichtungen zum Schutz der in der GRCh anerkannten Grundrechte nicht achten würde, so sollte die Vollstreckung der EEA verweigert werden. Neben allgemeinen Erläuterungen benennt Erwägungsgrund 12 RL EEA einzelne Grundrechte. Speziell die Unschuldsvermutung sowie Verteidigungsrechte werden hervorgehoben: Die Anordnungsbehörde sollte beim Erlass einer EEA in besonderem Maße darauf achten, dass die in Art. 48 GRCh verankerten Rechte uneingeschränkt gewahrt werden. Die Unschuldsvermutung und die Verteidigungsrechte in Strafverfahren sind Eckpfeiler der Grundrechte, die in der GRCh im Bereich der Strafgerichtsbarkeit anerkannt werden. Jede Einschränkung derartiger Rechte durch eine nach dieser Richtlinie angeordnete Ermittlungsmaßnahme sollte in jeder Hinsicht den Anforderungen des Art. 52 GRCh hinsichtlich ihrer Erforderlichkeit, Verhältnismäßigkeit und ihrer Zielsetzungen, insbesondere dem Schutz der Rechte und Freiheiten anderer, entsprechen. Weiterhin schließt die RL EEA die Unterstützung einer rechtsstaatswidrigen Verfolgung aus. Gemäß Erwägungsgrund 39 RL EEA darf die Richtlinie nicht in dem Sinne ausgelegt werden, dass sie es verbietet, die Vollstreckung einer EEA zu versagen, wenn objektive Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die EEA zum Zwecke der Verfolgung oder Bestrafung einer Person wegen ihres Geschlechts, ihrer Rasse, ethnischen Herkunft, Religion, sexuellen 567 Der Verweis auch auf andere Rechtsinstrumente zur gegenseitigen Anerkennung kann der – im Rat geäußerten – Kritik entgegenwirken, dass das Fehlen eines entsprechenden Grundrechtsvorbehalts in anderen Rechtsinstrumenten zu einer Grundrechtsverletzung führen könnte.
3. Kap.: Die Europäische Ermittlungsanordnung171
Ausrichtung, Nationalität, Sprache oder ihrer politischen Überzeugungen erlassen wurde oder dass die Stellung dieser Person aus einem dieser Gründe beeinträchtigt werden kann. bb) Regelungen des Vorentwurfs Der Grundrechtsvorbehalt wurde auf Vorschlag des Europäischen Parlaments in die Richtlinie eingefügt. Der Vorentwurf enthielt keinen besonderen Versagungsgrund, woran sich eine scharfe Kritik an der Richtlinie insgesamt entzündete. Allgemein ist festzustellen, dass die Rechtsinstrumente zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung – wie etwa der RB EHB – trotz Novellierung noch immer keinen entsprechenden Vorbehalt enthalten. Dies lässt die Kritik zumindest insoweit fortbestehen. In der Tat ist der Vorentwurf hier missverständlich formuliert. Einerseits soll die Vollstreckung einer EEA nur aus den in dieser Richtlinie aufgeführten Gründen versagt werden, Erwägungsgründe 10a, 12 RL EEA (2011). Allein nach jenem Wortlaut würde es sich bei den Versagungsgründen um ein geschlossenes System handeln. Andererseits sind im Vorentwurf selbst einzelne Durchbrechungen vorgesehen. Gemäß Erwägungsgrund 17 RL EEA (2011)568 darf die Richtlinie nicht in dem Sinne ausgelegt werden, dass sie es verbietet, die Vollstreckung einer EEA zu versagen, wenn der Betroffene eine rechtsstaatswidrige Verfolgung im Anordnungsstaat zu befürchten hat. Dies entspricht dem traditionellen Rechtshilfehindernis der rechtsstaatswidrigen Verfolgung im Sinne eines ordre public.569 Darüber hinaus legt sich der Vorentwurf nicht weiter fest. Nach Art. 1 Abs. 3 RL EEA (2011) berührt die Richtlinie nicht die Verpflichtung zur Achtung der Grundrechte und der allgemeinen Rechtsgrundsätze gemäß Art. 6 EUV, und die Verpflichtungen der Justizbehörden in dieser Hinsicht bleiben unberührt. Dies kann jedoch nur deklaratorisch gemeint sein, vgl. auch Erwägungsgrund 17 RL EEA (2011).570 Als Sekundärrecht tritt die Richtlinie bereits aufgrund des Anwendungsvorrangs des Primärrechts hinter die Regelungen des EUV zurück.
568 Ebenfalls
enthalten in Erwägungsgrund 39 RL EEA. oben 2. Teil 1. Kapitel D. II. 1. b); Satzger bestreitet hingegen die Existenz eines europäischen ordre public-Vorbehalts bei der justiziellen Zusammenarbeit, Satzger, in: Streinz / Kruis / Michl (Hg.), EUV / AEUV-Kommentar, Art. 82 AEUV, Rn. 14. 570 Kotzurek, ZIS 2006, 123, 135, a. A. Ahlbrecht, NStZ 2006, 70, 73, nach Ahlbrecht wäre ein Verstoß ohne den Verweis formal möglich. 569 Siehe
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2. Teil: Darstellung
b) Allgemeine Diskussion über einen Grundrechtsvorbehalt aa) Rechtsprechung des EuGH zum RB EHB Rechtsprechung des EuGH zur Vollstreckungsversagung und zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung liegt überwiegend für den praxisrelevanten RB EHB vor. Insbesondere in seinem Urteil vom 29. Januar 2013 (Radu) – Az. C-396 / 11 – äußert sich der EuGH zur Vollstreckungsversagung und zu den Grundrechten. Die Mitgliedstaaten seien nach Art. 1 Abs. 2 RB EHB grundsätzlich verpflichtet, einen EHB zu vollstrecken.571 Ausnahmen würden im RB EHB abschließend aufgeführt: Die Vollstreckung eines EHB sei nur versagbar, wenn sie gemäß Art. 3 RB EHB abzulehnen sei oder gemäß Art. 4, 4a RB EHB abgelehnt werden könne. Außerdem könne die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung eines EHB nur an die in Art. 5 RB EHB angeführten Bedingungen knüpfen.572 Dies sei notwendig, um mit dem RB EHB in einem neuen vereinfachten und wirksameren Übergabeverfahren die justizielle Zusammenarbeit zu erleichtern und zu beschleunigen, um dadurch wiederum zur Verwirklichung des der Union gesteckten Ziels beizutragen, zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu werden.573 Die Grundrechte würden durch das im RB EHB vorgesehene Verfahren ausreichend berücksichtigt. Dennoch erkennt der EuGH an, dass Verstöße gegen die GRCh im Anordnungsstaat möglich seien. Der EuGH enthält sich hier jedoch eines obiter dictum und führt lediglich grundsätzlich an, dass im konkreten Fall die Vollstreckungsverweigerung eines EHB durch die Vollstreckungsbehörde nicht erforderlich sei zur Wahrung der Art. 47, 48 GRCh.574 bb) Grundrechtsvorbehalt ablehnende Ansicht Nach einer Ansicht beinhaltet kein Rechtsinstrument zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung einen Grundrechtsvorbehalt. Das System der Vollstreckungsversagungsgründe des RB EHB sei abschließend. Dies erge571 EuGH,
Urt. v. 29.1.2013, C-396 / 11, Radu, Rz. 35. Urt. v. 29.1.2013, C-396 / 11, Radu, Rz. 36; ebenso EuGH, Urt. v. 26.2.2013, C-399 / 11, Melloni, Rz. 38; EuGH, Urt. v. 1.12.2008, C-388 / 08, Leymann und Pustovarov, Slg. 2008 I-8993, Rz. 51; Urt. v. 16.11.2010, C-261 / 09, Mantello, Slg. 2010 I-1147, Rz. 36 f. 573 EuGH, Urt. v. 29.1.2013, C-396 / 11, Radu, Rz. 34; ebenso EuGH, Urt. v. 26.2.2013, C-399 / 11, Melloni, Rz. 37; EuGH, Urt. v. 1.12.2008, C-388 / 08, Leymann und Pustovarov, Slg. 2008 I-8993, Rz. 48 ff.; Urt. v. 28.6.2012, C-192 / 12, West, Rz. 53. 574 EuGH, Urt. v. 29.1.2013, C-396 / 11, Radu, Rz. 39. 572 EuGH,
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be sich insbesondere aus der Rechtsprechung des EuGH.575 Gleiches müsse für die RL EEA gelten. Dabei beziehen sich die Kritiker auf den Vorentwurf. Demgemäß sei es unzulässig, die Anerkennung oder Vollstreckung einer europäischen Anordnung mit dem Einwand des europäischen ordre public zu versagen. Der EU stehe es frei, die Grundsätze des Primärrechts bei ihrer Rechtssetzung auf verschiedene Weise zu berücksichtigen. Allein das Verfahren in seiner Gesamtheit müsse mit den Grundrechten im Einklang stehen.576 Die deutsche Vorschrift des § 73 S. 2 IRG sei europarechtswidrig.577 cc) Grundrechtsvorbehalt befürwortende Ansicht Nach anderer Ansicht gibt es sehr wohl einen Versagungsgrund des europäischen ordre public. Verletze eine Europäische Anordnung die genannten Grundrechte, setze deren Anerkennung und Vollstreckung diese Verletzung fort und vertiefe sie. Daher müsse eine entsprechende Vollstreckung versagt werden können.578 Insbesondere die Generalanwältin Sharpston vertritt in 575 Brodowski, HRRS 2013, 54, 54 ff., nach Brodowski verneint der EuGH, dass der ersuchte Staat die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls verweigern darf, selbst wenn dieser einen Verstoß gegen den europäischen ordre public darstellt; Gaede, NJW 2013, 1279, 1279 f., Gaede weist jedoch auch auf die Widersprüchlichkeit der Rechtsprechung des EuGH hin; abgeschwächt auch Schlussanträge des Generalanwalts Bot vom 2.10.2012, C-399 / 11, Melloni, Rz. 65. 576 Esser, in: Heinrich / Jäger / Achenbach / Amelung / Bottke / Haffke / Schünemann / Wolter (Hg.), FS-Roxin, 1497, 1510; Gleß, in: Sieber / Brüner / Satzger / von Heintschel-Heinegg (Hg.), Europäisches Strafrecht, 596, 605, Gleß zweifelt am ordre public-Vorbehalt; Vogler, in: Ruggeri (Hg.), Transnational inquiries, 27, 37; so auch Swoboda, HRRS 2014, 10, 14. 577 Brodowski, HRRS 2013, 54, 56; Swoboda, HRRS 2014, 10, 15, 17, Swoboda verweist dabei auf die Rechtsprechung des EuGH. Insgesamt leite der EuGH mit diesem Argumentationsgang nicht nur ein Absenken des grundrechtlichen Schutzniveaus ein, er bahne auch den Weg für eine Grundrechtsmethodik, die den Inhalt der Grund- und Freiheitsrechte „nach der Maßgabe der politisch befürworteten Europäisierung“ bestimme. 578 Herrnfeld, in: Schwarze / Becker / Bär-Bouyssière (Hg.), EU-Kommentar, Art. 67 AEUV, Rn. 24 f.; Vogel, in: Hilf / Nettesheim (Hg.), EUV, AEUV-Kommentar, Art. 82 AEUV, Rn. 22, 37, 38, nach Vogel ist eine Anerkennung um jeden Preis mit dem Grundsatzcharakter des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung unvereinbar; Stefanopoulou, JR 2011, 54, 58; Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 132; Hecker, Europäisches Strafrecht, 463; Böse, in: Maiwald / Momsen / Bloy / Rackow (Hg.), FS-Maiwald, 233, 241; Böse, in: Schwarze / Becker / Bär-Bouyssière (Hg.), EUKommentar, Art. 82 AEUV, Rn. 16; Böse, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 965, 976; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 174 f.; Sarmiento, CMLR 2013, 1267, 1293 f.; vgl. zum RB EHB: Burchard, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 537, 564 ff.
174
2. Teil: Darstellung
ihren Schlussanträgen vom 18. Oktober 2012 in der Rechtssache C-396 / 11 (Radu) vor dem EuGH diese Ansicht.579 Dabei verweist sie auf das SoeringUrteil des EGMR: Im Auslieferungsverfahren liege ein tatbestandlicher Verstoß gegen Art. 6 EMRK vor bei offenkundiger Verweigerung eines fairen Prozesses.580 Sharpston überträgt die Rechtsprechung des EGMR zur Auslieferung auf das Übergabeverfahren des RB EHB. Liege ein solcher Verfahrensmangel, welcher die Fairness des Verfahrens fundamental zerstöre, bei oder nach dem Übergabeverfahren vor oder drohe dieser in Zukunft, könne die Vollstreckungsbehörde die Vollstreckung eines EHB in Ausnahmefällen ablehnen.581 Das OLG München teilt diese Auffassung. Zudem widerspricht es in seinem Beschluss vom 15. Mai 2013 – Az. OLG Ausl. 31 Ausl. A 442 / 13 (119 / 13) – der erstgenannten Ansicht, dass der EuGH in seiner Rechtsprechung einen Grundrechtsvorbehalt für den RB EHB ausgeschlossen habe:582 […] dem EuGH dürfe nicht unterstellt werden, er wolle nationale Gerichte und Behörden zwingen, Europäische Haftbefehle auch dann zu vollstrecken, wenn sie oder die strafrechtlichen Verfahren, die ihnen zugrunde liegen, nachweislich auf einer Verletzung von Rechten beruhen, die in der GRCh oder der EMRK gewährleistet sind. Nach Ansicht des OLG ignorieren solche Lesarten […] der Entscheidungen des EuGH das kooperative Miteinander zwischen dem EuGH und dem BVerfG, da sie den Grundrechtsschutz der Mitgliedstaaten in einer Weise gefährden, welche deren Verfassungidentität (auch des deutschen GG) verletzt. Eine solche Rechtsprechung wäre dann in Übereinstimmung mit jener des BVerfG583 offensichtlich als ultravires-Akt zu beurteilen. Staaten dürften nicht die Hand zu nachweislichen Menschenrechtsverletzungen anderer Staaten reichen, auch und gerade nicht innerhalb der EU, die eine Rechts- und Wertegemeinschaft sei, und auch nicht unter dem Deckmantel der gegenseitigen Anerkennung.584 579 Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston vom 18.10.2012, C-396 / 11, Radu, Rz. 44 ff., 69 f., 73, nach Sharpston folgt aus Art. 1 Abs. 3 RB EHB, dass diese Grundrechte im Rahmen der Begründung einer Entscheidung, einen Haftbefehl nicht zu vollstrecken, berücksichtigt werden können. Bei einer gegenteiligen Auslegung von Art. 1 Abs. 3 bestände die Gefahr, dass diese Vorschrift – außer vielleicht als elegante Plattitüde – keinerlei Bedeutung habe (Rz. 70). 580 Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston vom 18.10.2012, C-396 / 11, Radu, Rz. 75, Sharpston empfindet den Begriff offenkundig (flagrant) allein jedoch für zu nebulös, um in der gesamten Union einheitlich ausgelegt zu werden (Rz. 82). 581 Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston vom 18.10.2012, C-396 / 11, Radu, Rz. 83, 97. 582 OLG München StV 2013, 710, 711; Sarmiento, CMLR 2013, 1267, 1293 f. 583 BVerfG BVerfGE 123, 267, 396 f.; NJW 2013, 1499, 1501. 584 OLG München StV 2013, 710, 711, das OLG sieht andernfalls im Hinblick auf Art. 6 EUV und Art. 23 GG eine Vorlagefrage für das BVerfG.
3. Kap.: Die Europäische Ermittlungsanordnung175
c) Eigene Stellungnahme Der Grundrechtsschutz in der EU bestimmt sich nach Art. 6 EUV, auf den auch Art. 1 Abs. 4 RL EEA verweist. Hierzu gehören zum einen als Primärrecht insbesondere die GRCh, Art. 6 Abs. 1 EUV, zum anderen die Grundrechte, wie sie in der EMRK gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben (Abs. 3).585 Das Recht der EU wird daher maßgeblich von der EMRK beeinflusst. Aufgrund des besonderen Verhältnisses zwischen GRCh und der EMRK ist auch die Rechtsprechung des EGMR bei der Auslegung der GRCh zu beachten.586 Der Generalanwältin Sharpston ist zuzustimmen, wenn sie sich auf das Urteil des EGMR vom 7. Juli 1989 – Az. 14038 / 88 (Soering-Urteil) – stützt. Das Soering-Urteil hat grundlegende Bedeutung für den Bereich der Rechtshilfe. Bei Auslegung der EMRK entwickelte der EGMR zum einen eine Verhältnismäßigkeitsprüfung im Hinblick auf die Zusammenarbeit aller Nationen bei der Strafverfolgung. Zum anderen formuliert er die Voraussetzungen für die Annahme eines diesbezüglichen Grundrechtsverstoßes. Im konkreten Fall wies der EGMR darauf hin, dass die Auslegung des Begriffs der „unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung“ nach Art. 3 EMRK sowohl einzelfallbezogen sei als auch eine Abwägung zwischen Kollektiv- und Individualinteressen beinhalte. Der EMRK liege insgesamt die Suche nach einem fairen Ausgleich (fair balance) zwischen dem Allgemeininteresse der Gemeinschaft und den Anforderungen für den Schutz der Grundrechte des Einzelnen zugrunde. Bei der Auslegung des Art. 3 EMRK müsse daher berücksichtigt werden, dass die weltweit vereinfachte Mobilität und die internationale Dimension der Kriminalität zu einem wachsenden Interesse aller Nationen, dass Tatverdächtige, die ins Ausland fliehen, der Justiz überstellt werden (should be brought to justice), geführt hätten. Zu berücksichtigen sei auch, dass bei Versagung einer solchen Unterstützung sichere Zufluchtstätten (safe havens) für Flüchtige entständen, welche nicht nur den ersuchten Staat gefährden würden, sondern auch geeignet seien, die Grundlagen der Auslieferung zu untergraben.587 Dem Ziel der Integration in die internationale Staatengemeinschaft zur Verfolgung von internationaler Kriminalität räumt diese Rechtsprechung einen besonderen Stellenwert ein. 585 Jarass,
in: Jarass (Hg.), GRCh-Kommentar, Einleitung, Rn. 1, 9. oben 2. Teil 4. Kapitel D. IV. 1. 587 EGMR, Urt. v. 7.7.1989, Soering . / . Vereinigtes Königreich, Az. 14038 / 88, EGMR-E 4, 376, Rz. 89. 586 Siehe
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2. Teil: Darstellung
Der fair balance-Gedanke des Soering-Urteils findet sich ebenso auf Unionsebene. Das EU-Recht – wozu auch die GRCh gehört – ist gleichfalls von einem eigenen Systemgedanken geprägt. Bei seiner Auslegung ist immer der effet utile zu beachten. Dies gilt im Wirtschaftsrecht für das Ziel der Verwirklichung eines Binnenmarkts ebenso wie im Bereich der Strafverfolgung für das Ziel der Verwirklichung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Letzterem dient auch das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung.588 Bei der Anwendung von Primärrecht muss das Verhältnis einzelner Regelungen untereinander berücksichtigt werden. Hierzu gehören das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, jedoch auch die Prinzipien der Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten (Art. 4 Abs. 2 EUV), der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit (Art. 5 EUV) sowie der Achtung der Grundrechte (Art. 6 EUV). Im Kollisionsfall ist zwischen diesen Grundsätzen eine praktische Konkordanz herzustellen.589 Sowohl aus der Rechtsprechung des EGMR als auch aus dem EU-Primärrecht ergibt sich, dass nicht jede Beeinträchtigung der Grundrechte zu einem Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren führt, vgl. Art. 6 EMRK, Art. 47 Abs. 2 S. 1 GRCh. Die Rechtsprechung des EGMR bietet wiederum Anhaltspunkte, wann im Rahmen der bereits genannten Abwägung ein solcher Verstoß vorliegt. Im Soering-Urteil führt der EGMR aus, dass eine Auslieferung – und jede andere Rechtshilfeleistung – das Recht auf ein faires Verfahren aus Art. 6 EMRK beeinträchtigen kann. Eine solche Verletzung sei bei der Auslieferung in den Fällen denkbar, in denen der flüchtige Straftäter im ersuchenden Staat eine offenkundige Verweigerung eines fairen Prozesses (flagrant denial of a fair trial) erfahren musste oder hierfür ein Risiko besteht.590 In seinem Urteil vom 17. Januar 2012 – Az. 8139 / 09 (Othman) – präzisierte der EGMR diese Formel. Danach ist der Begriff „offenkundige Verweigerung eines fairen Verfahrens“ gleichbedeutend mit einem Verfahren, das den Vorschriften des Art. 6 EMRK oder den darin verkörperten Grundsätzen offensichtlich widerspricht.591 Dies bestimme sich wiederum nach dem Einzelfall. Ein solcher offensichtlicher Verstoß kann jedoch insbesondere bei fünf Fallgruppen in Betracht kommen. Hierzu gehören: 588 Siehe
oben 2. Teil 2. Kapitel D. in: Hilf / Nettesheim (Hg.), EUV, AEUV-Kommentar, Art. 82 AEUV, Rn. 22; Böse, in: Schwarze / Becker / Bär-Bouyssière (Hg.), EU-Kommentar, Art. 82 AEUV, Rn. 6, 13; Jarass, in: Jarass (Hg.), GRCh-Kommentar, Einleitung, Rn. 10. 590 EGMR, Urt. v. 7.7.1989, Soering . / . Vereinigtes Königreich, Az. 14038 / 88, EGMR-E 4, 376, Rz. 113, vgl. Gleß, ULR 2013, 90, 93. 591 EGMR, Urt. v. 17.1.2012, Othman . / . Vereinigtes Königreich, Az. 8139 / 09, NLMR 2012, 15, Rz. 258 f.; vgl. Gleß, ULR 2013, 90, 102. 589 Vogel,
3. Kap.: Die Europäische Ermittlungsanordnung177
• Abwesenheitsurteile ohne Möglichkeit, diese in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht überprüfen zu lassen (fresh determination of the merits of the charge)592 • Strafverfahren, welche summarischer Natur sind und unter der völligen Missachtung der Verteidigungsrechte des Angeklagten (total disregard for the rights of the defence) geführt werden593 • Inhaftierung einer Person wegen des Verdachts der Begehung einer strafbaren Handlung, ohne dass ihr Zugang zu einem unabhängigen und unparteiischen Gericht gewährt wird, um die Rechtmäßigkeit der Haft prüfen zu lassen und eine Freilassung zu erlangen, wenn sich der Verdacht als unbegründet erweist594 • willkürliche und systematische Verweigerung des Zugangs zu einem Anwalt, vor allem für einen in einem fremden Land Inhaftierten595 • Strafverfahren, in denen erfolterte Beweise zugelassen werden (admission of torture evidence)596 Der Begriff der „offenkundigen Verweigerung eines fairen Verfahrens“ müsse streng ausgelegt werden. Für seine tatbestandliche Einschlägigkeit gelte eine hohe Schwelle, welche die ständige Rechtsprechung des EGMR in 22 Jahren seit der Begriffseinführung niemals als überschritten erkannt habe. Erst der vorliegende Fall Othman erfülle dieses Kriterium. Nicht ausreichend für einen solchen Verstoß gegen das faire Verfahren wären bloße Unregelmäßigkeiten oder fehlende Sicherungen im Verfahren, die zu einer Verletzung von Art. 6 EMRK führen könnten, wenn sie im Konventionsstaat selbst auftreten würden. Erforderlich sei vielmehr ein Verstoß, der so grundlegend (fundamental) sei, dass er einer Zerstörung des Wesensgehalts des durch Art. 6 EMRK garantierten Rechts gleichkomme.597 Zwar hat der EGMR diese Überlegungen zum Auslieferungsverfahren entwickelt. Jedoch enthalten sie allgemeine Rechtsgedanken für alle Bereiche der Rechtshilfe. Die offenkundige Verweigerung eines fairen Verfahrens stellt daher ein Rechtshilfehindernis auch für die Beweisrechtshilfe dar. 592 EGMR, Urt. v. Einhorn . / . Frankreich, Az. 71555 / 01, Rz. 33; Sejdovic . / . Italien, Az. 56581 / 00, Rz. 84; Stoichkov . / . Bulgarien, Az. 9808 / 02, Rz. 56. 593 EGMR, Urt. v. 8.11.2005, Bader u. Kanbor . / . Schweden, Az. 13284 / 04, Rz. 47. 594 EGMR, Urt. v. 20.2.2007, Al-Moayad . / . Deutschland, Az. 35865 / 03, Rz. 101. 595 EGMR, Urt. v. 20.2.2007, Al-Moayad . / . Deutschland, Az. 35865 / 03, Rz. 101. 596 EGMR, Urt. v. 17.1.2012, Othman . / . Vereinigtes Königreich, Az. 8139 / 09, NLMR 2012, 15, Rz. 267. 597 EGMR, Urt. v. 17.1.2012, Othman . / . Vereinigtes Königreich, Az. 8139 / 09, NLMR 2012, Rz. 233, 260.
178
2. Teil: Darstellung
Dies gilt auch für das Vollstreckungsverfahren nach dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung. Rechtsinstrumente zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung sollen zu allererst einen Ausgleich zwischen den Grundrechten und dem Interesse an einer effektiven transnationalen Strafverfolgung herstellen. Hierfür ist ein Grundrechtsvorbehalt prinzipiell nicht erforderlich. Eine Ausnahme besteht jedoch, wenn es sich im Ausgangsverfahren um ein offensichtlich rechtsstaatswidriges Verfahren handelt. Dies lässt sich im Vollstreckungsverfahren nicht mehr ausgleichen. Für diesen Fall ergibt sich aus den Grundrechten ein Vollstreckungsversagungsgrund im Sinne eines europäischen ordre public für die RL EEA, den RB EHB und alle sonstigen Rechtsinstrumente zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung. Um den Ausnahmecharakter der Versagung und die Einheitlichkeit des Grundrechteschutzes zu gewährleisten, sollten sich die Vollstreckungsbehörden und die angerufenen Gerichte an der bisherigen Rechtsprechung des EuGH und des EGMR orientieren.598 Die Grundrechte gelten auch ohne ausdrückliche Erwähnung im Sekundärrecht, weshalb ein ausdrücklicher Grundrechtsvorbehalt entbehrlich ist; verstößt ein Rechtsakt der EU gegen Grundrechte, ist er rechtswidrig.599 7. Nationaler ordre public Fraglich ist, ob die Anerkennung oder Vollstreckung einer EEA wegen eines Verstoßes gegen wesentliche Rechtsgrundsätze des Vollstreckungsstaats versagt werden darf, ob mithin ein nationaler ordre public einwendbar ist. Nach der Richtlinie ist dieser Fall lediglich für Vernehmungen eines Verdächtigen oder Beschuldigten per Videokonferenz oder sonstiger audiovisueller Übertragung nach Art. 24 Abs. 2 lit. b RL EEA ausdrücklich geregelt. Danach liegt ein Versagungsgrund vor, wenn die Durchführung dieser Ermittlungsmaßnahme in einem spezifischen Fall im Widerspruch zu den wesentlichen Rechtsgrundsätzen des Vollstreckungsstaats stünde. Weitere Anwendungsfälle sind jedoch nicht vorgesehen. Nach dem Urteil des EuGH vom 26. Februar 2013, Rs. C-399 / 11 (Melloni) kann ein Mitgliedstaat keine europäische Anordnung (hier einen EHB) wegen Verletzung einer in seiner Verfassung enthaltenen besonderen Verfahrensgarantie (Recht auf ein faires Verfahren und die Verteidigungsrechte) ablehnen. Eine solche Ablehnung würde, indem die Einheitlichkeit des europäischen [in diesem Fall: des im RB EHB festgelegten] GrundSkouris, in: Leutheusser-Schnarrenberger (Hg.), FS-EMRK, 83, 95. dieser Begründung hat der EuGH die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung für ungültig erklärt, EuGH, Urt. v. 8.4.2014, C-293 / 12, Digital Rights Ireland, Rz. 73. 598 Vgl. 599 Mit
3. Kap.: Die Europäische Ermittlungsanordnung179
rechtsschutzstandards in Frage gestellt wird, zu einer Verletzung der Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung führen, welche das jeweilige Sekundärrecht [hier: der RB EHB] stärken sollen, und daher die Wirksamkeit dieses Sekundärrechts [hier: des RB EHB] beeinträchtigen.600 In seinen Schlussanträgen vom 2. Oktober 2012 führt der Generalanwalt Bot hierzu aus, dass sich der Standard für den Schutz des Rechts auf ein faires Verfahren aus der Rechtsprechung des EGMR ergebe. Justizbehörden, welche diese Rechtsprechung ignorierten, würden auch den Schutzstandard selbst ernstlich in Frage stellen.601 Wie schon oben ausgeführt,602 setzt sich die Richtlinie mit dem nationalen ordre public bereits im Vollstreckungsverfahren auseinander. Eine Versagung der Anerkennung oder Vollstreckung mit Hinweis auf wesentliche Rechtsgrundsätze allein der deutschen Rechtsordnung gemäß § 73 S. 1 IRG ist damit unzulässig.603 V. Ungeschriebene Versagungsgründe 1. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit a) Vorbemerkungen Im traditionellen Rechtshilferecht gilt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Rechtshilfeleistung. Die mit dem Ersuchen gewünschte Ermittlungsmaßnahme darf nicht außer Verhältnis stehen zu dem Fehlverhalten, welches dem Ersuchen zugrunde liegt.604 600 EuGH, Urt. v. 26.2.2013, C-399 / 11, Melloni, Rz. 63; Schlussanträge des Generalanwalts Bot vom 2.10.2012, C-399 / 11, Melloni, Rz. 102 f.; Kotzurek, ZIS 2006, 123, 135; ähnlich Esser, ZEuS 2004, 289, 303 f. 601 Schlussanträge des Generalanwalts Bot vom 2.10.2012, C-399 / 11, Melloni, Rz. 102 f., nach Bot ermutigt die Schaffung eines Systems der variablen Geometrie dieser Art im Übrigen Straftäter, in den Mitgliedstaaten Zuflucht zu suchen, deren Verfassungsnormen einen besseren Schutz als die anderer bieten, und somit die Wirksamkeit des Rahmenbeschlusses beeinträchtigen. 602 Siehe oben 2. Teil 3. Kapitel D. I. 3. 603 Kritisch Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 132 f., Mavany relativiert seine Kritik mit Hinweis auf die bedingte Bedeutung eines nationalen ordre public. Erfasst seien nur Extremfälle wie die Androhung von Todesstrafe und lebenslanger Freiheitsstrafe. In der EU seien diese Fälle jedoch nicht existent. Hier bestände ein flächendeckender Standard, der für einen nationalen ordre public de facto keinen Anwendungsbereich zulasse; für den EHB zustimmend Burchard, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 537, 564; vgl. Böse, ZIS 2014, 152, 154 f. 604 Siehe oben 2. Teil 1. Kapitel D. I. 4.
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2. Teil: Darstellung
In der Praxis stellt die Gefahr der Unverhältnismäßigkeit von Rechtshilfeleistungen einen der größten Kritikpunkte der gegenseitigen Anerkennung dar. Die regelmäßige Evaluierung der Überstellungsverfahren nach dem RB EHB zeigt, dass die Justizbehörden einiger Mitgliedstaaten bei Anordnung eines EHB den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz außer Acht lassen. Zwar sei das Rechtsinstrument des EHB für schwerwiegende Kriminalität gedacht und werde so im Allgemeinen auch eingesetzt. In manchen Ländern werde es jedoch auch zur Verfolgung von Bagatellkriminalität genutzt. Besonders fragwürdig sei die Ausstellungspraxis in Rumänien und Bulgarien. Insoweit bestehe der Verdacht des Missbrauchs des EHB. Die Missachtung einer etwaigen Erheblichkeitsschwelle zeige sich sowohl an der Quantität als auch der Qualität eingehender Ersuchen. Die Fülle von EHB aus jenen beiden Ländern stehe im umgekehrten Verhältnis zur Bedeutung der Straftaten, auf die sie gestützt seien. Kleinkriminalität – jedenfalls nach herkömmlichen Maßstäben – sei in der Überzahl vertreten, mittlere und schwere Kriminalität dagegen eher selten.605 Allerdings falle auch Deutschland bisweilen wegen Unterschreitung der Erheblichkeitsschwelle auf, welche dem EHB immanent sei. Nach Auffassung jener Kritiker gehörten hierzu vor allem die Eigentums- und Drogendelikte.606 In der traditionellen Rechtshilfe liegt bei Unverhältnismäßigkeit ein Rechtshilfehindernis vor. Fraglich ist, ob dies auch für das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung gilt. Zu unterscheiden sind hier das Verfahren nach dem RB EHB und der RL EEA. Beide Rechtsinstrumente enthalten expressis verbis keinen entsprechenden Versagungsgrund. b) Annahme eines generellen Versagungsgrunds Auch im RB EHB ist kein entsprechender Versagungsgrund vorgesehen. Teilweise wird hier jedoch vertreten, dass bei Unverhältnismäßigkeit des EHB dessen Vollstreckung abzulehnen sei. Insbesondere in Deutschland ist diese Meinung weit verbreitet. Das OLG Stuttgart befürwortet in seinem 605 Allegrezza, ZIS 2010, 569, 578; Fichera, European arrest warrant, 172; Harms / Knauss, in: Heinrich / Jäger / Achenbach / Amelung / Bottke / Haffke / Schünemann / Wolter (Hg.), FS-Roxin, 1479, 1492 f.; hierzu auch Weis, NJECL 2011, 124, 124 ff.; Blackstock, NJECL 2010, 16, 20 ff.; The General Council of the Bar of England & Wales, Stellungnahme zum Grünbuch, 7, 11; Vogler, in: Ruggeri (Hg.), Transnational inquiries, 387, 395, Vogler nennt hier insbesondere Polen; Mangiaracina, ULR 2014, 113, 125 f.; Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston vom 18.10.2012, C-396 / 11, Radu, Rz. 60 f. 606 Gomes / Fernandes / Borges Reis, in: De Sousa Santos / Gomes (Hg.), EAW, 63, 100; Oubina Barbolla / González Vega, in: De Sousa Santos / Gomes (Hg.), EAW, 473, 570 ff.
3. Kap.: Die Europäische Ermittlungsanordnung181
Beschluss vom 25. Februar 2010 – Az. 1 Ausl (24) 1246 / 09 – eine solche Verhältnismäßigkeitsprüfung.607 Dazu führt es aus, dass bei der Abwägung die Belastung des Verfolgten durch Inhaftnahme und Auslieferung, der mit dem Auslieferungsverfahren verbundene Aufwand und das Verfolgungsinteresse des Ausstellungsmitgliedstaats zu berücksichtigen seien. Auslieferungshaft sei insbesondere unverhältnismäßig bei Bagatellen. Zudem würden zahlreiche Mitgliedstaaten den EHB unter Missachtung der Verhältnismäßigkeit als Vorführbefehl verwenden. Stattdessen könnten Verfolgte dem ersuchenden Staat auch durch Ladung und Vernehmung im Rechtshilfeweg zur Verfügung stehen. Es sei zwar rechtspolitisch bedauerlich, wenn das Unionsrecht keine milderen Maßnahmen als die Auslieferung zur Vernehmung biete, dies dürfe jedoch nicht zum missbräuchlichen Einsatz des EHB führen.608 Ebenso sprachen sich im Fall Radu die deutschen Vertreter vor dem EuGH für einen entsprechenden Ablehnungsgrund aus. Fordere ein Mitgliedstaat die Vollstreckung eines EHB wegen einer gestohlenen Gans und drohe dort eine Freiheitsstrafe von sechs Jahren, sei die Vollstreckung des EHB im Einklang mit Art. 49 Abs. 3 GRCh zu versagen.609 Laut Böse prüft die Vollstreckungsbehörde die Verhältnismäßigkeit einer EEA und kann deswegen deren Vollstreckung ablehnen. Nach einer summarischen Prüfung des Tatverdachts anhand der übermittelten Anordnungsgründe sei auch die Verhältnismäßigkeit nach innerstaatlichen Recht zu prüfen. Art. 6 Abs. 3 RL EEA erlaube es, Unklarheiten im Rahmen einer Konsultation der Anordnungsbehörde zu klären. Scheitere dies, müsse die Vollstreckungsbehörde die Vollstreckung der EEA nach Art. 10 Abs. 5 RL EEA ablehnen. Dieser Versagungsgrund müsse immer bestehen, da der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zugleich Bestandteil des europäischen ordre public sei, der auch bei der Vollstreckung der Ermittlungsanordnung zu beachten sei.610 c) Ablehnung eines generellen Versagungsgrunds Gegen einen entsprechenden Versagungsgrund für die Vollstreckung einer unverhältnismäßigen EEA spricht der klare Wortlaut der Richtline. Danach 607 OLG
Stuttgart NJW 2010, 1617. Stuttgart NJW 2010, 1617, 1619. 609 Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston vom 18.10.2012, C-396 / 11, Radu, Rz. 103; Heard / Mansell, NJECL 2011, 353, 365; Allegrezza, ZIS 2010, 569, 578; Schomburg / Lagodny / Schallmoser, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 495, 524; Gleß, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 611, 627. 610 Böse, ZIS 2014, 152, 159; Bachmaier Winter, in: Ruggeri (Hg.), Transnational inquiries, 85, 104 f. 608 OLG
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2. Teil: Darstellung
soll die Anordnungsbehörde die Verhältnismäßigkeit des Erlasses einer EEA prüfen. Eine eigene Prüfungsobliegenheit der Vollstreckungsbehörde wird nicht statuiert.611 Bei mangelnder Verhältnismäßigkeit einer EEA sieht so auch ein Teil der Literatur keinen Versagungsgrund.612 Gleiches gilt für den RB EHB. In einigen Fällen lehnten deutsche Justizbehörden dennoch unter Hinweis auf fehlende Verhältnismäßigkeit gemäß Art. 73 IRG die Vollstreckung eines EHB tatsächlich ab. Innerhalb der EU wird diese Haltung allerdings kritisiert, da sie dem Grundsatz gegenseitigen Vertrauens des EHB widerspreche und eine Öffnungsklausel für vage und unvorhersehbare Vollstreckungshindernisse schaffe.613 d) Eigene Stellungnahme Der letzten Ansicht ist zuzustimmen, dass ein genereller Versagungsgrund wegen mangelnder Verhältnismäßigkeit nicht besteht. Weder die RL EEA noch der RB EHB enthalten einen entsprechenden Versagungsgrund. Zu kritisieren bleibt, dass das Verfahren nach dem RB EHB in seiner gegenwärtigen Form nicht dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht. Die Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Ausstellung eines EHB sind unterschiedlich ausgestaltet. Während in vielen Mitgliedstaaten eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vor Erlass eines EHB stattfindet, halten andere Mitgliedstaaten diese für überflüssig. Zudem enthalten weder der RB EHB noch das sonstige EU-Recht einheitliche Kriterien für eine entsprechende Prüfung.614 Hierbei wäre an eine planwidrige Regelungslücke zu denken, da die EU von einheitlichen Standards ausgegangen ist. Fraglich ist allerdings, inwieweit sich die Situation im Auslieferungsrecht auf die sonstige Rechtshilfe überhaupt übertragen lässt.615 611 Siehe
oben 2. Teil 3. Kapitel C. II. 2. ZIS 2010, 569, 578; Krüßmann, Transnationales Strafprozessrecht, 606; Ruggeri, ZStW 2013, 407, 420. 613 Evaluationsbericht, Ratsdok. 7058 / 2 / 09 REV 2, 44; Abschlussbericht, Ratsdok. 8302 / 4 / 09 REV 4, nach dem Rat scheint es einen großen Konsens (jedoch keine Einstimmigkeit) zwischen den Mitgliedstaaten darüber zu geben, dass eine Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht bei den Vollstreckungsbehörden durchgeführt werden sollte, 15; Bericht der Kommission vom 11.4.2011, KOM(2011) 175 endgültig, 8. 614 Abschlussbericht, Ratsdok. 8302 / 4 / 09 REV 4, Allegrezza, ZIS 2010, 569, 577; Ruggeri, ZStW 2013, 407, 415. 615 The General Council of the Bar of England & Wales, Stellungnahme zum Grünbuch, 7, 11; Allegrezza, ZIS 2010, 569, 578. 612 Allegrezza,
3. Kap.: Die Europäische Ermittlungsanordnung183
Zunächst gibt es gar keine Regelungslücke. Zwar enthält auch die RL EEA keinen entsprechenden Versagungsgrund. Doch wurde die Frage der Verhältnismäßigkeit in den Ratsverhandlungen diskutiert. Als Ergebnis dieser Verhandlungen wurde ein spezifischer Erwägungsgrund aufgenommen, um den Bedenken einiger Delegationen Rechnung zu tragen, dass Art. 6 RL EEA faktisch einen versteckten Versagungsgrund darstellen könne.616 Nach Erwägungsgrund 11 RL EEA zählt die Richtlinie die Versagungsgründe abschließend auf. Die Verhältnismäßigkeit bei Anerkennung und Vollstreckung einer EEA könne auch mit der Wahl einer weniger eingreifenden Maßnahme durch die Vollstreckungsbehörde gewahrt werden. Zudem gibt die Richtlinie weitere klare Vorgaben für das Verhalten der Vollstreckungsbehörde. Eine EEA unterliegt so anderen Voraussetzungen als ein EHB. Auf die Kritik am RB EHB hat die EU reagiert und für eine EEA eine Verhältnismäßigkeitsprüfung im Anordnungsverfahren normiert, Art. 6 Abs. 1 lit. a RL EEA.617 Zwar bestehen noch immer keine einheitlichen Auslegungskriterien, doch können sich diese auch durch entsprechende Anleitungen ergeben. Die Richtlinie selbst bietet für denkbare Missbräuche zum Zwecke von Ermittlungsmaßnahmen618 mit Erwägungsgrund 26 RL EEA ein gutes Beispiel. Danach hat die Anordnungsbehörde eine erhöhte Prüfungsobliegenheit. Um die Verhältnismäßigkeit der Verwendung eines EHB zu gewährleisten, sollte die Anordnungsbehörde prüfen, ob eine EEA ein wirksames und verhältnismäßiges Mittel zur weiteren Strafverfolgung wäre. Die Vernehmung einer verdächtigen oder beschuldigten Person mittels Videokonferenz sei hier meistens vorzugswürdig. Durch diese Absicherungen werde ein weitergehender Versagungsgrund entbehrlich. Weiter ermöglicht das Konsultationsverfahren nach Art. 6 Abs. 3 RL EEA, dass die Anordnungsbehörde eine EEA auf Rüge der Unverhältnismäßigkeit zurücknimmt. Gemäß Art. 6 Abs. 3 RL EEA konsultiert die Vollstreckungsbehörde die Anordnungsbehörde über die Unerlässlichkeit der Vollstreckung der EEA, wenn sie Grund zur Annahme hat, dass die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 RL EEA nicht erfüllt sind. Diese Konsultation gibt der Anordnungsbehörde Gelegenheit, ihre EEA zurückzuziehen. Im Übrigen lässt sich der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ebenso wie der ordre public auch anders wahren als durch einen Versagungsgrund. Die Richtlinie enthält verschiedene Korrektive, welche eine Hürde gegen Missbrauch und Willkür darstellen. Seine Grenzen findet das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung zum einen (teilweise) im Katalog der beiderseitigen 616 Vermerk des Vorsitzes des Rates vom 19.4.2011, Ratsdok. 8474 / 11 COPEN 67, 13 Fn. 6. 617 Siehe oben 2. Teil 3. Kapitel C. II. 2. 618 Vernimmen-Van Tiggelen / Surano, Future of mutual recognition, 9 f.
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2. Teil: Darstellung
Strafbarkeit,619 zum anderen im Prozessrecht der einzelnen Mitgliedstaaten.620 Die Vollstreckungsbehörde ist nicht verpflichtet, auch ohne diese Voraussetzungen eine Ermittlungsmaßnahme zu vollstrecken. Hingegen sollte es ihr nicht auch zustehen, bereits die Ermessensentscheidung der Anordnungsbehörde selbst zu hinterfragen oder gar an ihrem innerstaatlichen Rechtsmaßstab zu messen. Aufgrund der Unterschiede der Prozesssysteme und Rechtstraditionen in den Mitgliedstaaten würde dies die Rechtseinheit und die Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung unterlaufen. Hier gilt der Vertrauensgrundsatz.621 Das Strafrecht etwa von Rumänien und Bulgarien enthält teilweise drakonische Strafen für den Diebstahl von Hühnern, Pferden, Feuerholz, Stromleitungen und Schrott. Dieser Umstand mag zwar der Armut und sozialistischen Tradition osteuropäischer Neumitglieder zuzuschreiben sein, wirkt jedoch im System des EHB anachronistisch.622 Indes sollte jene Reformbedürftigkeit einzelner Strafrechtsordnungen nicht zu Versagungsgründen führen, welche die Rechtseinheit einer Regelung zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung gefährden. Auch andere Mitgliedstaaten – wie etwa Deutschland im Betäubungsmittel- und Verkehrsstrafrecht – pflegen bestimmte Straftaten unnachsichtig zu verfolgen. Nur bei offensichtlicher Unverhältnismäßigkeit sollte ein Versagungsgrund bestehen. Jedoch sollte bei derart schwerwiegenden Mängeln auf den Grundsatz des europäischen ordre public direkt zurückgegriffen werden. 2. Formfehler Unklar ist, wie im Vollstreckungsverfahren mit unvollständigen oder fehlerhaften Anordnungen umgegangen werden soll. So ist etwa fraglich, ob bereits ein besonderer Versagungsgrund vorliegt, wenn die EEA einen Formfehler aufweist, insbesondere wenn das erforderliche Formblatt unrichtig oder unvollständig ausgefüllt wurde. Ein entsprechender Versagungs619 Siehe
oben 2. Teil 2. Kapitel C. oben 2. Teil 3. Kapitel D. I., E. IV. 3. 621 Vgl. EuGH, Urt. v. 26.2.2013, C-399 / 11, Melloni, Rz. 63; ein Negativbeispiel bildet hier Großbritannien. Ein EHB wird hier nur nachlässig vollstreckt und unverhältnismäßig häufig abgelehnt. Ersuchen werden hier in einem unüblichen Maße in Frage gestellt und Informationen nachgefordert, Gomes / Fernandes / Borges Reis, in: De Sousa Santos / Gomes (Hg.), EAW, 63, 100 f.; Oubina Barbolla / González Vega, in: De Sousa Santos / Gomes (Hg.), EAW, 473, 576 f. 622 Gomes / Fernandes / Borges Reis, in: De Sousa Santos / Gomes (Hg.), EAW, 63, 100; Oubina Barbolla / González Vega, in: De Sousa Santos / Gomes (Hg.), EAW, 473, 570 ff.; pauschalisierend Paeffgen, ZIS 2013, 80, 93. 620 Siehe
3. Kap.: Die Europäische Ermittlungsanordnung185
grund ist ausdrücklich nicht aufgeführt. Es handelt sich um keine Regelungslücke, da über dessen Einführung im Rat verhandelt wurde. Vorgeschlagen wurde hier, die Vollstreckung einer EEA zu versagen, wenn nur unzureichende Informationen zu den Beweismitteln gegeben wurden.623 Ein entsprechender Verweigerungsgrund ist in der traditionellen Rechtshilfe bekannt, vgl. Art. 7 Abs. 15 lit. a i. V. m. Abs. 10 VN-SuchstoffÜbk.624 Andere Rechtsinstrumente zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung enthalten ebenfalls eine entsprechende Klausel.625 In der Richtlinie gibt es gleichfalls Regelungen, die letztendlich einer Vollstreckungsversagung gleichstehen. Die Vollstreckungsbehörde gibt eine eingehende EEA an den Anordnungsstaat zurück, falls diese nicht von einer Anordnungsbehörde im Sinne des Art. 2 lit. c RL EEA erlassen wurde, Art. 9 Abs. 3 RL EEA. Da die Anordnungsbehörde ihre Zuständigkeit für den Erlass der EEA im Standardformular versichert, Anhang A S. 1 RL EEA, handelt es sich auch um einen Formfehler. Des Weiteren unterrichtet die Vollstreckungsbehörde die Anordnungsbehörde gemäß Art. 16 Abs. 2 lit. a RL EEA unverzüglich in beliebiger Form, wenn sie nicht über die Anerkennung oder Vollstreckung entscheiden kann, weil das im Anhang A vorgesehene Formblatt nicht vollständig oder offensichtlich unrichtig ausgefüllt wurde. Auch ein Entscheidungshindernis führt im Ergebnis zu einer Vollstreckungsversagung. Allerdings sollte noch keine Verletzung bloßer Ordnungsvorschriften zu einer Vollstreckungsversagung führen können. Notwendig ist die Verletzung wesentlicher Form- und Verfahrensvorschriften.626 Hierzu werden insbesondere die Angaben im Formblatt nach Art. 5 Abs. 1 UAbs. 2 lit. a–e RL EEA gehören. Unbestimmte Anordnungen behindern die Vollstreckung.627 Diese Angaben sollten jedoch jederzeit nachgereicht werden können. 623 Vermerk
67, 3.
des Vorsitzes des Rates vom 19.4.2011, Ratsdok. 8474 / 11 COPEN
624 Übereinkommen
vom 20.12.1988, BGBl. 1993 II S. 1136. Art. 7 Abs. 1 lit. a RB-Sicherstellung, Art. 13 Abs. 1 lit. e, h RB EBA, Art. 7 Abs. 1 RB 2005 / 214 / JI, Art. 9 Abs. 1 lit. a RB 2008 / 909 / JI, Art. 11 Abs. 1 lit. a RB 2008 / 947 / JI, Art. 15 Abs. 1 lit. a RB 2009 / 829 / JI; vgl. zum RB EHB: Gittermann, in: von Olenhusen (Hg.), FS-OLG Celle, 549, 562 f.; OLG Celle NStZRR 2009, 313. 626 So auch zum RB EHB: Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston vom 18.10.2012, C-396 / 11, Radu, Rz. 95, nach Sharpston sei eine Ablehnung auch dann möglich, wenn eine Verletzung wesentlicher Formvorschriften (fundamental procedural requirement) beim Erlass des Haftbefehls nachgewiesen würde. 627 Vgl. zur ähnlichen Problematik beim RB EHB: Böse, in: Maiwald / Momsen / Bloy / Rackow (Hg.), FS-Maiwald, 233, 246. 625 Vgl.
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2. Teil: Darstellung
F. Obliegenheiten und Verfahrensrechte I. Kosten und Haftung für behördliches Handeln 1. Vollstreckungskosten einer EEA Grundsätzlich werden die Vollstreckungskosten einer EEA vom Vollstreckungsstaat getragen, Art. 21 Abs. 1 RL EEA. Diese Regelung entspricht dem allgemeinen Kostenrecht der traditionellen Rechtshilfe und des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung, vgl. Erwägungsgrund 23 RL EEA.628 Ausnahmen bestehen jedoch für außergewöhnlich hohe Kosten. Hier kommt auch eine Kostenteilung in Betracht, Art. 21 Abs. 2 UAbs. 1, Erwägungsgrund 23 RL EEA. Der Begriff der außergewöhnlichen Kosten lässt sich nur im Einzelfall bestimmen. Als Anhaltspunkte für entsprechende Situationen nennt die Richtlinie beispielhaft komplexe Sachverständigengutachten, polizeiliche Großeinsätze oder Überwachungstätigkeiten über einen langen Zeitraum, Erwägungsgrund 23 RL EEA. In der Regel sollte vor Vollstreckung einer EEA zwischen Anordnungs- und Vollstreckungsbehörde festgelegt werden, welche Maßnahmen das übliche Kostenmaß überschreiten. Andernfalls sollte die Vollstreckungsbehörde bei entsprechenden Bedenken die Anordnungsbehörde vor Vollstreckung der EEA im Einzelnen über den Teil der Kosten informieren, der als außergewöhnlich hoch betrachtet wird, Art. 21 Abs. 2 UAbs. 2, Erwägungsgrund 23 RL EEA. Im Rahmen der Konsultation sollten sich Anordnungs- und Vollstreckungsbehörde auf eine Kostenteilung oder andere kostengünstigere Vollstreckungsmaßnahmen einigen, Art. 21 Abs. 2 UAbs. 1, Erwägungsgrund 23 RL EEA. Scheitern die Einigungsversuche, bleibt der Anordnungsbehörde als letztes Mittel die Wahl, die EEA ganz oder teilweise zurückzuziehen oder die benannten (und unbedingt erforderlichen) Mehrkosten selbst zu tragen, Art. 21 Abs. 3 lit. a, b, Erwägungsgrund 23 RL EEA. Darüber hinaus bestehen spezielle Vollstreckungskosten, welche grundsätzlich der Anordnungsstaat trägt. Hierzu gehören bei der Personenüberstellung die Überstellungskosten und bei der Telekommunikationsüberwachung die Kosten der Transkription, Dekodierung und Entschlüsselung des überwachten Fernmeldeverkehrs, Art. 22 Abs. 10, Art. 30 Abs. 8, Abschnitt H7 Anhang A RL EEA. Die Richtlinie stellt klar, dass die Kostenfrage der Vollstreckung einer EEA nicht entgegenstehen sollte und unter allen Umständen weder ein zusätzlicher Versagungsgrund sein noch zur Vollstreckungsverzögerung oder -verhinderung missbraucht werden sollte, Erwägungsgrund 23 RL EEA. 628 Vogel / Burchard, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, § 75 IRG, Rn. 11 ff.
3. Kap.: Die Europäische Ermittlungsanordnung187
Mit dieser differenzierten Kostenregelung kommt die EU der Kritik einzelner Mitgliedstaaten nach, welche angesichts der vermehrten Vollstreckung ausländischer Ersuchen / EEA eine Überforderung der eigenen Justiz durch den finanziellen und logistischen Mehraufwand befürchteten.629 In diese Richtung weist auch eine Regelung für Videokonferenzen: Gemäß Art. 24 Abs. 4 RL EEA kann vereinbart werden, dass der Anordnunungstaat die technische Ausrüstung für Videokonferenzen stellt, wenn diese der Vollstreckungsbehörde nach den Umständen des Einzelfalls nicht zur Verfügung stehen. 2. Verantwortlichkeit Die Richtlinie regelt für ihren Anwendungsbereich die Verantwortlichkeit von im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsstaats anwesenden Beamten des Anordnungsstaats. Die strafrechtliche Verantwortlichkeit richtet sich nach Art. 17 RL EEA: Zunächst werden sie in Bezug auf Straftaten, die gegen sie begangen werden oder die sie selbst begehen, den Beamten des Vollstreckungsstaats gleichgestellt. Die zivilrechtliche Verantwortlichkeit richtet sich hingegen nach Art. 18 RL EEA: Handeln Beamte eines Mitgliedstaats im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats haftet der erstgenannte Mitgliedstaat nach Maßgabe des Rechts des letztgenannten Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet der Einsatz erfolgt, für den durch seine Beamten bei ihrem Einsatz verursachten Schaden (Abs. 1). Dabei ersetzt der Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet der Einsatz erfolgte (meistens ist dies der Vollstreckungsstaat), diesen Schaden so, wie er ihn ersetzen müsste, wenn seine eigenen Beamten ihn verursacht hätten (Abs. 2). Der Anordnungsstaat wiederum erstattet bei Schäden von Personen dem Vollstreckungsstaat den Gesamtbetrag des Schadensersatzes, den dieser an die Geschädigten oder ihre Rechtsnachfolger geleistet hat (Abs. 3). Darüber hinaus verzichtet jeder Mitgliedstaat unbeschadet der Ausübung seiner Rechte gegenüber Dritten […] darauf, den Betrag des erlittenen Schadens anderen Mitgliedstaaten gegenüber geltend zu machen (Abs. 4). II. Datenschutz Im Rahmen eines EEA-Verfahrens werden zwischen Anordnungs- und Vollstreckungsbehörde bereits vorhandene Daten und Informationen ausge629 Tschechische Republik, Stellungnahme zum Grünbuch, 6; auch Rackow wirft den Ressourcengedanken auf und weist auf den Mangel im Opportunitätsbereich und die zusätzliche Arbeitsbelastung hin, er spricht hier von ökonomischer Dimension, Rackow, in: Ambos (Hg.), Europäisches Strafrecht post-Lissabon, 117, 126.
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2. Teil: Darstellung
tauscht bzw. neu erhobene Daten und Ermittlungsergebnisse übermittelt. Die Richtlinie selbst enthält sich größtenteils konkreter Regelungen zum Datenschutz. Sie verweist vielmehr auf bestehendes Recht. Gemäß Erwägungsgrund 40 RL EEA ist der Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten ein Grundrecht, welches in Art. 8 Abs. 1 GRCh und Art. 16 Abs. 1 AEUV primärrechtlich normiert ist. Nach Art. 20 UAbs. 1 RL EEA haben die Mitgliedstaaten bei der Richtlinienumsetzung diesen Datenschutz zu gewährleisten. Die personenbezogenen Daten können dabei nur verarbeitet werden im Einklang mit den Bestimmungen des Rahmenbeschlusses über den Schutz personenbezogener Daten, die im Rahmen der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen verarbeitet werden,630 und den Grundsätzen der Europäischen Datenschutzkonvention (einschließlich Zusatzprotokoll)631, Art. 20 UAbs. 1 RL EEA.632 Personenbezogene Daten sollen die Mitgliedstaaten bei Anwendung der Richtlinie nach einem transparenten Verfahren verarbeiten. Dabei sollen Betroffene Gelegenheit erhalten, zum Schutz ihrer personenbezogenen Daten Rechtsbehelfe einzulegen, Erwägungsgrund 41 RL EEA. Nach dieser Richtlinie erlangte personenbezogene Daten sollten nur dann verarbeitet werden, wenn dies für Zwecke, die mit der Prävention, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder mit der Vollstreckung strafrechtlicher Sanktionen und der Ausübung des Rechts auf Verteidigung vereinbar sind, notwendig und diesbezüglich verhältnismäßig ist, Erwägungsgrund 42 RL EEA. Der Zugriff auf personenbezogene Daten soll beschränkt werden, ohne die Rechte der betroffenen Person zu beeinträchtigen. Nur berechtigte Personen können nach Authentifizierung auf die Daten zugreifen, Art. 20 UAbs. 2, Erwägungsgrund 42 RL EEA. Konkrete Anweisungen bietet die Richtlinie nur im Rahmen einer behördlichen Vertraulichkeit, Art. 19 RL EEA, welche weniger den Betroffenen als vielmehr den Ermittlungserfolg schützen soll. Ein Pendant zur umfassenden Regelung des Art. 10 RB EBA fehlt jedoch.633 Zum Schutz der Vertraulichkeit sollen die Mitglieder nach Art. 19 Abs. 1, 4 RL EEA gegenüber betei630 RB
2008 / 977 / JI, ABl. 2008 L 350 / 60. vom 28. Januar 1981, BGBl. 1985 II S. 539; Zusatzprotokoll vom 8. November 2001, BGBl. 2002 II S. 1882. 632 Erste Erwägungen zum Datenschutz des Vorentwurfs sind auf die Kritik des Europäischen Datenschutzbeauftragten Peter Hustinx ergänzend eingeführt worden, vgl. Stellungnahme des Europäischen Datenschutzbeauftragten vom 5.10.2010, Abl. 2010 C 355 / 1, Rn. 26; vgl. zum Datenschutzrecht: Belfiore, in: Ruggeri (Hg.), Transnational inquiries, 355, 355 ff. 633 Heydenreich, StraFo 2012, 439, 444, Heydenreich kritisiert, dass derzeit eine allgemeingültige europäische Datenschutzregelung fehlt, welche auch Ermittlungsdaten erfasst; vgl. zum provisorischen Charakter des Art. 10 RB EBA auch Vermerk 631 Übereinkommen
3. Kap.: Die Europäische Ermittlungsanordnung189
ligten Behörden und Banken im Anordnungs- oder Vollstreckungsstaat erforderliche Maßnahmen ergreifen gegen eine Informationsweitergabe sowohl einzelner Daten als auch komplexer Ermittlungsergebnisse. Angaben über den Sachverhalt und den Inhalt der EEA darf die Vollstreckungsbehörde nicht weitergeben, wenn Vertraulichkeit für die Durchführung der Ermittlungsmaßnahme erforderlich ist. Andernfalls muss sie die Anordnungsbehörde unverzüglich davon in Kenntnis setzen, Art. 19 Abs. 2 RL EEA. Die Anordnungsbehörde legt im Gegenzug von der Vollstreckungsbehörde zur Verfügung gestellte Beweismittel oder Informationen grundsätzlich nicht offen. Ausnahmen gelten nur dann, wenn die Vollstreckungsbehörde ausdrücklich eine Freigabe erklärt hat oder wenn die Offenlegung für die in der EEA beschriebenen Ermittlungen oder Verfahren erforderlich ist, Art. 19 Abs. 3 RL EEA. Die Art der Geheimhaltung richtet sich jeweils nach dem nationalen Recht der jeweiligen Anordnungs- bzw. Vollstreckungsbehörde, Art. 19 Abs. 2, 3 RL EEA. III. Rechtsbehelfe 1. Einlegen eines Rechtsbehelfs Von der auf einer EEA beruhenden Ermittlungsmaßnahme sind unmittelbar diejenigen (natürlichen oder juristischen) Personen betroffen, in deren Rechte die Maßnahme eingreift. Dies sind vor allem Beschuldigte, es können aber auch Zeugen und sonstige Dritte sein. Der Rechtsschutz des Betroffenen gegen Ermittlungsmaßnahmen im Rahmen der Vollstreckung einer EEA wird durch Art. 14 RL EEA normiert: Nach Art. 14 Abs. 1 RL EEA sorgen die Mitgliedstaaten dafür, dass gegen die in der EEA angegebenen Ermittlungsmaßnahmen Rechtsbehelfe eingelegt werden können, die den Rechtsbehelfen gleichwertig sind, die in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall zur Verfügung stehen, vgl. Erwägungsgrund 22 RL EEA.634 Gemäß Art. 14 Abs. 2 RL EEA können die sachlichen Gründe für den Erlass der EEA nur durch eine Klage im Anordnungsstaat angefochten werden; dies lässt die Garantien der Grundrechte im Vollstreckungsstaat unberührt. Diese Ausgestaltung entspricht dem Rechtsschutzsystem im traditionellen Rechtshilferecht635 und führt zu einer Aufspaltung des Rechtsdes Generalsekretariats des Rates vom 15.1.2007, Ratsdok. 16870 / 1 / 06 REV 1 COPEN 133; Ahlbrecht, NStZ 2006, 70, 73. 634 Im Rat wird dies auch Gleichstellungsgrundsatz genannt, Vermerk vom 30.5.2006, Ratsdok. 9516 / 2 / 06 REV 2 COPEN 57, 6. 635 Siehe oben 2. Teil 1. Kapitel F.
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2. Teil: Darstellung
wegs.636 Obwohl dies mit dem Verfassungsrecht in Deutschland im Einklang steht,637 erneuert sich gerade hierzulande die Kritik an der Rechtswegspaltung. Die Befürworter der umfassenden Prüfung einer ausländischen Entscheidung verwenden die gleichen Argumente wie bereits bei der traditionellen Rechtshilfe: Das Rechtsschutzverfahren im Ausland bereite dem Betroffenen insbesondere einen hohen finanziellen, sprachlichen und logistischen Aufwand.638 Des Weiteren hätten die Strafverteidiger in Europa den straff organisierten Staatsanwaltschaften nichts Entsprechendes entgegenzusetzen. Dies gefährde die Waffengleichheit zwischen Strafverfolgung und Strafverteidigung.639 Letztlich bleibt es aber auch an dieser Stelle bei den auf beiden Seiten bereits ausgeführten Argumenten, da der Vertrauensgrundsatz der traditionellen Rechtshilfe auch für das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung gilt.640 Um einem etwaigen Ungleichgewicht zwischen Strafverfolgung und -verteidigung vorzubeugen, enthält die Richtlinie Regeln über die Belehrung und Befristung von Rechtsbehelfen, vgl. auch Erwägungsgrund 22 RL EEA. Nach Art. 14 Abs. 3 RL EEA müssen die Anordnungs- und Vollstreckungsbehörde geeignete Maßnahmen ergreifen, um zu gewährleisten, dass Informationen über die nach nationalem Recht bestehenden Möglichkeiten zur Einlegung der Rechtsbehelfe bereitgestellt werden. Dies gilt von dem Mo636 Ambos, Internationales Strafrecht, 541; Rackow, in: Ambos (Hg.), Europä isches Strafrecht post-Lissabon, 117, 135; Perron, in: Hettinger / Zopfs / Hillenkamp / Köhler / Rath / Streng / Wolter (Hg.), FS-Küper, 429, 435; Vogel, in: Hilf / Nettesheim (Hg.), EUV, AEUV-Kommentar, Art. 82 AEUV, Rn. 33; Esser, in: Heinrich / Jäger / Achenbach / Amelung / Bottke / Haffke / Schünemann / Wolter (Hg.), FS-Roxin, 1497; 1505; Mavany kritisiert den Mangel an Beweisverwertungsregelungen, Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 74 f.; Heydenreich, StraFo 2012, 439, 444. 637 Siehe oben 2. Teil 1. Kapitel F. II. 2. 638 Heydenreich, StraFo 2012, 439, 442, 444; Esser, ZEuS 2004, 289, 302; Esser, in: Heinrich / Jäger / Achenbach / Amelung / Bottke / Haffke / Schünemann / Wolter (Hg.), FS-Roxin, 1497, 1505 f.; Gazeas, ZRP 2005, 18, 21; Ahlbrecht, NStZ 2006, 70, 74; Roger, GA 2010, 27, 40 f.; Gaede, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 97, 121 ff.; Hauck, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 413, 438; Swoboda, HRRS 2014, 10, 18; Böse, ZIS 2014, 152, 160, Böse fordert daher entweder die Konzentration des Rechtsschutzes im Vollstreckungsstaat oder die Anfechtung im Vollstreckungsstaat an den Anordnungsstaat wirksam weiterzuleiten. Weiterhin sollte der Betroffene durch jeweils einen Verteidiger im Anordnungsstaat und Vollstreckungsstaat vertreten werden (doppelte Verteidigung); die deutsche Delegation forderte bei den Ratsverhandlungen zum RB EBA, dass die Sachgründe für den Erlass einer EBA auch im Vollstreckungsstaat angefochten werden können, Vermerk vom 21.11.2005, Ratsdok. 14760 / 05 COPEN 186 und Vermerk vom 30.5.2006, Ratsdok. 9516 / 2 / 06 REV 2 COPEN 57, 6. 639 Gleß, StV 2013, 317, 319 ff.; Allegrezza, ZIS 2010, 569, 576 f.; Rackow, in: Ambos (Hg.), Europäisches Strafrecht post-Lissabon, 117, 135. 640 Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 73 f., 146 f.
3. Kap.: Die Europäische Ermittlungsanordnung191
ment an, ab dem die Rechtsbehelfe anwendbar werden, und zwar so rechtzeitig, dass sie effektiv wahrgenommen werden können. Ausgenommen sind allein solche Maßnahmen, welche die Vertraulichkeit einer Ermittlung nach Art. 19 Abs. 1 RL EEA […] untergraben. Nach Art. 14 Abs. 4 RL EEA sorgen die Mitgliedstaaten dafür, dass die Fristen für die Einlegung eines Rechtsbehelfs mit denen identisch sind, die in vergleichbaren innerstaatlichen Fällen zur Verfügung stehen, und so angewendet werden, dass gewährleistet ist, dass die betroffenen Parteien diese Rechtsbehelfe wirksam ausüben können. 2. Suspensiveffekt Ein eingelegter Rechtsbehelf kann sowohl die Vollstreckung einer EEA als auch – nach erfolgter Vollstreckung – die Übermittlung ihrer Ergebnisse suspendieren. Steht die Vollstreckung einer EEA noch aus, so tritt der Suspensiveffekt des Rechtsbehelfs nur ein, wenn dies auch in vergleichbaren innerstaatlichen Fällen vorgesehen ist, Art. 14 Abs. 6 RL EEA. Wurde dagegen die Ermittlungsmaßnahme bereits ausgeführt oder sind sonst die Beweismittel bereits vorhanden, hängt eine Suspension des Beweismitteltransfers gemäß Art. 13 Abs. 1 RL EEA von äußeren Umständen ab. Dieses Verfahren ist in Art. 13 Abs. 2 RL EEA geregelt. Grundsätzlich kann die Übermittlung des Beweismittels so lange ausgesetzt werden, bis über einen Rechtsbehelf entschieden wurde (S. 1 HS. 1). Eine Einschränkung gilt jedoch, wenn in der EEA ausreichende Gründe dafür angegeben werden, dass eine sofortige Übermittlung für die ordnungsgemäße Durchführung ihrer Ermittlungen oder die Wahrung von individuellen Rechten unerlässlich ist (S. 1 HS. 2). Allerdings wird die Übermittlung des Beweismittels ausgesetzt, wenn sie der betroffenen Person einen schweren und irreparablen Schaden zufügen würde (S. 2). Die Schadensklausel reagiert auf die seit den Verhandlungen über den RB EBA geäußerte Kritik an unzureichendem Rechtsschutz im Übermittlungsverfahren.641 Die konkrete Ausgestaltung stellt einen Fortschritt zur traditio nellen Rechtshilfe dar, welche bisher kaum Regelungen zur Suspension enthielt. 641 Art. 18 Abs. 6 RB EBA sieht lediglich eine bloße Aussetzungsmöglichkeit vor; Hert / Weis / Cloosen, NJECL 2009, 55, 77; Esser, in: Heinrich / Jäger / Achenbach / Amelung / Bottke / Haffke / Schünemann / Wolter (Hg.), FS-Roxin, 1497, 1507; Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 144; Ahlbrecht, NStZ 2006, 70, 74; Swoboda, HRRS 2014, 10, 18; das rumänische Parlament war sogar der Ansicht, dass Sanktionen für unsachgemäße Beweiserhebung und Ausführung der Anordnung eingeführt werden sollten, Rumänisches Parlament, Stellungnahme zum Grünbuch, 4.
192
2. Teil: Darstellung
3. Beweisverwertung Entscheidend für die Wirkung eines Rechtsbehelfs ist der jeweilige Verfahrensabschnitt. Die Anfechtung suspendiert das weitere Verfahren grundsätzlich nur vor dem Beweismitteltransfer in den Anordnungsstaat. Nach Übermittlung hängt der Umgang mit den Beweismitteln dort vom Erfolg des Rechtsbehelfs ab. Wurde die Anerkennung oder Vollstreckung einer EEA erfolgreich angefochten, wird diese Entscheidung im Anordnungsstaat im Einklang mit seinem nationalen Recht berücksichtigt, Art. 14 Abs. 7 S. 1 RL EEA. Dies kann je nach Rechtsordnung die Beweiszulassung (z. B. England) oder die Beweisverwertung bzw. -würdigung (z. B. Deutschland) betreffen. Fragen zum konkreten Umgang mit Beweismitteln im innerstaatlichen Strafverfahren des Anordnungsstaats sind in der Richtlinie nicht enthalten.642 Die Mitgliedstaaten stellen nur sicher, dass in einem Strafverfahren im Anordnungsstaat bei der Bewertung der mittels einer EEA erlangten Beweismittel die Verteidigungsrechte gewahrt und ein faires Verfahren gewährleistet werden, Art. 14 Abs. 7 S. 2 RL EEA. Weitreichende Fragen der Beweisverwertung bzw. Zulässigkeit von Beweismitteln können gemäß Art. 82 Abs. 2 UAbs. 2 lit. a AEUV durch Richtlinien geregelt werden. Dies ist nicht Aufgabe der RL EEA. Es handelt sich um einen komplexen Bereich, der durch ein eigenes Rechtsinstrument umfassend geregelt werden sollte.643 Gegenwärtig ist dies den Mitgliedstaaten selbst überlassen.644 IV. Informationspflichten Sowohl den Anordnungs- als auch den Vollstreckungsstaat treffen verschiedene Informationspflichten. Solche Pflichten gelten insbesondere für die Vollstreckungsbehörde im Rahmen jeder Art der Versagung, des Aufschubs, der Veränderung oder der Verzögerung der Vollstreckung einer 642 Hauck, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 413, 435; Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 93; dies entspricht auch den Regelungen des RB EBA. Das Fehlen einer entsprechenden Regelung wird stark kritisiert: Roger, GA 2010, 27, 42; Heydenreich, StraFo 2012, 439, 444. 643 Kotzurek, ZIS 2006, 123, 133, nach Kotzurek ist es nicht sinnvoll, schon im RB EBA selbst auch die Verwertbarkeit der erlangten Beweise zu regeln, zum einen aufgrund der Komplexität des Regelungsbereichs, zum anderen, weil es sich bei der Beweisverwertung um einen besonders sensiblen Bereich handelt. 644 BGH BGHSt 58, 32, 36, nach dem BGH richtet sich die Verwertbarkeit mittels Rechtshilfe eines ausländischen Staates gewonnener Beweise nach der Rechtsordnung des um diese Rechtshilfe ersuchenden Staates; Königreich Belgien, Stellungnahme zum Grünbuch, 4.
3. Kap.: Die Europäische Ermittlungsanordnung193
EEA, Art. 7 Abs. 6, Art. 10 Abs. 4, Art. 11 Abs. 4, Art. 12 Abs. 5, 6, Art. 15 Abs. 2, Art. 16 Abs. 2 lit. a–c, Abs. 3 Ziff. i, ii RL EEA. Die Vollstreckungsbehörde (bzw. die zuständige Zentralbehörde) bestätigt der Anordnungsbehörde grundsätzlich unverzüglich den Empfang der EEA. Sie nutzt hierfür das Formular für die Empfangsbestätigung einer EEA in Anhang B RL EEA. Dies gilt daneben auch für etwaige Zentralbehörden und behördliche Empfänger bloßer Irrläufer, Art. 16 Abs. 1 RL EEA. Die Vollstreckungsbehörde informiert die Anordnungsbehörde überdies über ihre Absicht, eine vorläufige Maßnahme zu beenden, und über außergewöhnliche hohe Vollstreckungskosten, Art. 32 Abs. 5, Art. 21 Abs. 2 UAbs. 2, Erwägungsgrund 23 RL EEA. Gemäß Art. 14 Abs. 5 RL EEA unterrichten die Anordnungs- und Vollstreckungsbehörden einander über die Rechtsbehelfe, die gegen den Erlass bzw. die Anerkennung oder Vollstreckung einer EEA eingelegt werden. Durch möglichst zeitnahe Unterrichtung des Gegenübers soll diese Behörde in die Lage versetzt werden, ihre Anordnung zu überprüfen, abzuändern oder gar zurückzunehmen. Grundsätzlich ist eine Benachrichtigung in jeder beliebigen Form möglich, vgl. Art. 12 Abs. 5, 6 RL EEA. Für Aufschub und Versagung der Vollstreckung gilt jedoch die Schriftform, Art. 15 Abs. 2, Art. 16 Abs. 2, 3 RL EEA.
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2. Teil: Darstellung
4. Kapitel
Gegenseitiges Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit der Strafjustiz der Mitgliedstaaten A. Vertrauen als Grundlage der gegenseitigen Anerkennung in Strafsachen I. Der unionseigene Standpunkt Aus Sicht der EU beruht das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung auf einem hohen Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten.645 Bezugsobjekt des gegenseitigen Vertrauens ist danach die Rechtsstaatlichkeit der jeweiligen Strafrechtspflege der Mitgliedstaaten.646 Hierzu gehörten nicht nur die Rechtsvorschriften des anderen Mitgliedstaats, sondern auch deren ordnungsgemäße Anwendung.647 Die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens erfordere, dass alle europäischen Bürger Zugang zu einem Justizwesen hätten, das hohe Qualitätsnormen erfülle.648 Für diese Rechtsstaatlichkeit habe der Anordnungsstaat insbesondere die im Ausland anzuerkennenden und zu vollstreckenden Entscheidungen stets unter Einhaltung der Grundsätze der Rechtmäßigkeit, der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit zu treffen.649 Eine zentrale Rolle nehme der Schutz der Rechte von Verdächtigen oder beschuldigten Personen ein.650 Die EU geht von einem bereits bestehenden Vertrauensverhältnis (Klima gegenseitigen Vertrauens)651 zwischen ihren Mitgliedstaaten aus. Objekt und 645 Erwägungsgrund 10 RB EHB, Abl. 2002 L 190 / 1; Erwägungsgrund 5 RB 2008 / 909 / JI, Abl. 2008 L 327 / 27; Erwägungsgrund 8 RB EBA, Abl. 2008 L 350 / 72; Grünbuch – KOM(2011) 327 endgültig, S. 2; EuGH, Urt. v. 1.12.2008, C-388 / 08, Leymann und Pustovarov, Slg. 2008 I-8993, Rz. 48 ff.; Urt. v. 28.6.2012, C-192 / 12, West, Rz. 53; Urt. v. 29.1.2013, C-396 / 11, Radu, Rz. 34; Urt. v. 26.2.2013, C-399 / 11, Melloni, Rz. 37; Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston vom 18.10.2012, C-396 / 11, Radu, Rz. 34; Schlussanträge des Generalanwalts Bot vom 2.10.2012, C-399 / 11, Melloni, Rz. 115 f. 646 Erwägungsgrund 3 RL 2010 / 64 / EU, Abl. 2010 L 280 / 1; Erwägungsgrund 3 RL 2012 / 13 / EU, Abl. 2012 L 142 / 1; Erwägungsgründe 4, 6, 8 RL 2013 / 48 / EU, Abl. 2013 L 294 / 1. 647 Mitteilung vom 26.7.2000, KOM(2000) 495 endgültig, 4; Erwägungsgrund 4 RL 2010 / 64 / EU, Abl. 2010 L 280 / 1; Erwägungsgrund 4 RL 2012 / 13 / EU, Abl. 2012 L 142 / 1; Erwägungsgrund 6 RL 2013 / 48 / EU, Abl. 2013 L 294 / 1. 648 Haager Programm, Abl. 2005 C 53 / 1, 11. 649 Erwägungsgrund 4 RB 2003 / 577 / JI, Abl. 2003 L 196 / 45; Erwägungsgrund 9 RB 2006 / 783 / JI, Abl. 2006 L 328 / 59. 650 Erwägungsgrund 3 RL 2010 / 64 / EU, Abl. 2010 L 280 / 1; Erwägungsgrund 3 RL 2012 / 13 / EU, Abl. 2012 L 142 / 1; Erwägungsgrund 4 RL 2013 / 48 / EU, Abl. 2013 L 294 / 1; Stockholmer Programm, Abl. 2010 C 115 / 1, 10.
4. Kap.: Gegenseitiges Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit der Strafjustiz195
Subjekt des gegenseitigen Vertrauens seien insbesondere als unmittelbar Handelnde die Behörden und Dienststellen der einzelnen Mitgliedstaaten sowie deren Entscheidungsträger.652 Neben den Justizbehörden seien jedoch auch alle am Strafverfahren beteiligten Akteure Vertrauensgeber.653 651
II. Außenbetrachtung 1. Befürwortende Ansicht Der Standpunkt der EU zur Bedeutung des Vertrauens für die Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung hat sowohl auf europäischer als auch nationaler Ebene viel Zustimmung erfahren. Bereits 2002 erklärte der Generalanwalt am EuGH Ruiz-Jarabo Colomer, dass für die Verwirklichung des Ziels, in der EU einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu errichten, eine justizielle Zusammenarbeit auf der Basis des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung notwendig sei, welches das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihre Strafrechtssysteme voraussetze. Dieses habe wiederum – insbesondere in Anbetracht des gegenwärtigen Entwicklungsprozesses der EU – seine unverzichtbare Grundlage in der Angemessenheit der Normen der Partner und deren ordnungsgemäßer Anwendung.654 Auch das BVerfG bestätigte, dass das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung auf dem Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit der allgemeinen Ver fahrensbedingungen in den Mitgliedstaaten beruhe. Diese Rechtsstaatlichkeit sei eine taugliche Grundlage für gegenseitiges Vertrauen. Jeder Mitgliedstaat habe die in Art. 6 Abs. 1 EUV genannten Grundsätze zu achten, welche auch den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit umschlössen. Dies mache die Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung – zumindest für die Auslieferung eines Deutschen – grundsätzlich zulässig.655 Von 651 Erwägungsgründe 4, 8 RL 2010 / 64 / EU, Abl. 2010 L 280 / 1; Erwägungsgründe 4, 10 RL 2012 / 13 / EU, Abl. 2012 L 142 / 1; Erwägungsgründe 6, 8 RL 2013 / 48 / EU, Abl. 2013 L 294 / 1. 652 Erwägungsgrund 8 Entschließung vom 30.11.2009, Abl. 2009 C 295 / 1; Stockholmer Programm, Abl. 2010 C 115 / 1, 5; Grünbuch vom 14.6.2011 – KOM(2011) 327 endgültig, S. 2. 653 Erwägungsgrund 4 RL 2010 / 64 / EU, Abl. 2010 L 280 / 1; Erwägungsgrund 4 RL 2012 / 13 / EU, Abl. 2012 L 142 / 1; Erwägungsgrund 6 RL 2013 / 48 / EU, Abl. 2013 L 294 / 1. 654 Schlussanträge des Generalanwalts Ruiz-Jarabo Colomer vom 19.9.2002, C-187 / 01 und C-385 / 01, Gözütok und Brügge, Slg. 2003 I-1348, 1374 f. 655 BVerfG BVerfGE 113, 273, 299, 316; das BVerfG spricht auch von einem generellen Vertrauen in die Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze durch die Mitgliedstaaten der Europäischen Union, BVerfG BVerfGK 16, 177, 187.
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2. Teil: Darstellung
der Existenz eines ausreichenden Vertrauens gehen noch weitere Autoren aus.656 2. Ablehnende Ansicht Nach anderer Ansicht fehlt es bereits an den Grundlagen des Vertrauens. So würden in Wirklichkeit keineswegs alle Mitgliedstaaten über ein rechtsstaatliches Strafverfahren verfügen. Dies gelte sowohl für die Rechtsvorschriften als auch für die Rechtsanwendung. Insoweit könne ein Vertrauen nicht einfach vorausgesetzt werden.657 Unklar sei aber auch, welches Mindestmaß an Rechtsstaatlichkeit als Grundlage des Vertrauens ausreiche.658 Vertrauen erfordere zudem ein hinreichendes Maß an Kenntnis und Akzeptanz der Alltagspraxis der Justiz der jeweils anderen Mitgliedstaaten, welche wiederum ein hinreichendes Maß an Rechtsangleichung voraussetzten.659 Stattdessen verharre jedoch die EU in ihrer traditionellen Position und fingiere lediglich ein gegenseitiges Vertrauen der Mitgliedstaaten,660 um ihre weitgehende justizielle Zusammenarbeit auf der Grundlage des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung zu legitimieren. Das Versichern und Behaupten einer Tatsache könne jedoch nicht ihr Bestehen ersetzen.661 656 Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 75; Fichera, European arrest warrant, 207 ff. 657 Roger, GA 2010, 27, 30; Rosenau / Petrus, in: Vedder / Heintschel von Heinegg (Hg.), EUV, AEUV-Kommentar, Art. 82 AEUV, Rn. 5; Ambos, Internationales Strafrecht, 524; Zimmermann / Glaser / Motz, EuCLR 2011, 56, 61; Heard / Mansell, NJECL 2011, 353, 354. 658 Satzger, in: Streinz / Kruis / Michl (Hg.), EUV / AEUV-Kommentar, Art. 82 AEUV, Rn. 15; Meyer, GA 2007, 15, 25. 659 Satzger, in: Streinz / Kruis / Michl (Hg.), EUV / AEUV-Kommentar, Art. 82 AEUV, Rn. 15; Möstl, CMLR 2010, 405, 422. 660 Ranft, wistra 2005, 361, 362, 368; Hefendehl, ZIS 2006, 229, 234; Kinzler, Grenzüberschreitende Strafverfahren, 135, 179 f.; Ambos, ZIS 2010, 557, 557, 564; Ambos spricht von einer hohlen Behauptung, die in den Raum gestellt wird, Ambos, Internationales Strafrecht, 524; Riedo / Fiolka / Niggli, Schweizerisches Strafprozessrecht, 503; Hackner / Schierholt, Rechtshilfe, 251; Karsai, in: Ruggeri (Hg.), Transnational inquiries, 419, 435, Karsai bezeichnet das gegenseitige Vertrauen als illusion. 661 Möstl, CMLR 2010, 405, 419; Burchard bezeichnet die Art des Behauptens von Vertrauen seitens der europäischen Rechtspolitik und Gesetzgebung als floskel- und formelhafte Rezitation, Burchard, in: Beck / Burchard / Fateh-Moghadam (Hg.), Strafrechtsvergleichung, 275, 291; Nettesheim, in: Mestmäcker / Möschel / Nettesheim (Hg.), Verfassung und Politik, 117, 134 f.; nach Wehnert setzt das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung mehr oder weniger blindes und deswegen deplatziertes Vertrauen voraus, Wehnert, in: Widmaier / Lesch / Müssig / Wallau (Hg.), FS-Dahs, 523, 527, 533; Satzger, in: Streinz / Kruis / Michl (Hg.), EUV / AEUV-Kommentar, Art. 82 AEUV, Rn. 15; Nettesheim, in: Mestmäcker / Möschel / Nettesheim (Hg.), Verfassung
4. Kap.: Gegenseitiges Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit der Strafjustiz197
Im Gegenteil bestehe tatsächlich ein unterschwelliges Misstrauen gegenüber fremden Gerichten und Behörden.662 Offenbaren würde es sich in den Anwendungs- und Umsetzungsschwierigkeiten des RB EHB. Jenes Misstrauen würde mit wachsender Kenntnis von mutmaßlichen Missständen im anderen Mitgliedstaat eher noch steigen.663 Tatsächliche Missstände und bloße Vorbehalte hätten sich vor allem nach der ersten EU-Osterweiterung und zuletzt nach der Aufnahme von Bulgarien und Rumänien als Mitgliedstaaten gezeigt.664 Auch die konkrete Ausgestaltung der einzelnen Rechtsinstrumente zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung würde Misstrauen gegen die ersuchenden Staaten schüren. Das Ziel werde verfehlt, eine verlässliche Zusammenarbeit zu schaffen, da die offene Formulierung im Hinblick auf den Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit Unsicherheiten und rechtsstaatliche Unbestimmtheiten hervorrufe.665 Allgemein manifestiere sich das Misstrauen in der großen Anzahl nationaler Entscheidungen von Verfassungsgerichten und nachgeordneten Spruchkörpern zu Gesetzen, welche Rechtsakte zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung transformieren sollen.666 Verfehlt sei es zudem, nur die an der Rechtshilfe beteiligten Staaten, Behörden und Behördenangehörigen als Vertrauenssubjekte zu qualifizieren. Vielmehr sei allein das Vertrauen der Bürger in die Rechtsstaatlichkeit des sie betreffenden Strafverfahrens maßgeblich, da nur dieses Vertrauen eine objektive Basis für das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung bilden könne.667 und Politik, 117, 134 f.; Paeffgen, ZIS 2013, 80, 93, nach Paeffgen beruhen die Ausweitung der EU-Mitgliedschaften bisweilen auf Lug und Trug. Die Altmitglieder und die EU-Institutionen übersähen mit auf geifernder Erweiterungseuphorie gegründeter gewollter Selbstblendung Defizite in dem Justiz- und Grundrechtestandard. 662 Perron, in: Hettinger / Zopfs / Hillenkamp / Köhler / Rath / Streng / Wolter (Hg.), FS-Küper, 429, 435; Nettesheim, in: Mestmäcker / Möschel / Nettesheim (Hg.), Verfassung und Politik, 117, 134 f., Nettesheim hält dies aufgrund des Eingriffscharakters des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung auch für geboten; vgl. auch Gaede, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 97, 120. 663 Bárd, NJECL 2011, 9, 13. 664 Heine, Rechtsstellung des Beschuldigten, 83; Andreou, Gegenseitige Anerkennung, 72; Ambos, Internationales Strafrecht, 524, Ambos spricht hier sogar von einer Entwicklung zur Phantasmorgie. 665 Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 125. 666 Perron, in: Hettinger / Zopfs / Hillenkamp / Köhler / Rath / Streng / Wolter (Hg.), FS-Küper, 429, 435; Rackow / Birr, GoJIL 2010, 1087, 1104; Ambos, Internationales Strafrecht, 524, dabei bezieht Ambos sich auf folgende Urteile: BVerfG NJW 2005, 2289, 2291; OLG Stuttgart StV 2007, 260 LS 2; OLG Karlsruhe StV 2007, 650, 651. 667 Leutheusser-Schnarrenberger, StraFo 2007, 267, 273; Schünemann, in: Joerden / Scheffler / Sinn / Wolf (Hg.), FS-Szwarc, 109, 121, nach Schünemann ist weniger ein Vertrauen der Staaten untereinander erforderlich, als vielmehr ein Vertrauen des Bürgers in die Richtigkeit der fremden Rechtsordnung und die Korrektheit der fremden Rechtspflege.
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2. Teil: Darstellung
Vertrauen setze eine konkrete Beziehung voraus, welche nur von einzelnen Personen aufgebaut werden könne. Dies seien insbesondere die Bürger der EU.668 Welche Bedeutung Vertrauen insgesamt des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung haben könne, sei darüber hinaus fachwissenschaftlich nicht geklärt. Dennoch setze die EU die Tauglichkeit des Vertrauens als Basis für das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung für ihre Rechtssetzungstätigkeit und Rechtspolitik voraus. Sich mit dem gegenseitigen Vertrauen legitimierend, gestalte sie dynamisch ihren Rechtsbestand.669 3. Eigene Stellungnahme Die Diskussion zur Bedeutung des Vertrauens für die justizielle Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten in der EU mutet zwar auf den ersten Blick etwas abseitig an. Die einzelnen Nationen verbindet die Mitgliedschaft in der EU, mit mehr oder minder gegenseitigem Vertrauen zueinander. Tatsächlich aber handelt es sich dabei um eine der zentralen Fragen der europäischen Integration. Auch jenseits des Strafrechts wird diskutiert, ob sich die EU in einer Identitäts- und Vertrauenskrise befindet und ob eine Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten trotz etwaigen Vertrauensverlustes weiterhin ungestört möglich ist.670 Dies gilt etwa im Finanzsektor und bei der Gemeinschaftswährung Euro („Schuldenkrise“). Bislang beschränkt sich die Diskussion darauf, dass es aus der Sicht der Befürworter gegenseitiges Vertrauen für eine Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten bereits gibt, während die Gegenmeinung dies als bloße Fiktion ablehnt. Die wenigen Auseinandersetzungen in der Literatur verbleiben bedauerlicherweise an der Oberfläche.671 Hierbei vertritt jedes Lager die eigene Position mit nahezu ideologischem Eifer. Ob und inwieweit gegenseitiges Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit der Strafrechtspflege der EU-Mitgliedstaaten als Grundlage für eine justizielle Zusammenarbeit geeignet ist, in welchem Maß es bereits besteht und wie es notfalls noch aufgebaut werden kann, bleibt letztlich offen. Einzelheiten werden im Folgenden näher dargestellt. 668 Rackow,
in: Ambos (Hg.), Europäisches Strafrecht post-Lissabon, 117, 128. in: Ambos (Hg.), Europäisches Strafrecht post-Lissabon, 117, 128; laut Burchard steckt die Forschung bezüglich des gegenseitigen Vertrauens noch in den Kinderschuhen, Burchard, in: Beck / Burchard / Fateh-Moghadam (Hg.), Strafrechtsvergleichung, 275, 291; nach Mitsilegas ist the concept of trust inherently subjective. Vertrauen sei viel mehr eine subjektive Einstellung als eine taugliche Rechtsgrundlage. Es sei nicht nachvollziehbar, wie Vertrauen entstehe, und es ließe sich nicht messen. Es sei mithin nicht gerichtlich nachprüfbar, Mitsilegas, EU criminal law, 106; Mitsilegas, CMLR 2006, 1277, 1306. 670 Gauck, Europa: Vertrauen erneuern, 2. 671 Eine Ausnahme bildet in jüngerer Zeit Kaufhold, EuR 2012, 408. 669 Rackow,
4. Kap.: Gegenseitiges Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit der Strafjustiz199
B. Vertrauen und Komplexität I. Der Begriff des Vertrauens 1. Methodologische Überlegungen Gegenseitiges Vertrauen wird im Recht zumeist unausgesprochen vorausgesetzt und selten ausdrücklich normiert. Dennoch bildet Vertrauen die unausgesprochene Grundlage vieler Rechtsbeziehungen. Zumindest eine Demokratie ist auf die Rechtstreue ihrer Bürger und Institutionen angewiesen. Vertrauen in eine teils individuelle, teils kollektive „Rechtschaffenheit“ erleichtert in einer künstlich geschaffenen Gemeinschaft (z. B. einem Staat) das gesellschaftliche Miteinander. Diese grundsätzlichen Überlegungen entwickeln sich vor allem in der Philosophie, Soziologie und Psychologie. Im interdisziplinären Diskurs gelangen sie mittelbar auch in die Rechtswissenschaft. Da Untersuchungsgegenstand dieses Kapitels die prinzipielle Eignung des Vertrauens für eine staatliche Zusammenarbeit ist, sei nachfolgend zunächst der soziologische Vertrauensbegriff dargestellt, bevor alsdann seine rechtliche Bedeutung ergründet wird. 2. Vertrauen als soziale Beziehung a) Vertrauensbeziehungen nach Hobbes Bereits Hobbes sah im Vertrauen in den Souverän die Grundlage jedes menschlichen Zusammenlebens. Durch den Verzicht auf eine natürliche Rechtsposition und die Übertragung dieses Rechts auf einen anderen werde das menschliche Zusammenleben im Allgemeinen gestaltet.672 Untereinander würden etwa Fragen des Privatrechts mit einem Vertrag geklärt. Grundlage eines solches Vertrages sei es jedoch, dass beide Parteien einander vertrauen.673 Um einem Kampf aller gegen alle – getrieben vom persönlichen Ehrgeiz (homo homini lupus) – vorzubeugen, sollten sich die Bürger einem gemeinsamen Souverän unterwerfen, welcher auf einen gerechten Ausgleich der Interessen hinwirke und Verstöße gegen die Sozialordnung sanktioniere.674 Auch hierzu sei das Vertrauen der Bürger in den Staat erforderlich.675 Missbrauche der Souverän durch eine Handlung das Vertrauen 672 Hobbes,
Naturrecht und allgemeines Staatsrecht in den Anfangsgründen, 101 f. Naturrecht und allgemeines Staatsrecht in den Anfangsgründen, 102; Hobbes / Schlösser / Klenner, Leviathan, 111. 674 Hobbes / Schlösser / Klenner, Leviathan, 114, 120 f. 675 Hobbes / Schlösser / Klenner, Leviathan, 146. 673 Hobbes,
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2. Teil: Darstellung
seiner Untertanen, müsse sein konkreter missbräuchlicher Akt diesen gegenüber aufgrund des Vertrauensbruchs als nichtig gelten.676 b) Vertrauensbeziehungen in der Systemtheorie In der Soziologie der Gegenwart prägt insbesondere Luhmann den Begriff des Vertrauens. Luhmann sieht im Vertrauen eine soziale Beziehung. Darunter versteht er eine Systembildung, die weder ausschließlich psychisch noch ausschließlich sozial herleitbar sei. Beide Aspekte seien jedoch bestimmend für das Interaktionsfeld, in dem Vertrauen entstehe.677 Im Anschluss an Luhmann betont auch Sztompka die soziologische Einordnung des Vertrauensbegriffs. Vertrauenssysteme entständen insbesondere bei der Zusammenarbeit von Individuen untereinander (situation of cooperation).678 Das Vertrauen beziehe sich auf eine soziale Umwelt von Handeln, d. h. auf die Bedingungen, die von anderen Akteuren und deren Handlungen geschaffen würden.679 Dabei stelle Vertrauen die Voraussetzung für Zusammenarbeit dar, werde jedoch auch aus erfolgreicher Zusammenarbeit entstehen (product of successful cooperation).680 Nach Luhmann setzt Vertrauen eine Situation voraus, in der das Vertrauenssubjekt auf das Verhalten eines anderen angewiesen ist.681 Agiere das Vertrauenssubjekt hingegen in einem Umfeld autark, könne es dort eine Ereignisbeherrschung sicherstellen. Für Vertrauen gebe es insoweit keinen Bedarf.682
676 Hobbes / Schlösser / Klenner,
Leviathan, 210 f. Vertrauen, 4 f. 678 Sztompka, Trust, 62. 679 Sztompka, in: Nedelmann (Hg.), Politische Institutionen, 254, 255, Sztompka nennt dies auch sozial erzeugte Aspekte der Zukunft; Sztompka, Trust, 21, nach Sztompka richten sich alle in der Umwelt vorkommenden Handlungen an der Welt aus (all actions occur in the environment … are oriented toward the world). Vertrauen beziehe sich dabei nicht auf die naturgegebene Welt (natural world), sondern allein auf die soziale Welt (social world), die sich aus anderen Personen und deren Handlungen zusammensetzt (consisting of other people and their actions). Beispielsweise kann mann nicht dem Wetter vertrauen, wohl aber dem Wetterbeicht von Experten. 680 Sztompka, Trust, 62. 681 Luhmann, Vertrauen, 53; Luhmann, Soziale Systeme, 179 f., nach Luhmann entsteht Vertrauen, wenn eigenes Handeln in Bezug auf andere als riskant empfunden wird: Der andere kann anders handeln, als ich erwarte; und er kann, gerade wenn und gerade weil er weiß, was ich erwarte, anders handeln, als ich erwarte. Er kann über seine Absichten im Unklaren lassen oder täuschen. 682 Luhmann, Vertrauen, 19 f.; Giddens, Modernity, 19, Giddens meint hier: full monitoring and control of somebody’s performance makes trust unnecessary; Sztompka, Trust, 23; ähnlich Fukuyama, Trust, 117. 677 Luhmann,
4. Kap.: Gegenseitiges Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit der Strafjustiz201
So bestehen mit dem Kontroll- und dem Vertrauensmodell zwei Methoden, welche grundsätzlich geeignet sind, auf Ereignisse der sozialen Welt zu reagieren. Jene beiden Modelle könnten einander nicht nur ersetzen, sondern zudem mehr oder minder nebeneinander bestehen. Mit steigender Intensität der Zusammenarbeit würden beide stärker beansprucht.683 3. Wirkung von Vertrauen a) Der Begriff der Komplexität Festzuhalten bleibt, dass in einer völlig beherrschbar wirkenden Situation Vertrauen entbehrlich ist. Sicheres Wissen684 über Abläufe der Gegenwart ermöglicht und erleichtert dem jeweiligen Akteur die Ausrichtung und Anpassung seines Handelns. Ungewissheit und Unbeherrschbarkeit erschweren hingegen das bewusste Vorgehen. Dies gilt insbesondere für komplexe Situationen, welche der Einzelne nicht mehr beherrschen kann.685 Hierzu gehören zum einen Ereignisse außerhalb des eigenen Wirkungskreises, zum anderen jedes künftige Verhalten eines Dritten. Ein hinzutretender anderer Akteur schafft eine eigene komplexe Ausgangssituation. Auf äußere Faktoren, welche in der ausschließlichen Einflusssphäre eines anderen liegen, kann nunmehr nicht mehr ohne Weiteres eingewirkt werden. Zudem entstehe durch das Zusammenleben eine Gesellschaft, deren Zukunft stets komplex und ungewiss sei.686 Alle Akteure seien grundsätzlich in ihrem Handeln frei und würden eine Vielfalt von Handlungen erzeugen. Sowohl positive als auch negative Einflüsse auf das eigene Handeln sind dabei nicht immer absehbar.687 Das Risiko negativer Auswirkungen steigt mit zunehmender Anzahl und Heterogenität der an der sozialen Umwelt 683 Luhmann,
Vertrauen, 19. EuR 2012, 408, 419 f. 685 Luhmann, Soziale Systeme, 46 f., nach Luhmann besteht eine Wechselwirkung zwischen Systembildung und Komplexität: Um sich in ihrer Umwelt zurechtzufinden, bildeten Individuen Systeme. Dabei seien sie zur Selektion vorteilhafter Ausgangsbedingugen gezwungen und konditionierten diese Verhaltensweise. Aufgrund der Selektion der Relationen zwischen den Elementen des Sachverhalts werde ihr Handeln kontingent. Dieses „auch anders möglich sein“ berge jedoch immer ein Risiko. Durch seine Systembildung und-abhängigkeit reduziere das Individuum zwar intern Komplexität, jedoch gestalte es durch Selektion seine eigene Umwelt komplexer. Komplexität in diesem Sinne bedeute, dass durch immanente Beschränkungen der Verknüpfungskapazität der Elemente einer zusammenhängenden Menge nicht mehr jedes Element jederzeit mit jedem anderen verknüpft sein könne. 686 Sztompka, in: Nedelmann (Hg.), Politische Institutionen, 254, 255 f., Sztompka, Trust, 21, nach Sztompka the problem with social environment is that it possesses a particularly large degree of uncertainty and uncontrollability. 687 Sztompka, in: Nedelmann (Hg.), Politische Institutionen, 254, 255 f. 684 Kaufhold,
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2. Teil: Darstellung
teilnehmenden Akteure. Mit zunehmender räumlicher Distanz schwänden zudem die Kontroll- und Überwachungsmöglichkeiten des jeweiligen Vertrauenssubjekts. Diese Merkmale veränderten selbst die soziale Umwelt. Je vielfältiger sich die soziale Umwelt gestalte, desto komplexer und unpersönlicher werde sie.688 Komplexe Situationen sind nahezu alltäglich. Hierzu gehören etwa der Straßenverkehr sowie der Austausch von Waren und Dienstleistungen. Wer am Straßenverkehr teilnimmt, setzt sich dem Verhalten anderer Menschen aus. Man benutzt Fahrzeuge und Verkehrswege, welche von anderen geplant und gebaut wurden. Man überlässt es Dritten, Personen und Sachen zu transportieren. Ob ein Unfall eintritt, liegt so nicht immer in eigener Verantwortung. Ebenso begibt man sich in eine Abhängigkeit von Dritten, wenn man am allgemeinen Warenhandel teilnimmt. Wo die Selbstversorgung endet, ist man auf das Angebot anderer angewiesen. b) Reduktion von Komplexität Gegen jenes Risiko der komplexen Umwelt ständen uns in der Regel drei Handlungsstrategien zur Verfügung. Soll das Risiko weitestgehend ausgeschlossen werden, könne man versuchen „auszusteigen“, d. h. die soziale Umwelt in die Isolation zu verlassen.689 Wolle man hingegen am sozialen Leben teilnehmen, sei dessen Risiko nicht zu vermeiden. Hier könnten wir zwischen zwei Alternativen wählen. Hält man das Risiko für geringfügig oder gar gänzlich unbedeutend, so könne man zwar an der sozialen Umwelt teilnehmen, zugleich aber auf jede Form der Kommunikation verzichten. Solches Handeln bleibe dann riskant und letztlich „blind“. Langfristig führe jenes Verhalten aufgrund seiner Einseitigkeit ebenso in die Isolation. Sztompka erkennt somit zu Recht, dass wir zur Aufrechterhaltung des so zialen Lebens interagieren müssen.690 Das Risiko könne so zwar nicht ausgeschlossen, jedoch weitestgehend minimiert werden. 688 Sztompka, in: Nedelmann (Hg.), Politische Institutionen, 254, 256; Giddens, Konsequenzen der Moderne, 48, 85, auch Giddens sieht in zeitlicher und räumlicher Abwesenheit des anderen eine Vertrauensvoraussetzung. 689 Giddens, Konsequenzen der Moderne, 116, Giddens nennt dies bei vorangegangenem Vertrauensbruch auch eine Art von resigniertem Zynismus; Luhmann, Soziale Systeme, 179, nach Luhmann kommt es kaum und nur in einem sehr engen, kurzfristigen Sinne zur Bildung sozialer Systeme, wenn das Sich-Einlassen aufgrund des Risikos der komplexen sozialen Umwelt von vorneherein ausgeschlossen ist und so immer zum Verzicht auf soziale Beziehung zwingt. 690 Sztompka, in: Nedelmann (Hg.), Politische Institutionen, 254, 256; Sztompka, Trust, 25; Luhmann, Soziale Systeme, 179 f., nach Luhmann führt das Risiko der komplexen Umwelt zu einer immer präsenten Angstschwelle. Zur Bildung sozialer Systeme müsse diese Schwelle überwunden werden. Erforderlich seien hierfür ent-
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Erst durch Zusammenarbeit würden wir uns gegen äußere Einflüsse und zukünftige Ereignisse absichern. Indem man sich auf einen anderen verlasse, blende man die unsicheren Faktoren seines Handelns aus und unterstelle sie als gegeben.691 Dies vereinfache wiederum das eigene Handeln.692 Abstrakt diene die Vertrauensbeziehung dazu, Situationen sozial erweiterter Komplexität für den Vertrauenden vorteilhaft aufzulösen. Das Vertrauen biete dabei eine wirksame Form der Reduktion von Komplexität.693 Ohne Vertrauen in die Rechtstreue anderer Verkehrsteilnehmer und die sichere Gestaltung des Verkehrswesens aufgrund fremden Expertenwissens würde Letzteres zum Erliegen kommen.694 Ohne Vertrauen in die Zuverlässigkeit des Vertragspartners und den Geldwert als Zahlungsmittel695 wäre Handel kaum denkbar. Das Recht übernehme solche gewachsenen Verhaltensmuster. So wie jeder am Sozialleben teilnehmende Akteur schon im Eigeninteresse auf einen geordneten Personen- und Güterverkehr angewiesen sei, hätten sich dementsprechend auch im Recht Grundsätze etabliert, welche auf gegenseitigem Vertrauen basierten. Demgemäß ständen der allgemeinen Handlungs- und Vertragsfreiheit etwa der Vertrauensgrundsatz im Straßenverkehrsrecht und die Vertragstreue im Privatrecht (pacta sunt servanda) gegenüber.696
sprechende „trotzdem“-Strategien: Vertrauen und Misstrauen. Beide ermöglichten es mit unterschiedlicher Reichweite ihrer Ordnungsleistung, sich auf riskante Situationen einzulassen. 691 Sztompka, in: Nedelmann (Hg.), Politische Institutionen, 254, 255; Sztompka, Trust, 25; Luhmann, Vertrauen, 30, Luhmann spricht hier von einem Aufschwung zur Indifferenz: Man schließt durch Vertrauen gewisse Entwicklungsmöglichkeiten von der Berücksichtigung aus. Man neutralisiert gewisse Gefahren, die nicht ausgeräumt werden können, die aber das Handeln nicht irritieren sollen. 692 Luhmann, Vertrauen, 9, hierin sieht Luhmann die Hauptaufgabe des Vertrauens: Wer Vertrauen erweist, nimmt die Zukunft vorweg. Er handelt so, als ob er der Zukunft sicher wäre; Sztompka, in: Nedelmann (Hg.), Politische Institutionen, 254, 255 f., Sztompka betrachtet Vertrauen daher auch als Ressource zur Bewältigung der Zukunft und auch als Annahme bzw. Wette über das künftige Handeln anderer; Sztompka, Trust, 25, 63, Sztompka sieht im Vertrauen auch ein actively anticipating and facing an unknown future bzw. crucial strategy for dealing with an uncertain and uncontrollable future. 693 Luhmann, Vertrauen, 6 f., 8, 30; Sztompka, in: Nedelmann (Hg.), Politische Institutionen, 254, 255; Sztompka, Trust, 24 f. 694 Giddens, Konsequenzen der Moderne, 41 ff. 695 Giddens, Konsequenzen der Moderne, 38 f., 117, Giddens sieht in Geld einen mit der Moderne verbundenen Entbettungsmechanismus, welcher auf Vertrauen beruht; Luhmann, Vertrauen, 62 ff. 696 Luhmann, Vertrauen, 42 ff., nach Luhmann fundiert der Vertrauensgedanke das gesamte Recht, das gesamte Sicheinlassen auf andere Menschen.
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II. Anforderungen der modernen Gesellschaft an die justizielle Zusammenarbeit 1. Komplexität aufgrund gesellschaftlicher Veränderung a) Globalisierung als gesellschaftlicher Wandel Nachdem Vertrauen also grundsätzlich geeignet und notwendig ist, um auf eine komplexe soziale Umwelt zu reagieren und um eine erfolgreiche Zusammenarbeit zu begründen, soll nun untersucht werden, ob in der EU im Bereich der Strafverfolgung eine komplexe Situation besteht, welche eine auf Vertrauen gegründete justizielle Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten notwendig und möglich macht. Eine solche Situation könnte sich insbesondere durch gesellschaftliche Veränderungen ergeben haben. Dies hängt wiederum ab von der Organisationsform der Individuen, welche eine Gemeinschaft bilden, um bestimmte Ziele miteinander zu verwirklichen. Nach traditionellem Verständnis in der Soziologie schließen sich die Einwohner eines gewissen abgegrenzten Territoriums in einem Nationalstaat zusammen, um Fragen des sozialen Lebens gemeinsam zu lösen.697 In der Soziologie wird dies auch methodologischer Nationalismus genannt. Man geht hier von einer Kongruenz der territorialen, politischen, ökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Grenzen aus.698 Nach neuerem Verständnis haben sich jene Voraussetzungen mit Anbruch der Moderne verändert. Seitdem sei zwar der Nationalstaat (zu denen auch die Mitgliedstaaten zu zählen sind) als ordnendes Element entstanden. Jedoch hätten sich aus dieser durch Ordnung gegründeten Sicherheit heraus wiederum komplexe Systeme entwickelt. Der Aufbruch in die Moderne habe ein hohes Maß an Technisierung, Arbeitsteilung und Kommunikation erfordert. Nach Giddens hat man zur Vereinfachung dieses Prozesses sogenannte Entbettungsmechanismen (disembedding mechanisms) genutzt, welche die Gesellschaft von einer auf persönliche Erfahrung des Einzelnen gestützten Umwelt in neue, auf Expertenwissen gegründete Systeme überführt hätten.699 Denn ortsgebundene Interaktionszusammenhänge (local contexts of interaction) und begrenzte Raum-Zeit-Spannen (definite spans of time-space) schränkten das Handeln unnötig ein. Überwunden werden könne diese Beschränkung durch die Entbettung sozialer Systeme (disembedding of social 697 Giddens,
Konsequenzen der Moderne, 22 ff. Weltrisikogesellschaft, 298. 699 Giddens, Konsequenzen der Moderne, 33 ff.; Giddens, The consequences of modernity, 21 ff., nach Giddens spielten Entbettungsmechanismen für die Entwicklung von modernen Gesellschaftsinstitutionen eine wesentliche Rolle (intrinsically involved in the development of modern social institutions). 698 Beck,
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systems). Unter Entbettung seien in diesem Sinne das „Herausheben“ sozia ler Beziehungen (lifting out of social relations) aus ortsgebundenen Interaktionszusammenhängen und ihre unbegrenzte Raum-Zeit-Spannen übergreifende Umstrukturierung (restructuring across) zu verstehen.700 Entbettete Institutionen (disembedded institutions) verschöben die genannten Grenzen stark (greatly extend the scope of time-space distanciation) und eröffneten durch Loslösung (by breaking free) von Zwängen ortsgebundener Gewohnheiten und Praktiken vielfältige Möglichkeiten des Wandels.701 Eine Form der Entbettung sei die Installierung von Expertensystemen (establishment of expert systems).702 Dies seien Systeme, die weite Bereiche der materiellen und gesellschaftlichen Umfelder, in denen wir heute lebten, prägten.703 Sie dienten dazu, soziale Beziehungen von den unmittelbaren Gegebenheiten ihres Kontexts zu lösen, indem sie Garantien dafür lieferten, dass unsere Erwartungen über gewisse Raum-Zeit-Abstände hinweg erfüllt würden.704 Zu solchen Mechanismen wird man unter anderem die Massenproduktion, die Marktwirtschaft, das logistische Transportwesen und die Telekommunikation705 zu zählen haben. Aufgrund des technischen Fortschritts ließen sich nun große räumliche Distanzen überwinden und mit den Finanzmitteln des Kreditwesens auch große Zeiträume planvoll überbrücken. Aber auch politische Veränderungen hätten die soziale Umwelt massiv umgestaltet. Auf dem Weg zur europäischen Integration ist innerhalb Europas mit dem Schengenraum ein neues komplexes Gebilde aus bislang 26 Ländern geschaffen worden, in dem sich über 400 Millionen Menschen frei bewegen können.706 Die Öffnung der Binnengrenzen durch die teilnehmenden Nationalstaaten hätte so zusammen mit der erhöhten Mobilität ihrer Bürger zu einer grenzüberschreitend vernetzten Gesellschaft707 geführt.708 700 Giddens, Konsequenzen der Moderne, 33; Giddens, The consequences of modernity, 21. 701 Giddens, Konsequenzen der Moderne, 32; Giddens, The consequences of modernity, 20, nach Giddens sind diese Institutionen jedoch in ihrem eigenen Kontext wiederum räumlich und zeitlich begrenzt (to have this effect, depend upon coordination across time and space). 702 Giddens, Konsequenzen der Moderne, 34; Giddens, The consequences of modernity, 22, als zweiten Mechanismus benennt Giddens die Schaffung symbolischer Zeichen (creation of symbolic tokens). 703 Giddens, Konsequenzen der Moderne, 40 f. 704 Giddens, Konsequenzen der Moderne, 42. 705 Mit dem Internet wurde ein von jedermann weltweit nutzbares Massenmedium geschaffen, welches sich national kaum noch kontrollieren lässt, Sieber, ZStW 2007, 1, 4, 61; Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, Einleitung, Rn. 17. 706 Mitteilung vom 10.6.2009, KOM(2009) 263 endgültig, 4. 707 BVerfG BVerfGE 123, 267, 345.
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Die Übergänge zwischen den abgegrenzten Bereichen der nationalstaatlich organisierten Gesellschaften würden sich durch regen gegenseitigen Austausch relativieren. Angesichts der Inkongruenz zwischen staatlichen und gesellschaftlichen Grenzen verliere die moderne Gesellschaft die Kontrolle über die selbst geschaffenen Entbettungsmechanismen.709 Es entständen offene Gesellschaften und institutionalisierte Risikoumwelten, geprägt von zunehmender Komplexität und vielfältigen Interdependenzen, deren Probleme nicht mehr allein vom jeweiligen Nationalstaat gelöst werden könnten. Aufgrund der Globalisierung seien die bestehenden Systeme anfälliger für Störungen, welche in der modernen Gesellschaft mehr Menschen länger und intensiver belasteten als noch in der traditionellen Gesellschaft.710 708
b) Transnationale Kriminalität Von dieser neu entstandenen Riskoumwelt profitiert auch die transnationale Kriminalität. Zwar gibt es grenzüberschreitende Straftaten nicht erst seit der Moderne.711 Jedoch hat sich das Auftreten dieses Phänomens verstärkt mit der Globalisierung und Europäisierung, einer besonders intensiven Art von gesellschaftlicher Abhängigkeit.712 708 Nehm, DRiZ 2000, 355, 356, 364; Esser, Auf dem Weg zu einem europä ischen Strafverfahrensrecht, 8 f.; Sieber, ZStW 2007, 1, 6, 24. 709 Beck, Weltrisikogesellschaft, 298, Beck nennt dies auch Entgrenzung der Gefahren und Ambivalenz ko- oder multi-nationaler Handlungsräume; Giddens, Konsequenzen der Moderne, 94, 156, nach Giddens haben die Entbettungsmechanismen in der heutigen Welt zwar weite Sicherheitsbereiche geschaffen, doch die neue Schar von Risiken, die dadurch entstanden ist, wirkt wahrhaft Furcht einflößend. 710 Giddens, Konsequenzen der Moderne, 11, 84 ff., 156, 215, Giddens nennt dies auch Konsequenzen bzw. Risikoprofil der Moderne; Giddens, in: Beck / Giddens / Lash / Rang (Hg.), Reflexive Modernisierung, 113, 114 ff.; Beck fasst diese Entwicklung unter dem Stichwort zweite oder reflexive Moderne zusammen, Beck, in: Beck / Giddens / Lash / Rang (Hg.), Reflexive Modernisierung, 19, 27 ff.; nach Sztompka sind große Bereiche der gegenwärtigen sozialen Welt für ihre Akteure opaque geworden, Sztompka, Trust, 13; Perron, in: Hettinger / Zopfs / Hillenkamp / Köhler / Rath / Streng / Wolter (Hg.), FS-Küper, 429, 438, nach Perron sind offene, mobile, hochdynamische und zugleich stark anonymisierte Gesellschaften entstanden. 711 Vielmehr haben die Betrachtungen zum Strafanwendungsrecht eine lange Tradition, vgl. von Liszt, in: von Liszt (Hg.), Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, 90, 94 ff. 712 Sieber, ZStW 2007, 1, 1, 3, 16, 21; Sieber spricht daher auch von aktuellen Herausforderungen des Strafrechts durch gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Veränderungen. Die hieraus entstandene Informations- und Risikogesellschaft begründe neue Risiken und eine komplexe Kriminalität, die das Strafrecht […] an seine funktionalen Grenzen beim Schutz der Gesellschaft und der Freiheit des Einzelnen führe, Sieber, ZStW 2009, 1, 3; Sieber, in: Sieber / Brüner / Satzger / von Heintschel-Heinegg (Hg.), Europäisches Strafrecht, 25, 82; nach Vogel führen Europäisierung und Globalisierung zu europäisierter und globalisierter Kriminalität,
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Die konkrete Ausgestaltung neuer transnationaler Märkte als Freihandelszone oder Binnenmarkt – wie in der EU – beeinflusse mittelbar auch das Entstehen transnationaler Kriminalität. Die Strukturen eines legalen Marktes nutze auch ein illegaler Markt für sich.713 Künstliche Konstrukte, welche über nationale Grenzen hinaus angelegt seien, würden aufgrund ihrer Effizienz und Komplexität auch von der Organisierten Kriminalität bevorzugt. Vom globalen Containerhandel profitiere der internationale illegale Handel mit Menschen, menschlichen Organen, Drogen, Waffen und Raubkopien gleichermaßen.714 Der internationale Finanzmarkt begünstige die Geldwäsche und schaffe Kanäle, die auch von verbotenen Märkten genutzt würden.715 Mit dem Auftreten internationaler Unternehmen und transnational handelnder Akteure entwickelten sich zudem neue Formen der grenzüberschreitenden Wirtschaftskriminalität.716 Die durch den Schengenraum gewonnene Freizügigkeit begünstige ebenfalls die transnationale Krimina lität.717 Den enormen Erfolg neuer Medien – wie des Internets – mache sich auch die transnationale Kriminalität zu Nutze: vereinfachter Zugang, leichte Bedienung, bargeldloser Zahlungsverkehr, Datenvervielfältigungsmöglichkeiten, Automatisierung, erschwerte Aufklärung und Rückverfolgung sowie eine unterschiedliche Gesetzeslage in den betroffenen NationalVogel, in: Vogel / Grotz (Hg.), Perspektiven des internationalen Strafprozessrechts, 1, 1; Lelieur, in: Ruggeri (Hg.), Transnational inquiries, 399, 400. 713 Sieber, ZStW 2009, 1, 3 f.; Sieber, ZStW 2007, 1, 6; Sieber, in: Sieber / Brüner / Satzger / von Heintschel-Heinegg (Hg.), Europäisches Strafrecht, 25, 82; Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, 8. 714 Sieber, ZStW 2007, 1, 5 f., 21; Sieber, ZStW 2009, 1, 3 f.; Sieber, ZRP 2000, 186, 187. 715 Sieber, ZStW 2007, 1, 5, 20; Sieber spricht hier auch von Schatten- oder Parallelwirtschaft, die als Marktstörung wahrgenommen wird, Sieber, ZRP 2000, 186, 187 f.; Sieber, ZStW 2009, 1, 3 f. 716 Sieber, ZStW 2007, 1, 5; Sieber, in: Sieber / Brüner / Satzger / von HeintschelHeinegg (Hg.), Europäisches Strafrecht, 25, 82. 717 Nehm, DRiZ 2000, 355, 356, 364; Kotzurek, ZIS 2006, 123, 127, Kotzurek spricht von einer Freizügigkeit der Straftäter; Spinellis, in: Joerden / Scheffler / Sinn / Wolf (Hg.), FS-Szwarc, 701, 701 f.; Nalewajko, Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, 27, 48 f., 50 f., 54; Perron, in: Dörr / Dreher (Hg.), Europa als Rechtsgemeinschaft, 135, 146 f., 149, 152, Perron fordert in diesem Zusammenhang eine Strafrechtsvereinheitlichung; Leutheusser-Schnarrenberger, StraFo 2007, 267, 268; Zimmermann / Glaser / Motz, EuCLR 2011, 56, 57; Schierholt, ZIS 2010, 567, 567; Schünemann, StraFo 2003, 344, 346; Schünemann, in: Joerden / Scheffler / Sinn / Wolf (Hg.), FS-Szwarc, 109, 119, 122; Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, 8 f.; Esser, in: Marauhn (Hg.), Europäisches Beweisrecht, 39, 39; Hofmanski, in: Joerden / Scheffler / Sinn / Wolf (Hg.), FS-Szwarc, 667, 668 f.; Wasmeier, ZStW 2004, 320, 320; Sieber, in: Sieber (Hg.), Europäische Einigung, 11, 11 f.; Sieber, in: Sieber (Hg.), Europäische Einigung, 157, 157 f.; Sieber, ZStW 2007, 1, 6, 24; Sieber, in: Sieber / Brüner / Satzger / von Heintschel-Heinegg (Hg.), Europäisches Strafrecht, 25, 82; Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 43.
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staaten.718 Probleme ergäben sich z. B. mit der teilweise gesetzeswidrigen Beseitigung und Entsorgung von Abfällen und gefährlichen Stoffen zunehmend auch durch Kriminelle. Aber auch schon das legale Betreiben und der vermehrte Umgang mit gefährlichen Anlagen und Stoffen erhöhten deren Schadenspotenzial. Unfälle und unsachgemäße Giftmüllentsorgung könnten zu überregionalen Umweltverschmutzungen führen, mit negativen Auswirkungen auf eine Vielzahl von Menschen. Die Existenz und der Zugang zu gefährlichen Stoffen ermöglichten zudem gemeingefährliche, terroristische Angriffe. Sieber erkennt daher, dass diese technischen Risiken in vielen Fällen nach Ort, Zeit und Kreis der Betroffenen nicht mehr eingrenzbar sind.719 Auch an den Außengrenzen der EU habe sich die gesellschaftliche Situation verändert. Das durch die europäische Integration verstärkte Wohlstandsgefälle zwischen der EU und Drittstaaten führe zu einer anhaltenden Immigration. Die Wirtschaftskraft der EU begünstige wiederum die Schleuserkriminalität und mache ihr Territorium zudem zum lukrativen Absatzmarkt für illegale Waren aller Art.720 Von einem in- und externen Regelungsgefälle innerhalb der EU profitiere zugleich die transnationale Subventions-, Zoll- und Steuerkriminalität.721 Begünstigt werde die transnationale Kriminalität neben den gesellschaftlichen Veränderungen der Moderne auch von der unterschiedlichen Stringenz der nationalen Normen. Straftäter könnten dieses Regelungsgefälle – insbesondere in der EU – missbrauchen und sich für ihre Delinquenz sichere Vorbereitungs-, Flucht- und Ruheräume in den für sie günstigen Nationalstaaten suchen. Mangels Strafbarkeit bzw. mangels funktionierender Strafverfolgung und Rechtshilfe seien in der EU sogenannte Strafbarkeitsoasen (safe harbour) mit faktischer Straflosigkeit (impunity) entstanden.722 Teilweise wird 718 Sieber, ZStW 2007, 1, 4, 61; Sieber, ZStW 2009, 1, 3; Sieber, in: Sieber / Brüner / Satzger / von Heintschel-Heinegg (Hg.), Europäisches Strafrecht, 25, 82; Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, 9. 719 Sieber, ZStW 2007, 1, 4, 61. 720 Sieber, ZStW 2007, 1, 19 f.; Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, 9; Hecker, in: Marauhn (Hg.), Europäisches Beweisrecht, 27– 37, 28, Hecker nennt dies Transnationalisierung der Verbrechensbegehung und weist auf den Anreiz für Kriminalität aufgrund des Zustands relativ hohen Wohlstands hin; Hecker, JA 2002, 723, 723 f. 721 Sieber, ZStW 2007, 1, 7; Sieber, ZRP 2000, 186, 187. 722 Sieber, ZStW 2007, 1, 7, 23; Sieber, ZRP 2000, 186, 199; Nehm, DRiZ 1996, 41, 42, Nehm spricht hier auch von Reservaten der Straflosigkeit; Nehm, DRiZ 2000, 355, 363 ff.; Vogel, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kommentar, Vor § 1 IRG, Rn. 26, 27; Vogel, in: Hilf / Nettesheim (Hg.), EUV, AEUV-Kommentar, Art. 82 AEUV, Rn. 10; Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, Einleitung, Rn. 109; Zimmermann / Glaser /
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hier auch ein tatleitendes forum-shopping vermutet.723 Hinzu kommt noch die generelle Komplexität des Rechtshilfeverfahrens.724 Die nationale Strafverfolgung steht mithin vor mehreren Problemen. Globale Institutionen wie das Internet, der internationale Finanzmarkt oder der europäische Binnenmarkt und die damit jeweils verbundene transnationale Kriminalität lassen sich einzelstaatlich nur noch schwer kontrollieren.725 Komplexe Systeme werden auch bewusst genutzt, um kriminelle Unternehmensstrategien zu verschleiern.726 Für eine effektive Verfolgung der europäischen grenzüberschreitenden Kriminalität727 muss daher eine neue Strategie gewählt werden.728 2. Vertrauen als Grundlage staatlicher, transnationaler Zusammenarbeit So können auch die modernen Gesellschaften, selbst noch als Nationalstaat, auf diese komplexe Umwelt reagieren. Sie müssen hierzu vernetzt Motz, EuCLR 2011, 56, 57; Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, 9; Perron, in: Hettinger / Zopfs / Hillenkamp / Köhler / Rath / Streng / Wolter (Hg.), FS-Küper, 429, 437; Quintero Olivares, in: Sieber / Dannecker / Kindhäuser / Vogel / Walter (Hg.), FS-Tiedemann, 1339, 1341; Dandurand / Colombo / Passas, CLSC 2007, 261, 263, Dandurand spricht hier von to avoid legislative loop holes and eliminate safe havens; Gleß, EuCLR 2011, 114, 121; Vernimmen-Van Tiggelen / Surano, Future of mutual recognition, 16; Vogel, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 269, 279 f.; vgl. auch EGMR, Urt. v. 7.7.1989, Soering . / . Vereinigtes Königreich, Az. 14038 / 88, EGMR-E 4, 376, Rz. 89. 723 Wasmeier, ZEuS 2006, 23, 35; Juppe, Die gegenseitige Anerkennung, 139 f.; Satzger, KritV 2008, 17, 33; Andreou, Gegenseitige Anerkennung, 191; Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 61; dies hat auch die Europäische Kommission erkannt: Die geordnete Rechtspflege darf nicht dadurch gefährdet werden, dass zwischen den Rechtssystemen der Mitgliedstaaten ungerechtfertigte Unterschiede bestehen: So sollten Straftäter nicht die Möglichkeit haben, sich der Verfolgung und Haft dadurch zu entziehen, dass sie sich in einen anderen Mitgliedstaat begeben und die Unterschiede zwischen den einzelstaatlichen Rechtssystemen ausnutzen, Aktionsplan zur Umsetzung des Stockholmer Programms, KOM( 2010) 171 endgültig, 5. 724 Riedo, Fiolka und Niggli sehen in der Anzahl der beteiligten Staaten und der mangelnden internen Abstimmung deren eigenständiger Rechtsordnungen die besondere Komplexität des Rechtshilferechts, Riedo / Fiolka / Niggli, Schweizerisches Strafprozessrecht, 499; Erwägungsgrund 5 RB EHB, Abl. 2002 L 190 / 1. 725 Sieber, ZStW 2007, 1, 5; Sieber, ZStW 2009, 1, 3 f.; Nehm, DRiZ 2000, 355, 356. 726 Sieber, ZStW 2007, 1, 20. 727 Sieber, ZStW 2009, 1, 3. 728 Krüßmann, Transnationales Strafprozessrecht, 74, Krüßmann spricht hier davon, dass sich der Strafprozess „neu erfinden“ muss, um die Herausforderung angesichts transnationaler organisierter Kriminalität und grenzüberschreitender Strafverfolgung bewältigen zu können; Nehm, DRiZ 2000, 355, 364, Nehm spricht hier von Zugzwang.
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2. Teil: Darstellung
zusammenarbeiten.729 Wie oben dargelegt, ist für eine Zusammenarbeit jedoch Vertrauen notwendig.730 Somit ist die Gewährung gegenseitigen Vertrauens charakteristisch für die Moderne.731 Das gilt auch für die transnationale justizielle Zusammenarbeit zur Bekämpfung transnationaler Kriminalität. Die traditionelle Rechtshilfe bildet hierfür die Grundlage und wird weiterentwickelt zu einer intensiveren Form der transnationalen Strafverfolgung auf der Grundlage des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung. Die traditionelle Rechtshilfe ist einst geschaffen worden für vereinzelt auftretende grenzüberschreitende Kriminalität.732 Geprägt ist die Zusammenarbeit gegenwärtig noch von nationalstaatlichen Vorbehalten, welche zu einem langwierigen und komplexen Rechtshilfeverfahren führen können. Jedoch hat sich zwischenzeitlich das Phänomen der transnationalen Kriminalität entwickelt und entfaltet.733 Dementsprechend muss eine moderne 729 Beck sieht daher transnationalstaatliche Kooperation als Voraussetzung an […] für erfolgreiches nationales und lokales Risikomanagement, Beck, Weltrisikogesellschaft, 313; Giddens, Konsequenzen der Moderne, 207, nach Giddens werden die Staaten durch zunehmende Globalisierungstrends mehr oder weniger dazu gezwungen, mit Bezug auf Fragen zusammmenzuarbeiten, die sie früher womöglich jeder für sich zu erledigen getrachtet hätten; BVerfG BVerfGE 123, 267, 345, nach dem BVerfG können demokratische Verfassungsstaaten gestaltenden Einfluss auf eine zunehmend mobile und grenzüberschreitend vernetzte Gesellschaft nur gewinnen durch sinnvolles, ihr Eigeninteresse wie ihr Gemeininteresse wahrendes Zusammenwirken; Sieber, in: Sieber / Brüner / Satzger / von Heintschel-Heinegg (Hg.), Europäisches Strafrecht, 25, 79. 730 Nach Sztompka wären wir sonst angesichts der opaqueness of our social environment wie paralysiert und handlungsunfähig, Sztompka, Trust, 13; Luhmann, Vertrauen, 6, 15, 19 f., nach Luhmann wird man damit rechnen müssen, dass Vertrauen mehr und mehr in Anspruch genommen wird, damit technisch erzeugte Komplexität der Zukunft ertragen werden kann; Merkel, Regierungserklärung 29.1.2014, nach Merkel ist Vertrauen die Grundlage transnationaler Zusammenarbeit: … Denn es berührt den Kern dessen, was die Zusammenarbeit befreundeter und verbündeter Staaten ausmacht: Vertrauen. Vertrauen ist die Grundlage für Frieden und Freundschaft zwischen den Völkern. Vertrauen ist erst recht die Grundlage für die Zusammenarbeit verbündeter Staaten. Ein Vorgehen, bei dem der Zweck die Mittel heiligt, bei dem alles, was technisch machbar ist, auch gemacht wird, verletzt Vertrauen; es sät Misstrauen. Am Ende gibt es nicht mehr, sondern weniger Sicherheit. 731 Sztompka, Trust, 16; Luhmann, Vertrauen, 126, nach Luhmann ist Vertrauen nicht das einzige Fundament der Welt; aber eine sehr komplexe und doch strukturierte Weltvorstellung ist ohne eine ziemlich komplexe Gesellschaft und diese ohne Vertrauen nicht zu konstituieren; Giddens, in: Beck / Giddens / Lash / Rang (Hg.), Reflexive Modernisierung, 316, 319, nach Giddens beruhen auf ihm [aktiven Vertrauen] heute die neuen Formen des gesellschaftlichen Zusammenhalts, seien es intime Bindungen oder globale Interaktionssysteme. 732 Vgl. RG RGSt 34, 191, 194 f. 733 Nehm, DRiZ 2000, 355, 355, 356; Nehm spricht hier auch von überkommenem kleinstaatlichem Souveränitätsgehabe, welches angesichts der transnationalen
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Form der Rechtshilfe auch eine transnationale Strafverfolgung ermöglichen.734 Hierzu gilt es, die Komplexität zu überwinden, welche durch natio nalstaatliche Unterschiede der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten entsteht. Dies ist nur durch Vertrauen in die grundsätzliche Gleichartigkeit ihrer Rechtssysteme und durch eine auf gegenseitiger Anerkennung beruhende Zusammenarbeit möglich.735
C. Vertrauenswürdigkeit als Vertrauensgrundlage I. Vorüberlegungen Neben einem entsprechenden Vertrauensbedarf setzt Vertrauen auch die Vertrauenswürdigkeit des Vertrauensobjekts voraus.736 Je weniger diese besteht, desto mehr hofft das Vertrauenssubjekt lediglich auf einen guten Ausgang seines Verhaltens. Zwar liegen die Begriffe Vertrauen und Hoffnung (oder Zuversicht) sehr nahe beieinander. Beide setzen eine unsichere Ausgangslage voraus, welche ein bestimmtes Verhalten erfordert. Während jedoch der Vertrauende aufgrund äußerer Faktoren und Erfahrungswerte den Eintritt eines bestimmten Ereignisses erwartet, handelt der Hoffende ganz oder überwiegend im guten Glauben. Der Vertrauende reflektiert sein Handeln, während der Hoffende bedingungslos handelt. Das Vertrauensmodell setzt so auf einen freien Willen und lässt sich nicht erzwingen. „Blindes“ Vertrauen ist demnach begrifflich ein Widerspruch in sich. Systeme, welche „blindes“, unkritisches Vertrauen alternativlos einfordern oder dieses lediglich fingieren, sind daher autokratisch und verwenden den Begriff Vertrauen rein ideologisch.737 Kriminalität übersteigert und unzeitgemäß ist, Nehm, DRiZ 1996, 41, 41; Sieber, ZStW 2007, 1, 7; Wasmeier, in: Sieber / Brüner / Satzger / von Heintschel-Heinegg (Hg.), Europäisches Strafrecht, 504, 504, Wasmeier spricht hier auch von einem Anachronismus. 734 Sieber, ZStW 2007, 1, 7, nach Sieber kann das Strafrecht diese neuen Herausforderungen deswegen nur bewältigen, wenn es sich nicht auf einen territorialen Anwendungsbereich beschränkt, sondern selbst global wird; Sieber, in: Sieber / Brüner / Satzger / von Heintschel-Heinegg (Hg.), Europäisches Strafrecht, 25, 82; Nehm, DRiZ 2000, 355, 356; Schneiderhan, DRiZ 2012, 294, 297; Hecker, in: Ruggeri (Hg.), Transnational inquiries, 269, 271. 735 Nehm, DRiZ 1996, 41, 46; Erwägungsgrund 5 RB EHB, Abl. 2002 L 190 / 1; Eser, in: Sieber / Brüner / Satzger / von Heintschel-Heinegg (Hg.), Europäisches Strafrecht, 557, 579. 736 Sztompka, Trust, 107, Sztompka meint, dass the functionality or dysfunctional ity of trust is relative to its epistemological foundations: trustworthiness of the target. 737 Sztompka, Trust, 24 f., 148; Sztompka, in: Nedelmann (Hg.), Politische Institutionen, 254, 256; Luhmann, Vertrauen, 29, nach Luhmann reflektiert Vertrauen
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Auf die konkrete Untersuchung übertragen, genügt es daher nicht, dass die Mitgliedstaaten angesichts der transnationalen Kriminalität neue Wege der auf Vertrauen basierenden justiziellen Zusammenarbeit finden müssen. Vielmehr erfordert diese Zusammenarbeit auch die Vertrauenswürdigkeit der teilnehmenden Partner und ein geeignetes Bezugsobjekt des Vertrauens.738 II. Sozialwissenschaftliche Erkenntnisse 1. Vertrauenswürdigkeit a) Vorbemerkung In der Soziologie unterscheidet man zwischen zwei Formen der Vertrauenswürdigkeit, nämlich der selbstgewonnenen (primary trustworthiness bzw. originäre Vertrauenswürdigkeit) und der abgeleiteten (derived trustworthi ness).739 Das Vertrauenssubjekt wird durch originäre Vertrauenswürdigkeit zu der Annahme veranlasst, dass das Vertrauensobjekt aufrichtig und leistungsfähig sei, während abgeleitete Vertrauenswürdigkeit auf äußeren Einflüssen beruht: Strenge Überwachung und beständige Durchsetzung schaffen Verlässlichkeit.740 b) Originäre Vertrauenswürdigkeit Der Vertrauende schätzt sein Gegenüber insbesondere anhand eigener Wahrnehmung ein. Bei „gutem“ Eindruck ist es vertrauenswürdig. Ein positives Bild kann nach Sztompka insbesondere durch drei Faktoren entsteKontingenz, während Hoffnung diese eliminiert; Luhmann, Soziale Systeme, 181, nach Luhmann muss Vertrauen kontingent sein, das heißt freiwillig erwiesen werden. Es kann daher weder verlangt noch normativ vorgeschrieben werden. Es hat den sozialen Funktionswert von Vertrauen nur, wenn es die Möglichkeit des Misstrauen sieht – und abweist; wenn es also auf der Negation des Gegenteils beruht; Hefendehl, ZIS 2006, 229, 234; Fichera, European arrest warrant, 210; ein Beispiel für einen ideologischen Missbrauch des Vertrauensbegriffs stellen die Ausführungen von Bauch dar, Bauch, Die Tatwelt 1938, 67, 70 ff. 738 Nalewajko, Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, 101, Nalewajko fordert daher im Rahmen der Anerkennung kein blindes Vertrauen; Riedo / Fiolka / Niggli, Schweizerisches Strafprozessrecht, 503, Hefendehl, ZIS 2006, 229, 234, nach Hefendehl stellt eine Vertrauensfikton beim Prinzip der gegenseitigen Anerkennung einen Missbrauch des Vertrauensbegriffs dar: Denn man ist nur dann bereit, eine komplexe Situation zu reduzieren und dann an eine bestimmte Institution zu delegieren, wenn das Vertrauen als soziale Kategorie bereits existiert. Andernfalls ginge es um Macht und damit wiederum [sic] eine Anordnung durch eine mit Autorität versehene Institution. 739 Sztompka, Trust, 70 f.; ähnlich auch Giddens, Konsequenzen der Moderne, 107. 740 Sztompka, Trust, 71.
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hen: Vergangenes und gegenwärtiges Verhalten sowie das generelle Auf treten.741 Der gute Ruf (reputation), welcher sich auf die Leistung und das Verhalten des Vertrauensobjekts in der Vergangenheit richte, helfe dem Vertrauenssubjekt, an die Beständigkeit dieses Verhaltens zu glauben. Hinzu kämen bisweilen eigene Erfahrungen mit dem Gegenüber, innerhalb derer es sich als verlässlich erwiesen habe.742 Begründe man hingegen eine Beziehung mit einem bislang unbekannten Gegenüber, so richte man seine Wahrnehmung auf dessen aktuelles Handeln (performance). Im Erfolgsfalle könne man den anderen – selbst bei unbekannter oder gar ungünstiger Vergangenheit – für vertrauenswürdig halten.743 In Ermangelung sonstiger Anhaltspunkte könne allein schon das allgemeine Auftreten des anderen (appear ance) vertrauenswürdig wirken. Gebe sich der andere vertraut und Sicherheit vermittelnd, wirke er häufig vertrauenswürdig.744 Gemeinsam sei jenen drei Methoden, dass sie auf Wahrnehmung (visibil ity) und Vertrautheit (familiarity) setzten.745 Beide Begriffe würden einander bedingen. Die eigene selektive Wahrnehmung bilde gleichzeitig auch die persönliche vertraute Welt für das Vertrauenssubjekt. Ihm vermittle jene Vertrautheit mit der eigenen Lebenswelt ein Sicherheitsgefühl in Bezug auf seine Handlungen. Naturgemäß berücksichtige eine solche Perspektive zwar objektiv nicht alle weiteren unbekannten Aspekte der sozialen Umgebung, ermögliche ihm jedoch eine je nach Kenntnisstand annähernd sichere Prognose über den weiteren Handlungsverlauf. Bei Erfolg könne die vertraute Welt durch ziemlich enge Grenzen in ihrer Einfachheit gesichert werden. Hingegen könnten Anonymität und Neuerungen Furcht oder gar Abneigung hervorrufen.746 Diesen Mechanismus zur Erschließung der Welt übertrage das Vertrauenssubjekt auch auf das Eingehen neuer Bindungen. Eigene Wahrnehmung und Vertrautheit seien häufig ausschlaggebend, um einem Vertrauensobjekt Ver741 Sztompka,
Trust, 70 f. Trust, 71 ff.; Luhmann, Vertrauen, 23, 29, nach Luhmann reflektiert Vertrauen Kontingenz; Giddens, Konsequenzen der Moderne, 48, nach Giddens hat Vertrauen stets auch die Bedeutung von Zuverlässigkeit angesichts kontingenter Ergebnisse, einerlei, ob es dabei um die Handlungen von Einzelpersonen geht oder um das Funktionieren von Systemen. 743 Sztompka, Trust, 77 ff. 744 Sztompka, Trust, 79 ff. 745 Sztompka, Trust, 81. 746 Luhmann, Vertrauen, 22 f., nach Luhmann wird hier das volle Potenzial der an sich gegebenen Erlebnismöglichkeiten, die extreme Komplexität der Welt, dem Bewusstein entzogen. Vertrautheit ermöglicht ein relativ sicheres Erwarten und damit auch Absorbieren verbleibender Risiken. 742 Sztompka,
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trauen oder Misstrauen entgegenzubringen.747 Bekanntes werde als bewährt betrachtet. Kulturelle Nähe vereinfache den Vertrauensprozess.748 c) Derivative Vertrauenswürdigkeit Zu den äußeren – nicht im Vertrauensobjekt selbst begründeten – Faktoren, welche zur Vertrauenswürdigkeit führten, gehörten alle Formen der Gewährleistung, Vorverpflichtung und jeder situative Vertrauenseinfluss (trust-inducing situations).749 Unter Gewährleistung (accountability) sei die institutionalisierte Durchsetzung, Überwachung und Sanktionierung fremden Verhaltens im Allgemeinen bzw. im Falle der Vertrauensverletzung zu verstehen.750 Insbesondere biete sich dies an in Vertrauenssystemen, welche geprägt seien durch einen unpersönlichen Kontakt der Akteure.751 Eine Sonderform der Gewährleistung sei zudem eine riskante Vorleistung (pre-commitment) des Vertrauensobjekts.752 Riskiere das Vertrauensobjekt durch einen Vertrauensbruch seinen bisherigen Einsatz, so stärke dies die Annahme, es werde an der bisherigen Abmachung festhalten.753 Gemeinsam sei beiden Faktoren, dass sie Sicherheit über die fremde Motivationsstruktur vermittelten. Mit der Möglichkeit der Einflussnahme könne die Gegenseite veranlasst werden, ihr Verhalten dem Gewünschten anzupassen und nicht mehr willkürlich zu entscheiden.754 Vertrauenswürdigkeit lasse sich auch aus Rahmenbedingungen einer komplexen Situation ableiten, welche einen günstigen Nährboden für Vertrauensbeziehungen (trust-inducing situations) böten.755 Annähernd gleiche Ausgangsbedingungen und eine ausgewogene Wechselbeziehung zwischen 747 Luhmann, Vertrauen, 22 f., 40, nach Luhmann vertraut man dem Vertrauten eher als dem Fremden. 748 Giddens, in: Beck / Giddens / Lash / Rang (Hg.), Reflexive Modernisierung, 113, 153, Giddens sieht in der Bekanntheit den Schlüssel zu Vertrauen. 749 Sztompka, Trust, 71, 86 ff. 750 Sztompka, Trust, 87 ff., 124 f.; Luhmann, Vertrauen, 124, Luhmann nennt dies auch institutionalisiertes Misstrauen. Die Rechtsordnung, die für bestimmte Erwartungen und Sanktionsmöglichkeiten hohe Sicherheit gewähre, sei eine unentbehrliche Grundlage für jede langfristige Überlegung dieser Art und entlaste damit das Risiko der Vertrauensgewähr, 41, Sanktionsmöglichkeiten würden die Interaktion durch Antizipation extremer Möglichkeiten stabilisieren, 46. 751 Luhmann, Vertrauen, 60 ff., 124. 752 Sztompka, Trust, 91 ff.; Luhmann, Vertrauen, 27 f., 53. 753 Luhmann, Vertrauen, 41. 754 Luhmann, Vertrauen, 41. 755 Sztompka, Trust, 93 ff.; Luhmann, Vertrauen, 46.
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den Teilnehmern begünstigten den Aufbau von Vertrauen. Entscheidend seien hier das Maß der voraussichtlichen Dauer und gegenseitigen Abhängigkeit sowie ein allgemeines Moment der Unvorhersehbarkeit.756 Soziale Systeme, die durch ihre Struktur interner Interdependenzen in besonderem Maße auf wechselseitiges Vertrauen angewiesen seien, bildeten zugleich auch bessere Voraussetzungen für die Vertrauensbildung. Dabei sei den Systemteilnehmern bewusst, dass sie einander wiederbegegnen würden und dass sie unter nicht genau vorhersehbaren Umständen, die mal den einen, mal den anderen begünstigten, voneinander abhängig sein könnten.757 Nähe (closeness), Transparenz und Zusammenkünfte (visibility) motivierten zur Konformität.758 In Systemen könne dies auch durch entsprechende Regelungen und Organisation hergestellt werden.759 2. Ebenen und Stadien des Vertrauens a) Vertrauensschwellen Maßgeblich für Vertrauenswürdigkeit ist der Schwellenbegriff für Vertrauensbeziehungen.760 Vertrauen entsteht nicht auf einmal, sondern wird schrittweise aufgebaut (Kumulation). Ebenso verfällt gewährtes Vertrauen mit dem schrittweisen Verlust an Vertrauenswürdigkeit. Bei bestehendem Vertrauen müsse noch nicht jede Enttäuschung zu einem Vertrauensentzug führen. Das Vertrauensobjekt genieße einen gewissen Kredit.761 Vertrauen gewinne mit Schwellen die innere Kraft, Verdachtsmomente zu absorbieren, Vertrauensbrüche zu egalisieren und in eine unterschwellige Latenz wegzudrücken.762 Um den Vertrauensprozess sichtbar zu machen und die Schwellen greifbar zu gestalten, könne in einer Vertrauensbeziehung auf die Nutzung gewisser Institutionen zurückgegriffen werden. Diese hätten häufig nur eine symbolische Funktion. Ihr Zustand biete dem jeweiligen Vertrauenssub756 Luhmann,
Vertrauen, 46. Vertrauen, 46. 758 Luhmann, Vertrauen, 46. 759 Sztompka, Trust, 94 f., nach Sztompka sind all diese künstlichen Maßnahmen gerichtet at eliminating anonymity and secrecy, which usually lower trustworthiness. 760 Luhmann, Vertrauen, 96 ff. 761 Luhmann, Vertrauen, 37, 97; Sztompka, in: Nedelmann (Hg.), Politische Institutionen, 254, 272, nach Sztompka ist es wahrscheinlich, dass ein sich verstärkender Vertrauensprozess einsetzt, wenn der erste Schritt einmal getan ist und Ansätze des Vertrauens erkennbar sind. Sei Vertrauen erst einmal vorhanden, breite es sich vermutlich immer weiter aus; Vernimmen-Van Tiggelen / Surano, Future of mutual recognition, 20. 762 Luhmann, Vertrauen, 37, 96 ff. 757 Luhmann,
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jekt jedoch erste Anhaltspunkte, wie es um die Vertrauensbeziehung als solche bestellt sei und ob die Fortsetzung des Vertrauens gerechtfertigt sei oder nicht.763 Hingegen würden sich Zweifel an der Vertrauenswürdigkeit des Vertrauensobjekts aufbauen, welche bei Erreichen einer gewissen Schwelle abrupt in Misstrauen umschlügen.764 Auf den konkreten Anlass bezogen, könne sich ein solcher Vertrauensentzug objektiv als unverhältnismäßig darstellen. Im Wissen um die durch Schwellen aufgestauten Spannungen stelle sich deren Entladung jedoch als Ergebnis einer Kumulation dar, welche das Fass zum Überlaufen gebracht habe.765 b) Vertrauensebenen Das Systemvertrauen zeichne sich gegenüber dem persönlichen Vertrauen durch einen höheren Abstraktionsgrad aus. Während beim persönlichen Vertrauen die Einschätzung des Gegenübers ein relativ einfacher Prozess sei und vor allem durch originäre Vertrauenswürdigkeit gewonnen werden könne, müsse beim Systemvertrauen die Einschätzung des Systems vor allem anhand äußerer Faktoren erfolgen. Entscheidend seien hier nicht persönliche Eigenschaften, sondern die Art der Organisation. Bezugsobjekt des Vertrauens sei nicht mehr das Verhalten eines Einzelnen, sondern das Funktionieren des Systems aufgrund des Verhaltens aller Beteiligter.766 Dabei könne sich 763 Luhmann, Vertrauen, 36 f., nach Luhmann wird Vertrauen mithilfe symbolischer Implikationen kontrolliert, welche wie eine Art Rückkopplungsschleife laufend Informationen über die Vertrauenswürdigkeit zurückmelden. 764 Luhmann, Vertrauen, 97; dies entspricht auch dem Vertrauensbegriff von Hobbes: Vertrauen ist eine Empfindung, die aus dem Glauben an jemand entsteht, von dem wir Gutes erwarten oder erhoffen und die so frei von Zweifel ist, dass wir keinen anderen Weg verfolgen, um es zu erreichen. Und Misstrauen ist der Zweifel, der uns veranlasst, uns nach anderen Mitteln umzusehen, Hobbes, Naturrecht und allgemeines Staatsrecht in den Anfangsgründen, 70. 765 Luhmann, Vertrauen, 96 f.; Luhmann, Soziale Systeme, Luhmann sieht einen Vorteil von Vertrauen gegenüber Misstrauen darin, dass das Vertrauen sich selbst den Umschlag in Misstrauen nahelegt und sich dafür mit Kontrollempfindlichkeiten umgibt. „Blindes“ Vertrauen gelte als dumm, als unerwünscht, als schädlich. Kleine Anzeichen für einen Missbrauch des Vertrauens oder auch für bisher übersehene Eigenschaften genügten dann oft, um eine radikale Änderung der Beziehung auszulösen. Und dass man dies wisse, stabilisiere wiederum das auf Vertrauen gegründete soziale System; Hartmann, Die Praxis des Vertrauens, 300, Hartmann spricht hier vom Gesamtklima des Vertrauens. 766 Luhmann, Vertrauen, 124, nach Luhmann sichert Organisation das System gegen persönliche Motivstrukturen ab und ist für dessen innere Spezifikation notwendig. Die Entpersönlichung des Vertrauens durch Organisiation sei hier grundlegend, da die Akteure nicht mehr auf eigenes Risiko vertrauten, sondern auf das Risiko des Systems.
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das Vertrauen auf ganz bestimmte institutionelle Sphären der Gesellschaft – wie dem Recht – richten.767 In einigen Systemen entwickle sich neben diesem abstrakten auch ein konkretes Vertrauen. Dies hänge von der Art der Organisation ab. Unmittelbarer Kontakt der Systemteilnehmer mit Entscheidungsträgern sei zwar keine Voraussetzung, dürfte jedoch die Regel sein. Für die Vertrauenssysteme „Geld“ oder „Recht“ könnten dies etwa der Kontakt mit einer Bank bzw. einem Gericht sein. Giddens nennt diese konstituierten persönlichen Begegnungen in abstrakten Systemen Zugangspunkte.768 An diesen Zugangspunkten würden Systemvertreter aufeinander treffen, aber auch – und insbesondere – auf Systemabhängige. Das abstrakte System gewinne durch seine Vertreter hier ein Gesicht. Hieraus lasse sich wiederum Vertrauenswürdigkeit und Integrität ableiten. Das Vertrauenssystem werde durch seine Zugangspunkte um die Komponente der originären Vertrauenswürdigkeit erweitert. Der Systemteilnehmer wisse zwar, dass das Innere des abstrakten Systems und nicht der konkrete Zugangspunkt für den Erhalt des Systems ausschlaggebend sei. Der Zugangspunkt erhalte jedoch eine symbolische Funktion mit sichtbarem Expertenwissen, die zu einer „Alles-läuft-normal“-Haltung oder einer gewissen Unerschütterlichkeit des Systemteilnehmers führen soll.769 Ein Vertrauenssystem gewinne durch Zugangspunkte nicht nur Möglichkeiten, um Vertrauen zu wahren und aufzubauen. Es werde durch diese auch verwundbar. Die Erschütterung konkreten Vertrauens könne auch das abstrakte System stark beeinflussen, bis hin zu einem völligen Ausscheiden aus dem System.770 III. Schlussfolgerungen für die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen 1. Rechtsstaatlichkeit als Bezugsobjekt des Vertrauens Wie bereits dargestellt, ist Vertrauen auch für eine justizielle Zusammenarbeit die wesentliche Voraussetzung. Fraglich ist, welches Bezugsobjekt geeignet ist, um Vertrauen systematisch ableiten zu können. 767 Sztompka, in: Nedelmann (Hg.), Politische Institutionen, 254, 257; Sztompka, Trust, 63, Sztompka spricht hier auch von einem komplexen Vertrauensnetzwerk gebildet aus abstract trust in the organizational regimes of coordination, supervi sion, or leadership that safeguard smooth cooperation und einem generalized trust vested by each in the whole cooperating group. 768 Giddens, Konsequenzen der Moderne, 107; Sztompka, Trust, 135 f. 769 Giddens, Konsequenzen der Moderne, 109. 770 Giddens, Konsequenzen der Moderne, 113, 116; Sztompka, Trust, 136, Sztompka spricht hier auch von bottom to top contagion of distrust; Hartmann, Die Praxis des Vertrauens, 299 f.
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Für die traditionelle Rechtshilfe bietet sich hier insbesondere der Grundsatz der Gegenseitigkeit an. Regelmäßig vertrauen die Rechtshilfepartner darauf, dass sie einander Rechtshilfe gewähren würden, soweit sie selbst dazu bereit sind.771 Zur Aufrechterhaltung dieser Gegenseitigkeit vertraut der ersuchte Staat darauf, dass der ersuchende Staat sein Rechtshilfeersuchen nicht missbrauchen und sich grundsätzlich nach Treu und Glauben verhalten werde (Vertrauensprinzip).772 In Ergänzung der nationalen Strafverfolgung ermöglicht dieses Prinzip eine internationale justizielle Zusammenarbeit. Bestehende oder jedenfalls zu besorgende Verfahrensdefizite lassen sich durch nationale Vorbehalte und Zusicherungen ausgleichen. Für ein dezentrales System transnationaler Strafverfolgung auf der Basis des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung braucht eine intensivere Zusammenarbeit jedoch mehr als ein grundsätzliches Bekenntnis zur gegenseitigen Hilfe. Bereits 1987 bekräftigten die Mitgliedstaaten im EG-ne bis in idem-Übk ihren Wunsch, ihre justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen auf der Grundlage gegenseitigen Vertrauens, gegenseitigen Verständnisses und gegenseitiger Achtung auszuweiten. Hierzu gehöre insbesondere die wechselseitige Anerkennung ausländischer Justizentscheidungen.773 Im Rahmen des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung erwarten die Mitgliedstaaten zwar nicht voneinander, dass eine Entscheidung im jeweiligen Ausland unter den gleichen Voraussetzungen erfolgt wie bei ihnen. Jedoch vertrauen sie darauf, dass die Rahmenbedingungen für diese Entscheidungen die gleichen sind, dass es sich mithin um gleichartige bzw. gleichwertige Entscheidungen handelt, welche sie anerkennen sollen.774 Bezugspunkt dieses Vertrauens der Mitgliedstaaten soll die Struktur und Funktionsweise ihrer Rechtssysteme und die Fähigkeit 771 Vgl. Stein / von Buttlar, Völkerrecht, 3 f., 182 ff.; siehe oben 2. Teil 1. Kapitel D. I. 1. 772 Riedo / Fiolka / Niggli, Schweizerisches Strafprozessrecht, 527; Gittermann, in: von Olenhusen (Hg.), FS-OLG Celle, 549, 554; Hackner / Schierholt, Rechtshilfe, 67, vgl. auch Präambel Europäisches Übereinkommen über die Übertragung der Strafverfolgung, SEV Nr. 73. 773 Präambel EG-ne bis in idem-Übk, BGBl. 1998 II S. 2226, 2002 II S. 600; vgl. Weigend, ZStW 1993, 774, 793 f.; vgl. auch Böse, in: Schwarze / Becker / Bär-Bouyssière (Hg.), EU-Kommentar, Art. 82 AEUV, Rn. 18. 774 Mitteilung vom 26.7.2000, KOM(2000) 495 endgültig, 4; Schlussanträge des Generalanwalts Ruiz-Jarabo Colomer vom 19.9.2002, C-187 / 01 und C-385 / 01, Gözütok und Brügge, Slg. 2003 I-1348, 1374 f.; Weigend, ZStW 1993, 774, 793 f.; Vogel, in: Vogel / Grotz (Hg.), Perspektiven des internationalen Strafprozessrechts, 1, 22; Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 65; das BVerfG spricht hier auch selten von der Funktionsäquivalenz der Akte ausländischer Hoheitsträger, BVerfG BVerfGK 16, 177, 187; vgl. auch zur Wirkung des Art. 54 SDÜ in diesem Zusammenhang, EuGH, Urt. v. 8.4.2008, C-297 / 07, Bourquain, Slg. 2008 I-9425, Rz. 37; Schlussanträge des Generalanwalts Ruiz-Jarabo Colomer vom 8.4.2008, C-297 / 07, Bourquain, Slg. 2008 I-9425, Rz. 41.
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aller Mitgliedstaaten sein, ein faires Verfahren zu gewährleisten,775 mithin die Rechtsstaatlichkeit ihrer Strafrechtspflege.776 In der Tat ist die Rechtsstaatlichkeit ein wesentlicher Anhaltspunkt für die Gleichwertigkeit der Entscheidungen anderer Mitgliedstaaten, da sie als elementarer Grundwert der EU777 für alle ihre Mitglieder maßgebend ist und ein zuverlässiges, willkür freies778 und gerechtes Straf- bzw. Rechtshilfeverfahren ermöglicht. In einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ist daher der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit als Bezugsobjekt des Vertrauens für eine intensive justizielle Zusammenarbeit geeignet. 2. Vertrauenswürdigkeit der Rechtshilfepartner Fraglich ist zudem, ob gegenseitiges Vertrauen bereits besteht bzw. wie es andernfalls entsteht. Wie oben dargestellt,779 muss der jeweilige Mitgliedstaat als Vertrauensobjekt vertrauenswürdig sein, d. h. die Rechtsstaatlichkeit seiner nationalen Strafrechtspflege muss für den anderen Mitgliedstaat als Vertrauenssubjekt nachvollziehbar sein. Im internationalen Rechtshilfeverkehr schätzen die beteiligten Staaten einander als unterschiedlich vertrauenswürdig ein. Originäre Vertrauenswürdigkeit entsteht häufig infolge einer bestehenden, aktiven Rechtshilfebeziehung mit langer Tradition – eventuell aufgrund eines bilateralen Rechtshilfevertrages. Innerhalb Europas sind seit dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ neue bzw. intensivere Beziehungen entstanden. So hat sich aufgrund eines politisch forcierten Transformationsprozesses in postsozialistischen Mitgliedstaaten (z. B. Polen, Estland) eine rechtsstaatliche Justiz entwickelt. Die Vertrauenswürdigkeit beruht hier auf der aktuellen Leistung und Präsentation der neuen Mitgliedstaaten.780 Aufgrund der relativ kurzen 775 Präambel EU-AuslÜbk, Abl. 1996 C 313 / 12; Präambel EU-RhÜbk, Abl. 2000 C 197 / 1. 776 Erwägungsgrund 3 RL 2010 / 64 / EU, Abl. 2010 L 280 / 1; Erwägungsgrund 3 RL 2012 / 13 / EU, Abl. 2012 L 142 / 1; Entscheidung vom 13.12.2006, KOM(2006) 6569 endgültig, 2; Entscheidung vom 13.12.2006, KOM(2006) 6570 endgültig, 2. 777 Vgl. Präambel, Art. 2 EUV, nach der Präambel der EMRK ist die Rechtsstaatlichkeit zudem gemeinsames Erbe der Vertragsstaaten; Gauck, Europa: Vertrauen erneuern, 6. 778 Sztompka, in: Nedelmann (Hg.), Politische Institutionen, 254, 272, Sztompka sieht gerade im Hinblick auf osteuropäische, postsozialistische Staaten in der Rechtsstaatlichkeit, in der Gesetzgebung und der Anwendung der Gesetze den Schlüssel gegen Willkür und für Berechenbarkeit. 779 Vgl. 2. Teil 4. Kapitel C. II. 780 Gittermann, in: von Olenhusen (Hg.), FS-OLG Celle, 549, 550; Flügge, in: Hülshörster / Mirow (Hg.), Rechts- und Justizreformen im Ausland, 363, 365.
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Dauer der neuen Beziehungen reicht indes die allgemeine Vertrauenswürdigkeit für alle Mitgliedstaaten noch nicht so weit wie die traditioneller Rechtshilfepartner. Ein wichtiges Element macht zudem die Vertrautheit der Mitgliedstaaten untereinander aus. Kulturelle Nähe und gemeinsame Rechtstraditionen lassen den anderen als vertrauenswürdig erscheinen. Dies zeigen etwa die intensive deutsch-schweizerische Zusammenarbeit und der Erfolg des Nordischen Haftbefehls innerhalb der Länder des Nordischen Rates.781 Da in der EU jedoch ein Systemvertrauen aufgebaut werden soll, reichen dafür Einzelbeziehungen untereinander nicht mehr aus. Alle an der justiziellen Zusammenarbeit teilnehmenden Mitgliedstaaten müssen Vertrauen zueinander entwickeln. Die originäre Vertrauenswürdigkeit kann diesen Prozess nur verstärken, aber mangels Homogenität der Mitgliedstaaten nicht begründen. 3. Vertrauensbildende Maßnahmen a) Vorbemerkung Für ein derartiges Systemvertrauen müssen die EU und die Mitgliedstaaten konzeptionell dafür sorgen, dass die Strafrechtssysteme der Mitgliedstaaten allgemein Vertrauenswürdigkeit erhalten und behalten. Dies geschieht insbesondere durch den Einsatz vertrauensbildender Maßnahmen.782 Die EU selbst vermeidet jedoch den Begriff Vertrauensbildung, sondern redet vielmehr euphemistisch von einer Stärkung und Festigung eines bereits bestehenden gegenseitigen Vertrauens.783 Der Bundespräsident spricht sich hingegen dafür aus, das Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten zu erneuern.784 Durch vertrauensbildende Maßnahmen ist es zum einen möglich, 781 Mathisen, Nordic Journal of International Law 2010, 1, 5 ff.; Suominen, EuCLR 2011, 170, 170 ff.; Suominen, Mutual recognition, 39 ff.; Tolttila, NJECL 2011, 368, 369 ff. 782 Sztompka, in: Nedelmann (Hg.), Politische Institutionen, 254, 272; VernimmenVan Tiggelen / Surano, Future of mutual recognition, 57; der Begriff vertrauensbildende Maßnahme / confidence building measure (CBM) wurde in der Friedensforschung geprägt. 783 Haager Programm, Abl. 2005 C 53 / 1, 11; Mitteilung vom 19.5.2005, KOM(2005) 195 endgültig, 6, 9; Stockholmer Programm, Abl. 2010 C 115 / 1, 13; Stärkung des gegenseitigen Vertrauens im europäischen Rechtsraum – Grünbuch zur Anwendung der EU-Strafrechtsvorschriften im Bereich des Freiheitsentzugs, KOM(2011) 327 endgültig; Erwägungsgrund 9 Entschließung vom 30.11. 2009, Abl. 2009 C 295 / 1; Entwurf RB Verfahrensrechte, KOM(2004) 328 endgültig, 9; diesen Widerspruch kritisiert Mitsilegas, Mitsilegas, EU criminal law, 106; Mitsilegas, CMLR 2006, 1277, 1306. 784 Gauck, Europa: Vertrauen erneuern, 2, 14.
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von übergeordneten Institutionen Vertrauenswürdigkeit abzuleiten, zum anderen wird durch die gezielt direkte und persönliche Begegnung von Systemvertretern (Angehörige der Justizbehörden) mit Systemteilnehmern (z. B. Angehörige anderer Justizbehörden, Strafverteidiger oder auch interessierter Öffentlichkeit) das System um den Aspekt der originären Vertrauenswürdigkeit ergänzt. Für einen wirksamen Einsatz vertrauensbildender Maßnahmen ist zudem die Abgrenzung zwischen abstraktem und konkretem Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit der ausländischen Strafjustiz zu berücksichtigen. Das abstrakte Vertrauen beruht auf der Annahme, dass die nationale Rechtssetzung zu gleichen Rahmenbedingungen für justizielle Entscheidungen in den jeweiligen Strafrechtssystemen der Mitgliedstaaten geführt hat. Das konkrete Vertrauen beruht hingegen auf der Annahme, dass die am jeweiligen Einzelfall beteiligten ausländischen Justizbehörden dieses Recht auch korrekt und unabhängig anwenden.785 b) Gemeinsames Referenzsystem Vertrauenswürdigkeit würde insbesondere ein gemeinsames Referenzsystem vermitteln, welches durch ein unabhängiges Organ überwacht und gepflegt würde. Gemeinsame rechtliche Mindeststandards des Strafverfahrens, denen alle Mitgliedstaaten verpflichtet wären, würden zumindest Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit der Gesetzgebung anderer Mitgliedstaaten schaffen. Zum einen gehen die Mitgliedstaaten durch ihre Selbstverpflichtung eine Vorleistung ein in der Erwartung, andere Staaten würden deshalb mit ihnen kooperieren. Zum anderen gewährleistet die Aufsicht eines übergeordneten Organs die Einhaltung der jeweiligen Verpflichtung.786 Rechtseinheit 785 Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 65, bereits Andreou spricht in diesem Zusammenhang von abstraktem Vertrauen in die ausländische Rechtssetzung und konkretem Vertrauen in die ausländische Rechtspflege, Andreou, Gegenseitige Anerkennung, 45 f.; Stefanopoulou, JR 2011, 54, 57; Vogel, in: Vogel / Grotz (Hg.), Perspektiven des internationalen Strafprozessrechts, 1, 22, nach Vogel muss der inländische Strafrichter der ausländischen Strafrechtspflege im Ausgangspunkt vertrauen, mag sein Vertrauen noch erschüttert werden können, und ihr nicht im Ausgangspunkt misstrauen. 786 Sztompka, in: Nedelmann (Hg.), Politische Institutionen, 254, 273 f.; Luhmann, Vertrauen, 124, nach Luhmann kann das Vertrauen in Systeme als Ganzes entscheidend davon abhängen, dass an kritischen Stellen das Vertrauen unterbrochen und Misstrauen eingeschaltet wird. Umgekehrt könne nur in Systeme, denen vertraut werde, Misstrauen so institutionalisiert und begrenzt werden, dass es nicht persönlich zugerechnet und zurückgegeben werde, also vor Ausuferung in Konflikte bewahrt bleibe.
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2. Teil: Darstellung
führt insgesamt zu einer Vertrauenskultur und macht bei ordnungsgemäßer Rechtsanwendung die justiziellen Entscheidungen vorhersehbar.787 c) Gegenseitiges Verständnis und Koordination Vertrauensbildende Maßnahmen, welche ein Verständnis für fremdes Recht und dessen Anwendung erzeugen sollen, bilden eine Gruppe.788 Ihnen allen ist gemein, dass sie eine Vertrautheit erzeugen sollen, welche letztendlich zu einer echten gemeinsamen, europäischen Justiz- und Strafverfolgungskultur führt. Sie betreffen vor allem die Justizangehörigen, jedoch auch alle anderen Angehörigen der Rechtsberufe.789 Zu den praktischen Maßnahmen gehören die institutionalisierte Aus- und Fortbildung sowie der systematische Zugang zu diesen Bildungsmaßnahmen.790 Weiterhin gehören 787 Sztompka, in: Nedelmann (Hg.), Politische Institutionen, 254, 272, nach Sztompka zählen der Abbau von Willkür und Rechtsunsicherheit durch Normen zu den vertrauensbildenden Maßnahmen, Sztompka, Trust, 122, 134 f., nach Sztompka bilden Normen the solid skeleton of social life; Eser, in: Sieber / Brüner / Satzger / von Heintschel-Heinegg (Hg.), Europäisches Strafrecht, 557, 579, Eser betont daher die Bedeutung rechtsstaatlicher Mindeststandards für ein wechselseitiges Vertrauen und die Bereitschaft zu gegenseitiger Anerkennung von strafgerichtlichen Entscheidungen; Ruffert, Die Verwaltung 2001, 453, 464, den Zusammenhang zwischen einem Mindestvertrauen und völker- oder gemeinschaftsrechtlicher Harmonisierung zeigt Ruffert bereits für die Transnationalität von Verwaltungsakten auf; Schlussanträge des Generalanwalts Bot vom 2.10.2012, C-399 / 11, Melloni, Rz. 114, 116; EuGH, Urt. v. 26.2.2013, C-399 / 11, Melloni, Rz. 63; entsprechende Initiativen für gemeineuropäische Mindestnormen im Strafverfahren werden weiter unten bei 2. Teil 4. Kapitel D. erörtert. 788 Haager Programm, Abl. 2005 C 53 / 1, 11; Stockholmer Programm, Abl. 2010 C 115 / 1, 5; Aktionsplan zur Umsetzung des Stockholmer Programms, KOM(2010) 171 endgültig, 4, 9, die Kommision erachtet die Vermittlung der unterschiedlichen Rechtstraditionen und Verfahrensweisen als notwendig für ein gegenseitiges Vertrauen; Stärkung des gegenseitigen Vertrauens im europäischen Rechtsraum – Grünbuch zur Anwendung der EU-Strafrechtsvorschriften im Bereich des Freiheitsentzugs, KOM(2011) 327 endgültig, 2, nach der Kommission müssen die Mitgliedstaaten über die Strafrechtssysteme der jeweils anderen Mitgliedstaaten besser Bescheid wissen; Satzger, in: Streinz / Kruis / Michl (Hg.), EUV / AEUV-Kommentar, Art. 82 AEUV, Rn. 15, nach Satzger ist ein hinreichendes Maß an Kenntnis und Akzeptanz der Alltagspraxis der Justiz der anderen Mitgliedstaaten für die Existenz oder Bildung von Vertrauen erforderlich. 789 Mitteilung vom 19.5.2005, KOM(2005) 195 endgültig, 6; Stockholmer Programm, Abl. 2010 C 115 / 1, 6; Aktionsplan zur Umsetzung des Stockholmer Programms, KOM(2010) 171 endgültig, 9. 790 Haager Programm, Abl. 2005 C 53 / 1, 11; Stockholmer Programm, Abl. 2010 C 115 / 1, 6; (Laeken) Ratsdokument Nr. SN 300 / 1 / 01 REV 1, vom 14. / 15.12.2001, 12; Kretschmer, in: Vedder / Heintschel von Heinegg (Hg.), EVV-Kommentar, Art. III-270 EVV, Rn. 12.
4. Kap.: Gegenseitiges Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit der Strafjustiz223
der Austausch, persönliche Kontakte und die direkte Kommunikation der Vertreter der Justizsysteme zu den entscheidenden praktischen Maßnahmen. Alle Organe der Rechtspflege – wie etwa Richter, Staatsanwälte und Strafverteidiger – sollen durch Aus- und Fortbildung ihre Kenntnisse über die EU-Rechtsinstrumente, Fremdsprachen sowie die Rechtssysteme und Gerichtsbarkeiten der Mitgliedstaaten verbessern.791 Nationale und supranationale Bildungseinrichtungen sollen dies fördern und trainieren [z. B. Deutsche Richterakademie, Europäische Rechtsakademie (ERA), European Judicial Training Network (EJTN)].792 Alle Praktiker sollen zudem Zugang zu entsprechenden Informationsquellen haben (Handbücher, Richtlinien, Fallübersichten).793 Unterstützen soll diese Maßnahmen ein an das Erasmusprogramm angelehntes Austauschprogramm, welches es Praktikern ermöglicht, im Ausland Kenntnisse zu erwerben und Erfahrungen auszutauschen.794 Unzureichende Kenntnis ausländischer Rechtspraxis kann auch ausgeglichen werden durch eine bessere Koordinierung des gemeinsamen Vorgehens im Wege grenzüberschreitender persönlicher Kontakte zwischen Angehörigen der Justiz.795 Als Netzwerk schaffen solche Kontakte Kontinuität und institutionalisieren Vertrauen. Auf einer persönlichen Ebene kann so mittels Kontaktpersonen im Kleinen die Beständigkeit und Zuverlässigkeit des fremden Rechtssystems erprobt und nachvollzogen werden. Zwischen Einzelpersonen bis hin zu ganzen Netzwerken entsteht so ein gefestigtes 791 Mitteilung vom 29.6.2006, KOM(2006) 356 endgültig, 7; Vernimmen-Van Tiggelen / Surano, Future of mutual recognition, 21, 57; Stockholmer Programm, Abl. 2010 C 115 / 1, 6; eine maßgebliche Rolle spielen dabei Projekte im Rahmen der internationalen rechtlichen Zusammenarbeit: Trappe, in: Hülshörster / Mirow (Hg.), Rechts- und Justizreformen im Ausland, 341, 347, nach Trappe dienen der Austausch und der permanente Dialog der transnationalen Strafverfolgung. Dies sei ein wechselseitiger Prozess. Aufgabe eines Austauschs sei nicht die Belehrung anderer Staaten aus Deutschland, sondern eine Erleichterung der Rechtspraxis und gegenseitiger Nutzen. Die Herausforderungen, mit denen sich die europäischen Staaten im Bereich der Kriminalitätsbekämpfung konfrontiert sähen, würden so als gemeinschaftliche Aufgabe verstanden, die man mit vereinten Kräften besser bewerkstelligen könne. Dabei würden alle Partner als vollwertige Teile der EU verstanden. Eine solche Herangehensweise sollte auch für die Überlegungen hinsichtlich der Zukunft der internationalen rechtlichen Zusammenarbeit eine Rolle spielen. Denn eine auf gegenseitigem Vertrauen basierende Zusammenarbeit in Europa sowie funktionierende Netzwerke würden zu politischer Stabilität und Rechtssicherheit in den europäischen Staaten und in Europa beitragen. 792 Nehm, DRiZ 2000, 355, 363. 793 Vernimmen-Van Tiggelen / Surano, Future of mutual recognition, 20, 57. 794 Aktionsplan zur Umsetzung des Stockholmer Programms, KOM(2010) 171 endgültig, 9; Vernimmen-Van Tiggelen / Surano, Future of mutual recognition, 21, 57. 795 Stockholmer Programm, Abl. 2010 C 115 / 1, 14; Nehm, DRiZ 2000, 355, 358.
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2. Teil: Darstellung
gegenseitiges Vertrauen. Jenseits dieser Netzwerke entwickelt sich zwischen den Justizangehörigen der Mitgliedstaaten mit der Zeit ein institutionalisiertes Vertrauen, da sie im Bedarfsfall auf die erfahrenen Kollegen mit ihren Kontakten zurückgreifen können.796 Die EU wählt derzeit mehrere Wege der Institutionalisierung, um den Kontakt zwischen Justizangehörigen herzustellen. Mit dem Europäischen Justiziellen Netz (EJN) wurde eine Art „old boys-network“, beruhend auf persönlichen Verbindungen zwischen Richtern, Staatsanwälten und Ministerialbeamten, gebildet. In ihrem jeweiligen Mitgliedstaat sollen diese Personen Kontaktstellen sein für die örtlichen Justiz- und Verwaltungsbehörden im In- und Ausland. Darüber hinaus bietet das EJN im Internet eine Informationsplattform mit Textsammlungen, Anleitungen und Adresslisten.797 Für Eurojust hingegen ordnet jeder Mitgliedstaat einen ständigen Vertreter ab, welcher die Institution um seine Kompetenz und nationale Rechtskenntnis bereichert. Treten im Rahmen der justiziellen Zusammenarbeit unterschiedlicher Mitgliedstaaten Probleme auf, bietet Eurojust seine Vermittlung durch Rat und Tat an. Kommt es gleichwohl zu keiner Einigung, sind die streitenden Justizbehörden einem eventuellen Schiedsspruch unterworfen, da das abgeordnete nationale Mitglied Weisungsbefugnis besitzt.798 Bilden einige Mitgliedstaaten aus konkretem Anlass eine gemeinsame Ermittlungsgruppe (GEG bzw. JIT), werden deren Teilnehmer durch den Errichtungsvertrag und die darauf fußende Zusammenarbeit mit dem Recht der Vertragspartner vertraut gemacht. Diese Erfahrungen behalten sie auch nach dem Abschluss der gemeinsamen Ermittlungen. Vertrauenswürdigkeit kann zudem aufgrund von Nähe und Vertrautheit durch ständige, unmittelbare und sichere Kommunikation erreicht werden. Die EU befürwortet daher die Nutzung aller modernen elektronischen Kommunikationsmittel und gesicherter elektronischer Verbindungen.799 d) Transparenz Eine weitere vertrauensbildende Maßnahme ist die Herstellung von Transparenz. Der Zugang zu Informationen über die Funktionsweise, Effizienz und allgemeine Leistungsfähigkeit sowohl der EU-Rechtsinstrumente als auch der Rechtssysteme der Mitgliedstaaten vermittelt der Öffentlichkeit 796 Sztompka, Trust, 129 f., Sztompka nennt dies auch social networks oder „connections“. 797 Sieber, ZRP 2000, 186, 199; Nehm, DRiZ 2000, 355, 358; zur vertrauensbildenden Funktion von „old boys“ networks, Sztompka, Trust, 130. 798 Nehm, DRiZ 2000, 355, 359. 799 Stockholmer Programm, Abl. 2010 C 115 / 1, 14.
4. Kap.: Gegenseitiges Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit der Strafjustiz225
ein Gefühl von Sicherheit und Vorhersehbarkeit. Dies erzeugt Vertrauen.800 Um Transparenz herzustellen, dokumentiert die EU die Verhandlungen ihrer Organe und veröffentlicht nahezu jedes Dokument sogar im Internet. In regelmäßigen Abständen evaluiert die EU die bereits in Kraft getretenen Rechtsinstrumente zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung und wirbt in der Öffentlichkeit um Anregungen für Verbesserungen. Unabhängige Feldstudien mit Rechtsanwendern dienen der Optimierung der Rechtsinstrumente.801 In den einzelnen Mitgliedstaaten ist die Transparenz unterschiedlich ausgeprägt. Eine wichtige Aufgabe erfüllen hierbei unabhängige Medien, internationale staatliche Organisationen (etwa OSZE, OECD, Europarat, Vereinte Nationen)802 und nichtstaatliche Organisationen (Statewatch, Human Rights Watch, Transparency International, Amnesty International).803 e) Integrität Einen wesentlichen Faktor für die Vertrauenswürdigkeit der Rechtsstaatlichkeit der Strafjustiz der Mitgliedstaaten stellen die Integrität und Kompetenz der Justizangehörigen dar.804 Zwar sind Fehler bei der Rechtsanwen800 Tampere Programm, Ratsdokument Nr. SN 200 / 99, vom 15. / 16.10.1999, 2; Sztompka, in: Nedelmann (Hg.), Politische Institutionen, 254, 273; Sztompka, Trust, 123 f.; Gauck, Europa: Vertrauen erneuern, 1 f. 801 Mitteilung vom 19.5.2005, KOM(2005) 195 endgültig, 9, nach der Kommission muss das gegenseitige Vertrauen auf der Gewissheit beruhen, dass alle europäischen Bürger Zugang zu einem Justizwesen haben, das hohe Qualitätsnormen erfüllt; Vernimmen-Van Tiggelen / Surano, Future of mutual recognition, 21; Böse, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 965, 976; Vogel, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 947, 953 f., nach Vogel erfordert eine EU-Evaluierung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung aufgrund des gegenseitigen Vertrauens auch eine Bewertung der Rechtsstaatlichkeit der einzelnen Mitgliedstaaten. 802 Tampere Programm, Ratsdokument Nr. SN 200 / 99, vom 15. / 16.10.1999, 2. 803 Sztompka, Trust, 135; Gauck, Europa: Vertrauen erneuern, 7. 804 Sztompka, in: Nedelmann (Hg.), Politische Institutionen, 254, 273; Eser, in: Sieber / Brüner / Satzger / von Heintschel-Heinegg (Hg.), Europäisches Strafrecht, 557, 579, nach Eser muss die ausländische Strafgerichtsbarkeit als integer anzusehen sein; Titz, in: Hülshörster / Mirow (Hg.), Rechts- und Justizreformen im Ausland, 153, 160, nach Titz können Richter und Staatsanwälte kraft ihres Amtes Freiheiten nehmen, Pflichten auferlegen und Rechte beschränken. Sie müssten sich daher auch damit befassen, wie sie mit den Adressaten ihrer Macht, den Verfahrensbeteiligten, jenseits zwingender verfahrensrechtlicher Vorgaben umgingen und was sie tun müssten, um dass Vertrauen der Bevölkerung in die Dritte Gewalt zu stärken. Dieses Vertrauen gewönnen Richter und Staatsanwälte in der Regel nur zu einem geringen Teil durch ihre Rechtsausführungen. In erster Linie sei für das Vertrauen vielmehr ihr Verhalten gegenüber dem Einzelnen maßgeblich; der konkrete Richter, die Staatsanwältin verkörperten für den Bürger den Rechtsstaat im Einzelfall. Und es sei das Verhalten genau dieses Richters oder dieser Staatsanwältin, das weit mehr
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2. Teil: Darstellung
dung nicht immer vermeidbar,805 doch erlaubt es die Fragilität des abstrakten Vertrauens nicht, auch bloß im Einzelfall Rechtsmissbrauch zuzulassen. Wird die vertrauenswürdige Rechtsordnung des Anordnungsstaats durch die Anordnungsbehörden mehrfach missachtet, so kann das bis dahin gewährte Vertrauen in Misstrauen umschlagen. Es kommt hier zur Kumulation verschiedener Vertrauensbrüche, die ab einer gewissen Schwelle zum Misstrauen führt.806 Dabei wird die Ebene des Konkreten zum Abstrakten durchbrochen. Auch durch ein effektives Rechtsschutzsystem kann dies nicht mehr aufgefangen werden, da es nur als Auffangnetz für Ausnahmen konzipiert ist.807 Wird indes die Ausnahme zur Regel, stellt sich das jeweilige System in Frage und kann auch nicht mehr als rechtsstaatlich angesehen werden. Daher bemüht sich die EU bereits seit 1999, gemeinsame Standards zur Integrität der Behörden zu entwickeln, um die Vertrauenswürdigkeit der Behörden zu wahren.808 Hierzu gehören eine umfassende Ausbildung, akribische Überprüfung und sorgfältige Rekrutierung der Justizangehörigen.809 Die fachliche Kompetenz der Richter, Staatsanwälte und sonstigen Justizbediensteten hängt maßgeblich von ihrer Aus- und Fortbildung ab. Ohne erlerntes Wissen und erworbene Erfahrung lässt sich Recht nicht korrekt anwenden. Beides wird ganz wesentlich auch durch Aus- und Fortbildungsmaßnahmen vermittelt.810 Zwar erkennt die EU den Wert der Organisation der nationalen Bildungssysteme als Ausdruck der unterschiedlichen Tradi tionen im Rechtssystem der Mitgliedstaaten an. Doch sollen hierzu ergänals der Inhalt rechtlicher Erörterungen das Vertrauen in die Richtigkeit und Angemessenheit einer Entscheidung beeinflusse. 805 Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 67 f., nach Mavany beweist dies schon die Existenz von Rechtsmitteln und Instanzenzügen. 806 Siehe oben 2. Teil 4. Kapitel C. II. 2. 807 Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 67 f., Mavany lässt es dagegen für den konkreten Einzelfall ausreichen, dass zumindest ein effektiver Rechtsschutz gewährleistet ist, welcher neben dem abstrakten Vertrauen auch konkretes Vertrauen wieder herstellen kann. Dies sei wiederum durch gemeineuropäische Mindestvorschriften (auch über Art. 6 EUV) gewährleistet. 808 Tampere Programm, Ratsdokument Nr. SN 200 / 99, vom 15. / 16.10.1999, 2. 809 Sztompka, in: Nedelmann (Hg.), Politische Institutionen, 254, 273; Sztompka, Trust, 136; Deville / Todria, in: Hülshörster / Mirow (Hg.), Rechts- und Justizreformen im Ausland, 187, 188, nach Deville und Todria macht es für einen Staat völlig losgelöst von vorhandenen Regelungen Sinn, Richter nach bestimmten Kriterien auszuwählen und zu befördern. Von der Transparenz und Überzeugungskraft dieser Kriterien hänge ab, ob Bevölkerung und Investoren der Justiz als dritte Gewalt trauen. Für die Justiz sei die Auswahlentscheidung von erheblicher Bedeutung, weil geeignete und motivierte Mitarbeiter die Aufgabenerfüllung der Justiz gewährleisteten, Fehlentscheidungen hingegen die Funktionsfähigkeit der Justiz beeinträchtigeten und den Haushalt jahrzehntelang belasteten. 810 Stockholmer Programm, Abl. 2010 C 115 / 1, 13.
4. Kap.: Gegenseitiges Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit der Strafjustiz227
zend und unterstützend erstklassige und gleichwertige Aus- bzw. Fortbildungsmaßnahmen geschaffen werden, welche eine leistungsfähige Justiz garantierten und eine europäische Komponente einbezögen. Hierdurch wachse das gegenseitige Vertrauen.811 Um die Integrität der Justizangehörigen herzustellen, müssten sie sorgfältig ausgewählt und ständig auf Nachlässigkeit und Korruption überprüft werden.812
D. Strafrechtliche Mindeststandards für die Rechtsstaatlichkeit als Vertrauensgrundlage I. Vorbemerkung Ob und inwieweit gemeineuropäische Mindestvorschriften vonnöten sind, ist umstritten. Zum einen erschweren die unterschiedlichen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten eine Anerkennung fremder Entscheidungen sowie das Entstehen von Rechtssicherheit und Rechtsschutz der von der Maßnahme betroffenen Bürger. Zum anderen wäre ein entsprechender Mindeststandard im Strafverfahrensrecht als Referenzsystem geeignet, Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit der Strafjustiz aller Mitgliedstaaten herzustellen. Die EU erachtet zur Stärkung des Vertrauens in die Strafrechtspflege der Mitgliedstaaten und zur Erleichterung der Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gemeinsame Mindeststandards und Mindestvorschriften für notwendig.813 Es müsse auch geeignete Mechanismen für den Schutz der Rechte von verdächtigen oder beschuldigten Personen geben.814 Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung setze so einen gemeinsamen Sockel voraus.815 Hierfür räumt die EU der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der GRCh816 eine herausragende Stellung ein.817 811 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und an den Rat über die Fortbildung von Vertretern der Justizberufe in der Europäischen Union vom 29.6.2006 – KOM(2006) 356 endgültig, 4. 812 Siehe weiter unten 2. Teil 5. Kapitel. 813 Tampere Programm, Ratsdokument Nr. SN 200 / 99, vom 15. / 16.10.1999, 9; Haager Programm, Abl. 2005 C 53 / 1, 12; Aktionsplan zur Umsetzung des Stockholmer Programms, KOM(2010) 171 endgültig, 4, 9; Erwägungsgrund 3, 8 RL 2010 / 64 / EU, Abl. 2010 L 280 / 1; Erwägungsgrund 3, 10 RL 2012 / 13 / EU, Abl. 2012 L 142 / 1. 814 Erwägungsgrund 3 RL 2010 / 64 / EU, Abl. 2010 L 280 / 1; Erwägungsgrund 3 RL 2012 / 13 / EU, Abl. 2012 L 142 / 1; Stockholmer Programm, Abl. 2010 C 115 / 1, 10. 815 Grünbuch vom 11.12.2001, KOM(2001) 715 endgültig, 20 f. 816 Grundrechtecharta, Abl. 2010 C 83 / 389. 817 Wiener Aktionsplan, Abl. 1999 C 19 / 1, 5; Grünbuch vom 11.12.2001, KOM(2001) 715 endgültig, 20 f.; 29; Erwägungsgrund 7 RL 2010 / 64 / EU, Abl. 2010 L 280 / 1; Erwägungsgrund 8 RL 2012 / 13 / EU, Abl. 2012 L 142 / 1.
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2. Teil: Darstellung
II. Europäische Menschenrechtskonvention 1. Vorbemerkung Zumindest räumlich bietet sich die EMRK des Europarats als Mindeststandard an. Der Europarat überwacht die Einhaltung seiner europaweit geltenden Schutzkonvention sogar durch ein eigenes Organ, den EGMR. Alle EU-Mitgliedstaaten sind zugleich Mitglieder des Europarats und haben die EMRK ratifiziert. Mit dem Lissabonner Vertrag ist die Bindung der EU und ihrer Mitgliedstaaten an die EMRK weiter gefestigt worden, vgl. Art. 6 EUV. Neben dem EGMR wacht nun auch der EuGH über die Einhaltung der EMRK.818 Fraglich bleibt, ob die EMRK auch sachlich die Anforderung als tauglicher Mindeststandard für eine Zusammenarbeit bei der Beweisrechtshilfe erfüllt. 2. Ablehnende Ansicht Nach einer Ansicht bietet die EMRK keine gemeinsame (menschenrechtliche) Wertegrundlage bzw. kein Referenzsystem, aus denen sich gemeineuropäische Mindeststandards für ein rechtsstaatliches Strafverfahren ableiten lassen.819 Zum einen sei die Rechtsfortbildung durch die EMRK zu kasuistisch, um einen zusammenhängenden Mindeststandard zu bilden. Die E MRK entfalte ihr Potenzial zudem nur im systematischen Zusammenhang einer nationalen Rechtsordnung und finde mit der Gesamtbetrachtungslehre des EGMR dort ihre Grenze. Deshalb sei die EMRK gerade nicht als transnationales Rechtsschutzsystem gedacht. Vorgaben für das Beweisrecht enthalte die EMRK nur sporadisch. Sie allein genüge daher nicht als ausreichender Schutz für den vom Vollstreckungsverfahren Betroffenen.820 Angesichts einer wachsenden EU gelte dies umso mehr.821
818 Probleme können hier durch Auslegungsdifferenzen zwischen EuGH und EGMR entstehen. Beide Gerichte werden jedoch bemüht sein, die Autorität des jeweils anderen zu wahren und die Rechtsprechung des jeweils anderen bei ihrer Entscheidung zu berücksichtigen, Streinz, Europarecht, 90 f., 276. 819 Ambos, ZIS 2010, 557, 564; Gleß, ZStW 2003, 131, 149 f.; Gleß, Stellungnahme zum Grünbuch, 3; Nestler, ZStW 2004, 332, 346 ff.; Kotzurek, ZIS 2006, 123, 129. 820 Gleß, ZStW 2003, 131, 149 f.; Gleß, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 611, 623; Nestler, ZStW 2004, 332, 346 ff.; Kotzurek, ZIS 2006, 123, 129; Allegrezza, ZIS 2010, 569, 575 f. 821 Ambos, ZIS 2010, 557, 564.
4. Kap.: Gegenseitiges Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit der Strafjustiz229
3. Befürwortende Ansicht Einer anderen Ansicht zufolge haben sich mit der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR Mindeststandards des Strafverfahrensrechts entwickelt.822 Aufgrund der EMRK und ihrer weitgehend auf gemeinsame Wurzeln der europäischen Aufklärung zurückgehenden Strafrechtsordnungen sollte laut Weigend eine vertrauensvolle Kooperation der Mitgliedstaaten möglich sein.823 Nach Esser enthält die EMRK zwar keine ausdrücklichen Regelungen für das Beweisrecht, sondern bildet hierfür nur den äußeren Rahmen.824 Jedoch hätten sich durch die Rechtsprechung des EGMR zahlreiche zentrale Standards zur Beweisgewinnung herausgebildet:825 Hierzu zählt Esser das strafprozessuale Gesetzlichkeitsprinzip für Eingriffe in die Schutzgüter Eigentum, Art. 1 1. ZP EMRK, Privat- und Familienleben, Wohnung und Korrespondenz, Art. 8 EMRK, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, die Behandlungs-
822 Kühne, Strafprozessrecht, 19, 86; Polakiewicz, ZEuS 2010, 1, 5 f.; Weigend, ZStW 1993, 774, 777 f.; Sieber, ZStW 1991, 957, 962; Sieber, in: Sieber / Brüner / Satzger / von Heintschel-Heinegg (Hg.), Europäisches Strafrecht, 25, 64; Böse, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 47, 51; Gaede, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 97, 100, 105; Schomburg, in: Sieber / Brüner / Satzger / von HeintschelHeinegg (Hg.), Europäisches Strafrecht, 127, 128 f., 133; Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 66; Nehm, DRiZ 1996, 41, 46; Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, 817, Esser spricht hier auch von dem Nucleus eines Europäischen Strafverfahrensrechts und einem gemein-europäischen Strafprozessrecht, 821, Esser schreibt der Rechtsprechung des EGMR zudem die Rolle eines Rahmengesetzes für die Entwicklung eines europäischen Strafprozessrechts zu, 881; Perron, in: Hettinger / Zopfs / Hillenkamp / Köhler / Rath / Streng / Wolter (Hg.), FS-Küper, 429, 438; Grabenwarter / Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 136, Grabenwarter und Pabel sprechen von einer allgemein gehaltenen „europäischen Prozessordnung“, die mittlerweile wesentliche Verfeinerungen durch die Rechtsprechung erfahren hat; Vogel / Matt, StV 2007, 206, 207 f., nach Vogel und Matt kann anhand der Rechtsprechung des EGMR in gewissen Bereichen nicht die Rede davon sein, dass die EMRK sich lediglich auf einen Sockel oder Mindeststandard für das Strafverfahren beschränkt. Hier würden im Gegenteil konkrete Vorgaben gemacht. 823 Weigend, in: Parmas / Pruks (Hg.), FS-Sootak, 243, 251. 824 Esser, in: Marauhn (Hg.), Europäisches Beweisrecht, 39, 41; Mavany entgegnet der Kritik, welche der EMRK eine mangelnde Regelungstiefe vorwirft, dass die EMRK den Vertragsstaaten gerade durch ihre allgemeinen Vorgaben notwendige Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet. Die Missachtung dieser Vorgaben könne so allerdings das Vertrauen der Mitgliedstaaten erschüttern, Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 66 f. 825 Esser, in: Marauhn (Hg.), Europäisches Beweisrecht, 39, 43 f.; Vogel / Matt, StV 2007, 206, 207; Böse, in: Maiwald / Momsen / Bloy / Rackow (Hg.), FS-Maiwald, 233, 249 f.
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2. Teil: Darstellung
und Vernehmungsverbote nach Art. 3 EMRK,826 zentrale Verteidigungsrechte nach Art. 6 Abs. 1, 3 EMRK sowie das Recht auf einen konventionsbezogenen effektiven Rechtsbehelf nach Art. 13 EMRK.827 Für die Gesetzlichkeit sei eine hinreichend bestimmte Ermächtigungsgrundlage erforderlich. Der EGMR habe dies insbesondere für die Eingriffe mittels Durchsuchung,828 Telefonüberwachung,829 Anbringung von GPSSendern,830 akustischer Wohnraumüberwachung,831 Einsatz Verdeckter Ermittler832 sowie mittels einer Datenerhebung833 konkretisiert.834 Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergebe sich für Eingriffe in die Schutzgüter Eigentum, Privat- und Familienleben, Wohnung und Korrespondenz aus dem Wortlaut der EMRK.835 Relevant seien für das Beweisrecht insbeson826 Esser,
in: Marauhn (Hg.), Europäisches Beweisrecht, 39, 44. in: Marauhn (Hg.), Europäisches Beweisrecht, 39, 45. 828 EGMR, Buck . / . Deutschland, Urt. v. 28.4.2005, Az. 41604 / 98, HRRS 2005 Nr. 418; Kolesnichenko . / . Russland, Urt. v. 9.4.2009, Az. 19856 / 04, NJW 2010, 2109; Niemitz . / . Deutschland, Urt. v. 16.12.1992, Nr. 13710 / 88, NJW 1993, 7188. 829 EGMR, Malone . / . Vereinigtes Königreich, Urt. v. 2.8.1984, Az. 8691 / 79, Series A No. 82, EuGRZ 1985, 17; Kruslin . / . Frankreich, Urt. v. 24.4.1990, Az. 11801 / 85, Series A No. 176-A, ÖJZ 1990, 564; Huvig . / . Vereinigtes Königreich, Urt. v. 24.4.1990, Az. 11105 / 85, Series A No. 176-B, ÖJZ 1990, 567; Kopp . / . Schweiz, Urt. v. 25.3.1998, Az. 23224 / 94, Reports 1998-II; Valenzuela Contreras . / . Spanien, Urt. v. 30.7.1998, Az. 27671 / 95, Reports 1998-V, ÖJZ 1999, 510; Amann . / . Schweiz, Urt. v. 16.2.2000, Az. 27798 / 95, ECHR 2000-II, ÖJZ 2001, 71; Prado Bugallo . / . Spanien, Urt. v. 18.2.2003, Az. 58496 / 00; M.M. . / . Niederlande, Urt. v. 8.4.2003, Az. 39339 / 98, StV 2004, 1 ff. mit Anm. Gaede, StV 2004, 46; Doerga . / . Niederlande, Urt. v. 27.4.2004, Az. 50210 / 99, HRRS 2004 Nr. 751; Wisse . / . Frankreich, Urt. v. 20.12.2005, Az. 71611 / 01; P.-G. u. a. . / . Vereinigtes Königreich; Urt. v. 25.9.2001, Az. 44787 / 98, ÖJZ 2002, 911. 830 EGMR, Taylor-Sabori . / . Vereinigtes Königreich, Urt. v. 20.10.2002, HRRS 2004 Nr. 609; hierzu: BGH BGHSt 46, 266; Uzun . / . Deutschland, Urt. v. 2.9.2010, Nr. 35623 / 05, HRRS 2010 Nr. 885. 831 EGMR, Vetter . / . Frankreich, Urt. v. 31.5.2005; Chalkley . / . Vereinigtes Königreich, Urt. v. 12.6.2003; P.G. u. a. . / . Vereinigtes Königreich, Urt. v. 25.9.2001, ECHR 2001-IX, ÖJZ 2002, 911. 832 EGMR, Lüdi . / . Schweiz, Urt. v. 15.6.1992, Series A No. 238, § 43, StV 1992, 499; Kostovski . / . Niederlande, Urt. v. 20.11.1989, Series A No. 166, § 39, StV 1990, 481; Teixera de Castro . / . Portugal, Urt. v. 9.6.1998, Reports 1998-IV, § 34, EuGRZ 1999, 660. 833 EGMR, Brinks . / . Niederlande, Urt. v. 5.4.2005, HRRS 2005, Nr. 631; Rotaru . / . Rumänien, Urt. v. 4.5.2000, ECHR 2000-V, ÖJZ 2001, 74. 834 Esser, in: Marauhn (Hg.), Europäisches Beweisrecht, 39, 44. 835 Etwa: Behörde […] darf nur eingreifen bzw. Bedingungen, Einschränkungen […] unterworfen werden, […] wenn bzw. die in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, Art. 8 Abs. 2, Art. 10 Abs. 2 HS. 2 EMRK und Gesetze anzuwenden, die er […] für erforderlich hält, Art. 1 Abs. 2 1. ZP EMRK, Esser, in: Marauhn (Hg.), Europäisches Beweisrecht, 39, 44. 827 Esser,
4. Kap.: Gegenseitiges Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit der Strafjustiz231
dere die Rechte aus Art. 6 Abs. 3 EMRK auf effektive Verteidigung (lit. c), auf Befragung und Konfrontation (lit. d) sowie auf Dolmetscherunterstützung (lit. e).836 Die Verfahrensfairness nach Art. 6 Abs. 1 EMRK sei zudem ein allgemeiner Mindeststandard der Beweiserhebung und -verwertung.837 Dieser Standard umfasse elementare Strafprozessrechte wie das Selbstbelastungsprivileg – nemo tenetur se ipsum accusare – und das Schweigerecht,838 den Grundsatz der Waffengleichheit839 sowie das Anwesenheits- und Teilhaberecht im Rahmen eines kontradiktorischen Verfahrens840 und den Öffentlichkeitsgrundsatz, Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK. 4. Unionseigener Standpunkt Der Umgang der EU mit der EMRK ist eher ambivalent. Während sich die EU vor mehr als zehn Jahren noch recht zuversichtlich gab, hat sich dies zunehmend relativiert. Noch 1999 hieß es im Aktionsplan zum Tampere Programm, dass durch die in der EMRK enthaltenen Sicherheitsklauseln und deren dynamische Auslegung durch den EGMR angemessene und vergleichbare Verfahrensgarantien für den vom Strafverfahren Betroffenen beständen.841 Ebenso noch 2001 stellte die Kommission eine deutliche Kon836 Esser,
in: Marauhn (Hg.), Europäisches Beweisrecht, 39, 44. in: Marauhn (Hg.), Europäisches Beweisrecht, 39, 50. 838 EGMR, Saunders . / . Vereinigtes Königreich, Urt. v. 17.12.1996, Reports 1996-VI, §§ 68 – 69, ÖJZ 1998, 32; Heany u. a. . / . Vereinigtes Königreich, Urt. v. 21.12.2000, Nr. 34720 / 97; Averill . / . Vereinigtes Königreich, Urt. v. 6.6.2000, Nr. 36408 / 97; Telfner . / . Österreich, Urt. v. 20.3.2001, Nr. 33501 / 96, ÖJZ 2001, 613; Shannon . / . Vereinigtes Königreich, Urt. v. 4.10.2005, HRRS 2005 Nr. 935; Weh . / . Österreich, Urt. v. 8.4.2004, JR 2005, 423 ff.; Allan . / . Vereinigtes Königreich, Urt. v. 5.11.2002, ECHR 2002-IX, § 44, 52, JR 2004, 127; Jalloh . / . Deutschland, Urt. v. 11.7.2006, NJW 2006, 3117; O’Halloran und Francis . / . Vereinigtes Königreich, Urt. v. 29.6.2007, HRRS 2007 Nr. 1139; Lückhof und Spanner . / . Österreich, Urt. v. 10.1.2008, ÖJZ 2008, 375. 839 EGMR, Edwards und Lewis . / . Vereinigtes Königreich, Urt. v. 22.7.2003, §§ 53 -56, StraFo 2003, 360; Rowe und Davis . / . Vereinigtes Königreich, Urt. v. 16.2.2000, ECHR 2000-II, StraFo 2002, 51; Jasper . / . Vereinigtes Königreich, Urt. v. 16.2.2000, 30 EHRR 441. 840 EGMR, Colozza . / . Italien, Urt. v. 12.2.1985, Series A No. 89, §§ 27, 32, EGMR-E 3, 1; Barbera, Messegue und Jabardo . / . Spanien, Urt. v. 6.12.1988, Series A No. 146, § 78, EGMR-E 4, 208; Kostovski . / . Niederlande, Urt. v. 20.11.1989, Series A No. 166, § 41, EGMR-E 4, 436; Delta . / . Frankreich, Urt. v. 19.12.1990, Series A No. 191-A, § 36, ÖJZ 1991, 425; Asch . / . Österreich, Urt. v. 26.4.1991, Series A No. 203, § 27, EuGRZ 1992, 474; Saidi . / . Frankreich, Urt. v. 20.9.1993, Series A No. 261-C, § 43, ÖJZ 1994, 322; Esser, in: Marauhn (Hg.), Europäisches Beweisrecht, 39, 52, 63. 841 Wiener Aktionsplan, Abl. 1999 C 19 / 1, 5. 837 Esser,
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2. Teil: Darstellung
vergenz der verschiedenen Rechtstraditionen in Europa fest. Diese verdanke sich in hohem Maße der Tatsache, dass für alle Mitgliedstaaten die in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankerten Garantien für ein gerechtes Verfahren gelten würden.842 Mittlerweile nimmt die EU gegenüber der EMRK jedoch eine eher reservierte Haltung ein: So hätten zwar alle Mitgliedstaaten die EMRK unterzeichnet, doch habe die Erfahrung gezeigt, dass dadurch allein nicht immer ein hinreichendes Maß an Vertrauen in die Strafrechtspflege anderer Mitgliedstaaten hergestellt werde. Bestehendes Vertrauen könne indes durch eine kohärente Umsetzung der in Artikel 6 EMRK verankerten Rechte und Garantien gestärkt werden. Für ein hinreichendes Maß an Vertrauen seien die in der EMRK und der Charta verankerten Mindestvorschriften durch Sekundärrecht innerhalb der Union weiterzuentwickeln.843 Besonders hervorgehoben wird für das Vertrauen auch die Stellung des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR), insbesondere die Verankerung des Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 14 IPbpR.844 5. Eigene Stellungnahme Mit der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR gibt es bereits ausreichende und bewährte Mindeststandards für ein Strafverfahren. Der Strafjustiz der Mitgliedstaaten fällt es jedoch bisweilen schwer, alle Mindeststandards ordnungsgemäß einzuhalten. Die Rechtsprechung des EGMR erfordert eine gewisse Abstraktionsfähigkeit, eine Rechtskasuistik, welche teilweise für eine andere Rechtsordnung geschaffen wurde, innerhalb der eigenen Rechtsordnung anzuwenden. Die Festschreibung dieser allgemeinen Grundsätze im EU-Recht wird zu mehr Übersichtlichkeit sowie zu einer wünschenswerten Vertiefung und Fortschreibung führen. Das EU-Recht wird zudem in alle Amtssprachen der EU übersetzt, während die Rechtsprechung des EGMR häufig nur auf Französisch und Englisch vorliegt. Ein Konflikt mit den bereits bestehenden Standards sollte jedoch vermieden werden.845 842 Grünbuch
vom 11.12.2001, KOM(2001) 715 endgültig, 29. 6, 7 RL 2010 / 64 / EU, Abl. 2010 L 280 / 1; Erwägungsgrund 7, 8 RL 2012 / 13 / EU, Abl. 2012 L 142 / 1; Erwägungsgründe 5, 6 RL 2013 / 48 / EU, Abl. 2013 L 294 / 1; Erwägungsgrund 8, 13 Entschließung vom 30.11.2009, Abl. 2009 C 295 / 1; Entwurf RB Verfahrensrechte, KOM(2004) 328 endgültig, 9. 844 Erwägungsgründe 1, 5, 6 RL 2013 / 48 / EU, Abl. 2013 L 294 / 1. 845 Nach Esser liegt der mit dem EU-Recht verbundene Mehrwert daher gegenüber dem bereits jetzt über die EMRK erlangten Schutzstandard auf der Hand, Esser, in: Sieber / Brüner / Satzger / von Heintschel-Heinegg (Hg.), Europäisches Strafrecht, 825, 834; Rafaraci, in: Ruggeri (Hg.), Transnational inquiries, 331, 340; vgl. auch Entwurf RB Verfahrensrechte, KOM(2004) 328 endgültig, 7. 843 Erwägungsgrund
4. Kap.: Gegenseitiges Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit der Strafjustiz233
III. Harmonisierung und supranationales Strafrecht durch EU-Sekundärrecht 1. Standpunkt und Maßnahmen der EU Schon früh nach Einführung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung sah die EU einen Zusammenhang mit der Angleichung der nationalen Rechtsordnungen durch eigene Maßnahmen. Proportional mit den Rechtsakten zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung wuchs auch der Bedarf an Rechtsangleichung. Noch im Jahre 2001 vor Erlass des RB EHB betrachtete die Kommission die nationalen Strafjustizsysteme als Eckstein des strafrechtlichen Schutzes gegen transnationale Kriminalität. Es sei daher keinesfalls geplant, ein umfassendes und eigenständiges gemeinschaftliches Strafrechtssystem zu errichten.846 Mit Erlass der ersten entsprechenden Rechtsakte erkannte die EU jedoch die Notwendigkeit einer Teilharmonisierung des materiellen und formellen Strafrechts, um dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung den Boden zu bereiten. So sollte im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit eine europäische Rechtskultur geschaffen werden, welche sowohl auf der Vielfalt der Rechtssysteme der Mitgliedstaaten als auch auf der Einheitlichkeit durch europäisches Recht beruhe.847 In Form von Richtlinien sollen Mindestvorschriften erlassen werden.848 2. Rangverhältnis zwischen gegenseitiger Anerkennung und Rechtsangleichung nach Art. 82 AEUV Dieser Ausgangspunkt hat mit dem Lissabonner Vertrag auch Eingang ins EU-Primärrecht gefunden. Nach Art. 82 Abs. 2 UAbs. 1 S. 1 AEUV können durch Richtlinien Mindestvorschriften festgelegt werden, soweit dies zur Erleichterung der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen und der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen mit grenzüberschreitender Dimension erforderlich ist. Für diesen Zweck umfasst die justizielle Zusammenarbeit auch die Angleichung der Rechtsvorschriften, Art. 82 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV. Das Rangverhältnis zwischen dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung und der Harmonisierung nach Art. 82 AEUV wird unterschiedlich gesehen. Rackow kritisiert die einseitige Ausrichtung der Regelung zugunsten des 846 Grünbuch
vom 11.12.2001, KOM(2001) 715 endgültig, 29. Programm, Abl. 2005 C 53 / 1, 11. 848 Erwägungsgrund 7, 12, 32, 34 RL 2010 / 64 / EU, Abl. 2010 L 280 / 1; Erwägungsgrund 8, 14, 40, 43 RL 2012 / 13 / EU, Abl. 2012 L 142 / 1; Erwägungsgründe 6, 8, 54 RL 2013 / 48 / EU, Abl. 2013 L 294 / 1. 847 Haager
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2. Teil: Darstellung
Prinzips der gegenseitigen Anerkennung. Nach dem Primärrecht gehe das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung nun der Harmonisierung vor. Die Harmonisierung sei aber eher unabdingbare Geschäftsgrundlage als bloße Erleichterung oder Hilfsmittel für einen geschmeidigen Ablauf.849 Nach anderer Ansicht schließe sich beides jedoch nicht aus. Die Harmonisierung sei kein Selbstzweck, sondern erleichtere die justizielle Zusammenarbeit und fördere das gegenseitige Vertrauen. Die Angleichung habe somit eine der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen und dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung dienende Funktion.850 Letzterem ist zuzustimmen. Zwar hat die EU bereits Rechtsinstrumente zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung geschaffen, ohne eine entsprechende Rechtsangleichung des Strafverfahrensrechts vorzunehmen. Jedoch kann dieser Mangel mit der ausgeweiteten Kompetenz in Art. 82 AEUV wieder korrigiert werden. So erfüllt die Harmonisierung der nationalen Rechtsordnungen gleich mehrere Aufgaben und erleichtert nicht bloß die justizielle Zusammenarbeit. 3. Subsidiarität und kulturelle Abhängigkeit des Strafrechts a) Ausgangslage Bereits bei Einführung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung wurde für die Rechtsangleichung im justiziellen Bereich die Geltung der europäischen Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit hervorgehoben. Im Tampere Programm erklärte der Europäische Rat, dass bei der Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung und der Rechtsharmonisierung die Grundprinzipien des Rechts der Mitgliedstaaten weiterhin zu achten seien.851 Die Verbindlichkeit der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit wird seither in Maßnahmen zum Prinzip der 849 Rackow,
in: Ambos (Hg.), Europäisches Strafrecht post-Lissabon, 117, 120. in: Hilf / Nettesheim (Hg.), EUV, AEUV-Kommentar, Art. 82 AEUV, Rn. 43, 44, 72, Vogel sieht in der Harmonisierung zudem keinen Regelfall; ähnlich Sieber, Sieber, ZStW 2009, 1, 33 Fn. 65; Satzger, in: Streinz / Kruis / Michl (Hg.), EUV / AEUV-Kommentar, Art. 82 AEUV, Rn. 11, nach Satzger kann eine dienende Begleitregelung auch ausnahmsweise im Rahmen einer Maßnahme nach Art. 82 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV erfolgen, Rn. 20; Böse, in: Ambos (Hg.), Europäisches Strafrecht post-Lissabon, 57, 65; Böse, in: Schwarze / Becker / Bär-Bouyssière (Hg.), EU-Kommentar, Art. 82 AEUV, Rn. 35; Esser, in: Sieber / Brüner / Satzger / von Heintschel-Heinegg (Hg.), Europäisches Strafrecht, 825, 843 ff.; Stockholmer Programm, Abl. 2010 C 115 / 1, 12, nach dem Europäischen Rat sollte die erforderliche Angleichung des materiellen Rechts, wo notwendig, und des Verfahrensrechts die gegenseitige Anerkennung erleichtern und die entsprechenden Rechtsinstrumente benutzerfreundlicher gestalten; Haager Programm, Abl. 2005 C 53 / 1, 12. 851 Tampere Programm, Ratsdokument Nr. SN 200 / 99, vom 15. / 16.10.1999, 9. 850 Vogel,
4. Kap.: Gegenseitiges Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit der Strafjustiz235
gegenseitigen Anerkennung und zur Rechtsangleichung ausdrücklich hervorgehoben, vgl. Art. 5 Abs. 1 S. 2, Abs. 3, 4 EUV.852 Nach Art. 82 Abs. 2 UAbs. 1 S. 1 AEUV können durch Richtlinien Mindestvorschriften nur erlassen werden, soweit dies erforderlich ist. Gegebenenfalls müssen dabei laut Art. 82 Abs. 2 UAbs. 1 S. 2 AEUV die Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten berücksichtigt werden, vgl. auch Art. 67 Abs. 1 AEUV. Über die Harmonisierung der nationalen Strafrechtsordnungen gibt es eine heftige Diskussion, welche sowohl das formelle als auch das materielle Strafrecht betrifft.853 Insbesondere Souveränitätsvorbehalte und die kulturelle Identität strafrechtlicher Normen werden hier unterschiedlich beurteilt. b) Befürworter einer Harmonisierung Eine Ansicht befürwortet die Harmonisierung des Strafverfahrensrechts der Mitgliedstaaten durch Richtlinien. Es bestehe ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung und der Rechtsangleichung. Gegenseitige Anerkennung sei keine Alternative zur Harmonisierung. Beide träten jedoch häufig nebeneinander auf.854 Dabei müsse die Harmonisierung immer die Grundlage für das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung bilden.855 Hierbei wird insbesondere die Abhängigkeitskette zwischen dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, dem Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit der nationalen Rechtsordnungen und deren Harmonisierung hervorgehoben. Nur eine gemeinsame Basis im Strafrechtsverständnis könne gegenseitiges Vertrauen erzeugen. Dieses wiederum sei Grundlage für die Anwendung des 852 Erwägungsgrund 9 RB 2006 / 783 / JI, Abl. 2006 L 328 / 59; Erwägungsgrund 34 RL 2010 / 64 / EU, Abl. 2010 L 280 / 1; Erwägungsgrund 43 RL 2012 / 13 / EU, Abl. 2012 L 142 / 1. 853 Weigend, ZStW 1993, 774, 776, nach Weigend lassen sich materielles Strafrecht und Verfahrensrecht nicht strikt voneinander trennen – beide Gebiete seien ineinander verschränkt und müssten daher gemeinsam bedacht werden. 854 Möstl, CMLR 2010, 405, 413, 416; nach Mavany handelt es sich bei der Harmonisierung und dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung um zwei Instrumente, welche auf unterschiedlichen Wegen zur Erreichung derselben Ziele eingesetzt werden und hierbei zueinander in Wechselwirkung stehen, Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 127. 855 Rackow, in: Ambos (Hg.), Europäisches Strafrecht post-Lissabon, 117, 120; Leutheusser-Schnarrenberger, StraFo 2007, 267, 269; Esser, StRR 2010, 133, 137; Burchard, in: Beck / Burchard / Fateh-Moghadam (Hg.), Strafrechtsvergleichung, 275, 289 f.; Harms / Knauss, in: Heinrich / Jäger / Achenbach / Amelung / Bottke / Haffke / Schünemann / Wolter (Hg.), FS-Roxin, 1479, 1486 insbesondere auch Fn. 43; Vogel, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 269, 281.
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2. Teil: Darstellung
Prinzips der gegenseitigen Anerkennung.856 Als weiterer Grund wird angeführt, dass die Rechtsunterschiede die transnationale Strafverfolgung erschwerten. Durch Rechtsangleichung werde die Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung erleichtert. Angesichts der transnationalen Kriminalität sei eine (wenigstens) punktuelle Harmonisierung daher alternativlos.857 Den Grundsätzen der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit im Sinne eines strafrechtsspezifischen Schonungsgrundsatzes werde durch das Primärrecht ausreichend entsprochen.858 Inhaltlich wird vom Sekundärrecht ein Mehrwert gegenüber der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR gefor856 Nach Kretschmer ist eine partielle Rechtsangleichung erforderlich, um vertrauenshindernde Inkompatibilitäten der Rechtssysteme abzuschmelzen und die justizielle Zusammenarbeit auf dem Wege gegenseitiger Anerkennung zu katalysieren, Kretschmer, in: Vedder / Heintschel von Heinegg (Hg.), EVV-Kommentar, Art. III-270 EVV, Rn. 12; Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 126 f., nach Mavany führt eine fortschreitende Harmonisierung der Strafrechtsordnungen zu einem gestärkten gegenseitigen Vertrauen und somit zum Wegfall von Zweifeln gegen die Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung; Ahlbrecht, StV 2013, 114, 118; Illuminati, in: Ruggeri (Hg.), Transnational inquiries, 15, 24; Herrnfeld, in: Schwarze /Becker / Bär-Bouyssière (Hg.), EU-Kommentar, Art. 67 AEUV, Rn. 26; Allegrezza, ZIS 2010, 569, 574; Perron, in: Hettinger / Zopfs / Hillenkamp / Köhler / Rath / Streng / Wolter (Hg.), FS-Küper, 429, 437; Bundesrepublik Deutschland, Stellungnahme zum Grünbuch, 3; Burchard, in: Beck / Burchard / Fateh-Moghadam (Hg.), Strafrechtsvergleichung, 275, 291 f.; Vogel, in: Zieschang / Hilgendorf / Laubenthal (Hg.), Strafrecht und Kriminalität in Europa, 29, 56; Hassemer meint daher, dass die EU-Rechtssetzungspraxis im Falle des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung das Pferd vom Schwanz aufzäumt, Hassemer, ZStW 2004, 304, 317; so auch Rackow / Birr, GoJIL 2010, 1087, 1127; Leutheusser-Schnarrenberger, StraFo 2007, 267, 273, nach Leutheusser-Schnarrenberger werden so Verfahrensunterschiede zementiert, 269 f.; so auch Böhm, NJW 2006, 2592, 2593; Hecker, Europäisches Strafrecht, 452; Eckstein, ZStW 2012, 490, 527, nach Eckstein ist die Harmonisierung Voraussetzung für den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung. Durch den unbedingten Einsatz des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung im EU-Recht werde die Möglichkeit, die Harmonisierung des Strafrechts voranzutreiben zu einem Gebot nacheilenden Gehorsams; Schlussanträge des Generalanwalts Bot vom 2.10.2012, C-399 / 11, Melloni, Rz. 114, 116. 857 Sieber, ZStW 2009, 1, 30, nach Sieber sind Unterschiede zwischen nationalen Strafrechtsordnungen Sand im Getriebe der Zusammenarbeit bei der Strafverfolgung; Perron, in: Hettinger / Zopfs / Hillenkamp / Köhler / Rath / Streng / Wolter (Hg.), FS-Küper, 429, 439; Rafaraci, in: Ruggeri (Hg.), Transnational inquiries, 331, 341. 858 Satzger, in: Streinz / Kruis / Michl (Hg.), EUV / AEUV-Kommentar, Art. 82 AEUV, Rn. 3; Heger, RuP 2012, 88, 91; Vogel, in: Hilf / Nettesheim (Hg.), EUV, AEUV-Kommentar, Art. 82 AEUV, Rn. 71, 81; Weigend, erkennt zumindest die schonende Wirkung an, Weigend, in: Parmas / Pruks (Hg.), FS-Sootak, 243, 253; das BVerfG sah bereits 2005 in der praktizierten Zusammenarbeit einer begrenzten gegenseitigen Anerkennung [mit teilweiser Harmonisierung], auch mit Blick auf den Grundsatz der Subsidiarität (Art. 23 Abs. 1 GG) einen Weg, um die nationale Identität und Staatlichkeit in einem einheitlichen europäischen Rechtsraum zu wahren, BVerfG BVerfGE 113, 273, 299.
4. Kap.: Gegenseitiges Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit der Strafjustiz237
dert. Die Richtlinien sollten Mindestvorschriften enthalten, welche nicht nur dem Entwicklungsstand des Europarats gerecht werden, sondern auch der europäischen Integration und vertieften Zusammenarbeit in der EU.859 Auch rein kulturelle und gesellschaftliche Gründe würden eine Teilangleichung des materiellen Strafrechts der Mitgliedstaaten – zumindest innerhalb der eng umgrenzten Bereiche des Art. 83 AEUV – nicht ausschließen.860 Die Bedeutung des Strafrechts liege viel mehr im Rechtsgüterschutz als bei der Bewahrung schrulliger nationaler Traditionen und skurriler regionaler Beliebigkeit.861 Die Anerkennung einer ausländischen Entscheidung müsse immer mit einer Harmonisierung materiellen Rechts einhergehen. Verzichte ein ersuchter Staat im Rahmen der Rechtshilfe auf die volle Ausübung seiner Souveränität, so müsse dem ausländischen Ersuchen ein Strafanspruch aus harmonisiertem materiellem Recht zugrunde liegen.862 Mit fortschreitender europäischer Integration ließen sich kulturelle Unterschiede der Mitgliedstaaten auch durch die Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung und der Rechtsangleichung überwinden.863 859 Böse, in: Ambos (Hg.), Europäisches Strafrecht post-Lissabon, 57, 66; Böse, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 149, 174; Gaede, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 97, 124 f. 860 Schünemann, KritV 2008, 6, 16, nach Schünemann ist die Vorstellung falsch, das Strafrecht sei wie kein anderes Rechtsgebiet von nationalen Eigentümlichkeiten und Traditionen gekennzeichnet, quasi nach Art des Schottenrocks und Dudelsacks oder des Stierkampfes in Spanien; Quintero Olivares, in: Sieber / Dannecker / Kindhäuser / Vogel / Walter (Hg.), FS-Tiedemann, 1339, 1340. 861 Schünemann, KritV 2008, 6, 16; Schünemann, in: Joerden / Scheffler / Sinn / Wolf (Hg.), FS-Szwarc, 109, 116 f.; Vogel, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 269, 283 f., nach Vogel erweist sich die angebliche Kulturgebundenheit des Strafrechts bei näherer Betrachtung weithin als eine Chimäre und betrifft gewiss nicht bzw. nicht in anzuerkennender Weise Terrorismus, Menschenhandel, illegalen Drogenhandel usw. (vgl. Art. 83 Abs. 1 UA 2 AEUV). Wie überall sei das Argument von der nationalen Rechtskultur „zweifelhaft und politisch gefährlich“, weil es wegen seiner „ethnozentrischen Anfälligkeit Rechtschauvinismus und Einzigartigkeitsattitüden Vorschub leiste.“ 862 Eckstein, ZStW 2012, 490, 513; Fuchs, ZStW 2004, 368, 369; Vogel, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 269, 281. 863 Hecker, DÖV 2006, 273, 276, Hecker spricht hier von einem ganz erheblichen Integrationssog und einer integrationsstimulierenden Wirkung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung und der Harmonisierung. Insgesamt ergebe sich so eine Integrationsspirale; Perron, in: Hettinger / Zopfs / Hillenkamp / Köhler / Rath / Streng / Wolter (Hg.), FS-Küper, 429, 439, nach Perron leisten Harmonisierung und sonstige Vernetzung der unterschiedlichen Systeme einen wichtigen Beitrag zur europäischen Binnenintegration; Mitsilegas, EU criminal law, 115, Mitsilegas hält das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung für den motor of European integration in criminal matters; Vernimmen-Van Tiggelen / Surano, Future of mutual recognition, 20; Sieber, in: Sieber / Brüner / Satzger / von Heintschel-Heinegg (Hg.), Europäisches Strafrecht, 25, 92 f.; Heger, RuP 2012, 88, 89.
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2. Teil: Darstellung
c) Gegner der Harmonisierung Die Gegenmeinung lehnt jegliche weitergehende Harmonisierung im Strafrecht seitens der EU ab. Alle Mitgliedstaaten seien bereits der EMRK verpflichtet und hätten Strafrechtsordnungen, welche weitgehend auf gemeinsame Wurzeln der europäischen Aufklärung zurückgingen.864 Daher reiche es für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten aus, dass diese ihr gemeinsames Ziel mit unterschiedlichen Mitteln verfolgten. Es sei gerade nicht notwendig, das Strafverfahrensrecht stromlinienförmig zu vereinheitlichen. Grundlage der vertrauensvollen Zusammenarbeit müsse immer die Achtung nationaler Traditionen bleiben.865 Diese Achtung müsse auch für das materielle Strafrecht gelten. Die strafrechtliche Interventionsschwelle eines jeden Staates spiegele dessen nationale Traditionen und Wertvorstellungen wider. Das nationale Strafrecht sei somit ein Ausdruck der jeweils herrschenden Ordnung, bestimmt durch religiöse, kulturelle, demografische, soziale und politische Bedingungen.866 Somit würde sich eine Harmonisierung des materiellen Strafrechts durch die EU verbieten, da sie in die delikate kriminalpolitische Balance eingreife. Selbst bei einer punktuellen Rechtsangleichung wäre nicht abzusehen, welche Wirkungen sie in dem jeweiligen nationalen Klima entfalten werde.867 Es bestehe so ein erhebliches Risiko von unbeherrschbaren Dissonanzen und Ungleichgewichten innerhalb der nationalen Strafrechtssysteme.868 864 Weigend,
in: Parmas / Pruks (Hg.), FS-Sootak, 243, 251. ZStW 1993, 774, 794, 802; Weigend, ZStW 2004, 275, 289 f., 301, Weigend vergleicht die Rechtsangleichung der EU gar mit Verhältnissen in der Sowjetunion; Rackow, in: Ambos (Hg.), Europäisches Strafrecht post-Lissabon, 117, 124, Rackow sieht die Harmonisierung aufgrund des Achtungsgebot aus Art. 82 Abs. 2 S. 2 u. UAbs. 2 lit. b AEUV in einer Sackgasse und an einem toten Punkt; Rackow / Birr, GoJIL 2010, 1087, 1110; nach Mitsilegas ist the achievement of mutual trust too indirect and subjective as a legitimating link. Es sei nicht gesichert, dass durch Harmonisierung Vertrauen entstehe, welches wiederum zu einer ver besserten Zusammenarbeit führe. Eine Harmonisierung dürfe nach dem EU-Recht nicht allein auf eine bloße Vermutung gestützt werden. Eine Rechtsgrundlage müsse hingegen auf objektiven Kriterien beruhen, welche gerichtlich überprüfbar seien, Mitsilegas, EU criminal law, 106; Mitsilegas, CMLR 2006, 1277, 1306. 866 Hecker, JA 2002, 723, 729; Frisch, GA 2007, 250, 270, 262 Fn. 67; Weigend, ZStW 1993, 774, 789 f.; Weigend, in: Parmas / Pruks (Hg.), FS-Sootak, 243, 244; Rüter, ZStW 1993, 30, 35 ff., 44, Rüter spricht hier von historisch gewachsenen nationalen Traditionen und kulturellen Unterschieden. 867 Weigend, ZStW 1993, 774, 789 f.; Weigend, in: Parmas / Pruks (Hg.), FS-Sootak, 243, 244; Hecker, JA 2002, 723, 729. 868 Weigend, ZStW 1993, 774, 789 f.; Weigend, ZStW 2004, 275, 286; Weigend, in: Parmas / Pruks (Hg.), FS-Sootak, 243, 260 f.; zweifelnd Dannecker, Jura 2006, 173, 178. 865 Weigend,
4. Kap.: Gegenseitiges Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit der Strafjustiz239
d) Rechtsvereinheitlichung Eine differenzierende Ansicht befürwortet zwar ein äußeres Einwirken der EU auf die nationalen Strafrechtssysteme, lehnt hierfür jedoch harmonisierende Maßnahmen gleichfalls ab. Weniger Richtlinien als Verordnungen, welche ein (teilweise) supranationales Strafrecht schaffen, könnten Grundlage für die Anerkennung ausländischer Entscheidungen sein. Innerhalb dieses Meinungsspektrums unterscheiden sich die Begründungen massiv voneinander. Nach einer Ansicht eröffnet ein besonderes supranationales Strafrecht eigens für den Bereich der transnationalen Kriminalität Möglichkeiten, einen durch Harmonisierung unverhältnismäßig hohen Aufwand und einen Konflikt mit dem Subsidiaritätsprinzip zu vermeiden.869 Eine andere Ansicht stellt in Frage, ob die nationalen Rechtskulturen in ihrer bisherigen Form wirklich erhaltenswert oder überhaupt erhaltensfähig sind. In ihrem derzeitigen Zustand seien sie überkommen und hätten keine Zukunft.870 Eine bloße Harmonisierung der nationalen Strafrechtssysteme würde deren Gleichgewicht gefährden, da sich jede punktuelle Maßnahme als destabilisierender Fremdkörper in einem intakten System auswirken könnte. Drohe eine solche Gefahr, sinke auch der wirkliche Wert der Harmonisierung, da die nationale Rechtsordnung die Maßnahme durch Selbstschutz isoliere. Ergebnis könne so allein eine graduelle Annäherung sein.871 Nur ein auf Vereinheitlichung basierendes liberales, soziales europäisches Strafrechtsmodell schaffe die Voraussetzungen für eine effektive transnationale Strafverfolgung, welche auch gemeinsame Traditionen in Europa erhalte.872 869 Hecker, Europäisches Strafrecht, 452, nach Hecker erlaubt supranationales Strafverfahrensrecht eine Schonung der nationalen Strafrechtsordnungen gegenüber einer „Breitbandharmonisierung“; Hecker, in: Ruggeri (Hg.), Transnational inquir ies, 269, 277 f.; Sieber, ZStW 2009, 1, 36 f. 870 Perron, in: Hettinger / Zopfs / Hillenkamp / Köhler / Rath / Streng / Wolter (Hg.), FS-Küper, 429, 438 f., nach Perron relativieren die gesellschaftlichen Veränderungen der Moderne zunehmend die territoriale Verankerung nationaler und kultureller Identitäten. 871 Perron, in: Hettinger / Zopfs / Hillenkamp / Köhler / Rath / Streng / Wolter (Hg.), FS-Küper, 429, 434 f., 439 f., nach Perron neigen derartige Systeme zur Selbststabilisierung und Immunisierung. Sie ließen systemfremde Eingriffe wirkungslos verpuffen oder verarbeiten sie zumindest in einer solchen Weise, dass das vorhandene Gleichgewicht nicht gestört werde. Perron kritisiert zudem die Gleichgültigkeit bzw. Resignation der Mitgliedstaaten, lieber fremde Gerichtsentscheidungen trotz massiver Zweifel an ihrer Richtigkeit anerkennen zu wollen als ihr nationales Recht zu vereinheitlichen. Dieser Mangel sei aus deren Sicht das kleinere Übel als ein Recht aus europäischem Einheitsbrei. 872 Perron, in: Hettinger / Zopfs / Hillenkamp / Köhler / Rath / Streng / Wolter (Hg.), FS-Küper, 429, 439 f., nach Perron gehören hierzu ein eigenständiges europäisches Strafrechtssystem mit eigenem Regelwerk, eigenen Strafverfolgungsorganen und ei-
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2. Teil: Darstellung
4. Eigene Stellungnahme Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung kann die Rechtsangleichung nicht ersetzen. Vielmehr ist der EU und der befürwortenden Ansicht zuzustimmen, dass für eine effiziente und gerechte Anwendung eine Harmonisierung des Strafrechts unerlässlich ist. Die Rechtsprechung des EGMR zur EMRK hat die verschiedenen Strafrechtssysteme einander angenähert.873 Jedoch erst mit dem Vertrag von Lissabon konnte die EU beginnen, mittels Richtlinien Strafverfahrensrecht anzugleichen. Ein wichtiges Korrektiv, um nationale Belange der Mitgliedstaaten zu schützen und zu schonen, ist der grenzüberschreitende Bezug jeder einzelnen Maßnahme. Mittelfristig betrachtet, steht die Rechtsharmonisierung an ihrem Anfang. Zumindest in Teilen wird sie jedoch mit der Zeit auf unüberbrückbare Systemunterschiede stoßen. Daher könnte an ihrem Ende doch eine Vereinheitlichung des europäischen Strafrechts stehen.874 Allerdings ist zu bedenken, dass gegenwärtig kein politischer Wille auszumachen ist für ein einheitliches europä isches Straf- oder Strafverfahrensrecht.875 Anzustreben wäre zumindest ein einheitliches europäisches Verfahren über die Beweiszulassung – sei dies zentral oder dezentral gestaltet.876 IV. Bestand rechtsangleichender Normen 1. Formelles Strafrecht Mindeststandards für das Strafverfahren finden sich auch im EU-Recht. Dieses formuliert Grundrechte. Zwar beschränkt sich deren Anwendungsbereich auf die Anwendung des EU-Rechts durch die EU und ihre Mitgliedstaaten, Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh.877 Jedoch legt der EuGH nach neuester Rechtsprechung jenen Anwendungsbereich äußerst extensiv aus.878 Erfasst nem europäischen Obergericht; Perron, in: Militello / Arnold / Paoli (Hg.), Organisierte Kriminalität, 33, 50 f. 873 Hörnle, ZStW 2005, 801, 825. 874 Hörnle, ZStW 2005, 801, 825 ff. 875 Zeder, ÖJZ 2009, 992, 998 f. 876 Für eine zentrale Lösung: Biehler / Gleß / Parra / Zeitler, Analyse des Grünbuchs EStA, 46 f.; Gleß, ZStW 2003, 131, 148; Radtke, GA 2004, 1, 19; Sieber, ZStW 2009, 1, 37; Kinzler, Grenzüberschreitende Strafverfahren, 223; Hecker, Europäisches Strafrecht, 453. 877 EuGH, Urt. v. 18.6.1991, C-260 / 89, ERT / DEP, Slg. 1991 I-2925, Rz. 41 ff.; Hatje, in: Schwarze / Becker / Bär-Bouyssière (Hg.), EU-Kommentar, Art. 6 EUV, Rn. 20. 878 EuGH, Urt. v. 26.2.2013, C-617 / 10, Åkerberg Fransson; Reding, in: Leutheusser-Schnarrenberger (Hg.), FS-EMRK, 63, 67.
4. Kap.: Gegenseitiges Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit der Strafjustiz241
sind hiervon zumindest alle Rechtsakte zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung. Die Grundrechte entwickelten sich nicht zusammenhängend, sondern in verschiedenen Abschnitten. Seinen Anfang nahm dieser Prozess mit der Rechtsprechung des EuGH. Im Urteils des EuGH vom 12. November 1969 in der Rechtssache C-29 / 69, Stauder entwickelte der EuGH diese Grundrechte aus den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Gemeinschaftsrechts. So wurden sie richterrechtlich Teil des Primärrechts.879 In einer weiteren Entscheidung festigte der EuGH die einheitliche Auslegung der Grundrechte.880 Die GRCh übernahm einen Großteil dieser Entwicklung, machte die Grundrechte sichtbar und kodifizierte sie.881 Mit dem Vertrag von Lissabon ist die GRCh verbindlich und ihrerseits selbst zum Primärrecht geworden, Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 S. 1 HS. 1, 2 EUV.882 Die GRCh und die EMRK stimmen in ihren Verfahrensrechten größtenteils überein. Demgegenüber kann die GRCh zwar mehr Schutz gewähren, den Mindeststandard der EMRK aber nicht unterschreiten, Art. 53 GRCh.883 Daher ist der EuGH bei der Auslegung der GRCh um Konformität mit der Rechtsprechung des EGMR zur EMRK bemüht. Für das Beweisrecht sind insbesondere folgende Grundrechte von Bedeutung: • Anspruch auf effektiven Rechtsschutz, Art. 47 Abs. 1 GRCh884 • Anspruch auf ein faires Verfahren, Art. 47 Abs. 2 S. 1 GRCh885 • Anspruch auf (anwaltliche) Beratung, Verteidigung und Vertretung, Art. 47 Abs. 2 S. 2 GRCh886 879 EuGH, Urt. v. 12.11.1969, C-29 / 69, Stauder . / . Stadt Ulm, Slg. 1969 I-419, Rz. 7; Hatje, in: Schwarze / Becker / Bär-Bouyssière (Hg.), EU-Kommentar, Art. 6 EUV, Rn. 16; Jarass, in: Jarass (Hg.), GRCh-Kommentar, Einleitung, Rn. 2, 27; Gaede, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 97, 114. 880 EuGH, Urt. v. 17.12.1970, C-11 / 70, Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970 I-1125, Rz. 3 ff. 881 Jarass, in: Jarass (Hg.), GRCh-Kommentar, Einleitung, Rn. 3. 882 Jarass, in: Jarass (Hg.), GRCh-Kommentar, Einleitung, Rn. 6 ff. 883 Vgl. auch Erwägungsgründe 53, 54 RL 2013 / 48 / EU, Abl. 2013 L 294 / 1. 884 EuGH, Urt. v. 1.4.1987, C-257 / 85, Dufay . / . Europäisches Parlament, Slg. 1987 I-1561, Rz. 10; Urt. v. 15.5.1986, C-222 / 84, Johnston . / . Chief Constable of the Royal Ulster Constabulary, Slg. 1986 I-1651, Rz. 18; Urt. v. 3.2.2000, C-228 / 98, Dounias, Slg. 2000 I-577, Rz. 64. 885 EuGH, Urt. v. 5.3.1980, C-98 / 79, Pecastaing . / . Belgien, Slg. 1980 I-691, Rz. 21; Urt. v. 10.4.2003, C-276 / 01, Steffensen, Slg. 2003 I-3735, Rz. 72. 886 EuGH, Urt. v. 28.3.2000, C-7 / 98, Krombach, Slg. 2000 I-1935, Rz. 38.
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2. Teil: Darstellung
• Anspruch auf rechtliches Gehör887 • Unschuldsvermutung (in dubio pro reo), Art. 48 Abs. 1 GRCh888 • Selbstbezichtigungsfreiheit (nemo tenetur se ipsum accusare)889 • Schutz der Menschenwürde, Art. 1 GRCh • Verbot der Folter und unmenschlicher Behandlung, Art. 4 GRCh • Anspruch auf Achtung der Privatsphäre, Art. 7 GRCh890 • Anspruch auf Schutz der Wohnung, Art. 7 GRCh891 • Anspruch auf Achtung der Kommunikation, Art. 7 GRCh892 • Anspruch auf Schutz personenbezogener Daten, Art. 8 GRCh893 • Recht auf Freiheit und Sicherheit, Art. 6 GRCh894 • Verbot der Doppelbestrafung (ne bis in idem), Art. 50 GRCh895 Konkretisiert werden die Grundrechte durch die Rechtsprechung des EuGH. Teilweise geschieht dies auch durch Sekundärrecht. Hierzu gehört 887 EuGH, Urt. v. 11.1.2000, C-174 / 98 P, Niederlande und Van der Wal . / . Europäische Kommission, Slg. 2000 I-1, Rz. 14; Urt. v. 18.9.2003, C-338 / 00 P, Volkswagen . / . Europäische Kommission, Slg. 2003 I-9189, Rz. 106. 888 EuGH, Urt. v. 8.7.1999, C-199 / 92 P, Hüls . / . Europäische Kommission, Slg. 1999 I-4287, Rz. 149. 889 EuGH, Urt. v. 7.1.2004, C-204 / 00 P, Aalborg Portland u. a. . / . Europäische Kommission, Slg. 2004 I-123, Rz. 64; kritisch hingegen Kotzurek, ZIS 2006, 123, 130; Esser, in: Heinrich / Jäger / Achenbach / Amelung / Bottke / Haffke / Schünemann / Wolter (Hg.), FS-Roxin, 1497, 1508. 890 EuGH, Urt. v. 12.11.1969, C-29 / 69, Stauder . / . Stadt Ulm, Slg. 1969 I-419, Rz. 7; Urt. v. 20.5.2003, C-465 / 00, C-138 / 01, C-139 / 01, Österreichischer Rundfunk u. a., Slg. 2003 I-4998, Rz. 68; Hatje, in: Schwarze / Becker / Bär-Bouyssière (Hg.), EU-Kommentar, Art. 6 EUV, Rn. 23; Jarass, in: Jarass (Hg.), GRCh-Kommentar, Art. 7 GRCh, Rn. 11 ff. 891 EuGH, Urt. v. 26.6.1980, C-136 / 79, National Panasonic . / . Europäische Kommission, Slg. 1980 I-2033, Rz. 17; Urt. v. 21.9.1989, C-46 / 87, C-227 / 88, Hoechst . / . Europäische Kommission, Slg. 1989 I-2859, Rz. 17; Urt. v. 17.10.1989, C-85 / 87, Dow Benelux . / . Europäische Kommission, Slg. 1989 I-3137, Rz. 28. 892 EuGH, Urt. v. 26.6.1980, C-136 / 79, National Panasonic . / . Europäische Kommission, Slg. 1980 I-2033, Rz. 17. 893 EuGH, Urt. v. 20.5.2003, C-465 / 00, C-138 / 01, C-139 / 01, Österreichischer Rundfunk u. a., Slg. 2003 I-4998, Rz. 70 ff. 894 In Betracht kommen etwa Eingriffe durch die zwangsweise Durchführung von Untersuchungen, vgl. Jarass, in: Jarass (Hg.), GRCh-Kommentar, Art. 6 GRCh, Rn. 9; Gaede, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 97, 129 f. 895 EuGH, Urt. v. 15.10.2002, C-238 / 99 P, Limburgse Vinyl Maatschappij u. a. . / . Europäische Kommission, Slg. 2002 I-8375, Rz. 59; Urt. v. 26.2.2013, C-617 / 10, Åkerberg Fransson, Rz. 32 ff.
4. Kap.: Gegenseitiges Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit der Strafjustiz243
insbesondere der Anspruch auf ein faires Verfahren. Durch Sekundärrecht werden nach Art. 82 Abs. 2 UAbs. 2 lit. b, c AEUV jedoch vor allem eigene Verfahrensrechte normiert. Diese Verfahrensrechte sind teilweise in Rechtsakten zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung selbst normiert. Konzept ionell werden Verfahrensrechte jedoch in eigenen Rechtsakten zusammen gefasst. Nachdem ein Rahmenbeschlussentwurf896 der Kommission über Verfahrensrechte im Strafverfahren aus dem Jahre 2004 keine Mehrheit gefunden hatte, entschloss sich der Rat im Jahre 2009 in einem „Fahrplan“ zum Erlass mehrerer Maßnahmen über Verfahrensrechte.897 Dieser „Fahrplan“ wurde mittlerweile größtenteils umgesetzt. Eine Richtlinie normiert die Rechte auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen,898 eine andere normiert die Rechte auf Rechtsbelehrung und Unterrichtung nebst entsprechender Protokollierung. Erfasst sind auch die Rechte auf Akteneinsicht und auf einen wirksamen Rechtsbehelf.899 Eine weitere Richtlinie beinhaltet die Rechte auf Rechtsbeistand im Strafverfahren, auf Kontaktaufnahme und Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug, auf Kontakt zu konsularischen Vertretungen sowie auf vertrauliche Kommunikation mit dem Rechtsbeistand.900 Das Recht auf Prozesskostenhilfe wird hingegen nicht normiert. Für Rechte in der Untersuchungshaft hat die Kommission ein Grünbuch vorgelegt.901 Einzelne Verfahrensrechte und Ordnungsbestimmungen enthält auch die RL EEA: Inhaftierte Personen haben bei ihrer zeitweiligen Überstellung an einen anderen Mitgliedstaat bestimmte Verfahrensrechte. Hierzu gehören das Recht auf freies Geleit, Art. 22 Abs. 8, 9, Art. 23 Abs. 2 RL EEA und auf Haftanrechung, Art. 22 Abs. 7, Art. 23 Abs. 2 RL EEA. Dem gesetzlichen Vertreter der inhaftierten Person wird im Hinblick auf das Alter der
896 Vorschlag für einen Rahmenbeschluss über Verfahrensrechte vom 28.4.2004, KOM(2004) 328 endgültig. 897 Entschließung des Rates vom 30. November 2009 über einen Fahrplan zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigen oder Beschuldigten in Strafverfahren – Abl. 2009 C 295 / 1. 898 RL 2010 / 64 / EU über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren, Abl. 2010 L 280 / 1. 899 RL 2012 / 13 / EU über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren, Abl. 2012 L 142 / 1. 900 RL 2013 / 48 / EU über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand, Abl. 2013 L 294 / 1. 901 Stärkung des gegenseitigen Vertrauens im europäischen Rechtsraum – Grünbuch zur Anwendung der EU-Strafrechtsvorschriften im Bereich des Freiheitsentzugs, KOM(2011) 327 endgültig.
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2. Teil: Darstellung
Person oder ihres körperlichen oder geistigen Zustands ein besonderes Stellungnahmerecht eingeräumt, Art. 22 Abs. 3, Art. 23 Abs. 2 RL EEA. Auch Vernehmungen per Telefon- bzw. Videokonferenz oder sonstiger audiovisueller Übertragung durch die Anordnungsbehörde folgen einem bestimmten Verfahren mit Verfahrensrechten und Ordnungsvorschriften für die Vollstreckungsbehörde. Zeugen, Sachverständige, Verdächtige oder Beschuldigte sind zur Vernehmung wirksam vorzuladen, Art. 24 Abs. 3 lit. a, b, Art. 25 Abs. 2 RL EEA. Bei der Vernehmung bestehen verschiedene Rechte und Pflichten auf Dolmetscherleistungen, Art. 24 Abs. 5 lit. a, d, Art. 25 Abs. 2 RL EEA. Vertreter der zuständigen Vollstreckungsbehörde achten auf die Einhaltung ihrer Rechtsordnung, Art. 24 Abs. 5 lit. a, Art. 25 Abs. 2 RL EEA. Sie haben auch die Identität der zu vernehmenden Person festzustellen, Art. 24 Abs. 3 lit. c, Abs. 5 lit. a, Art. 25 Abs. 2 RL EEA. Der Verdächtige oder Beschuldigte ist vor der Vernehmung über seine Verteidigungsrechte zu unterrichten, die ihm nach dem Recht des Vollstreckungs- oder des Anordnungsstaats zustehen. Hierzu gehört auch sein Aussageverweigerungsrecht. Zeugen und Sachverständige können sich auf ihre Zeugnisverweigerungs- und Schweigerechte berufen, die ihnen nach dem Recht des Vollstreckungs- oder des Anordnungsstaats zustehen. Hierüber sind sie vor ihrer Vernehmung zu unterrichten, Art. 24 Abs. 5 lit. e, Art. 25 Abs. 2 RL EEA. Der Verdächtige oder Beschuldigte ist überdies in angemessener Zeit über seine Rechte nach dem Recht des Anordnungsstaats zu unterrichten, Art. 24 Abs. 3 lit. b, Art. 25 Abs. 2 RL EEA. Gegebenenfalls werden zwischen den zuständigen Behörden des Anordnungs- und des Vollstreckungsstaats Maßnahmen zum Schutz der zu vernehmenden Person vereinbart, Art. 24 Abs. 5 lit. b, Art. 25 Abs. 2 RL EEA. Ein von der Vollstreckungsbehörde zu fertigendes Vernehmungsprotokoll ist an die Anordnungsbehörde zu übermitteln, Art. 24 Abs. 6, Art. 25 Abs. 2 RL EEA. Gemäß Erwägungsgrund 15 RL EEA sind bei der Richtlinienumsetzung auch das EU-Sekundärrecht über Dolmetscherleistung, Belehrung und Rechtsbeistand zu beachten. 2. Materielles Strafrecht Ebenso wichtig für die Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung ist die Harmonisierung des materiellen Strafrechts. Vertrauen und Rechtssicherheit sowohl der Betroffenen als auch der Rechtsanwender werden bei der traditionellen Rechtshilfe durch den Grundsatz der beiderseiti-
4. Kap.: Gegenseitiges Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit der Strafjustiz245
gen Strafbarkeit vermittelt.902 Verzichten die Mitgliedstaaten mit dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung (teilweise) auf den Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit, kann etwa eine Rechtsharmonisierung einen Ausgleich herbeiführen. Vertrauen und Rechtssicherheit werden durch die Gewissheit hergestellt, dass in jedem Mitgliedstaat in den harmonisierten Kriminalitätsbereichen zu den nationalen Straftatbeständen funktionale Äquivalente bestehen, die die Bedeutung des Verzichts auf den Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit relativieren.903 Die Rechtsangleichung wird durch mehrere internationale Übereinkommen und EU-Sekundärrecht vorangetrieben. Zu den wichtigsten weltweit wirkenden Übereinkommen gehören diejenigen der Vereinten Nationen. Sie erfassen die Deliktsbereiche illegaler Drogenhandel,904 Terrorismus905 und dessen Finanzierung,906 organisierte Kriminalität,907 Menschenhandel,908 Migrantenschleusung,909 illegaler Waffenhandel910 und Korruption.911 Daneben gibt es einige Übereinkommen des Europarats, welche das materielle Strafrecht der Vertragsstaaten harmonisieren. Hierzu gehören die Deliktsbereiche Terrorismus,912 Umwelt,913 Korruption,914 sexuelle Ausbeu-
902 Krüßmann, Transnationales Strafprozessrecht, 431, nach Krüßmann erscheint das Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit […] für die sonstige Rechtshilfe nicht eigentlich sachdienlich, stärkt aber […] die Bereitschaft zur grenzüberschreitenden Interaktion, wo eine vertrauensvolle Zusammenarbeit aus verschiedenen Gründen nicht möglich ist. 903 Sieber, in: Sieber / Brüner / Satzger / von Heintschel-Heinegg (Hg.), Europä isches Strafrecht, 25, 89, nach Sieber gefährden die Unterschiede zwischen dem materiellen Strafrecht der Mitgliedstaaten die Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit des Rechts; Eckstein, ZStW 2012, 490, 503, 525 f.; Herrnfeld, in: Schwarze / Becker / Bär-Bouyssière (Hg.), EU-Kommentar, Art. 67 AEUV, Rn. 28; siehe oben 2. Teil 1. Kapitel D. I. 2. b) dd). 904 Übereinkommen vom 20. Dezember 1988, BGBl. 1993 II S. 1136. 905 Übereinkommen vom 15. Dezember 1997, BGBl. 2002 II S. 2506. 906 Übereinkommen vom 9. Dezember 1999, BGBl. 2003 II S. 1924. 907 Übereinkommen vom 15. November 2000, BGBl. 2005 II S. 956. 908 Zusatzprotokoll vom 15. November 2000, BGBl. 2005 II S. 995. 909 Zusatzprotokoll vom 15. November 2000, BGBl. 2005 II S. 1007. 910 Zusatzprotokoll vom 31. Mai 2001, AS 2013, 65. 911 Übereinkommen vom 31. Oktober 2003, BBl. 2007, 7417. 912 Übereinkommen vom 16. Mai 2005, BGBl. 2011 II 301. 913 Übereinkommen vom 4. November 1998, SEV Nr. 172. 914 Übereinkommen vom 27. Januar 1999, AS 2006, 2375; Zusatzprotokoll vom 15. Mai 2003, AS 2006, 2393.
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2. Teil: Darstellung
tung und sexueller Missbrauch von Kindern,915 Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt,916 Menschenhandel,917 Computerkriminalität918 sowie die mittels Computersystemen begangenen Handlungen rassistischer und fremdenfeindlicher Art.919 Auch die EU hat mehrere Maßnahmen zur Rechtsangleichung des materiellen Strafrechts erlassen: Sie betreffen Menschenhandel,920 sexuelle Ausbeutung von Kindern und Kinderpornografie,921 Terrorismus,922 Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt,923 Geldwäsche,924 Geldfälschung,925 Insider-Geschäfte und Marktmanipulation (Marktmissbrauch),926 Betrug und Fälschung im Zusammenhang mit unbaren Zahlungsmitteln,927 Bestechung im privaten Sektor,928 Angriffe auf Informationssysteme,929 Umweltverschmutzung,930 illegalen Drogenhandel,931 organisierte Kriminalität932 sowie bestimmte Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit.933 Diese Rechtsinstrumente enthalten Mindestvorschriften zur Definition von Straftaten und Strafen,934 welche den Verzicht auf den Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit in den betreffenden Kriminalitätsfeldern nahelegen. Größtenteils entspricht der Umfang des harmonisierten Rechts demjenigen, welcher auch vom Katalog der Rechtsakte zum Prinzip der gegenseitigen 918
915 Übereinkommen
vom 25. Oktober 2007, ÖBGBl. III Nr. 96 / 2011. vom 10. Mai 2011, SEV Nr. 210. 917 Übereinkommen vom 16. Mai 2005, ÖBGBl. III Nr. 10 / 2008. 918 Übereinkommen vom 23. November 2001, BGBl. 2008 II S. 1242. 919 Zusatzprotokoll vom 28. Januar 2003, BGBl. 2011 II S. 290. 920 RB 2002 / 629 / JI, Abl. 2002 L 203 / 1; RL 2011 / 36 / EU, Abl. 2011 L 101 / 1. 921 RB 2004 / 68 / JI, Abl. 2004 L 13 / 44; RL 2011 / 93 / EU, Abl. 2011 L 335 / 1. 922 RB 2002 / 475 / JI, Abl. 2002 L 164 / 3; RB 2008 / 919 / JI, Abl. 2008 L 330 / 21. 923 RB 2002 / 946 / JI, Abl. 2002 L 328 / 61. 924 RB 2001 / 500 / JI, Abl. 2001 L 182 / 1. 925 RB 2001 / 888 / JI, Abl. 2001 L 329 / 3; RB 2000 / 383 / JI, Abl. 2000 L 140 / 1; VO (EG) Nr. 1338 / 2001, Abl. 2001 L 181 / 6. 926 RL 2003 / 6 / EG, Abl. 2003 L 96 / 16. 927 RB 2001 / 413 / JI, Abl. 2001 L 149 / 1. 928 RB 2003 / 568 / JI, Abl. 2003 L 192 / 54. 929 RB 2005 / 222 / JI, Abl. 2005 L 69 / 67; Vorschlag RL KOM(2010) 517 endgültig. 930 RL 2008 / 99 / EG, Abl. 2008 L 328 / 28. 931 RB 2004 / 757 / JI, Abl. 2004 L 335 / 8. 932 RB 2008 / 841 / JI, Abl. 2008 L 300 / 42. 933 RB 2008 / 913 / JI, Abl. 2008 L 328 / 55. 934 Erwägungsgrund 3 RB 2002 / 946 / JI, Abl. 2002 L 328 / 1; Erwägungsgrund 3 RB 2004 / 757 / JI, Abl. 2004 L335 / 8; Erwägungsgrund 12 RL, 2008 / 99 / EG, Abl. 2008 L 328 / 28, Art. 1 RL 2011 / 36 / EU, Abl. 2011 L 101 / 1; Art. 1 RL 2011 / 92 / EU, Abl. 2011 L 335 / 1. 916 Übereinkommen
4. Kap.: Gegenseitiges Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit der Strafjustiz247
Anerkennung erfasst wird. Die vorbereitenden Entwürfe insbesondere der EU-Organe weisen darauf hin, dass dieser Prozess noch nicht abgeschlossen, sondern noch fortgeführt und vertieft wird.935 Zwar setzen die Mitgliedstaaten die harmonisierenden Rahmenbeschlüsse aufgrund mangelnden Drucks nur äußerst nachlässig ins nationale Recht um. Jedoch hat sich dies im justiziellen Bereich mit der Einführung von Richtlinien verändert. Bestehende Rahmenbeschlüsse werden durch Richtlinien ersetzt oder nach einer Übergangszeit in ihrer Wirkung zumindest gleichgestellt.936 Im Zuge einer umfassenden Harmonisierung des Zivil- und Verwaltungsrechts der Mitgliedstaaten durch EU-Recht nähern sich auch akzessorische Straftatbestände der Mitgliedstaaten einander an. Angeglichene Verbotsbereiche und der Anwendungsvorrang des EU-Rechts neutralisieren die Eigenheiten und die Reichweite der jeweiligen nationalen Strafrechtsordnung. Die Grundfreiheiten und entsprechendes EU-Sekundärrecht begrenzen den Unrechtskern der nationalen Straftatbestände.937 Deshalb wäre zugleich anzustreben, diese im vertretbaren Rahmen auf bloßes Verwaltungsunrecht herabzustufen oder gar gänzlich zu entkriminalisieren, um so dem Bürger ein höhreres Maß an Rechtssicherheit zu gewähren. Allerdings findet die Harmonisierung ihre Grenze in der kulturellen Identität der einzelnen Mitgliedstaaten, vgl. Art. 4 Abs. 2 EUV. So sollten umstrittene Bereiche wie die Abtreibung und Sterbehilfe von der Harmonisierung ausgenommen sein.938
935 Schlussanträge des Generalanwalts Ruiz-Jarabo Colomer vom 12.9.2006, C-303 / 05, Advocaten voor de Wereld VZW . / . Leden van de Ministerraad, Slg. 2007 I-3638, 3664; Nilsson, RIDP 2006, 53, 58; Wasmeier, ZStW 2004, 320, 322; Dieckmann, NStZ 2001, 617, 618 ff.; Vogel / Matt, StV 2007, 206, 206; Busemann, ZIS 2010, 552, 552, nach Busemann verfügen wir deshalb heute über einen gemeinsamen Kernbestand an Normen und Strafbarkeit. 936 Swoboda, HRRS 2014, 10, 11 f.; vgl. zum Umsetzungsstand in Österreich etwa Zeder, ÖAnwBl 2008, 249, 265 ff. 937 Satzger, in: Sieber / Brüner / Satzger / von Heintschel-Heinegg (Hg.), Europä isches Strafrecht, 231, 242 ff.; Heger, RuP 2012, 88, 90 f., Heger, ZIS 2013, 289, 290; Böse, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 47, 51 f. 938 Vogel, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 269, 278.
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2. Teil: Darstellung
5. Kapitel
Aktuelle Entwicklungen A. Vertrauenskrise und Vertrauensverlust I. Grundlegende Entwicklung Das Kooperationssystem zwischen den Mitgliedstaaten ist durch anhaltende Europäisierung zum wesentlichen Bestandteil ihres Rechtshilferechts geworden. Diese grundsätzlich positive Verfestigung schafft jedoch zugleich Probleme. Als abstraktes System ist es auch der Gefahr des Zusammenbruchs des allgemeinen Vertrauens ausgesetzt.939 Gegenwärtig lässt sich aufgrund diverser Vertrauensstörungen die massive Systemabhängigkeit vom Vertrauen beobachten. In der Entwicklung der europäischen Zusammenarbeit (u. a. der justiziellen) zeigt sich derzeit eine Verlangsamung, die sich auf eine massive Vertrauenskrise zurückführen lässt. Mangelnde Gegenseitigkeit und das Versagen einzelner vertrauensbildender Maßnahmen fördern diesen Prozess. Zum einen liegt dies an ihrer Ineffizienz, zum anderen an ihrer Zweckentfremdung.940 Erst nach Beseitigung dieser Mängel und Wiederherstellung des notwendigen Vertrauens sollte die justizielle Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten weiter vertieft werden. II. Erscheinungsformen der Vertrauenskrise 1. Rechtseinheit und Gegenseitigkeit a) Allgemeine Betrachtung Das Konzept des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts erfordert eine flächendeckende Umsetzung der entsprechenden EU-Rechtsakte innerhalb der Mitgliedstaaten. Nur so sind die für das Vertrauen notwendige Rechtseinheit und Gegenseitigkeit zu gewährleisten. Je mehr Mitgliedstaaten zögern, sich vollumfänglich an der justiziellen Zusammenarbeit zu beteiligen und sich selbst rechtlich zu binden, desto mehr schwindet auch das 939 Hier abstrakt zur Globalisierung, Giddens, in: Beck / Giddens / Lash / Rang (Hg.), Reflexive Modernisierung, 113, 165 f., nach Giddens kann wachsendes Misstrauen gegenüber einer Bank oder einer Regierung zu deren Zusammenbruch führen; dies gelte auch für die Weltwirtschaft insgesamt und die Beziehung zwischen den Nationalstaaten in der politischen Weltordnung. 940 Wasmeier, in: Sieber / Brüner / Satzger / von Heintschel-Heinegg (Hg.), Europä isches Strafrecht, 504, 511.
5. Kap.: Aktuelle Entwicklungen249
Vertrauen der anderen Mitgliedstaaten in die Effizienz und Wirksamkeit des ganzen Systems der gegenseitigen Anerkennung. Dies gilt sowohl für die Rechtssetzung als auch für die Rechtsanwendung. Nicht alle Rechtsinstrumente zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung sind trotz Ablaufs der Umsetzungsfrist in das nationale Recht der Mitgliedstaaten umgesetzt worden. Hierzu gehören insbesondere – u. a. auch für Deutschland – die Rahmenbeschlüsse zur EBA, 2008 / 909 / JI, 2008 / 947 / JI und 2009 / 829 / JI. Die stockende Umsetzung bereits bestehender Rechtsakte deutet auf Zweifel und geringes Interesse einiger Mitgliedstaaten am Prinzip der gegenseitigen Anerkennung hin.941 Doch auch mangelhafte Umsetzung bzw. fehlerhafte Rechtsanwendung des EU-Rechts führen zu Vertrauenskrisen. Die Kommission hatte solche Umsetzungsetzungsdefizite etwa bei der Evaluierung des RB EHB aufgedeckt. Als Beispiel wurde das distanzierte Verhältnis einiger Mitgliedstaaten zueinander dargestellt. Aufgrund mangelnder Umsetzung des RB EHB in Deutschland weigerten sich Spanien und Ungarn, deutsche EHB zu vollstrecken. Es mangele am Grundsatz der Gegenseitigkeit und am gegenseitigen Vertrauen, da Deutschland selbst EHB erlasse, ohne den RB EHB in innerstaatliches Recht umgesetzt zu haben. In der Tat erfolgte dies erst 2006. Der Kommission zufolge hängt das gegenseitige Vertrauen zudem ab von dem Respekt der Justizbehörden aller Mitgliedstaaten gegenüber getroffenen Vereinbarungen.942 Daneben bestehen weitere Umsetzungungsdefizite.943
941 Wasmeier, in: Sieber / Brüner / Satzger / von Heintschel-Heinegg (Hg.), Europä isches Strafrecht, 504, 511. 942 Bericht der Kommission, KOM(2007) 407 endgültig, 6; Bericht der Kommission, KOM(2011) 175 endgültig, 9; a. A.: BVerfG BVerfGK 6, 360, 364, nach dem BVerfG war das Umsetzungsdefizit des RB EHB in Deutschland für ausgehende Ersuchen unproblematisch: Dagegen spricht auch nicht, dass Deutschland nach dem geltenden Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen keine Ersuchen anderer Staaten in Form des Europäischen Haftbefehls ausreichen lassen darf. Völkerrechtliche Übereinkommen sind zwar ihrer Natur nach grundsätzlich vom Gedanken der Gegenseitigkeit der Rechte und Pflichten der beteiligten Staaten getragen. Der Rahmenbeschluss legt jedoch nicht fest, dass die nationalen Regelungen zum Europäischen Haftbefehl ausschließlich im Rechtshilfeverkehr zwischen den Mitgliedstaaten gelten sollen, die den Rahmenbeschluss bereits umgesetzt haben. Außerdem liegt es allein in der Hand des ersuchten Mitgliedstaats, sich gegenüber Deutschland auf die fehlende Gegenseitigkeit zu berufen. 943 Bericht der Kommission, KOM(2006) 8 endgültig, 3, Marin, EuConst 2008, 251, 261 ff.; Fichera, European arrest warrant, 171; Gaede, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 97, 125; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 178.
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2. Teil: Darstellung
b) Nationale Vorbehalte Die Rechtseinheit des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts wird nicht nur durch mangelhafte Umsetzung der Rechtsinstrumente zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung gefährdet. Drei Mitgliedstaaten (Großbritannien, Irland und Dänemark) haben im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit einen Sonderstatus erworben. Infolge nationaler Vorbehalte im Vertrag von Lissabon (opt-outs) müssen auch sie grundsätzlich angehört und berücksichtigt werden, ohne zur Zusammenarbeit mit den anderen Mitgliedstaaten verpflichtet zu sein.944 Auch die Rechtsprechung des EuGH ist für jene drei Mitglieder unverbindlich, so dass es hier Entscheidungen der nationalen Verfassungsgerichte zu EU-Maßnahmen wie dem RB EHB gibt.945 Tatsächlich nehmen alle drei Staaten in unterschiedlichem Umfang an den EU-Maßnahmen teil (opt-in). An den neuen Maßnahmen für Verfahrensrechte beteiligt sich allein Dänemark nicht.946 Die besondere Rechtsstellung ist historisch bedingt. Die drei Mitgliedstaaten nehmen gar nicht bzw. nur unter Vorbehalt am Schengen-acquis teil. Durch die Überführung des Schengen-acquis in den Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen der EU wirkt sich jene Sonderstellung auch allgemein auf diesen Bereich aus. Großbritannien, Irland und Dänemark halten an ihren Ausnahmerechten fest und stehen bis heute dem EU-Bereich Justiz und Inneres mehr oder weniger skeptisch gegenüber. Bedenklich sind auch die Vorbehalte Großbritanniens und Polens gegenüber der GRCh. Sie verhindern eine flächendeckende Kohärenz des europäischen Schutzstandards im Strafverfahren und senken so auch das Vertrauen in die justizielle Zusammenarbeit mit diesen Mitgliedstaaten. Neben diesen normativen Hindernissen bestehen auch rein faktische: In der Praxis erweist sich die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen mit common law-Mitgliedstaaten als schwierig. Von deutscher Seite wird gerügt, dass insbesondere die Justiz in Großbritannien die Rechtshilfe behindere.947 Nach einer Ansicht liegt der Ursprung dieses Problems zum einen in dem fundamentalen Strukturunterschied des adversatorischen Verfahrens zum inquisitorischen Verfahren, zum anderen in strukturellen Problemen und Perso944 Protokoll Nr. 21 über die Position des Vereinigten Königreichs und Irlands hinsichtlich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts; Protokoll Nr. 22 über die Position Dänemarks. 945 UK Supreme Court, Urt. v. 30.5.2012, Assange . / . The Swedish Prosecution Authority, [2012] UKSC 22. 946 Erwägungsgründe 35, 36 RL 2010 / 64 / EU, Abl. 2010 L 280 / 1; Erwägungsgründe 44, 45 RL 2012 / 13 / EU, Abl. 2012 L 142 / 1; Erwägungsgrund 59 RL 2013 / 48 / EU, Abl. 2013 L 294 / 1. 947 Ditscher, Europäische Beweise, 111.
5. Kap.: Aktuelle Entwicklungen251
nalmangel jener ausländischen Justizsysteme.948 Bei näherer Betrachtung fällt jedoch auf, dass weniger die Systemunterschiede als vielmehr politische Motive die justizielle Zusammenarbeit zu beeinträchtigen scheinen. Andererseits wird wiederum die Auffassung vertreten, dass trotz der Unterschiede der common law- und der kontinentaleuropäischen Systeme der enge politische und kulturelle Zusammenhalt bereits gewachsener Staaten in der EU gegeben ist.949 Eine Klammer, welche die Systemunterschiede überbrücken könne, bilde zudem die EMRK. Ihre (System-) neutralen Begriffe ermöglichten dem EGMR Zugang zu allen in Europa vorhandenen Strafrechtsordnungen. Die Rechtsprechung des EGMR zeige zudem, dass die strukturellen Unterschiede in Wahrheit gar nicht so groß seien, wie dies immer behauptet werde.950 So ist in Großbritannien auch eher ein allgemeiner politischer Unwille festzustellen, das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung anzuwenden. Dort wirft man anderen Mitgliedstaaten (z. B. Polen) vor, dieses Prinzip zur Verfolgung von Bagatellkriminalität zu missbrauchen. Aus britischer Sicht hat zudem der EHB als Rechtsinstrument zu viele rechtsstaatliche Mängel und verschwendet zu viele justizielle Ressourcen, als dass man ihn in Großbritannien häufig verwenden sollte.951 Weiterhin werden weitreichende Souveränitätsverluste gefürchtet.952 Dieser Unwille kulminiert gegenwärtig in den Bemühungen Großbritanniens, bis zum Jahr 2014 aus dem EU-Bereich Justiz und Inneres wenigstens teilweise auszutreten; dies würde gegebenenfalls auch für den RB EHB gelten. Sogar ein Austritt aus der EMRK nach der Wahl 2015 in Großbritannien ist von der aktuellen Regierung angedacht. Nationale Vorbehalte gefährden nicht nur die Rechtseinheit insgesamt, es droht auch eine Systemspaltung der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen innerhalb der EU zwischen partizipierenden und nichtpartizipierenden Mitgliedstaaten. Mit dem Schengen-acquis und dem Konzept eines Raums 948 Ditscher, Europäische Beweise, 111; Krüßmann, Transnationales Strafprozessrecht, 72; Schierholt, ZIS 2010, 567, 567. 949 Perron, in: Hettinger / Zopfs / Hillenkamp / Köhler / Rath / Streng / Wolter (Hg.), FS-Küper, 429, 441, nach Perron zeigt es sich sehr schnell, dass das Gemeinsame viel größer ist und weiter reicht als das Trennende. Zur europäischen Strafrechts integration bedürfe es daher vor allem Mut, aber auch eines langen Atems; Q uintero Olivares zweifelt an einer europäischen kulturellen Identität, verweist jedoch auf einen zwangsläufigen, logischen Zusammenlauf, Quintero Olivares, in: Sieber / Dannecker /Kindhäuser / Vogel / Walter (Hg.), FS-Tiedemann, 1339, 1341. 950 Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, 851, 855 f., Esser kritisiert in diesem Zusammenhang jedoch die Gesamtbetrachtungslehre des EGMR, da diese eine generelle Heilungsmöglichkeit von Verfahrensmängeln suggeriert, 860. 951 Ditscher, Europäische Beweise, 112. 952 Mitsilegas, NJECL 2010, 458, 460, nach Mitsilegas spricht das House of Lords hier von einer red line, die nicht überschritten werden darf.
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2. Teil: Darstellung
der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts erwerben die teilnehmenden Mitgliedstaaten einen höheren Integrationsstand als die nichtteilnehmenden. Zwischen ersteren wächst das Vertrauen, während letztere sich selbst isolieren. Der Bestand der Rechtsinstrumente zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung wird von den Teilnehmern durch jahrelange Praxis erprobt und fortentwickelt, während die Rechtshilfe mit den nichtbeteiligten Mitgliedstaaten auf ihrem traditionellen Stand verharrt. Zwar erleichtert die europäische Integration die justizielle Zusammenarbeit, jedoch bilden sich durch unterschiedliche „Integrationsgeschwindigkeiten“ auch unterschiedliche Sphären der Rechtsanwendung, welche sich mit jeder neuen Regelung voneinander entfernen können. Dieser Umstand mag noch für den einzelnen Mitgliedstaat hinnehmbar sein, jedoch wirkt er sich lähmend aus auf das Vertrauen in eine Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten unter dem Dach der EU, da auf nichtpartizipierende Mitgliedstaaten Rücksicht genommen werden muss. Nach Farries stellt die RL EEA für Großbritannien und Irland den ersten Testfall dar für eine Teilnahme (opt in). Zwar nehmen beide Staaten derzeit an der geplanten Maßnahme teil. Würde jedoch auch bloß einer von beiden von seinem Vorbehalt (opt out) nachträglich Gebrauch machen, so würde dies zu einer Systemspaltung führen, die zu vergleichen wäre mit der Einführung des EuRhÜbk. Faktisch habe diese zu einer zeitlichen Bevorzugung von Ersuchen aus Vertragsstaaten geführt. Bei der RL EEA würde sich dies nun wiederholen. Die in der Richtlinie vorgesehene Fristenregelung würde nach geltender britischer Praxis zu einem Dreiklassenmodell führen: Zunächst würde eine EEA, dann das innerstaatliche Ersuchen und erst nachrangig das traditionelle Ersuchen erledigt werden.953 2. Intransparenz behördlicher Vorgänge Direkte Kommunikation und persönliche Kontakte zwischen den Justizbehörden bzw. Kontaktstellen sollen Vertrautheit schaffen und die Rechtshilfe vereinfachen und beschleunigen. Das EJN als institutionalisiertes soziales Netzwerk krankt jedoch an seiner Unübersichtlichkeit für Außenstehende, seinem streng hierachischen Aufbau und der hohen Fluktuation der beteiligten Kontaktpersonen. Zumindest Letzteres erschwert die nachhaltige Anknüpfung persönlicher Beziehungen und ein zwangloses Miteinander. Sein Nutzen erschöpft sich häufig in reiner Information.954 Zudem sollen persönliche Beziehungen den Rechtshilfeverkehr zwar erleichtern, ihn jedoch nicht ersetzen. Der persönliche Kontakt vereinfacht und beschleunigt die Rechtshilfe. Durch eine Entformalisierung wird das Handeln der Justiz953 Farries,
NJECL 2010, 425, 430; Dicker, Kriminalistik 2012, 195, 199. DRiZ 2000, 355, 359 f., 363, Nehm rügt eine Tendenz beim EJN zu reiner Selbstverwaltung und zum Justiztourismus. 954 Nehm,
5. Kap.: Aktuelle Entwicklungen253
behörden jedoch auch intransparent und entzieht sich bei fehlender Dokumentation und klaren Regeln der Kontrolle. In der Kritik stehen hier wiederum das EJN und die gemeinsamen Ermittlungsgruppen.955 Jenseits des traditionellen Rechtshilfeverkehrs entwickle sich so ein informelles Verfahren, welches in der Ausgestaltung eher einem polizeilichen bzw. nachrichtendienstlichen Verfahren als einem Strafverfahren gliche.956 Werde Formlosigkeit zur Methode, so würden die Behörden ihre Praxis anpassen und zu Lasten der Rechtshilfe auf solche Pfade ausweichen. Die Rechtshilfe stelle einen langen Verfahrensweg dar, während die gemeinsame Maßnahme einen schnellen Draht zwischen den Strafverfolgungsbehörden ermögliche und systemimmanente freiheitssichernde Widerstände der Rechtshilfe beseitige.957 Hierdurch könnte der Bürger sein Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit des justiziellen Handelns verlieren. Entstehen ausufernde intransparente Strukturen, genügt allein eine unerwünschte Information der Öffentlichkeit durch whistle-blower oder journalistische Recherche, um das Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit zu erschüttern. Aktuell gehören hierzu die Enthüllungen Edward Snowdens zur konspirativen Datenüberwachung durch die USA (Prism), Großbritannien (Tempora) sowie eine Reihe weiterer Staaten. 3. Ineffizienz und Korruption in der Justiz a) Vorbemerkungen Der Vertrauensverlust manifestiert sich am deutlichsten in der wahrgenommenen Ineffizienz und Schwäche von Justizsystemen einiger Mitgliedstaaten. Um gegenseitiges Vertrauen zu genießen, dürfen die mit der Rechtsdurchsetzung betrauten Institutionen (Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichte) eines Mitgliedstaats in der öffentlichen Meinung nicht als unfähig oder, noch schlimmer, als voreingenommen oder korrupt gel955 Nehm, DRiZ 2000, 355, 358; Nelles / Tinkl / Lauchstädt, in: Schulze / Zuleeg / Kadelbach (Hg.), Europarecht, 2294, 2337, 2340; Nettesheim, in: Mestmäcker / Möschel / Nettesheim (Hg.), Verfassung und Politik, 117, 135; Allegrezza, ZIS 2010, 569, 578; Sieber, ZStW 2009, 1, 13, 21, 39, Sieber hält die JIT für wenig transparent und wenig kontrolliert; zum Prinzip der allseitigen Verwertbarkeit von Beweisen in der Gruppe, vgl. Andreou, Gegenseitige Anerkennung, 305; Vogel, in: Vogel / Grotz (Hg.), Perspektiven des internationalen Strafprozessrechts, 1, 48; Krüßmann, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 679, 688 f. 956 Nelles, ZStW 1997, 727, 741 f., 746, nach Nelles liegt hierin die größte Gefahr für Rechtsstaatlichkeit der Strafverfahren in Europa; Nestler, ZStW 2004, 332, 334 f., nach Nestler besteht hier die Gefahr von Geheimverfahren; Gleß, StV 2013, 317, 320. 957 Nelles, ZStW 1997, 727, 742, 746, 748, Nelles nennt dies auch kleiner Dienstweg und kleiner Rechtsverkehr; Caprioli, in: Ruggeri (Hg.), Transnational inquiries, 439, 451 ff.
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2. Teil: Darstellung
ten.958 Die Rechtspflege sowie das Vertrauen in diese reagieren sehr empfindlich auf vielerlei Störungen etwa durch Rechtsbeugung, falsche Zeugenaussagen oder Bestechungshandlungen.959 Wird in einem Rechtssystem eine gewisse Akzeptanzschwelle unterschritten, so lösen andere soziale Mechanismen Vertrauen in seiner Funktion ab, soziale Beziehungen zu vereinfachen.960 Stellt sich für die Betroffenen das jeweilige Rechtssystem als unzuverlässig dar und ist Korruption allgegenwärtig, erliegen sie dem Trugschluß, dass stattdessen das Chaos geordnet, berechenbar und kontrollierbar sei. Nach Sztompka werden so intakte staatliche (justizielle) Strukturen von einer „Pseudo-Gemeinschaft“ ersetzt, abhängig von einem Netz wechselseitiger Gefälligkeiten.961 Korruption schadet jedoch nicht nur dem einzelnen Rechtssystem. Auch das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung ist von dem justiziellen Verfahren und der Person abhängig, welche die anzuerkennende Entscheidung hervorbringen. Korruption schadet so nicht erst im konkreten Einzelfall, sondern auch der Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung an sich.962 Dies gilt für jeden Versuch äußerer Einflussnahme in die richterliche Unabhängigkeit.963 958 Sztompka, in: Nedelmann (Hg.), Politische Institutionen, 254, 270, (im Originaltext ist missverständlich von Instanzen die Rede) nach Sztompka ist Folge dieser Vorkommnisse, dass Vertrauen in ordnungsgemäße Gesetzgebungsprozesse und in die Durchsetzung von normativen Standards, Fairneß und Gerechtigkeit noch weiter zerrüttet wird. 959 Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, 315 f., nach Hefendehl reagiert die Allgemeinheit im hohen Maße verunsichert, wenn die Justiz in dieser Form missachtet wird und überdies der Eindruck entsteht, dass es sich hierbei nicht lediglich um individuelles Fehlverhalten handelt, da sie keine Möglichkeit vertrauenswiederherstellender Maßnahmen sieht. 960 Sztompka, in: Nedelmann (Hg.), Politische Institutionen, 254, 261; Sztompka, Trust, 116. 961 Sztompka, in: Nedelmann (Hg.), Politische Institutionen, 254, 261, nach Sztompka gewinnt hier die zynische Welt gegenseitiger Manipulation und Ausbeutung die Oberhand; Sztompka, Trust, 116 f.; Wasmeier, in: Sieber / Brüner / Satzger / von Heintschel-Heinegg (Hg.), Europäisches Strafrecht, 504, 511, nach Wasmeier wird Vertrauen hier durch ein Substitut ersetzt. Mangele es am Vertrauen, bestände auch keine Grundlage mehr für die gegenseitige Anerkennung justizieller Entscheidungen anderer Mitgliedstaaten. Der Fortbestand des gewonnen Vertrauens sei so entscheidend für die justizielle Zusammenarbeit und den weiteren Integrationsprozess. 962 Entscheidung vom 13.12.2006, KOM(2006) 6569 endgültig, 2; ebenso: Entscheidung vom 13.12.2006, KOM(2006) 6570 endgültig, 2, nach der Kommission beruhen der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts und der Binnenmarkt, die mit dem Vertrag über die Europäische Union bzw. dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft geschaffen wurden, auf dem gegenseitigen Vertrauen, dass die Verwaltungs- und Gerichtsentscheidungen und die Verwaltungs- und Gerichtspraxis aller Mitgliedstaaten in jeder Hinsicht mit dem Rechtsstaatsprinzip im Einklang stehen. Dies bedeute, dass alle Mitgliedstaaten über ein unpartei isches, unabhängiges und effizientes Justiz- und Verwaltungssystem verfügen müss-
5. Kap.: Aktuelle Entwicklungen255
So geraten etwa die jüngsten EU-Mitgliedstaaten Bulgarien, Rumänien und Kroatien in einen besonderen Fokus, und zwar aus zweierlei Gründen: Zum einen sind alle drei Länder postsozialistische Staaten, deren rechtsstaatlicher Transformationsprozess noch nicht abgeschlossen ist. Gegenüber den anderen Mitgliedstaaten weisen deren Rechtsordnungen noch die meisten rechtsstaatlichen Defizite auf. Zum anderen ist dieser Transformationsprozess besonders gut dokumentiert. Bulgarien und Rumänien traten im Jahre 2007, Kroatien im Jahre 2013 der EU bei. Um die Kopenhagen-Kriterien für einen Beitritt zu erfüllen und das Kapitel Justiz im Aufnahmekatalog zu schließen, führten alle drei Staaten eine Justizreform durch, die sowohl die Rechtssetzung als auch die Rechtsanwendung betraf. Betreut wurden diese Beitrittsverhandlungen von der EU sowie von einzelnen Mitgliedstaaten im Wege der internationalen rechtlichen Zusammenarbeit (etwa durch das deutsche IRZ). Entsprechende Beitrittsverträge enthalten mehrjährige Übergangsbestimmungen, welche die Teilnahme an EU-Maßnahmen im Bereich Justiz und Inneres von ihrem jeweiligen Reformfortschritt abhängig machen oder machten.964 Seit 2006 überwacht die Kommission diese Fort963
ten, das ausreichend dafür ausgestattet sei, unter anderem Korruption zu bekämpfen; Tavares-Bericht vom 2.5.2013, 2012 / 2130(INI), 22, danach betont das Europäische Parlament, dass die wirksame Wahrung der Unabhängigkeit der Justiz die Grundlage der Demokratie in Europa bildet und eine Voraussetzung für die Konsolidierung des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Justizbehörden der verschiedenen Mitgliedstaaten und somit für eine reibungslose grenzüberschreitende Zusammen arbeit im gemeinsamen Rechtsraum auf Basis des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung … darstellt; Sieber, ZStW 2009, 1, 10, nach Sieber können sich besondere Probleme stellen, wenn Entscheidungen aus anderen Rechtsordnungen anerkannt werden, in denen die Korruption verbreitet ist, 10, das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung sei vor allem auch dann problematisch, wenn das zugrunde liegende gegenseitige Vertrauen zwischen den Rechtsordnungen nicht bestehe, weil in einem der beteiligten Justizsysteme Korruption verbreitet sei, 33 f.; Sieber, ZStW 2007, 1, 25, nach Sieber treten Spannungen auf, wenn unter dem Dach der Europäischen Union nunmehr nationale Rechtsordnungen eng miteinander kooperieren sollen, in denen die Bestechung teilweise weitgehend beseitigt, teilweise jedoch noch weitgehend akzeptierter Standard des Gesellschaftssystems ist. 963 Tolksdorf, in: Hülshörster / Mirow (Hg.), Rechts- und Justizreformen im Ausland, 141, 150, nach Tolksdorf funktioniert die kodifizierte und institutionalisierte richterliche Unabhängigkeit nicht ohne eine entsprechende „innere Unabhängigkeit“ der einzelnen Richter. Sie müssten mit ihrer Rechtsprechung, mit ihrer Amtsführung und mit ihrem richterlichen Selbstverständnis Vertrauen in die Funktions fähigkeit der Rechtsprechung schaffen; Sztompka, in: Nedelmann (Hg.), Politische Institutionen, 254, 272, nach Sztompka darf daher in der Gesetzgebung und der Anwendung der Gesetze kein Platz für Voluntarismus, Willkür und opportunistische Überschreitung oder Modifizierung von Gesetzen sein. 964 Akte über den Beitritt der Republik Bulgarien und Rumänien vom 21.6.2005, Abl. 2005 L 157 / 203; Vertrag über den Beitritt der Republik Bulgarien und Rumänien vom 25.4.2005, Abl. 2005 L 157 / 11; Vertrag über den Beitritt der Republik
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2. Teil: Darstellung
schritte anhand bestimmter Kriterien (benchmarks) im Rahmen eines Kooperations- und Überprüfungsmechanismus (Co-operation and Verification Mechanism – CVM). Zwar nehmen Bulgarien und Rumänien mit dem Ende der Übergangsbestimmungen im Jahre 2012 grundsätzlich an allen justiziellen EU-Maßnahmen teil. Jedoch gilt dies noch nicht für den Schengen-acquis. Insoweit hängt eine Mitgliedschaft mittelbar ab von einer positiven Bewertung der Reformbemühungen durch die Kommission.965 Im Jahre 2012 sah die Kommission etwa die Menschenrechte und Grundfreiheiten in Kroatien als gewahrt und eingehalten an.966 Dagegen bleiben rechtsstaatliche Defizite in älteren Mitgliedstaaten mangels entsprechender Dokumentation häufig folgenlos. Ein Vergleich der jüngeren mit den älteren Mitgliedern zeigt jedoch, dass letzlich in jedem Mitgliedstaat die justiziellen Ressourcen beschränkt sind und rechtsstaatliche Defizite sowie Korruption überall mehr oder minder vorhanden sind.967 b) Ineffizienz der Justiz Die rechtsstaatliche Qualität und Leistungsfähigkeit der Justiz hängt vor allem von ihrem Personal ab. Wie bereits ausgeführt, gehören hierzu eine Personalauswahl nach objektiven Kriterien sowie eine gute fachliche Ausbildung.968 Sowohl in der Ausbildung als auch bei der Auswahl (Einstellung und Beförderung) gab und gibt es teilweise noch erhebliche Mängel in den jüngsten Mitgliedstaaten. Die Qualifikation zum justiziellen Dienst sollte eine fachliche Ausbildung an einer Hochschule umfassen, begleitet von einer praktischen Einführung. Abschlüsse sollten durchweg leistungsgerecht bewertet werden. Auswahl und Einsatz des Personals sollten sich nach nachvollziehbaren objektiven Kriterien richten. In Kroatien waren diese Voraussetzungen vor Aufnahme der Beitrittsverhandlungen nicht gegeben. Kroatische Universitäten galten teilweise als Kroatien, Abl. 2012 L 112 / 10; Akte über den Beitritt der Republik Kroatien, Abl. 2012 L 112 / 21. 965 Vgl. Fortschrittsbericht über Bulgarien, KOM(2012) 411 endgültig; Fortschrittsbericht über Rumänien, KOM(2013) 47 endgültig. 966 Mitteilung der Kommission, KOM(2012) 601 endgültig, 13; a. A. Gittermann, in: von Olenhusen (Hg.), FS-OLG Celle, 549, 554 f., nach Gittermann sind die EMRK und die Grundfreiheiten dort unter Umständen nur ein Lippenbekenntnis. 967 Zeder, ÖJZ 2009, 992, 999, nach Zeder haben viele Praktiker die Erfahrung gemacht, dass die Justizbehörden anderer Mitgliedstaaten – zumal in Rechtshilfefällen – langsam bis kaum arbeiten. Schließlich könne auch nicht geleugnet werden, dass in manchen Staaten die Justiz nicht frei von Korruption sei. 968 Siehe oben 2. Teil 4. Kapitel C. III. 3. e).
5. Kap.: Aktuelle Entwicklungen257
korrupt und vergaben Abschlüsse nicht immer leistungsgerecht.969 Infolgedessen verfügte der justizielle Dienst über wenig qualifizierte Bewerber. Prinzipiell stand die Justiz jedem offen. Kandidaten ohne fundiertes Fachwissen und ausreichenden Praxisbezug dominierten. Sogenannte Gerichtsberater wurden zu Richtern ernannt; Reformversuche scheiterten.970 Eine umfassende Reform ging erst mit dem bevorstehenden EU-Beitritt einher. Ein praxisnahes Ausbildungssystem wurde geschaffen. Sowohl für die Auswahl als auch den Einsatz im justiziellen Dienst wurde – unter Beteiligung zahlreicher Experten aus mehreren Mitgliedstaaten – ein objektives Verfahren mit normierten Kriterien geschaffen.971 Kroatien verfügt so über ein modernes rechtsstaatliches Justizsystem. Ebenso wie Kroatien hatten auch Bulgarien und Rumänien vor ihrem EU-Beitritt wenig qualifiziertes Justizpersonal. Beiden Staaten bescheinigte indes die Kommission bereits in ihren ersten Fortschrittsberichten im Jahre 2006 erhebliche Anstrengungen im justiziellen Bereich, um die Vorbereitung auf die Mitgliedschaft zum Abschluss zu bringen. Sie wies jedoch auch auf erhebliche Defizite hin.972 Nach dem EU-Beitritt Bulgariens wurden dort der Oberste Justizrat als Zentralorgan des Personalmanagements und eine unabhängige Justizinspektion gegründet.973 Allerdings bewertete die Kommission die Arbeit des Obersten Justizrats noch im Jahre 2012 als unzureichend: Trotz weitreichender Kompetenzen werde weder die Auswahl der Bewerber nach Verdienst und Integrität gesteuert noch werde die Konstanz und Unabhängigkeit des Justizwesens vorangetrieben. Hiervon hänge jedoch das Vertrauen der Öffentlichkeit ab.974 Die Kommission kritisiert, dass Beurteilungen, Beförderungen und Ernennungen im Justizwesen noch nicht transparent seien und sich nicht auf objektive Kriterien und Verdienste stützten. Es gebe noch immer keine übergreifende Personalpolitik, die den Personalbedarf und die Arbeitsbelastung ausbalancieren könne. Das Vorgehen bei 969 Deville / Todria, in: Hülshörster / Mirow (Hg.), Rechts- und Justizreformen im Ausland, 187, 188 f. 970 Deville / Todria, in: Hülshörster / Mirow (Hg.), Rechts- und Justizreformen im Ausland, 187, 188 f. 971 Deville / Todria, in: Hülshörster / Mirow (Hg.), Rechts- und Justizreformen im Ausland, 187, 192 f.; Mitteilung der Kommission, KOM(2012) 601 endgültig, 3 f., 8 f. 972 Entscheidung vom 13.12.2006, KOM(2006) 6569 endgültig, 2; ebenso: Entscheidung vom 13.12.2006, KOM(2006) 6570 endgültig, 2, im Zusammenhang mit der Effizienz der Justiz beständen noch unerledigte Fragen, bei denen es weiterer Fortschritte bedürfe, um zu gewährleisten, dass sie die Maßnahmen zur Verwirk lichung des Binnenmarktes und des Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts umsetzen und anwenden könnten; vgl. für Bulgarien auch Popova, in: Hülshörster / Mirow (Hg.), Rechts- und Justizreformen im Ausland, 413, 416 f. 973 Fortschrittsbericht über Bulgarien, KOM(2012) 411 endgültig, 5. 974 Fortschrittsbericht über Bulgarien, KOM(2012) 411 endgültig, 3 f.
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Disziplinarverstößen sei uneinheitlich und habe in vielen wichtigen Fällen entweder kein Ergebnis erbracht oder wirke nicht hinreichend abschreckend. Insgesamt wirkten die Maßnahmen zur Verbesserung der justiziellen Praxis oberflächlich und hätten sich bisher noch nicht konkret auf die Ergebnisse in wichtigen Fällen ausgewirkt.975 Das Ziel, durch Reformen den Regierungen und Bürgern Europas das Gefühl zu vermitteln, Bulgarien habe ein stabiles Justizsystem, bzw. das Vertrauen seiner europäischen Partner zu gewinnen, ist damit noch nicht erreicht.976 Die größten Defizite bestehen jedoch in Rumänien. Nach der Kommission und der Weltbank ist die rumänische öffentliche Verwaltung die ineffizienteste in der EU. Dies gelte auch für das Justizsystem. Probleme seien insbesondere die Kapazitätsengpässe und die Arbeitsbelastung der Richter und Staatsanwälte. Es beständen Schwachstellen in der Struktur und internen Organisation der Gerichte und Staatsanwaltschaften. Zwar sei auch in Rumänien bereits vor dem EU-Beitritt eine Justizreform veranlasst worden, jedoch habe eine strukturelle Justizreform hier versagt.977 Bereits vor dem EU-Beitritt Rumäniens gab es einzelne erfolgversprechende Projekte für eine Justizreform, diese wurden auch nach dem Beitritt fortgesetzt.978 Eine strukturelle Justizreform habe aber im Zeitraum 2007 bis 2012 keine Verbesserung gebracht.979 c) Korruption Ein weiteres Problem stellt die Korruption in der Justiz einiger Mitgliedstaaten dar. Korruption ist ein in allen Staaten auftretendes Phänomen. Hierzu hat eine weltweite Studie von Transparency International Bevölkerungsbefragungen in 176 Staaten ausgewertet. Auf diese Studie bezieht sich auch die Kommission bei ihren Stellungnahmen zur Korruptionslage. In einem sogenannten Korruptionsindex schlüsselt die Studie die innerhalb des jeweiligen Staates wahrgenommene Korruptionsbelastung im öffentlichen Sektor nach Prozenten auf. Der niedrigste Wert (0 Prozent) stellt den höchsten Grad und der höchste Wert (100 Prozent) den niedrigsten Grad an wahrgenommener Korruption dar. Alle Staaten werden miteinander verglichen und in ein Rangverhältnis eingeordnet. Ihr jeweiliger Rang bestimmt sich nach dem jeweiligen Prozentsatz. Den ersten Rang nimmt der Staat mit 975 Fortschrittsbericht
über Bulgarien, KOM(2012) 411 endgültig, 5 f. dagegen die bulgarische Justizministerin Popova, Popova, in: Hülshörster / Mirow (Hg.), Rechts- und Justizreformen im Ausland, 413, 416 f., 419. 977 Fortschrittsbericht über Rumänien, KOM(2012) 410 endgültig, 9 f. 978 Trappe, in: Hülshörster / Mirow (Hg.), Rechts- und Justizreformen im Ausland, 341, 345 f. 979 Fortschrittsbericht über Rumänien, KOM(2012) 410 endgültig, 10. 976 Hoffnungsvoll
5. Kap.: Aktuelle Entwicklungen259
dem höchsten Prozentsatz, den letzten Rang der Staat mit dem niedrigsten Prozentsatz ein. Innerhalb der EU liegt demnach die wahrgenommene Korruptionsbelastung zumeist auf einem relativ niedrigen Niveau,980 welches allerdings von einigen Mitgliedstaaten deutlich überschritten wird. Grenzwertig wird dies jedoch erst, wenn die jeweilige Justiz überwiegend als korrupt gilt. Nach der vorgenannten Studie belegen die skandinavischen Mitgliedstaaten Dänemark, Finnland und Schweden mit einer Quote von ca. 90 % die besten Plätze. Deutschland folgt immerhin noch mit einem 13. Platz (79 %). Als EU-Mitgliedstaaten sind Schlusslichter die Slowakei, Kroatien (beide Rang 62 mit 46 %), Rumänien (Rang 66 mit 44 %), Italien (Rang 72 mit 42 %), Bulgarien (Rang 75 mit 41 %) und Griechenland (Rang 94 mit 36 %). Im weltweiten Vergleich teilt sich Griechenland seinen Rang mit den Staaten Dschibuti, Benin, Kolumbien, Indien, Moldawien, Mongolei und Senegal. Bedenklich ist, dass dort die Mehrheit der Befragten den jeweils eigenen Staat für überwiegend korrupt halten. Vor dem Beitritt Rumäniens und Bulgariens im Jahre 2006 stellte auch die Kommission dort starke Korruption bis hinein in die Justiz fest.981 Noch im Jahre 2012 habe sich dies für Bulgarien nicht geändert. Strafverfahren gegen korrupte Beamte und Richter seien selten. Die Korruptionsbekämpfung sei wirkungslos.982 Rumänien habe hingegen Fortschritte gemacht.983 Dies gelte auch für Kroatien.984 4. Rechtsstaatliche Defizite Neben Ineffizienz der Justiz und Korruption führen auch massenhaft auftretende Verletzungen von Grundrechten und Verfahrensgarantien in einem Mitgliedstaat zu rechtsstaatliche Defiziten und somit auch zu einer Erschütterung des gegenseitigen Vertrauens.985 Nicht alle Mitgliedstaaten gewährleisten die Unabhängigkeit der Justiz. Schwere Mängel bestehen etwa in Bulgarien. Das Desinteresse der Verantwortlichen, diesen Zustand zu beenden, lässt die Kommission an der Nach980 Studie
von Transparency International – der Corruption Perception Index 2012. vom 13.12.2006, KOM(2006) 6569 endgültig; Entscheidung vom 13.12.2006, KOM(2006) 6570 endgültig; Schroeder, in: Hülshörster / Mirow (Hg.), Rechts- und Justizreformen im Ausland, 393, 401; Dandurand / Colombo / Passas, CLSC 2007, 261, 268 ff. 982 Fortschrittsbericht über Bulgarien, KOM(2012) 411 endgültig, 7 f., 16 f. 983 Fortschrittsbericht über Rumänien, KOM(2012) 410 endgültig, 12 f. 984 Mitteilung der Kommission, KOM(2012) 601 endgültig, 11 f. 985 Gaede, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 97, 121. 981 Entscheidung
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2. Teil: Darstellung
haltigkeit und Unumkehrbarkeit der bulgarischen Justizreform zweifeln.986 Erhebliche Mängel gibt es auch in Rumänien. Dort wird auf die Justiz offensichtlich Druck ausgeübt. Berichtet wird von Einschüchterungen und Belästigungen der Richter und Justizbeamten. Hierzu gehörten persönliche Drohungen gegen Richter und ihre Familien sowie Medienkampagnen, die Mobbing gleichkämen.987 In Ungarn gefährdet gegenwärtig die Einführung einer neuen Verfassung die Rechtsstaatlichkeit. Der Europarat und die EU sahen sich daher zu umfassenden Untersuchungen veranlasst. Deren Ergebnisse sind die Stellungnahmen der Venedig-Kommission988, der Tavares-Bericht989 sowie die Stellungnahme des Europäischen Parlaments. Sie offenbaren eine ganze Reihe von Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit. Einige davon betreffen das ungarische Verfassungsgericht. So ignoriere die neue Verfassung die Rechtsprechung des Gerichts. Auch seien nicht alle Normen durch das Gericht überprüfbar.990 In seiner Rechtsprechung dürfe es zudem nicht auf Rechtsprechung vor Einführung der neuen Verfassung verweisen.991 Auch die Unabhängigkeit der Justiz sei nicht gewährleistet. Der Grundsatz der Unabsetzbarkeit der Justiz würde nicht eingehalten.992 Die Presse- und Meinungsfreiheit werde verletzt. Es gebe Zensur, keinen Medienpluralismus, keine Vertraulichkeit von Quellen und keine Unabhängigkeit der Medienaufsicht.993 986 Fortschrittsbericht über Bulgarien, KOM(2012) 411 endgültig, 4, 6; Popova, in: Hülshörster / Mirow (Hg.), Rechts- und Justizreformen im Ausland, 413, 421, nach Popova ist für eine funktionierende Justizreform ein erhöhtes Vertrauen in die Justiz und ihre Wahrnehmung als unabhängig und transparent seitens der Bürger notwendig, 418, in Bulgarien könne man von Unabhängigkeit der Justiz jedoch ganz klar nicht reden, 421. 987 Fortschrittsbericht über Rumänien, KOM(2013) 47 endgültig, 4. 988 Berichte vom 17.6.2011 CDL(2011)016, 16.3.2011 CDL(2011)001, 16.3.2011 CDL-AD(2012)001, 15.6.2012 CDL-AD(2012)009, CDL-AD(2012)020, 12.10.12 CDL-AD(2012)004, 14.6.2013 CDL-AD(2013)012. 989 Entwurf eines Berichts des Ausschusses für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres des Europäischen Parlaments vom 2.5.2013 über die Lage der Grundrechte: Standards und Praktiken in Ungarn, Berichterstatter Rui Tavares, 2012 / 2130(INI) (Tavares-Bericht). 990 Bericht vom 14.6.2013 CDL-AD(2013) 012, 18 f.; Tavares-Bericht vom 2.5.2013, 2012 / 2130(INI), 21. 991 Bericht vom 14.6.2013 CDL-AD(2013) 012, 20 ff. 992 Bericht vom 14.6.2013 CDL-AD(2013) 012, 16 f.; Tavares-Bericht vom 2.5.2013, 2012 / 2130(INI), 24, 31; Tolksdorf, in: Hülshörster / Mirow (Hg.), Rechtsund Justizreformen im Ausland, 141, 149; Paeffgen, ZIS 2013, 80, 93. 993 Tavares-Bericht vom 2.5.2013, 2012 / 2130(INI), 25, 31 f.; Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 138 f.; Ruffert, in: Calliess / Ruffert (Hg.), EUV, AEUVKommentar, Art. 7 EUV, Rn. 3; Reding, in: Leutheusser-Schnarrenberger (Hg.), FS-EMRK, 63, 68.
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B. Reform der europäischen Rechtshilfe I. Reformbedarf Angesichts der Vertrauenskrise stellt sich die Frage, wie mit der Reform der internationalen Rechtshilfe in Europa weiter verfahren werden soll. Ungeachtet aller Kritik am gegenwärtigen EU-Reformkonzept ändert sich nichts an dem seit deren Ursprüngen anhaltenden Problem der Rechtshilfe,994 nämlich der Unübersichtlichkeit ihrer Normengesamtheit. Dies gilt auch immer noch für die Rechtshilfe zwischen den EU-Mitgliedstaaten.995 Zudem gefährdet fehlende Teilnahme mehrerer Mitgliedstaaten an entsprechenden Übereinkommen und Zusatzprotokollen (bzw. deren Ratifikation) die Rechtseinheit im EU-Verbund und verstärkt wiederum die angesprochene Unübersichtlichkeit. Letztendlich führt ein solches „Rosinen herauspicken“ zu einem Ungleichgewicht zwischen Hoheits- und Verfahrensrechten in einzelnen Mitgliedstaaten. EU-Maßnahmen (Verordnungen und Richtlinien) zur justiziellen Zusammenarbeit, welche auch bereits bestehendes Recht ersetzen, vereinheitlichen das Rechtshilferecht. Dieser Effekt ist grundsätzlich zu begrüßen.996 Weitergehende Reformen der EU, welche ein neues System der Rechtshilfe einführen, bleiben jedoch in der Kritik.
994 von Liszt, in: von Liszt (Hg.), Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, 90, 99, bereits von Liszt stellt im Jahre 1882 diesen Mangel fest: Die Zahl der zwischen den verschiedenenen Staaten geschlossenen und heute gültigen Auslieferungsverträge beträgt weit über hundert. Dieser Zahl der Verträge entspricht die Buntheit ihres Inhalts, welche der übersichtlichen Darstellung spottet; entspricht die chaotische Menge der Einzelbestimmungen, welche das Licht eines schöpferischen Gedankens niemals durchdrungen hat; entspricht die Zahl der dadurch veranlaßten Konflikte. 995 Hackner, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, Einführung in den Hauptteil I, Rn. 26 ff.., aufgrund der unterschiedlichen Rechtsquellen und Ausgestaltungen des Rechtshilferechts spricht Hackner von einem Vorschriftenchaos der Rechtshilfe in Europa; Perron, in: Militello / Arnold / Paoli (Hg.), Organisierte Kriminalität, 33, 36; Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 36; Schomburg spricht hier von einem schwer genießbaren Rechtshilfecocktail, Schomburg, DRiZ 1999, 107, 111; Vogel, in: Grützner / Pötz / Kreß (Hg.), IRG-Kom mentar, Vor § 1 IRG, Rn. 54 f.; Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, Einleitung, Rn. 70; Lagodny, in: Sieber / Brüner / Satzger / von Heintschel-Heinegg (Hg.), Europäisches Strafrecht, 491, 493 f.; von Heintschel-Heinegg, in: Sieber / Brüner / Satzger / von HeintschelHeinegg (Hg.), Europäisches Strafrecht, 581, 582 f. 996 Hackner / Schierholt, Rechtshilfe, 16, nach Hackner könnte die kohärente Strafrechtspolitik der EU und die Implementierung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen einen ersten Lösungsansatz bieten.
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2. Teil: Darstellung
II. Reaktionen auf die europäischen Reformbemühungen 1. Ablehnende Haltung Kritik entzündet sich insbesondere am Ausmaß der geplanten Reform. Zur Bekämpfung von Terrorismus und Organisierter Kriminalität räume die EU im Rahmen ihres Konzepts vom Raum der Sicherheit, der Freiheit und des Rechts dem Sicherheitsaspekt zu viel Gewicht ein. Dabei lasse sie – bewusst oder unbewusst – jedes Verhältnis zur Wirkung der geplanten Maßnahmen vermissen. Tatsächlich handele es sich nämlich nur um fiktive Bedrohungsszenarien. Bereits den Terroranschlag vom 11. September 2001 habe die EU zum Anlass genommen, ein Rechtsinstrument wie den EHB einzuführen, dessen Anwendungsbereich indes nicht nur terroristische Straftaten, sondern eine Vielzahl anderer Straftaten umfasst.997 Beim Aufbau einer Sicherheitsarchitektur werde die Entwicklung von Freiheitsrechten jedoch vernachlässigt. Dadurch werde das natürliche Gleichgewicht zwischen Freiheit, Sicherheit und Recht gestört. Einem ganzen Bündel an hoheitlichen Eingriffsrechten im Bereich der Sicherheit ständen als Kompensation keine freiheitlichen und rechtsstaatlichen Maßnahmen gegenüber.998 Insgesamt werde in der justiziellen Zusammenarbeit eine Entwicklung nachvollzogen, welche in der polizeilichen Zusammenarbeit bereits weit vorangeschritten sei. Durch das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung werde ein Integrationssog erzeugt, der auch das nationale Strafrecht erfasse. Hierbei sei jedoch zu beachten, dass weder das materielle noch das formelle Strafrecht ein taugliches Mittel seien, um gesellschaftliche Kontrolle auszuüben. Vielmehr solle das Strafrecht als ultima ratio gegen besonders sozialschädliches Verhalten eingesetzt werden. Dies gelte nicht nur für nationales Strafrecht, sondern auch für die EU-Rechtssetzung, welche zudem an ihre Kompetenzen, das Subsidiaritätsprinzip und das Verhältnismäßigkeitsprinzip, gebunden sei.999 997 Schünemann, ZRP 2003, 185, 188, Schünemann wirft der EU hier vor, unter dem Mantel der Terrorbekämpfung polizeiliche Gelüste zu befriedigen; man nennt dies auch mission creep. 998 Schünemann, StraFo 2003, 344, 350, Schünemann spricht von einem overkill der Zwangsmaßnahmen im Ermittlungsverfahren. Dieser führe zu einem Resignieren des Beschuldigten, da seine wirtschaftliche Existenz auf dem Spiel steht. Dies würde von Strafverfolgungsbehörden bewusst eingesetzt; so auch Nestler, ZStW 2004, 332, 334, 349, Nestler fürchtet insbesondere eine Verpolizeilichung des Strafverfahrens; Nelles, ZStW 1997, 727, 730 f. 999 Nalewajko, Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, 56 f. m. w. N.; Schünemann, KritV 2008, 6, 15 f., Schünemann spricht von der EU als permanenter Einpeitscher des nationalen Strafrechts; Albrecht / Braum, KritV 1998, 460, 464, 472 f., nach Albrecht und Braum: Das Strafrecht ist – nicht nur in Deutschland – mit Steuerungsansprüchen und Präventionsinteressen überfrachtet, die es nicht mehr erfüllen kann, ohne seine rechtsstaatlichen Grundlagen preiszugeben. Das Strafrecht
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2. Vermittelnde Ansicht Eher konstruktiv kritisiert eine vermittelnde Ansicht den Umfang sowie die Art und Weise der Reformbemühungen der EU, akzeptiert jedoch ihren Entwicklungsfortschritt und will die Reformen im weiteren Verlauf auch mitgestalten.1000 Das sei auch dringend notwendig, da mittlerweile die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen innerhalb der EU das Europäische Strafrecht1001 und so auch das nationale Strafrecht jedes Mitgliedstaats präge.1002 Zwar sei die Europäisierung des Strafrechts ebensowenig wie die europäische Integration aufzuhalten, jedoch solle nicht jedes Vorgehen der EU gegen transnationale Kriminalität als „alternativlos“ betrachtet werden. Zwar seien Maßnahmen der EU für die Mitgliedstaaten verbindlich, doch könne man sich aktiv bereits an dem Vorbereitungsprozess beteiligen. Insbesondere müsse man einem policy laundering vorbeugen: Fragen mit politischer Brisanz auf nationaler Ebene würden aufgrund geringer öffentlicher Aufmerksamkeit auf die europäische Ebene gehoben und dort geregelt werden. Jene Entscheidungen könnten später wiederum auf nationaler Ebene als alternativlos (inevitable) gerechtfertigt werden.1003 Eng verbunden mit der justiziellen Zusammenarbeit sei das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung.1004 Dafür müsse der kategorische Widerstand dient als Instrument, soziale Problemlagen, global auftretende Risiken zu individualisieren. Dem Individuum werden Systemprobleme zugerechnet, deren Lösung eigentlich Sache der Politik ist. Strafrecht ist das symbolische Feld, in dem Politik – europaweit – real verlorene Handlungsfähigkeit bloß demonstriert, 464, weiterhin sprechen Albrecht und Braum von einer Funktionalisierung: Europa erscheint als willkommenes Vehikel, das Strafrecht zu einem gesamteuropäischen innenpolitischen Instrument umzugestalten, 474. 1000 Anders hingegen noch Jescheck, welcher 1953 nicht daran glaubte, dass über Wirtschafts- und Militärstrafrecht hinaus ein allgemeines europäisches Strafrecht und eine europäische Strafgerichtsbarkeit vorstellbar seien: Die europäische Idee hat längst nicht die Kraft des nationalstaatlichen Gedankens des 19. Jahrhunderts. Es handelt sich mehr um eine nüchterne politische Rechnung, die niemals zu Resultaten führen wird, die über das unbedingt Notwendige hinausgehen, …, Jescheck, ZStW 1953, 496, 517. 1001 Siehe zum Begriff Europäisches Strafrecht, Hecker, in: Marauhn (Hg.), Europäisches Beweisrecht, 27–37, 27; Hecker, Europäisches Strafrecht, 8; Ambos, Internationales Strafrecht, 385 f.; Albrecht / Braum, KritV 1998, 460, 465; Böse, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 47, 55; Satzger, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 61, 62 f. 1002 Brodowski bezeichnet diese Zusammenarbeit als the core theme of the Europeanization of Criminal Law, Brodowski, NJECL 2011, 21, 21 f. 1003 Brodowski, NJECL 2011, 21, 22 f.; Vogel, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 269, 278 f. 1004 Kretschmer, in: Vedder / Heintschel von Heinegg (Hg.), EVV-Kommentar, Art. III-270 EVV, Rn. 9, nach Kretschmer ist das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung zum Königsweg europäischer Strafrechtsintegration ausgerufen worden.
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2. Teil: Darstellung
gegen dieses Prinzip einer konstruktiven Kritik weichen.1005 Nach Gleß wird das Konzept der gegenseitigen Anerkennung nicht mehr bloß geplant, sondern mittlerweile weitgehend umgesetzt und auch schon angewendet. Dieser fortgeschrittene Prozess mache es Außenstehenden nahezu unmöglich, die EU dazu zu veranlassen, jenes Projekt ruhen zu lassen oder gar aufzugeben. Einfluss könne man jedoch noch nehmen auf die zukünftige Entwicklung dieser Zusammenarbeit.1006 Nach Hassemer muss zudem auch die deutsche Strafrechtswissenschaft das Europäische Strafrecht mehr als bisher zur Kenntnis nehmen.1007 Einem Strafrecht von oben müsse ein Strafrecht von unten folgen.1008 Dies gilt nach Nehm auch für die Praxis.1009 Auf europä ischer Ebene ständen mittlerweile Präventivmaßnahmen zur Verfügung, welche im repressiven Bereich keine Entsprechung hätten. Angesichts ähnlicher Zielsetzung dürfe sich dieser Abstand nicht noch vergrößern.1010 1005 Vogel, ZStW 2004, 400, 422; Nalewajko, Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, 25. 1006 Gleß, ZStW 2004, 353, 353, Gleß vergleicht die EU-Bestrebungen im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen mit einem fahrenden Zug. Die grundsätzliche Kritik an diesem Projekt sei gleichzusetzen mit dem untauglichen Bemühen eines Beobachters, einen fahrenden Zug außerplanmäßig zu stoppen oder zur Umkehr zu bewegen. Man stehe jedoch gegenwärtig an einer Weiche, mit deren Stellung man die Fahrtrichtung des Zuges beeinflussen könne; Hassemer, ZStW 2004, 304, 304 f.; Mavany, Die europäische Beweisanordnung, 75; Weigend meint, dass vorhandene europäische Vorgaben grundsätzlich akzeptiert werden sollten. Fundamentale Opposition und sterile Ablehnung der ganzen Richtung verdamme sich sonst zur rechtspolitischen Irrelvanz, da der Prozess der europäischen Strafrechtsentwicklung unaufhaltsam im Gange sei, Weigend, ZStW 2004, 275, 303; auch Juppe erscheint reiner Widerstand fragwürdig und aussichtslos, Juppe, Die gegenseitige Anerkennung, 164; Kinzler spricht hier von einer überholten Diskussion und generellen Totalverweigerung der europäischen Integration, die die Rechtswirklichkeit verkennen Kinzler, Grenzüberschreitende Strafverfahren, 149 f., 152; dem widerspricht Schünemann, da diese Entwicklung dubios wäre, Schünemann, ZRP 2003, 185, 188; Lüderssen ruft auf zur Verhinderung dieses Paradigmenwechsels, Lüderssen, in: Schünemann (Hg.), Alternativentwurf, 45, 50. 1007 Hassemer, ZStW 2004, 304, 305 f., Hassemer bescheinigte noch 2004 der deutschen Strafrechtswissenschaft mit Ausnahme von Sieber ein Desinteresse an einem europäischen Strafrecht. Durch dieses Desinteresse sei die deutsche Strafrechtswissenschaft in der europäischen Kriminalpolitik hoffnungslos abgehängt worden. 1008 Hassemer, ZStW 2004, 304, 319. 1009 Nehm, DRiZ 2000, 355, 364, nach Nehm ist vor allem die Praxis gefordert, ihre defensive Haltung aufzugeben und sich aktiv in den laufenden Prozess der Europäisierung einzuschalten, um bei der schmalen Gratwanderung zwischen Harmonisierung und Beibehaltung unverzichtbarer Rechtstradition ihre Interessen zu vertreten. 1010 Nehm, DRiZ 2000, 355, 356 f., nach Nehm hat bei der Europäisierung die Polizei eine Vorreiterrolle übernommen, doch darf nun die Schere der Möglichkeiten innerhalb der EU zwischen Prävention und Repression nicht weiter auseinandergehen.
5. Kap.: Aktuelle Entwicklungen265
Zu beachten sei auch die Wechselwirkung zwischen der europäischen Integration und dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung sowie der Europäisierung des Strafrechts. Je weiter die Integration vorangeschritten sei, desto mehr Veränderungen seien auch im Europäischen Strafrecht möglich. Eine weitgehende Strafrechtsharmonisierung und die Bildung von neuen gemeinsamen Mindeststandards ermöglichten eine weite Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung. Gegenwärtig orientiere sich die Entwicklung eines Europäischen Strafrechts am Integrationsstand der EU.1011 Bei der Strafrechtsintegration nehme auch die Rechtsprechung des EGMR eine zentrale Rolle ein. Voraussetzung sei jedoch ein höherer Grad an Verbindlichkeit.1012 Das Ziel des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung sei letztendlich die unionsweite Wirksamkeit justizieller Entscheidungen und Eingriffsbefugnisse.1013 3. Gegenmodelle Eine dritte Ansicht setzt sich hingegen für ein Europa der „zwei Geschwindigkeiten“ ein. Sie befürwortet grundsätzlich das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, will jedoch dessen Anwendungsbereich beschränken. 1011 Rackow, in: Ambos (Hg.), Europäisches Strafrecht post-Lissabon, 117, 118, Rackow meint, dass die derzeitige Entwicklung im Einklang mit dem restlichen wachsenden Integrationsstand der EU verläuft und den bisherigen Geltungsanspruch widerspiegelt; Rackow / Birr, GoJIL 2010, 1087, 1127; Hecker, DÖV 2006, 273, 276, nach Hecker eröffnet das Anerkennungsprinzip einen ganz erheblichen Integrationssog in Bezug auf die nationalen Straf- und vor allem Strafprozessrechtsordnungen. Nach Hecker geht vom Prinzip der gegenseitigen Anerkennung daher auch eine integrationsstimulierende Wirkung aus. Für ihn stellt der RB EHB die erste Windung einer auf diesen Zusammenhängen aufbauenden Integrationsspirale dar; Allegrezza, ZIS 2010, 569, 573 f., Allegrezza vergleicht die Synergieeffekte für andere Rechtsbereiche mit einer positiven Ansteckung von verwandten Gebieten, die zu einer eigenen Verstärkung von gemeinsamen Standards führt. Der Fehler der Anwendung des Prinzip der gegenseitigen Anerkennung liege jedoch in der Annahme, der Harmonisierungsprozess habe bereits ein solches Stadium erreicht, der es erlaube, ausländische Entscheidungen im Inland anzuerkennen; Hecker, Europäisches Strafrecht, 452; Burchard, in: Beck / Burchard / Fateh-Moghadam (Hg.), Strafrechtsvergleichung, 275, 275, Burchard schreibt der RL EEA so zumindest mittelbar eine Initiativfunktion für europäische Harmonisierung und Konvergenzmaßnahmen zu. 1012 Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, 834, Esser sieht in ihr bei entsprechender Verbindlichkeit die Funktion und Aufgabe eines Motors in einem Prozess der Vereinheitlichung nationaler Strafverfahrensrechte auf europäischer Ebene sowie den Motor einer Harmonisierung und Vereinheitlichung der unterschiedlichen strafprozessualen Rechtstraditionen in Europa, 841, ihre Rezeption bilde schließlich den Katalysator … zu einem in weiten Teilen harmonisierten Strafverfahrensrecht in Europa, 843. 1013 Hecker, DÖV 2006, 273, 277.
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2. Teil: Darstellung
Nur in einem Kerneuropa, welches durchaus mit der Schengengruppe übereinstimmen könne, sei die bisherige Reform der EU fortzuführen. Gegenwärtig beständen in einigen Mitgliedstaaten zu viele rechtsstaatliche Defizite, als dass innerhalb der gesamten EU ein einheitlicher Rechtsraum entstehen könne. Die europäische Integration hänge ab vom unterschiedlichen Entwicklungsstand in den einzelnen Mitgliedstaaten. Beitrittskandidaten hätten häufig ein Problem damit, den Rechtshilfeacquis der EU unmittelbar mit ihrem Eintritt in die EU umzusetzen. Daher müsse man diese Staaten schon vor ihrem Beitritt an den Rechtsbestand (acquis) heranführen. Stattdessen sollten diese Mitgliedstaaten und Beitrittskandidaten am tradi tionellen EU-Rechtshilferecht teilhaben. Die verstärkte Zusammenarbeit nach Art. 20 EUV biete eine solche Möglichkeit. Wachse das Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit eines Mitgliedstaats, könne jener an dieser neuartigen Form justizieller Zusammenarbeit teilnehmen.1014 III. Eigene Stellungnahme Der vermittelnden Ansicht ist zuzustimmen. Die erste Ansicht erschöpft sich in einem kategorischen Widerstand gegen eine Weiterentwicklung der internationalen Rechtshilfe. Für die Anforderungen einer modernen Gesellschaft und für die Bekämpfung einer transnationalen Kriminalität reichen die Mittel der traditionellen Rechtshilfe in einem zusammengewachsenen Europa nicht mehr aus. Sofern ein Mitgliedstaat dies ignoriert, isoliert er sich selbst und hat es schwer, an der europäischen Gemeinschaft teilzuhaben.1015 Der europäischen Integration muss auch eine Integration des Rechts folgen. Dafür liefert der Lissabonner Vertrag jetzt die Rechtsgrundlage.1016 1014 Schomburg, DRiZ 1999, 107, 112 f., Schomburg befürwortet anstelle der traditionellen Rechtshilfe die Kooperation in einem einheitlichen, arbeitsteiligen Verfahren in einem Kerneuropa, welches über ein gemeinsam gewachsenes Vertrauen verfügt. Um eine Ausgrenzung insbesondere osteuropäischer Staaten, zu verhindern, werde darüber hinaus eine rechtshilferechtliche graduell abgestimmte und harmonisierte strafrechtliche Zusammenarbeit in ganz Europa benötigt. Je größer das gewachsene Vertrauen, je enger die Kooperation; Sieber, ZRP 2000, 186, 191, Sieber schlägt aufgrund rechtsstaatlicher Niveauunterschiede bei den Mitgliedstaaten eine Anwendungsbeschränkung der Anerkennung von Entscheidungen auf Kernstaaten, etwa die Schengen-Staaten, in der EU nach Art. 20 EUV vor; Brodowski, NJECL 2011, 21, 26 ff. 1015 Beck, Weltrisikogesellschaft, 301, Beck beschreibt diese Haltung als sich nach innen orientieren und nach außen abschotten, Beck unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen drei Alternativen: Verleugnung, Apathie, Transformation, 97; ähnlich auch die von Giddens geschilderten Anpassungsreaktionen, Giddens, Konsequenzen der Moderne, 168 ff. 1016 Rackow sieht in dieser Verankerung einen Impuls für den Veränderungswillen bei der Beweisrechtshilfe, Rackow, in: Ambos (Hg.), Europäisches Strafrecht
5. Kap.: Aktuelle Entwicklungen267
Durch transnationale Zusammenarbeit der Justizbehörden kann sich der einzelne Mitgliedstaat diesen neuen Anforderungen anpassen, ohne seine Souveränität als solche einzubüßen. Eher würde er diese faktisch verlieren, wenn eine Zusammenarbeit in der EU an nationalen Vorbehalten scheitert.1017 Sowohl die Intensität der Rechtshilfe als auch die Geschwindigkeit ihrer Transformation in ein Anerkennungsverfahren hängen vom Stand der europäischen Integration ab. Die Mitgliedstaaten brauchen ein einheitliches Niveau rechtsstaatlicher Standards. Steigt dieses Niveau, ist auch eine intensivere Kooperation möglich. Faktisch wird der Standard vom „schwächsten Glied in der Kette“ bestimmt. Neumitglieder erfüllen zwar die geltenden Standards für einen EU-Beitritt, müssen jedoch ihren individuellen Reformprozess in der Justiz fortführen. Erst dann können weitergehende rechtsstaatliche Mindeststandards fest- und durchgesetzt werden. Darüber hinaus muss sich auch jeder andere Mitgliedstaat an den rechtsstaatlichen Werten der EU orientieren und diese wahren. Eine EU der zwei Geschwindigkeiten, wie sie das Gegenmodell für den justiziellen Bereich entwirft, ist dagegen weniger empfehlenswert. Durch sie wird die Rechtseinheit der EU gefährdet. Die verstärkte Zusammenarbeit soll den Integrationsstand vertiefen, vgl. Art. 20 Abs. 1 UAbs. 2 EUV. Einige Mitgliedstaaten können hierdurch „auf Augenhöhe“ unter dem gemeinsamen Dach der EU Recht gestalten, dem sich später auch nichtbeteiligte Mitgliedstaaten anschließen können und auch sollen. Beispiele hierfür sind das Scheidungsrecht und das EU-Patentrecht. Entscheidend ist jedoch immer der effet utile. Das Recht der justiziellen Zusammenarbeit muss dem Ziel dienen, einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu verwirklichen. Ein favorisiertes Projekt einiger Mitgliedstaaten, welches andere Mitgliedstaaten aufgrund der hohen Voraussetzungen dauerhaft ausschließt, gefährdet die Rechtseinheit und eignet sich daher nicht für eine verstärkte Zusammenarbeit. Auch Initiativen außerhalb der EU in Form eines multilateralen Übereinkommens – wie bei der Euro-Währungsunion post-Lissabon, 117, 119, sowie einen Paradigmenwechsel, Rackow / Birr, GoJIL 2010, 1087, 1094; Sieber, ZStW 2009, 1, 57. 1017 Beck, Weltrisikogesellschaft, 412, nach Beck ermöglicht Kooperation nicht nationale Souveränität, sondern transnationale Kooperation ermöglicht Souveränität; Schomburg, DRiZ 1999, 107, 113, auch Schomburg fordert eine neue Definition von Souveränität die den transnationalen Phänomenen wieder Herr wird; Vogel, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 269, 283, nach Vogel stärkt es im Ergebnis die Staatlichkeit, wenn Staaten strafrechtliche Befugnisse in Kriminalitätsbereichen, die wegen ihrer grenzüberschreitenden Dimension von ihnen allein nicht mehr erfolgsversprechend reguliert werden können, auf supra- oder internationale Organisationen übertragen werden.
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2. Teil: Darstellung
oder dem Schengenraum – sollten aus ähnlichen Gründen vermieden werden.1018 Generell besteht bei der verstärkten Zusammenarbeit die Gefahr, dass wenige willige Mitgliedstaaten Regeln für alle aufstellen, denen sich die übrigen Staaten nur noch unverändert anschließen könnten. Daher sollte stets eine gemeinsame Lösung mit allen Mitgliedstaaten gesucht werden, die sich am jeweiligen Integrationsstand aller Mitglieder orientiert. Andernfalls riskiert man die Spaltung der justiziellen Zusammenarbeit bzw. der gesamten EU in zumindest zwei Rechtskreise.
C. Kontrollmaßnahmen I. Anpassung und Aussetzung der Zusammenarbeit Verlorenes Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit eines Mitgliedstaats lässt sich wiederherstellen, sofern rechtsstaatliche Mängel nachhaltig beseitigt werden können. Das Korrektiv dafür kann eine unabhängige Aufsicht leisten.1019 In der EU existieren einige Kontrollverfahren nebeneinander. In Betracht kommen eine Suspendierung der gegenseitigen Anerkennung mit dem betreffenden Mitglied sowie weitere EU-Maßnahmen nach Art. 7 EUV gegen diesen Mitgliedstaat. Daneben kann der von der konkreten Rechtshilfeleistung Betroffene – nach Ausschöpfung des nationalen Rechtswegs – vor dem EGMR Klage erheben wegen Verletzung seiner Menschenrechte. Der beklagte Vertragsstaat kann dabei zur Zahlung einer Entschädigung verurteilt werden. II. Suspendierungsverfahren nach Art. 7 EUV Die EU gründet sich auf Werte. Diese sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören, Art. 2 S. 1 EUV. Diese Werte können durch das Verhalten einzelner Mitgliedstaaten verletzt werden. Die EU differenziert hier zwischen der bloßen Gefahr einer […] Verletzung und der erfolgten Verletzung. 1018 Brodowski, NJECL 2011, 21, 26, nach Brodowski spricht gegen die Ausgliederung in die Schengen Gruppe, dass nur die EU eine gesetzliche Anweisung erteilen kann, die eine integrierende Wirkung entfaltet und so das Vertrauen stärkt, welches das Grundgerüst bildet für das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung. 1019 Vgl. hierzu Tavares-Bericht vom 2.5.2013, 2012 / 2130(INI), 29.
5. Kap.: Aktuelle Entwicklungen269
Bei einer solchen Gefahr kann der Rat auf begründeten Vorschlag eines Drittels der Mitgliedstaaten, des Europäischen Parlaments oder der Europäischen Kommission mit der Mehrheit von vier Fünfteln seiner Mitglieder nach Zustimmung des Europäischen Parlaments feststellen, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Art. 2 [EUV] genannten Werte durch einen Mitgliedstaat besteht, Art. 7 Abs. 1 UAbs. 1 S. 1 EUV. Der Rat kann darüber hinaus nach demselben Verfahren Empfehlungen an diesen richten; der betroffene Mitgliedstaat hat in beiden Fällen ein Anhörungrecht, Art. 7 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EUV. Hat ein Mitgliedstaat die in Art. 2 EUV genannten Werte bereits verletzt, kann einzig der Europäische Rat feststellen, dass eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der in Art. 2 [EUV] genannten Werte durch einen Mitgliedstaat vorliegt, Art. 7 Abs. 2 EUV. Verfahrensvoraussetzungen sind der Vorschlag eines Drittels der Mitgliedstaaten oder der Europäischen Kommission, die Zustimmung des Europäischen Parlaments, die Aufforderung an den betroffenen Mitgliedstaat zu einer Stellungnahme sowie Einstimmigkeit, Art. 7 Abs. 2 EUV. Jene Feststellung ist Voraussetzung für ein weiteres Verfahren, welches die Aussetzung bestimmter Rechte betrifft, Art. 7 Abs. 3 EUV. Erst der Rat kann jene Rechte mit qualifizierter Mehrheit aussetzen, Art. 7 Abs. 3 S. 1 HS. 1 EUV. Bestimmte Rechte sind diejenigen, welche sich aus der Anwendung der Verträge auf den betroffenen Mitgliedstaat herleiten, einschließlich der Stimmrechte des Vertreters der Regierung dieses Mitgliedstaats im Rat, Art. 7 Abs. 3 S. 1 HS. 2 EUV. III. Aussetzung bzw. Anpassung 1. Rechtsprechung des EuGH In Betracht kommt eine Aussetzung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung in der justiziellen Zusammenarbeit. Zwar ist ein solches Verfahren weder im Primär- noch im Sekundärrecht ausdrücklich vorgesehen. Doch könnte sich das aus der Rechtsprechung des EuGH ergeben. Zum justiziellen Bereich finden sich bislang keine entsprechenden Urteile. Im Asylrecht hat es allerdings bereits eine solche Aussetzung gegeben: Nach dem EU-Asylrecht soll ein Asylbewerber in den für seinen Antrag originär zuständigen Staat zurückgeschoben werden dürfen. Diese Zuständigkeit richtet sich danach, wo der Drittstaatsangehörige die EU-Außengrenze erstmals überschritten hat (Erstaufnahmeland). Normiert ist dies insbesondere in der Dublin-II-Verordnung (VO Nr. 343 / 2003). Eine Aussetzung dieser Verordnung in Bezug auf Griechenland war Gegenstand des Urteils des EuGH vom 21. Dezember 2011 in der Rechtssache
270
2. Teil: Darstellung
C-411 / 10 und C-493 / 10, N.S. u. a., insbesondere mit der Aussetzung dieser Verordnung. Nach Ansicht des EuGH verstoßen die Unterbringungsbedingungen für Asylbewerber in Griechenland gegen die EMRK und die GRCh. Der EuGH verweist dabei auf das Urteil des EGMR vom 21.1.2011 M.S.S. gegen Belgien und Griechenland, Nr. 30696 / 09. Eine Zurückschiebung nach Griechenland sei daher unzulässig. Das europäische Asylrecht und seine Grundlagen werden vom EuGH wie folgt beschrieben: Die Dublin-II-Verordnung diene der Effizienz bei der Bearbeitung von Asylanträgen und der Vermeidung eines „forum-shoppings“ durch Asylbewerber.1020 Grundlage des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems sei es, dass alle daran beteiligten Staaten die Grundrechte und die EMRK beachten.1021 Es gelte hier das Prinzip des gegenseitigen Vertrauens.1022 Danach spreche grundsätzlich die Vermutung dafür, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der GRCh sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK stehe.1023 Jedoch sei jene Vermutung widerlegbar. Dazu müsse eine ernstzunehmende Gefahr bestehen, dass Asylbewerber bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise behandelt würden, die mit ihren Grundrechten unvereinbar sei.1024 Nicht jede Verletzung eines Grundrechts durch den zuständigen Mitgliedstaat führe allerdings zu einer solchen ernstzunehmenden Gefahr.1025 Die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten sei der Daseinsgrund der EU. Ziel der Zusammenarbeit im Asylrecht sei die Verwirklichung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, konkret des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Dieses dürfe nicht schon durch jede Störung auf dem Spiel stehen.1026 Geringfügige Verstöße gegen das Sekundärrecht in einem bestimmten Mitgliedstaat sollten den betroffenen Aufenthaltsstaat nicht daran hindern, den Antragsteller an jenes Erstaufnahmeland zurückzuüberstellen. Andernfalls würden die in der Dublin-II-Verordnung vorgesehenen Verpflichtungen in ihrem Kern ausgehöhlt und die Verwirklichung des Ziels gefährdet, rasch den Mitgliedstaat zu bestimmen, der für die Entscheidung über einen in der Union gestellten Asylantrag zuständig sei.1027 Eine ernstzunehmende Gefahr in diesem Sinne bestände allerdings bei größeren Funktionsstörungen des Asylverfahrens in 1020 EuGH, 1021 EuGH, 1022 EuGH, 1023 EuGH, 1024 EuGH, 1025 EuGH, 1026 EuGH, 1027 EuGH,
Urt. Urt. Urt. Urt. Urt. Urt. Urt. Urt.
v. v. v. v. v. v. v. v.
21.12.2011, 21.12.2011, 21.12.2011, 21.12.2011, 21.12.2011, 21.12.2011, 21.12.2011, 21.12.2011,
C-411 / 10 C-411 / 10 C-411 / 10 C-411 / 10 C-411 / 10 C-411 / 10 C-411 / 10 C-411 / 10
und und und und und und und und
C-493 / 10, C-493 / 10, C-493 / 10, C-493 / 10, C-493 / 10, C-493 / 10, C-493 / 10, C-493 / 10,
N.S. u. a., N.S. u. a., N.S. u. a., N.S. u. a., N.S. u. a., N.S. u. a., N.S. u. a., N.S. u. a.,
Rz. 79. Rz. 78. Rz. 79 f., 83. Rz. 80, 83. Rz. 81. Rz. 82. Rz. 83. Rz. 85.
5. Kap.: Aktuelle Entwicklungen271
einem bestimmten Mitgliedstaat.1028 Unzulässig sei die Überstellung eines Asylbewerbers, sofern ernsthaft zu befürchten sei, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufwiesen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 GRCh implizierten.1029 2. Übertragbarkeit der Rechtsprechung a) Vergleichbare Interessenlage Fraglich ist, ob sich diese Rechtsprechung auf den justiziellen Bereich übertragen lässt.1030 Eine analoge Anwendung auf die justizielle Zusammenarbeit setzt eine vergleichbare Interessenlage zu derjenigen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems voraus. Im Asylverfahren geht die Gefahr einer Grundrechtsverletzung regelmäßig vom ersuchten Erstaufnahmeland aus. Dem aktuellen Aufenthaltsstaat steht die Überstellung des Asylbewerbers dorthin grundsätzlich frei (Selbsteintrittsrecht). Nach der Rechtsprechung des EuGH ist das Überstellungsverfahren mit dem Mitgliedstaat als Erstaufnahmeland auszusetzen, wenn nur dadurch die Grundrechte des Asylbewerbers gewahrt werden können. Dies gilt solange, bis die Grundrechtsgefährdung gebannt ist. Zum einen schützt die Aussetzung den Asylbewerber im konkreten Einzelfall. Zum anderen bildet sie das Korrektiv für den Fortfall der dem Überstellungsverfahren immanenten Grundlage, nämlich des gegenseitigen Vertrauens und der Wahrung der Werte des Art. 2 EUV. Im justiziellen Verfahren kann sowohl im Anordnungs- als auch im Vollstreckungsstaat die Gefahr einer Grundrechtsverletzung eintreten. Initiiert der Anordnungsstaat eine Maßnahme im Vollstreckungsstaat, so kann diese eine Person der Gefahr der Grundrechtsverletzung aussetzen. Dies gilt etwa für die Anordnung eines EHB und entsprechende Fahndungsmaßnahmen, wenn der Zugriff in einem Mitgliedstaat erfolgt, in dem unangemessene Haftbedingungen vorherrschen. Umgekehrt gilt Entsprechendes, wenn der Vollstreckungsstaat die justizielle Entscheidung eines anderen Mitgliedstaats anerkennt, welcher die Grundrechte systematisch verletzt. Zwar wäre der 1028 EuGH,
Urt. v. 21.12.2011, C-411 / 10 und C-493 / 10, N.S. u. a., Rz. 81. Urt. v. 21.12.2011, C-411 / 10 und C-493 / 10, N.S. u. a., Rz. 86; die Entscheidung des EuGH wurde in der Dublin-III-Verordnung (VO Nr. 604 / 2013) berücksichtigt, vgl: Art. 3 Abs 2 UAbs. 2 Dublin-III-Verordnung. 1030 Vgl. Gärditz, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 227, 308 insbesondere Fn. 308. 1029 EuGH,
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2. Teil: Darstellung
Vollstreckungsstaat nach dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung grundsätzlich zur Hilfe verpflichtet. Jedoch sollte der von der Rechtshilfeleistung Betroffene bereits nach dem traditionellen Rechtshilferecht durch ein- oder ausgehende Rechtshilfeersuchen in keine Gefahr der Verletzung seiner Grundrechte gebracht werden.1031 Tritt eine solche dennoch ein, wird dadurch auch das gegenseitige Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit der Justiz erschüttert. Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung verlöre insoweit seine Grundlage. Beide Bereiche (Asylverfahren und justizielle Zusammenarbeit) unterscheiden sich zwar in ihrer Ausgangslage. Regelmäßig liegt eine Abschiebung im Interesse des Aufenthaltsstaats, während Auslieferung bzw. Rechtshilfe vornehmlich im Interesse des Empfängers liegen.1032 Jedoch beruhen beide Verfahren auf der Zusammenarbeit von Mitgliedstaaten und richten sich gegen eine Person. In beiden Verfahrensarten ist diese vor der Gefahr einer Verletzung ihrer Grund- und Menschenrechte zu schützen. Dies zeigt sich auch in der Gleichstellung von Abschiebung, Ausweisung und Auslieferung in Art. 19 Abs. 2 GRCh. Außerdem gilt für beide das Prinzip des gegenseitigen Vertrauens. Die Werte des Art. 2 EUV zu wahren, liegt beiden Verfahren zugrunde und es besteht eine widerlegbare Vermutung, dass sich alle Mitgliedstaaten daran halten. Die Gefahr einer Grundrechtsverletzung erschüttert das gegenseitige Vertrauen, wodurch die Grundlage der Zusammenarbeit wenigstens vorübergehend entfällt. Daher sollten beide Bereiche gleich behandelt werden. Sowohl bei der Überstellung von Asylbewerbern an den Erstaufnahmestaat als auch bei der Anerkennung justizieller Entscheidungen ist gegebenenfalls eine Aussetzung des Verfahrens geboten. Besteht in einem Mitgliedstaat eine Gefahr für die Rechtsstaatlichkeit der Justiz, so ist das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung mit jenem Staat auszusetzen. Aufgrund der Rechtseinheit und zur Verwirklichung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, dem sowohl das Asylverfahren als auch die justizielle Zusammenarbeit zuzuordnen sind, sollte nicht jede Gefahr eine Aussetzung nach sich ziehen. Auch dafür kommt es erst auf eine ernstzunehmende Gefahr im Sinne der vom EuGH im Asylverfahren verwendeten Terminologie an. Für die Übertragbarkeit des Begriffs auf die justizielle Zusammenarbeit spricht zudem das Abschiebungs-, Ausweisungs- und Auslieferungsverbot bei einem ernsthaften Risiko der Todesstrafe, der Folter oder anderen un1031 Vgl.
Nr. 88 Abs. 1 lit. c RiVASt, Nr. 42 Abs. 2 S. 2 RiStBV. und Ausweisung können sich auch überschneiden, vgl. Nr. 46
1032 Auslieferung
RiVASt.
5. Kap.: Aktuelle Entwicklungen273
menschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung, Art. 19 Abs. 2 GRCh. Zu berücksichtigen sind auch die Beitrittsverträge von Bulgarien, Rumänien und Kroatien. Hier sind ernste Mängel oder zumindest die Gefahr ernster Mängel bei der Umsetzung, der Durchführung oder der Anwendung von EU-Rechtsakten in Bezug auf die gegenseitige Anerkennung im Bereich des Strafrechts und den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts Voraussetzung dafür, dass die Kommission Maßnahmen – bis hin zur Aussetzung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung – gegen den jeweiligen Mitgliedstaat ergreift, Art. 37, 38 Beitrittsakte1033 i. V. m. Art. 2 Abs. 2 Beitrittsvertrag Bulgarien und Rumänien1034 bzw. Art. 39 Beitrittsakte i. V. m. Art. 1 Abs. 3 Beitrittsvertrag Kroatien. Auch die Aussetzung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung würde somit die ernstzunehmende Gefahr einer Verletzung der Rechtsstaatlichkeit in einem Mitgliedstaat voraussetzen. Eine solche Gefahr läge wiederum erst vor, wenn in einem Mitgliedstaat systemische rechtsstaatliche Mängel beständen. b) Planwidrige Regelungslücke Neben einer vergleichbaren Interessenlage bedarf eine Analogie auch einer planwidrigen Regelungslücke. Das Aussetzungsverfahren nach der Rechtsprechung des EuGH setzt einen Grundlagenfortfall für die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten voraus, nämlich eine ernstzunehmende Gefahr der Grundrechtsverletzung. Eine vergleichbare Rechtslage besteht im Völkerrecht. Auch hier gilt der Grundsatz der Vertragsbindung (pacta sunt servanda). Dieser Grundsatz findet seine Grenzen u. a. im Wegfall der Geschäftsgrundlage (clausula rebus sic stantibus).1035 Als Folge wären hier insbesondere eine Vertragsänderung oder Vertragsmodifikation denkbar.1036 Ausdrücklich normiert ist dieser allgemeine gewohnheitsrechtliche Grundsatz in Art. 60 WVRK: Zum einen berechtigt eine erhebliche Verletzung eines mehrseitigen Vertrags durch eine Vertragspartei die anderen Vertragsparteien, einvernehmlich den Vertrag ganz oder teilweise zu suspendieren oder ihn zu beenden entweder im Verhältnis zwischen ihnen und dem vertragsbrüchigen Staat oder zwischen allen Vertragsparteien, Art. 60 Abs. 2 lit. a Ziff. i, ii WVRK. 1033 Akte über den Beitritt der Republik Bulgarien und Rumänien vom 21.6.2005, Abl. 2005 L 157 / 203. 1034 Vertrag über den Beitritt der Republik Bulgarien und Rumänien vom 25.4.2005, Abl. 2005 L 157 / 11. 1035 Stein / von Buttlar, Völkerrecht, 15, 32. 1036 Stein / von Buttlar, Völkerrecht, 27.
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2. Teil: Darstellung
Zum anderen berechtigt eine solche Verletzung eine durch die Vertragsverletzung besonders betroffene Vertragspartei, die Verletzung als Grund für die gänzliche oder teilweise Suspendierung des Vertrags im Verhältnis zwischen ihr und dem vertragsbrüchigen Staat geltend zu machen, Art. 60 Abs. 2 lit. b WVRK. Eine erhebliche Verletzung im Sinne dieses Artikels liegt in der Verletzung einer für die Erreichung des Vertragszieles oder des Vertragszwecks wesentlichen Bestimmung, Art. 60 Abs. 3 lit. b WVRK. Zu beachten ist, dass es mit Art. 7 Abs. 3 EUV bereits ein Suspendierungsverfahren gibt.1037 Im Wege der Konkurrenz könnte jenes Verfahren die Aussetzung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung auf der Grundlage der Rechtsprechung des EuGH verdrängen. Bereits im Verhältnis zum Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV ist umstritten, ob das Suspendierungsverfahren nach Art. 7 Abs. 3 EUV diesem im Rahmen der Spezialität vorgeht.1038 Ebenso umstritten ist, ob Art. 7 Abs. 3 EUV eine exklusive Regelung supranationalen Rechts ist, welche einfachem Völkerrecht im Wege der Spezialität vorgeht.1039 Indes kann diese Frage hier dahinstehen, da es sich bei der Rechtsprechung des EuGH ebenfalls um EU-Recht handelt. Somit stellt das Aussetzungsverfahren im Asylrecht (nach der Rechtsprechung des EuGH) ein Verfahren sui generis dar, welches nicht von Art. 7 Abs. 3 EUV verdrängt wird. Fraglich ist jedoch, ob beim Prinzip der gegenseitigen Anerkennung nicht bereits eine andere Regelung vorgesehen ist. Nach dem 10. Erwägungsgrund RB EHB darf das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung für den RB EHB nur ausgesetzt werden, wenn eine schwere und anhaltende Verletzung der in Art. 6 Abs. 1 EUV enthaltenen Grundsätze durch einen Mitgliedstaat vorliegt und diese vom Rat gemäß Art. 7 Abs. 1 EUV mit den Folgen von Art. 7 Abs. 2 EUV festgestellt wird. Als Begründung wird darauf verwiesen, dass Grundlage für den Mechanismus des EHB ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten sei, 10. Erwägungsgrund RB EHB. Bei Erlass des RB EHB wollten die EU-Organe ein praktikables Verfahren für die Aussetzung schaffen. Dafür konnten sie noch nicht auf die Rechtsprechung des EuGH zurückgreifen. Mittlerweile sind seit dem Erlass des RB EHB im Jahre 2002 1037 Siehe
oben 2. Teil 5. Kapitel C. II. Ruffert, in: Calliess / Ruffert (Hg.), EUV, AEUV-Kommentar, Art. 7 EUV, Rn. 29; Heintschel von Heinegg, in: Vedder / Heintschel von Heinegg (Hg.), EUV, AEUV-Kommentar, Art. 7 EUV, Rn. 29; dagegen Pechstein, in: Streinz / Kruis / Michl (Hg.), EUV / AEUV-Kommentar, Art. 7 EUV, Rn. 22. 1039 Dafür Ruffert, in: Calliess / Ruffert (Hg.), EUV, AEUV-Kommentar, Art. 7 EUV, Rn. 30 ff.; Schorkopf, in: Hilf / Nettesheim (Hg.), EUV, AEUV-Kommentar, Art. 7 EUV, Rn. 54, 59; Becker, in: Schwarze / Becker / Bär-Bouyssière (Hg.), EU-Kommentar, Art. 7 EUV, Rn. 3; dagegen Pechstein, in: Streinz / Kruis / Michl (Hg.), EUV / AEUV-Kommentar, Art. 7 EUV, Rn. 23. 1038 Dafür
5. Kap.: Aktuelle Entwicklungen275
und dem Urteil des EuGH aus dem Jahre 2011 neun Jahre vergangen. Inzwischen sind eine Vielzahl weiterer Rechtsinstrumente zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung erlassen worden, welche nicht mehr einen Verweis auf Art. 7 EUV enthalten. Ebenso wie der RB EHB stützt sich auch der EuGH in seinem Urteil auf das gegenseitige Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten. Fiele dies als Grundlage fort, käme eine Aussetzung in Betracht. Somit kann das Sekundärrecht des RB EHB die Rechtsprechung des EuGH nicht einschränken. Dies hat das BVerfG bereits in seinem Urteil vom 18. Juli 2005 – 2 BvR 2236 / 04 – 1. EHB-Gesetz formuliert:1040 Dabei [bei der Überprüfung der rechtsstaatlichen Grundsätze in einem anderen Mitgliedstaat] wird in Rechnung zu stellen sein, dass jeder Mitgliedstaat der Europäischen Union die in Art. 6 Abs. 1 EUV genannten Grundsätze und somit auch den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit zu achten hat und somit eine Grundlage für gegenseitiges Vertrauen besteht. Das entbindet allerdings den Gesetzgeber nicht davon, bei nachhaltiger Erschütterung dieses Vertrauens in die Rechtsstaatlichkeit der allgemeinen Verfahrensbedingungen in einem Mitgliedstaat zu reagieren, und zwar unabhängig von einem Verfahren gemäß Art. 7 EUV. Zu berücksichtigen sind auch Sinn und Zweck des Art. 7 EUV. Die Feststellungsverfahren nach Art. 7 Abs. 1, 2 EUV enthalten keine Sanktion, sondern dienen allein der fömlichen Stellungnahme. Diese kann allenfalls als Ermahnung des betroffenen Mitgliedstaats angesehen werden.1041 Zwar kann die Aussetzung bestimmter Rechte nach Art. 7 Abs. 3 EUV bei Konnexität der Verletzung mit dem ausgesetzten Recht als Präventivmaßnahme gegen weitere Rechtsverstöße gesehen werden.1042 Bei Aussetzung der justiziellen Zusammenarbeit mit dem betroffenen Mitgliedstaat oder der Anerkennung seiner justiziellen Entscheidungen brauchen andere Mitgliedstaaten diesen nicht mehr zu unterstützen. Jedoch muss die Aussetzung nicht einmal konnex sein, wie der Verlust der Stimmrechte im Rat zeigt. Der betroffene Mitgliedstaat verliert dadurch seine aktive Mitgliedschaft. Daher ist der Schwerpunkt jener Maßnahme repressiv gedacht. Es handelt sich um eine Sanktion.1043 Das Aussetzungsverfahren nach der Rechtsprechung des EuGH 1040 BVerfG
BVerfGE 113, 273, 299. in: Schwarze / Becker / Bär-Bouyssière (Hg.), EU-Kommentar, Art. 7 EUV, Rn. 4, Becker sieht hierin zumindest eine Warnfunktion; so auch Pechstein, in: Streinz / Kruis / Michl (Hg.), EUV / AEUV-Kommentar, Art. 7 EUV, Rn. 3, 5. 1042 Schorkopf, in: Hilf / Nettesheim (Hg.), EUV, AEUV-Kommentar, Art. 7 EUV, Rn. 60. 1043 Ruffert, in: Calliess / Ruffert (Hg.), EUV, AEUV-Kommentar, Art. 7 EUV, Rn. 3; Schorkopf, in: Hilf / Nettesheim (Hg.), EUV, AEUV-Kommentar, Art. 7 EUV, Rn. 60; Becker, in: Schwarze / Becker / Bär-Bouyssière (Hg.), EU-Kommentar, Art. 7 EUV, Rn. 10. 1041 Becker,
276
2. Teil: Darstellung
soll jedoch unmittelbar Mängel beseitigen. Betroffene Personen sollen auch künftig nicht mehr gefährdet werden. Der Schwerpunkt ist daher präventiv. Beide Verfahren können nebeneinander bestehen. IV. Zukünftige Entwicklungen Um Rechtssicherheit zu gewährleisten, sollte der Vertrauensgrundsatz ebenso primärrechtlich verankert werden wie das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung. Aus dem gleichen Grund ist auch ein einfaches Aussetzungsverfahren durch eine Reform des Art. 7 EUV primär- oder sekundärrechtlich zu normieren.1044 Dies gilt umso mehr, als Art. 7 EUV mit seinen hohen formellen Anforderungen ein langwieriges und komplexes Verfahren nach sich zieht.1045 Dabei sollte Mängeln der Rechtsstaatlichkeit bereits unterhalb der Schwelle des Art. 7 EUV in einem Vorverfahren präventiv begegnet werden können. Auch hier ist ein Handeln geboten.1046 Dafür bietet sich eine Überprüfung und Anleitung durch EU-Beobachter in den jeweils betroffenen Mitgliedstaaten an. Im EUV ist dies zwar nicht vorgesehen.1047 Jedoch finden sich entsprechende Aufsichtsverfahren durch die Kommission in den Beitrittsverträgen mit Bulgarien, Rumänien und Kroatien.1048 Dieses Verfahren ist auch praxistauglich, wie ein erster Anwendungsfall bezüglich Kroatien im September 2013 bestätigte: Nach mehrfacher Verwarnung leitete die Kommission ein entsprechendes Verfahren gegen Kroatien ein und aktivierte damit die für den Bereich Justiz und Inneres geltende Schutzklausel des Beitrittsvertrags Kroatiens, vgl. Art. 39 Beitrittsakte i. V. m. Art. 1 Abs. 3 Beitrittsvertrag Kroatien. Anlass war ein kroatisches 1044 Ruffert, in: Calliess / Ruffert (Hg.), EUV, AEUV-Kommentar, Art. 7 EUV, Rn. 32, nach Ruffert sind Pflichten im Kontext der Werte des Art. 2 [EUV] sanktionsfähig verfassungs- oder sekundärrechtlich zu normieren, um im konkreten Fall handeln zu können; Wilkitzki, ZStW 1993, 821, 845, nach Wilkitzki sollte der Gedanke, den Vertragsstaaten multilateraler Übereinkünfte deren Kündigung oder die Aussetzung ihrer Anwendung auch in Bezug auf nur einen Teil der anderen Vertragsstaaten zu ermöglichen, vertieft weiterverfolgt werden. 1045 Ruffert, in: Calliess / Ruffert (Hg.), EUV, AEUV-Kommentar, Art. 7 EUV, Rn. 32, nach Ruffert bedingt die verfahrensmäßige Komplexität des Art. 7 [EUV] eine Schwerfälligkeit in der Anwendung. 1046 Ruffert, in: Calliess / Ruffert (Hg.), EUV, AEUV-Kommentar, Art. 7 EUV, Rn. 32; zur Schwelle siehe oben 2. Teil 5. Kapitel C. II. 1047 Ruffert, in: Calliess / Ruffert (Hg.), EUV, AEUV-Kommentar, Art. 7 EUV, Rn. 32. 1048 Schorkopf, in: Hilf / Nettesheim (Hg.), EUV, AEUV-Kommentar, Art. 7 EUV, Rn. 11, 56 f.
5. Kap.: Aktuelle Entwicklungen277
Gesetz, das im Widerspruch zu den Regelungen des RB EHB zeitliche Beschränkungen für die Anwendung eines EHB vorsah und zumindest aus Sicht der EU die Ergreifung mutmaßlicher Kriegsverbrecher absichtlich erschwerte.1049 Durch das Sanktionsverfahren drohten Kroatien Nachteile im Hinblick auf einen möglichen Beitritt zum Schengenraum und eine Verweigerung von Zahlungen in beträchtlicher Höhe (80 Millionen Euro) aus dem EU-Regionalfond. Inzwischen lenkte Kroatien in diesem Streit ein und kündigte an, jenes Gesetz rückgängig zu machen. Bereits daraufhin wurde das Verfahren gegen Kroatien eingestellt, zwischenzeitlich hat Kroatien seine Zusage auch in die Tat umgesetzt. Allerdings ist das Aufsichtsverfahren der Beitrittsverträge ungeeignet, um Mängel langfristig zu beseitigen. Zum einen gilt es nur befristet, zum anderen nur für Neumitglieder, welche dadurch übergangsweise überprüft werden können. Ob die sogenannten Kopenhagen-Kriterien, an denen Neumitglieder gemessen werden, auch von Altmitgliedern eingehalten werden, wird dagegen nicht mehr überprüft. Ein triftiger Grund für diese Differenzierung ist nicht ersichtlich, da letztlich alle Mitgliedstaaten einer allgemeinen Aufsicht irgendwann einmal bedürfen könnten. Dies wird auch das „Kopenhagen-Dilemma“ genannt.1050 Daher schlägt das Europäische Parlament vor, das Verfahren nach Art. 7 EUV zu reformieren: Demnach sollten in einem Vorverfahren Beobachter – etwa die Agentur der EU für Grundrechte – regelmäßig und einheitlich in allen Mitgliedstaaten die Einhaltung von Art. 2 EUV durch die Mitglieder überwachen. Auf diese Weise könnten jene Beobachter frühzeitig vor einem länderspezifischen Werteverfall warnen und Gegenmaßnahmen empfehlen. Bei Bedarf sollte sich daran ein effizienteres Sanktionsverfahren anschließen. Zuständig werden sollte hierfür ein neues Gremium („Hochrangige Gruppe Kopenhagen“). Dabei müsse dieser neue Mechanismus in jedem Fall schnell und wirksam sein und dürfe nicht politisch beeinflusst werden.1051 In der Zwischenzeit bis zur Reform des Art. 7 EUV solle die Kommission im Einzelfall eine „Alarm-Agenda für Art. 2 EUV / Rechtsstaatlichkeit“ einrichten.1052 1049 Memo der Kommission vom 18.9.2013, MEMO / 13 / 793, 2, die Kommission rügte, dass die zeitliche Beschränkung des EHB ein eindeutiger, schwerer Verstoß gegen EU-Recht sei. Er laufe den berechtigten Erwartungen der anderen Mitgliedstaaten zuwider, die davon ausgingen, dass sie nach dem Beitritt Kroatiens dank des raschen und effizienten Verfahrens des EHB die Überstellung mutmaßlicher oder verurteilter Straftäter aus Kroatien erwirken könnten. 1050 Tavares-Bericht vom 2.5.2013, 2012 / 2130(INI), 32 f. 1051 Tavares-Bericht vom 2.5.2013, 2012 / 2130(INI), 32 ff. 1052 Tavares-Bericht vom 2.5.2013, 2012 / 2130(INI), 29.
278
2. Teil: Darstellung
Der relativ hohe Aufwand, das Primärrecht zu ändern, macht eine rasche Reform des Art. 7 EUV eher unwahrscheinlich. Alternativ bietet sich jedoch eine dementsprechende Ausgestaltung des Sekundärrechts an.1053 Ein Aussetzungsverfahren könnte in die Rechtsakte zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung selbst integriert werden. Zumindest neue Rechtsinstrumente wie die RL EEA sollten eine derartige Klausel enthalten. Um die Rechtseinheit zu wahren, sollte allein die Kommission das Verfahren aussetzen dürfen. Die Kommission bietet sich als zuständiges Aufsichtsgremium an, da sie bereits eine entsprechende Aufgabe gegenüber den Neumitgliedern wahrnimmt und die Rechtsinstrumente zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung regelmäßig evaluiert. Unterstützt werden könnte sie durch die Agentur für Grundrechte. Bei fehlerhaftem Handeln der Kommission sollte auch der EuGH angerufen werden können. Die Aussetzung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung bedeutet lediglich, dass die Anerkennungspflicht der Mitgliedstaaten gegenüber dem betroffenen Mitgliedstaat entfällt. Mit einer entsprechenden Zusicherung, dass im konkreten Einzelfall ein rechtsstaatliches Verfahren eingehalten wird, ist eine Rechtshilfe im traditionellen Sinne möglich. Dennoch bedeutet die Aussetzung eine teilweise Entrechtung des jeweils betroffenen Mitgliedstaats und wird daher auch im Sekundärrecht einige Gegner haben, die für sich eine Stigmatisierung als unzuverlässiger Staat zu besorgen haben könnten. Die Rechtsinstrumente zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung – wie die RL EEA – sind daher so auszugestalten, dass kein Mitgliedstaat ein Verfahren unterstützen muss, in welchem eine ernstzunehmende Gefahr für die Grundrechte des Betroffenen besteht. Dies wäre ein Ablehnungsgrund im Sinne eines europäischen ordre public, wie er auch in der RL EEA enthalten ist.1054 1053 Wilkitzki, ZStW 1993, 821, 842 f., 845, Wilkitzki hat dies bereits 1993 im Hinblick auf multilaterale Übereinkommen gefordert. Es sei unwahrscheinlich, dass im Falle des Vertragsbruches einer Vertragspartei alle anderen ein solches Übereinkommen aufkündigen und es ohne diese wieder neu abschließen würden. Werde in einem Vertragsstaat die politische oder rechtliche Situation, etwa infolge der Machtergreifung durch ein Militärregime, schwerwiegend zum Negativen verändert, bestände ein Bedürfnis für eine punktuelle Kündigung. Da die WVRK nur ein langwieriges Suspendierungsverfahren biete, sollten multilaterale Übereinkünfte über internationales Strafrecht auch punktuell künd- oder suspendierbar sein: Straf- und Strafverfahrensrecht seien in noch höherem Maße als andere Rechtsgebiete untrennbar mit der Wahrung der Grund- und Menschenrechte verbunden; könnten sie in einem europäischen Staat nicht mehr gewährleistet angesehen werden, so entfalle auch die für eine strafrechtliche Zusammenarbeit unerläßliche Vertrauensgrundlage. 1054 Gaede, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 97, 121, nach Gaede reicht es nicht aus, dass der Betroffene allein auf den ihm zustehenden Rechtsschutz etwa vor dem EGMR verwiesen werde. Das mit der gegenseitigen Anerkennung geforderte gegenseitige Vertrauen setze effektiv im Einzelfall beachtete und hin
5. Kap.: Aktuelle Entwicklungen279
D. Umsetzung der Europäischen Ermittlungsanordnung in Deutschland I. Gegenwärtiger Rechtsbestand Ebenso wie Rahmenbeschlüsse müssen Richtlinien in innerstaatliches Recht der Mitgliedstaaten umgesetzt werden. Dies gilt auch für die RL EEA. Das innerstaatliche Verfahren der internationalen Rechtshilfe ist in Deutschland gegenwärtig im IRG normiert. Rahmenbeschlüsse zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung in Strafsachen wurden auch bisher – soweit Deutschland sie umgesetzt hat – ins IRG integriert, vgl. 8.–10. Teil des IRG. Der Vorrang des umgesetzten EU-Rechts ist im IRG normiert, §§ 78, 86, 91 IRG. Innerhalb der Vorschriften finden sich zahlreiche Verweise auf allgemeine Vorschriften des IRG. Auch auf die Rahmenbeschlüsse selbst wird an verschiedenen Stellen verwiesen, vgl. §§ 81 Nr. 4, 83a Abs. 1 Nr. 1, 83b Abs. 1 lit. d, 83f Abs. 1 Nr. 1, 83i, 87 Abs. 1, 87a Nr. 2, 87b Abs. 1, 87o Abs. 1, 88, 88a Abs. 1, 88b Abs. 1, 88c Nr. 1, 90 Abs. 1, 92 Abs. 1, 5, 92c, 94 Abs. 1, 95 Abs. 1, 97 IRG. II. Kritik am IRG Diese Rechtssetzungtechnik ist umstritten. Insbesondere Hackner kritisiert das Gesetz in seiner gegenwärtigen Form. Das IRG sei mittlerweile überfrachtet und unübersichtlich. Sowohl die gesetzesinterne Verweisung als auch jene auf andere Normen sei bedenklich und unübersichtlich.1055 In den 8. bis 10. Teilen, welche die Zusammenarbeit in der EU regeln, gehe letztendlich jede Ordnung und Systematik verloren. Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung erfordere andere Strukturen als die traditionelle Rechtshilfe und könne nicht in das vorhandene Normengefüge gepresst reichende Individualrechtsgarantien voraus. Dies biete ein europäischer ordre public. Dieser Anerkennungsvorbehalt sei die notwendige Prämisse, die ein grundrechtsverträgliches Vertrauen in fremde Urteile und Entscheidungen überhaupt erst ermöglichten; Sarmiento, CMLR 2013, 1267, 1293 f., nach Sarmiento musste sich der EuGH im Fall Radu nicht zu einem solchen Grundrechtsvorbehalt äußern. Dennoch gelte seine Rechtsprechung aus dem Fall N.S. auch für das Strafrecht: Because of the lack of detailed evidence in the file [Radu], the ECJ did not address the possibility of accepting such a fundamental rights exception, but it is obvious from its previous judgment in N.S. that when systemic flaws appear in an EU-based arrangement based on mutual recognition, Member States are under the obligation to derogate from the rules if such systemic flaws result in a serious breach of a fundamental right. 1055 Hackner, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, Einführung in den Hauptteil I, Rn. 26.
280
2. Teil: Darstellung
werden.1056 Durch eine ausufernde Nummerierung, welche nahezu das ganze Alphabet bemühe, vgl. etwa §§ 87–87p IRG, drohe ein gesetzestechnisches Chaos.1057 Gerade bei der Umsetzung der RL EEA in das deutsche Recht sieht Dicker wegen deren verhältnismäßig großen Regelungsumfangs Probleme.1058 Den Kritikern ist zuzustimmen. Das IRG ist zumindest in den Bereichen der Zusammenarbeit mit EU-Mitgliedstaaten unübersichtlich und unhandlich geworden. Hierzu tragen die Nummerierung und Verweise bei. Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung unterscheidet sich von der traditionellen Rechtshilfe. Die Integration der Zusammenabeit mit EU-Mitgliedstaaten in das IRG beeinträchtigt die einheitliche Systematik des IRG durch ihre zahlreichen Ausnahmen, erschwert so die gegenseitige Anerkennung und schwächt die traditionelle Rechtshilfe. Die Strukturen der traditionellen Rechtshilfe im innerstaatlichen Verfahren verzögern die Umsetzung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung. Die bestehenden Rahmenbeschlüsse wurden bisher nicht vollständig in deutsches Recht umgesetzt. Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung wirkt seit seiner Einführung als Fremdkörper im IRG. Dies zeigt sich etwa dort im Gesetz, wo die Grenzen des Zulässigkeits- und Bewilligungsverfahrens verschwimmen. Als Bewilligungshindernisse für eine Auslieferung nach dem EHB gelten nach § 83b IRG nun auch Umstände, die systematisch der Zulässigkeit zuzuordnen sind. Blankettverweise auf EU-Sekundärrecht vernachlässigen die Aufgabe des Gesetzgebers, dieses umfassend umzusetzen. Zudem sind sie im Hinblick auf den rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgrundsatz bedenklich. III. Lösungsansätze Angesichts dieser offensichtlichen Mängel wächst der Bedarf für eine grundlegende Reform des innerstaatlichen Verfahrens.1059 In Betracht kommen hier zwei Alternativen: Durch eine sehr viel deutlichere Abgrenzung innerhalb des IRG könnte man den Eigenheiten der gegenseitigen Anerkennung gerecht werden. Stattdessen könnte die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen mit den EU-Mitgliedstaaten auch durch ein Spezialgesetz geregelt werden. 1056 Hackner, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner Einführung in den Hauptteil I, Rn. 27; Burchard, in: Böse roparecht, 537, 545. 1057 Hackner, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner Einführung in den Hauptteil I, Rn. 28. 1058 Dicker, KritV 2012, 417, 422. 1059 Hackner, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner Einführung in den Hauptteil I, Rn. 29.
(Hg.), IRG-Kommentar, (Hg.), Enzyklopädie Eu(Hg.), IRG-Kommentar, (Hg.), IRG-Kommentar,
5. Kap.: Aktuelle Entwicklungen281
Für die Neustrukturierung des IRG spräche, dass die Justizbehörden weiterhin lediglich ein Gesetz mit einem einheitlichen Aufbau und einer einheitlichen Terminologie anwenden müssten.1060 Auch die traditionelle Rechtshilfe könne von einer Novellierung des IRG profitieren. Es liege nahe, notwendige Reformen der Rechtshilfe nicht nur auf die europäische Zusammenarbeit zu beschränken, sondern die gesamte Rechtshilfe anzupassen und so Schwachstellen des IRG – etwa im Rechtsschutz – zu beseitigen.1061 In Österreich hingegen hat sich ein eigenständiges Gesetz zur Umsetzung des EU-Sekundärrechts – Bundesgesetz über die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU-JZG)1062 – bewährt. Mit einem entsprechenden deutschen Gesetz würde jeweils eine klare Systematik und Struktur für die traditionelle Rechtshilfe und für das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung aufrechterhalten werden können. Dies würde zudem auch die Anerkennung justizieller Entscheidungen anderer Mitgliedstaaten fördern.1063 Ein Gesetz zur justiziellen Zusammenarbeit solllte sich auch an der Terminologie des Sekundärrechts orientieren, um Missverständnissen vorzubeugen. Letztendlich bleibt die Entscheidung für oder gegen ein eigenständiges Gesetz programmatisch. Ein Spezialgesetz für die justizielle Zusammenarbeit mit den EU-Mitgliedstaaten hat hohen symbolischen Wert. Ein solches Gesetz gilt als ein Bekenntnis zu einer justiziellen Integration, wie bereits die Außenwirkung des EU-JZG zeigt. Eine Neugliederung des IRG rückt das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung – wie einen Annex – in die Nähe der traditionellen Rechtshilfe und betont damit auch nationale Souveränitätsvorbehalte.1064 Daher sollte neben einem reformierten IRG1065 auch ein Spezialgesetz für die Zusammenarbeit mit anderen Mitgliedstaaten geschaffen werden.1066
1060 Riegel,
bei Ronsfeld, ZIS 2012, 636, 640. in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, Einführung in den Hauptteil I, Rn. 30. 1062 ÖBGBl. I Nr. 36 / 2004. 1063 Hackner, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, Einführung in den Hauptteil I, Rn. 30; Schneiderhan, DRiZ 2014, 176, 179. 1064 Hackner, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, Einführung in den Hauptteil I, Rn. 30; Burchard, in: Böse (Hg.), Enzyklopädie Europarecht, 537, 542 f. 1065 Hackner, in: Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner (Hg.), IRG-Kommentar, Einführung in den Hauptteil I, Rn. 31. 1066 Dicker, KritV 2012, 417, 422. 1061 Hackner,
3. Teil
Schlussbetrachtung Im Bereich der Strafverfolgung mit Auslandsbezug arbeiten die betroffenen Staaten regelmäßig zusammen. Sie unterstützen einander, da das Völkerrecht die Achtung fremder Gebietshoheit verlangt und somit grundsätzlich kein Staat auf dem Hoheitsgebiet eines anderen Strafverfolgung betreiben kann.1 In der internationalen Staatengemeinschaft hat sich hierfür die internationale Rechtshilfe als Kooperationsmechanismus durchgesetzt.2 Dieses Recht gilt häufig vertragslos. Daneben gelten jedoch eine Reihe bi- und multilateraler Rechtshilfeübereinkommen. Bedeutend für Europa sind insbesondere jene des Europarats und die darauf aufbauenden Übereinkommen der Schengengruppe und der EU.3 Parallel wird innerhalb der EU ein Alternativkonzept für die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen entwickelt: Die Mitgliedstaaten sollen auf der Grundlage des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung justizieller Entscheidungen zusammenarbeiten. Allerdings steht die Umsetzung dieses Konzepts noch am Anfang. Im Jahre 1997 verpflichteten sich die Mitgliedstaaten, einen gemeinsamen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu schaffen. Wesentlicher Bestandteil dieses Konzepts ist jenes Prinzip der gegenseitigen Anerkennung. Mittlerweile ist es auch primärrechtlich normiert. Wegen begrenzter Rechtssetzungskompetenz in der sogenannten dritten Säule wurden EU-Maßnahmen zunächst bevorzugt als Rahmenbeschlüsse erlassen. Erstes und wirkungsvollstes Rechtsinstrument war der RB EHB.4 Ab dem Vertrag von Lissabon wurde stattdessen die Richtlinie bevorzugtes Rechtsinstrument der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen. Das Stockholmer Programm sieht hier eine Reihe von Maßnahmen vor, zu der auch die RL EEA gehört.5 Auf der Grundlage des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung dient die RL EEA der Beweiserhebung 1 Siehe
oben oben 3 Siehe oben 4 Siehe oben 5 Siehe oben 2 Siehe
2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil
1. Kapitel 1. Kapitel 1. Kapitel 2. Kapitel 2. Kapitel
A. A. B. A. A.
II. 1. I. I. II.
3. Teil: Schlussbetrachtung283
und der Beweissammlung im Ausland, jedoch nicht der Beweisverwertung. Taugliche Rechtsgrundlage ist Art. 82 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV.6 Maßnahmen, die die Beweiserhebung und Beweissammlung betreffen, werden der sonstigen Rechtshilfe zugeordnet. Zur weiteren Abgrenzung innerhalb dieses Sammelbegriffs wird auch von Beweisrechtshilfe gesprochen.7 Speziell dazu führt auch die EU Rechtsinstrumente zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung ein. Hierzu gehören der RB-Sicherstellung und der RB EBA. Der RB-Sicherstellung soll vor allem die Beweissicherung im Ausland gewährleisten, während der RB EBA hauptsächlich der Beweiserlangung bereits gesicherten Materials aus dem Ausland dient.8 Gegenwärtig gibt es noch ein Nebeneinander zwischen traditioneller Rechtshilfe und gegenseitiger Anerkennung justizieller Entscheidungen. Wegen zu geringer Umsetzung oder fortbestehender Ausweichmöglichkeit in die internationale Rechtshilfe wird letztere vorgezogen.9 Die EU ist bestrebt, mittels der RL EEA die Zusammenarbeit zu vereinfachen, Einzelbereiche zu vereinigen, bestehende Rechtsinstrumente und Übereinkommen zu ersetzen und alle Ermittlungsmaßnahmen zu erfassen.10 Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung soll dabei für alle Anordnungen im Ermittlungsverfahren und alle anderen Stadien des Strafverfahrens gelten.11 Entgegen dem einengenden deutschen Wortlauts der RL EEA bezieht sich dies nicht bloß auf gerichtliche, sondern auf alle justiziellen Entscheidungen. Diese sind maßgeblicher Bestandteil eines Beweisrechtshilfeverfahrens.12 Sowohl das Rechtshilfeverfahren als auch das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung folgen einem dreigliedrigen Aufbau. Im Rechtshilfeverfahren sind dies das Erstellen, die Übermittlung und die Bewilligung eines Ersuchens. Dem gegenüber steht die Ausführung des Ersuchens, die Übermittlung von deren Ergebnissen und deren Verwertung.13 Bei einer EEA entsprechen dem der Erlass, die Übermittlung und die Anerkennung einer EEA. Es folgt die Vollstreckung der EEA, die Übermittlung von deren Ergebnissen und deren Verwertung.14 Dennoch unterscheiden sich beide Kooperationsmechanismen konzeptionell. Die Reinform des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung verleiht 6 Siehe
oben 2. Teil 3. Kapitel B. I. oben 2. Teil 1. Kapitel C. II. 8 Siehe oben 2. Teil 3. Kapitel A. I. 9 Siehe oben 2. Teil 3. Kapitel B. II. 10 Siehe oben 2. Teil 3. Kapitel A. I., B. II., III. 11 Siehe oben 2. Teil 2. Kapitel B. I. 3. 12 Siehe oben 2. Teil 3. Kapitel C. I. 2. c) aa). 13 Siehe oben 2. Teil 1. Kapitel C. I. 14 Siehe oben 2. Teil 3. Kapitel A. II. und 2. Teil 3. Kapitel C. I. 1. 7 Siehe
284
3. Teil: Schlussbetrachtung
einer justiziellen Entscheidung extraterritoriale Wirkung.15 Demgegenüber ist in der Rechtshilfe zur Ausführung eines Ersuchens grundsätzlich ein Transformationsakt notwendig. Ausnahmen davon bestehen bereits etwa in der Vollstreckungshilfe. Vergleichbare Entwicklungen bestehen zudem im Verwaltungsrecht: Unter anderem wird die unmittelbare Wirkung eines transnationalen Verwaltungsakts diskutiert.16 Da das Konzept der EU von mehreren Voraussetzungen ausgeht, führt sie bis zu deren Vorliegen das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung in abgeschwächter Form ein.17 Die gegenwärtigen EU-Rechtsinstrumente zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung – etwa die RL EEA – bieten den Mitgliedstaaten einen weiten Umsetzungsrahmen. Sie haben die Wahl zwischen einer unmittelbaren Wirkung bzw. der Umwandlung einer Entscheidung in ihr innerstaatliches Recht.18 Das deutsche Recht folgt weithin der letztgenannten Alternative.19 Allgemein betrachtet ist das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung ein neutrales Verfahrensmodell. Zwar stammt es aus dem Zivil- und Verwaltungsrecht, doch ist es nicht an dessen Grundsätze gebunden. Entscheidend ist das Einsatzziel. Soll es die Warenverkehrsfreiheit durchsetzen, dient es der Realisierung des Binnenmarkts und der damit verbundenen Realisierung der Grundfreiheiten. Soll es dagegen die Bildung von Rückzugsgebieten für Straftäter verhindern, dient es der Realisierung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Dabei ist aus sich heraus weder liberal noch repressiv, sondern allein ein rechtstechnisches Instrument.20 Die Gemeinsamkeiten zwischen traditioneller Rechtshilfe und gegenseitiger Anerkennung bestehen bezüglich Zuständigkeit und Geschäftsweg. Zwar liegt die originäre Zuständigkeit in der internationalen Rechtshilfe beim Bund. Doch sind durch eine mehrgliedrige Delegation die Landesjustizverwaltungen mit der sonstigen Rechtshilfe und dem Rechtshilfeverkehr mit EU-Mitgliedstaaten betraut. Bewilligungs- und Vornahmebehörde ist so häufig identisch. Das BfJ und die Landesjustizverwaltungen nehmen einzelne Koordinierungsaufgaben wahr.21 Für den Staatenverkehr gelten unterschiedliche Geschäftswege, zwischen den europäischen Staaten hat sich in der Rechtshilfe der unmittelbare Geschäftsweg durchgesetzt.22 Jener Geschäftsweg ist auch prägendes Element des Prinzips der gegenseitigen An15 Siehe 16 Siehe 17 Siehe 18 Siehe 19 Siehe 20 Siehe 21 Siehe 22 Siehe
oben oben oben oben oben oben oben oben
2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil
2. Kapitel 2. Kapitel 2. Kapitel 2. Kapitel 2. Kapitel 2. Kapitel 1. Kapitel 1. Kapitel
B. I. 2., 4. B. III. B. I. 5. B. I. 4. B. II. 2. d). D. I., II., III. E. I. 1. E. I. 3.
3. Teil: Schlussbetrachtung285
erkennung geblieben. Nach der RL EEA finden grundsätzlich sowohl die Übermittlung einer EEA als auch der sonstige diese betreffende Amtsverkehr unmittelbar zwischen der Anordnungs- und der Vollstreckungsbehörde statt. Die Mitgliedstaaten können hierzu auch unterstützende Zentralbehörden einrichten, müssen dies aber nicht.23 Das Übermittlungsverfahren der Rechtshilfe ist sowohl bei ein- als auch bei ausgehenden Ersuchen ein zwischenstaatliches, völkerrechtliches Verfahren. Es betrifft die Außenbeziehung zweier Staaten und verlagert so die Ausgestaltung und Perspektive der Rechtshilfe auf eine zwischenstaatliche Ebene.24 Dies gilt auch bei der gegenseitigen Anerkennung. Alle übrigen Stadien des Rechtshilfeverfahrens unterliegen einem innerstaatlichen Verfahren. Anders als im rein zwischenstaatlichen Verfahren bestehen hier subjektive Rechte des Betroffenen, welche beim Erstellen ausgehender und bei der Bewilligung bzw. Ausführung eingehender Ersuchen zu wahren sind.25 Richter können in allen Abschnitten eines innerstaatlichen Verfahrens zuständig sein. Hierbei ist jedoch nach ihrer Funktion im Verfahren zu unterscheiden, ob sie unabhängig oder weisungsgebunden sind. Im justiziellen Verfahren wie der gerichtlichen Zulässigkeitsprüfung einer Leistungsoder einer Vornahmeermächtigung entscheiden sie unabhängig. Im Bewilligungsverfahren, welches ihnen durch Delegation der Verwaltung zugeordnet ist, sind sie dagegen weisungsgebunden, ohne dass ihre richterliche Unabhängigkeit tangiert wird.26 Abweichend davon trifft der Richter im Verfahren über die gegenseitige Anerkennung seine Bewilligungsentscheidung nach dem IRG unabhängig. Ein besonderes Merkmal beider Kooperationsmechanismen ist der Ermessenspielraum der Bewilligungs- bzw. Vollstreckungsbehörde. Nach dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung sind justizielle Entscheidungen für den Vollstreckungsstaat grundsätzlich bindend. Dies gilt auch für eine EEA.27 In der Rechtshilfe besteht hingegen regelmäßig ein freier Ermessenspielraum, ob der ersuchte Staat einem eingehenden Ersuchen nachkommt. Dies spiegelt sich auch im innerstaatlichen Verfahren über die Leistungsermächtigung in Deutschland wider. Jenes ist zweistufig gestaltet. Im Zulässigkeitverfahren wird die Rechtmäßigkeit, im Bewilligungsverfahren insbesondere die Zweckmäßigkeit der Rechtshilfeleistung überprüft.28 Die Ablehnung einer Bewilligung kann auf rechtliche oder auf politische Gründe ge23 Siehe 24 Siehe 25 Siehe 26 Siehe 27 Siehe 28 Siehe
oben oben oben oben oben oben
2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil
3. Kapitel 1. Kapitel 1. Kapitel 1. Kapitel 3. Kapitel 1. Kapitel
C. C. C. E. E. E.
III. I. I. I. 2. I. II. 1. a).
286
3. Teil: Schlussbetrachtung
stützt werden. Allerdings können vertragliche Verpflichtungen das Ermessen der Bewilligungsbehörde einschränken.29 Umstritten ist, ob gegenüber dem EU-Sekundärrecht zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung an der Zweistufigkeit der Leistungsermächtigung festgehalten werden kann. Unstreitig kann die Anerkennung und Vollstreckung einer EEA nicht mehr aus rein politischen Gründen versagt werden.30 Im Rahmen der Zusammenarbeit nach beiden Kooperationsformen sind mehrere rechtliche Grundsätze und Hindernisse in unterschiedlicher Ausprägung zu beachten. Bei der internationalen Rechtshilfe betreffen diese die Entscheidung über die Zulässigkeit der Rechtshilfeleistung. Das EU-Konzept verteilt die Verantwortung gleichermaßen auf das Anordnungs- und das Vollstreckungsverfahren. Auch bei der gegenseitigen Anerkennung nehmen Aufschiebungs- und Versagungsgründe im Vollstreckungsverfahren weiterhin einen großen Stellenwert ein.31 Doch verschiebt sich der Schwerpunkt der freien Ermessensentscheidung zu einer konsensualen Lösung zwischen Anordnungs- und Vollstreckungsbehörde. Damit wird eine moderne Entwicklung der internationalen Rechtshilfe nachvollzogen und festgeschrieben. Durch rechtshilfefreundliche Auslegung eingehender Ersuchen, Information über rechtliche Vorbehalte und Konsultation zur Streitbeilegung soll ein effizienter Rechtshilfeverkehr geschaffen werden.32 Innerhalb des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung gilt dies ebenso für alle Fälle der Versagung, des Aufschubs, der Veränderung oder der Verzögerung der Vollstreckung.33 Um Rechts- und Sachproblemen frühzeitig zu begegnen, können die Behörden des Anordnungsstaats am Vollstreckungsverfahren unterstützend teilnehmen.34 Eine der meistdiskutierten Fragen betrifft das Problem der beiderseitigen Strafbarkeit. Nach diesem Grundsatz wird Rechtshilfe nur gewährt, wenn das Verhalten, welches das Ausgangsverfahren als Straftat verfolgt, im Vollstreckungsstaat ebenso als Straftat verfolgbar wäre.35 Teilweise wurde dieses Erfordernis in der sonstigen Rechtshilfe abgebaut. Für Zwangs- und Überwachungsmaßnahmen gilt es jedoch fort. Demgegenüber ist der Verzicht auf den Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit geradezu elementar für das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung.36 Gegenwärtig ist allerdings erst ein ausgewählter Bereich von Straftaten erfasst. Die EU bedient sich 29 Siehe 30 Siehe 31 Siehe 32 Siehe 33 Siehe 34 Siehe 35 Siehe 36 Siehe
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2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil
1. Kapitel 2. Kapitel 3. Kapitel 1. Kapitel 3. Kapitel 3. Kapitel 1. Kapitel 2. Kapitel
E. II. 1. c). B. III. E. E. III. E. D. I. 4. D. I. 2. a). C. I.
3. Teil: Schlussbetrachtung287
hier bevorzugt der Regelungstechnik des Katalogsystems.37 Diesem Modell folgt auch die RL EEA bei Zwangsmaßnahmen.38 Der Verzicht auf den Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit wird stark kritisiert. Jener Grundsatz habe seinen Ursprung im Prinzip nulla poena sine lege. Dagegen werde verstoßen, wenn ein Staat ohne eigenen Straftatbestand einem anderen Staat bei der Verfolgung entsprechenden Verhaltens helfe. Die Kritik geht jedoch fehl, weil der ersuchte Staat gar keine eigene Strafverfolgung betreibt, sondern lediglich Hilfe zur fremden Strafverfolgung. Im Übrigen betrifft das Prinzip nulla poena sine lege nur Strafen im materiellen Sinne und keine prozessualen Normen.39 Der Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit ist vielmehr auf den Grundsatz der Gegenseitigkeit zurückzuführen.40 Gegenseitigkeit in diesem Sinne heißt, dass Rechtshilfe in der Regel nur an Staaten geleistet wird, die ebenfalls in einem vergleichbaren Fall Rechtshilfe leisten oder denen man im umgekehrten Fall Rechtshilfe leisten würde. Bi- und multilaterale Übereinkommen sowie EU-Rechtsakte zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung begründen jeweils konkludent ein Gegenseitigkeitsverhältnis.41 Der Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit hat jedoch einen eigenständigen Wert gewonnen und entspricht einem traditionellen Verständnis der internationalen Rechtshilfe, das dem ersuchten Staat einen weiten Spielraum bei seiner Entscheidung über die Leistungsermächtigung einräumt.42 Den Staaten bleibt es – gerade aufgrund ihrer Souveränität – insofern jedoch überlassen, auf den Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit zu verzichten.43 Darüber hinaus hat der Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit eine individualrechtliche Bedeutung gewonnen. Nach einem modernen Verständnis der Rechtshilfe betrifft diese nicht nur die zwischenstaatliche Zusammenarbeit zweier Staaten. Auch die Interessen des Betroffenen sind im Rechtshilfeverfahren angemessen zu berücksichtigen.44 Eine Person wird mit einer ihr fremden Rechtsordnung konfrontiert und soll sich in dieser rechtfertigen. In der EU sind dies bislang 27 Rechtsordnungen. Der Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit trägt dazu bei, dass der Grundsatz der Rechtssicherheit, welcher sich aus dem Rechtsstaatsprinzip herleitet, gewahrt wird. Eine Person braucht insofern in der Regel nicht damit zu rech37 Siehe 38 Siehe 39 Siehe 40 Siehe 41 Siehe 42 Siehe 43 Siehe 44 Siehe
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2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil
2. Kapitel 3. Kapitel 1. Kapitel 1. Kapitel 1. Kapitel 1. Kapitel 1. Kapitel 1. Kapitel
C. I. E. IV. 5. D. I. 2. b) bb) und 2. Teil 2. Kapitel C. II. 3. D. I. 2. b) cc). D. I. 1. und 2. Teil 2. Kapitel B. II. 1. D. I. 2. b) cc). D. I. 2. b) cc), dd). C. I.
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3. Teil: Schlussbetrachtung
nen, dass sie in ihrem Aufenthaltsstaat wegen eines Tatbestandes strafrechtlich verfolgt wird, den dessen Rechtsordnung nicht kennt. Ein Verzicht auf den Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit in der EU ist daher nur mit einem gleichzeitigen Aufbau von anderen rechtssichernden Maßnahmen – etwa einem europäischen ordre public – möglich.45 Um diesen Verlust an Rechtssicherheit zu kompensieren, kann der Verzicht auf den Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit durch Ausgleichsmaßnahmen wieder relativiert werden. Gegenwärtig wird dieser Verzicht an einen maßgeblichen Auslandsbezug mit hinreichenden sachlichen Anknüpfungspunkten gebunden.46 Hierzu gehören der bewusste Eintritt in einen fremden Rechtskreis, die Schwere der Tat und ihre typische grenzüberschreitende Dimension.47 Der fremde Rechtskreis wird erheblich berührt, wenn sowohl der Handlungs- als auch der Erfolgsort der Tat überwiegend im Inland liegen.48 Die Merkmale der typischen grenzüberschreitenden Dimension und der Schwere der Tat müssen kumulativ vorliegen. Wegen ihrer Unbestimmtheit sind sie auslegungsbedürftig. Daran muss sich auch eine dahingehende Verhältnismäßigkeitsprüfung orientieren.49 Gemeinsamkeiten ergeben sich auch zwischen Vornahme- und Vollstreckungsverfahren. Ein Rechtshilfeersuchen und eine EEA werden einer innerstaatlichen Anordnung gleichgestellt.50 Vornahme- und Vollstreckungsbehörde richten sich grundsätzlich nach dem allgemeinen Strafverfahrensrecht der eigenen Rechtsordnung (locus regit actum).51 Diese Regel hat jedoch Ausnahmen zu Gunsten einer Fremdrechtsanwendung (forum regit actum) im vertraglichen Rechtshilfeverkehr erfahren. Soweit nicht gegen innerstaatliches Recht verstoßen wird, muss die Vornahmebehörde jene Form wahren, um deren Einhaltung sie vom ersuchenden Staat gebeten wurde.52 Dies gilt auch für die Vollstreckungsbehörde.53 Ihre enge Grenze findet die Fremdrechtsanwendung in den wesentlichen Rechtsgrundsätzen des ersuchten bzw. vollstreckenden Staates. Hierzu gehört auch die Beachtung eines etwaigen Richtervorbehalts.54 45 Siehe
oben 2. Teil 1. Kapitel D. I. 2. b) dd) und 2. Teil 2. Kapitel C. III. 2. a). oben 2. Teil 2. Kapitel C. III. 2. c) aa). 47 Siehe oben 2. Teil 2. Kapitel C. III. 2. c) bb). 48 Siehe oben 2. Teil 2. Kapitel C. III. 2. d) bb). 49 Siehe oben 2. Teil 2. Kapitel C. III. 2. d) cc), dd). 50 Siehe oben 2. Teil 1. Kapitel E. II. 1. d) und 2. Teil 2. Kapitel B. II. 2. b) sowie 2. Teil 3. Kapitel D. I. 1. 51 Siehe oben 2. Teil 1. Kapitel E. II. 2. a) und 2. Teil 3. Kapitel D. I. 1. 52 Siehe oben 2. Teil 1. Kapitel E. II. 2. a). 53 Siehe oben 2. Teil 3. Kapitel D. I. 1. 54 Siehe oben 2. Teil 1. Kapitel E. II. 2. a) und 2. Teil 3. Kapitel D. I. 3. 46 Siehe
3. Teil: Schlussbetrachtung289
Der ersuchende bzw. anordnende Staat darf seine Rechtsordnung nicht durch die Zusammenarbeit mit einem anderen Staat umgehen. Um eine Maßnahme, die im Inland rechtswidrig wäre, darf selbst bei günstigerer Rechtslage im Ausland nicht ersucht werden (forum shopping). Diese in der internationalen Rechtshilfe weit verbreitete Ansicht ist nun auch in der RL EEA normiert.55 Die Rechtsinstrumente zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung regeln keine Fragen der Beweisverwertung. Hier gelten die allgemeinen Regeln aus der traditionellen Rechtshilfe. Gewinnt der ersuchte Staat (B) entgegen dem Recht des ersuchenden Staates (A) Beweismittel, sind diese im ersuchenden Staat (A) grundsätzlich verwertbar, solange die Beweiserhebung im Einklang mit dem Recht des ersuchten Staats (B) erfolgte. Dies findet seine Grenzen jedoch in dem Grundsatz des fairen Verfahrens. Ein Verstoß dagegen kann sich insbesondere aus versäumter oder so nicht erbetener Fremdrechtsanwendung ergeben: Jeweils nach seinem eigenem Recht setzt der ersuchte Staat (B) entweder das fehlerhafte ausländische Ersuchen ordnungsgemäß oder das ordnungsgemäße ausländische Ersuchen fehlerhaft um.56 Regelmäßig suspendiert ein Rechtsbehelf des Betroffenen gegen die Maßnahme die Beweisübermittlung an den Anordnungsstaat. Lediglich in dringenden Fällen sind Ausnahmen möglich. Dennoch stellt die Festschreibung einer fakultativen Suspension einen Fortschritt zu früheren Vertragswerken der internationalen Rechtshilfe dar.57 Auch der Grundsatz der Spezialität ist bei der Zusammenarbeit zu beachten. Danach verpflichtet sich der ersuchende Staat, die geleistete Rechtshilfe nur zur Verfolgung der seinem bewilligten Ersuchen zugrunde liegenden Tat oder nur unter bestimmten rechtlichen Gesichtspunkten zu verwenden. Die Spezialität bietet eine Möglichkeit, den Datenschutz für Betroffene in die internationale Rechtshilfe zu integrieren.58 Auch die RL EEA verbindet den Spezialitätsvorbehalt mit datenschutzrechtlichen Erwägungen. Im Vordergrund steht jedoch der Schutz des strafrechtlichen Ermittlungserfolgs. Weiterer Detailregelungen zum Datenschutz enthält sich die Richtlinie. Sie verweist lediglich auf bereits bestehendes EU-Recht.59 Unabhängig vom Grundsatz der Spezialität kann die Vollstreckungsbehörde Beweismittel an den Anordnungsstaat unter einem Rückgabevorbehalt auch nur vorübergehend übermitteln.60 55 Siehe 56 Siehe 57 Siehe 58 Siehe 59 Siehe 60 Siehe
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2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil
1. Kapitel 1. Kapitel 3. Kapitel 1. Kapitel 3. Kapitel 3. Kapitel
E. II. 2. b) und 2. Teil 3. Kapitel C. II. 2. E. II. 2. a). F. III. D. I. 3. F. II. D. III.
290
3. Teil: Schlussbetrachtung
Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit muss der Eingriff in die Belange des Betroffenen sowie ein außergewöhnlich hoher Arbeitsaufwand für den ersuchten Staat in einem ausgewogenen Verhältnis zur Schwere der dem Ersuchen zugrunde liegenden Straftat stehen. Bei einem Verstoß gegen diesen Grundsatz kann ein Ersuchen abgelehnt werden.61 Abwägungsfehler treten auch in der Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung auf.62 Doch weder im RB EHB noch in der RL EEA ist ein entsprechender Versagungsgrund ausdrücklich vorgesehen.63 Jedoch wurde der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als materielle Anordnungsvoraussetzung in der RL EEA normiert.64 Auf weitere Regelungen verzichtete man indes bewusst, um zum einen den unterschiedlichen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gerecht zu werden und zum anderen einer die Rechtseinheit gefährdenden Auslegung nach unterschiedlichen innerstaatlichen Rechtsmaßstäben vorzubeugen.65 Zwar ist ein Versagungsgrund für Formfehler in der RL EEA nicht ausdrücklich aufgeführt. Doch soll bei unvollständigen oder fehlerhaften Anordnungen im Vollstreckungsverfahren ein Entscheidungshindernis bestehen. Auch ein solches führt im Ergebnis zu einer Vollstreckungsversagung. Notwendig ist die Verletzung wesentlicher Form- und Verfahrensvorschriften. Dies entspricht auch der traditionellen Rechtshilfe.66 In der internationalen Rechtshilfe gilt der Grundsatz des ordre public. Rechtshilfe kann danach nur geleistet werden, wenn im ersuchenden Staat ein rechtsförmiges Verfahren eingehalten wird. Wegen unterschiedlicher Rechtsordnungen der Rechtshilfepartner und des Ziels, Deutschland in die internationale Staatengemeinschaft zu integrieren, lässt sich die Rechtsstaatlichkeit eines fremden Verfahrens nicht unmittelbar am Maßstab des Grundgesetzes messen. Allerdings gebietet das Verfassungsrecht, dass das ausländische Verfahren den völkerrechtlich verbindlichen Mindeststandards und den unabdingbaren Grundsätzen der verfassungsrechtlichen Ordnung Deutschlands genügen muss. Neben einem solchen nationalen ordre public besteht auch ein mit diesem weitgehend übereinstimmender europäischer ordre public.67 Unzulässig ist die Unterstützung ausländischer Verfahren mit rechtsstaatswidriger Verfolgung,68 mit Todesstrafe69 und mit unverhält61 Siehe 62 Siehe 63 Siehe 64 Siehe 65 Siehe 66 Siehe 67 Siehe 68 Siehe 69 Siehe
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2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil
1. Kapitel 3. Kapitel 3. Kapitel 3. Kapitel 3. Kapitel 3. Kapitel 1. Kapitel 1. Kapitel 1. Kapitel
D. I. 4. E. V. 2. a). E. V. 2. b). C. II. 2. E. V. 1. E. V. 2. D. II. 1. a). D. II. 1. b). D. II. 1. c) aa).
3. Teil: Schlussbetrachtung291
nismäßig hohen Strafen.70 Auch ausgehende Ersuchen dürfen nicht mittelbar Anstoß für solche Verfahren im ersuchten Staat geben.71 Zur Annahme eines Verstoßes gegen den ordre public reichen mittlerweile glaubhafte Zusagen von Nichtregierungsorganisationen über ein dafür real bestehendes Risiko aus.72 Liegen solche Erkenntnisse vor, sind völkerrechtlich verbindliche Zusicherungen grundsätzlich geeignet, der Rechtsverletzungsgefahr zu begegnen. Erscheinen diese unzuverlässig, kann die Leistung von Rechtshilfe abgelehnt werden.73 Ursprünglich heftig umstritten, wurde der Versagungsgrund des europä ischen ordre public in der RL EEA verankert. Danach kann die Vollstreckung einer EEA versagt werden, wenn es ernstzunehmende Gründe für die Annahme gibt, dass die Durchführung der Ermittlungsmaßnahme, die in der EEA enthalten ist, unvereinbar wäre mit den Verpflichtungen des Vollstreckungsstaats nach Art. 6 EUV und der GRCh. Der Streit entzündete sich an der Frage, ob in der Wechselbeziehung zwischen Freiheit und Sicherheit für die Zielverwirklichung, durch eine effiziente transnationale Strafverfolgung einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu schaffen, das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung durch die Grundrechte eingeschränkt werden soll. Unter Berufung auf die Rechtsprechung des EuGH lehnte dies eine Ansicht ab. Eine andere Ansicht nahm aufgrund des Vorrangs der Grundrechte als Primärrecht einen solchen Versagungsgrund an.74 Nach der RL EEA kann die Vollstreckung einer EEA lediglich in den Fällen der bild- und / oder fernmündlichen Vernehmung wegen eines Verstoßes gegen wesentliche Rechtsgrundsätze des Vollstreckungsstaats versagt werden. Eine Vollstreckungsversagung aufgrund eines nationalen ordre public ist sonst jedoch ausgeschlossen.75 Dem hat sich auch der EuGH für die Vollstreckung eines EHB angeschlossen. Ein nationaler ordre public gefährdet die Rechtseinheit, die für das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung von wesentlicher Bedeutung ist.76 Dennoch enthält die RL EEA als Zugeständnis an die Rechtsordnungen mehrere Versagungsgründe aus dem Anwendungsvorrang eigenen Rechts. Dies gilt etwa für den Ausschluss bestimmter Zwangsmaßnahmen im Buß70 Siehe 71 Siehe 72 Siehe 73 Siehe 74 Siehe 75 Siehe 76 Siehe
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2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil
1. Kapitel 1. Kapitel 1. Kapitel 1. Kapitel 3. Kapitel 3. Kapitel 3. Kapitel
D. II. 1. c) bb). D. II. 1. c) aa). D. II. 1. b). D. II. 1. a). E. V. 1. a). E. V. 1. d). E. V. 1. d).
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3. Teil: Schlussbetrachtung
geldverfahren, eingriffsintensiver Zwangsmaßnahmen nach einem Straf tatenkatalog sowie für Überwachungsmaßnahmen mit Genehmigungsvorbehalt.77 Daneben gibt es in beiden Kooperationsmechanismen weitere Hindernisse bzw. Versagungsgründe. Dazu gehören insbesondere das Verbot doppelter Strafverfolgung (ne bis in idem).78 Darüber hinaus bestehen in diesem Zusammenhang nationalstaatliche Sicherheitsinteressen und drittschützende Belange.79 Indessen stoßen noch so filigrane Regelungen naturgemäß an ihre Grenzen. Dies gilt auch und gerade für so grundlegende Reformwerke wie die RL EEA. Um sich in der Praxis zu bewähren, muss sie von den Mitgliedstaaten erst noch mit Leben erfüllt werden. Herkömmlich werden gesellschaftliche und soziale Probleme nationalstaatlich bewältigt. Hierzu gehört auch die Strafverfolgung. Diese Perspektive war ausreichend, solange eine Einheit der territorialen, politischen, ökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Grenzen bestand.80 Grenzüberschreitende Ausnahmen können von den Nationalstaaten mit der Rechtshilfe aufgefangen werden. Seit Beginn der Moderne ist die Ausnahme jedoch zur Regel geworden.81 Ein Wandlungsprozess setzte ein, der zur Globalisierung und Europäisierung führte. Nationale Grenzen verlieren an Bedeutung. Hiervon profitiert auch die transnationale Kriminalität. Die Öffnung und Vernetzung der verschiedenen nationalstaatlichen Gesellschaften führt zu einer Komplexität, die vom jeweiligen Nationalstaat nicht mehr allein bewältigt werden kann.82 Eine souveränitätswahrende Lösung hierfür bietet den Nationalstaaten die transnationale Zusammenarbeit. Die Globalisierung erfordert hierzu die Integration in die internationale Staatengemeinschaft, die Europäisierung hingegen eine solche in den Staatenverbund der EU. Erst hierdurch wird eine transnationale Strafverfolgung praktisch möglich.83 Das Demokratieprinzip bleibt unter Beachtung dieser Zielsetzung ausreichend geschützt: Supranationale Rechtsakte werden durch eine Rückkopplung an die Parlamente der Mitgliedstaaten legitimiert. Bei einem maßgeblichen Auslandsbezug kann das fremde Strafrecht systembedingt auch für eigene Staatsangehörige gelten, ohne dass diese daran aktiv mitwirken konnten.84 77 Siehe 78 Siehe 79 Siehe 80 Siehe 81 Siehe 82 Siehe 83 Siehe 84 Siehe
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2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil
3. Kapitel 1. Kapitel 3. Kapitel 4. Kapitel 4. Kapitel 4. Kapitel 4. Kapitel 2. Kapitel
E. IV. 3. a), b). D. II. 2. und 2. Teil 3. Kapitel E. IV. 4. E. IV. 4. B. II. 1. a). B. II. 1. b). B. II. 1. a), b). B. II. 2. C. IV. 2., 4.
3. Teil: Schlussbetrachtung293
Die Zielsetzung der internationalen bzw. europäischen Integration ist mit den Grundsätzen der eigenen verfassungsrechtlichen Ordnung in ein ausgewogenes Verhältnis zu setzen. Die Zusammenarbeit muss immer den völkerrechtlich verbindlichen Mindeststandards und den unabdingbaren Grundsätzen des Grundgesetzes entsprechen. Solange dies auch im Ausland gewährleistet ist, dürfen Teile des Verfahrens im Rahmen einer Arbeitsteilung auch dort stattfinden. In der Regel obliegt es dem ersuchenden Staat schon wegen seiner Sachnähe, Sachfragen wie den Tatverdacht zu überprüfen und schlüssig darzustellen, während sich der ausführende Staat auf Rechtsfragen beschränkt.85 Daher ist auch der Rechtsschutz sowohl bei der internationalen Rechtshilfe als auch nach dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung in zwei Rechtswege gespalten. Sachgründe muss der Betroffene stets im ersuchenden Staat bzw. im Anordnungsstaat angreifen.86 Sowohl die internationale Rechtshilfe als auch das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung betreffen justizielle Entscheidungen, wozu in einigen Ländern sogar solche von Polizeibehörden gehören können. Mit dem Validierungsvorbehalt eingriffsintensiver Maßnahmen führt die RL EEA ein sinnvolles Korrektiv ein.87 Der deutsche Richtervorbehalt wird zudem in seinem Kerngehalt nicht berührt. Der Richter muss weiterhin überprüfen, ob eine Maßnahme bei einem vergleichbaren inländischen Sachverhalt hätte angeordnet werden können. Als vorherige Gestattung einer behördlichen Eingriffsmaßnahme darf der Richtervorbehalt jedoch nicht anders behandelt werden als die nachträgliche Kontrolle derselben. Somit ist auch eine wiederholte Tatverdachtsprüfung im ersuchten Staat grundsätzlich entbehrlich.88 Ein Rechtshilfe- bzw. Vollstreckungshindernis liegt dann vor, wenn zwischen Beweismittel und Tatverdacht ein Zusammenhang offensichtlich fehlt oder ein Tatverdacht nicht schlüssig dargestellt wurde.89 Grundlage der Zusammenarbeit ist in beiden Fällen gegenseitiges Vertrauen. Viele Rechtsordnungen enthalten bereits eine Reihe von Vertrauenstatbeständen, doch wird der Vertrauensbegriff an sich maßgeblich im interdisziplinären Diskurs definiert. Wesentliche Erkenntnisgewinne liefert dabei die Soziologie.90 Erste Theorien über Vertrauen als Grundlage menschlichen Zusammenlebens allgemein und von Rechtsbeziehungen im Besonderen hat Hobbes entwickelt.91 In der Gegenwart prägen insbesonde85 Siehe 86 Siehe 87 Siehe 88 Siehe 89 Siehe 90 Siehe 91 Siehe
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2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil
1. Kapitel 1. Kapitel 3. Kapitel 3. Kapitel 1. Kapitel 4. Kapitel 4. Kapitel
E. III. und 2. Teil 3. Kapitel C. II. 1. F. I. und 2. Teil 3. Kapitel F. III. C. I. 2. c) bb). C. I. 2. c) cc). E. III., F. II. 3. B. I. 1., 3. b). B. I. 2. a).
294
3. Teil: Schlussbetrachtung
re Luhmann und Sztompka den Vertrauensbegriff aus der Perspektive der Systemtheorie. Durch Vertrauen als soziale Beziehung können Subjekt und Objekt ein gemeinsames System bilden. Solche Systeme entstehen vor allem dort, wo sich der Einzelne nicht allein behaupten kann, sondern auf die Zusammenarbeit mit anderen angewiesen ist. Je komplexer die Situation, desto höher ist der Aufwand für den Einzelnen, eine bewusste Entscheidung über sein Verhalten zu treffen. Durch Vertrauen hingegen lässt sich Komplexität reduzieren.92 Für die Moderne ist die Gewährung von Vertrauen charakteristisch geworden, da Globalisierung und Europäisierung zu einer sehr komplexen sozialen Umwelt geführt haben. Dies erfordert eine intensivere Form der Zusammenarbeit der Nationalstaaten, welche auf gegenseitigem Vertrauen beruht. Angesichts der transnationalen Kriminalität gilt dies auch für die transnationale Strafverfolgung. Einen wirkungsvollen Mechanismus für eine solche intensive Zusammenarbeit bildet die auf gegenseitigem Vertrauen beruhende Anerkennung justizieller Entscheidungen in der EU.93 In der internationalen Rechtshilfe ist Bezugspunkt des Vertrauens insbesondere der Grundsatz der Gegenseitigkeit. Regelmäßig vertrauen die Rechtshilfepartner darauf, dass sie einander Rechtshilfe gewähren würden, soweit sie selbst dazu bereit sind. Zur Aufrechterhaltung dieser Gegenseitigkeit vertraut der ersuchte Staat darauf, dass der ersuchende Staat sein Rechtshilfeersuchen nicht missbrauchen und sich grundsätzlich nach Treu und Glauben verhalten werde (Vertrauensprinzip). Hierdurch erübrigt sich etwa die erneute Prüfung des Schuldverdachts durch den ersuchten Staat.94 Auch das EU-Konzept über das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung beruht auf „einem hohen Maß an Vertrauen“. Bezugspunkt des Vertrauens ist jedoch nicht allein der Grundsatz der Gegenseitigkeit. Die Unmittelbarkeit des Anerkennungs- und Vollstreckungsverfahrens führt zu einer intensiveren Form der Zusammenarbeit, die mehr benötigt, nämlich ein qualifiziertes Bezugsobjekt. Zwar sind aufgrund unterschiedlicher Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten die Rahmenbedingungen einer justiziellen Entscheidung nicht die gleichen wie im Vollstreckungsstaat. Indem jedoch die Mitgliedstaaten und deren Justizbehörden darauf vertrauen, dass es sich um zumindest ihrem Rechtssystem gleichartige bzw. gleichwertige Entscheidungen handelt, können sie diese anerkennen und vollstrecken. Als eigentlichen Bezugspunkt dieses Vertrauens benennt die EU die Rechtsstaatlichkeit der Strafrechtspflege ihrer Mitgliedstaaten. Damit meint sie nicht nur die Rechtsvorschriften des anderen Mitgliedstaats, sondern auch deren ord92 Siehe
oben 2. Teil 4. Kapitel B. I. 2. b), 3. a), b). oben 2. Teil 4. Kapitel B. II. 2. 94 Siehe oben 2. Teil 4. Kapitel C. III. 1. und 2. Teil 1. Kapitel E. III. 93 Siehe
3. Teil: Schlussbetrachtung295
nungsgemäße Anwendung. Rechtsstaatlichkeit ist ein wesentlicher Anhaltspunkt für die Gleichwertigkeit der Entscheidungen anderer Mitgliedstaaten, da sie als elementarer Grundwert der EU für alle ihre Mitglieder maßgebend ist und ein zuverlässiges, willkürfreies und gerechtes Straf- bzw. Rechtshilfeverfahren gewährleistet.95 Neben einem entsprechenden Vertrauensbedarf setzt Vertrauen auch die Vertrauenswürdigkeit des Vertrauensobjekts voraus. Je weniger Anlass dafür besteht, desto mehr darf das Vertrauenssubjekt auf einen guten Ausgang seines Verhaltens lediglich hoffen. Das Vertrauensmodell setzt so auf einen freien Willen und lässt sich nicht erzwingen. „Blindes“ Vertrauen ist demnach begrifflich ein Widerspruch in sich.96 Nicht unumstritten geht die EU von einem bereits bestehenden Vertrauensverhältnis (Klima gegenseitigen Vertrauens) aus.97 Dem wird entgegengehalten, jenes Vertrauen werde lediglich fingiert; eine entsprechende Vertrauenswürdigkeit der Rechtspflege der einzelnen Mitgliedstaaten bestehe nicht wirklich.98 Tatsächlich hängt Vertrauenswürdigkeit von bestimmten Kriterien ab. Dabei unterscheidet man zwischen zwei Arten von Vertrauenswürdigkeit. Durch selbstgewonnene Vertrauenswürdigkeit wird das Vertrauenssubjekt zu der Annahme veranlasst, dass das Vertrauensobjekt aufrichtig und leistungsfähig sei, während abgeleitete Vertrauenswürdigkeit auf äußeren Einflüssen beruht.99 Entscheidend ist stets der gute Eindruck vom Vertrauensobjekt. Eigene Wahrnehmung und Vertrautheit sind häufig ausschlaggebend, um einem Vertrauensobjekt Vertrauen oder Misstrauen entgegenzubringen.100 Zu den äußeren – nicht im Vertrauensobjekt selbst begründeten – Faktoren, welche den Ausschlag für dessen Vertrauenswürdigkeit geben, gehören alle Formen der Gewährleistung, Vorverpflichtung und jeder situative Vertrauenseinfluss. In komplexen Systemen kann dies auch durch entsprechende Regelungen und Organisation hergestellt werden.101 Gegebenenfalls verändert dies jedoch auch die Art der Vertrauensbildung. Während soziale Beziehungen in der Regel auf persönlichem Vertrauen beruhen, übernehmen in einem System Organisation und Institutionen diese Funktion. Diese Systeme zeichnen sich durch einen höheren Abstraktionsgrad aus. Bezugsobjekt des Vertrauens ist nicht mehr das Verhalten eines Einzelnen, sondern das Funktionieren des Systems aufgrund des Verhaltens aller Beteiligten. In einigen Systemen 95 Siehe
oben 2. Teil 2. Kapitel B. II. 1. und 2. Teil 4. Kapitel A. I., C. III. 1. oben 2. Teil 4. Kapitel C. I. 97 Siehe oben 2. Teil 4. Kapitel A. I. 98 Siehe oben 2. Teil 4. Kapitel A. II. 2. 99 Siehe oben 2. Teil 4. Kapitel C. II. 1. a). 100 Siehe oben 2. Teil 4. Kapitel C. II. 1. b). 101 Siehe oben 2. Teil 4. Kapitel C. II. 1. c). 96 Siehe
296
3. Teil: Schlussbetrachtung
entwickelt sich neben diesem abstrakten auch ein konkretes Vertrauen. Dies hängt von der Art der Organisation ab. Unmittelbarer Kontakt der Systemteilnehmer mit Entscheidungsträgern ist zwar keine Voraussetzung, dürfte jedoch die Regel sein. Hierdurch kann das System selbst an Vertrauenswürdigkeit gewinnen; es bekommt ein Gesicht.102 Diese abstrakten Betrachtungen können auch auf die Rechtshilfe innerhalb der EU übertragen werden. Bewährte Rechtshilfebeziehungen zwischen einzelnen Mitgliedstaaten reichen für ein Systemvertrauen in die EU nicht aus. In einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts müssen alle Mitgliedstaaten einander vertrauen.103 Um ein derartiges Systemvertrauen entstehen zu lassen, müssen die EU und deren Mitglieder konzeptionell dafür sorgen, dass deren nationale Strafrechtssysteme allgemein Vertrauenswürdigkeit erhalten und behalten. Dies geschieht insbesondere durch den Einsatz vertrauensbildender Maßnahmen.104 Hierzu gehören solche, welche die Bildung von Verständnis für fremdes Recht und dessen Anwendung, Transparenz der Justiz, Integrität und Kompetenz der Justizangehörigen unterstützen.105 Insbesondere ein gemeinsames Referenzsystem, welches durch ein unabhängiges Organ überwacht und gepflegt wird, vermittelt Vertrauenswürdigkeit. Gemeinsame rechtliche Mindeststandards des Strafverfahrens, denen alle Mitgliedstaaten verpflichtet sind, könnten zumindest Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit der Gesetzgebung anderer Mitgliedstaaten schaffen.106 Gemeinsame rechtliche Mindeststandards bieten neben einer Fremdrechtsanwendung zudem eine Möglichkeit, Strukturunterschiede zwischen den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten zu relativieren. Sowohl die internationale Rechtshilfe als auch das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung durchbrechen das geschlossene System einer nationalen Rechtsordnung und konfrontieren es mit einer ihm in dieser Form fremden Maßnahme. Die gegenseitige Anerkennung vereinfacht zwar die Zusammenarbeit verschiedener Rechtssysteme. Bestehende Systemunterschiede fallen hierdurch jedoch stärker ins Gewicht, da der Abbau von Ermessensspielräumen zu rechtlichen Lücken oder Doppelbelastungen insbesondere für den Betroffenen führen kann.107 Eine besondere Rolle kommt hierbei der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR für die EU zu. Zum einen sind alle Mitgliedstaaten 102 Siehe 103 Siehe 104 Siehe 105 Siehe 106 Siehe 107 Siehe
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2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil
4. Kapitel 4. Kapitel 4. Kapitel 4. Kapitel 4. Kapitel 2. Kapitel
C. II. 2. b), III. 3. a). C. III. 2. C. III. 2. a). C. III. 2. c), d), e). C. III. 2. b), D. I. F. I., II. und 2. Teil 4. Kapitel D. I.
3. Teil: Schlussbetrachtung297
zugleich Konventionsstaaten. Zum anderen wird auch die EU der EMRK beitreten und verweist bereits in ihrem Primärrecht auf diese.108 Obwohl wesentliche Unterschiede zwischen den nationalen Prozessordnungen verbleiben, zeigt schon die Rechtsprechung des EGMR deren grundsätzliche Ähnlichkeit auf und trägt damit zur gegenseitigen Annäherung bei.109 Mittlerweile sind hieraus bereits ausreichende und bewährte Mindeststandards für ein Strafverfahren entstanden. Die besondere Aufgabenstellung des EGMR erschwert jedoch die Auslegung seiner Entscheidungen. Demgegenüber führt die Übernahme und Festschreibung seiner allgemeinen Grundsätze im EU-Recht zu mehr Übersichtlichkeit und zu einer wünschenswerten Vertiefung.110 Primärrechtlich werden Grundrechte formuliert. Daneben werden durch Sekundärrecht jedoch vor allem eigene Verfahrensrechte normiert.111 Durch Richtlinien können darüber hinaus Mindestvorschriften zur Erleichterung der gegenseitigen Anerkennung festgelegt werden.112 Dies ist auch notwendig, da eine Harmonisierung des Strafverfahrensrechts Grundlage des gegenseitigen Vertrauens und somit des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung ist.113 Aufgrund der gesellschaftlichen und kulturellen Vielfalt der Mitgliedstaaten, die sich auch in den Werturteilen des Strafrechts widerspiegelt, sind hier die allgemeinen primärrechtlichen Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit besonders zu beachten.114 Bei der Harmonisierung muss jedoch immer ein Mindestschutzniveau eingehalten werden, das auch dasjenige der EMRK nicht unterschreitet. Andernfalls würde – wie sonst häufig im Europarecht – eine Nivellierung der Verfahrensrechte auf den niedrigsten gemeinsamen Nenner drohen (race to the bottom).115 Alternativ zur Harmonisierung kann längerfristig auch supranationales Strafrecht eine Möglichkeit bieten, unüberbrückbare Systemunterschiede zu überwinden.116 Letztlich sollte dies jedoch nicht bloß für das Verfahrensrecht gelten. Ebenso wichtig für das Vertrauen und die Rechtssicherheit sowohl der Betroffenen als auch der Rechtsanwender ist eine Harmonisierung des materiellen Strafrechts. Da der Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit Rechtssicherheit und Vertrauen vermittelt, kann ein Verzicht auf dieses Prinzip zu Unklarheiten über die Reichweite fremden Strafrechts führen. Ausnahme 108 Siehe 109 Siehe 110 Siehe 111 Siehe
112 Siehe 113 Siehe 114 Siehe 115 Siehe 116 Siehe
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2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil
4. Kapitel 2. Kapitel 4. Kapitel 4. Kapitel 4. Kapitel 4. Kapitel 4. Kapitel 2. Kapitel 4. Kapitel
D. II. 1. F. II. D. II. 5. D. IV. 1. D. III. 2. D. III. 3. b), A. II. 2. D. III. 3. a). E. II. 1., 2. D. III. 3. d).
298
3. Teil: Schlussbetrachtung
kataloge der Rechtsinstrumente zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung helfen aufgrund des weiten Umsetzungsspielraums der Mitgliedstaaten und der Begriffsunschärfe der gewählten Kategorien nur bedingt.117 Rechtsharmonisierung kann dieser Unschärfe entgegenwirken. Vertrauen und Rechtssicherheit werden durch die Gewissheit hergestellt, dass in jedem Mitgliedstaat in den harmonisierten Kriminalitätsbereichen zu den nationalen Straftatbeständen funktionale Äquivalente bestehen, die die Bedeutung des Verzichts auf den Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit relativieren. Die Rechtsangleichung wird durch mehrere internationale Übereinkommen und EU-Sekundärrecht vorangetrieben.118 Der Gefahr, dass sich in der EU kumulativ ein Strafrecht maximaler Punitivität entwickelt,119 wird zum einen begegnet durch eine Begrenzung auf hinreichende sachliche Anknüpfungsmomente bei der jeweiligen nationalen Strafverfolgung.120 Zum anderen neutralisieren angeglichene Verbotsbereiche und der Anwendungsvorrang des EU-Rechts die Eigenheiten und die Reichweite der jeweiligen nationalen Strafrechtsordnung.121 Maßgeblich für Vertrauenswürdigkeit ist der Schwellenbegriff für Vertrauensbeziehungen. Vertrauen entsteht nicht auf einmal, sondern schrittweise (Kumulation). Ebenso verfällt gewährtes Vertrauen mit dem schrittweisen Verlust an Vertrauenswürdigkeit.122 Die Erschütterung abstrakten oder konkreten Vertrauens kann das Systemvertrauen stören. Abstraktes Vertrauen wird insbesondere durch Organisations- und Institutionsmängel zerstört. Unmittelbarer Kontakt mit Teilnehmern des Systems stärkt dieses nicht nur, sondern macht es auch verwundbar. Individuelles Fehlverhalten kann konkretes Vertrauen zerstören. Erreichen solche einzelnen Vertrauensbrüche insgesamt eine kritische Schwelle, wird dadurch auch das abstrakte Vertrauen verletzt.123 Für die Strafverfolgung innerhalb der EU bedeutet dies konkret: Das Kooperationssystem zwischen den Mitgliedstaaten ist durch anhaltende Europäisierung zum wesentlichen Bestandteil ihres Rechtshilferechts geworden. Diese grundsätzlich positive Verfestigung schafft jedoch zugleich Probleme. Als abstraktes System ist es auch der Gefahr des Zusammenbruchs des allgemeinen Vertrauens ausgesetzt. Gegenwärtig lässt sich aufgrund diverser Vertrauensstörungen die massive Systemabhängigkeit vom 117 Siehe 118 Siehe 119 Siehe
120 Siehe 121 Siehe 122 Siehe 123 Siehe
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2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil
2. Kapitel 4. Kapitel 2. Kapitel 2. Kapitel 4. Kapitel 4. Kapitel 4. Kapitel
C. II. 3. D. IV. 2. E. I. 1. E. I. 2. D. IV. 2. C. II. 2. a). C. II. 2. b).
3. Teil: Schlussbetrachtung299
Vertrauen beobachten. In der Entwicklung der europäischen Zusammenarbeit (u. a. der justiziellen) zeigt sich derzeit eine Verlangsamung, die sich auf eine grundlegende Vertrauenskrise zurückführen lässt.124 Wegen mutmaßlicher rechtsstaatlicher Mängel werden insbesondere die EU-Neumitglieder Bulgarien, Rumänien und Kroatien kritisiert.125 Diese Kritik ist häufig berechtigt. Allerdings haben sich diese Staaten durch Beitrittsvereinbarungen freiwillig unter erhöhte Beobachtung und Überprüfung der Europäischen Kommission gestellt. Im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten sind daher rechtsstaatliche Defizite besonders gut dokumentiert.126 Versagen vertrauensbildende Maßnahmen insgesamt, so führt dies zu deren Gegenteil und verringert bestehendes Anfangsvertrauen. Vertrauen kann sogar ab einer bestimmten Schwelle in Misstrauen umschlagen. Wesentliche Faktoren für eine rechtsstaatliche Justiz sind die Integrität und Kompetenz ihrer Angehörigen.127 Diese Kompetenz hängt maßgeblich ab von deren Aus- und Fortbildung sowie einer Personalauswahl nach objektiven Kriterien. Hier bestehen teilweise noch erhebliche Mängel bei den Neumitgliedern.128 Zudem trägt Korruption in der Justiz zu einem erheblichen Vertrauensverlust bei. Zwar liegt die Korruptionsbelastung innerhalb der EU auf einem relativ niedrigen Durchschnittsniveau, jedoch wird es von einigen Mitgliedstaaten deutlich überschritten. Grenzwertig für die Vertrauenswürdigkeit wird dies aber erst, sofern eine nationale Justiz überwiegend als korrupt gilt.129 Ebenso sind massenhaft auftretende Verletzungen von Grundrechten und Verfahrensgarantien ein Anzeichen für einen Verlust an Rechtsstaatlichkeit. Bedenklich insoweit sind aktuelle Entwicklungen in Ungarn.130 Zu einem Vertrauensverlust kann auch Intransparenz hoheitlichen Handelns führen, wenn etwa der bestehende Rechtshilfeverkehr umgangen werden soll. Zwar überwindet informelles Handeln die Schwerfälligkeit des Rechtshilfeverfahrens, gleichzeitig beeinträchtigt es jedoch auch den Rechtsschutz des Betroffenen.131 Deshalb besteht auch Bedarf für eine Reform der Rechtshilfe. Durch gegenseitige Anerkennung, Standardisierung und Formalisierung wird das Rechtshilfeverfahren deutlich beschleunigt und effizienter. Hierdurch sinkt der Anreiz, einen vermeintlich einfacheren und schnel124 Siehe 125 Siehe 126 Siehe 127 Siehe 128 Siehe 129 Siehe 130 Siehe 131 Siehe
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2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil
5. Kapitel 4. Kapitel 5. Kapitel 4. Kapitel 4. Kapitel 5. Kapitel 5. Kapitel 5. Kapitel
A. A. A. C. C. A. A. A.
I. und 2. Teil 4. Kapitel A. II. 3. II. 2. II. 3. a). III. 3. e) und 2. Teil 5. Kapitel A. II. 3. a). III. 3. e) und 2. Teil 5. Kapitel A. II. 3. b). II. 3. c). II. 4. II. 2.
300
3. Teil: Schlussbetrachtung
leren Pfad außerhalb der Rechtshilfe einzuschlagen oder zu suchen.132 Auch wegen der Unübersichtlichkeit ihrer Normengesamtheit ist die internationale Rechtshilfe dringend reformbedürftig.133 Jedoch obliegt eine Reform allen Mitgliedstaaten als gemeinsame Aufgabe. Das Konzept des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts erfordert eine flächendeckende Umsetzung der entsprechenden EU-Rechtsakte innerhalb der Mitgliedstaaten. Nur so sind die für das Vertrauen notwendige Rechtseinheit und Gegenseitigkeit zu gewährleisten. Je mehr Mitgliedstaaten zögern, sich vollumfänglich an der justiziellen Zusammenarbeit zu beteiligen und sich selbst rechtlich zu binden, desto mehr schwindet auch das Vertrauen anderer Mitgliedstaaten in die Effizienz und Wirksamkeit des ganzen Systems der gegenseitigen Anerkennung. Dies gilt nicht nur für die Rechtssetzung, sondern auch für die Rechtsanwendung. Gegenwärtig bestehen bereits einige Umsetzungungsdefizite im Sekundärrecht sowie nationale Teilhabevorbehalte im Primärrecht.134 Um Umsetzungsschwierigkeiten zu vermeiden, sollte Deutschland die justizielle Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten gesetzlich nicht im, sondern neben dem IRG regeln.135 Um eine Systemspaltung zu verhindern136 und den Anforderungen an eine transnationale Kriminalitätsbekämpfung gerecht zu werden, müssen die Mitgliedstaaten auf ein einheitliches Niveau rechtsstaatlicher Standards innerhalb der EU hinwirken, und zwar unter Beachtung des Integrationsstands jedes einzelnen Mitglieds. Nur so ist eine intensivere Kooperation möglich.137 Werden rechtsstaatliche Mängel auf Seiten eines Mitgliedstaats nachhaltig beseitigt, kann dies verloren gegangenes Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit seiner Justiz wiederherstellen. Solche Fehler korrigieren könnte eine unabhängige Aufsicht. In der EU bestehen verschiedene Kontrollverfahren nebeneinander. In allen Mitgliedstaaten besteht eine Klagemöglichkeit vor dem EGMR.138 Verletzt ein Mitgliedstaat den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit oder die Wahrung der Menschenrechte, können dessen Rechte in der EU nach Art. 7 EUV suspendiert werden.139 Ein solches Verfahren unterliegt hohen formellen Anforderungen, welche es komplex und langwierig gestalten.140 In Betracht kommt jedoch bei entsprechenden Verstößen auch 132 Siehe 133 Siehe 134 Siehe 135 Siehe 136 Siehe 137 Siehe 138 Siehe 139 Siehe 140 Siehe
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2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil
3. Kapitel 5. Kapitel 5. Kapitel 5. Kapitel 5. Kapitel 5. Kapitel 5. Kapitel 5. Kapitel 5. Kapitel
D. B. A. D. A. B. C. C. C.
II. 1., 2. c) und 2. Teil 5. Kapitel A. II. 2. I. II. 1. a), b). III. II. 1. b), B. III. III. I. II. IV.
3. Teil: Schlussbetrachtung301
eine Aussetzung der gegenseitigen Anerkennung nach einem einfacheren Verfahren. Dies ist zwar weder primär- noch sekundärrechtlich ausdrücklich vorgesehen. Bislang gibt es dazu auch keine einschlägige Rechtsprechung des EuGH. Jedoch lassen sich Rechtsgedanken aus dem Urteil des EuGH vom 21. Dezember 2011 – N.S. u. a., C-411 / 10 und C-493 / 10 – zum Gemeinsamen Europäischen Asylsystem sinngemäß auch auf die justizielle Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten in Strafsachen übertragen.141 Beiden Systemen liegt die Vermutung zugrunde, dass die einzelnen Mitgliedstaaten die Werte des Art. 2 EUV einhalten, wozu auch die Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte gehören. Mithin ist in beiden Bereichen gegenseitiges Vertrauen systemrelevant. Eine Gefahr der Grundrechtsverletzung erschüttert jenes gegenseitige Vertrauen, wodurch die Grundlage der Zusammenarbeit wenigstens vorübergehend entfällt. Tatbestandlich muss jedoch stets eine ernstzunehmende Gefahr vorliegen. Dies ist der Fall, wenn in einem Mitgliedstaat systemische rechtsstaatliche Mängel bestehen.142 Weder verzichtet das EU-Recht bewusst auf die Aussetzung der gegenseitigen Anerkennung justizieller Entscheidungen noch wird diese verdrängt durch das Suspendierungsverfahren nach Art. 7 EUV.143 Um Rechtssicherheit zu gewährleisten, sollte deshalb der Vertrauensgrundsatz ebenso primärrechtlich verankert werden wie das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung. Neben einem qualifizierten Aussetzungsverfahren nach Art. 7 EUV sollte auch ein einfaches Aussetzungsverfahren primär- oder sekundärrechtlich normiert werden. Ebenso ist die RL EEA daher so auszugestalten, dass kein Mitgliedstaat ein fremdes Verfahren unterstützen muss, welches die Grundrechte eines Betroffenen ernstzunehmend gefährdet. Der in der RL EEA mittlerweile festgeschriebene Versagungsgrund im Sinne eines europäischen ordre public ist grundsätzlich ein Schritt in die richtige Richtung, stellt aber das Problem zur Disposition der am jeweiligen Einzelfall beteiligten Mitgliedstaaten. Das ginge auch durchaus einher mit den gegenwärtigen Tendenzen zur Dezentralisierung,144 nämlich die praktische Ausführung des EU-Rechts den Mitgliedstaaten zu überlassen. Für vereinzelt auftretende Grundrechtsverletzungen in einem Mitgliedstaat mag dies auch ausreichen. Liegt jedoch eine systemische Grundrechtsverletzung vor, beeinträchtigt dies die Rechtsstaatlichkeit der Strafrechtspflege im Ganzen. Rechtsstaatlichkeit ist indes zum einen ein elementarer Wert der EU, zum anderen bildet sie die Grundlage für gegenseitiges Vertrauen und so auch für die gegenseitige Anerkennung justizieller Entscheidungen. Geht die 141 Siehe
oben oben 143 Siehe oben 144 Siehe oben 142 Siehe
2. Teil 2. Teil 2. Teil 2. Teil
5. Kapitel 5. Kapitel 5. Kapitel 5. Kapitel
C. C. C. C.
III. 1. III. 2. a). III. 2. b). IV.
302
3. Teil: Schlussbetrachtung
Rechtsstaatlichkeit der Strafrechtspflege eines Mitgliedstaats verloren, entfällt damit auch die Vertrauens- und Geschäftsgrundlage im Verhältnis zu allen übrigen Mitgliedern. Es ist daher vornehmste Gemeinschaftsaufgabe aller Mitgliedstaaten, die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit in der gesamten EU zu überwachen und für Rechtseinheit zu sorgen. Dazu gehört auch die gemeinsame Verantwortung, dass von ihr zur Verfügung gestellte Instrumente richtig angewendet werden und nicht dem Machtmissbrauch dienen. Der EHB und die EEA sind solche Machtinstrumente, bei denen sicher auszuschließen ist, dass sie ein rechtsstaatswidriges Verfahren im Anordnungsstaat unterstützen. Ein bloßer Versagungsgrund scheint dafür nur bedingt geeignet. Eine lediglich dezentrale Kontrolle der Zusammenarbeit durch Gerichte der Mitgliedstaaten hätte nämlich den Nachteil, dass diese jeweils nur eine bilateral wirkende Einzelfallentscheidung treffen könnten, die für andere Mitgliedstaaten unverbindlich wäre, was die Rechtseinheit gefährden würde. Zudem könnte ein lediglich fakultativ ausgestalteter Versagungsgrund entgegen dem vorrangigem Primärrecht unnötig einen Anreiz schaffen, aus nationalstaatlichen Interessen über gravierende rechtsstaatliche Mängel im Anordnungsstaat hinwegzusehen und es allein dem Betroffenen aufzubürden, sich gegen schwerwiegende Rechtsverletzungen wirkungsvoll zu verteidigen. Daher wäre ein solcher Versagungsgrund als Korrektiv besser obligatorisch zu gestalten, ohne dass hierdurch das gegenseitige Vertrauen aufgegeben wird. Vor diesem Hintergrund sollte die Einhaltung des europäischen ordre public ungeachtet des konkreten Einzelfalls letztlich Aufgabe aller Mitgliedstaaten sein, wofür sich ein von einem unbeteiligten Organ geführtes neutrales Aussetzungsverfahren eher eignet.
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Stichwortverzeichnis Abschiebung 272 Anwendungsvorrang des Primärrechts 171, 291, 302 Asylrecht 269 ff., 301 beiderseitige Strafbarkeit 26, 38 ff., 79, 110 ff., 115 f., 168 f., 183 f., 197, 244 ff., 288 ff., 298 Bestimmtheit 27, 59 ff., 280, 288 Beweisverwertung 42, 48, 57 ff., 121 ff., 129, 192, 253, 282 f., 289 Binnenmarkt 110 ff., 120 f., 176, 207, 209, 284 Bußgeldverfahren 30, 42, 76, 144, 166, 292 BVerfG –– Europäischer Haftbefehl 99 ff. –– Lissabon 107 ff., 174, 210 –– Maastricht 107 ff. Datenschutz 41, 128, 187 ff., 289 EGMR –– M. S. S. 270 –– Othman 176 ff. –– Soering 46, 173 ff. –– Stojkovic 60 EJN 62, 136, 150, 224, 252 Entbettungsmechanismen 204 ff. EuGH –– Advocaten voor de Wereld 91 ff. –– Åkerberg Fransson 167, 240, 242 –– Digital Rights Ireland 95 –– Melloni 178 –– N.S. 271 –– Radu 172 ff., 181, 279 –– Stauder 241 Eurojust 150, 224 Exequatur 54, 80 ff.
Faires Verfahren 60, 66, 107, 117, 120, 173 ff., 192, 219, 229 ff., 241 ff., 289 Fishing-expeditions 62, 147 Folterverbot 47 f., 177, 242, 272 Formfehler 27, 184 f., 290 Forum shopping 27, 61, 118 ff., 148, 289 Fremdrechtsanwendung 26, 57 ff., 109, 151 ff., 165, 289, 296 Gegenseitigkeit 26, 37 ff., 43, 64, 67, 79 f., 218, 248 ff., 287, 293 ff., 300 gemeinsame Ermittlungsgruppe 134 f., 224, 253 Geschäftsweg 42, 51 f., 158, 284 Globalisierung 28, 204 ff., 248, 292 ff. Grundrechtsvorbehalt 120, 169 ff., 279 Haager Programm 72 f., 126 Harmonisierung 28, 86, 88, 90, 93, 97, 106, 116, 118, 120 ff., 154, 196, 222, 233 ff., 297, 298 Integration –– europäische 25 f., 99, 104, 107 ff., 198, 205 ff., 235 ff., 250 ff., 262 ff., 281 –– Völkerrechtsordnung der Staaten gemeinschaft 47, 175, 293 Jurisdiktionskonflikt 102, 103 Komplexität 28, 78, 159 f., 201 ff., 292, 295 Kosten der Vollstreckung 42, 128, 150, 155, 186 f., 193 Maximale Punitivität 115 ff., 298 Nacheile, grenzüberschreitende 156
326 Stichwortverzeichnis
Ne bis in idem 26, 34, 49, 116 f., 167, 218, 242, 292 Nulla poena sine lege 39, 97, 287 Ordre public –– Europäischer 26 f., 44, 169 ff., 181, 183 f., 278 f., 288, 290 f. –– Nationaler 43 ff., 59, 154 f., 178 f., 290 f. Race to the bottom 118, 120, 297 Rahmenbeschluss –– Beweisanordnung 74, 82, 95, 126 f., 128 ff., 142, 144, 188, 191, 283 –– Haftbefehl 34, 71, 77, 87, 89 f., 94 f., 99, 101, 103, 121, 126, 159 ff., 171 ff., 197, 233, 248 ff., 262, 265, 271, 274 f., 277, 280, 282, 290, 291, 302 –– Sicherstellung 73, 87, 126, 131 ff., 136, 283 Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts 26, 70, 86, 110 ff., 120, 172, 195, 219, 254, 262, 267, 273, 282, 291, 296 Rechtseinheit 184, 221, 248 ff., 261, 267, 272, 278, 290, 291, 300, 302 Rechtsschutz –– Rechtswegspaltung 65 ff., 190, 293 –– Suspensiveffekt 191, 289 Rechtssicherheit 27, 40 f., 70, 79, 97 ff., 112 ff., 223, 227, 244 ff., 276, 287 f., 297, 301 Richterliche Unabhängigkeit 50 f., 56, 66, 143, 177, 254, 255, 259, 260, 285 Richtervorbehalt 139 ff., 154 f., 288, 293 Schengen-acquis 34, 205, 207, 250 ff., 256 Souveränität 26, 29, 30, 39, 40, 55, 79, 82, 100, 110, 199 f., 210, 235, 237, 251, 266 f., 281, 287, 292
Spezialität 26, 41, 42, 289 Stockholmer Programm 73, 123, 282 Subsidiarität 35, 50, 132, 176, 194, 234, 236, 297 systemische Mängel 271, 273, 301 Tampere Programm 70 ff., 113, 231, 234 Tatverdachtsprüfung 61 ff., 64 ff., 145, 293 ff. Territorialität 31, 32, 75, 85, 100 ff., 168, 204, 211, 292 Todesstrafe 45 f., 179, 272, 290 transnationaler Verwaltungsakt 88, 222, 284 Unschuldsvermutung 105, 170, 242 Verhältnismäßigkeit 26 f., 42, 46 f., 96, 100, 146 ff., 170, 176, 179 ff., 194, 230, 234, 236, 290, 297 Verjährung 38, 158 Vertrag von Amsterdam 34, 70 Vertrag von Lissabon 25, 72, 110, 138, 228, 233, 240 f., 250, 266, 282 Vertrauen –– abstraktes 221, 226, 296, 298 –– blindes 196, 211, 212, 216, 295 –– System~ 28, 216, 220, 296, 298 –– vertrauensbildende Maßnahme 28, 220 ff., 248, 296, 299 –– Vertrauensschwelle 202, 215 f., 226, 254, 298 f. –– Vertrauenssymbol 215, 217 Vollstreckungshilfe 30, 36, 38, 53, 65, 68, 80, 88, 97, 284 Zentralbehörde 50, 136, 149, 150, 193, 285 Zeugnisverweigerungsrecht 164, 244