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German Pages 290 Year 1990
KARSTEN SCHMIDT (Hrsg.)
Rechtsdogmatik und Rechtspolitik
Hamburger Rechtsstudien herausgegeben von den Mitgliedern des Fachbereichs Rechtswissenschaft I der Universität Harnburg Heft 78
Rechtsdogmatik und Rechtspolitik Hamburger Ringvorlesung
im Auftrage des Fachbereichs herausgegeben von
Prof. Dr. Karsten Schmidt
Duncker & Humblot · Berlin
Gedruckt mit Unterstützung der Johanna und Fritz Buch-Gedächtnisstiftung in Harnburg
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Rechtsdogmatik und Rechtspolitik: Hamburger Ringvorlesung I im Auftr. d. Fachbereichs hrsg. von Karsten Schmidt. - Berlin: Duncker u. Humblot, 1990 (Hamburger Rechtsstudien; H. 78) ISBN 3-428-06849-1 NE: Schmidt, Karsten [Hrsg.]; GT
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1990 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0072-9590 ISBN 3-428-06849-1
Vorwort Rechtsdogmatik und Rechtspolitik stellen sich auf den ersten Blick als ein gegensätzliches Paar dar, so, als dürfe de lege Iata nur rechtsdogmatisch und de lege ferenda nur rechtspolitisch gedacht werden. Daß dieser einfache Gegensatz so nicht zutrifft, ist bei näherem Hinsehen unschwer festzustellen. Unbehaglich ist dies in Anbetracht der Notwendigkeit, die Iex lata von der Iex ferenda zu unterscheiden. Dieses Spannungsverhältnis einem studentischen Publikum in einer losen Folge von Vorträgen vor Augen zu führen und mit den Teilnehmern über die vorgetragenen Thesen zu diskutieren, war das Anliegen einer Ringvorlesung über "Rechtsdogmatik und Rechtspolitik" bei dem Fachbereich Rechtswissenschaft I der Universität Harnburg im Sommersemester 1989. Die Veranstaltung fand bei den Studenten des Fachbereichs ein erfreuliches Echo und führte in vielen Fällen zu anregenden Diskussionen. Dies hat die in diesem Band versammelten Referenten ermutigt, ihre Vorträge in schriftlicher Form geschlossen vorzulegen. Der Charakter der Vorlesungsreihe als Lehr- und Diskussionsveranstaltung für Studenten wurde dabei ebensowenig geändert wie das notwendig uneinheitliche Bild des Themenverständnisses und der Themenbehandlung durch die Referenten. Auch die chronologische, nicht nach Themenkomplexen gegliederte, Reihenfolge blieb erhalten. Nicht ein in sich geschlossenes monographisches Werk über Rechtsdogmatik und Rechtspolitik, wohl aber eine sich um das Thema rankende Folge exemplarischer Referate, wie sie dem Bild einer Ringvorlesung entspricht, liegt damit vor. Zugleich wird das Anliegen des Fachbereichs sichtbar, die bei ihm Lernenden neben der Vermittlung von Examenswissen und von praktischem Rüstzeug auch mit rechtswissenschaftlicher Diskussion zu konfrontieren. Die Veröffentlichung in der Schriftenreihe des Fachbereichs wurde ermöglicht durch einen Druckkostenzuschuß der Johanna und Fritz Buch Gedächtnisstiftung in Hamburg. Hierfür sei auch an dieser Stelle gedankt. Hamburg, Weihnachten 1989
Karsten Schmidt
Inhaltsverzeichnis Karsten Schmidt
Zivilistische Rechtsfiguren zwischen Rechtsdogmatik und Rechtspolitik. Exemplarisches zum Programm der Ringvorlesung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ulrich Karpen
Münchhausen und die Demokratie. Zum Kommunalwahlrecht für Ausländer, auch im Blick auf die Harnburger Bezirksversammlungen . . . . . . . . . . . . .
33
Michael Köhler
Strafgesetz, Gnade und Politik nach Rechtsbegriffen
57
Hein Kötz
Rechtsvergleichung und Rechtsdogmatik
75
Carl-Eugen Eberle
Transparenter Datenschutz durch Informations- und Kommunikationspläne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
91
Hans Hermann Seiler
Rechtsgeschichte und Rechtsdogmatik
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
Gerhard Fezer §§ 129, 129a StGB und der strafprozessuale Tatbegriff. Ein Beitrag zur Wehrlosigkeit der Dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
Dirk Olzen
Prozeßkostenhilfe und Prozeßkostenvorschuß
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
Kurt See/mann
Dogmatik und Politik der "Wiederentdeckung des Opfers" . . . . . . . . . . . . 159 Götz Landwehr
Abstrakte Rechtsgeschäfte in Wissenschaft und Gesetzgebung des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
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Inhaltsverzeichnis
Peter Selmer
Rechtsdogmatik und Rechtspolitik unter der Finanzverfassung des Grundgesetzes 221 Frank Peters
Rechtsdogmatik und Rechtspolitik im Werkvertragsrecht. Leistungen des 235 Gesetzgebers und der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus-Peter Martens
Die Treupflicht des Aktionärs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 RolfHerber
Deutsche Zivilrechtskodifikationen und internationale Rechtsvereinheitlichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269
Zivilistische Rechtsfiguren zwischen Rechtsdogmatik und Rechtspolitik Exemplarisches zum Programm der Ringvorlesung*
Von Karsten Schmidt I. Grundlagen
1. Zerrbilder, oder: Dürfen wir uns blind stellen? Wenn Nichtjuristen über Juristen sprechen, stehen ihnen meistens zwei völlig gegensätzliche Gestalten vor Augen. Da steht auf der einen Seite der intellektuelle Spießer: ordnungsliebend, gesetzestreu, gefühllos und ohne Phantasie, kurz: der treffliche Verwalter von Recht und Ordnung. Ihm gegenüber steht der intellektuelle Zauberkünstler: gewandt, trickreich, stets auf der Suche nach der berühmten Gesetzeslücke und stets erfolgreich, weil dem Gesetzgeber- pfui! -nur lückenhafte Gesetze einfallen. Darüber, ob diesach-zwei Seelen in der Brust jedes Juristen sind, macht sich der Laie wohl keine Gedanken. Meistens werden ihm beide Gesichter des Juristen in Gestalt säuberlich getrennter Individuen vorgestellt: z. B. als engstirniger Staatsanwalt auf der einen Seite und auf der anderen als findiger Advokat, dessen Trickkiste alles zum Besten wenden wird. Die Teilnehmer unserer Ringvorlesung als- jedenfalls werdende - Juristen mögen sich fragen , was diese Vorrede im Hörsaal und gar in einer juristischen Vorlesung zu suchen hat. Als Fachleute sind wir uns gewiß darüber einig, daß das geschilderte Gegensatzpaar ein Zerrbild ist. Aber damit bin ich auch schon beim Thema. Denn ein ganz ähnliches Zerrbild, wie es dem Laien auf dem flimmernden Bildschirm entgegentritt, droht - wenn auch auf höherer intellektueller Ebene - im Hörsaal oder im Seminar. Das Zerrbild, von dem ich sprechen will, hat einen Namen: Rechtspolitik versus Rechtsdogmatik. Oder: Rechtsfortbildung versus Gesetzestreue! Eine rechtstheoretische Diskussion, die diesen Gegensatz verabsolutiert, ist durch eine sonderbare Polarisierung gekennzeichnet: • Der Beitrag versteht sich nicht als eine rechtsmethodische Grundlegung zum Thema "Rechtsdogmatik und Rechtspolitik" , sondern, gemäß dem Anlaß seines Entstehens, als Einführung in die Probleme der Ringvorlesung; die Nachweise beschränken sich auf exemplarische Fundstellen; der Vortragsstil wurde in der Druckfassung beibehalten; die angehängten Thesen lagen den Hörern vor.
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- Da stehen auf der einen Seite Künder des Richterrechts, die der traditionellen Dogmatik den Kampf ansagen!. - Ihnen steht eine Phalanx der Gesetzestreuen gegenüber, die um die Legalordnung fürchten und das sogenannte Richterrecht als einen antidogmatischen Modetrend verteufeln2. Die Argumente der beiden Seiten lassen sich auf eine Reihe von Leitmotiven zurückführen. Die Partei der Gesetzestreuen verweist auf die Gewaltenteilung. Sie zeigt auf dramatische Fälle von Richterwillkür - am meisten Prügel bezieht hier das Bundesarbeitsgericht3 -,und sie warnt vor einer Verwechselung rechtspolitischer Ziele mit dem geltenden Recht. Rechtsanwendung, so lehrt diese Partei, ist Erkenntnisprozeß, und ihm hat das rechtsdogmatische Gerüst zu dienen. Fortschritt kann de lege lata nur Erkenntnisfortschritt sein. Wer mehr will, der halte sich an den Gesetzgeber. Wer ihn übergeht, begeht Rechtsbruch. Die Gegenansicht singt das Hohelied der Rechtsfortbildung. Um sie in ein möglichst grelles Licht zu rücken, muß zunächst die Erbärmlichkeit der tradierten Gesetze4 und die Nutzlosigkeit der Rechtsdogmatik für das Recht unserer Tage herausgestellt werden. Ein Teil meiner Zuhörer - ich spreche von denen, die sich in der Methodenliteratur ein wenig auskennen - wird bemerken, daß ich Extrempositionen geschildert, also, wie angekündigt, ein Zerrbild und nicht ein vollständiges Meinungsspektrum entworfen habe. Aber genau diesen Zuhörern werden auch namhafte Vertreter dieser Meinungen einfallen. Ich will vorerst keine Namen nennen, denn dies zwänge mich zu einer ausführlichen Exegese von wissenschaftlichen Texten und zu einer ausführlichen Einzelkritik, die den Rahmen der Vorlesung überschritte. Vielmehr will ich, wie gewiß auch mancher meiner Nachfolger in der Ringvorlesung, eine These zur Diskussion stellen. Sie finden sie als These Nr. 1 auf dem ausgeteilten Blatt (unten im Schlußteil unter V. 2.): Rechtsdogmatik und Rechtspolitik sind keine Gegensätze. Manche Zuhörer- es dürften dieselben sein, von denen ich soeben sprachwerden sich bewußt sein, daß diese These zwar von mir formuliert, aber sach1 Vgl. vorerst als besonders charakteristisches Beispiel und zugleich grundlegend zur Rechtsfortbildung Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 2. (unveränderte) Auf!. 1964, S. 25ff. , 138ff. , insbes. 242ff., 284ff. 2 Vgl. vorerst, wiederum als besonders deutliche Belege, Ernst Wolf, Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts, 3. Auf!., 1982, S. 676ff.; ders., ZRP 1982, 4; H.J. Hirsch, JR 1966, 341 f. (dort findet sich auch der vielzitierte Appell: "Zurück zum Gesetz!"). 3 Vgl. namentlich BVerfGE 65, 128 = NJW 1984, 475 gegen BAGE 31, 176 = NJW 1979, 774; s. auch die Belege bei Picker, JZ 1988, 2. 4 Vgl. in dieser Richtung etwa Kübler, Über die praktischen Aufgaben zeitgemäßer Privatrechtstheorie, 1975, S. 31ff., 35, 41ff., 46ff. ; ders., JZ 1969, 647f., 651; ders., DRiZ 1969, 382f.
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lieh nicht eben neu ist. Das ist richtig. Allerdings will ich wieder auf Namensnennungen verzichten, denn bei keinem Autor, auf den ich mich hier berufen könnte, bin ich mir sicher, wie weit die Übereinstimmung im einzelnen reicht5. Beginnen wir da, wo Konsens herrscht. Wenn wir jetzt gemeinsam auf den zweiten Satz meiner ersten These blicken, rechne ich zunächst mit gelangweilter Zustimmung. Es ist eine Banalität, daß die Rechtsanwendung nicht blind sein darf für die Politik des Gesetzes6. Jede teleologische Gesetzesauslegung geht auf rechtspolitische Fragen zurück7. So kann die Konkretisierung gesetzlicher Generalklauseln - im BGB etwa der §§ 138, 242, 826, 1666- nicht frei sein von rechtspolitischen Wertungens, und dasselbe gilt für die Feststellung, welche Rechtsnormen Verbotsgesetze i. S. von § 134 BGB9 oder Schutzgesetze i. S. von § 823 Abs. 2 BGB sindlO. Nicht zuletzt das Deliktsrecht bietet Beispiele zuhauf. Man denke nur an den Schutz des Persönlichkeitsrechtsll oder des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb12 oder (auf der Schadensseite) an das Schmerzensgeld n und an die Kommerzialisierung des Entgangs von Nutzungen oder geldwerten Genüssen14. In BGHZ 59, 5 Überhaupt keine nennenswerten Aussagen zum Verhältnis von Rechtspolitik und Rechtsdogmatik finden sich - trotz des insoweit vielversprechenden Titels - bei Rümelin, Rechtspolitik und Doktrin in der bürgerlichen Rechtspflege, 1926, passim. 6 Vgl., außerordentlich weitgehend, Steindorff, in: Festschrift Larenz, 1973, S. 217ff.; dazu klärend Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S. 318f. ; vgl. ferner Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 1981, Rdnrn. 71ff., 240. 7 Deutlich Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1970, S. 7f., 79, 159ff., 174, 194; vgl. auch Zinke, Der Erkenntniswert politischer Argumente in der Anwendung und wissenschaftlichen Darstellung des Zivilrechts, 1982, S. 154ff., 159ff. s Vgl. nur Esser I Stein, Werte und Wertewandel in der Gesetzesanwendung, 1966, S. 28ff., insbes. S. 35, 37,39 (für§ 138 BGB); Esser, Vorverständnis (Fn. 7), S. 56ff., 59, 84f.; ähnlich ders., AcP 172 (1972), 105f.; vgl. auch Hedemann, Die Flucht in die Generalklauseln, 1933, S. 50, 71 ff.; Kübler, JZ 1969, 650f. 9 Vgl. dazu Canaris, Gesetzliches Verbot und Rechtsgeschäft, 1983, S. 17ff. ; Seiler, in: Gedächtnisschrift für Wolfgang Martens, 1987, S. 725ff. w Ich habe die Ermittlung von Schutzgesetzen als "eine Frage de lege lata geübter Rechtspolitik" bezeichnet (Karsten Schmidt, Kartellverfahrensrecht-Kartellverwaltungsrecht-Bürgerliches Recht, 1977, S. 360; zustimmend Brüggemeier, Deliktsrecht, 1986, S. 470 und ähnlich auch S. 466; "judizielle Schutzpolitik de lege lata"). Nicht zu folgen vermag ich Frank Peters, JZ 1983, 913ff., der das Schutzgesetzprinzip durch positive Schutzgesetzkataloge ablösen will. 11 Dazu zuletzt Dunz, in: RGRK, 12. Aufl., 62. Lfg. 1989, Anh. I zu§ 823, insbes. Rdnrn. 5ff. 12 Dazu Soergel/ Zeuner, BGB, 11. Aufl. 1985, § 823 Rdnrn. 92ff. 13 Vgl. zur Funktion des Schmerzensgeldes H. Honsell, VersR 1974, 205; Mertens, in: MünchKomm BGB, 2. Aufl. 1986, § 847 Rdnrn. 2ff. 14 Vgl. zu entgangenen Gebrauchsvorteilen bei Kfz: BGHZ 40, 345; 45, 212; 56, 214; 63, 203; 65, 170; 85, 11; bei Privatflugzeug: OLG Karlsruhe, MDR 1983, 575; zur Beeinträchtigung des Urlaubs: BGHZ 63, 98; 77, 116; OLG Köln, NJW 1974, 561; OLG Frankfurt, NJW 1967, 1372; zur Beeinträchtigung der Arbeitskraft des Geschädigten: BGHZ 50, 304; zum Nutzungsausfall bei Beschädigung eines Wohnhauses:
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30 und in BGHZ 63, 124 entschied der BGH über die Haftung von Mittätern, Nebentätern und Gehilfen bei Demonstrationen und Hausbesetzungen. Da gab es Beifall und Ablehnung, aber einig war man sich doch in dem Ausrufl5: "Ach nein, wie politisch brisant kann doch die Anwendung des BGB durch unsere Richter und seine Auslegung durch unsere Professoren sein!" Erinnert sei weiter an die Rechtsprechung zur Geschäftsführung ohne Auftrag, die immer neue Ausgleichstatbestände geschaffen hat, wo sie positivrechtliche Gebührenregelungen vermißtei6. Charakteristisch ist etwa das Urteil BGHZ 65, 384: Da hatte ein Schiff auf dem Mittellandkanal Anker und Lukendeckel verloren. Der Bundesgerichtshof befand, daß die Bundesrepublik den Einsatz ihrer Taucher als Geschäftsführung ohne Auftrag bezahlt erhalte, und er entschied weiter, daß zum Aufwendungsersatz sogar ein Gemeinkostenzuschlag gehöre. Darüber, ob dies von§ 683 BGB gedeckt ist, kann füglieh gestritten werden, aber es gibt andere Beispiele, bei denen die Zuerkennung von Aufwendungsersatz nicht einmal rechtspolitisch überzeugt: Wer als Kaufmann von einem Wettbewerbsverein eine Abmahnung, also eine Art Drohbrief, erhält, muß nach BGHZ 52, 393 hierfür eine Gebühr als Aufwendungsersatz zahlen, denn der Wettbewerbsverein-sodas Verständnis des Bundesgerichtshofs- ist ja tätig, um den Wettbewerbssünder auf den Pfad der Tugend zu bringen, und dieser muß ihm seine ungebetene Tätigkeit durch Zahlung von Aufwendungsersatz danken.
Die Beispiele ließen sich hundertfach vermehren, aber ich stehe nicht vor Ihnen, um die Ergebnisse der höchstrichterlichen Rechtsprechung hier zu bejubeln und da zu beklagen. Es geht vielmehr um die Beschaffenheit unserer Rechtsordnung, und wenn sich diese nicht an holzschnittartige Zerrbilder hält, dann wird dies zwar den Kundigen nicht verwundern, es ist und bleibt aber dennoch beunruhigend.
OLG Koblenz, NJW 1989, 1808. Vgl. schließlich jüngst die kritische Auseinandersetzung von Medicus (NJW 1989, 1889ff.) mit der vom BGH postulierten (grundlegend BGHZ 98, 212) Beschränkung der Geldentschädigung wegen Nutzungsentgangs auf "Wirtschaftsgüter von allgemeiner, zentraler Bedeutung für die Lebenshaltung". 15 Die souveränste Variante dieses allgemeinen Urteils findet sich wohl bei Ballerstedt, JZ 1973, 105: "Wenn jemandem die politische Funktion der Privatrechtsinstitute noch eine verschwommene Vorstellung sein sollte, so kann er sich den Zusammenhang zwischen Privatrecht und Politik vortrefflich an den Beispielen klar machen, die der zivilrechtliche Schutz von Rechtsgütern gegen eine Verletzung anläßlich Demonstrationen liefert." Vgl. ferner die (im einzelnen unterschiedlichen) Stellungnahmen von Wiethölter, KJ 1970, 135ff. ; Diederichsen I Matburger, NJW 1970, 782f. ; Kollhosser, JuS 1969, 513ff.; Stürner, VersR 1984, 307. 16 Vgl. nur BGHZ 40, 28; 63, 167; 65, 354; BGH, VersR 1963, 1074.
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2. Die methodische Paralleldiskussion, oder: Worum es mir geht
Neben der gerichtlichen Praxis- nicht so sehr, wie es manche gern sähen, als Basis rechtspolitischer und rechtspraktischer Schritte dieser Judikatur läuft, die Rechtsentwicklung kommentierend, ordnend, legitimierend oder kritisierend, eine rechtsmethodische Diskussion, in der die hier bemerkten Verschränkungen von Rechtsdogmatik und Rechtspolitik wiedererkannt werden können. Zu Mißverständnissen verleitet zunächst der Streit um die Frage, ob Rechtsdogmatik wertungsneutrale Begriffsarbeit ist- wie dies Josef Esser 17 untersteJltlB - oder ob aus ihr wertorientiertes Denken spricht, wie dies vor allem Kar/ Larenz lehrt19. Da beide Seiten auf wertorientiertes Denken nicht wirklich verzichten können, geht es bei diesem Dissens nicht eigentlich um die Grenzen erlaubter Rechtsanwendung, sondern darum, ob die "auf das positive Recht schlechthin bezogene Denkarbeit"20 teilbar ist in einen wertenden und einen wertungsneutralen, dogmatischen Bereich, der "nicht aus sich selbst produktiv, aber doch ... stabilisierend und reproduktiv" funktioniert21 und vor allem als "Kontrollinstanz . .. die Verträglichkeit von Lösungen mit anderweit vorgegebenen Regelungen sichert"22. Ich selbst vermag solche Schichtenbildung in der Methode von Rechtserkenntnis und Rechtsanwendung nicht zu erkennen, verstehe vielmehr die Dogmatik mit Kurt Ballerstedt23 als "die Lehre von den verbindlichen Verkörperungen des Geistes im systematischen Zusammenhang einer Wissenschaft", was nichts anderes bedeutet als: Rechtsdogmatik ist als Methode für die Ermittlung "richtigen" Rechts unteilbar. Es gibt keine Aufteilung in wertungsfreies Kalkül und rechtspolitische Wertung, und es gibt in diesem Sinne keine Unvereinbarkeit rechtspolitischen und rechtsdogmatischen Denkens24. Bevor ich hier mißverstanden werde, sei kurz ein Doppeltes klargestellt: Die Vereinbarkeil rechtspolitischen Denkens mit rechtsdogmatischem Denken besagt nicht, daß alles, was de lege ferenda erlaubt ist, auch als Iex lata 17 Das Referat enthielt hier den Zusatz: "und ausgerechnet er!". Ein Zuhörer verstand dies i. S. einer vorurteilhaften Parteinahme gegen Esser. Der Zusatz bezog sich indes allein darauf, daß das Postulat wertungsneutraler Begriffsarbeit eher bei einem Privatrechtier zu erwarten wäre, der von einer apolitischen Privatrechtsordnung ausgeht. 18 Esser, AcP 172 (1972), 97ff.; ders., Vorverständnis (Fn. 7), S. 91f. 19 Larenz, Methodenlehre (Fn. 6), S. 215ff. ; s. auch Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 1982, S. 32f.; Picker, JZ 1988, 6. 20 Esser, AcP 172 (1972), 98. 21 Esser, AcP 172 (1972), 103. 22 Esser, AcP 172 (1972), 104. 23 Ballerstedt, in: Gerhard Dulckeit als Rechtshistoriker, Rechtsphilosoph und Rechtsdogmatiker, Reden zu seinem Gedächtnis, 1955, S. 27. 24 Einen derartigen Gegensatz konstruiert aber Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 1967, S. 195f.
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ausgegeben werden kann25; sie besagt auch nicht, daß jeder Gegenstand gesetzlicher Anordnung tauglicher Gegenstand dogmatischen Denkens wäre26. Mich haben, als unsere Ringvorlesung geplant wurde, besorgte Mahner darauf hingewiesen, daß etwa die Länge einer Verjährungsfrist, die Einführung und Wiederabschaffung der Quellensteuer oder die Strafbarkeit der Notzucht unter Verheirateten nicht mit den Mitteln der Rechtsdogmatik geklärt werden könne. Meine Zuhörer mögen mir glauben, daß dies auch mir nicht entgangen ist. Unsere Gesetze haben eben teils ordnenden, teils darüber hinaus anordnenden Charakter. Gesetzliche Anordnungen können mit Mitteln der Rechtsdogmatik nicht ohne weiteres erschlossen werden. Aber anderes gilt für Gesetzesnormen, die nur Ausdruck und Teil der rechtlichen Institutionenlehre sind (damit sind wir bei meiner These Nr. 2). Hier setzt ein Rechtsverständnis an, das ich in einer Arbeit über "Die Zukunft der Kodifikationsidee" näher entwickelt habe und das meiner zweiten These zugrunde liegt: Die Rechtsordnung ist als ein System zu begreifen, das sich im Zustand dauernder Selbstbereinigung befindet27. Unsere Gesetze können - jedenfalls auf dem Gebiet des Zivilrechts - nur eine Rahmenordnung vorgeben. Diese geht aus vorgefundenen Rechtsentwicklungen hervor und geht in den Fortgang der Rechtsentwicklung ein. Recht und Rechterkenntnis befinden sich in einem ständigen Lernprozeß, in einem ständigen Dialog von Frage und Antwort, sind ständig auf der Suche nach einer geistigen Mitte und fordern zu ständig neuen Abstimmungsbemühungen heraus. Bei all dem geht es, wohlgemerkt, nicht um die Demontage des Gesetzesrechts. Im Gegenteil: Ich verteidige unsere Gesetze gerade gegen jene, die nicht müde werden, vor allem dem BGB anzulasten, es sei ja so alt, so abstrakt und so lückenhaft28. Um dem Auftrag unserer Gesetze als Rahmenordnungen zu genügen, muß sich aber die Rechtsanwendung auf ihren Fortbildungsauftrag besinnen, und deshalb ist die sogenannte Rechtsfortbildung eine Normalität, mit der wir allezeit leben müssen. Wenn Rechtsfortbildung von den einen als hochaktueller Emanzipationsakt gefeiert und von den anderen als rechtsbeugerische Bilderstürmerei gebrandmarkt wird, dann spricht daraus ein falsches Gesetzesverständnis. Wer die Pandektenliteratur des neunzehnten Jahrhunderts - also die Literatur zum "heutigen römischen Recht" -ein wenig kennt, wird feststellen, daß ihr das Institut der Rechtsfortbildung eine Selbstverständlichkeit war. Rudolf von Jherings "Geist des römischen Rechts" ist eine Methodenlehre der Rechtsfortbildung. Und Julius von Kirchmann sprach in 25 In diesem Sinne wurde mein Ansatz bei einer über ein anderes Thema mit Studenten der Universität München geführten Diskussion mißverstanden. 26 Der Sache nach auch Noll, Gesetzgebungslehre, 1973, S. 202ff., 207ft. (insbes. 212f.), 250ft.; Esser, Vorverständnis (Fn. 7), S. 82, 85. 27 Eingehend Karsten Schmidt, Die Zukunft der Kodifikationsidee, 1985, insbes. S. 51, 67, im Anschluß an Nol/, Gesetzgebungslehre (Fn. 26), S. 214ff., 234ff. 28 Karsten Schmidt, Kodifikationsidee (Fn. 27) , S. 12, 17, insbes. 23ff.
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seinem berühmten Vortrag über die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft bereits 1848- also vor 140 Jahren!- von der" vielgerühmten Fortbildung des Rechts durch die Juristen". Es besteht also nicht der geringste Anlaß, die Rechtsfortbildung zum letzten Schrei hochzustilisieren oder vor diesem vermeintlich so neuen Phänomen in Weltuntergangsstimmung zu verfallen. Lernen müssen wir allerdings, damit dogmatisch umzugehen, und dies lehrt einer, der uns noch näher beschäftigen wird: Rudolfvon Jhering. II. Rechtspolitik ohne Rechtsdogmatik?
1. Rechtsdogmatik und Gesetzgebung Ich komme zu meiner dritten These. Soll der Gesetzgeber dogmatisch arbeiten? Ja und nein. Zunächst gilt der Grundsatz: "Lex moneat, non doceat." Das Gesetz ist kein Lehrbuch. Es hat nicht Rechtsfiguren zu beschreiben, sondern Regelungen zu treffen29. Hiergegen wird bisweilen verstoßen. Von der Urhebergemeinschaft- mehrere Miturheber eines Werkes- sagt§ 8 Abs. 2 UrhG sinngemäß: "Dies ist eine Gesamthand." Ob eine Gesamthand vorliegt oder eine Bruchteilsgemeinschaft, ist nun allerdings sehr umstritten3o. Kann uns der Gesetzgeber in der dogmatischen Einordnung binden? Er kann es nicht. Gesetzestreue heißt Treue gegenüber den Regelungen des Gesetzgebers, nicht gegenüber der rechtsdogmatischen Einschätzung seiner Regelungen. Ein ganz primitives Beispiel soll dies verdeutlichen: Das Handelsgesetzbuch bezeichnet -historisch bedingt- die Vertretungsmacht mit konstanter Bosheit als eine Ermächtigung31. Niemand stört sich daran. Das ist ein terminologischer Schönheitsfehler, mehr nicht! Geht nun deshalb die Rechtsdogmatik den Gesetzgeber nichts an? Das wäre ein Trugschluß. Wer keinen dogmatischen Überblick hat, wird niemals gute Gesetze zustandebringen. Man hat mich belehren wollen, der Gesetzgeber müsse zuallererst ein guter Empiriker und sodann ein kluger Politiker sein; Dogmatik sei für die Rechtsanwendung da. Dem ist zu widersprechen. Ich brauche nur an den Allgemeinen Teil des BGB oder des StGB oder an das Verwaltungsverfahrensgesetz zu erinnern, um zu verdeutlichen, daß es ohne Dogmatik nicht geht. Souveräne Gesetzestechnik erkennt man daran , daß Tatbestände und Rechtsfolgen schnörkellos aneinandergeknüpft werden und daß dennoch ein dogmatisch stimmiges Gesamtkonzept erkennbar wird.
29 Daß Dogmatik überhaupt nicht Aufgabe des Gesetzgebers ist, betont auch Esser, Grundsatz und Norm (Fn. 1), S. 147. Jo Dazu m.w.N. Karsten Schmidt, in: MünchKomm. BGB, 2. Auf!. 1986, § 741 Rdnr. 58. 31 Vgl. nur§§ 49 Abs. 1, 125 Abs. 1 HGB.
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Wie wichtig dies ist, erkennt man am besten an abschreckenden Beispielen. Ein trauriges Beispiel hat sich der Gesetzgeber im Kartellrecht geleistet. Worum es geht, läßt sich auch Zuhörern ohne Wahlfachwissen ganz einfach erklären. Das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen von 1957 wollte und will Kartelle verbieten, das sind horizontale Marktabsprachen unter Unternehmen. Beispielsweise ist es verboten, daß die Bäcker eines Ortes Mindestpreise für Brötchen oder die Zementhersteller der Bundesrepublik Mindestpreise für Zement vereinbaren. Es ist verboten, wenn Warenhersteller Qualitätsbegrenzungen vereinbaren oder wenn die Bauunternehmer von Harnburg sich gegenseitig durch verabredete Gebote die Ausschreibungsaufträge der Hansestadt zuschanzen. Als man das Kartellgesetz von 1957 schuf, stellte man sich unter Kartellen, die früher einmal erlaubt waren, Verträge vor. Welche Konsequenz zog der Gesetzgeber? Er schrieb in das Kartellgesetz hinein, daß Kartellverträge unwirksam sind (§ 1 GWB). Sodann erklärte er, daß eine Ordnungswidrigkeit begeht, wer sich über die Unwirksamkeit der Verträge hinwegsetzt(§ 38 GWB). Dieser Ansatz war zwar historisch-empirisch erklärlich, denn man identifizierte eben Kartelle und Kartellverträge. Er war aber dogmatisch und aus demselben Grunde auch rechtspolitisch falsch, denn der Gesetzgeber wollte Kartelle verbieten. Die Strafe für diese Nachlässigkeit des Gesetzgebers folgte auf dem Fuße. Kaum war das GWB in Kraft , da begann auch schon eine erstaunliche Diskussion32. Was ist, wenn den Kartellbeteiligten der Rechtsbindungswille fehlt? Wie beurteilen wir ein gentleman's agreementunter Konkurrenten? Werden am Ende diejenigen belohnt, die das Kartellverhot absichtlich und in voller Verbotskenntnis verletzen, weil sie mangels Bindungswillens keine Kartellverträge schließen? Um die Brisanz des damals entstandenen Problems zu verdeutlichen, will ich ein absichtlich absurd konstruiertes Beispiel bilden: Das Kartellamt verhängt Millionenbußen gegen Versandhändler, weil sie die Preise in ihren Katalogen miteinander abgesprochen haben. Die Unternehmen verteidigen sich folgendermaßen: Unsere Rechtsabteilungen waren eingeschaltet. Wir wußten, daß ein Vertrag dieses Inhalts verboten und unwirksam ist. Also hatten wir keinen Rechtsbindungswillen. Also lag ein Vertrag gar nicht vor, und wir konnten uns auch nicht dadurch strafbar machen (genauer: ordnungswidrig verhalten), daß wir uns über die Unwirksamkeit dieses- eben gar nicht vorhandenen - Vertrages hinwegsetzten. Fazit: Verbotskenntnis schützt vor Strafe! Wer unser Wirtschaftsrecht kennt, weiß, daß dieses Beispiel der Vergangenheit angehört. Nach einem spektakulären Freispruch in BGHSt. 24, 54es handelte sich um das "Teerfarben-Frühstückskartell"33- schritt der Gesetz32 Überblick bei Möschel, Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, 1983, S. 104f.; aus der seinerzeitigen Diskussion Sandrock, Grundbegriffe des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen, 1968, S. 252ff.
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geber zur Tat und schuf neben dem Kartellverbot einen neuen Auffangtatbestand: Das Verbot der abgestimmten Verhaltensweisen(§ 25 Abs. 1 GWB). Aber wie konnte es überhaupt zu einer Diskussion kommen, die auf eine Belohnung des rechtskundigen Rechtsbrechers hinauslief? Ich meine: nur durch einen eklatanten rechtsdogmatischen Fehler des Gesetzgebers! Der Gesetzgeber hat schlicht und einfach die Rechtsfiguren Verbot und Sanktion durcheinandergemischt. Statt den Bußgeldtatbestand an die Unwirksamkeit eines Vertrages anzuknüpfen, hätte er sich besser die Frage vorlegen sollen: Warum sind Kartellverträge unwirksam? Antwort: Weil sie verbotswidrig sind! Und was ist verboten? Das abgestimmte Verhalten am Markt! Bei solcher Betrachtungsweise ergibt sich die allein sachgerechte Normstruktur34 • Abgestimmtes Verhalten ist verbot~n. Der vermeintliche Auffangtatbestand, den der Gesetzgeber nachträglich in das Gesetz hineingeflickt hat, bringt also in Wahrheit den Grundtatbestand zum Ausdruck. Sanktionen sind das Bußgeld und die Unwirksamkeit etwa vorhandener Verträge. Die Kartellbeteiligten müssen nicht deshalb ein Bußgeld bezahlen, weil sie sich über die Unwirksamkeit eines Vertrages hinweggesetzt haben, sondern wegen ihres verbotenen abgestimmten Verhaltens. Sie können sich auch schadensersatzpflichtig machen. Früher gab es. Stimmen, die sagten, der Kartelltatbestand könne doch kein Schutzgesetz sein, denn er ordne doch nur die Unwirksamkeit von Verträgen an. Auch dies beruhte auf dem dogmatischen Denkfehler des Gesetzgebers. Hätte er besser nachgedacht, so hätte er uns viele sinnlose Diskussionen erspart, denn jeder hätte gesehen, daß ein Verbotstatbestand in Rede steht und nicht ein Vertragstatbestand. 2. Dogmatik als Kontrollinstanz der Rechtsfortbildung
Meine vierte These heißt: Auch Rechtsfortbildung muß systematisch und rechtsdogmatisch gesteuert sein. Wer nur Politisches will und die nächst~este Rechtsfigur heranzieht, um dies zu bewirken, mag ei,n geschickter Politiker sein, er darf aber juristisch nicht ernst genommen werden. Ich könnte es mir leicht machen und könnte abschreckende Beispiele aus der nationalsozialistischen Zeit als Belege nennen. Dann wäre mir die Zustimmung meiner Zuhörer ganz gewiß sicher. l]m aber meine' Zuhörer guten Gewissens zu überzeugen, will ich ein Beispiel wählen, bei dem eher Sympathie als Empörung aufkommt. Ich will von der sogenannten Schuldturmdiskussion sprechen: Kann sich ein schlichter Konsument wirksam durch Darlehen oder durch Bürgschaft unbegrenzt verpflichten, so daß ihm von allem, was er künftig verdienen wird, nur das pfändungsfreie Minimum bleiben wird? Ja, sagt der BundesgerichtsDazu statt vieler Martens, JuS 1971, 455. Zusammenfassend Karsten Schmidt, in: Helmrich, Wettbewerbspolitik und Wettbewerbsrecht, 1987, S. 23ff. 33
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hof in einem Urteil, das gerade durch die Medien unter das Volk gestreut wird35. Nein, hatte zuvor das Oberlandesgericht Stuttgart in einem ähnlich gelagerten Fall gesagt36. Gegenstand der Debatte ist§ 138 BGB. Es wird also über die Sittenwidrigkeit eines "Schuldturmkredits" diskutiert, und dahin gehört die Frage auch. Nachdem nun der Bundesgerichtshof- doch wohl mit Recht- gesagt hat, daß die Höhe der eingegangenen Schuld allein nicht für die Sittenwidrigkeit ausreicht, wird man gebannt auf den Bundestag blicken, und siehe: Schon vor dem umstrittenen Urteil hat das Bundesjustizministerium, in einen großen Gesetzesentwurf verpackt, eine Regelung vorgeschlagen, die eine Schuldbefreiung durch Konkurs zuläßt37, was es bekanntlich bisher nicht gibt. Einzelheiten will ich nicht darstellen. Für unser Thema genügt die Feststellung, daß das Parlament der richtige Ort für die Schuldturmdiskussion ist, wenn § 138 BGB versagt. Ganz anders sah dies vor zehn Jahren Udo Reifner, ein bekannter Kreditund Verbraucherschutzfachmann. Reifners Buch über "Alternatives Wirtschaftsrecht am Beispiel der Verbraucherverschuldung" nahm einen Grundsatz des geltenden Rechts aufs Korn, und dieser Grundsatz heißt: Es gibt kein nach § 275 BGB befreiendes Unvermögen bei der Geldschuld. Schulde ich Geld, so schulde ich Geld, ich mag es haben oder nicht. Herkömmlich wird dieser Grundsatz aus § 279 BGB hergeleitetJs. Das ist überflüssig und falsch, denn die Geldschuld ist keine Gattungsschuld. Sie ist eine Wertschuld, und die Rechtsfigur der Unmöglichkeit ist dieser Wertschuld von vornherein fremd39. Doch jedenfalls im Ergebnis steht als herrschende Ansicht fest, daß Armut nicht von der Geldschuld befreit. Anders das Buch von Udo Reifner. Reifner reitet zunächst eine heftige Attacke gegen das BGB, das angeblich den Bürgern befiehlt, sie müßten Geld besitzen. Aber das passe nur, wo das Geld zur Gewinnerzielung eingesetzt werde, also nicht auf der Konsumentenebene40. Auf dieser Ebene werde "aus dem Schein, den das Geld auf einer bestimmten Stufe des gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses ausstrahlt" durch "ideologische Gleichstellung von Verhältnissen der individuellen Konsumtion und Verhältnissen der Kapitalverwertung in der Zivilrechtsdogmatik" ein der 35 Vgl. nunmehr den Abdruck in NJW 1989, 1276 = EWiR § 138 BGB 2/89, 327 (Medicus); näher zu diesem Urteil Reinicke I Tiedtke, ZIP 1989, 617ff. 36 OLG Stuttgart, EWiR § 138 7/87, 543 (Reifner); ebenso LG Hamburg, WM 1985, 1465. 37 §§ 225ff. des Entwurfs einer lnsolvenzordnung, in: Diskussionsentwurf des Bundesministeriums der Justiz, Gesetz zur Reform des lnsolvenzrechts, 1988, S. 116ff. 38 Vgl. nur RGZ 75, 335, 337; BGHZ 7, 346, 354; 28, 123, 128; BGH, NJW 1982, 1585; BAG, MDR 1961, 355; s. auch BGH, NJW 1982, 1585 für §§ 818 Abs. 4, 819 Abs. 1 BGB. 39 Näher Karsten Schmidt, Geldrecht (= Sonderausgabe aus: Staudinger, BGB, 12. Aufl.), 1983, Vorbem. C 29 zu§ 244. 40 Reifner, Alternatives Wirtschaftsrecht am Beispiel der Verbraucherverschuldung, 1979, s. 308ff.
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"Kapitalsphäre" entnommenes Maß unzulässig verallgemeinert41. Ich habe das Wort Zivilrechtsdogmatik hervorgehoben, und nun läßt auch die vorgeblich dogmatische Lösung nicht lange auf sich. warten. Reifners dogmatische Lösung lautet: Die Geldschuld des Konsumenten ist eine auf das verfügbare Einkommen des Schuldners beschränkte Gattungsschuld42. Der Konsument schuldet m.a.W. nicht mehr, als er entbehren kann. Das hört sich sympathisch an. Aber für die juristische Kunst galt eben, wie für jede Kunst, der Satz von Gottfried Benn: "Das Gegenteil von Kunst ist gut gemeint." Rechtsdogmatisch ist Reifners Rechtskonstruktion verfehlt43 . Die Geldschuld ist keine Gattungsschuld, also kann sie auch keine beschränkte Gattungsschuld sein. Reifner schwebt eine Haftungsbeschränkung "auf eine bestimmte Vermögensmasse" vor44, also eine gegenständlich beschränkte Haftung, und das ist ein völlig anderes Rechtsinstitut als eine Gattungsschuld. Reifner will den Schuldner vor allem im Fall der Arbeitsunfähigkeit schützen, aber dazu benötigt er einen in die Zukunft weisenden Vermögensschutz, während die beschränkte Gattungsschuld statisch gedacht und auf einen Warenvorrat bezogen ist. Der ganze Ansatz ist evident unbrauchbar. Warum habe ich diesen Ansatz so ausführlich diskutiert? Um einen Autor madig zu machen, der ein ernstes Problem mit rechtspolitischem Elan anpackt? Um den Zynismus der herrschenden, von mir selbst geteilten Auffassung bloßzulegen? Der Laie wird sagen: "Kaum will einer dem überschuldeten Konsumenten helfen, schon kommt ein Jurist daher und weist mit schneidender Kälte nach, daß dieser Konsumentenschutz rechtskonstruktiv nicht aufgeht." Aber das wäre ein Trugschluß. Rechtsdogmatik hält hier die Rechtsfortbildung unter Kontrolle. Sie verbietet uns sachfremde Scheinlösungen und zwingt uns, Probleme dort zu behandeln, wo sie hingehören. Sie hilft, da die Zivilrechtsgesetze nur eine Rahmenordnung vorgeben können, auch bei der Lösung des ewigen Grundproblems aller Rechtsfortbildung, das da heißt: Welchen Spielraum läßt die Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG), und wie wird dieser Spielraum ausgefüllt? Für die Verbraucherverschuldung heißt dies: Wir können de lege lata mit § 138 BGB helfen, oder wir können de lege lata gar nicht helfen. Deshalb setzt die nunmehr begonnene rechtspolitische Diskussion über die insolvenzrechtliche Enthaftung richtig an45.
Ebd. , S. 311. Ebd., S. 315. 43 Eingehend Karsten Schmidt, Geldrecht (Fn. 39), Rdnr. C 30; Medicus, AcP 188 (1988), 489ft. 44 Reifner, (Fn . 40), S. 317. 45 In gleicher Richtung Medicus, ZIP 1989, 817, 822f.; daß auch die Enthaftung durch Insolvenzverfahren rechtspolitisch niCht unproblematisch ist, ist ein anderes Problem. 41
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111. Institutionenbildung als rechtsdogmatische und rechtspolitische Aufgabe
1. Das Prinzip
Damit komme ich zu meiner fünften These, nämlich zur Aufgabe der Wissenschaft bei der juristischen Institutionenbildung. Sie ist ein Leitmotiv meiner Bücher46. Ich habe dafür ein dankbares Echo gefunden, leider auch bei solchen Autoren, die das von mir verfolgte Anliegen nicht verstanden haben. Das Schlagwort "Institutionenbildung" putzt ganz ungemein, und es sieht so aus, als würde es im Gesellschaftsrecht zum Modewort. Aber mit der "Institutionalisierung" meine ich keine flotte Vokabel, sondern ein Rechtsfortbildungskonzept, wie es uns Rudolf von Jhering in seinem "Geist des römischen Rechts" hinterlassen hat47. Jhering spricht nicht von der Institutionenbildung, aber er betrachtet die Rechtswissenschaft gleichsam als Expedition, sich Schritt für Schritt vorarbeitend, bis sie wieder einmal imstande ist, ein ganzes Territorium zu überblicken, neben dem allerdings schon das nächste wartet, das erst nur teilweise bekannt ist. Dieser permanente Prozeß, bestehend aus Beobachtung, Spekulation und Erkenntnis, ist rechtsdogmatischer und zugleich rechtspolitischer Art. 2. Das Beispiel Schutzpflichtverletzung
Um einmal zu zeigen, daß dieses Fortbildungsmodell nicht methodischer Amoklauf, sondern eine seriöse und unvermeidliche Erscheinung ist, will ich nicht Zukunftsmusik singen, sondern ein Anschauungsbeispiel wählen, welches wir schon recht gut übersehen und deshalb ex post gar nicht mehr ohne weiteres als Produkt solchen Wagemuts erkennen. Die Rede ist von der Schutzpflichtverletzung. Wir lernen und lehren bekanntlich, daß das Recht der Leistungsstörungen im BGB lückenhaft geregelt ist und der Ergänzung bedarf. Wir lernen und lehren, wie Hermann Staub in den Jahren 1902 und 1904 das Rechtsinstitut der positiven Vertragsverletzungen entwickelte4B. Dazu blicken wir in das BGB und stellen fest: sonderbar, sonderbar! Das Gesetz regelt den Fall der Nichtleistung (Unmöglichkeit) und den der schuld46 Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 1986, S. 23f., 40ff.; ders., Handelsrecht, 3. Auf!. 1987, S. 20f., 36f., 44ff. 47 Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, Erster Theil, 5. Auf!. 1891, Zweiter Theil, Erste Abtheilung, 4. Auf!. 1880; Zweiter Theil, Zweite Abtheilung, 4. Auf!. 1883, Dritter Theil, 4. Auf!. 1888. 48 Staub, Die positiven Vertragsverletzungen, 1904 ( = Nachdruck 1969 mit einem Nachwort von Eike Schmidt); vorausgegangen war eine Abhandlung "Über die positiven Vertragsverletzungen und ihre Rechtsfolgen" in der Festgabe für den 26. Deutschen Juristentag, 1902.
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haftnicht rechtzeitigen Leistung (Verzug) des Schuldners. Die doch schon vor 1900 bekannte und zahlenmäßig viel häufigere Nebenpflichtverletzung ist nicht geregelt, aber dafür haben wir eben Hermann Staub und die positive Vertragsverletzung! Wir bedienen uns dieses Rechtsinstituts, als stehe es im Gesetz. Hat der Hoteldiener den Fahrstuhlschacht geöffnet, und fällt der Hotelgast hinunter, so haftet der Inhaber ohne Exkulpationsmöglichkeit. Der Fall ist, obschon nicht im BGB geregelt, lege artis gelöst. Dies zu begründen, war einstmals eine rechtsdogmatische Leistung. Heute gehört es zu den Grundfertigkeiten eines jeden Juristen.
Doch ehe wir uns selbstzufrieden zurücklehnen können, taucht eine weitere Lücke auf: Wie, wenn das Kind des Gastes zu Fall kommt? Der geübte Jurist weiß sich auch hier zu helfen: mit dem Rechtsinstitut des Vertrages mit Schutzwirkung für Dritte49. Auch das Kind hat einen Direktanspruch gegen den Hotelinhaber, und dieser kann sich auch hier nicht exkulpieren, wenn sein Gehilfe gehandelt hat. Wir sind's zufrieden und operieren mit dem drittschützenden Vertrag, als stehe er im Gesetz. Davon kann nun allerdings keine Rede sein. Vor allem mit§ 328 BGB hat unser Fall nicht das geringste zu tun. Kar/ Larenz, einer der Apologeten des Vertrages mit Schutzwirkung, sagt, es handle sich, "wenn man so will, um einen im Gesetz nicht geregelten schwächeren Typus des ,Vertrages zugunsten Dritter' im weiteren Sinn, der auf einer Fortbildung des Rechts durch die Rechtsprechung beruht"SO. Fände ich diesen Satz in einer Examensarbeit, so schriebe ich wohl an den Rand: "richtig". Wir werden noch sehen, daß ich den Satz wissenschaftlich für unrichtig halte, aber der Examenskandidat bedient sich eben des Rechtsinstituts wie eines Werkzeugs, das ihm nach dem Stand von Praxis und Lehre zur Verfügung gestellt wird. Er hat es also aus seiner Sicht richtig gemacht, und der Fall ist gelöst. So weit, so gut. Aber kaum haben wir uns gemächlich zurückgelehnt, da verunglückt der Hotelgast, bevor noch der Vertrag geschlossen wurde. Der Liftboy sollte ihm nur das Zimmer zeigen. Wiederum steht nichts im Gesetz, aber wir wären schlechte Juristen , wenn uns hier nicht das Institut der "culpa in contrahendo" in den Sinn käme, und hier begegnen wir neuerlich Rudolf von Jhering, denn kein geringerer als er hat bekanntlich in Jherings Jahrbüchern von 1861 dieses Rechtsinstitut herausgearbeitetSJ. Wieder greifen wir in den Instrumentenkasten der Zivilrechtsdogmatik und können des Ergebnisses 49 Vgl. für die charakteristische Fallgruppe "Mietverträge über Wohnraum" (sie entfalten Schutzwirkung gegenüber Ehegatten, Kindern, Geschwistern, Hausangestellten, etc.): RGZ 91, 21; 102, 232; BGHZ 49, 350; 61 , 227. Vgl. speziell für Pachtverträge und Heberbergungsverträge im Hotel: Hummel, ZMR 1971, 2f. 50 Larenz, Schuldrecht I, 14. Aufl. 1987, S. 226. 51 Jhering, JherJ 4 (1861), lff. (Nachdruck 1969 mit einem Nachwort von Eike Schmidt).
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zufrieden sein. Das wissenschaftliche Abenteuer, das sich hinter der Lösung verbirgt, ist uns gar nicht mehr bewußt. Doch bevor sich Selbstzufriedenheit einzustellen vermag, kommt nun erneut das Kind des Gastes zu Fall, das gar nicht Verhandlungspartner ist. Ein weiteres Mal greifen wir entschlossen ins Arsenal des Haftungsrechts, und siehe: Der Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte hat eine kleine Schwester bekommen: die drittschützende Haftung aus culpa in contrahendosz. Leading case ist das Urteil BGHZ 66, 51. Da wollte die Mutter im Selbstbedienungsladen einkaufen und brachte ihr Töchterchen mit. Ein Gemüseblatt lag gefahrbringend im Raum und wurde von einer nachlässigen, wenn auch natürlich hervorragend ausgesuchten, Angestellten nicht beseitigt. Um uns Juristen auf die Probe zu stellen, kam nun nicht etwa die Mutter, sondern die Tochter zu Fall. Aber der Bundesgerichtshof half: Da der Vertrag, wenn es ihn gegeben hätte, ein Vertrag mit Schutzwirkung gewesen wäre, wirkte auch die vorvertragliche Sorgfaltspflicht zugunsten des Kindes. Die herrschende Meinung spendet Beifall53. Was all dies noch mit § 328 BGB, also der angeblichen Grundlage des Drittschutzes, zu tun haben kann, wird kaum reflektiert. Aber es kommt noch viel schlimmer. Kaum haben wir uns daran gewöhnt, daß auch ein Nicht-Vertragspartner Gläubiger des Anspruchs aus culpa in contrahendo sein kann, da werden Dritte auch zu Schuldnern aus culpa in contrahendo erklärt. Es sind wohl schonhundertevon einschlägigen Entscheidungen erschienen. Besonders aktuell sind Fälle wie dieser: Eine GmbH steht am Rande des Konkurses. Ihr Geschäftsführer G verschließt vor den Realitäten die Augen und hofft noch auf Rettung. Mißtrauisch wird nur der Lieferant L. Er fragt den Geschäftsführer aus, aber der streut dem L ebenso Sand in die Augen wie sich selbst. L liefert. Die GmbH bricht zusammen, und L fällt mit 90% seiner Forderung aus. Kann er Schadensersatz von G verlangen?
Gewiß nicht aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 StGB, denn es fehlt am subjektiven Betrugstatbestand. In Betracht kommt ein Anspruch aus culpa in contrahendo, aber Vertragspartner war die insolvente GmbH, und was L mit einem Anspruch gegen sie anfangen kann, ist uns bekannt. Das Problem unseres Falles heißt: "Eigenhaftung des Stellvertreters aus culpa in contrahendo". Die Frage, wann und warum der Stellvertreter haften kann, ist lebhaft umstritten. Als Kriterien werden angeboten: das "Eigeninteresse des Stellvertreters" - so früher das Reichsgericht und neuestens wieder der BGHS4 - und die "Inanspruchnahme von Verhandlungsvertrauen" - so eine von Kurt Baller52 Vgl. dazu Larenz, Schuldrecht I (Fn. 50), S. 231f. ; Fikentscher, Schuldrecht, 7. Aufl. 1985, S. 188. 53 Vgl. die Belege bei Gottwald, in: MünchKomm BGB, 2. Aufl. 1985, § 328 Rdnr. 65. 54 BGHZ 100, 346 = EWiR § 82 KO 3/87, 609 (Baur) = NJW 1987, 3133 = ZIP 1987, 650.
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stedt herausgearbeitete Lehress. Auch in den Ergebnissen schwankt die
Rechtsprechung. In unserem Fall würden unsere Gerichte den G wohl verurteilen.
Wozu diese Fälle? Ich meine, sie exemplifizieren den Prozeß der Institutionenbildung. Erinnern wir uns, wo unsere Reise begann, und sehen wir, wo sie endet. Sie begann mit Vertragsverletzungsproblemen. Sie führte an Fällen vorbei, über deren Lösung die Juristen im Jahr 1900, also bei lokrafttreten des BGB, gestaunt hätten, die wir aber trotzdem für richtig halten. Verblüffenderweise hat Rudolfvon Jhering genau unser letztes, die Rechtsprechung unserer Tage beschäftigendes Problem schon 1861 erkannt. Er hatte kurz vorher noch angenommen, daß auch ein Bote oder Stellvertreter wegen culpa in contrahendo haften könnes6. Als im Jahr 1861 sein Modell der culpa in contrahendo fertig gezimmert war, widerrief er, denn er meinte: Nun sei bewiesen, daß dies ein Institut der Vertragsverletzung ist; also könne stets nur der Partner des in Aussicht genommenen Vertrages haften, nicht also der Bote oder Vertreters7 . Die Entwicklung hat Jhering Unrecht gegeben. Würde er sich dessen heute wohl schämen? Ganz gewiß nicht, denn im Detail widerlegt zu werden, ist für den keine Schande, der in der Methode bestätigt wird. Ich will eine Grundannahme Jherings wörtlich zitieren. Sie lautetSB: "Auch die Gedanken haben um ihre Existenz zu ringen und nicht selten sich jeden Fußbreit Landes mühsam zu erkämpfen. Erschienen sie sofort in ihrer ihnen dermaleinst beschiedenen Allgemeinheit, man würde sie nicht verstehen und sich ihnen widersetzen. Darum treten sie ursprünglich nur schüchtern und bescheiden in die Wirklichkeit und begnügen sich mit einem kleinen Gebiet, bis die Geister sich allmählig an sie gewöhnt, und sie selber sich in irgend einem Punkte so festgesetzt und gekräftigt haben, daß sie von dort aus weiter vorzudringen vermögen. Ihr Anspruch auf Allgemeinheit und damit die Inconsequenz, deren man sich durch ihre Beschränkung auf ein einzelnes Verhältniß schuldig macht, kann sich auf die Dauer der Wahrnehmung nicht entziehen, denn die Consequenz ist eine Macht, die langsam, aber sicher, die unbewußt, aber nicht minder wirksam im Geist fortarbeitet, die längst empfunden und gefühlt wird, bevor sie erkannt ist. Darum kommt auch für jene Gedanken unausbleiblich die Zeit, wo man fragt: warum gelten sie bloß hier, warum nicht auch in dem und jenem völlig gleichartigen Verhältniß?" Unsere Haftungsfälle bestätigen Jherings Befund. Was haben Rechtslehre und Praxis seit Jhering getan? Sie haben eine Lücke nach der anderen im Konzept der Vertragshaftung entdeckt, sind von einem Provisorium zum nächsten 55 Belege und Stellungnahme des Verf. in ZIP 1988, 7ff.; grundlegend Ballerstedt, AcP 151 (1950/51), 505ff. 56 Jhering, JherJ 1 (1857), 280ff. 57 Jhering, JherJ 4 (1861), 53f. (=Nachdruck, S. 46). 58 Jhering, Geist II/2 (Fn. 47), S. 338f.
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geeilt, so daß immer gerade die zuletzt erkannte Lücke geschlossen war. Sie haben sich verdienstvoll bemüht, zahlreiche Löchlein zu stopfen, aber nach einhundert Jahren dogmatischer Diskussion wurde es Zeit für die These, es klaffe im Haftungsrecht des BGB ein viel größeres Loch und es könnten die Teilinstitute- culpa in contrahendo, positive Vertragsverletzung, Haftung für Dritte, Ansprüche gegen Dritte- zu einem Rechtsinstitut verschmolzen werden. Diesen Schritt hat in den 60er Jahren Claus Wilhelm Canaris getan, indem er alle unsere Fälle als Varianten einer gesetzlichen Haftung für Schutzpflichtverletzungen einordnete59. Vertragsverhandlungen oder Vertragsschluß sind nur mehr Tatbestandsmerkmale für ein gesetzliches Schuldverhältnis, und dieses - nicht die Vertragsauslegung - entscheidet auch darüber, ob Schutzpflichten zugunsten Dritter entstehen. Diese Einordnung ist noch umstritten. Sie wird auch oft falsch verstanden, so, als werfe Canaris alle Fälle in einen Topf. Davon kann aber keine Rede sein. Worum es ihm geht, ist nur die rechtsdogmatische Konsolidierung, der Übergang von provisorischen Einzellösungen zu einem geschlossenen Konzept. Das ist lnstitutionenbildung, wie ich sie mir vorstelle! Wir haben viel zu lange den Kopf darüber geschüttelt, daß der Gesetzgeber neben der Unmöglichkeit und neben dem Verzug nicht auch die culpa in contrahendo und die positive Forderungsverletzung geregelt hat, die doch teils schon entdeckt waren (Jhering 1861), teils bei lokrafttreten des BGB buchstäblich in der Luft lagen (Staub 1902/1904). Die einheitliche Rechtsfigur der Schutzpflichtverletzung stellt den geglückten Abschluß eines aus Bruchstücken entstandenen Gedankengebäudes dar. Jhering- er starb 1892- wäre vermutlich begeistert. IV. Die Willensfiktion Noch an einem zweiten Beispielbereich will ich die Richtigkeit von Jherings Rechtsfortbildungskonzept verdeutlichen. Gemeint sind die Fälle der Willensfiktion. In Praxis und Lehre haben wir immer wieder mit Fällen zu tun, in denen die Gerichte um irgendwelcher Ergebnisse willen Verträge fingieren: Haftungsausschlußverträge60, Schiedsverträge61, etc. Als Hochschullehrer haben wir die Pflicht, diese Neigung zu bekämpfen. Sehen wir aber hinter die Dinge, so entdecken wir, daß Vertragsfiktionen etwas ganz Unterschiedliches signalisieren können: teils Vergewaltigung des Sachverhalts, teils tastende
59 Canaris, .IZ 1965, 475ff.; zust. Thiele, JZ 1967, 649ff. ; Gerhardt, Ji.JS 1970, 597ff.; ähnlich Jakobs, Unmöglichkeit und Nichterfüllung, 1969, S. 60. 60 BGH, NJW 1972, 1363; 1979, 643; 1980, 1681 (Probefahrt anläßlich von Verkaufsverhandlungen). 61 OLG Hamburg, BB 1970, 53 (in die gleiche Richtung weisen die beiden obiter dictades OLG Harnburg in ZIP 1981, 170; RIW 1982, 283); LG Frankfurt, NJW 1983, 761; tendenziell auch BGHZ 88, 314.
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Suche nach gesetzlichen - aber im positiven Gesetz nicht ablesbaren - Rechtsfolgen. Die Augen hierfür öffnet uns Jhering. Zu den Fundamentalgesetzen der juristischen Technik, die für alle Epochen der Jurisprudenz gelten, rechnet Jhering das Gesetz der logischen Sparsamkeit62. Juristische Ökonomie ist nach Jhering die Kunst, sich in geschickter Weise mit dem Vorhandenen zu behelfen63. Über ausführliche Belege der römischen Rechtsgeschichte gelangt Jhering sodann zur Technik der Fiktion. Bereits Savigny hatte 1814 gesagt64: "Entsteht eine neue Rechtsform, so wird dieselbe unmittelbar an eine alte, bestehende angeknüpft, und ihr so die Bestimmtheit und Ausbildung derselben zugewendet. Dieses ist der Begriff der Fiction, für die Entwicklung des Römischen Rechts höchst wichtig und von den Neueren oft lächerlich verkannt." Jhering greift diesen Gedanken auf. Er meint, daß die Fiktion im Recht zu solch "lächerlicher Verkennung", wie Savigny es genannt hatte, nun allerdings einlade, eben weil sie dem Unkundigen läppisch und verlogen erscheine6s. Jhering selbst sieht sie als eine "technische Notlüge" an, als eine Medaille mit zwei Seiten66: Sie ist eine "wissenschaftlich unvollkommene Form" der Aufgabenbewältigung, aber indem sie einen gedanklich bequemen Weg geht, "erleichtert sie ... den Fortschritt, macht ihn möglich zu einer Zeit, wo es der Wissenschaft noch an Kraft fehlen würde, die Aufgabe in der ihr entsprechenden Gestalt zu bemeistern"67. Wörtlich sodann: "Es ist leicht, zu sagen: Fiktionen seien Notbehelfe, Krücken, deren sich die Wissenschaft nicht bedienen sollte. Sobald letztere ohne sie fertig werden kann, gewiß nicht! Aber immer besser, daß sie mit Krücken geht, als ohne Krücken ausgleitet oder sich nicht aus der Stelle bewegt .. . " . In dieser hier wörtlich zitierten Würdigung liegt ein doppeltes Urteil über den Wert der Fiktionen: Sie sind für die Fortentwicklung nicht zu entbehren, aber sie sind und bleiben doch Provisorien, denn68: "Anderseits freilich liegt in jeder Fiktion, eben weil sie ein unvollkommenes Mittel ist, für die Wissenschaft die Mahnung, sie möglichst bald durch ein vollkommeneres zu ersetzen." Jhering versteht also diese Fiktion als ein provisorisches Mittel der Rechtsfortbildung. Er nennt dies die "historische Fiktion"69. Ich will anband dreier ganz aktueller Rechtsbereiche zeigen, wie recht er hatte und wie sich
Jhering, Geist III (Fn. 47), S. 242. Jhering, Geist III (Fn. 47), S. 243. 64 Savigny, Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Heidelberg 1814, S. 32 = Hattenhauer (Hrsg.), Thibaut und Savigny, Ihre programmatischen Schriften, 1973, S. 116. 65 Jhering, Geist III (Fn. 47), S. 302. 66 Jhering, Geist III (Fn. 47), S. 305. 67 Hierzu und zum folgenden Jhering, Geist III (Fn . 47), S. 305. 68 Jhering, Geist III (Fn. 47), S. 306. 69 Ebd. 62
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seine Beobachtung da bestätigt, wo Rechtsfortbildung noch Abenteuer ist (dies ist die sechste und letzte meiner Thesen). 1. Auskunftsvertrag
Gibt eine Bank einem Nichtkunden eine falsche Kreditauskunft, so stellt sich immer wieder die Frage nach ihrer Haftung. Ist die Bank haftungsfrei nach § 676 BGB? Ist eine Haftung überhaupt möglich, wo doch nur ein Vermögensschaden vorliegt? Verschiedene Gerichte haben, wenn sie die Banken verurteilten, stillschweigende Auskunftsverträge konstruiert70. Es läßt sich denken, daß solche Entscheidungen auf heftige Kritik gestoßen sind. Die Literatur hat ganz unterschiedliche, teils vom Deliktsrecht, teils vom Vertragsrecht ausgehende Lösungsmodelle angebotenn. Ich kann nur beispielhaft auf Johannes Köndgens Habilitationsschrift "Selbstbindung ohne Vertrag" hinweisenn. Für uns muß heute ein Hinweis genügen: Solange man glaubte, für den Vermögensschutz einen Vertrag (positive Vertragsverletzung) oder VertragsverbandJungen (culpa in contrahendo) zu benötigen, lag die Verlockung zur Vertragsfiktion geradezu in der Luft. Nachdem wir aber erkannt haben, daß diese vermeintliche Vertragshaftung eine gesetzliche ist, hat unsere Frage zu lauten: Kann auch die Bankauskunft ein gesetzliches Schutzpflichtverhältnis begründen? Mit Jhering können wir also ausrufen: "Weg mit den Krücken! Wir können das Problem so diskutieren, wie es liegt." 2. Nichteheliche Lebensgemeinschaft
Auf der Suche nach einem gesetzlichen Schuldverhältnis befindet sich auch die Rechtsprechung zur nichtehelichen Lebensgemeinschaft73. Das Problem ist ebenso bekannt wie schwierig. Zerbricht eine nichteheliche Lebensgemeinschaft, so kann es das Recht mit der Bachkantate Nr. 144 halten und jedem Partner zurufen: "Nimm, was Dein ist, und gehe hin." Das ist ein Konzept, über das sich reden läßt: ohne Ehe kein Zugewinnausgleich! Aus Gründen, die ich nicht kommentieren möchte, steht allerdings unserer Zeit nach solcher Klarheit nicht der Sinn. Unser Zauberwort heißt: Verteilung! Und unsere 70 Vgl. nur RG, SeuffArch. 80 Nr. 10 S. 18; RGZ 131, 239; RG, JW 1931, 3097; BGH, WM 1958, 1080; 1962, 1110; 1970, 1021; 1972, 583; 1973, 635; 1974, 685; 1980, 527; BGH, NJW 1979, 1595; ZIP 1989, 1532; vgl. auch jüngst OLG Düsseldorf, ZIP 1989, 220 (bezüglich der Haftung einer Vermittlungs-GmbH). Zum stillschweigend geschlossenen Auskunftsvertrag neuestens Müssig, NJW 1989, 1700f. 71 Überblick bei Canaris, Bankvertragsrecht, 2. Auf!. 1981, S. SOff. ; vgl. ferner H. Honsell, JuS 1976, 625f.; Lammet, AcP 179 (1979) , 342ff.; Bohrer, Die Haftung des Dispositionsgaranten, 1980, S. 21 ff. 72 Köndgen, Selbstbindung ohne Vertrag, 1981, insbes. S. 352ff., 354. 73 Überblick zuletzt bei Battes, JZ 1988, 908ff., 957ff.
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Frage lautet: Gibt es einen vermögensrechtlichen Ausgleich unter den Partnern? Und wann? Und warum? Die Frage hat den Deutschen Juristentag in Mainz im vergangeneo Herbst drei Tage lang beschäftigt?\ und niemand wird erwarten, daß ich sie heute löse. Ausgangspunkt sind jedenfalls folgende Daten: - Das Gesetz sieht einen Ausgleich nicht vor. - Die Partner können durch Vertrag dafür sorgen, daß das Erworbene geteilt und daß aller Aufwand verteilt wird; die Vertragsform hierfür ist die Gesellschaft bürgerlichen Rechts als Innengesellschaft. - Ausdrückliche Verträge dieses Inhalts sind nicht die Regel, sondern die Ausnahme; allerdings können diese Verträge auch stillschweigend geschlossen werden. In vielen Fällen steht hier die Rechtsprechung vor der Frage, ob sie Ausgleichsansprüche im Zweifel ablehnen oder im Zweifel zuerkennen soll, und groß ist naturgemäß die Versuchung, den Partnern im Nachhinein zu unterstellen, sie hätten Innengesellschaftsverträge geschlossen75. Zahlreiche Gerichte sind diesen Weg gegangen76. Der für das Gesellschaftsrecht zuständige Zweite Zivilsenat des Bundesgerichtshofs geht nur dem flüchtigen Anschein nach diesen Weg. Bei Nähe besehen löst er sich mehr und mehr von den Voraussetzungen eines Gesellschaftsvertrages, und mehr und mehr verselbständigen sich auch die gesellschaftsrechtlichen Rechtsfolgen. Die Trendwende findet sich markiert im Fall BGHZ 84, 388 von 1982: Ein Ingenieur war zu seiner Bekannten gezogen und hatte mit deren Hilfe eine Spezialwerkstatt aufgebaut. Nach seinem Tod stritten sich seine Erben mit der Bekannten um das auf diese Weise verdiente Geld. Der Bundesgerichtshof gestand der Bekannten einen Anteil daran zu, denn zwischen ihr und dem Nachlaß sei eine Auseinandersetzung nach gesellschaftsrechtlichen Grundsätzen vorzunehmen. Bemerkenswert sind die Entscheidungsgründe. Darin heißt es, "auch dann, wenn die Partner einer solchen Lebensgemeinschaft kein Gesellschaftsrechtsverhältnis begründet haben, könne eine Auseinandersetzung nach gesellschaftsrechtlichen (oder gemeinschaftsrechtlichen) Regeln in entsprechender Anwendung der §§ 730ff. BGB in Betracht kommen, wenn beide Partner durch gemeinschaftliche Leistungen einen Vermögensgegenstand erworben und hierbei die Absicht verfolgt haben, einen wenn auch nur wirtschaftlich - gemeinschaftlichen Wert zu schaffen ... " Der Bundesgerichtshof hat diese Rechtsprechung fortgesetzt. In NJW 1986, 51 lesen wir: "Wurden während einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft 74 Vgl. Verhandlungen des 57. DJT, Bd. I (Gutachten Lieb), 1988; Bd. II (Referate Schmidt-Assmann und v. Maydell), 1989. 75 Dazu auch Schwab, in: Götz Landwehr (Hrsg.), Die nichteheliche Lebensgemein-
schaft, 1978, S. 68ff. 76 Vgl. nur BGH, FamRZ 1965, 368; OLG Schleswig, SchiHA 1969, 198, OLG Düsseldorf, FamRZ 1978, 109; OLG Hamm, NJW 1980, 1530.
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Renditeobjekte (hier: Mehrfamilienhäuser) gemeinschaftlich geschaffen, richtet sich die Auseinandersetzung nach gesellschaftsrechtlichen Grundsätzen (§§ 730ff. BGB)." Und in den Gründen heißt es wiederum , dies gelte auch, wenn kein Gesellschaftsvertrag geschlossen worden sei. Das Sensationelle an dieser Rechtsprechung ist in der Diskussion kaum wahrgenommen worden. Verständlicherweise wird immer in erster Linie über die Ergebnisse debattiert, und jeder wird zugeben, daß hierüber wahrhaftig gestritten werden kann. In methodischer Hinsicht aber sind diese Urteile verdienstvoll, denn mit ihnen schlägt die Stunde der Wahrheit. Entweder nämlich war schon die sich auf stillschweigende Gesellschaftsverträge stützende Rechtsprechung verfehlt. Dann muß man die neue Rechtsprechung verräterisch nennen, lautet doch ihre Quintessenz in anderen Worten: "Wir wenden Vertragsrecht ohne Vertrag an." Oder die sich auf stillschweigende Gesellschaftsverträge stützende Rechtsprechung war auf dem richtigen Weg. Dann dürfen wir, an Jherings Bild anknüpfend, rufen: Hurra, der Bundesgerichtshof hat die Krücken abgeworfen! Er spricht jetzt offen aus, worum es beim Fehlen eines wirklichen Vertragsschlusses geht: um die Frage nämlich, ob wir- wohlgemerkt de lege lata! - ein gesetzliches Ausgleichsverhältnis unter den Partnern anerkennen können und sollen. Jetzt wissen wir, worüber wir in Wahrheit die ganze Zeit debattiert haben und können den Streit nun so weiterführen, wie es sich unter aufrichtigen Juristen gehört.
3. Qualifizierter faktischer Konzern Mein letztes Beispiel führt uns in das Konzernrecht. Wer nun befürchtet, jetzt komme Spezialwissen dran, der sei wiederum beruhigt. Ich werde über eine Frage sprechen, die jeder versteht, der mitdenkt. In BGHZ 68, 312 finden wir folgenden Fall: Eine Baugesellschaft namens M-GmbH (ich nenne sie M, weil sie gleich Mutterfreuden entgegensieht) befand eines Tages, daß der Bau von Typenhäusern doch zu risikoreich sei. Deshalb gründete sie für den Typenhausbau eine T-GmbH (also eine Tochter) mit einem Stammkapital von 20.000 DM (heute wären 50.000 DM erforderlich). Alleinige Gesellschafterin der T wurde die M; Gewinne der T gebührten also der M. Die T residierte auch auf dem Bauhof der M, ohne eigene Ausstattung, ohne unabhängiges Management usw., m.a.W.: Die T-GmbH war nichts anderes als eine zur juristischen Person hypostasierte Betriebsabteilung der M. Als nun die Tin eine Krise geriet, sagte die Mutter zur Tochter: "Du siehst ja so .blaß aus!" Die T meldete Konkurs an, der aber mangels Masse nicht eröffnet wurde. Die Gläubiger der TGmbH gingen leer aus, und der Bundesgerichtshof versagte ihnen Direktansprüche gegen die M. Das Urteil hat eine heftige Diskussion ausgelöst. Seine Lösung ist durch neuere Urteile des Zweiten Zivilsenats, auf die ich sogleich zurückkomme, überholt, aber als Problemfall bleibt der Sachverhalt klassisch. Wie werden wir eines solchen Falls Herr? Manche rufen nach einer Durchgriffshaftung, aber das wäre dogmatischer Wildwuchs und liefe auf eine auch
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rechtspolitisch bedenkliche Demontage der juristischen Person hinaus. Vorgeschlagen wird auch eine Deliktshaftung. Aber dann käme es auf ein Verschulden- wohl sogar auf Vorsatz (vgl. § 826 BGB)- an. Ich habe mich in dem Meinungsstreit seit 1979 für eine Verlustausgleichspflicht der Muttergesellschaft ausgesprochen77. Wenn die Muttergesellschaft die Tochter im Stande der Geschäftsunfähigkeit hält, muß sie diese alimentieren. Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist § 302 AktG. Dort steht für den aktienrechtlichen Vertragskonzern, daß ein Mutterunternehmen die Verluste ausgleichen muß, wenn zwischen ihm und der Tochter ein Beherrschungs- oder Gewinnabführungsvertrag besteht. Fälle wie unserer sind nun dadurch gekennzeichnet, daß ohne einen solchen Vertrag ein ganz gleichartiger Beherrschungs- und Gewinnabführungseffekt gegenüber einer GmbH erreicht wird. Gilt die Haftung auch hier? Flume und Emmerich meinten, hier liege ein konkludenter Beherrschungsvertrag zwischen der Mutter- und der Tochtergesellschaft vor7B. Von einem solchen Vertrag ist nun allerdings nichts zu erkennen. Der angebliche Beherrschungsvertrag ist nichts als die listenreiche Erfindung zweier Wissenschaftler, um die Verlustausgleichspflicht zu legitimieren, mithin der klassische Fall einer "historischen Fiktion" im Sinne von Jherings. Unser Problem besteht in der Frage, ob eine Verlustausgleichspflicht auch ohne einen Beherrschungsvertrag, auf den § 302 AktG abzustellen scheint, bestehen kann. Solange nicht der entscheidende dogmatische Durchbruch gelingt, fällt selbst hochangesehenen Wissenschaftlern nichts Besseres ein, als das Problem mit der Fiktion eines solchen Vertrages zu lösen. Ich sage auch hier wieder: Weg mit den Krücken! Meine Lösung sieht deshalb ganz anders aus. Sie beruht auf zwei Thesen: - Erste These: Die Verlustausgleichspflicht ist auch im Vertragskonzern eine gesetzliche Schuld. Der Unternehmensvertrag ist nur Tatbestandsmerkmal für ein gesetzliches Schuldverhältnis. - Zweite These: Dieser, wie ich behaupte, gesetzliche Tatbestand kann analog angewandt werden, sobald ohne Beherrschungsvertrag ein Verhältnis von Herrschaft und Abhängigkeit entsteht, das einen Beherrschungsvertrag überflüssig macht.
Diese Thesen können richtig oder falsch sein. Jedenfalls aber basieren sie auf einer rechtsdogmatischen Grundlage, ohne die ich mich über sie zu unterhalten nicht bereit bin. Das Konzept einer gesetzlichen Haftung scheint nun auch der Lösungsweg des Bundesgerichtshofs zu sein. Er hatte zunächst in dem vieldiskutierten79 "Autokran"-Urteil von 1985 noch die Konzernhaftung 77 Vgl. zusammenfassend Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht (Fn. 46), S. 912ff.; zuletzt ders., ZIP 1989, 545ff. 78 Flume, Die juristische Person, 1983, S. 130; Emmerich in der 6. Auflage des Scholz: Scholz I Emmerich, GmbHG, 6. Auf!. 1978, Bd. 2, Anh. II Rdnr. 143 (aufgegeben in der 7. Auflage 1986, Bd. 1, Anh. Rdnr. 203).
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mit einer Verschuldeoshaftung vermischt und ausgesprochenso: "Bei Vermögenslosigkeit einer abhängigen GmbH kommt eine Ausfallhaftung des herrschenden Konzernunternehmens ... in Betracht, wenn dieses die Geschäfte der abhängigen GmbH dauernd und umfassend selbst geführt hat und nicht dartun kann, daß der pflichtgemäß handelnde Geschäftsführer einer selbständigen GmbH die Geschäfte ebenso geführt hätte." Neuerdings hat sich nun derselbe Senat zu einer vom Verschulden der Unternehmensleitung unabhängigen Verlustausgleichspflicht vorgearbeitet und konstatiert81: "Eine abhängige GmbH hat gegen das herrschende Unternehmen in entsprechender Anwendung des § 302 AktG einen Anspruch auf Verlustausgleich, wenn dieses die Geschäfte der GmbH im finanziellen Bereich dauernd und umfassend geführt hat ... " Damit ist endlich ein Stadium erreicht, in dem dieses schwierige rechtspolitische Problem in einer rechtsdogmatisch annehmbaren Weise diskutiert werden kann, und diese Diskussion ist mitten im Gange82. Wie sie ausgehen wird, bleibt abzuwarten. Für unser Thema genügt die Beobachtung, daß die Vertragsfiktion auch hier nur ein überwindbares Stadium der Rechtsfortbildung und ein Schritt auf dem Wege zu einem gesetzlichen Schuldverhältnis ist. V. Schluß 1. Fazit
Damit stehe ich am Ende meines Vortrags. Es steckt eine Reihe von Bekenntnissen darin, und aus solchen Bekenntnissen soll auch mein Fazit bestehen. Erstens hoffe ich, gezeigt zu haben, daß Rechtsdogmatik kein ärmlicher Begriffskanon, sondern ein reiches und spannendes Kapitel ist. Politisch denkende Juristen irren, wenn sie sich über den vermeintlichen Kleingeist der Dogmatiker erheben. Zweitens habe ich hoffentlich begreiflich gemacht, daß auch wir Dogmatiker unser Arbeitsfeld nicht trockenlegen dürfen. Wer Rechtsdogmatik als ein vornehmes Refugium begreift, in dem wir uns vor rechtspolitischen Herausforderungen verschanzen können, kann m. E. kein überzeugender Wissenschaftler und auch kein guter Rechtslehrer sein. Denn verantwortungsvoller Umgang mit Problemen der Rechtspolitik gehört mit zum Lehrstoff. 79
Vgl. den Überblick bei Emmerich I Sonnenschein, Konzernrecht, 3. Auf!. 1989,
s. 378ff.
80 BGHZ 95, 330 = NJW 1986, 188. s1 BGHZ 107, 7 = ZIP 1989,440.
82 Vgl. zu dem Urteil Karsten Schmidt, ZIP 1989, 545ff.; ferner Ziegler, WM 1989, 1041ff.
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Drittens ist es kein Zufall, wenn ich mit meinen Beispielen bis in Spezialgebiete vorgedrungen bin. Gerade diese Beispiele sollten zeigen, daß bei den heikelsten Rechtsfragen nicht reines Expertenwissen, sondern die allgemeine juristische Basis weiterhilft. Wir hatten einmal eine Hamburger Justizsenatorin, die meinte, die Universität müsse aufhören, Allmundjuristen auszubilden. Sozialrechtler, Arbeitsrechtler, Steuerrechtler, EDV-Juristen usw.- das seien die Ausbildungsziele der Zukunft. Mir scheint das grundfalsch. Spezialwissen lehrt der Berufsalltag, wenn nur die Grundfertigkeiten hinreichend ausgebildet sind. Nur gute Dogmatiker können vor den Problemen von heute und morgen bestehen, und sie werden es tun, wenn sie die Augen für die Belange der Rechtspolitik offenhalten. Viertens und endlich geht es um das Denken in Zusammenhängen. Wer solches Denken lehrt - heute lehrte uns mit Rudolf von Jhering ein Mann, der vor fast 100 Jahren starb-, kann aktueller sein als ein druckfrisches Kurzlehrbuch. Wer stets nur das neuesteUrteil oder die letzte Kommentierung einzelner Normen vor Augen hat, kann unser Rechtsleben nicht mitgestalten, sondern nur Tageseindrücke konsumieren wie der mediengebildete Betrachter, von dem unser Streifzug ausging. 2. Thesen These Nr. 1: Rechtsdogmatik und Rechtspolitik sind keine Gegensätze. Daß sie einander nicht ausschließen, zeigt sich bereits an eindeutigen Beispielen der Norminterpretation (z. B. Geschäftsführung ohne Auftrag) und der Ausfüllung von Generalklauseln (z. B. §§ 138, 242 BGB) bzw. offenen Rechtsbegriffen (z. B. Verbotsgesetz bei § 134 BGB oder Schutzgesetz bei § 823 Abs. 2 BGB). These Nr. 2: Es gibt rechtspolitische Fragen, die nicht mit rechtsdogmatischen Mitteln aufgehellt werden können (Beispiele: Verjährungsfristen, Quellensteuer, Strafbarkeit der Notzucht unter Verheirateten). Im übrigen befindet sich die Rechtsordnung in einem ständigen Prozeß der Selbstbereinigung. Zu diesem tragen Gesetzgebung, Rechtsprechung und Rechtswissenschaft in einem dialektischen Wechselprozeß bei. These Nr. 3: Der Gesetzgeber hat nicht in rechtsdogmatischen Figuren, sondern in Tatbestandsmerkmalen und Rechtsfolgen zu sprechen ("lex moneat, non doceat"). Bei der Ordnung der Tatbestände und Rechtsfolgen darf er jedoch nicht blind sein für die rechtsdogmatischen Zusammenhänge. Ein abschreckendes Beispiel ist das sog. Kartellgesetz (Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen). These Nr. 4: Auch Rechtsfortbildung muß rechtssystematisch und rechtsdogmatisch gesteuert sein. Das systematische "Zuendedenken" des Rechts als
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Hauptaufgabe der Rechtsfortbildung hat neben rechtspolitischen auch rechtsdogmatische Züge.
These Nr. 5: Die Aufgabe der Rechtswissenschaft in diesem Prozeß heißt: Institutionenbildung. Gesetzgebung und Rechtsprechung sind zur Herausarbeitung verallgemeinerungsfähiger Konzepte vielfach nicht in der Lage, und oft gelangt auch die Wissenschaft nur über Teilschritte zur Herausarbeitung eines Rechtsinstituts (Beispiel: über positive Vertragsverletzung und culpa in contrahendo zum einheitlichen gesetzlichen Schutzpflichtverhältnis). These Nr. 6: Ein charakteristisches Zeichen für das provisorische Durchgangsstadium bei der Erarbeitung eines Rechtsinstituts ist die Willensfiktion (Beispiele: Auskunftsvertrag, nichteheliche Lebensgemeinschaft, qualifizierter faktischer Konzern).
Münchhausen und die Demokratie Zum Kommunalwahlrecht für Ausländer, auch im Blick auf die Hamburger Bezirksversammlungen
Von Ulrich Karpen I. Die rechtspolitische Forderung
1. Die Volkszählung 1987 hat ergeben, daß in der Bundesrepublik ständig 4,1 Mio. Ausländer leben, unter 61 Mio. Einwohnern also 6,8%. "Einwanderungsland" i. S. des Staatsangehörigkeitsrechts- ein Land, dessen Politik darauf gerichtet ist, durch gezielte Einbürgerung von Ausländern das Staatsvolk zu vergrößern- will die Republik nicht sein 1, de facto ist sie es. Die Integration dieser Einwanderer, der Volksdeutschen und der Asylanten ist eine Herausforderung für Politik und Recht.
2. Ausländer erhalten zunächst eine befristete, nach i.d.R. fünf Jahren2 eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis(§ 7 AuslG). Nach i.d.R. acht Jahren3 kann ihnen eine Aufenthaltsberechtigung (§ 8 AuslG) erteilt werden. Bürger der Europäischen Gemeinschaften haben ein praktisch unbegrenztes Recht auf Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Einzelne Gruppen von Ausländern genießen aufgrundbilateraler völkerrechtlicher Verträge eine bevorzugte Stellung. Alle Ausländer können die "Menschenrechte" des Grundgesetzes in Anspruch nehmen (wie Art. 2, 4, 6 usw.) , nicht jedoch die Deutschenrechte (wie Art. 8, 9, 11 , 12 GG) und auch nicht die Staatsbürgerrechte (Art. 16, 33 I, II, 38 I GG). 3. Dieser Befund scheint zunächst anzuzeigen, daß die Ausländer ein rechtlich begrenztes Schattendasein führten, zumal ihre politische Betätigung nach § 6 I, II AuslG. eingeschränkt oder gar untersagt werden kann. Der Schein trügt jedoch. In Wirklichkeit ist der Rechtsstatus der Ausländer in der letzten Zeit - vornehmlich durch die Rechtsprechung - verfassungsrechtlich zunehmend abgestützt worden, und zwar in bezug auf ihre Grundrechte, ihren rechtsstaatlichen, sozialstaatliehen und politisch-partizipatorischen Status4. Einbürgerungsrichtlinien 1977. Vgl. Nr. 4 der Allg. VerwVorschr zu§ 7 AuslG. 3 Vgl. Nr. 4a der in Fn. 2 bezeichneten Vorschrift. 4 Vgl. vor allem /sensee, Die staatsrechtliche Stellung der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland, VVDStRL 32 (1973), S. 49 - 106; Hailbronner, NJW 1983, 2105 I
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Zunächst ist die Auffangfunktion des Art. 2 I GG ausgebaut worden5. Der menschenrechtliche Kern von Deutschenrechten-ein Minimum von Erwerbsmöglichkeit (Art. 12 GG), räumlicher Bewegungsfreiheit (Art. 11 GG), organisierter Kommunikation (Art. 8 GG) ist auch für Ausländer garantiert. Statussicherheit erhalten sie zusätzlich über Art. 6 GG. Für Ausländer gelten auch die rechtsstaatliehen Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit sowie das Bestimmtheitsgebot. Nach mehrfacher Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis wird sich ein Ausländer- der Lehre vom Kettenverwaltungsakt6 folgend- i.d.R. darauf verlassen können, daß er im Land bleiben kann7. Jedenfalls darf ein Verlängerungsantrag nicht mehr einfach mit der Begründung abgelehnt werden, die Bundesrepublik sei kein Einwanderungsland. Bei der Gestaltung von Rechtspositionen, etwa der Anordnung von Bedingungen und Auflagen auch bei Ausweisungsverfügungen, ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip zu beachtens, nicht jedoch- worauf Hailbronner9 zu Recht hingewiesen hat- bei der Begründung von Rechtspositionen, so daß aus Art. 2, 20 GG nicht etwa ein Anspruch auf eine Aufenthaltsberechtigung abzuleiten ist. Es ist allgemeine Meinung, daß die weiten Ermessungsspielräume der Ausländerbehörden den gleichen rechtsstaatliehen Bindungen unterworfen sind, wie sie auch sonst für administrativ angeordnete Beschränkungen der Freiheitssphäre des Bürgers gelten. Im Hinblick auf den sozialstaatlichen Teilhabestatus ist die Gleichstellung von Ausländern und Deutschen weit vorangetrieben worden, fast erreicht. Das gilt für die Ausbildungsförderung, die Studienzulassung usw. Die Gewährung von Leistungen für kinderreiche Familien, Strom- und Gaskostenzuschüssen, Wohngeld geschieht (nach Art. 6 GG) ohne Unterschied nach Nationalität. Hinsichtlich des Arbeits- und Sozialrechtes ist die rechtliche Gleichstellung zwischen deutschen und ausländischen Arbeitnehmern, die eine ArbeitserlaubnislD besitzen, praktisch erreicht worden. Sie besitzen aktives und passives Wahlrecht zu Betriebsund Personalräten. Schließlich gibt es viele Partizipationsmöglichkeiten für (2106); Schwerdtfeger, Welche rechtlichen Vorkehrungen empfehlen sich, um die Rechtsstellung von Ausländern in der Bundesrepublik Deutschland angemessen zu gestalten? Gutachten zum 53. Deutschen Juristentag, Berlin 1980, S. 28ff.; DieMenschenrechtspakte der UNO von 1969, nämlich der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (BGBl II 1973, S. 1534) und der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (BGBI II 1973, S. 1570) verpflichten die Mitgliedsstaaten auf das politische Ziel, die wichtigsten bürgerlichen und sozialstaatliehen Grundrechte in gleicher Weise Staatsangehörigen und Ausländern zu gewähren. Die Bundesrepublik hat ihnen unter Vorbehalt des Art. 16 EMRK zugestimmt. s BVerfGE 35, 382 (399). 6 Kloepfer, DVB11972, 371 (373). 7 BVerfGE 49, 168 (185). s BVerfGE 50, 166 (176). 9 Fn. 4 S. 2109. 10 Zum Anspruch auf eine Arbeitserlaubnis vgl. BVerfG Buchholz, 402.24 Zu§ 2 AuslG Nr. 11.
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Ausländer. Das gilt vor allem für den vorstaatlichen Bereich: Personal- und Betriebsräte, berufsständische Kammern, Sozialversicherungsträger. Das Versammlungsgesetz unterscheidet nicht zwischen Deutschen und Ausländern; Ausländer können Angestellte im Öffentlichen Dienst werden, in besonderen Fällen auch Beamtell. In Ausländerausschüssen wirken sie auch an der Verwaltung von Gemeinden mit. 4. Es wird nun die rechtspolitische Forderung erhoben, als Schlußstein der -wie ersichtlich ist- erfolgreichen Bemühungen um eine Integration der Ausländer - jedenfalls in rechtlicher Hinsicht erfolgreichen Bemühungen - dem ausländischen Bevölkerungsteil das aktive und passive Wahlrecht einzuräumen und hierbei mit den kommunalen Vertretungskörperschaften zu beginnen. Hierbei sind nun verschiedene Fragen zu unterscheiden: - ist die Einführung des kommunalen Ausländerwahlrechtes rechtspolitisch erwünscht? - ist sie verfassungsrechtlich geboten? - ist sie verfassungsrechtlich verboten? Die rechtspolitische Forderung wird seit den siebziger Jahren erhoben. Das Ausländerwahlrecht wird als "unabdingbare Voraussetzung"12 der soziokulturellen Integration der Ausländer betrachtet. Der 53. Deutsche Juristentag hat sich am 18. Sept. 1980- wenn auch mit äußerst knapper Mehrheit- dafür ausgesprochen. Die Bundesregierung hat in einem Beschluß vom 19. März 1980 die Bedeutung der Einwanderung und Einbürgerung hervorgehoben, während die Hamburger Bürgerschaft bereits am 15. April 1982 das Ausländerwahlrecht forderte. In Verfolg dieses Beschlusses brachte der Senat der Hansestadt am 10. Mai 1988 den "Entwurf eines Gesetzes zur Einführung des Wahlrechtes für Ausländer zu den Bezirksversammlungen"13 ein. Durch Gesetz vom 20. Februar 1989 (GVBI. 1989, S. 29) hat die Hamburger Bürgerschaft das Ausländerwahlrecht für die Bezirksversammlungen eingeführt. Danach sind wahlberechtigt alle Ausländer, die sich am Wahltage seit mindestens 8 Jahren im Geltungsbereich des Grundgesetzes aufhalten und eine Aufenthaltserlaubnis oder die Rechtsstellung eines heimatlosen Ausländers haben. Am Tage darauf (21. Februar 1989) hat der Schleswig-Holsteinische Landtag das Gesetz zur Änderung des Gemeinde- und Kreiswahlgesetzes verabschiedet (GVBI. 1989, S. 12). Danach sind wahlberechtigt Angehörige der Staaten Dänemark, Irland, Niederlande, Norwegen, Schweden, Schweiz (also solche Länder, die ihrerseits Deutsche zu den Kommunalwahlen zulassen), wenn sie sich mit Aufenthaltserlaubnis oder einer solchen nicht bedürftig mindestens fünf Jahre in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten. 11
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§§ 4 II BRRG, 7 II BBG.
Von Löhneysen, DÖV 1981, S. 331. BürgerschaftsDrS 13/1680.
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Die Unionsfraktion im Deutschen Bundestag hat im Juni 1989 beim Bundesverfassungsgericht Normenkontrollanträge zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit beider Gesetze gestellt. Im Hinblick auf die für das Frühjahr 1990 angesetzte Schleswig-Holsteinische Kommunalwahl und die ihr vorausgehende Aufstellung der Kandidaten haben die Antragsteller zugleich den Erlaß einer einstweiligen Anordnung beantragt. Diesem Antrag hat das Gericht stattgegeben und die Beteiligung der Ausländer an der für das Frühjahr 1990 angesetzten Kommunalwahl in Schleswig-Holstein ausgesetzt. Die Europäische Kommission hat am 11. Juli 1988 den Vorschlag für eine Rats-Richtlinie über das Wahlrecht der Staatsangehörigkeit der Mitgliedsstaaten bei den Kommunalwahlen im Aufenthaltsstaat vorgelegti4. Sie kam damit einer Aufforderung des Europäischen Parlaments vom 24. Nov. 1985 nach. Diese Richtlinie würde ca. 4 Mio. Angehörige der Mitgliedstaaten betreffen. Die rechtspolitische Forderung wird nicht zuletzt auf die bereits erfolgte Einführung des Kommunalwahlrechtes in Schweden (1975), den Niederlanden (1979) und Dänemark (1981) gestützt. Doehring hat in seiner eingehenden rechtsvergleichenden und völkerrechtlichen Analyse auf der Staatsrechtslehrertagung 197315 allerdings nachgewiesen, daß in nahezu allen Staaten der Welt das Wahlrecht den Angehörigen des Staatsvolkes vorbehalten ist und daß es weder eine geschriebene noch eine gewohnheitsrechtliche völkerrechtliche Verpflichtung zur Einführung des Ausländerwahlrechtes gibt16. Soweit ein verfassungsrechtliches Gebot der Einführung des Ausländerwahlrechts postuliert wird17, wird es gestützt auf -Art. 1 GG Menschenwürde und Partizipationsgebot - Art. 3, 38 GG Allgemeinheit/Gleichheit der Wahl -Art. 5 GG Überwindung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft - Art. 20 (Demokratiegebot) Betroffenheit der Ausländer -Art. 20 (Sozialstaatsgebot) Befreiung einer benachteiligten Bevölkerungsgruppe Ein verfassungsrechtliches Verbot wird letztlich in Art. 20 II 2 GG gesehen. Das Bundeswahlgesetz, die Landes- und die meisten Kommunalwahlgesetze18 sehen vor, daß das aktive und passive Wahlrecht nur Deutschen 14 BR DrS 410/88.
15 Die staatsrechtliche Stellung der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland, VVDStRL 32 (1973), S. 7 - 48. 16 Fn. 15, S. 8ff., S. 32ff. 17 Dazu im einzelnen Zuleeg, JZ 1980, S. 425 - 431.
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zusteht. Nun lassen sich Gesetze mit einfacher Mehrheit ändern. Es wäre also denkbar, daß nach Änderung der Kommunalwahlgesetze die Ausländer - wie schon in Schleswig-Holstein- in Nordrhein-Westfalen, Hessen mitwählen dürfen, in Bayern, Rheinland-Pfalz, Niedersachsen hingegen nicht. Fraglich ist, ob Art. 28 I 2 GG dem entgegensteht. Danach muß das Volk in den Ländern, Kreisen und Gemeinden eine Vertretung haben, die aus allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen ist. Art. 28 schreibt in Anwendung des Homogenitätsprinzips (Art. 28 I 1) das demokratische Strukturprinzip (Art. 20 II, 38 GG) fest. Wenn das territorial umgrenzte (Gemeinde-)Volk das Staatsvolk, das Volk der Staatsbürger- wie in Art. 20 II GG -ist und dieses nur Deutsche umfaßt, stünde die Einführung des Kommunalwahlrechts für Ausländer mit Art. 28 I 2, 20 II GG in Widerspruch. Die folgende Untersuchung wird in vier Schritten vorgehen: - Zunächst ist zu prüfen, was das Grundgesetz mit "Volk" in Art. 20 II meint (II); - sodann wird untersucht, ob Art. 28 I 1, 2 GG Raum für ein auch Ausländer umschließendes Verständnis des Wahlvolkes läßt (III); - in einem dritten Schritt ist festzustellen, ob für die Wahl zu den Hamburger Bezirksversammlungen vom allgemeinen Kommunalwahlrecht abweichende Besonderheiten gelten (IV); - schließlich soll der Blick auf Möglichkeiten und Grenzen von Verfassungsund Gesetzesänderungen zur Einführung eines kommunalen Ausländerwahlrechtes gelenkt werden (V). II. "Volk" im Sinne der Präambel und der Art. 146, 20 II, 1, 2, 166 GG 1. In der Diskussion um die Einführung des kommunalen Ausländerwahlrechtes werden zwei Rechtsauffassungen hinsichtlich der Interpretation des Volkes in der Präambel, Art. 20 II, Art. 28 I GG vertreten. Nach der einen ist "Volk" das die Staatsgewalt legitimierende, innehabende und selbst durch Wahlen und Abstimmungen ausübende Volk, nämlich das aus den Deutschen bestehende Staatsvolk; es umfaßt nur Staatsbürger19. Andererseits wird die Auffassung vertreten, für die Abgrenzung des "Volkes" sei die territoriale Abgrenzung der Lebens- und Schicksalsgemeinschaft auf dem Boden der BunNachweise bei Birkenheier, Wahlrecht für Ausländer, 1976, S. 98. Diese Meinung vertreten Stern, Staatsrecht, Bd. 2, 1980, S. 24; Isensee (Fn. 4), S. 92; Lamers, Repräsentation und Integration der Ausländer in der BRD unter besonderer Berücksichtigung des Wahlrechtes: Zugleich eine rechtsvergleichende Studie über das Kommunalwahlrecht in den Staaten der Europäischen Gemeinschaften. 1977. 18
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desrepublik Deutschland maßgeblich. Sie umfasse Deutsche und für längere Zeit ansässige Ausländer2°. Im Blick auf die den Staat konstituierende Trias von Volk, Gebiet und Herrschaft: Ist es eher die Zugehörigkeit zur Nation (Abstammungsprinzip) oder die Gebietszugehörigkeit (Territorialitätsprinzip), welche Herrschaft legitimiert und trägt? Es ist angezeigt, zunächst in systematisch-dogmatischer Hinsicht nach der Bedeutung von "Volk" im Grundgesetz zu fragen, sodann historisch nach der Entwicklung des Volksbegriffes zu forschen und letztlich auch die Möglichkeit eines Verfassungswandels ins Auge zu fassen. 2. Eine systematische Interpretation hat davon auszugehen, daß der Kollektivbegriff "Volk" im Grundgesetz keine einheitliche Verwendung gefunden hat. Man kann zumindest drei Bedeutungen unterscheiden:
- In der Präambel und in Art. 146 GG, wo vom "Deutschen Volk" die Rede ist, ist das nichtorganisierte, das souveräne Volk, eher i. S. der allgemeinen Staatslehre als des Staatsrechtes gemeint; - in Art. 20 II 1 und 2 GG, wo vom "Volk" die Rede ist, ist das staatsrechtlich organisierte, das Staatsvolk, das Organvolk gemeint, das Volk im staatsrechtlichen Sinne; - schließlich läßt sich feststellen, daß emtgen Grundrechtsartikeln, wie Art. 5, 8 etc. eine Vorstellung vom (vorstaatlichen) Volk im soziologischen Sinne zugrundeliegt, "Volk" i. S. der Einwohnerschaft, wie sie etwa Substrat der "öffentlichen Meinung" ist. Natürlich ist mit dem ersten Begriff der pouvoir constituant, dem zweiten der pouvoir constitue, dem dritten die Bevölkerung gemeint. In der Präambel und Art. 146 GG ist das "Volk" als das die Staatsgewalt legitimierende Substrat gemeint, das Volk als (noch) nicht organisierter Souverän21. Das Volk als verfassungsgebende Gewalt ist das Gesamtvolk, diejenige politische Kraft und Autorität, die in der Lage ist, die Verfassung in ihrem normativen Geltungsanspruch hervorzubringen, zu tragen , auch aufzuheben. Sie ist nicht mit der Staatsgewalt identisch, sondern liegt ihr voraus. Wichtig ist, daß die Lehre von der Souveränität nicht (erst) demokratischen Ursprungs ist, sondern schon im Mittelalter- auch die Quelle der Hoheitsbefugnisse der Monarchen bezeichnend - entstanden ist22. "Volk" in diesem 2o So Zuleeg (Fn. 17) und ders., Ev. Pressedienst 4/1980, S. 7; Rittstieg, Wahlrecht für Ausländer, Königstein 1981, S. 59ff.; aber auch schon Liermann, Das Deutsche Volk als Rechtsbegriff im Reichs-Staatsrecht der Gegenwart, Berlin!Bonn 1927, der (S. 48) meint: "Es sind nicht etwa alle diejenigen, die äußerlich als Staatsangehörige registriert sind, sondern alle die, die derart in geistiger Gemeinschaft miteinander stehen, daß sie einen bestimmten Staat als ihren Staat betrachten" . .. 21 Böckenförde, Die verfassungsgebende Gewalt des Volkes. Ein Grenzbegriff des Verfassungsrechtes, Frankfurt 1986, S. 8.
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Sinne ist die Summe aller "Volksgenossen", die - seit Sieyes - "Nation" in ihrem "Naturzustand", d. h. (noch) außerhalb von Staat und Verfassung. "Volk" ist nicht naturalistisch als Wohnbevölkerung zu verstehen23. "Volk" deckt sich auch nicht mit dem Volk im ethnischen Sinn als einer durch gemeinsame Sprache, Abstammung, Kultur verbundenen Gruppe von Menschen (Kulturnation). Gemeint ist vielmehr die (Staats-)Nation, d. h. die sich politisch zusammenfindende und abgrenzende Gruppe, die sich ihrer selbst als politische Größe bewußt wird und als solche handelnd in die Geschichte tritt. Hier schlagen sich durchaus Erkenntnisse der Gruppenpsychologie nieder, die feststellt, daß Menschen zwischen Gruppenangehörigen und Gruppenfremden unterscheiden. Es ist nicht unumstritten, ob in Art. 20 II 1 GG - "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus" -auch (noch) die "Nation" oder (bereits) das konstituierte Staatsvolk als Summe aller Staatsbürger gemeint ist. Letztere, von Stern24 vertretene Ansicht ist vorzugswürdig. Jedenfalls ist in Art. 20 II 2 GG die Aktivbürgerschaft, Wahlbürgerschaft als Teilmenge des "Volkes" i. S. des Art. 20 II 1 GG gemeint, nämlich alle Staatsbürger unter Abzug der Wahlunmündigen, der Geisteskranken, der Wahlunwürdigen gemeint. In Art. 20 II 1, 2 GG ist das Demokratieprinzip als Staatsform verankert. Die Nation hat sich für die Demokratie und gegen andere Möglichkeiten der Herrschaftsausübung zu entscheiden. Herrschaft des Volkes heißt Identität von Regierenden und Regierten in dem wohlverstandenen Sinne, daß es ausgeschlossen sein soll, daß die "Unterscheidung von Regieren und Regiertwerden eine qualitative Verschiedenheit ausdrückt oder bewirkt"25. Art. 20 II 2 GG erlaßt die unmittelbar-demokratischen und die repräsentativ-demokratischen Elemente der grundgesetzliehen Demokratie. Die hier- wie anderwärts (etwa in Art. 33 GG)- genannten Rechte der Aktivbürger lassen sich dogmatisch zur Staatsbürgerschaft zusammenfügen26. Das herausgehobene Staatsbürgerrecht ist das Wahlrecht. Wahl ist die organisierte Form der politischen Selbstvergewisserung einer pluralistischen Staatsbürgergesellschaft, die sich als repräsentative Demokratie verfaßt hat (Art. 38 I GG). Im Unterschied zum Landesverfassungsrecht27 sagt Art. 38 II GG allerdings weder, daß alle Deutschen i. S. des Art. 116 I GG, noch, daß nur Deutsche wahlberechtigt und wählbar sind. 22 Maunz I Dürig I Herzog I Scholz, Grundgesetz, Kommentar, München, Stand 1987, Art. 20 II, Rdnrn. 34ff. 23 Grawert, Staatsvolk und Staatsangehörigkeit, in: Isensee I Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, Heidelberg 1987, S. 674; Karpen, Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als Bedingung rechtsstaatlicher Freiheit, JA 1986, S. 299- 310 (303); dazu auch BVerfGE 8, 104 (115) (zur "öffentlichen Meinung"). 24 (Fn. 19), S. 151. 25 Carl Schmitt, Verfassungslehre, Berlin 1928, S. 235 . 26 Grawert (Fn. 23), S. 686f. 27 Vgl. Art. 73 HeVerf., Art. 4 II NdsVerf, Art. 75 II RhPfVerf, Art. 66 SaVerf.
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Die Beschränkung des Wahlrechtes auf Deutsche ergibt sich allerdings aus dem Funktions- und Legitimationszusammenhang des Art. 38 mit Art. 20 II GG28, demgemäß die staatliche Selbstorganisation in der Demokratie aus dem Staatsvolk hervorgeht. Der eigentliche Staatsverband besteht aus den Staatsangehörigen. Das Wahlvolk besteht in erster Linie aus den wahlberechtigten Staatsangehörigen. Die Staatsangehörigkeit begründet eine personale Dauerbeziehung. Sie hat für den Zusammenhang von Mensch, Volk, Staat und Staatenwelt eine substantielle, nicht nur technische Bedeutung. Sie begründet einen besonderen Pflichtenstatus - z. B. Wehrpflicht, Übernahme von Ehrenämtern29 - , aber natürlich auch einen Rechtsstatus, der sich am deutlichsten im Wahlrecht aktualisiert. Isensee30 hat von der Unentrinnbarkeil der Bindung an das existentielle Geschick des Staates gesprochen. Ihm folgt Quaritsch31, 32. In der Staatsangehörigkeit ist die Zuordnung von Person und Staat zu sehen, die von Rechts wegen staatliche Personalhoheit und individuelle Verbandshoheit verhindert. Außer den Staatsangehörigen sind auch deutsche Volkszugehörige nach Art. 116 GG wahlberechtigt. Art. 116 GG rekurriert auf einen ethnischen Volksbegriff und enthält eine interessante, nur aus der jüngsten deutschen Geschichte erklärbare nationale Variante der Legitimation der Staatsgewalt. "Deutscher" ist, wer nicht die formelle Staatsangehörigkeit besitzt, aber als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit- wozu nach § 6 BdVertriebG v. 1953 das "Bekenntnis zum deutschen Volkstum" gehört, bestätigt durch Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur- in den deutschen Grenzen vom 31. 12. 1937 Aufnahme gefunden hatJ3. Praktisch werden Volksdeutsche ohne Staatsangehörigkeit den deutschen Staatsangehörigen gleichgestellt; sie sind "Statusdeutsche" und gehören zur Aktivbürgerschaft.
28 lsensee (Fn. 4), S. 91ff.; vgl. auch die Bestimmungen des BWahlG und der LdWahlGe. 29 Etwa das des Schöffen,§ 31 GVG. 30 Fn. 4, S. 93 ; vgl. aber BVerfGE 6, 32 (41f.) zum freien Ausreiserecht der Deutschen. 31 DÖV 1983, 1 (7). 32 Auch die Verfassungen anderer Staaten enthalten eine ausdrückliche Beschränkung des Wahlrechtes auf Staatsangehörige: so Art. 3 IV der Französ. Verf; Titel IV, Art. 48 I der Ital. Verf; Art. 26 I der Österr. BdVerf. 33 § 6 des 1. StARegO v. 22. 02. 1955 (BGBl I, S. 65) gewährt den Status-Deutschen einen Einbürgerungsanspruch. Kritisch anzumerken, daß es rechtspolitisch möglicherweise richtig (gewesen) wäre, die Rechtsstellung nach Art. 116 I GG durch Nichtgebrauchen verlorengehen zu lassen. Das BdVertriebG hat jedoch verfügt, daß die Aufnahme auch in Zukunft stattfinden kann: 1988 werden 200.000 Aussiedler erwartet. Es gibt gute Gründe für diesen Rechtszustand, aber er schafft ohne Zweifel auch praktische und theoretische Probleme.
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Das Wahlrecht knüpft also nach Art. 20 II 2, 38 GG an die DeutschenEigenschaft an, nicht an die Gebietszugehörigkeit, nicht an eine irgendwie geartete "Betroffenheit" oder "Rechtsunterworfenheit". Das deutsche Volk hat sich seine Demokratie geschaffen, und nicht schafft sich eine- theoretisch konstituierte- Demokratie ihr Volk. In der Wirklichkeit ist es eben nicht so, daß Münchhausen sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zieht: Käme es in der Demokratie primär auf Betroffenheit an, so dürfte ein Jugendschutzgesetz nicht von volljährigen Abgeordneten beschlossen werden34 • Kompensation für den Rechtsgehorsam ist nicht die Beteiligung an der Gesetzgebung, sondern der Schutz durch die Rechtsordnung. 3. Grawert35 und Quaritsch36 haben überzeugend nachgewiesen, daß das Wahlrecht historisch seit dem späten 18. Jahrhundert an die Staatsangehörigkeit gebunden war und ist. Die Entwicklung des Instituts der Staatsangehörigkeit - beginnend mit den Revolutionskriegen - ging Hand in Hand mit einer radikalen Nationalisierung der Politik in Europa. Die verwaltungsrechtliche Wurzel der Staatsangehörigkeit - Abschiebung von Armen in die Staaten, denen sie angehörten- wurde bald von der verfassungsrechtlichen Teilhabe an der Staatsgewalt - in den Hintergrund gerückt. Die Französische Verfassung vom 3. Sept. 1791 geht ebenso wie die erste deutsche gesetzliche Regelung im Preuss.UntertanenG vom 31. Dez. 1848 vom Wahlrecht der Staatsangehörigkeit aus. Das galt auch für das WahlG vom 31. März 1869 über den Reichstag des Norddeutschen Bundes, das für das Deutsche Reich übernommen wurde und bis 1918 in Kraft war. Für die Zeit der Weimarer Rechtsverfassung (Art. 1 II, Art. 17 Satz 2) war unbestritten, daß die Staatsgewalt vom deutschen Volk ausging. Bei der Beratung des Grundgesetzes dachte man nur an eine politische Beteiligung der Deutschen37; die Ausgestaltung der politischen Grundrechte als Deutschenrechte bestätigt dieses Ergebnis38. 4. Von vielen Befürwortern eines Ausländerwahlrechtes wird dieser historische (z. T. auch der dogmatisch-exegetische) Befund auch nicht bestritten. Sie verweisen jedoch darauf, daß ein Verfassungswandel dahingehend stattgefunden habe, daß zum "Volk"- jedenfalls i. S. des Art. 20 II 2 GG- auch Ausländer gehörten, die ihren dauernden Lebensmittelpunkt im Bundesgebiet hätten39. Der Begriff des Verfassungswandels wird in der verfassungsrechtlichen Methodik vor allem dazu verwendet, den untrennbaren Zusammenhang von Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit - Normprogramm und Quaritsch (Fn. 31), S. 9. Vor allem in der Habilitationsschrift "Staat und Staatsangehörigkeit" (1973). 36 Fn. 31, S. 4ff. 37 Vgl. von Mangoldt, Carlo Schmid, JöRNF 1 (1951) , S. 71. 38 Birkenheier (Fn. 18), S. 24ff. 39 Zuleeg (Fn . 17), S. 430; Wilhelm, Kommunalwahlrecht für Ausländer, Die demokratische Gemeinde , 1975, S. 17. 34
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Normbereich - bei der Konkretisierung der Verfassungsnorm deutlich zu machen. Einmal unterstellt, der Normbereich habe sich so geändert, daß die Integration der Ausländer eine Veränderung des gewachsenen Verfassungsverständnisses erzwinge, ist es doch sehr fraglich, ob sich eine solche Forderung gegen ein eindeutiges und sogar jüngst bestätigtes Normprogramm durchzusetzen vermag40. Letzteres ist aber der Fall: 1968 wurde mit Art. 20 IV GG das Widerstandsrecht (nur) der Deutschen eingeführt. In systematischer Hinsicht wäre es aber ein sehr merkwürdiges Ergebnis, wenn die Staatsgewalt nach Art. 20 II GG von der in- und ausländischen Wohnbevölkerung ("Volk") ausginge, aber nur der deutsche Teil dieses Wohnvolkes zum Widerstand gegen die Beseitigung der verfassungsmäßigen Ordnung berechtigt sein sollte. Gerade angesichts des Umstandes, daß 1968 bereits 1,9 Mio. Ausländer in der Bundesrepublik wohnten, läßt sich schwerlich von einem Verfassungswandel sprechen. Wenn eine eindeutige Interpretation dazu führt , daß das Grundgesetz in Art. 20 II GG das "Deutsche Volk" meint, ist es methodisch verfehlt- und eine Umgehung des Art. 79 II GG -, dem Verfassungswandel dadurch auf die Sprünge zu helfen, daß man dem (einfachen) Gesetzgeber die (authentische?) Interpretation des Volksbegriffes anheimstellt4I. Ob sich ein Verfassungswandel durch die Supranationalisierung Europas abzeichnet, kann hier dahingestellt bleiben: Selbst als Europäischer Marktbürger bleibt der Staatsangehörige des einen Mitgliedsstaates vom politischen System des anderen ausgeschlossen; der Europäische Bürgerrechtsstatus ersetzt noch! - nicht die Funktionen der Staatsangehörigkeit, des Staatsvolkes und des Staates überhaupt42. 111. Wahlrecht der Deutschen für Bundes-, Landtags- und Kommunalwahlen
1. "Volk" i. S. des Art. 20 II GG ist danach das Staatsvolk der Deutschen, nicht "eine Lebens- und Schicksalsgemeinschaft auf dem Territorium der Bundesrepublik Deutschland, die Deutsche und für längere Zeit ansässige Ausländer um(aßt"43. Die Regelung des Art. 20 II GG gilt zunächst nur für das Bundesvolk.
2. Die Länder haben Staatsqualität. Sie definieren deshalb ihr Staatsvolk prinzipiell durch eigene Angehörigkeitsbestimmungen. Ausdrücklich hat nur Bayern eine eigene Staatsangehörigkeit gebildet (Art. 6 der BayVerf). In den Hailbronner (Fn. 4), S. 2110. So richtig Quaritsch (Fn. 31), S. 4 (Fn. 26) gegen Rittstieg (Fn. 20), S. 44 und Steinberg, JZ 1980, S. 385ff. Zum Verfassungswandel im übrigen (zurückhaltend) BVerfGE 2, 380 (401). 42 Grawert (Fn. 23), S. 688; Bleckmann, DVB11980, 696f. 43 Zuleeg (Fn. 20), S. 7. 40
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übrigen Ländern ist davon auszugehen, daß das Landesstaatsvolk sich aus dem im Lande wohnenden Teil des Bundesstaatsvolkes - also den Deutschen zusammensetzt44. Die Landesvölker sind mit dem Bundesvolk, dem Deutschen Volk, personell teilidentisch. Auch das Wahlrecht steht nur Deutschen zu. Dabei mag es letztlich dahinstehen, ob sich dieses Ergebnis bereits aus dem Homogenitätsgebot des Art. 28 I 1 GG ergibt oder ob der Begriff "Volk" in Art. 28 I 2 GG - Landes-Aktivbürgerschaft - ebenso wie in Art. 20 II 2 GG als "deutsches Volk" auszulegen ist. Es wäre mit Art. 33 I und 28 II 2 (und 20 II 2) GG unvereinbar, würde ein Landes(Verfassungs)gesetzgeber den Kreis der Wahlberechtigten einschränken oder auf Ausländer ausdehnen. Nicht nur ist die Landesangehörigkeit Grundlage der nur Deutschen zukommenden Teilhabe an der Landesstaatsgewalt; die Landesaktivbürgerschaft wirkt, vermittelt durch Landtage und Landesregierungen, über den Bundesrat (Art. 50 GG) bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes mit. Das ist im Grundsatz denn auch unbestritten, und deshalb wird die Forderung nach einem Landeswahlrecht für Ausländer nicht erhoben. 3. Nicht unbestritten ist das Deutschen-Wahlrecht naturgemäß für die kommunale Ebene. Hier werden letztlich drei Auffassungen vertreten: - die erste Meinung geht davon aus, auch Kommunen übten Staatsgewalt aus, die nur von Deutschen legitimiert werden könne; - andere lehnen die Prämisse ab und nehmen an, die Verwaltung der Gemeinden als nichtstaatlicher öffentlich-rechtlicher Körperschaften könne durch die (erweiterte) Einwohnerschaft legitimiert werden; - eine dritte Auffassung dividiert Selbstverwaltungs- und übertragene Staatsaufgaben auseinander und will jedenfalls für erstere die Bevölkerungslegitimation genügen lassen, sei es disjunktiv- Selbstverwaltung: Einwohnerlegitimation, Staatsverwaltung: Deutschenlegitimation- oder kumulativ: Doppellegitimation für den Gesamtaufgabenbereich. 4. Die überwiegende Meinung45 geht dahin, die Gemeinden seien Organe der mittelbaren Staatsverwaltung. Sie umfaßten keine autogenen "Kommunalvölker", sondern gebietskörperschaftlich definierte Ausschnitte des jeweiligen Landesstaatsvolkes, die Art. 28 II GG mit "örtlicher Gemeinschaft" bezeichne. Die Gemeinden verkörperten heute kein staatsfremdes, "gesellschaftliches Prinzip" mehr, sondern übten - in der Einheit der Staatsgewalt in Wirklichkeit vom Staat verliehene oder überlassene Hoheitsrechte aus (Art. 28 II GG). Die "Kommunalgewalt" einer Gemeinde leite sich von dem Teil des Staatsvolkes ab, der zu ihrem Gebiet- etwa durch den Wohnsitz- in besonderer Beziehung stehe. Sachs, Das Staatsvolk in den Ländern, AöR 108 (1983), S. 68 (77f.) . Badura, Staatsrecht, München 1986, S. 181; Scheuner, AfK 12 (1973) , S. 6; Herzog, in (Fn. 22), Art. 20, Rn. 56; lsensee (Fn. 4), S. 96. 44 45
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Brohm schlägt den Begriff "Verbandsvolk" vor, da dieser Gedanke auf alle Selbstverwaltungskörperschaften zutreffe. Das Ergebnis dieser Auffassung ist, daß in den im Zeichen der Demokratie völlig staatshomogen strukturierten Gemeinden (Art. 28 I 2 GG) nur die Deutschen wahlberechtigt seien46. Die entgegengesetzte Auffassung unterstreicht, daß die Gemeinden sich selbstverwaltende (Art. 28 II GG) nichtstaatliche Körperschaften seien. Es müsse nicht auf das Staatsvolk abgestellt zu werden. Vielmehr könne die gesamte, dauernd anwesende Bevölkerung in die politische Mitgestaltung der lokalen Angelegenheiten mit einbezogen werden. Schwerdtfeger47 hat in seinem ausländerrechtliehen Gutachten für den Deutschen Juristentag 1980 den Zusammenhang zwischen Art. 28 II 2 und 20 II 2 GG mit der Erwägung geleugnet, Art. 20 II GG spreche von "Staatsgewalt". Staatsgewalt aber komme nur den Organen von Bund und Ländern zu. Die Gemeinden seien keine Staaten, hätten also keine Staatsgewalt und seien als nichtstaatliche Selbstverwaltungsorgane nicht an das Prinzip der verstaatlichten Volkssouveränität gebunden.
Sasse I Kempen4s sehen in Art. 28 II GG das gesellschaftliche Mandat eines eigenständigen autonomen politischen Formprinzips. Soweit die Gemeinden im übertragenen Wirkungskreis tätig würden, nähmen sie an der Legitimation des Staates teil und stützten sich damit unmittelbar auf das Staats- (Landes-) volk als Legitimationsquelle. Soweit sie selbstverwaltend tätig würden, erhielten sie ihre Legitimation aus kommunalen Wahlen, an denen sich die Einwohnerschaft- nicht (nur) das Staatsvolk- beteiligen könne. Ähnlich argumentiert Beer49, der sich besonders gründlich mit dem Problem des Ausländerwahlrechts auseinandergesetzt hat. Seine Auffassung geht von der zuerst dargestellten herrschenden Meinung aus. Letztlich gebe es nur einen zweistufigen Staatsaufbau: Bund und Länder. Die Gemeindeverwaltung sei aus staatlicher Legitimationsquelle gespeist: einen pouvoir municipal gebe es nicht. Staatlicher Errichtungsakt, übertragene Aufgaben, staatliche Aufsicht und Kontrolle: die Legitimation komme vom Staatsvolk, "von oben" . Es trete aber ein "von unten" kommender Legitimationsstrang hinzu, bei dem es nur eine parlamentsähnliche Legitimation durch die Einwohnerschaft, die 46 Das ergibt sich wohl aus Art. 12 I BayVerf und Art. 50 I Rh-PfVerf; BVerfGE 47, 253 (272) läßt eine eindeutige Inanspruchnahme für diese Auffassung wohl nicht zu. 47 Fn. 4, S. 111. 48 Kommunalwahlrecht für Ausländer, aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Zeitschrift "Das Parlament", Februar 1974, S. 16; vgl. auch Christoph Sasse, Kommunalwahlrecht für Ausländer, 1974, S. 43ff.; ähnlich Salzwedel, VVDStRL 22 (1963), s. 232ff. (236). 49 Dietmar Beer, Die Mitwirkung von Ausländern an der politischen Willensbildung in der Bundesrepublik Deutschland durch Gewährung des Wahlrechts, insbesondere des Kommunalwahlrechts, Berlin 1982, S. 95ff.
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Aktivierung der Beteiligten und Betroffenen i. S. des ursprünglichen Selbstverwaltungsgedankens gebe.
Beer5° sieht sein Ergebnis durch einen Vergleich der kommunalen Selbstverwaltung mit anderen Zweigen der Selbstverwaltung, insbesondere der beruflichen und der akademischen Selbstverwaltung bestätigt. Auch sie übten mittelbare Staatsverwaltung aus und seien doch nicht staatshomogen strukturiert: in Ärzte- und Handwerkskammern, in Hochschulsenaten und Rundfunkrätenwirkten Ausländer mit. Diesen Vergleich zieht im übrigen auch die in diesem Zusammenhang immer wieder zitierte Entscheidung des OVG Lüneburg vom 06. 11. 198451. Sich auf sie zu berufen, ist jedoch letztlich ein untaugliches Argument: Sie kommt nämlich zu dem Ergebnis, daß der Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger, kein Kommunalwahlrecht habe. Dieses Ergebnis erreicht das Gericht aber erst nach langwierigen - letztlich als obiter dicta zu bewertenden - Erörterungen, die nachweisen sollen, daß es jedenfalls kein (niedersächsisches) Verfassungsverbot gebe, Ausländer an Kommunalwahlen zu beteiligen. Das Gericht hat sich durch Art. 44 I der NSVerf aufs Glatteis führen lassen. Die Vorschrift garantiert nämlich in einem Atem Kommunen und sonstigen öffentlich-rechtlichen Körperschaften das Selbstverwaltungsrecht. Art. 44 II enthält dann aber das bekannte Homogenitätsgebot (nur) für Gebietskörperschaften: in ihnen muß das Volk eine Vertretung haben, die nach Maßgabe der in Art. 38 I GG formulierten Grundsätze gewählt ist. Im Blick auf die Gleichbehandlung von Gebiets- und anderen Körperschaften in Absatz I meint das Gericht nun, "Volk" in Absatz II könne auch die Bevölkerung sein. Allerdings - und damit biegt das Gericht in die Zielgerade der herrschenden Meinung ein- sei es kein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz, wenn das niedersächsiche Kommunalwahlrecht- wie in der Tat geschehen- Ausländer zum Kommunalwahlrecht nicht zulasse. Das Urteil kann für die ausländerfreundliche Interpretation also nur bedingt in Anspruch genommen werden, nur insofern, als es das Problem von der verfassungsrechtlichen auf die einfachgesetzliche Ebene herunterzieht. Ihm kann aber schon im Ansatz nicht zugestimmt werden, soweit es die Unterschiede zwischen Personal- und Gebietskörperschaften verwischt. Letztere sind in der neueren Entwicklung territoriale Einheiten im vertikalen Aufbau des Staates, während erstere auf dem Prinzip gesellschaftlicher Selbstverwaltung - so die berufsständische Selbstverwaltung - oder dem Prinzip staatsdistanzierter Grundrechtssicherung- so die Hochschulen und die Rundfunkanstalten - beruhen. In beiden Fällen legitimieren sich Mitgliedschaftsund Repräsentationsrechte aus Grundrechtsfreiheiten, an denen - je nach 50
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Fn. 49, S. 114. DÖV 1985, S. 1067.
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dem Grad der Statusverfestigung- die Ausländer partizipieren. Auch im Falle der Zwangsmitgliedschaft in der Sozialversicherung ist eine bestimmte gesellschaftliche Rolle maßgeblich; der Mitgliedschaft entsprechende Beteiligungsrechte. Der bei diesen Personalkörperschaften geltende Dualismus von Staat und Gesellschaft gehört im Falle der Gebietskörperschaften der Vergangenheit an. Soweit es Beers Auffassung einer hinkenden Zweitlegitimation angeht, so degeneriert- richtig besehen- das Partizipationsrecht der Einwohner zu einem Schmuckblatt für die letztlich vom Landesvolk legitimierte mittelbare Staatsverwaltung. Das entscheidende Argument für die durch Art. 28 I 2 GG erfolgte Rückführung der Legitimation kommunaler Vertretung auf das Deutsche Volk ist die Einheit der Staatsgewalt. Sie ist jene Zuständigkeit, die als befugt angesehen wird, den Entscheidungsadressaten auch ohne sein konkretes Einverständnis und notfalls gegen seinen konkret geäußerten Willen rechtlich zu verpflichten und diese Rechtspflicht notfalls mit physischer Gewalt in einem staatlich geordneten Verfahren durchsetzen zu können52. Die Fähigkeit einseitiger verbindlicher Entscheidung und Vollstreckung ist nicht auf die Instanzen von Bund und Ländern beschränkt, sondern gilt auch für Kreise und Gemeinden. Deshalb ist ein kommunales Ausländerwahlrecht wegen Verstoßes gegen Art. 28 I 2, 20 II 2 GG von Verfassungswegen ausgeschlossens3.
IV. Ausländerwahlrecht zu den Hamburger Bezirksversammlungen 1. Da in den Stadtstaaten auf Bezirksebene Art. 28 I 2 GG keine unmittelbare Anwendung findet, bieten sie sich in besonderer Weise an, auf der unteren Verwaltungsebene den Versuch der Einführung eines "Kommunalwahlrechtes" für Ausländer zu unternehmen. Am weitesten vorangeschritten ist die Freie und Hansestadt Hamburg54 • Nach der Volkszählung von 1987 sind von 1,6 Mio. Einwohnern 140.000 Ausländer, mit 7,8% mehr als im Bundesdurchschnitt. Sie verteilen sich auffällig ungleichmäßig über das Stadtgebiet. Es gibt Massierungen. So sind in St. Pauli 26,2% der Bewohner Ausländer, in St. Georg 20,1 %, in Wilhelmsburg 16,4% . In einer Grundsatzentscheidung zur zukünftigen Ausländerpolitik vom Juli 198055, erklärte der Senat, die Bestimmungen des Ausländerrechts Quaritsch (Fn. 31), S. 3. So auch der Gesamtvorstand der Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände in seiner Sitzung vom 14. 09. 1976 (DStGB 1980, 318 (319), bekräftigt am 8. Sept. 1980 (DStGB 1980, S. 435), erneut bestätigt vom Präsidium des Deutschen Städte- und Gemeindebundesam 15. 10. 1987. 54 Vgl. Heyen, Verfassungsaspekte einer Beteiligung von Ausländern an der Hamburger Bezirksversammlungswahl, DÖV 1988, S. 186. 55 BürgerschOrS 9, 2431. 52 53
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und seine verwaltungsmäßige Umsetzung dürften nicht vorrangig als abwehrende, sondern müßten als integrationsfördernde Instrumente eingesetzt werden. Am 15. April 1982 stimmte die Hamburger Bürgerschaft56 mit ihrer regierenden SPD-Mehrheit einem Ausländerprogramm zu, das u. a. das Wahlrecht für Ausländer zu den sieben Bezirksversammlungen der Hansestadt vorsieht. Am 10. Mai 198857 legte der Senat der Bürgerschaft den Entwurf eines Gesetzes zur Einführung des Wahlrechtes für Ausländer vor. Der Entwurf ist im wesentlichen unverändert Gesetz geworden (Ges. vom 20. Februar 1989, GVB11989, S. 29). 2. Eine rechtliche Würdigung des Gesetzes muß davon ausgehen, daß nach Art. 4 I der Landesverfassung staatliche und gemeindliche Tätigkeiten nicht getrennt sind, durch Gesetz aber für Teilgebiete Verwaltungseinheiten gebildet werden können (Art. 4 II), denen die selbständige Erledigung übertragener Aufgaben obliegt: das sind die Bezirkess. Sie haben eine besondere Ausformung erfahren, haben eine geringere Autonomie als die Berliner Bezirke, eine größere als die Bezirke der Städte in den Flächenstaaten. Fraglich ist, ob es sich bei ihrer Aufgabenwahrnehmung um gemeindliche Selbstverwaltung i. S. des Art. 28 II GG handelt. Diese Frage wird man verneinen müssen. Es fehlt ihnen an allem, was den Kernbestand kommunaler Selbstverwaltung ausmacht59: - eigene Rechtspersönlichkeit; - grundsätzliche, zumindest subsidiäre Allzuständigkeit für Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft; - Organisations- und Personalhoheit; - Finanz- und Abgabenhoheit; - Planungs- und Satzungshoheit; - Teilhabe an der Einkommensteuer nach Art. 106 III 1 und li GG. Nach § 6 BezVG sind die Bezirksämter an der Aufstellung des Bezirkshaushalts beteiligt. Er ist jedoch Bestandteil des Staatshaushaltes. Der Senat teilt den Bezirken die Haushaltsmittel zu. Trotz Ansätzen von Selbständigkeit in der Aufgabenerledigung sind Senat und Fachbehörden nicht auf die Rechtsaufsicht beschränkt; sie bleiben vielmehr umfassend sachverantwortlich. Nach § 1 IV des Gesetzes über Verwaltungsbehörden kann der Senat allgemein und im Einzelfall Weisungen erteilen und Angelegenheiten selbst erledigen, auch soweit (eine Fachbehörde oder) ein Bezirksamt zuständig ist (sog. "Evokationsrecht")60 - Das Schwergewicht der Aufgaben der Bezirke liegt eher auf DrS 9/4396. DrS 13/1680. 58 Bezirksverwaltungsgesetz vom 22. Mai 1978 (GVBI S. 178). 59 BVerfGE 52, 95 (117) (SH Amtsverfassung). 60 Haas, in: Hoffmann-Riem I Koch, Hamburgisches Staats- und Verwaltungsrecht, Frankfurt 1988, S. 91 (103). 56
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verwaltungstechnischem Gebiet. Sie sind Gemeinden und Kreisen deshalb auch nicht vergleichbar, nicht Instanzen der dezentralisierten Verwaltung, sondern dekonzentrierte Verwaltungseinheiten6I. 3. Die Bezirksversammlung ist- neben dem Bezirksamtsleiter- eines der Organe des Bezirkes. Durch sie wirkt die Bevölkerung an der Erledigung der Angelegenheiten des Bezirkes mit(§ 8 BezVG). Sie besteht aus 40 Bezirksabgeordneten (§ 9 BezVG). Die Bezirksversammlungen haben einige Entscheidungsbefugnisse- vor allem bei der Vorbereitung von Bebauungsplänen62 -, im übrigen Anhörungs-, Vorschlags- und Anregungsrechte. Die Erfüllung der Aufgaben des Bezirks liegt in der Verantwortung des Bezirksamtes, dem nach § 35 BezVG der Bezirksamtsleiter vorsteht. Die Bezirksversammlungen sind Instrumente zur Aktivierung der Bezirksbevölkerung im Interesse einer besseren Bezirksvertretung. Sie sind hingegen keine kommunalen Vertretungskörperschaften, nicht- wie in Berlin- Organe der Selbstverwaltungseinheit "Bezirk", sondern lediglich Verwaltungsausschüsse, dekonzentrierte Verwaltungseinheiten. 4. Das hat Konsequenzen für die Wahl zu den Bezirksversammlungen. Zunächst ist festzustellen, daß für das Landes- und Kommunalwahlrecht in Harnburg das gilt, was früher herausgearbeitet wurde: wahlberechtigt sind nur Deutsche. Wegen der Einheit von Staatsverwaltung und Gemeindeverwaltung (Art. 4 II HV) ist das Gemeindewahlrecht identisch mit dem Staatswahlrecht, ist die Wahl zur Bürgerschaft Wahl des Landesparlaments und der Stadtvertretung in einem. In Übereinstimmung mit Art. 28 I 2, 20 II 2 GG bestimmt Art. 3 II 1 HV, daß alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht. Damit ist das deutsche Volk gemeint. Anders bestimmt § 10 BezVG, daß die Bezirksabgeordneten von der Bevölkerung der Bezirke aus deren Einwohnerschaft gewählt werden. "Bevölkerung" und "Einwohnerschaft" lassen begrifflich die Einbeziehung von Ausländern zu. An einer demokratischen Legitimation der Bezirksverwaltung durch das Bezirksamt könnten diese nicht mitwirken. Eine unmittelbare Legitimation durch demokratische Urwahl ist verfassungsrechtlich jedoch nicht erforderlich und nicht vorgesehen. Vielmehr wird die Verwaltung des Bezirkes durch das Bezirksamt und seinen Leiter mittelbar durch Bürgerschaft und Senat legitimiert. Das kommt darin zum Ausdruck, daß nach§ 35 II BezVG der Bezirksamtsleiter als verantwortlicher Verwaltungschef vom Senat auf Vorschlag der Bezirksversammlung bestellt und abberufen wird. Harnburg könnte den Anforderungen des Art. 28 I 2 GG dadurch genügen, daß es die Bezirksämter als dekonzentrierte Verwaltungseinheiten voll der hierarchischen Leitung und Kontrolle des seinerseits demokratisch legitimierten Senats 61 62
Vgl. BVerfGE 52, 95 (120). Rittstieg (Fn. 20), S. 37.
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unterstellte. Aber auch die gegenwärtige Rechtslage, die die Verantwortung des Senats bei Einschaltung eines bevölkerungsgewählten Verwaltungsausschusses "Bezirksversammlung" aufrechterhält, entspricht dem Homogenitätsprinzip. Da den Versammlungen nicht die "selbständige Ausübung von Staatsgewalt übertragen ist"63, bedürfen sie nicht der demokratischen Legitimation. Legitimation durch die "Bevölkerung"- statt durch das "Volk"- ist unzulässig, Partizipation ist zulässig. Es steht dem Landesgesetzgeber frei, ob er Verwaltungsausschüsse - wie die Deputationen64 - durch die Bürgerschaft oder - wie die Bezirksversammlungen - durch die Einwohnerschaft bestellen läßt. Auf dem schmalen Grad de~ gegenwärtigen Harnburgischen Verfassungslage, die die Bezirke mangels Selbstverwaltungsbefugnissen (noch) nicht als kommunale Vertretungskörperschaften anzusehen gestattet, könnte man das Gesetz vom 20. Februar 1989 also als verfassungsgemäß ansehen. Das gilt nicht mehr, wenn den Bezirken - wie verfassungspolitisch erwogen wird Selbstverwaltungsrechte zuwachsen. V. Rechtliche Maßstäbe für die Einführung des kommunalen Ausländerwahlrechtes 1. Wenn sich in Harnburg die verfassungspolitischen Bestrebungen durchsetzen, den Bezirken echte kommunale Selbstverwaltungsrechte einzuräumen, bedürfte es zur Einführung des kommunalen Ausländerwahlrechtes wie jetzt schon für die Länder mit Gemeinden i. S. des Art. 28 I 2 GG zunächst einer Änderung des Grundgesetzes, und zwar richtigerweise6s - da Art. 28 I GG auf den Volksbegriff des Art. 20 II GG Bezug nimmt, der das "deutsche Volk" meint- einer Änderung des Art. 20 I GG. Man könnte die Vorschrift etwa so ergänzen: "In den Gemeinden gehören zum Volk auch solche Personen, die nicht Deutsche i. S. des Grundgesetzes sind und die im Bundesgebiet seit mindestens . .. Jahren seßhaft sind. "66
Denkbar wäre - um den Volksbegriff nicht zu verwässern - auch die Lösung, im Art. 20 GG direkt anzuordnen, daß in den Gemeinden auch Ausländer wahlberechtigt sind. Isensee67 vertriU-die Meinung, einer Verfassungsänderung stehe Art. 79 III GG entgegen, da es ein tragendes Prinzip der Verfassung sei, daß alle BVerfGE 47, 253 (272). Vgl. § 7 VerwBehördenG v. 30. Juli 1952 (GVBI S. 163). 65 Nach hier vertretener Auffassung reicht eine Ergänzung des Art. 28 I GG i.d.S.: "Auch Nichtdeutschen kann unter bestimmten durch Landesrecht festgesetzten Voraussetzungen das Wahlrecht zu Vertretungen in den Gemeinden und Kreisen gewährt werden" nicht aus. 66 Vgl. von Mutius, in: 53. DJT, Gutachten E, S. 212. 63
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Staatsgewalt vom (deutschen) Staatsvolk ausgeht. Vorzugswürdig erscheint jedoch die Auffassung6s, Art. 79 111 GG hindere nicht, den Verfassungsgrundsatz der Demokratie in einer Bedeutung wie für ein Einwanderungsland zu verstehen und dem Begriff "Volk" das Verständnis einer Lebens- und Schicksalsgemeinschaft auf deutschem Boden zu geben. Es gibt nicht eine abstrakte Demokratie, sondern nur die Demokratie des Grundgesetzes. Nur müßte der verfassungsändernde Gesetzgeber sagen, daß er eine andere als die bislang geltende Demokratie will. Nach einer solchen Verfassungsänderung müßten die Länder ihre Kommunalwahlgesetze ändern. Eine Gesetzesänderung ohne Änderung des Grundgesetzes- wie jetzt in Schleswig-Holstein geschehen- genügt den Anforderungen der Verfassungsmäßigkeit nicht. Nach dem Grundsatz des bundesfreundlichen Verhaltens müßte jedes Land Rücksicht auf die Interessen des Bundes und der übrigen Länder nehmen, wenn die Auswirkungen einer landesgesetzlichen Regelung nicht auf den Raum des betreffenden Landes beschränkt bleiben. Föderale Vielfalt ist möglich, aber es könnte unzulässige Handlungszwänge für andere Länder geben und ein Land, das nicht "mitzieht", könnte in den Geruch der Ausländerdiskriminierung geraten69. Der Blick auf den Entwurf einer EG-Richtlinie zum Ausländerwahlrecht läßt manche politisch Interessierten die Erwartung hegen, man könne das Problem im supranationalen Raum lösen. Da aus dem EG-Recht unmittelbar keine politischen Rechte für die Marktbürger hergeleitet werden können , soll durch eine entsprechende Kompetenzübertragung auf die EG offenbar der Versuch gemacht werden, die in der Bundesrepublik bestehenden verfassungsrechtlichen Bedenken zu umgehen. Aber Art. 24 GG läßt keine unbegrenzte Übertragung von staatlichen Rechten zu. Abgesehen davon, daß es sich bei der Regelung des Wahlrechtes nicht um ein "Hoheitsrecht" i. S. des Art. 24 GG handelt, sondern um ein Grundelement der staatlichen Struktur der Bundesrepublik, wäre es mißlich, wenn der Bund über Rechte verfügte, die überwiegend - Kommunalwahlrecht - in die Länderzuständigkeit fallen. Ob das überhaupt zulässig ist, ist auch bestritten. 2. Unterstellt, das Grundgesetz würde entsprechend geändert, müßte die landesgesetzliche Ausgestaltung des kommunalen Wahlrechtes unter Einbeziehung der Ausländer den Regelungsmaßstäben des Art. 38 I 1 GG gerecht werden. Hier ergeben sich nun mannigfache Probleme, vor allem im Hinblick auf die Allgemeinheit, Freiheit und Gleichheit der Wahl. Fn. 4, S. 92ff. So implizite die ausländerrechtliche Abteilung der 53. DJT, Sitzungsbericht L, 1980, S. 289; vgl. auch den Beschluß des SH Landtages v. 14. 12. 1979. 69 Quaritsch (Fn. 31), S. 4. 67
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Zunächst zum Wahlrechtsgrundsatz der Allgemeinheit. Er ist- wie der der Gleichheit der Wahl- ein Anwendungsfall des Art. 3 GG. Vom Bundesverfassungsgericht sehr streng und formal gehandhabt7°, besagt er, daß jedermann zur Wahl zugelassen werden muß; er verbietet dem Gesetzgeber, bestimmte Bevölkerungsgruppen aus politischen, wirtschaftlichen und sozialen Gründen von der Ausübung des Wahlrechtes auszuschließen. Differenzierende Ausgrenzungen sind nur aus zwingenden Gründen zulässig, etwa für Minderjährige, Entmündigte, nicht im Wahlgebiet Seßhafte etc. Die Eigenschaft eines Deutschen gilt bisher als selbstverständlich zulässiges Differenzierungskriterium: Nichtdeutsche sind nicht wahlberechtigt, ohne daß der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl verletzt wäre. Wenn man die Bindung des Wahlrechtes an die Deutschen-Eigenschaft aber für anachronistisch und für verfassungsrechtlich nicht länger geboten hält, dann kann sie aber auch nicht länger als stillschweigende Voraussetzung des Prinzips der allgemeinen Wahl gelten . Das hat zur Folge, daß Differenzierungen des Wahlrechtes nach der Deutschen-Eigenschaft sich vor dem Prinzip der Allgemeinheit der Wahl zu rechtfertigen haben. Und wie bestünde eine Regelung, die Deutsche nach dreimonatigem Aufenthalt im Wahlgebiet zur Wahl zuläßt71, Ausländer jedoch erst nach acht- oder fünfjährigem72, diesen Test? Beide Gruppen gehören doch in gleicher Weise der "Schicksalsgemeinschaft" an, sind auch in gleicher Weise "betroffen". Und wie könnte man unter den Ausländern differenzieren - was in bezug auf die "Bindung" rechtspolitisch sinnvoll sein mag -: Erwerbstätige mit Familienangehörigen, Studenten, Soldaten, Touristen, Asylberechtigte etc.73? Fraglich ist auch, ob sich nach dem Herkunftsland differenzieren läßt, wie es das neue Schleswig-Holsteinische Gesetz tut. Das beträfe auch die geplante Bevorzugung der EG-Bürger durch Verkürzung der Seßhaftigkeitsdauer. Zwar haben sie einen weitgehend gesicherten Aufenthaltsstatus, kommen aus freiheitlichen Demokratien mit funktionierenden parlamentarisch-repräsentativen Systemen, wählen- wie die Deutschen- zum Europäischen Parlament. Aber abgesehen davon, daß für sie das Wahlrecht zur Integration von geringerer Bedeutung ist, wäre ihre Bevorzugung auch rechtspolitisch problematisch, weil sie den Abstand zwischen den ohnehin privilegierten EG-Angehörigen und den anderen Ausländern weiter vergrößern würde. Im übrigen sind von den 4,6 Mio. Ausländern in der Bundesrepublik Deutschland 1,2 Mio. Angehörige der EG-Staaten; allein die Gruppe der türkischen Staatsangehörigen ist mit 1,5 Mio. erheblich größer. In Harnburg würden von einem Kommunalwahlrecht für EG-Bürger nur 15 % der ausländi1o E 12, 139 (142); E 36, 193 (141). 71 So heute im allgemeinen die Landes- und Kommunalwahlgesetze. 72 Ersteres gilt für Harnburg (G. v. 20. Februar 1989), letzteres für Schleswig-Holstein (G. v. 21. Februar 1989). 73 Rittstieg {Fn. 20), S. 25 ff. 4*
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sehen Wohnbevölkerung profitieren. Warum sollte man im übrigen einen Süditaliener um Jahre früher wählen lassen als einen finnischen Staatsbürger, der gut Deutsch spricht und aus der Perspektive der Nähe mit den norddeutschen politischen Verhältnissen bestens vertraut ist? 3. Die konkrete Ausgestaltung weckt auch Bedenken hinsichtlich der Freiheit der Wahl. Die bisherigen neuen Gesetze binden das Wahlrecht an das Bestehen einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis (nach i.d.R fünf Jahren) oder einer Aufenthaltsberechtigung (nach i.d.R. acht Jahren) oder einer EGAufenthaltserlaubnis74. Damit knüpfen aktives und passives Wahlrecht zwar an gefestigte, keineswegs aber an gesicherte Ausländerstatus an. Eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis kann nach § 7 IV AuslG nachträglich befristet werden. Aufenthaltserlaubnis und-berechtigungenden mit der Ausweisung(§ 10 AuslG) oder dann, wenn der Ausländer keinen gültigen Paß (mehr) besitzt (§ 9 I Nr. 1, 4 AuslG). Die darin steckenden Unsicherheiten sind um so prekärer, als der rechtliche Fortbestand des Aufenthaltsrechtes während der Wahlvorbereitung der Wahl und (bei Gewählten) während der Mandatsdauer gewährleistet sein muß75. Zwar ist der Ausländer, wenn die Beendigung seines Aufenthaltsrechtes verfügt wird, nicht rechtsschutzlos: aber die aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs und einer Klage kann durch sofortige Vollziehung nach § 80 VwGO aufgehoben werden. Angesichts der Abhängigkeit der Aufenthaltserlaubnisse und -berechtigungen von Entscheidungen der Ausländerbehörden und von Konsulaten wird die Wahlrechtsfreiheit sowohl der Wähler wie der ausländischen Kandidaten in Frage gestellt. Mit der Verleihung des Wahlrechtes an Personengruppen, denen kein gesichertes Aufenthaltsrecht zusteht, fiele der Exekutive, die über den Aufenthalt entscheidet, die Macht zu, über die Wählerstruktur zu entscheiden. Die Behörden könnten der Versuchung erliegen, mißliebigen Ausländern- Wählern oder Abgeordneten - die Aufenthaltserlaubnis nicht zu verlängern. Es ist demokratisch schlechterdings inakzeptabel, daß die Exekutive über den sie legitimierenden Souverän verfügen kann. 4. Letztlich setzt die Gleichheit der Wahl auch Chancengleichheit bei der Wahlvorbereitung, im Wahlkampf, im genannten "Vorfeld" der Wahlen76 und damit politische Betätigung der Ausländer voraus. § 6 II, III AuslG stellen aber die politischen Betätigungsrechte von Ausländern unter Vorbehalt. Zumindest § 6 II paßt nicht auf wahlberechtigte Ausländer - allenfalls auf Gäste - und müßte geändert werden. § 2 III 1 PartG bestimmt, daß eine politische Vereinigung keine Partei ist, wenn ihre Mitglieder in der Mehrheit Ausländer sind. Auch dieses Gesetz müßte geändert werden, denn man müßte
74 So das Hamburger G und das Schleswig-Holsteinische Gesetz (vgl. Fn. 72).
Dazu vor allem Rittstieg (Fn. 20), S. 66f. Ingo von Münch, Kommentar zum Grundgesetz, 2. Bd., 2. Aufl., München 1983, Art. 38, Rdnr. 47; Maunz I Dürig I Herzog I Scholz {Fn. 22), Art. 38, Rdnr. 51. 75
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den Ausländern gewiß das Parteigründungsrecht zubilligen, will man sie Chaneengleich behandeln. Solche Ausländerparteien könnten aber vorwiegend nationale Interessen vertreten- etwa die Jugoslawiens-; es könnten sich auch nationale Gruppierungen widerspiegeln- Ecevit-Türken/Graue Wölfe- oder politische Gruppierungen - jugoslawische und italienische Kommunisten -; auch nationale Gegensätze können eine Repräsentation finden - Griechen/ Türken - 77 • Das alles widerspricht dem Zweck der Parteien und der Wahl, an der Formulierung und Verwirklichung des Gemeinwohls- hier auf lokaler Ebene - mitzuwirken. Wenn sich keine Ausländerparteien bilden, könnten Ausländer in deutschen Parteien mitwirken. Das tun sie de facto heute schon. Sie sind jedoch nicht an der Kandidatenaufstellung als integralem Bestandteil des Wahlverfahrens beteiligt. Gemäߧ 24 VI des Gesetzes über die Wahl zu den Hamburger Bezirksversammlungen wäre es allerdings möglich, daß Ausländer auf Grund eines von 120 Wahlberechtigten des Bezirkes unterschriebenen Wahlvorschlages kandidieren. Nach Hamburger (wie schwedischen) Erfahrungen ist - vor allem auf Grund der landsmannschaftliehen Zersplitterung - der Erfolg von nur von Ausländern getragenen Listen allerdings gering. Der Erfolg setzt meist die Nominierung durch eine der bereits in der Bezirksversammlung vertretenen Parteien voraus. Die notwendige Einbindung der Kandidaten in das deutsche Parteiensystem wäre gleichzeitig ein sicheres Anzeichen ihrer politischen Integration. VI. Alternative Mittel für eine bessere Integration der Ausländer 1. Es ist fraglich, ob sich die Einführung des Ausländerwahlrechtes auf die Gemeinden begrenzen läßt. Jede angefangene Reform schreit nach Fortsetzung. Letztlich sind es zwei grundlegende Prinzipienbündel, die im Widerstreit stehen:
- kosmopolitisches Demokratieprinzip - Menschenrechtsprinzip -
Liberalität Weltbürgertum Territorialprinzip jus soli
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Quaritsch (Fn. 31), S. 12.
- nationales Subjekt demokratischer Herrschaft - Menschenrechte und Rechte der Volksangehörigen - Souveränität - nationale Selbstbestimmung - Abstammungsprinzip - j us sanguinis
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Mit allein staatsrechtlichen Erwägungen wird der Unterschied zwischen Stadt und Staat nicht deutlich gemacht werden können. Der ausländische Bürger wird nur schwer verstehen, warum er in Bremen (690.000 Einwohner) nicht wählen darf, wohl aber in Köln (970.000 Einwohner), in München (1,3 Mio. Einwohner) sehr wohl, nicht aber in Harnburg (1,5 Mio. Einwohner), und unter dem Gesichtspunkt "demokratischer Betroffenheit" müßte den Ausländern doch zuerst das Bundestagswahlrecht eingeräumt werden, denn die sie "betreffenden" Gesetze- AuslG, AFöG etc.- werden doch in Bonn beschlossen. 2. Und es ist auch zweifelhaft, ob es des Wahlrechtes als einer Integrationsnachhilfe bedarf. Tatsächlich geht der Ruf nach der gesellschaftlichen Integration durch politisch-staatliche Mitwirkung nur von relativ wenigen Ausländern aus. Die meisten interessieren sich in erster Linie für die sie konkret und unmittelbar berührenden Anliegen: die Fragen nach Arbeit, Aufenthalt, Wohnung, Schule. Bei der Bewältigung dieser Fragen zeigen Stadt und Staat, ob sie die sprachliche, berufliche, soziale, gesellschaftliche Eingliederung der Ausländer unter Anerkennung und gar Förderung ihrer nationalen, religiösen und kulturellen Eigenständigkeiten bewältigen können. Die Eingliederung in das staatlich verfaßte politische Gemeinwesen vollendet den Integrationsprozeß, steht nicht an seinem Anfang. Das Wahlrecht ist kein geeignetes Vehikel für die gesellschaftliche Integration. Die vergleichbar geringe Wahlbeteiligung der Ausländer in Schweden bestätigt diese Einschätzung. In der Schweiz hat der Ausländeranteil inzwischen wieder die Marke von 15% erreicht. Das Land lebt seit fast einem Jahrhundert mit Ausländern, lange Zeit mit einem doppelt so hohem Anteil wie jetzt die Bundesrepublik Deutschland, gewährt das Wahlrecht aber nur Inländern und ist gleichwohl und unbestritten das politisch und wirtschaftlich stabilste und bestregierte Land Europas. 3. Auch ist zu erwägen, unter Beibehaltung der gegenwärtigen Rechtslage, andere Partizipationsmöglichkeiten für Ausländer zu schaffen. Zu denken ist an7B:
- kommunale Koordinierungskreise für Ausländerfragen, in denen die Verwaltung, Verbände, Kirchen, Tarifvertragsparteien zusammenwirken; - kommunale Ausländerbeiräte; - Ausländerparlamente, die eine den Ausschüssen vergleichbare Rechtsstellung haben müßten; - Mitgliedschaft von Ausländern in Ratsausschüssen; - gelegentlich ist auch an eine Ratsmitgliedschaft ohne Stimmrecht gedacht worden, analog der Stellung der Berliner Bundestagsabgeordneten79; 78
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Vgl. Beer (Fn. 49), S. 33f.; auch Isensee (Fn. 4), S. 96. Münch, DVBI1980, 43ff.
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- auch überregionale Partizipationsmöglichkeiten kommen in Betracht, wie etwa der nw Landesbeirat für ausländische Arbeitnehmerso. Nicht immer sind die Erfahrungen mit diesen Partizipationsformen überzeugend gewesenBI. Es mangelte am Kontakt der Ausländervertreter mit den Vertretenen, die Querverbindungen zwischen den Nationalitäten ließen sich nur schwer herstellen. Die Ausländervertreter wären z. T. gar nicht von Ausländern gewählt, sondern von deutschen Organisationen (Wohlfahrtsverbänden, Gewerkschaften, Kirchen). Oft traten Sozialbetreuer als Sprecher der Ausländer auf. Gerade die letzten Erkenntnisse zeigen, was als Vermutung seit längerem geäußert wird: daß an der Einführung des Ausländerwahlrechtes nicht in erster Linie die Ausländer selbst interessiert sind, sondern deutsche politische Kräfte, die- wahrscheinlich gar nicht zu Unrecht- annehmen, sie könnten Ausländerstimmen in ihre Scheuern einfahren. 4. Daß die Ausländer selbst ein recht geringes Interesse am Erwerb staatsbürgerlich-politischer Rechte haben, beweist eindrücklich vor allem der Umstand, daß die Zahl der Einbürgerungsanträge verschwindend gering ist. Voraussetzung des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit ist ein zehnjähriger Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Diese Voraussetzung erfüllen gegenwärtig ca. 1,3 Mio. Ausländer. Im Jahre werden aber nicht mehr als 10.000 Einbürgerungsanträge gestellt. Über die Gründe dieser Zurückhaltung kann man nur spekulieren. Gewiß ist von Bedeutung, daß der Aufenthalt gesichert, die arbeits- und sozialrechtliche Gleichstellung in fast allen Punkten erreicht ist. Es fehlt nur noch der Besitz der politischen Rechte, und für deren Erwerb lohnt sich offenbar das Einbürgerungsverfahren nicht. Viele möchten den Kontakt zur Heimat nicht verlieren, ihre Altersrente später daheim verzehren, ihre Identität nicht aufgeben. Angesichts der Zahlen werden die Möglichkeiten, die rechtlich schwierige Problematik einer Beteiligung der Ausländer am demokratischen Willensbildungsprozeß system-konformer durch vermehrte Einbürgerungen zu lösen, gewiß überschätzt. Immerhin ist die Einbürgerung der beste Weg, den Ausländer nach reiflicher Überlegung selbst entscheiden zu lassen, ob er sich mit dem Volk, in dem er lebt, ganz verbinden will. Eine großzügigere Einbürgerungspraxis könnte dabei behilflich sein82. Gegenwärtig steht die Einbürgerung nach § 8 RuStAG im Ermessen der Behörde. In den als verwaltungsinterne Anweisungen ergangenen Einbürgerungsrichtliniens3 ist angeordnet, daß für die Einbürgerung ein öffentliches Interesse sprechen müsse, bei so Vgl. auch Kevenhörster, Ausländische Arbeitnehmer im politischen System der BRD, 1974. st Vgl. den Bericht über das Troisdorfer Ausländerparlament von Gerhardus, ZParl 1974, s. 33. 82 Meyer, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 32 (1974) , S. 136f. 83 Vom 15. 12. 1977, abgedr. bei Heldmann, Ausländerrecht, 1980, S. 217ff.
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dessen Bestimmung eben zu berücksichtigen sei, daß die BRD kein Einwanderungsland sei. Dieses Ermessen könnte durch allgemeine Verwaltungsvorschrift der Bundesregierung gemäß Art. 84 II GG so gebunden werden, daß dem betroffenen Ausländer aus dem Gleichheitssatz ein Rechtsanspruch auf Einbürgerung gewährt. Auch wäre daran zu denken, die bisher üblichen eingehenden Nachforschungen über den Lebenswandel des Antragstellers auf das unbedingt Notwendige zu reduzieren. Für die Ausländer der zweiten und dritten Generation ist ein noch einfacheres Verfahren erwägenswert. Nicht ablassen sollte man hingegen von der Voraussetzung, sich prinzipiell zu entscheiden, alte Bindungen aufzugeben und sich loyal zu dem Land zu bekennen, dessen Staatsangehörigkeit man begehrt.
Strafgesetz, Gnade und Politik nach Rechtsbegriffen * Von Michael Köhler Die Stellung des Themas hat einen aktuellen Anlaß: Gnade, Amnestie für verurteilte RAP-Straftäter? Rechtsbegriffliche Anstrengung - die Aufgabe der Rechtswissenschaft - hat sich freilich vom spektakulären Fall zurückzunehmen in einen allgemeineren Begründungszusammenhang. Für das Thema der Vorlesung bedeutet dies, die Begriffe Strafgesetz, Gnade, Politik, die zunächst auf verschiedene Handlungsregeln ("Normprogramme") verweisen, in ein klares und bestimmtes Verhältnis zueinander zu setzen. Das soll in den folgenden gedanklichen Schritten geschehen.
These 1: Gesetz, Gesetzesanwendung, positiv-rechtliche Dogmatik und rechtspolitisches (kriminalpolitisches) Handeln gründen einheitlich in einem vorpositiv freiheitsgesetzlichen Begriff von Recht und verfaßter Gerechtigkeit, haben aber in der wohlgeordneten Rechtsverfassung je besonderen Status - methodologische Übergänge (z. B. im Rahmen der sog. teleologischen Auslegung) nicht ausgeschlossen. Diese erste These enthält eine methodologische Aussage zum Generalthema der Vorlesungsreihe: Es sei der vorpositiv begründete Rechtsbegriff selbst, eine aus ihm entfaltete verfaßte Gerechtigkeit, welche die geforderte Verhältnisbestimmung der Ausgangsbegriffe allein leisten können. Der Begriff der Politik ist hier von vornherein verstanden im Sinne guter, richtiger Einrichtung des Gemeinwesens (der Polis) und daher selbst schon an RechtsGerechtigkeit orientiert, bei allem Respekt vor nachgeordneten pragmatischen und technischen Elementen politischen Handelnsl. Demgegenüber hat
* Zum 200. Jahrestag der französischen Revolution. - Besondere Anregung, sich eingehender mit der Thematik zu befassen und dazu in der Vorlesungsreihe vorzutragen, erhielt Verf. durch Teilnahme an der Tagung "Amnestie als Politik" der Evangelischen Akademie Loccum, 18. - 20. 11. 1988. I Zu den verschiedenen Begriffen des Politischen grundlegend Sternberger, Drei Wurzeln der Politik {1978); die hier erinnerte Begrifflichkeit, gegenüber der machiavellistischen, findet sich ursprünglich bei Aristoteles, Nikomachische Ethik I 1; Politik I, 2, in freiheitsgesetzlich begründeter Fassung bei Kant, Zum ewigen Frieden (1795), Akademie-Ausgabe Bd. 8, S. 370ff. Die vorliegende Kritik ist auch auf den Begriff der Kriminalpolitik zu beziehen, der häufig leerformelhaft oder instrumental gebraucht wird (vgl. exemplarisch den auf die sog. moderne Schule zurückgehenden Begriffsgebrauch bei Kaiser, in: Kleines Kriminologisches Wörterbuch, 2. Aufl. 1984, S. 248ff.). Er unterliegt aber derselben Beziehung auf den Gerechtigkeitsbegriff; zutreffend kritisch zu einem rein instrumentalen Verständnis Hassemer, Strafrechtsdogmatik und
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Politik, haben auch alle Unterbegriffe: Rechtspolitik, Kriminalpolitik etc., wollte man sie machiavellistisch auf lnteressenverfolgung, Machtpragmatik festlegen, keine eigenständige Stelle. Die weiterreichenden methodologischen Folgerungen sind hier nicht zu ziehen2. Das Thema beschränkt sich ohnehin auf den Teilbereich des Verhältnisses Strafrechtsbegründung- Kriminalpolitik, und hier speziell auf das Thema Gnade. An diesem Ausnahmetatbestand gegenüber dem Strafgesetz soll das rechtsbegrifflich richtige Verhältnis aufgewiesen werden, als ein Beitrag zur Begründung und Ausführung der viel weiterreichenden ersten These. Die Problematik ist in den folgenden Thesen zu entwickeln. These 2: Das rechtsstaatliche Strafgesetz fordert unter seinen abstrakt-allgemeinen Voraussetzungen ausnahmslos-strikte Anwendung.
Die These sei am aktuellen Fall erläutert: In der geltenden Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland existiert unter der Vielzahl von Strafverurteilten eine Gruppe von gewisser allgemein bekannter historisch-politischer Besonderheit. Eine Frau3, Mitglied dieser Gruppe, wurde von einem Oberlandesgericht auf Anklage des Generalbundesanwaltes nach dem geltenden Strafgesetz wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung(§ 129a StGB) und wegen Mordes rechtskräftig zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Zur Last gelegt wurde ihr unter anderem die Beteiligung an der Tötung eines Polizeibeamten, der sie und andere Gruppenmitglieder bei Schießübungen überrascht hatte. Zugerechnet wurden ihr mittäterschaftlieh die eigentlich tödlichen Schüsse der anderen. Die Verurteilte befindet sich im Vollzug der Freiheitsstrafe seit inzwischen 11 Jahren. Nach geltendem Strafgesetz wäre nach einer Mindestverbüßungszeit von 15 Jahren anband bestimmter Kriterien- eine gute Resozialisierungsprognose spielt hier eine hervorgehobene Rolle - gerichtlich zu prüfen, ob die Reststrafe zu Bewährung auszusetzen ist. Diese in § 57a StGB enthaltene Regelung geht zurück auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im 45. Band: Auch bei Mord, dem praktischen Hauptfall der Höchststrafe, dürfe "lebenslang" nicht absolut-eliminierend wirken, vielmehr müsse die Rückkehr in die Gemeinschaft gesetzlich möglich sein. Zum methodologischen Zusammenhang: das Verfassungsgesetz (Art. 1 GG, das Rechtsstaatsprinzip) bestimmt das Strafgesetz und seine Anwendung. Freilich nimmt Kriminalpolitik {1974), S. 123ff. Mit Recht ordnet Kühl, GA 1977, S. 353ff. der empirischen Fundierung der Kriminalpolitik die Prinzipienfrage nach vernünftigem Recht (im kantischen Sinne) vor. 2 Dabei wird davon auszugehen zu sein, Rechtspolitik dem staatskonstitutiven bzw. gesetzgebenden Allgemeinwillen in je verfaßter Form vorzubehalten, Richter- und Juristenrecht allenfalls als sekundäre Notordnung unter bestimmten methodologischen Voraussetzungen zuzulassen; s. Grundabgrenzungen bei Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft {5. Aufl. 1983), S. 76, 118. 3 FAZ vom 13. März 1989.
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es direkt einen vorpositiven Grund in Anspruch: Die Würde des Rechtssubjekts auch in der Person des Verbrechers verbietet es, ihn unwiderruflich zu eliminieren. Lebenslang bedeutet also schon strafgesetzlich nicht notwendig lebenslang, sondern mindestens 15 Jahre mit dann gegebener Möglichkeit der Strafaussetzung. Das müßte auch für den berichteten Fall gelten. Eine frühere Entlassung wäre mithin ausgeschlossen. Das Strafgesetz als abstrakt-allgemeine Formulierung des allgemeinen Rechtswillens fordert strikte allgemeine Anwendung, insofern Gleichheit vor dem Gesetz. Das enthält der Begriff selbst, und das Verfassungsgesetz ordnet es an. Soweit die These 2 zum Strafgesetz und seiner gleichmäßigen Anwendung, -eine Position, die das Thema und den Fall damit für abgeschlossen hält. Sie findet sich in aktuellen innenpolitischen Auseinandersetzungen wieder. Diese Position der Absolutsetzung des Strafgesetzes geht zurück auf die aufklärerische Rechtsphilosophie, wie sie in der Frühphase der französischen Revolution speziell zum Problem des Gnadenrechts praktisch geworden ist. Recht kann überhaupt nur das vom allgemeinen Willen legitimierte allgemeingültiggleichmäßige Gesetzesrecht sein. Das hat verschiedene Stoßrichtungen, gegen Richter- und Juristenrecht, gegen monarchische Willkürentscheidungen und damit eben auch gegen das monarchische Begnadigungsrecht. Kant nennt es "unter allen Rechten des Souveräns das schlüpfrigste" 4 • In der revolutionären Nationalversammlung 1791 wird formuliert: "La clemence de Ia Nation est d'etre juste",- die Milde der Nation besteht in der Gerechtigkeit, will sagen: Gesetzesgerechtigkeit. Die Berechtigung dieses Standpunktes muß zu Ende bestimmt werden, um seine Grenze aufzuweisen. Daher lautet These 3: Gnade in Einzelfällen - Amnestie in einer abstrakt umschriebenen Mehrzahl von Einzelfällen davon nur formell unterschieden - bedeutet eine Ausnahme von der gesetzlichen (Straf-)Unrechtsfolge. Am Fall fortentwickelt , ist das Thema mit der zweiten These eben doch nicht abgeschlossen. Die Verurteilte bittet, der Bundespräsident möge in Ausübung seines Gnadenrechts die Freiheitsstrafe schon vor Ablauf der in § 57a StGB festgelegten Frist aussetzen. Zu erinnern ist kurz die positivrechtliche Stelle des GnadenrechtsS. Es steht, vom monarchischen Staat überkommen, dem Staatsoberhaupt zu, in der föde4 Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, § 49 Allgemeine Anmerkung E ; zus. Grewe, Gnade und Recht (1936), S. 17ff.; diese Grundtendenz vertritt heute etwa Rüping, in: Schaftstein-Festschrift (1975), S. 31 ff.; ebenso in der tendenziellen Identifizierung von Rechtsstaat und Gesetzesstaat Merten, Rechtsstaatlichkeit und Gnade
(1978), s. 48ff. , 59ff. 5 Definiert als staatlicher Eingriff in die Strafrechtspflege, durch den die durch rechtskräftiges Urteil herbeigeführten Straffolgen gemildert oder beseitigt werden (Gnade im engeren Sinne) oder die Strafverfolgung niedergeschlagen wird {Abolition);
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ralistischen Verfassung dem Bundespräsidenten für den Bund (Art. 46 GG) bzw. den höchsten Repräsentanten der Bundesländer, den Ministerpräsidenten, in der Freien und Hansestadt Harnburg dem Senat (Art. 44 Harnburgische Verfassung). Die jeweilige Zuständigkeit im föderalen Staatsaufbau hängt von der Gerichtsbarkeit ab, die primär Länderangelegenheit ist; die Zuständigkeit des Bundespräsidenten in einigen aktuellen Fällen resultiert daraus, daß die Strafurteile 1. Instanz von Oberlandesgerichten in Ausübung von Bundesgerichtsbarkeit ergangen sind (§ 120 GVG). Die Ausübung des Gnadenrechts ist üblicherweise delegiert an das Justizressort, dort an untergeordnete Abteilungen sog. Gnadenabteilungen. Diese verfahren nach Gnadenordnungen, das sind allgemein gefaßte Anordnungen des Gnadenrechtsträgers, nicht etwa Gesetze, worin die Verfahrensformen und möglichen Entscheidungsinhalte festgelegt sind, z. B. die gnadenweise Aussetzung einer verhängten Freiheitsstrafe zur Bewährung. Auf einen Antrag ist die Begnadigung übrigens nicht angewiesen; sie kann auch von Amts wegen erfolgen, was auf ihren am Ende zu erörternden eigentlichen Begriff verweist. In seinen materiellen Voraussetzungen ist das Gnadenrecht positivrechtlich völlig unbestimmt. Es enthält zunächst einfachhin die Befugnis zur Beseitigung oder Milderung der gesetzmäßig verhängten Unrechtsfolge (Strafe) im Einzelfall: Die Dispensation (das ist der alte Ausdruck), die Einzelfallausnahme -wie es scheint - ohne jede sachlich-rechtliche Voraussetzung? Aus dem Beurteilungsgesichtspunkt des rationalen gewaltenteilenden Rechtsstaates der großen Revolution , der doch in der Herrschaft des abstrakt-allgemeinen, für alle gleichen Gesetzes kulminiert, ist das skandalös. Der Widerspruch tritt in der Anwendung ad hominem hervor. Dem einen Verurteilten wird gesagt: "Du wirst nach dem strikten Strafgesetz behandelt, bei dem anderen erlauben wir uns eine Ausnahme". Damit stehen die Sätze 2 und 3 in einem zunächst unaufgelösten Widerspruch: Gnade - als Recht allgemeingesetzt - höbe die Gesetzmäßigkeit allgemein auf. Dieser Widerspruch und seine Auflösungsbedürftigkeit sind ausgesagt in: These 4: Gesetz und Gnade stehen in vorläufigem Widerspruch, aufzulösen aus der Einheit des Rechtsbegriffs. Das Bedürfnis nach Auflösung dieses Widerspruchs, die Frage nach dem rechtsbegrifflich begründeten Verhältnis von Strafgesetz-regel und Gnadenso Eb. Schmidt, Begnadigung und Amnestie, in: Anschütz I Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 2 (1932), S. 563; positivrechtlich weiterer Begriffsgebrauch- Beseitigung oder Milderung von Rechtsnachteilen, die für Pflichtverstöße verhängt worden sind - auf dem Hintergrund der rechtsgeschichtlichen Entwicklung Schätz /er, Handbuch des Gnadenrechts (1976), S. 6ff. ; zum Zusammenhang mit dem älteren Begriff der Dispensation Grewe (Fn. 4), S. 120ff. ; abgrenzend vom Begriff der Rehabilitation Delaquis, Die Rehabilitation Verurteilter (1906), S. 9ff. ; ders., Die Rehabilitation im Strafrecht (1907) , S. llOff.
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ausnahme ist unser aller Rechtsbewußtsein präsent. Überkommene Einteilungen wie etwa "schenkende Gnade" als Akt der Barmherzigkeit, der Versöhnung, des Wohlwollens, oder "korrigierende Gnade" als Richtigstellung eines Fehlurteils6, sind ihrerseits begründungsbedürftig. Sie setzen die Beantwortung der Grundfrage voraus, ob sich rechtsbegrifflich Gnade gegenüber dem Gesetzesrecht überhaupt relativ selbständig begründen läßt. Auch die Beantwortung der staatsorganisatorisch gewendeten Frage: Welche Art von Staatsgewalt wird im Gnadenrecht ausgeübt?? ist davon abhängig, übrigens durchaus mit praktischen Konsequenzen, was die Abhängigkeit oder Unabhängigkeit des Bundespräsidenten von ministerieller Gegenzeichnung angeht. Überwiegend wird angenommen, das Recht zur Begnadigung falle aus dem Gewaltenteilungsschema heraus. Insbesondere gilt sie nicht als justiziabler Staatsakt. Aber welcher Art Staatsgewalt sie dann sei, das zu bestimmen, muß einer auf das Gewaltenteilungsschema beschränkten Sichtweise Verlegenheit bereiten. Nochmals also: Hat Gnade im Verhältnis zu gesetzlicher Strafgerechtigkeit rechtsbegrifflich und dann staatsrechtsorganisatorisch überhaupt eine relativ selbständige Stelle - oder ist sie nicht vielmehr nichtig, ein begründungsloses historisches Relikt? Vor Aufnahme der Frage muß noch kurz ergänzt werden, daß die der Gnade benachbarte Kategorie der AmnestieB derselben Legitimationsfrage unterliegt. Der unmittelbare Beweis ist vom Parteispendenamnestie-vorhaben her erinnerlich. Begrifflich wird unter Amnestie- VergessenNergebung, im allgemeinen Sprachgebrauch mit Begnadigung, Straferlaß gleichgesetzt9- die typischerweise in der Form des Gesetzes ergehende Beseitigung von Strafurteilswirkungen in einer abstrakt klassifizierten Vielzahl von Fällen verstanden, die Niederschlagung (Abolition) eingeschlossen. Auf die empirische Typologie wird im weiteren Begründungszusammenhang noch zurückzukommen sein. Im begrifflichen Verhältnis zur Einzelfallbegnadigung ist nun gewiß die Unterscheidung richtig, die Amnestie enthalte typischerweise die allgemeinere Regelung. Damit verweist sie möglicherweise auf die weitere Allgemeinheit des Sachgrundes, von der Strafgesetzlichkeit zu dispensieren. Aber ein absoluter Gegensatz ist damit nicht formuliert. Logisch enthält die Amnestie nämlich eine Summe von Einzelfallregelungen abgeschlossen vorliegender Fälle, man könnte sagen: Einzelfallbegnadigungen. So gehen die Formen empirisch-historisch ineinander über, auch in rechtsvergleichender Sicht. In Frankreich spricht man von gräce amnistiante. Im Lichte der gestellten Begründungsfrage besteht also vorläufig kein substantieller Gegensatz. Am 6 s. etwa Peters, Strafprozeß (3. Auf!. 1984), S. 659ff.; Schätz/er (Fn. 5), S. 27ff., 63ff. 7 Dazu Grewe (Fn. 4), S. 28ff.; s. auch BVerfGE 25, 352. s Dazu zunächst Marxen, Rechtliche Grenzen der Amnestie (1984), S. 8ff. 9 Vgl. Amnestie, in Duden, Die Etymologie der deutschen Sprache (1963), S. 22.
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Begriff der Gnade, gebraucht als Oberbegriff!O für Begnadigung im Einzelfall und Amnestie als allgemeinem Gnadenakt, soll sie weiter verfolgt werden. Die folgenden Sätze zielen in Auflösung des bisher formulierten Widerspruchs auf den Rechtsbegriff der Gnade. These 5: Gnade- als Recht- kann nicht in Analogie zu göttlicher Gnade als rechtsgrundlose Zuwendung begriffen werden. Die Liebe, die Gnade Gottes nach der paulinisch-augustinischen Gnadenlehre11 begründet das Heilsgeschehen auf eine dem Menschen unbegreifliche Weise. Das wird durch die Reformatoren noch zugespitzt: Selbst die eigene verdienstliche Mitwirkung, die menschlichen Werke können ihrerseits nur begnadet sein. Dem: "Ist gerichtet" beschränkter menschlicher Gerechtigkeit wird das: "Ist gerettet" der göttlichen Liebe und Barmherzigkeit in Einheit mit göttlicher Gerechtigkeit - Momente eines Absoluten - entgegengesetzt. So hebt Jesus in der Bergpredigt, im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg, die menschliche Ausgleichsgerechtigkeit in göttlicher Liebe auf. So setzen göttliche Gnade und Gerechtigkeit einen unendlichen Vernunftschluß voraus, der das Sein und Tun bis in die letzten Gründe weiß und die Erlösten von den Verdammten unterscheidet. In solchen Grenzvorstellungen gedenkt der Mensch aber der Vernunftendlichkeit seiner selbst, der Beschränktheit der irdischen Gerechtigkeit und ihrer Erkenntnisweise. Was das Verhältnis des Menschen zur göttlichen Gnade angehtl2, so ist es freilich nicht bloß ein solches der Passivität- gegenüber einem fernen, despotischen Gott. An der Immanenz Gottes hat vernünftige Subjekt-Substanz vielmehr teil. In ihrer autonom-moralischen Anlage, ihrer Gesetzlichkeit weiß sich menschliche Subjektivität als aktiven Mitgrund göttlichen Seins, durch Fehlbarkeit hindurch als gnadenwürdig. Auf immanente, menschlicher Vernunft zugängliche Weise kann daher postulierte göttliche Gnade sich nur in der freiheitsgesetzlichen Regulation der intersubjektiven Wirklichkeit nach einsichtigen Rechtsvernunftgründen aufweisen. Das bedeutet selbstverständlich nicht eine Reduktion auf das positive Recht, wohl aber die Anforderung willkürfrei-einsichtiger Rechtsgründe. Das moralisch-ethische Moment wechselseitiger Versöhnungsbereitschaft, das freilich in einer unentwickelt-abstraks. Eb. Schmidt (Fn. 5), S. 563; Peters (Fn. 6), S. 659. s. Gnade, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 3 (1971), Sp. 707ff. ; zum Verständnis göttlicher Liebe und Gerechtigkeit über menschlicher Gerechtigkeit, welche jene daher nicht erreichen kann, Kuhn, Der Staat (1967), S. 249ff., 258ff.; s. auch Radbruch, Rechtsphilosophie (6. Auf!. 1963), S. 337ff.; theologisch-anthropologisch vertieft zur Problemstellung Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive (1983), s. 43ft. 12 Vgl. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793), Akademie-Ausgabe Bd. 6, S. 75, 173f. , 190f.; Streit der Fakultäten (1798), AkademieAusgabe Bd. 7, S. 24, 22f.; Hege/, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Ausgabe Glockner, Bd. 16, S. 116f., 195f. 10 11
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ten Strafgerechtigkeitskonzeption noch nicht wirksam ist13, muß in einem zurechnungsbegrifflich entwickelten Strafrecht allerdings rechtlich Raum haben; so ist dies in einem auf Resozialisierung zielenden Sanktionensystem, namentlich auch§ 57a StGB, realisiert. Insofern kann dem moralischen Sachverhalt der "inneren Umkehr" strafrechtsbedeutsam Rechnung getragen werden, freilich in der gleichmäßig-gesetzlich vorgesehenen Weise. Außerhalb dieses rechtlich-zurechnungsbegrifflichen Begründungszusammenhangs erscheint aber eine zusätzliche Inanspruchnahme von Gnade dann grundlos. In jedem Falle ausgeschlossen ist eine Identifikation der diesseitig-rechtlichen Gnadenkompetenz mit der absoluten göttlichen Gnade. Eine solche hybride Transposition in die Immanenz auf einen menschlichen Herrn über die Gesetze mit grundlosem Dispensationsrecht negiert den immanenten Willensvermittlungszusammenhang, hält also der Kritik der Rechtsvernunft nicht stand. Der Fürst, der Souverän ist nicht Gott. Der begrifflichen Anmaßlichkeit entspricht die faktische Eröffnung des Mißbrauchs zu allerlei irdischen Zwecken, von der Füllung der eigenen Taschen bis zur Selbstdarstellung von Machtl4 • Die Kritik der Aufklärung an einem so verstandenen monarchischen Gnadenrecht bleibt völlig berechtigt. Neuere Ansätze, die von einem immanenten freiheitsgesetzlichen Rechtsbegriff abkommen, sind demgemäß zu kritisieren. So wird in der wichtigen Arbeit von Grewel5 die Dispensation als formale Befugnis einer die Einzelfunktionen umfassend aufhebenden, in einer Person zentrierten Gesamtgewalt verstanden mit inhaltlich vielfältigen Motivationen ("Gnade, Billigkeit, Staatsräson, Güterabwägung"). Zwar wird nicht der Willkür das Wort geredet, vielmehr ein Rechtsgrund behauptet. Aber abgekoppelt von einem material rechtsbegrifflichen Ableitungszusammenhang, wie er in der in Bezug genommenen mittelalterlichen Rechtstheologie sehr wohl vorhanden war, muß diese Position auf eine unvermittelt totale Negation der funktionenteilenden modernen Staatlichkeit in rechtsbegrifflich unausgewiesenen Dezisionen zurückfallen. Wenn später auch Gustav Radbruch in einer Diskussion der theologischen und rechtswissenschaftliehen Gnadendoktrin die Gnade schließlich bezeichnet als "Lichtstrahl aus einem anderen Reiche in die dunkle und kühle Welt des Rechts, ... irrational ... , dem Wunder innigst verwandt"l6, dann kann man ihm aus den genannten Gründen nicht folgen . Es ist einfach rechtsvernünftig nicht einzusehen. Die unvermittelte Transzendierung 13 Vgl. Heget, Der Geist des Christentums und sein Schicksal (1798), Werke (Ausgabe Moldenhauer I Michel), Bd. 1 (1971), S. 274, 338ff. ; dazu Primoratz, Banquos Geist. Hegels Theorie der Strafe (1986), S. 15ff. Zur Entwicklung eines den Versöhnungsgedanken einbeziehenden Strafrechts durch die kirchliche Gnadeninstanz rechtsgeschichtlich Schild, SchwZStr 99 (1982) , S. 364, 373ff. 14 Kirchheimer, Politische Justiz (1965), S. 566ff. 15 Grewe (Fn. 4), S. 38, 120ff., 135ff. 16 Gerechtigkeit und Gnade (1949), in: Rechtsphilosophie (6. Auf!. 1963), S. 337, 343.
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depolitisiert nur das Problem. Mit der vorgetragenen Kritik wird indessen nicht widersprochen dem Rechtsbegriff einer immanenten staatskonstitutiven Souveränität, einer die Gewaltendifferenzierung zur Einheit vermittelnden politischen Gerechtigkeit. Aus diesem Grunde könnte auch das Dispensationsrecht, das Gnadenrecht ein Element einer staatsrechts-konstitutiven politischen Gerechtigkeit sein. Das findet sich, freilich auf rechtstheologischer Basis, bei Thomas von Aquin. Er definiert den Fürsten als Repräsentanten der Staatsrechtseinheit und daher in bestimmtem immanenten Sinne als den Gesetzen überhoben (legibus solutus); er könne von menschlichen Gesetzen dispensieren, freilich nicht willkürlich und grundlos, sondern aus einer auf das bonum commune (Gemeinwohl) bezogenen iusta causa, nicht also dispensieren vom Recht überhaupt17. Es wird zu sehen sein, was dies vom Standpunkt eines freiheitsgesetzlichen Rechtsbegriffs aus bedeutet. Nach der bisherigen Kritik scheint zunächst die Auflösung des Gnadenrechts in der gesetzlich-justiziellen Strafgerechtigkeit vorgezeichnet, also der Standpunkt der Revolutionsverfassung, wie er sich in der liberalen Staats- und Strafrechtsphilosophie zum Gnadenrecht fortsetztlB. In den folgenden Sätzen 6 und 7 ist das ausgesagt: Gnade ist entweder negativ-kritisch durch das Rechtsprinzip der Strafgesetzlichkeit ausgeschlossen ( 6), oder Gnade ist eine bloße Sonderform, ein Mittel der gesetzlichen Strafgerechtigkeit (7). Zu erläutern und zu begründen ist zunächst die
These 6: Der Rechtsbegriff des Strafgesetzes - ein kategorischer Imperativ schließt jedenfalls partikuläre lnteressen-zweckgründe aus, sowohl von der Strafbegründung, als auch von der- gnadenweisen - Strafaufhebung bzw. -milderung. Ausgeschlossen soll damit sein ein Gebrauch der Gnadenbefugnis, etwa um den Machthaber in seinem Glanz darzustellen, oder- Shakespeares "Maß für Maß"l9 - um eine begehrte Frau zu nötigen, oder um sich die Taschen und Kassen mit Devisen zu füllen. Ausgeschlossen muß sein der Gnadenakt als Lockmittel - wir nähern uns aktuellen Erwägungen -, abhängig gemacht von 17 Thomas von Aquin, Summa theologica 1, 2 qu 96 a 5,6; qu 97 a 4; qu 100 a 8. Die kritisierte Position könnte sich nicht auf Hegels Lehre vom Monarchen berufen (s. Rechtsphilosophie, § 282). Wohl kommt dem Monarchen bei Hege!, unter Voraussetzung der anderen Staatsfunktionen, die Stelle der letzten Entscheidung, des Vereinigungspunktes des Willens aller zu. Seine Gnadenkompetenz wird als Reflex einer "höheren Sphäre" bezeichnet. Damit ist aber nicht der immanente Vernunftanspruch des freiheitlichen Rechtsbegriffs, wie er die gesamte Rechtsphilosophie prägt (s. Einleitung, §§ lff.), verlassen. Formuliert ist vielmehr damit ein Akt der politischen Selbstbestimmung des Ganzen aus dem Rechtsprinzip, der die begriffsnotwendige Endlichkeit, Mangelhaftigkeit der Teilfunktionen überwindet. 18 s. Grewe (Fn. 4), S. 24ff. und Radbruch (Fn. 16); ders., Rechtsphilosophie, S. 276ff., 279 -/hering zitierend: "Sicherheitsventil des Rechtes". 19 Dazu Grewe (Fn. 4), S. 97ff.; Kirchheimer, Politische Justiz (1965), S. 571ff.
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der "Aussagewilligkeit", eine freundliche Umschreibung für Denunziation und Verrat20. Ausgeschlossen ist Gnade also als Lockmittel für andere, als Umkehr- oder Überlaufsignal, ganz abgesehen davon, ob das aussichtsreich ist oder nicht. Zusammengeiaßt handelt es sich um den Mißbrauch der Begnadigung als Kampfmittel-mit übrigens alter Tradition. Schon im römischen Bürgerkrieg versuchte der römische Senat, die Soldaten des Antonius auf diese Weise zu ködern21. Mag zwar die Maxime des Handeins im historischen Einzelfall schwierig zu ermitteln sein. Der Grund der Kritik ist jedenfalls das Rechtsprinzip als die Freiheit aller, die sich durch den verfaßten Allgemeinwillen in der Form des staatlichen Gesetzes besondert. Material-inhaltlich ausgeschlossen ist dadurch, wie wir von Kant, der freiheitsgesetzlichen Revolution im Kopf, lernen können, die Regel, einen anderen seiner Rechtssubjektwürde zuwider zum Mittel, zum Objekt zu machen. Das ist seither der Angelpunkt für alle Schritte zur Aufhebung von Unfreiheit, auch etwa in den Formulierungen des jungen Marx. Es ist die entscheidende und immerfort zu verwirklichende Grundaussage in Art. 1 GG. Besonders gilt das für das Strafrecht, das seiner Ausgangslage nach- der Täter hat sich ins Unrecht gesetztfür jene Fehlbestimmung, ihn zum Zweckobjekt zu denaturieren, besonders anfällig ist. Daher der Satz: Das Strafgesetz ist ein kategorischer Imperativ22. Er hat einen alles andere als jenseitig-transzendenten, vielmehr höchst diesseitig-immanenten und genauen kritischen Sinn. Die Verselbständigung partikulärer, parteilicher Zweckmäßigkeitsregeln, Abschreckungs-, Lock-, Behandlungsintentionen entbehrt der Allgemeingültigkeit. Sie enthalten keinen zureichenden Grund, warum der Täter als Rechtssubjekt sich diese Differenzierung nach Zweckgründen für andere gefallen lassen müßte. Strafbarkeit begründet sich vielmehr als notwendiger Vernunftschluß im Willen aller und des Täters aus der Tat selbst, - nach Grund und Maß, das heißt aber auch nach Einschränkung und Aufhebung. Die allgemeine systematische Entfaltung dessen steht hier nicht an23. Für den strafaufhebenden Gnadenakt folgt daraus, daß auch er dem vorpositiven Rechtsprinzip nicht widersprechen darf. So reformuliert sich freiheitsgesetzlich die Aussage des heiligen Thomas, die Vorschriften des Dekalogs seien indispensabeJ24. Also darf "Gnade" nicht das Mittel mehr oder weniger vordyrgründiger Zweckerwägungen sein. Im Namen der Gnade, wie im Namen der Strafe fällt man dann der Sache nach auf ein vorrechtliches, vorstaatliches Kampfmittel zurück- ein bloßer Nominalismus. Das begrifflich Aufgewiesene unterscheidet unser RechtsbewußtKritisch infolgedessen zum K~onzeugen-Handel Merten (Fn. 4), S. 48ff. Material bei Kirchheimer (Fn. 19). 22 Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten (1797), Allgemeine Anmerkung E; s. auch Hege!, Rechtsphilosophie §§ 95ff., 99ff.; s. E. A. Wolf!, ZStW 97 (1985), S. 786ff. ; Verf , Begriff der Strafe (1986) ; ders., ARSP 75 (1989) , S. 265ff. 23 s. Fn. 22. 24 s. oben Fn. 17. 2o 21
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sein durchaus in aktuellen Bezügen, wenn es- z. B. im FallSpeitel-die eigentlichen Rechtsgründe in der Tat- Täterbesonderheit zu suchen sich bemüht und diese von irgendwelchen beliebigen Nützlichkeitserwägungen unterscheidet. Das führt zunächst zur These 7: Gesetzliche Strafgerechtigkeit hebt das Gnadenrecht teilweise in sich auf
Der verfaßte rechtliche Allgemeinwille in der Form des Gesetzes ist und weiß sich endlich. Das zeigt sich an der vom Gesetz in seiner abstrakten Allgemeinheit nicht erfaßten Härte des Einzelfalls, im Anwendungsprozeß an der Möglichkeit objektiv fehlerhafter Rechtserkenntnis, dem Fehlurteil. Hier kann in Namen der Gnade der Sache nach ausgleichend-justizielle Gerechtigkeit am Platz sein. Traditionelle Stichworte dafür lauten: "Schenkende Gnade" bei außergewöhnlichen Einzelfallumständen, "korrigierende Gnade"25, wenn die gesetzesstaatsimmanenten Mittel und Wege erschöpft sind. Im Fortschritt der Rechtsverfassung wird diese Funktion der Gnade tendenziell eingeschränkt, wie häufig bemerkt worden ist. Z . B. ist die besondere Lage der "Kindsmörderin" heute gesetzlich durch den Privilegierungstatbestand § 217 StGB berücksichtigt. Der affekthaften Besonderheit einer TalTätersituation kann in differenzierten Zurechnungsregeln Rechnung getragen werden. Es bedarf insofern nicht mehr der Gnade. Ähnliches gilt auf der Ebene der Rechtsanwendung. Das Rechtsmittelsystem, namentlich ein ausgedehntes Revisionsrecht, die Wiederaufnahme propter novabieten entwickelte Möglichkeiten der Fehlurteilskorrektur. Dennoch bleibt korrigierende Gnade auch hier möglich, aber eben als Einzelheit, in der die Intention der Gesetzesallgemeinheit liegt. Eigentlich wird Gnade damit aber, wie die liberale Tradition mit Recht bemerkt26, zu einem rechtsstaatsimmanenten Mittel. Solche korrigierende Gnade in gleichsam "kleiner Münze" - verwaltungsmäßig gehandhabt durch untergeordnete Gnadenabteilungen -, so legitim sie als immanentes Mittel in Anbetracht der Endlichkeit des Gesetzes und seiner Erkenntnis im Einzelfall ist, steht freilich immer auf dem Sprung des Übergriffs, in ungleicher Einzelfallentscheidung die gleichmäßige gesetzliche Strafgerechtigkeit zu durchbrechen. Gelegentlich kommt es so zu einem unguten Gegeneinander. Z. B. setzt das Gericht eine verhängte Freiheitsstrafe mangels guter Prognose nicht nach§ 56 StGB zur Bewährung aus, die Gnadenbehörde auf nicht wesentlich veränderter Urteilsbasis dann aber doch. Die Forderung nach Dogmatisierung, justizieller Regulierung und Kontrolle des Gnadenaktes wird insoweit ganz verständlich27, nicht nur aus subjektivrechtlicher Per25 s. Peters und Schätz/er (Fn. 5, 6); Naucke, Strafrecht (5. Auf!. 1987), S. 134: Gnade "zur Korrektur zu weit geratenen materiellen Rechts"; s. auch Geerds, Gnade, Recht und Kriminalpolitik (1960), S. 22ff.; beschränkend auf Evidenz und Schwere Bettermann, AÖR 96 (1971), S. 528, 540; ausschließend Rüping und Merlen (Fn. 4). 26 s. Eb. Schmidt (Fn. 5), S. 566 und Radbruch (Fn. 16). 27 Rettermann (Fn. 25), S. 532f.
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spektive - immerhin ist der den Täter belastende Widerruf des Gnadenaktes ja schon als justiziabel anerkannt28. Mit einer konsequenten Verallgemeinerung würde diese Form der Gnade auch ausdrücklich das, was sie kategorial ist, nämlich eine Art außerordentlicher Rechtsbehelf. Die im Grunde gesetzesstaats-immanente Funktion der Gnade tritt noch klarer hervor, wo sie gesetzesvertretend ist. Beispielsweise29 wurde das Institut der Strafaussetzung zur Bewährung - eine alte Reformforderung seit der sogenannten modernen Schule- vor seiner erst 1953 realisierten gesetzlichen Regelung jahrzehntelang im Gnadenwege allgemein praktiziert. Ähnlich war es mit der Aussetzung der lebenslangen Freiheitsstrafe vor der erst seit 1981 geltenden gesetzlichen Regelung des § 57a StGB. Vor Abschaffung der Todesstrafe in Deutschland bzw. auf sie hin gab es in manchen Ländern des Reiches regelmäßige Begnadigungen. Offenbar sollte hier die Vielzahl von Gnadenakten das immanente Auseinanderfallen von fortgeschrittener Rechtsidee und zurückbleibendem positiven Gesetz beheben. Ein solcher Übergang ist freilich methodologisch problematisch, ebenso wie die auf allen Gebieten mehr oder weniger weitgehende Verschiebung zum Richterrecht, die im Strafrecht besonders problematisch ist30. Bei der Gnade handelt es sich ja nicht einmal um Richterrecht. Methodologisch wird das nur haltbar sein als Notlösung, also bei evidentem Versagen des Gesetzgebers und auf eine gesetzliche Regelung hin. Für den vorliegenden Gedankengang entscheidend bleibt der Aufweis, daß Gnade insoweit jedenfalls materielle Gesetzesfunktion trägt. Dieses Stück abschließend, muß noch auf den Anwendungsfall der Gnade als Nachvollzug eines für die Zukunft verbesserten resp. gemilderten Strafgesetzes hingewiesen werden. So tritt Gnade regelmäßig in der Form der Amnestie (sog. Reformamnestie) auf. Für die jüngere Vergangenheit darf erinnert werden z. B. an die Straffreiheitsgesetze von 1968 und 1970 im Gefolge der Strafrechtsreformgesetze3l. Auch hier ist die Gnade Mittel des Gesetzesrechts. Sie soll den inneren Widerspruch beheben, der in der weiteren Anwendung und insbesondere der Vollstreckung eines inzwischen im Fortschritt der Rechtsidee eingeschränkten oder aufgehobenen Strafgesetzes (z. B . etwa des früheren § 175) läge. Inhalt und Gesetzesform der Amnestie stimmen hier überein. "Gnade" ist insoweit, dem Rechtsprinzip gemäß, gesetzliche Gerechtigkeit; und es ist insofern verfehlt, sie als Zweckamnestie zu bezeichnen32. BVerfGE 30, 108; immanent kritisch zur Widersprüchlichkeit Bettermann, ebd. s. Eb. Schmidt (Fn. 5), S. 570f.; Geerds (Fn. 25). 30 Zur methodologischen Problematik Rettermann (Fn. 25), S. 540; auch in Grewes (Fn. 4), S. 22ff. inhaltlich fragwürdiger Kritik ("liberal-demokratisches Instrument humanitärer Strafrechtsauflösung") steckt ein methodologisch richtiger Aspekt. 31 Marxen, Rechtliche Grenzen der Amnestie (1984), S. llff., 13. 32 So aber Marxen, ebd. 28
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Zusammenfassend: Gnade verfällt entweder der Kritik, soweit sie dem Rechtsprinzip und seinen materialen Grundbestimmungen zuwider als bloßes Kampfzweckinstrument gebraucht wird, oder sie ist ein Mittel der Gesetzesgerechtigkeit, insofern sie urteilskorrigierend, gesetzesvertretend, gesetzesergänzend Geltungswidersprüche im Gesetzesrechtsstaat behebt. Bis hierher behielte der Verfassungsentwurf der großen Revolution recht. Das Gnadenrecht wäre materiell - nicht unbedingt in formeller Hinsicht, Namen sind Schall und Rauch - aufgehoben, aufgelöst durch die Strafgerechtigkeit des Gesetzes- und Justizstaates. Um danach Gnade im emphatischen Sinne als Rechtsinstitut zu begreifen, muß man also aus der Immanenz des funktionenteilenden Rechtsstaats heraustreten. Das ist freilich nicht bloß ein theoretisches Unterfangen, sondern setzt eine praktische Realmöglichkeit voraus. Dies versucht zu erfassen die These 8: Gnade hat selbständige Bedeutung als Teilelement einer staatskonstitutiv-friedensstiftenden, politischen Gerechtigkeit.
In diesem Satz ist Gnade nicht als ein Rechtsmittel im Gefüge des funktionen-teilenden Staates definiert, sondern als Element der sich selbstbestimmenden Neubegründung des staatlichen Allgemeinwillens-aus der Negation, der Krise, dem relativen Mangel wirklicher StaatlichkeiL Denn entgegen dem Optimismus des Aufklärungszeitalters entspricht der Erfahrung des 19. und 20. Jahrhunderts die Vernunftendlichkeit der Menschen als citoyens, ihre Unfähigkeit und ihr kollektives Versagen, tiefgreifende Interessenkonflikte politisch angemessen zu ordnen. Die Ambivalenz zwischen menschlicher Perfektibilität und Korruptibilität bedingt eine von Hegel als Rechtsmangel begriffene gesellschaftliche Dialektik, die im welthistorischen Maßstab fortbesteht. In der Realität existieren Übergänge, von offenkundigen Extremen bis zu Krisenerscheinungen innerhalb einer ansonsten wirklich-gerechten StaatlichkeiL Civitas deiund civitas terrena sind, mit dem heiligen Augustinus zu sprechen, immer miteinander vermischt. Daher gilt es, auch im Hinblick auf aktuelle Erscheinungen, zu begreifen und nicht in Selbstgerechtigkeit zu verharren. Die historische Betrachtung und die empirisch-politologische Analyse bereiten das vor. Historische Erinnerung zeigt, daß sich nach kollektiven Krisenzeiten, namentlich nach Bürgerkriegen, die friedensstiftende Neukonstitution verfaßter Staatlichkeit regelmäßig mit Gnade/Amnestie- Vergeben und Vergessen -der in der Krise begangenen Verbrechen verbindet33. Schon die regelmäßige 33 Vgl. zum Folgenden Kirchheimer, Politische Justiz (1965), S. 566ff.; zur entscheidenden Bedeutung der Amnestie für die Bürgerkriegsbeendigung im juristischen Denken der Religionskonflikte s. Schnur, Die französischen Juristen im konfessionellen Bürgerkrieg des 16. Jahrhunderts (1962), S. 38ff.; ausgrenzend Grewe (Fn. 4) , S. 13f. , 54ff. ; s. ferner Merten (Fn. 4), S. 18ff.; Marxen (Fn. 8), S. 3ff. ; Hüser, Begnadigung
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Form, in der Gnade hier auftritt- als allgemeine Amnestieregelung, verweist auf Grund und Ziel im Kollektivallgemeinen. Offenbar sind nämlich nicht der Mangel an Einzelfallgerechtigkeit und ihre Wiederherstellung in an sich wohlgeordneter Rechtsstaatlichkeit, sondern der allgemeine Friedensverlust und dessen Behebung thematisch. In dieser normativ vorgeprägten Perspektive wird auch in typologischer Gliederung durchaus zu unterscheiden sein, einesteils zwischen Zweckamnestien innerhalb des Kampfes, also z. B. die schon angeführte Lock-Amnestie oder die, wie man sagen könnte, Gefangenenaustauschamnestie (z. B. zwischen den extremen Flügelparteien in der Weimarer Zeit) oder die parteilich-einseitige Genossenamnestie (z. B. der Nationalsozialisten nach 1933), - anderenteils aber Rechtsfriedensamnestien nach Krisen- oder Notzeiten (z. B. in der unmittelbaren Nachkriegszeit) oder eben besonders eindrucksvoll in Friedensschlüssen, namentlich nach konfessionellen Bürgerkriegen, z. B. im Edikt von Nantes von 1598, im Westfälischen Frieden von 1648. Gnade, in der allgemeinen Form der Amnestie, erscheint hier verbunden mit dem Neuanfang von Staatlichkeit in der Verfassungsgebung. Noch die sogenannte Jubelamnestie zum Staatsgründungstag evoziert mehr oder weniger bewußt diesen Zusammenhang. In der Dichtung - Shakespeares "Maß für Maß" - ist die Erinnerung aufgehoben an solche Gnade aus der Staatskrise und der mit ihr verbundenen individuellen und kollektiven Korrumpierung heraus34. Die empirisch-politologische Analyse35 definiert im bezeichneten Kontext Amnestie als politische Ausnahmeregel zur Beendigung eines Ausnahmezustandes. In der Kampfsituation besteht die Tendenz, die positivrechtlichen Formen in parteilichem Sinne zu "politisieren", auch die Gerichtsbarkeit als "politisches" Kampfmittel zu gebrauchen. Darin realisiert sich der zumindest partikuläre Verlust des allgemeinen Willens. Schon die empirische Beschreibung kommt nicht ohne normative Kategorien aus: Die Kampfsituation, der Druck der Leidenschaften provoziere erfahrungsgemäß beiderseits ungerechte Gewaltmaßnahmen. Die Amnestie enthalte dagegen das Eingeständnis einer wechselseitigen, allseitigen Mitschuld an der Kampfsituation, die Anerkennung der Unvollkommenheit politischen Handelns. Ersichtlich liegen hier auch zwei verschiedene Begriffe des Politischen vor, einmal der parteiliche Kampfbegriff, der auf die Eliminierung des anderen geht, zum anderen Politik als auf den gerechten Rechtsfrieden in der Polis zielende Handlungsform. und Amnestie (1973), S. 149ff. ; Höfig, Die materiellrechtliche Problematik der Reichsund Bundesamnestien seit 1933 (Diss. Bonn 1963). 34 Der Dichter kontrastiert solche friedensstiftende Gnade mit dem Einsatz der "Begnadigung" zu höchst selbstsüchtigen Zwecken in und als Zeichen der Krise; s. Kirchheimer (Fn. 19). 35 s. Kirchheimer (Fn. 33); Freund, Amnestie - ein auferlegtes Vergessen, in: Staat 10 (1971), 173ff.; s. auch Breitbach, Politische Amnestie: Kriminalsoziologische Bibliografie 13 (1986), S. 3ff.; s. auch Schnur (Fn. 33).
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Im folgenden soll im bezeichneten Handlungszusammenhang die strafrechtseinschränkende Bedeutung von Gnade in Hinsicht auf noch ausstehende wirkliche Staatlichkeit rechtsbegrifflich aufgewiesen werden. Das fordert einen gedanklichen Ansatz, der den Begriff des Verbrechens nach Grund und Maß zwar als abstraktrechtlich-interpersonale und subjektiv-zurechnungstheoretische (moralische) Kategorie aufrechterhält, aber intersubjektiv-institutionelle Begründungszusammenhänge mit einbezieht36. In entwickelter Form zielt das auf eine vom freiheitsgesetzlichen Rechtsbegriff ausgehende Dogmatisierung von Unrechts- und Schuldunterscheidungen, - in Kritik an instrumental- präventionistischen, bloß abstraktrechtlichen oder moralischen Strafrechtsauffassungen. Kurz gesagt: Insofern Verbrechen aus einem institutionellen Krisengrund resultiert, muß Strafe zwar abstrakt und moralisch begründet, doch durch gerechte Aufhebung jenes Mangels eingeschränkt werden. Erörtert sei knapp der Begründungszusammenhang, nicht die anschließenden Maßfragen, hinsichtlich politisch motivierter Delinquenz37. Zu wesentlichen Teilen, was eine Faktenfrage ist, muß sie als Ausdruck eines kollektiv wechselseitigen Unrechts-Verschuldensprozesses mit entsprechend selbstgerechter Normhaltungsbildung begriffen werden. Das kann richtigerweise nicht bedeuten, im Hinblick auf politische Tatmotive Unrecht und Schuld zu bestreiten, vielmehr handelt es sich durchaus um eine entwickelte Form des "Bösen", das Gute- politisch Richtige- zu wollen, es aber derart in die eigene Verfügung zu nehmen, daß- unter dem berüchtigten Satz: "Der Zweck heiligt die Mittel" -das personale Recht anderer bloß zum Objekt der eigenen Intentionen wird. Furchtbare Beispiele sind in aller Erinnerung; und das an sich rechtsvernünftige, sogar moralisch hochstehende Subjekt braucht lange Zeit und gravierende Umstände, um sich, regelmäßig in gruppendynamischen Prozessen, so zu verkehren, daß es sich schließlich anhaltend handlungsbestimmend das Falsche für richtig vorzumachen vermag38. Gleichwohl ist dies auch verbrechensbegrifflich nur die eine Seite. Die früher deutlicher vermerkte, in der gegenwärtig dominierenden Strafrechtsauf36 Vgl. zuletzt Verf. , in: Lackner-Festschrift (1987), S. 11 ff. und demnächst aufgrund eingehender Explikation der hegelschen Rechtsphilosophie die Hamburger Dissertation von Klesczewski; s. auch Begründungszusammenhang oben bei Fn. 22. 37 Die Problematik wird bisher unter dem Stichwort "Überzeugungstäter" normgeltungs- und schuldtheoretisch erörtert; vgl. Radbruch, ZStW 44 (1924), S. 34ff. ; Nagler, Gerichtssaal 94 (1927), S. 48ff.; Wolf, Verbrechen aus Überzeugung (1927); Noll, ZStW 78 (1966), S. 6~8ff.; Arthur Kaufmann, Schuldprinzip (1961), S. 137ff. ; Gödan, Die Rechtsfigur des Uberzeugungstäters (1975) ; Ebert, Der Uberzeugungstäter in der neueren Rechtsentwicklung (1975). Die heute vorherrschende Auffassung steht im Grunde auf einem abstraktrechtlichen-positivistischen Standpunkt des Rechts der existierenden Staatlichkeit, der schuldtheoretisch kaum mehr zu korrigieren ist; dies paßt zu einer praktisch härteren Behandlung. Den Gegensatz aber klar festhaltend Schmidhäuser, Strafrecht AT (2. Aufl. 1975), 10/73ff. 38 Vgl. eindrucksvoll zur gruppendynamischen Selbstkorrumpierung der Normhaltung Jäger u. a ., Lebenslaufanalysen zum Terrorismus (1981), S. 154, 157ff.
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fassung aber eher verschüttete Besonderheit politisch motivierter Delinquenz besteht darin, daß sie einen objektiv-institutionellen Grund im Mangel wirklich gerechter Staatlichkeit, affirmiert im ungerechten Handeln anderer, haben kann. Dies erst kann den einen bzw. eine Gruppe in die besondere Lage bringen, sich als ausschließliche(s) Rechtssubjekt(e) zu behaupten und zu übernehmen. Als ein- für uns- fernes Beispiel mag, vor Auseinandersetzung der wesentlichen Schritte, der Kampf um das Menschenrecht der religiösen Freiheit stehen, als näherliegendes das Problem der sozialen Gerechtigkeit. Zunächst existiert bloß ein Mangel an Gerechtigkeit, z. B. eben an religiöser Freiheit oder an ökonomisch-eigentumsrechtlicher Teilhabe (soziale Frage), -eine Negation, die im Sich-geltendmachen eines subjektiven Rechtsanspruchs auf objektive Rechtskonstitution dann erst hervortritt und bewußt wird. Nun ist (bzw. war) der politische Prozeß seiner positiven Rechtsform nach nicht derart freiheitsbegrifflich verfaßt, daß er der Realisierung des subjektiven Rechtsanspruchs offen ist. z. B. ist religiöse Freiheit positiv-rechtlich ausgeschlossen, das allgemeine Menschenrecht der Subjektteilhabe am Rechtsprozeß ist positivrechtlich nicht anerkannt - die wirkliche Lage , als Kant es philosophisch formulierte. Insofern kann man die Rechtsform material-identifikatorisch nennen; sie affirmiert bestimmte historisch-materiale Inhalte und schließt andere aus. Damit ist aber in bezug auf den sich geltend machenden freiheitsrechtliehen Inhalt die Auflösung des Allgemeinwillens oder die Partikularisierung des Rechtswillens angesetzt. In Handlungen, die auf subjektive Rechtsverwirklichung zielen, realisiert sich eine mehr oder weniger begrenzte Regelverletzung einerseits, wie andererseits deren rechtsförmige Negation erfolgt, nicht sowohl bloß wegen der Regelverletzung, sondern auch im Hinblick auf die darin zur Geltung gebrachten Inhalte. Dieses affirmierte Unrecht, dem auch eine Form der Selbstüberhebung, der Verschuldung entspricht, bedingt die Versuchung für die Betroffenen, sich immer mehr zur Rechtsinstanz zu verabsolutieren. Das "staatliche" Unrecht oder die Negation wirklich staatlicher Rechtsgewähr sind es, welche die Korrumpierung der subjektiven Normhaltung wesentlich mitbedingen. Zumal die verstärkte Handhabung eines Kampfzweckstrafrechts, das in der berechtigten Negation einer Unrechtstat aber die notwendige Anerkennung des Täters als Rechtssubjekt verweigert, hält und bestätigt nur jene subjektiv-moralische Isolierung. Damit ist aber eine Konstellation definiert, in der das Sich-wechselseitig-zum-Objekt-machen handlungs- und haltungsbestimmend wird, in einer sich steigernden Dynamik der insoweit partikulären Auflösung wirklicher Rechtlichkeit und StaatlichkeiL Nun ist auch im existierenden Verfassungsstaat eine solche Partikularisierungsbewegung als Ausdruck einer Gerechtigkeitskrise möglich. Allerdings ist in einer an sich freiheitlichen Verfassung der mögliche Übergang undeutlich. Gefordert sind Situations- und Handlungsmaximendeutungen. Beispielsweise ist zu sehen, ob polizeiliche Ordnungsgewalt oder strafrechtliche Sanktionen
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politisch-inhaltlich selektiv eingesetzt werden39. Politisch motivierte Delinquenz, fern davon, deshalb überhaupt entschuldigt zu sein, kann in jenem wechselseitigen Verantwortungszusammenhang fundiert sein; und es kann dazu kommen, daß Strafrecht- jedenfalls partikulär in bestimmten Hinsichten - auch den Charakter eines Kampfinstrumentes, des "Feindstrafrechts"40 annimmt. Situation und Handlungsmaxime können freilich zweideutig sein. Der Staat reagiert auf Unrecht als Rechtsstaat, zugleich überreagiert er als Instrument eines parteilichen Standpunktes, damit die Versuchung für den Betroffenen erhöhend, sich zur Rechtsinstanz aufzuschwingen. In der an sich richtigen Intention, eine objektiv-allgemeingültige Ordnung zu behaupten, negiert parteilich-identifikatorisches Handeln zunehmend Inhalt und Subjektivität des anderen. Was das Strafrecht angeht, so tendiert es dann in Teilelementen von Gesetzgebung, Gesetzesauslegung, prozessualen Anwendungsregeln und bis in den Strafvollzug hinein zur Reduktion auf ein unversöhnliches Kampfmittel der Abschreckung und Sicherung4I; und die vorherrschend bloß instrumental-präventionistische Strafrechtsauffassung vermag dem nichts entgegenzusetzen. Es ist aber diese Reduktion ein kollektiver Irrweg, weder legitim, noch in einem mehr als kurzfristigen Sinne erfolgreich, wie man sehen kann. Im einzelnen historischen Fall ist damit gewiß nicht nur eine schwierige Zurechnungsfrage - die quaestio iuris - angesprochen, sondern auch eine umstrittene quaestio facti der Zeit- und Rechtsgeschichte. Immerhin wird man wenigstens folgende Fragen stellen müssen: Ob und inwieweit die staatliche Reaktion auf politisch motivierte Normverletzungen- anfangs mag noch nicht von Straftaten die Rede sein- als Feklgebrauch staatlicher Macht, einschließlich des Strafrechts, zu "politischen" Kampfzwecken beurteilt werden muß, - ob und inwieweit die Haltung anderer zu politisch motivierten Straftaten dadurch mitbegründet war und ist42. 39
Beispielsweise die Applikation des ausgedehnten Gewalt-Nötigungstatbestandes,
§ 240 StGB, auf passive Resistenz in bestimmter politisch-inhaltlicher Richtung z. B.
auf Zugangsblockaden durch die sog. Friedensbewegung einerseits, während ähnliche Verhaltensweisen streikender Arbeiter unsanktioniert bleiben, - ein mit der Tatbestandsauflösung offener Legitimitätsverlust (vgl. den Dissens in BVerfGE 73, 206), der durch die an sich verfehlte Debatte über die Berücksichtigung sog. Fernziele noch bestätigt wird (s. den Überblick bei Lackner, StGB, 18. Aufl. 1989, § 240, 3a, 6a). 40 Jakobs, ZStW 97 (1985), S. 751 , 779ff.; grundlegende Kritik an einer Strafrechtskonzeption, welche die politisch-inhaltliche Aktivität als solche im Sinne eines Praevenire hostem zum Inhalt hat bei Copic, Grundgesetz und politisches Strafrecht neuer Art (1967), s. 6ff., 216ff., u . ö. 41 s. außer der in Fn. 40 zitierten Arbeit von Copic die neuere Analyse von Basten, Von der Reform des politischen Strafrechts bis zu den Anti-Terrorgesetzen (1983); s. zur legislativen Auseinandersetzung mit dem Terrorismus Berlit I Dreier, in: Analysen zum Terrorismus, Bd. 4, 2 (1984), S. 228ff. 42 Vgl. das empirische Material bei Sack, in: Analysen zum Terrorismus Bd. 4, 2 (1984), zusf. S. 366ff.; ders., in: Kleines kriminologisches Wörterbuch (2. Aufl. 1985), S. 324ff. m.w.N.; s. auch Jäger, (Fn. 38); Fritzsche, in: Universitas 43, (1988) , S. 1056ff.; der wechselseitig-genetische Zusammenhang wird freilich bestritten, s. Matz I Schmidt-
Strafgesetz, Gnade und Politik nach Rechtsbegriffen
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Ersichtlich kann die erinnerte Gegensätzlichkeit in ihrer wechselseitigen Negativität nur relative Gültigkeit beanspruchen- normativ auf den entwikkelten Verlust an wirklicher Staatsrechtlichkeit bezogen. Vom Standpunkt einer politischen Restitution des Allgemeinen aus, dem fortwährenden exeundum e statu naturali, müßte die parteiliche Perspektive aufgehoben werden. Das hat seine Schwierigkeit. Denn psychologisch entspricht dem geschilderten Prozeß eine Haltungsbildung, welche Uneinsichtigkeit und Befangenheit in der eigenen Kampfposition bedingen. Je gruppendynamisch stabilisiert, haben sich die Beteiligten ja in längerfristigen Handlungs- und Haltungsentscheidungsprozessen festgelegt; und es bedarf der Höllenfahrt der Selbsterkenntnis (Kant), die übrigens zum wenigsten ein nur theoretischer Prozeß ist. Wie eng Selbstgerechtigkeit und Gnadenlosigkeit verschwistert sind, hat Heinrich Böll in einem berühmten Essay (Gnade für Ulrike Meinhoff) gezeigt. Moralische Anstrengung allein genügt freilich nicht. Der praktische Rechtsverwirklichungsprozeß ist auf wechselseitige Anerkennung und Lösung aus der Feindperspektive angewiesen und muß darin das je zugrundeliegende Rechtsverwirklichungsproblem lösen. Ein wesentlicher Teil dessen ist, generell die Rolle des Strafrechts zu revidieren, es entschieden nicht als ubiquitäres Ordnungs- und "Bekämpfungs"-instrument, sondern als ultima ratio tatschuldangemessen ausgleichender Reaktion auf schwere Rechtsverletzungen zu begreifen43. Im Rahmen eines solchen Selbstbestimmungsprozesses wäre es schlüssig, auch Strafbarkeit resp. Strafverurteilungen zu revidieren, die auf dem vormaligen reduzierten Standpunkt, seinen Kampf- und Feindbestimmungen beruhen, sei es dem Grunde, sei es dem Maß nach. Gnade oder Amnestie beweisen sich dann unmittelbar als Elemente politischer Neubegründung, - durch einen souveränen pouvoir constituant, der freilich als den Allgemeinwillen fortbestimmendes Rechtsvernunftvermögen und erst dadurch als Macht zu begreifen ist. Gnade und Begnadigung tragen mithin Rechtscharakter, wiewohl höheren als den abstrakt -gesetzlichen, ebenso wie politische Gerechtigkeit als Selbstbestimmung der Allgemeinheit aus der Idee des Rechtsstaates vom jeweils faktisch existierenden Staat und seinem Recht in seiner endlich entwickelten Weise zu unterscheiden ist. Verfassungstheoretisch bedeutet dies, auch im funktionenteilenden Staat eine Stelle der souveränen, übergreifenden Einheitssetzung aus dem rechtlichen Allgemeinwillen anzunehmen, - mit gutem Grund gelöst von den Beschränkungen seiner Teilfunktionen (Gesetzgebung, Exekutive, Judikative) , aber nicht vom Rechtsprinzip44. In welchem Staatsorgan diese liegt und in welcher Form dieses hanchen, in: Analysen zum Terrorismus, Bd. 4, 1 (1983), S. SOff., 91ff.; s. auch Kaiser, Kriminologie (7. Aufl. 1985), S. 299ff.m.w.N. 43 Vgl. im Sinne eines Cantus firmus H. Mayer, Strafrechtsreform für heute und morgen (1962): "Die menschenzerstörende Vielstraferei muß aufhören". 44 Dieses Souveränitätsverständnis begreift das "legibus solutus" nicht als unbegrenzt (s. schon zu Thomas von Aquin oben Fn. 17); es begründet sich freiheitsrechtlich (s.
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delt, hängt auch von den Umständen, Inhalt und Tiefgang der zugrundeliegenden Krise, den Regeln der Verfassung ab45. In der Befangenheit der jeweiligen historischen Situation mag die Schwierigkeit der aufgegebenen konkreten Lösung verzagte Ratlosigkeit hervorrufen. Das Bild von der Gnade- als von jenseits kommendes46, vom weisen Herrscher gegebenes unverhofftes Geschenk - wird daraus zwar verständlich. Wirklich steht es aber für das Ideal, dem die fortwährende Bemühung um die Gerechtigkeit hier und jetzt nachzustreben hat.
Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, § 45) und einheitsbegründend-ausnahmezustandsbehebend gegen den zu formalen und im Ansatz zu ausschließender Negativität tendierenden Souveränitätsbegriffvon Thomas Hobbes, Leviathan, Teil Il, Kap. 17, 18 (kritisch Höfte, Politische Gerechtigkeit, 1988, S. 433ff. : "Blankovollmacht"), wie er von Carl Schmitt, Politische Theologie (2. Aufl. 1934) zur existentialistischen Punktualität gesteigert worden ist; davon beeinflußt auch der Dispensationsbegriff von Grewe (Fn. 4), S. 135ff. 45 Ist es nach Art. 60 GG der Bundespräsident, so ist nach der gegebenen Begründung ausgeschlossen, ihn an die Gegenzeichnung durch den Bundeskanzler oder den zuständigen Bundesminister zu binden. Die heute überwiegende Auffassung steht aber bei unklarem Wortlaut der maßgebenden Grundgesetzartikel 58, 60 auf dem unter der Verfassung von 1871 noch besonders umstrittenen, von der liberalen Staatsrechtslehre dann durchgesetzten Standpunkt, der den Monarchen/Reichspräsidenten/Bundespräsidenten in das Gewaltenteilungssystem integriert; vgl. Meyer I Anschütz, Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts (7. Aufl. 1919), S. 278; verfassungstheoriegeschichtlich Frisch, Die Verantwortlichkeit der Monarchen und höchsten Magistrate (1904), S. 344ff.; für die Gegenzeichnungspflicht heute Maunz I Dürig I Herzog I Scholz, GG-Kommentar, Bd. III (1989), Art. 58 (Herzog), Rdnr. 40; Schlaich, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. II (1987), S. 574f.; Bonner Kommentar (1988), Art. 58 (Schenke) Rdnr. 1718; dagegen richtig Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II (1980), S. 264, 265; s. auch von Münch, GG-Kommentar, Bd. II (1983), Art. 58 Rdnr. 16. Die kritisierte Auffassung verkennt den Souveränitätsbegriff (s. bei Fn. 44); als "mißlich" (Schlaich, ebd.) erweist sie sich, wenn eben die in den Grundkonflikt verwickelten Parteigänger in Ämtern von Exekutive oder Justiz die Gnadenkompetenz mitbeanspruchen. 46 Faust, 1. Teil, Kerkerszene: Stimme (von oben): ist gerettet!
Rechtsvergleichung und Rechtsdogmatik * Von Hein Kötz I. Rechtsdogmatik: Ein provinzielles Geschäft?
Die Rechtsvergleichung hat es mit einem Sachverhalt zu tun, an den wir uns alle längst gewöhnt haben, der aber doch bei Lichte besehen etwas sehr Betrübliches, ja Peinliches an sich hat: ich meine die Tatsache, daß jede Rechtsordnung stets ein nationales Phänomen darstellt. Denn bekanntlich gilt nicht überall ein und dasselbe Recht, sondern es gibt ein französisches, ein schwedisches, ein brasilianisches Recht. Man spricht sogar von einer italienischen oder einer deutschen Rechtswissenschaft, obwohl doch eigentlich von einer wirklichen "Wissenschaft" erwartet werden sollte, daß sie Regelhaftigkeiten aufzeigt, deren Geltungsanspruch nicht schon am nächsten Grenzpfahl endet. Und nicht ohne Neid ist es auch, daß der Jurist immer wieder die Erfahrung macht, wie der Physiker, aber auch der Soziologe oder Volkswirt imstande sind, sich im Gespräch mit ausländischen Kollegen aufgrund einer allgemein akzeptierten Fachterminologie ohne Umschweife in die Erörterung schwieriger Sachfragen zu vertiefen, während sich umgekehrt Verständnislosigkeit breitmacht, sobald der deutsche Jurist seinem englischen Kollegen etwas über die Haftung wegen culpa in contrahendo oder der englische dem deutschen etwas über breach of contract oder über das Iife interest eines trust beneficiary mitzuteilen versucht. Damit mag es auch zusammenhängen, daß es zwar einen Nobelpreis für Volkswirtschaft, nicht aber einen Nobelpreis für Rechtswissenschaft gibt. Die Volkswirtschaft ist eine Disziplin, zu der zwar von Gelehrten britischer, französischer oder österreichischer Staatsangehörigkeit Beiträge geleistet werden, die aber doch als solche einen universalen Geltungsanspruch erheben darf, dies mit der Folge, daß hervorragende Leistungen wissenschaftlich arbeitender Ökonomen von Bedeutung für den Wissensstand der Menschheit als ganzer sind und aus diesem Grunde nobelpreiswür-
* Der folgende Text gibt den Vortrag wieder, den der Verfasser am 26. 4. 1989 im Rahmen einer Ringvorlesung gehalten hat, die vom Fachbereich Rechtswissenschaft I der Universität Harnburg zum Thema" Rechtspolitik und Rechtsdogmatik" veranstaltet worden ist. Der Verfasser hat einige Fußnoten hinzugefügt, jedoch nirgends den Versuch unternommen, aus einer Rede eine Schreibe zu machen. Auch bittet er um Verständnis dafür, daß der Eingangspassus dieses Vortrags dem folgenden Aufsatz entnommen worden ist: Hein Kötz, Neue Aufgaben der Rechtsvergleichung: JBI. 104 (1982), 355- 362 (355f.).
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dig erscheinen können. Dem wissenschaftlichen Geschäft des Juristen hingegen haftet wegen seiner Verengung auf einen bloß nationalen Gegenstand von vornherein eine unvermeidliche Provinzialität, eine gewisse Kleinkariertheit, eine subalterne Beschränktheit an. Natürlich bestreitet niemand, daß sich ein Jurist große Verdienste erwerben kann, indem er eine "juristische Entdekkung" macht, den Anstoß zu einer geglückten Rechtsfortbildung gibt oder als Dogmatiker zeigt, welches die durchlaufenden Gesichtspunkte und leitenden Hinsichten sind, nach denen sich ein bestimmter Bestand an Rechtsnormen widerspruchsfrei ordnen läßt und damit nicht nur für den juristischen Praktiker beherrschbar, sondern auch für den Professor lehrbar und für den Studenten lernbar wird. Aber es handelt sich hier in aller Regel eben doch nur um Verdienste von bloß "lokaler" Bedeutung, um Verdienste nämlich, die der Jurist sich um die schweizerische oder um die belgisehe oder um eine bestimmte andere nationale Rechtsordnung erwirbt. Im Ausland gelten diese Verdienste nichts. Eine verbesserte Technik der Blinddarmoperation oder ein neues Verfahren der Beobachtung von Elementarteilchen kann man nach Frankreich oder England exportieren; den "Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte", die "Lehre vom objektiven Fehlerbegriff" oder die "Theorie der realen Verbandsperson" hingegen nicht. Das war nicht immer so. Im Mittelalter herrschte bekanntlich in Kontinentaleuropa ein auf der Grundlage des rezipierten römischen Rechts entwikkeltes ius commune, das zwar den lokalen Statuten und Gewohnheiten überall den Vorrang einräumte, aber doch für Jahrhunderte ein einheitliches Fundament von Begriffen, Prinzipien, Denktraditionen und Regeln bildete und sich daher auch auf die Interpretation der örtlich verschiedenen Rechtsnormen in starkem Maße vereinheitlichend ausgewirkt hat. Daher hat man damals auf die Stimme der führenden Juristen nicht nur in ihrem engeren lokalen Umkreis, sondern gleichzeitig auch im Ausland gehört, und wer als Holländer ein erfolgreiches juristisches Werk publiziert hatte, durfte auf Leser auch in Deutschland und in Spanien rechnen. Erst mit der Entstehung der Nationalstaaten hat sich das Blatt gewendet. Für ein europäisches ius commune und eine gemeineuropäische Rechtswissenschaft war kein Platz mehr, nachdem die Kodifikationsbewegung ihren Siegeszug angetreten hatte, die Idee vom Primat der staatlichen Gesetzgebung das Feld beherrschte und in Preußen, in Frankreich, in Österreich nationale Gesetzbücher in Kraft getreten waren. Die Folge davon war, daß - wie Jhering beklagte - "die Wissenschaft . .. zur Landesjurisprudenz degradiert [ist und] die wissenschaftlichen Grenzen ... in der Jurisprudenz mit den politischen zusammen fallen . Eine demüthigende, unwürdige Form für eine Wissenschaft." Freilich wußte Jhering auch schon, wie man diesem unwürdigen Zustand abhelfen könne: Nur von der Wissenschaft selber hänge es ab - so meinte er -, "jene Schranken zu überspringen und den Charakter der Universalität, den sie solange besaß, in einer anderen Form als vergleichende Jurisprudenz sich für alle Folgezeit zu sichern. Ihre
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Methode wird eine andere, ihr Blick ein weiterer, ihr Urteil ein reiferes, ihre Behandlung des Stoffes eine freiere werden, und so wird der scheinbare Verlust in der That zu ihrem wahren Heile ausschlagen, sie auf eine höhere Stufe der wissenschaftlichen Thätigkeit erheben."1. Es war ein glänzendes Horoskop, das Jhering vor 130 Jahren der Rechtsvergleichung stellte, und es wäre in der Tat eine interessante Frage, ob sich Jherings Prognose erfüllt und die wissenschaftlich betriebene Jurisprudenz tatsächlich inzwischen durch Rechtsvergleichung "auf eine höhere Stufe" ihrer Entwicklung gehoben worden ist. Man müßte dann fragen, welche Rolle die Rechtsvergleichung - ebenso wie ihre schöne Zwillingsschwester, die Rechtsgeschichte - heute in der Juristenausbildung spielt, welche Bedeutung sie für die Arbeit des modernen Gesetzgebers hat, in welchem Maße sie bei der Rechtsfortbildung im allgemeinen herangezogen wird, also dort mit Lösungsvorschlägen aufwartet und zur Kenntnis genommen wird, wo es um die Ausfüllung von Gesetzeslücken oder um die Entscheidung von Auslegungsproblemen geht. Wir haben uns heute allerdings auf eine andere Frage zu konzentrieren, nämlich auf das Verhältnis zwischen Rechtsvergleichung und Rechtsdogmatik. Dieses Verhältnis kann nun- so werden viele sicherlich denken- nur ein recht kritisches sein. Denn der rechtsvergleichend arbeitende Jurist, dessen Blick an nationalen Grenzen nie Halt macht, wird das Geschäft desjenigen nur geringschätzen können, der sich immer nur auf sein eigenes Recht beschränkt, stets nur die Luft des heimischen Herdes atmet und als Rechtswissenschaftler im Grunde nie anderes tut, als daß er das gewohnte dogmatische Mobiliar im gleichen Zimmer so lange herumschiebt, bis er ein ihn befriedigendes Arrangement gefunden hat. Man wird deshalb vielleicht erwarten, daß ich im Namen der Rechtsvergleichung eine scharfe Attacke gegen die Rechtsdogmatik reite. Und diese Erwartung wäre nicht einmal ganz grundlos, wenn man bedenkt, daß Konrad Zweigert in einem Beitrag zur Festschrift für Bötticher gerade dies getan, nämlich die juristische Dogmatik mehr oder weniger als Mummenschanz und Spiegelfechterei bezeichnet und ein Loblied auf die Rechtsvergleichung als "eine funktionelle und antidogmatische Methode" angestimmt hat2 . Zwar sei, so schrieb er, gegen Dogmatik solange nichts einzuwenden, als sie auf eine gewisse "Handlichmachung des Rechtsstoffs" abziele. Im Grunde verbinde man aber mit ihr die weitergehende und beunruhigende Vorstellung, es könnten aus Dogmen "in einer Art logischen Denkprozesses konkrete Ergebnisse" abgeleitet werden. Werde der Jurist mit I Rudolfv. Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, I. Teil (7./8. Aufl. 1924), S. 15. 2 Konrad Zweigert, Rechtsvergleichung, System und Dogmatik, Festschrift für Eduard Bötticher (1969), S. 443 - 449 (448). Vgl. aber auch die Erwiderung von Hans Dölle, Rechtsdogmatik und Rechtsvergleichung, RabelsZ 34 (1970), S. 403 - 410.
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einem neu aufgetauchten Sachproblem konfrontiert, so gehe er so vor, daß er mit dem Judiz, das ihm kraftErfahrungund Begabung zu Gebote steht, unter Abtasten der geläufigen zivilrechtliehen topoi das zu wünschende Ergebnis, die "beste Lösung" erahnt. Dann aber "beginnt der Denkprozeß, den man als Dogmatik bezeichnet, nämlich das Einpassen dieser Lösung in eines der vorfindliehen Dogmen - worauf eine Fülle zerebraler Energie verwendet wird, umso mehr, je schwieriger dieses Einpassen ist und desto näher es an ein gewaltsames Hineinpressen (oft unter schmerzenden Quietschtönen) herankommt. "3
Bei allem Respekt will mir doch scheinen, daß diese Beobachtungen meines verehrten Lehrers einer gewissen behutsamen Präzisierung nicht ganz unzugänglich sind. Dies soll in der Weise geschehen, daß ich- gestützt auf Erfahrungen, die man beim Umgang mit Auslandsrecht macht- in einem ersten Abschnitt zeige, warum juristische Dogmatik unentbehrlich ist. Gestützt auf die gleichen Erfahrungen will ich dann aber in einem zweiten Abschnitt deutlich zu machen versuchen, daß bei uns in Deutschland die rein dienende Funktion, die der juristischen Dogmatik zukommt, nicht selten verkannt wird, daß gewisse aktuelle Wachstumsspitzen zeitgenössischer Rechtsdogmatik in anderen Ländern ganz unbekannt sind, daß man dort offenbar das gleiche Lebensproblem mit einem viel bescheideneren Aufwand an begrifflichem Scharfsinn auf befriedigende Weise löst und daß der barocken Begrifflichkeit mancher neuerer Systembildung wohl oft bei uns weniger die Sorge um die Funktionstüchtigkeit des Rechts in seiner praktischen Bewährung zugrunde liegt als vielmehr ein gewisser Hang zum Durchleiden theoretischer Kontroversen. II. Zur Einschätzung der Dogmatik in den verschiedenen Rechtskreisen
Über den Begriff der juristischen Dogmatik ist viel gestritten worden. Gleichwohl werden mir vermutlich die meisten zustimmen, wenn ich sage, daß derjenige Jurist dogmatisch arbeitet, der darauf abzielt, das für ein bestimmtes Gebiet maßgebliche Material an Rechtsregeln nach einheitlichen, übergreifenden und durchlaufenden Gesichtspunkten und Zusammenhängen zu ordnen, die dabei zutage getretenen allgemein leitenden Begriffe und Grundgedanken namhaft zu machen, sie zu einem logischen und deshalb intersubjektiv vermittelbaren System zu ordnen und den ständig neu produzierten Rechtsstoff - es handele sich um neue gesetzliche Vorschriften oder auch um Gerichtsentscheidungen - daraufhin zu prüfen, ob er sich in die gegebene Ordnung einfügt oder die Ergänzung oder den Ausbau dieser Ordnung erfordert. Dogmatik sucht also in der verwirrenden Vielfalt des Bestandes an rechtlich erheblichen Regeln eine Ordnung zu stiften; sie trachte_t nach Kohärenz, 3
Zweigert (Fn. 2), S. 445 .
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nach Widerspruchsfreiheit, nach Übersichtlichkeit und nach innerer Folgerichtigkeit. Sie versucht, ein Maximum an rechtlichem Stoff mit Hilfe eines Minimums an Begriffen in eine sinnvolle Ordnung zu bringen; sie trennt das Allgemeine vom Besonderen, die Regel von der Ausnahme und die allgemein leitenden Hinsichten vom speziellen Detail, und sie macht so das juristische Material übersehbar, beherrschbar und - wie gerade der Hochschullehrer zu betonen allen Anlaß hat- auch lehrbar und lernbar. Dogmatik - in diesem Sinne verstanden - ist nun keineswegs etwas, was es nur in Deutschland oder auch nur in denjenigen Ländern gäbe, deren Rechtsordnung- wie die deutsche- auf einer Begrifflichkeil und Taxonomie beruht, die weitgehend vom römischen Recht her geprägt ist. Auch im angelsächsischen Recht gibt es "Dogmatik" . Zwar spricht man im Common Law lieber von "legal doctrine", und wenn dort der Ausdruck "legal dogmatics" verwendet wird, so geschieht das meist in einem eher abschätzigen Sinne. Das hängt vielleicht auch damit zusammen, daß man im Ausland- und wohl auch bei uns -mit dem Wort "Dogma" oft die Vorstellung verbindet, daß es sich dabei um die Grundsätze einer Religion oder einer Weltanschauung handele, zu denen der Gläubige sich auch dann bekennen muß, wenn sich Verstandesgründe für sie nicht finden lassen. Andererseits kann man aber auch eine Arbeitsmethode schon als "dogmatisch" bezeichnen, wenn sie durch die Autorität verbindlicher Texte bestimmt wird, und während es die theologische Dogmatik mit Texten zu tun hat, deren Verbindlichkeit darauf beruht, daß sie von Gott offenbart sind, ergibt sich die Verbindlichkeit des juristischen Materials aus der Geltung, die Gesetzesrecht, Gewohnheitsrecht und Richterrecht für sich in Anspruch nehmen können. Aber wir wollen uns nicht mit den Assoziationen aufhalten, die der eine oder andere mit dem Wort "Dogma" verbindet. Schaut man auf die Sache selbst und bedenkt man, daß es der juristischen Dogmatik stets um die Auffindung einer befriedigenden Ordnung, um die Entdeckung übergreifender Rechtsgedanken, um die Vermeidung von Inkahärenzen und in diesem Sinne auch - wie Zweigert sagt - um "die Handlichmachung des Rechtsstoffs" geht, so wird klar, daß jede Rechtsordnung dogmatischer Anstrengungen bedarf, und zwar ganz unabhängig davon, welcher Stellenwert in ihr dem Gesetz oder dem case law als Rechtsquelle beigelegt wird. Natürlich beruht ein Fallrecht auf dem Gedanken, daß die Entscheidung einer zweifelhaften Rechtsfrage aufgrund einer Analyse der einschlägigen Präzedenzfälle gefunden werden muß. Aber das schließt keinesfalls aus, daß auch der englische Richter den Einzelfällen, die man ihm in der mündlichen Verhandlung vorgetragen hat, allgemeine Regeln, Standards und Prinzipien abgewinnen muß, weil der ihm vorliegende Fall sich stets von jenen Präzedenzfällen unterscheidet und daher von ihrer ratio decidendi nur dann gedeckt wird, wenn der Richter festgestellt hat, daß diese ratio sich so verbreitern und verallgemeinern läßt, daß sie auch den jetzt zur Entscheidung stehenden Fall erfaßt. Auch in einem case law bilden sich deshalb im Laufe der Zeit Regeln
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und Prinzipien von einer gewissen Geräumigkeit und Abstraktheit, und auch einem case law wird so ein beträchtliches Maß an innerer systematischer Ordnung und damit an Kontinuität und Berechenbarkeil verliehen, Die angloamerikanische Kasuistik ist deshalb - wie Esser gesagt hat - "nicht dezisionistischer Pointillismus, sondern fragmentarische Abzeichnung durchlaufender Sachgesetzlichkeiten" ,4 und wenn der englische Richter aus der Fülle des Fallmaterials diese "durchlaufenden Sachgesetzlichkeiten" zu erkennen und in Regeln und Prinzipien zu fassen sucht, so leistet er dabei- vielleicht ähnlich wie Monsieur Jourdain, der ohne es zu wissen, Prosa sprachs- "dogmatische" Arbeit. An dieser "dogmatischen Arbeit" -wenn man sie so bezeichnen will -verliert freilich der englische Richter sein Interesse, sobald er die praktische Aufgabe gelöst und den Fall entschieden hat. Bei uns liegt es anders. Bei uns schlägt jetzt erst die Stunde des wissenschaftlich arbeitenden Juristen. Denn zwar besitzt das von der Rechtsprechung produzierte Fallmaterial schon von Hause aus eine gewisse innere systematische Ordnung, weil jeder Fall nach dem Prinzip von Ähnlichkeit und Gegensatz mit dem vorhandenen Bestand an Fällen und Regeln verknüpft und in ihn eingefügt werden muß. Aber diese Ordnung ist für unser Verständnis keineswegs schon beschaffen, als daß sie nicht noch weiter verfeinert, nach dieser oder jener Richtung hin ausgebaut, ergänzt und spekulativ erweitert, daß nicht neue Klassifizierungen und Kategorien entwickelt und daß das judizielle Rohmaterial nicht in einen noch größeren, noch weiteren und deshalb noch befriedigenderen systematischen Gesamtzusammenhang gebracht werden könnte. Auf diesem Gebiet ist nun aber der dogmatische eros des englischen Juristen eher schwach entwickelt. Die wissenschaftliche Rationalisierung des Rechts durch Abstraktion vom Anschaulichen und durch Generalisierung und Systembildung interessiert ihn wenig, und er ist in hohem Maße tolerant gegenüber einem Defizit an Ordnung und System, sofern nur sicher ist, daß dadurch die Abwägung der Argumente und die Gewinnung brauchbarer Ergebnisse nicht behindert wird. Man ist sich in England sehr wohl des Umstands bewußt, daß die Kollegen vom Kontinent sich gelegentlich über den- wie sie sagen- "unwissenschaftlichen", geradezu "archaischen" Zustand des Common Law lustig machen. Man wendet dagegen ein- mit den Worten von Tony Weir"that the failure to perceive or create in English law any decent order is more serious to the person looking at the system from outside than to the person working within it. A grimy and patched machine may operate very weil, chaotic kitchens can produce good food, and if the index to a book is complete and accurate, it may not matter that the table of contents discloses profound disorder. "6 4 Josef Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts2 (1964), s. 284. 5 Jean Baptiste Moliere, Le bourgeois gentilhomme (1670), 2. Akt, 4. Szene.
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So wird auch verständlich, warum derjenige Berufsstand, der bei uns auf dem Kontinent das dogmatische Geschäft seit Jahrhunderten hauptamtlich betreibt, nämlich der Stand der Rechtsgelehrten, in England bis zum heutigen Tage eine öffentlich anerkannte Stellung von Einfluß und Gewicht nicht hat. "The British academic lawyer", so lesen wir bei William Twining7, "unlike his continental counterpart, has tended to be a marginal man of low visibility", und es sei, so fährt Twining fort, auch kein Zufall, daß in England weder in Theaterstücken noch in Romanen der Rechtsgelehrte in einer tragenden Rolle auftauche. Ob das freilich zutrifft, will mir zweifelhaft erscheinen, weil doch- wenn ich recht sehe- der größte Rechtsgelehrte der dramatischen Literatur in einer Figur von Shakespeare verkörpert ist, nämlich in der Portia aus dem "Kaufmann von Venedig", noch dazu einer Frau, während wir auf diesem Gebiet nur den Dorfrichter Adam vorzuweisen haben. Aber wie dem auch sei, richtig ist sicherlich, daß der bei uns mit juristischer Dogmatik traditionell und berufsmäßig Befaßte, nämlich der Rechtsprofessor, in England ganz anders übrigens als in den Vereinigten Staaten- bis heute nicht zu denjenigen Personen gehört, die Max Weber als "Rechtshonoratioren" bezeichnet hättes. Selbst wenn dies anders wäre, müßte man freilich bezweifeln, ob sich der englische Kollege mit der gleichen Leidenschaft und dem gleichen Engagement der dogmatischen und systematischen Bearbeitung des Rechtsstoffs widmen würde, wie wir dies aus der kontinentaleuropäischen Geschichte und Gegenwart kennen. Denn das Common Law hat an einer historischen Entwicklung nicht oder doch nur ganz am Rande teilgenommen, die den Stil des kontinentaleuropäischen Rechtsdenkens in hohem Maße geprägt hat: ich meine die Idee eines auf die Vernunft gegründeten Rechts, die sich im 17. Jahrhundert aus dem Rationalismus der Aufklärung entwickelt hat. Mit dieser Idee war damals nicht nur ein Standort gewonnen, von dem aus sich die historisch gewachsene Vielfalt des usus modernus pandectarum kritisch durchleuchten und von veralteten Rechtseinrichtungen reinigen ließ. Das Vernunftrecht erhob vor allem den Anspruch, etwas grundsätzlich Neuesan die Stelle des Alten setzen zu können, nämlich ein System von Rechtsregeln, das auf der Grundlage allgemeinster, vernunftrechtlich fundierter Obersätze im Wege 6 Tony Weir, The Common Law System, in: Int. Enc. Comp. L. Vol. li, eh. 2 (1974), s. 2 - 85 (79). 7 William L. Twining, Goodbye to Lewis Elliot, The Academic Lawyer as Scholar: J. Soc. P. T. L. 15 (1980), S. 2- 19 (2). s Max Weber, Rechtssoziologie (1922), aus dem Manuskript hrsg. und eingel. von Johannes Winckelmann (1960), S. 197ff. Vgl. auch Max Rheinstein, Die Rechtshonoratioren und ihr Einfluß auf Charakter und Funktion der Rechtsordnungen, RabelsZ 34 (1970), S.1 - 13; dazu Herbert Bernstein, Rechtsstile und Rechtshonoratioren, ebd., S. 443 - 457; Kötz, Die Zitierpraxis der Gerichte, Eine vergleichende Skizze, RabelsZ 52 (1988), s. 644 - 662.
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strenger logischer Deduktion zu immer konkreteren Einzelregeln hinabsteigt, so daß die Rechtsordnung nunmehr wie ein kunstvoll gegliederter, widerspruchsfreier, systematisch und übersichtlich angeordneter Bau erscheint. Damals drang an den Universitäten mehr und mehr eine rationalistischabstrakte Denkmethode vor, der es um gelehrte Definitionen und um die Errichtung logisch widerspruchsfreier Systeme oft mehr zu tun war als um den Kontakt zur sozialen Wirklichkeit, den der usus modernus - so schwerfällig, unübersichtlich und oft veraltet er auch war - doch sehr viel besser zu wahren gewußt hatte. Dies ist die Zeit, inder-so Koschaker"der theoretisch orientierte, etwas weitabgewandte und mit einer starken Dosis Doktrinarismus ausgestattete deutsche Professor mit allen seinen guten und schlechten Eigenschaften in die deutschen Rechtsfakultäten eingezogen [ist] und ... ihren Charakter im Grunde bis auf den heutigen Tag bestimmt [hat]. "9
Freilich müssen wir uns auch darüber klar sein, daß ohne die durch das Vernunftrecht geförderte systematische Rechtswissenschaft die Kodifikationsidee sich in Kontinentaleuropa nie hätte überzeugend verwirklichen lassen. Denn man wird mit Koschaker sagen müssen, daß "eine gut entwickelte Rechtsdogmatik Voraussetzung gut formulierter Gesetze und vollends einer brauchbaren Kodifikation" istlO. Wenn nicht Domat und Pothier im 17. und 18. Jahrhundert den überlieferten Rechtsstoff vom Vernunftrecht her neu durchdacht und in ihren einflußreichen Lehrbüchern geordnet präsentiert hätten, wäre es nie möglich gewesen, den französischen Code civil von 1804 in vier Monaten zu Papier zu bringen. Und ebenso ist das Bürgerliche Gesetzbuch ohne die Pandektenwissenschaft undenkbar: Sie nämlich hat die vom Vernunftrecht her ererbten Methoden der dogmatisch-systematischen Stoffbearbeitung auf die Sätze des römischen Rechts angewandt und hat so ein Arsenal trennscharfer und präziser Begriffe bereitgestellt, aus dem sich der Bau des Bürgerlichen Gesetzbuchs zusammenfügen ließ. Umgekehrt hat sich in England das systematische und begriffliche Rechtsdenken des Vernunftrechts nie gegen den praxisbezogenen und traditionsbewußten Konservativismus der englischen Rechtspraktiker durchsetzen können, und wenn es in England bis zum heutigen Tage keine Zivilrechtskodifikation und statt dessen nur Einzelgesetze gibt, die sich durchweg- von unserem Standpunkt aus betrachtet- durch eine klägliche technische Unzulänglichkeit auszeichnen li , so macht das- wie Wieacker treffend gesagt hat - "den engen Zusammenhang zwischen systematischem und gesetzgeberischem Können offenbar"12. Paul Koschaker, Europa und das römische Recht (1947), S. 249. Koschaker (Fn. 9) 205. II Vgl. dazu Konrad Zweigert I Hein Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung 12 (1984) , § 20 III. 12 Franz Wieacker, Zum System des deutschen Vermögensrechts, Erwägungen und Vorschläge (1941), S. 8. 9
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III. Rechtsdogmatik auf dem Prüfstand
In der Tat wäre es töricht, wenn man leugnen wollte, daß die Vollendung und Verfeinerung des Begriffsystems, wie sie der Pandektenlehre des 19. Jahrhunderts zu verdanken ist, eine bedeutende Leistung darstellt, durch die die geistige Beherrschung und damit auch die praktische Handhabung des geltenden Rechts wesentlich erleichtert wird. Gerade wer sich mit ausländischem Recht beschäftigt, wird dies immer wieder bestätigt finden . Wir alle kennen z. B. im Recht der Stellvertretung die Unterscheidung zwischen der Vertretungsmacht und dem ihr zugrunde liegenden Kausalverhältnis. Wieviel diese einfache Unterscheidung zur Klarheit und Durchsichtigkeit des Stoffs beiträgt, wird demjenigen erst richtig klar, der sich einmal mit der englischen und französischen Praxis und Lehre zu beschäftigen hatte, die jene Unterscheidung gar nicht oder nur in Umrissen kennt. Die Regeln des Bürgerlichen Gesetzbuchs über die Abtretung von Forderungen oder über den Vertrag zugunsten Dritter mögen dem deutschen Juristen einfach, ja geradezu selbstverständlich erscheinen. Und doch. braucht man sich nur mit den entsprechenden, weithin veralteten Vorschriften des französischen Code civil oder mit den verzwickten Regeln des Common Law zu beschäftigen, und man wird zugeben müssen, daß die von der Pandektistik geleistete begrifflich-dogmatische Bearbeitung des Rechtsstoffs nicht bloß eine Art gelehrtes Glasperlenspiel war, sondern ein hohes Maß an Ordnung, an Orientierungshilfe und damit an Beherrschbarkeit gewährleistet. Gelegentlich wird das übrigens auch von ausländischen Juristen, die sowohl im Commen Law wie im kontinentaleuropäischen Recht zu Hause sind, anerkannt. "Nur wer miterlebt hat", schrieb Kar! Llewellyn, der Vater des amerikanischen Uniform Commercial Code und gleichzeitig ein glänzender Kenner des deutschen Rechts, "wie der kontinentale Jurist zur Lösung einer ihm vorgelegten Rechtsfrage seine kleine juristische Bibliothek konsultiert und eine halbwegs brauchbare Lösung innerhalb einer halben Stunde zutage fördert, wird wirklich verstehen, was es für die Erbringung preiswerter juristischer Dienstleistungen bedeutet, wenn dem Praktiker in einem systematischen Gesetzbuch die juristischen Leitgesichtspunkte in übersichtlicher Anordnung zur Verfügung gestellt werden. " 13
Rechtsvergleichende Erfahrungen lassen aber nicht nur den Nutzen juristischer Dogmatik, sondern auch die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit deutlich werden. Das liegt vor allem daran, daß die Rechtsvergleichung von dem methodischen Grundprinzip der Funktionalität ausgeht, also davon , daß vergleichbar im Recht nur dasjenige ist, was hier und dort dieselbe Aufgabe, dieselbe Funktion erfüllt. Die Ausgangsfrage jeder rechtsvergleichenden Arbeit 13 Kar[ Llewellyn, The Bar's Troubles, and Poultices - and Cures: Law & Cont. Probl.5 (1938), S. 104 - '134 (118). Vgl. im gleiehen Sinne auch Ernst Cohn, The German Attorney: Int. & Comp. L. Q . 9 (1960), S. 580 - 599 (586).
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muß deshalb rein funktional gestellt, das zu untersuchende Problem also erbarmungslos von den Systembegriffen der eigenen Rechtsordnung gereinigt und zunächst in einer Sprache beschrieben werden, die in gemeinverständlichen Ausdrücken den als problematisch empfundenen Sachverhalt so kennzeichnet, daß die Interessenkollision, um die es geht, jedem Zuhörer- er sei Jurist oder Laie, Deutscher oder nicht- verständlich und einsichtig wird. Erst wenn man dies geleistet hat, darf man die Frage stellen, wie das so definierte Lebensproblem in ausländischen Rechtsordnungen bearbeitet wird. Dabei macht man oft die Erfahrung, daß zwar gleiche Fragen hier wie dort auf die gleiche Weise gelöst werden, daß aber die juristisch-technische Begrifflichkeit, in die die Lösung eingekleidet wird, ganz verschieden ist. Was bei uns als Anspruch aus ungerechtfertigter Bereicherung daherkommt, ist anderswo ein Deliktsanspruch; wo wir jemanden als falsus procurator gemäߧ§ 177ff. BGB haften lassen, ist im Common Law ein Anspruch aus breach of trust gegeben, und wo der deutsche Jurist mit einer raffinierten Kombination aus culpa in contrahendo und Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte jongliert, geht es anderswo um einen schlichten Anspruch aus unerlaubter Handlung. Nichts läßt die bloß dienende Funktion dogmatischer Kategorien so deutlich werden wie die immer wieder gemachte Erfahrung, daß die ordnende und lenkende Bedeutung jener Kategorien auf Null zusammenschrumpft, sobald sich ein Vorgang abgespielt hat, den wir unter den heutigen Verhältnissen als eher belanglos ansehen: nämlich eine Staatsgrenze überschritten worden ist und deshalb das gleiche Lebensproblem unter der Geltung einer anderen Rechtsordnung entschieden werden muß. Nicht, daß der Rechtsvergleicher die Leistung juristischer Dogmatik von vornherein gering achtete. Wohl aber ist ihm - vielleicht mehr als den nur im nationalen Recht arbeitenden Kollegen - der Sinn dafür geschärft worden, daß dogmatische Konstrukte nur Handwerkszeug sind, bloß instrumentale Funktion haben, nie allein aus sich heraus die richtige Lösung eines Falles garantieren können und deshalb als durchaus zweckabhängig und durchlässig, als bloß vorläufig und variabel behandelt werden müssen. Wer immer wieder erfahren hat, wie sich in verschiedenen Rechtsordnungen über alle nationalen Dogmatiken hinweg gleiche Lösungen und gleiche Lösungstrends abzeichnen, kommt nicht um die Erkenntnis herum, daß die wirklich bewegenden Kräfte des Rechtslebens nicht in der juristischen Dogmatik zu suchen sind und daß Dogmatik zwar eine begrüßenswerte stabilisierende Funktion hat, aber dies doch nur um den Preis, daß sie oft die Lösung eines Falles zur unentrinnbaren Konsequenz richtiger dogmatischer Konstruktion versteinert, statt sie einer argumentativen Abwägung des Pro und Contra offenzuhalten, die letzten Endes- bei uns ebenso wie in ausländischen Rechtsordnungen - die Entscheidung trägt. Nun ist man sich- wenn ich recht sehe- bei uns durchaus einig darüber, daß Dogmatik "offen" sein muß , daß sie "sich den schutzwürdigen Interessen jeweils anzupassen und ihrer Verwirklichung zu dienen" hat, daß die recht-
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liehe Wertung das Primäre, die Dogmatik hingegen das Sekundäre ist, weil sie nur im Nachhinein die Wertungen zu einem sinnvollen und widerspruchsfreien Gesamtgefüge zu ordnen hatt4. Dem entspricht es, daß nach einer bekannten Formulierung Josef Essers die Rolle der Dogmatik darin liegt, "Gerechtigkeitsfragen ... operational zu machen", woraus sich sofort ergibt, daß Bildung und Verwertung dogmatischer Denkfiguren stets "durchlässig bleiben müssen für die wirklich maßgebliche Gerechtigkeitstendenz" _15. Wenn dies- wie ich vermute- die herrschende Meinung ist, so muß doch die Frage erlaubt sein, ob alles dasjenige, was bei uns heute sich im Kleide juristischer Dogmatik präsentiert, den genannten Anforderungen standhält. Eugen Ehrlich hat einmal gesagt, daß "für die Jurisprudenz wie für jede Kunstlehre . . . nur solche Erkenntnisse einen Wert [haben), die das praktische Handeln zu fördern vermögen. "16 Gerade wer rechtsvergleichend arbeitet und daher immer wieder sieht, wie es im Ausland zugeht, wird aber nicht selten daranzweifeln müssen, ob der hierzulande getriebene dogmatische Aufwand tatsächlich noch in allen Fällen "das praktische Handeln zu fördern" geeignet ist und nicht vielmehr den Blick auf das Wichtige, Wesentliche und meist auch Einfache eher verstellt als öffnet. Manchmal stößt man bei uns auf dogmatische Arbeiten, deren praktische Relevanz auch mit der Lupe nicht gefunden werden kann und auf die im besten Falle der Ausdruck paßt, mit dem Organist Pfühl in den "Buddenbrooks" die Musik Richard Wagners kennzeichnete: "Parfümierter Qualm, in dem es blitzt" . Dann gibt es Rechtsfragen , die das Schrifttum zu einem frühen Zeitpunkt als rein dogmatische Fragen aufgeputzt und dann mit einer solchen Lawine rein dogmatischer Antworten zugedeckt hat, daß das einfache Problem rechtlicher Wertung, um das es im Grunde auch hier geht, völlig außer Sicht gerät und sich statt dessen allgemeine Verwirrung breitmacht. Auch die Rechtsprechung läßt sich davon gelegentlich anstecken, weil das Überangebot sich gegenseitig ausschließender dogmatischer Konzepte manchmal dem Richter die natürliche Unbefangenheit nimmt, ihn bedenklich werden läßt, wo er im Durchgriff auf die maßgeblichen Wertungen handeln sollte, und ihn dem Tausendfüßler vergleichbar macht, der sich nicht mehr vom Fleck rühren konnte, als eine mißgünstige Kröte ihn fragte, wie er es denn mache, alle seine Füße gleichzeitig zu bewegen. So wird seit etwa 25 Jahren darüber gestritten, ob und unter welchen Voraussetzungen derjenige einen Schaden erleidet, der die Möglichkeit zur Nutzung einer Sache auf bestimmte Zeit verliert, aber während dieser Zeit kein Geld für die Nutzung einer Ersatzsache aufwendet , sondern sich ohne die Sache behilft. Als allesentscheidende Frage wird hier angesehen, ob und wann Vgl. Dölle (oben Fn. 2) , S. 407. Josef Esser, Möglichkeiten und Grenzen des dogmatischen Denkens im Zivilrecht: AcP 172 (1972), 97- 130 (113); ihm folgend Ludwig Raiser, ebd., S. 174. 16 Eugen Ehrlich, Die juristische Logik: AcP 115 (1917) , S. 125- 439 (279). 14
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sich der Verlust der Nutzungsmöglichkeit unter den Begriff des "Vermögensschadens" bringen läßt. Der intellektuelle Aufwand, den man in den Dienst der Beantwortung dieser Frage gestellt hat, ist staunenswert, hat aber zu einem Konsens der Gelehrten oder der Gerichte nicht geführt und war für die gerichtliche Praxis offenbar zu wenig ergiebig oder so verwirrend, daß im Jahre 1986 das letzte Register gezogen, nämlich der Große Senat für Zivilsachen angerufen werden mußte, um die Einheitlichkeit der Rechtsprechung zu wahren. In seiner Entscheidung werden nicht weniger als 30 Autoren- selbst sie nur "stellvertretend für viele" - genannt, die sich allesamt mit der Frage beschäftigt und bald die "Frustrationstheorie", bald die "Bedarfstheorie", bald die "Kommerzialisierungsthese" und manchmal auch noch ein drittes oder viertes dogmatisches Konzept empfohlen haben. Die Entscheidung des Großen Senats, auf die die juristische Welt mit Spannung wartete, hat freilich der allgemeinen Ratlosigkeit nur bescheidenen Einhalt geboten. Zwar wissen wir jetzt, daß einen Vermögensschaden erleidet, wer ein Kraftfahrzeug oder ein Wohnhaus entbehren muß; ob das aber auch dann gilt, wenn jemandem die Nutzung einer Segeljacht, einer Videokamera, eines Wochenendhauses oder eines Reitpferds vorübergehend entzogen wird, hängt davon ab , ob es sich dabei um Güter handelt, auf deren "ständige Verfügbarkeit die eigenwirtschaftliche Lebenshaltung typischerweise angewiesen ist"l7. Der französische oder englische Jurist, dem man alles dies vorträgt, wird vielleicht mit einem gewissen Respekt vor der gewaltigen Denkanstrengung seiner deutschen Kollegen, sicher aber mit einem heimlichen Schaudern reagieren, und er wird darauf verweisen, daß in seinem Lande das Problem zwar durchaus bekannt ist, aber ohne besonderen dogmatischen Aufwand gelöst wird, meist in der Weise, daß man den Fall der tatsächlichen und der unterbliebenen Ersatzanmietung gleich behandelt und in beiden Fällen denjenigen Betrag zuspricht, den ein sorgfältiger und wirtschaftlich denkender Mensch in der Lage des Geschädigten vernünftigerweise für diesen Zweck hätte ausgeben dürfents. Und wenn man dann den ausländischen Kollegen fragt, ob nicht eine solche pragmatische Betrachtungsweise zu wild wucherndem Billigkeitsdenken, zu richterlicher Willkür und zur Rechtsunsicherheit führt, so wird er sagen, daß ihm von solchen Mißständen nichts bekannt sei, und er wird sich vielleicht sogar die höfliche Anmerkung gestatten, daß es offenbar bei uns mit der Rechtssicherheit gar so weit her auch nicht sei. Noch an manchen anderen Beispielen ließe sich zeigen, daß die juristische Dogmatik zwar sinnvoll ist, solange sie einen erkennbaren Beitrag zu einer t7 BGHZ 98, 212 (222). ts Vgl. dazu ausführlich, mit rechtsvergleichenden Hinweisen, mit einer Kritik an der "Schadensdogmatik" des deutschen Rechts und mit dem Vorschlag eines radikalen Paradigmenwechsels Axel Flessner, Geldersatz für Gebrauchsentgang: JZ 1987, S. 271 - 282. Vgl. ferner die ins Detail gehende rechtsvergleichende Erörterung des Problems bei Ulrich Magnus, Schaden und Ersatz (1987), § 7.
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zweckmäßigen Ordnung des Stoffes leistet und einen festen Orientierungsrahmen für die Erörterung juristischer Probleme schafft, daß sie aber ihre dienende Funktion verfehlt, wenn sie jene Grenze überschreitet, und daß in solchen Fällen auch schon einmal aus der Wohltat eine rechte Plage werden kann. Manchmal verbreitet Dogmatik falsche Sicherheit, so etwa dann, wenn sie im Zivilrecht, im Enteignungsrecht, aber auch vielleicht noch anderswo mit dem scheinbar subsumtionsfähigen Kriterium des "unmittelbaren" Eingriffs, der "unmittelbaren" Veimögensverschiebung, des "unmittelbar" fremden Geschäfts operiert und damit die in Wahrheit zugrundeliegenden Wertungsfragen eher zudeckt als kritisch-offener Abwägung zugänglich macht. Kein ausländischer Jurist versteht die Leidenschaft, die bei uns durch die Frage freigesetzt worden ist, ob der Begriff der Rechtswidrigkeit in § 823 BGB stärker "erfolgsbetont" oder stärker "handlungsbetont" zu verstehen oder - wie man gern mit einer Anleihe bei der Astrologie sagt - "zu deuten" sei. Milde Heiterkeit löst es aus, wenn man dem Ausländer schildert, daß bei uns wahre Ströme von Tinte fließen mußten, um zu klären, ob sich einige wenige exotische Fälle, in denen jemand eine Straßenbahnfahrt oder unrechtmäßig abgezapften Strom nicht bezahlen wollte, nur durch Beschwörung eines sogenannten "faktischen Vertragsverhältnisses" oder nicht vielleicht doch mit den bewährten Bordmitteln unseres Vertragsrechts angemessen lösen lassen. Von der Straßenbahnfahrt ist es in unserem Zusammenhang zur "Flugreise" nur ein kleiner Schritt. Daß ein Siebzehnjähriger, der sich unter vorsätzlicher Täuschung des Bodenpersonals ohne Flugschein an Bord einer LufthansaMaschine geschlichen und auf diese Weise den Weg nach N ew Y ork zurückgelegt hat, den Flugpreis bezahlen muß, wird den meisten einleuchten. Daß der Fall über drei Instanzen ging, ist schon etwas weniger leicht verständlich. Daß aber die Entscheidung des Bundesgerichtshofs19 in acht Spezialveröffentlichungen20 und erst recht in der monographischen und kommentierenden Spezialliteratur zum bevorzugten Wetzstein des versammelten kondiktionsdogmatischen Scharfsinns der deutschen Rechtsgelehrten gemacht worden ist, darf immerhin mit Erstaunen registriert werden, zumal am praktischen Ergebnis niemand etwas zu mäkeln fand und der Streit nur darum geführt wurde, wie die dogmatische Konzeption auszusehen habe, die das vorhandene Entscheidungsmaterial möglichst vollständig erklärt und gleichzeitig von ihren Anhängern ein möglichst kleines sacrificium intellectus verlangt2t.
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sen.
BGHZ 55 , 128. Vgl. Arndt Teichmann, Die Flugreise-Entscheidung: JuS 1972, 247 mit Nachwei-
21 Vgl. dazu und zum folgenden Text die ähnlich kritische Würdigung deutscher "Bereicherungsdogmatik" von Axel Flessner, Bewegliches System und Bereicherungsrecht, in: Bydlinski u.a. (Hrsg.) , Das Bewegliche System im geltenden und künftigen Recht (1986) , S. 159- 176.
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Bei den vielerörterten "Leistungskondiktionen im Dreiecksverhältnis" liegt es ähnlich. Ursprünglich glaubte man hier, daß sich die richtige Lösung der Fälle am ehesten finden Jasse, wenn man den Begriff der "Leistung" richtig interpretiere. Dann trat Canaris auf den Plan, forderte den "Abschied vom Leistungsbegriff" und entwickelte ein System von Wertungsgesichtspunkten, die auf die angemessene Verteilung der Einwendungs- und Insolvenzrisiken abzielten und zu bestimmten Entscheidungsregeln zusammengefaßt wurden22. Jetzt aber scheint es, als setze der bereicherungsdogmatische Zeitgeist zu neuer Bewegung an. Denn wenn ich Reuter und Martinek richtig verstanden habe, so werfen sie Canaris vor, seine Lehre münde "in einen gleichsam ,freihändigen' Akt der Risikoverteilung"; worauf es in Wahrheit beim Bereicherungsausgleich im Dreiecksverhältnis im Falle einer defekten Anweisung ankomme, sei ein "konsequentes Durchdenken der Folgen des jeweiligen Defekts und seiner Wirkungen auf die Empfangsermächtigung nach §§ 362 Abs. 2, 185 BGB einerseits und auf die Tilgungs- bzw. Zweckbestimmung analog §§ 267, 366 BGB andererseits".23 Das mag durchaus so sein. Hier ist nur zweierlei von Interesse: Einmal, daß die Gelehrten an den praktischen Ergebnissen der Rechtsprechung wiederum kaum etwas zu beanstanden finden, ferner, daß sie mit ihren dogmatischen Offerten die Aufnahmekapazität der Richter schon längst überschritten haben. Nur so läßt es sich doch erklären, daß der Bundesgerichtshof bisher noch in jedem seiner einschlägigen Urteile darauf aufmerksam gemacht hat, daß sich jede schematische Lösung verbiete und es letzten Endes stets "auf die Besonderheiten des Einzelfalls" ankomme24. Was ist das anders als ein "Befreiungsschlag", den der Richter führt, weil er sich unter der dogmatischen Überlast Luft zum Atmen verschaffen will? Wer freilich einen solchen "Befreiungsschlag" nicht führen kannund darauf muß ich als Hochschullehrer mit Nachdruck aufmerksam machen -,sind unsere Studenten. So wie die Dinge liegen, kann man es ihnen kaum verargen, wenn sie sich weithin auf ihr Examen durch das Memorieren dogmatischer "Streitstände" vorbereiten und dann oft - wie jeder Prüfer nur zu gut weiß- selbst einfache Alltagsfälle nicht mehr vernünftig und unbefangen lösen können, weil sie sich auf Schritt und Tritt in dogmatische Finessen verstricken, vergleichbar jenem "Kerl, der spekuliert", von dem Mephisto sagt, er sei "wie ein Tier auf dürrer Heide, von einem bösen Geist herumgeführt, und ringsumher liegt schöne grüne Weide" .2s Und man sage nicht, daß hier nur der Repe22 Claus Wilhelm Canaris, Der Bereicherungsausgleich im Dreipersonenverhältnis, Festschrift für Larenz (1973), S. 799- 865 (857); ferner Canaris, Der Bereicherungsausgleich im bargeldlosen Zahlungsverkehr, WM 1980, S. 354- 371 (367ff.). 23 Dieter Reuter I Michael Martinek, Ungerechtfertigte Bereicherung (1983), § 11 III (S. 425f.). 24 Vgl. z. B. BGHZ 61, 289 (292) ; 66, 362 (364); 66, 372 (374); 87, 393 (396) ; 88, 232 (235); 89, 376 (378); BGH NJW 1984, 2205; BGH NJW 1987, 185 (186). 25 Johann Wolfgang v. Goethe, Faust (1790), Zeilen 1830- 1834.
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titor als "böser Geist" in Betracht kommt. Auch uns Hochschullehrer trifft ein gut Teil der Verantwortung, weil in unserem Ausbildungsbetrieb die bloß dienende Funktion der Dogmatik zu wenig hervorgehoben, zu viel Wert auf die schuldogmatisch richtige Lösung exotischer Fälle gelegt und zu sehr die Illusion verbreitet wird, Dogmatik garantiere Sicherheit, wo es doch eigentlich in der Juristenausbildung darum gehen müßte, daß es die jungen Leute lernen, sich unter Bedingungen juristischer Unsicherheit wohlzufühlen.
IV. Fazit Die Quintessenz meiner Überlegungen ist- wie ich zugeben muß- bescheiden: Es gibt eine "gute" Dogmatik, und es gibt eine "schlechte" Dogmatik, eine Dogmatik, die die Funktionstüchtigkeit unseres Rechts verbessert und auch von unseren Studenten bis zur Neige ausgetrunken werden muß, und eine Dogmatik, deren Produktion und Konsumtion nichts anderes ist als eine Fehlleitung knapper intellektueller Ressourcen. Jeder prüfe sich, wie er hier die Grenze ziehen und wie er den Nutzen dogmatischer Arbeit gegen ihre Kosten abwägen will. Heute ging es nur darum zu zeigen, warum der rechtsvergleichend arbeitende Jurist zur Leistungsfähigkeit dogmatischer Konstrukte ein eher skeptisches Verhältnis unterhält und warum er, wenn er mit imposantem dogmatischen Scharfsinn konfrontiert wird, leichter als andere auf den Gedanken kommt, daß der Kaiser- wenn man nur genau hinschauteigentlich nackt ist.
Transparenter Datenschutz durch Informations- und Kommunikationspläne Von Carl-Eugen Eberle I. Problemstellung
Der Bayerische Verfassungsgerichtshof hat in einer vielbeachteten Entscheidung vom 9. 7. 19851 die Rechtsgrundlagen beanstandet, nach denen bislang polizeiliche Kriminalakten geführt werden. Allgemein war es üblich, diese Materie in Verwaltungsrichtlinien zu regeln. Das Gericht hält dies jetzt nicht mehr für ausreichend. Es sei vielmehr Sache des Gesetzgebers, die Rechtsgrundlagen für kriminalpolizeiliche personenbezogene Sammlungen zu schaffen. Mit dieser Entscheidung verschafft das Gericht der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Lehre vom informationellen Selbstbestimmungsrecht2 Geltung in der polizeilichen Alltagsarbeit. Daraus wird deutlich, daß die konsequente Umsetzung dieser am Beispiel der Volkszählung entwickelten Lehre nicht auf einen Sonderbereich staatlicher Informationsverarbeitung beschränkt bleiben kann. Aber auch die polizeiliche Informationsverarbeitung stellt keinen Einzelfall dar: Der rechtsdogmatisch unreflektierte Umgang mit personenbezogenen Daten ist keineswegs auf die polizeilichen Datensammlungen beschränkt, sondern kennzeichnet in eher typischer Weise die Informationsverarbeitung auf vielen Feldern der öffentlichen Verwaltung. Deshalb kann davon ausgegangen werden, daß die Kriminalakten-Entscheidung Vorbote einer Entwicklung ist, welche die Verwaltung in ihrer gesamten Breite erlaßt und sie dazu zwingen wird, die Rechtsgrundlagen für die Verarbeitung personenbezogener Daten zu überdenken. Die Verschärfung der Anforderungen an die Verarbeitung personenbezogener Daten, die in der Verfassungsrechtsprechung zum Ausdruck kommt (II), führt zu einem Dilemma (111): Je stärker die Verrechtlichung der Informationsverarbeitung in der Verwaltung voranschreitet, je umfassender und dichter das Netz der Regelungen gestrickt wird, umso mehr droht die Transparenz der Datenverarbeitung verlorenzugehen und der mit der Verrechtlichung verfolgte Zweck verfehlt zu werden, die Sicherheit und das Vertrauen der Bürger I
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BayVerfGH, DÖV 1986, S. 69. BVerfGE 65, S. 1, 41ff.
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in eine ordnungsgemäße staatliche Informationsverarbeitung zu erhöhen. Ein Ausweg aus diesem Dilemma könnten Informations- und Kommunikationspläne weisen, die aufgabennah und behördenspezifisch den Umgang der Verwaltung mit personenbezogenen Daten regeln sollen (IV). II. Von der Sphärentheorie zum informationellen Selbstbestimmungsrecht
Die Verfassungsrechtsprechung zum informationeilen Selbstbestimmungsrecht ist Ausdruck eines Paradigmenwechsels. Sie stellt den Schutz des Bürgers gegen unbegrenzte Verarbeitung seiner Daten (Datenschutz) nicht nur auf eine neue rechtsdogmatische Grundlage und erweitert damit zugleich den Schutzbereich dieses Abwehrrechts (1). Gleichzeitig wird das Kriterium des Grundrechtseingriffs auch auf lediglich faktische Grundrechtsbeeinträchtigungen ausgeweitet (2). Schließlich verschärft die Rechtsprechung die rechtlichen Anforderungen an zulässige Eingriffe in dieses Grundrecht (3). 1. Schutzbereich grundrechtliehen Datenschutzes Als verfassungsrechtliche Wurzel des Datenschutzes gilt seit jeher das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i. V.m. Art. 1 Abs. 1 GG . Diese Grundrechtsvorschriften werden auch zur Begründung des informationeilen Selbstbestimmungsrechts herangezogen, doch wird der Schutzbereich anders als zuvor konkretisiert. a) Schutzbereichsbestimmung anhand der überkommenen "Sphärentheorie" Schutzzweck der überkommenen Lehre war der Schutz der Intim- und Privatsphäre des Bürgers (Sphärentheorie)3. Diesem Ansatz lag die Vorstellung zugrunde, daß sich der einzelne Mensch in unterschiedlichen Sphären entfaltet und daß die Informationen über ihn entsprechend der Zugehörigkeit zu einer dieser Sphären unterschiedlich schützenswert sind. Danach genießt die Intimsphäre absoluten Schutz, so daß die Verwaltung Informationen aus diesem Bereich unter keinen Umständen verarbeiten darf. Umgekehrt kommt Informationen aus der Öffentlichkeits- oder Sozialsphäre so gut wie kein Schutz zu. Eingriffe in die Privatsphäre schließlich sollten nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erlaubt sein. Diese Lehre ist in der Literatur zurecht heftig angegriffen worden, weil sie mit der Differenzierung zwischen den verschiedenen Sphären und insbe3 Zu dieser Lehre vgl. Eberle, DÖV 1977, S. 306, 307; Schlink, Der Staat 1986, S. 233, 241; jeweils m.w.N., insbesondere zur Rechtsprechung.
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sondere mit dem Begriff der Privatsphäre keinen eindeutigen Maßstab zur Abgrenzung des Schutzbereichs lieferte. Wichtig im hier diskutierten Zusammenhang ist aber vor allem, daß die Verfassungsrechtsprechung den Bereich der Privatsphäre nur in Ausnahmesituationen als berührt ansah. Die Masse der von der Verwaltung alltäglich verarbeiteten Daten jedenfalls tangierte ihn nach dieser Lehre wohl nicht, so daß schon aus diesem Grunde keine Veranlassung bestand, die Informationsverarbeitung der Verwaltung in breitem Ausmaß zu verrechtlichen. b) Schutzgut personenbezogene Daten Im Volkszählungsurteil hat das BVerfG den Schutzbereich des informationeilen Selbstbestimmungsrechts gegenüber dem Privatsphäre-Ansatz ganz erheblich ausgeweitet. Die freie Entfaltung der Persönlichkeit setzt unter den Bedingungen der modernen Datenverarbeitung nach Ansicht des Gerichts "den Schutz des Einzelnen gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten voraus" 4 • Das bedeutet im Ergebnis, daß das informationeile Selbstbestimmungsrecht immer schon dann tangiert wird, wenn die Verwaltung "Einzelangaben über persönliche oder sachliche Verhältnisse einer bestimmten oder bestimmbaren natürlichen Person" verarbeitet. Der Grundrechtsschutz gegenüber staatlicher Informationsverarbeitung kommt also nicht nur in Sondersituationen zum Tragen, etwa wenn es um die Verarbeitung besonders sensibler Daten geht, sondern regelmäßig immer dann, wenn die Verwaltung persönliche Daten heranzieht. Damit wird das informationeile Selbstbestimmungsrecht zu einem Maßstab, an dem sich die Alltagsarbeit der Verwaltung in ihrer gesamten gegenständlichen Breite messen lassen muß.
2. Eingriffskriterium a) Klassischer Eingriffstatbestand der Sphärentheorie Gegenstand der Rechtsprechung zur Sphärentheorie waren durchweg Fallkonstellationen, in denen Daten zwangsweise erhoben oder weitergegeben worden sind. Die Grundrechtseingriffe erfolgten somit nach den Merkmalen des klassischen Grundrechtseingriffs, bei dem die Verwaltung durch Verwaltungsakte dem Betroffenen bestimmte Verhaltens- oder Duldungspflichten in bezug auf die Verarbeitung seiner Daten auferlegt. Auch insoweit war die Anwendung des Grundrechtsschutzes beschränkt, erfaßte sie doch nicht die zahlreicheren und für die alltäglich Verwaltungsarbeit weit typischeren Fälle, in denen die Verwaltung personenbezogene Daten ohne ausdrückliche, auf 4
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die Daten bezogene Anordnung erhebt und verarbeitet, mithin die Konstellation des faktischen Grundrechtseingriffs. b) Schutz des informationeilen Selbstbestimmungsrechts auch gegenüber faktischen Grundrechtseingriffen Auch dem Volkszählungsurteil, in dem die Dogmatik des informationeilen Selbstbestimmungsrechts entwickelt worden ist, lag die klassische Eingriffssituation einer zwangsweisen Erhebung von Daten zugrunde5. Ungeachtet dessen muß davon ausgegangen werden, daß das informationeile Selbstbestimmungsrecht von seiner dogmatischen Konstruktion her schon so angelegt ist, daß auch faktische Eingriffe, die nicht auf einer auf Befehl und Zwang gestützten Anordnung beruhen, den Grundrechtsschutz auslösen können. Wenn dieses Recht gewährleisten soll, daß der Bürger wissen können müsse, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über ihn weiß6, dann wird deutlich, daß nicht nur zwangsweise angeordnete Datenverarbeitungsvorgänge, sondern auch die zufällige oder bei Gelegenheit bzw. in Verbindung mit der Wahrnehmung von Verwaltungsaufgaben stattfindende Kenntniserlangung, Verarbeitung i.e.S. oder Weitergabe geschützter Daten zu einem Eingriff führen kann7. Dies ist letztlich die Konsequenz daraus, daß das informationeile Selbstbestimmungsrecht eine bestimmte, durch Angstfreiheit gekennzeichnete psychologische Situation des Einzelnen schützen soll und deshalb bereits gegenüber einer bloßen Gefährdungssituation zum Tragen kommen mußS. Die Grenze für einen Eingriff in das informationeile Selbstbestimmungsrecht wird demzufolge nicht mehr, wie beim klassischen Grundrechtseingriff, durch das Vorliegen eines Rechtsakts, sondern allenfalls nach Maßgabe eines gewissen Mindestgewichts der Beeinträchtigung zu ziehen sein: Eingriffscharakter kommt allen personenbezogene Daten betreffenden Informationsvorgängen zu, die eine Bagatellgrenze überschreiten, jenseits deren lediglich eine rechtlich nicht relevante Belästigung vorliegt. Im Ergebnis erweitert diese extensive Auslegung des Eingriffsmerkmals ebenfalls den Wirkungsbereich des informationeilen Selbstbestimmungsrechts: Immer dann, wenn die Verwaltung mit personenbezogenen Daten umgeht, sind die Grundsätze zu beachten, die für eine zulässige Beschränkung dieses Rechts gelten. Dies betrifft insbesondere auch Datenverarbeitungsvorgänge, die sich innerhalb des verwaltungsinternen Bereichs abspielen, wie s BVerfGE 65, S. 1, 45. BVerfGE 65, S. 1, 43. 7 Ebenso Schlink, Der Staat 1986, S. 233, 247f. ; Groß, AöR 1988, S. 162, 167; Rosenbaum, Jura 1988, S. 178, 180, jeweils m.w.N. s Vgl. Scholz I Pitschas, Informationelle Selbstbestimmung und staatliche lnformationsverantwortung, Berlin 1986, S. 37; Rosenbaum, Jura 1988, S. 178, 180. 6
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z. B. die Weitergabe personenbezogener Daten von einer zu einer anderen Behörde. 3. Gesetzesvorbehalt
Einschneidende Verschärfungen im Umgang mit personenbezogenen Daten ergeben sich vor allem aus dem Gesetzes- und Parlamentsvorbehalt, den das BVerfG speziell für zulässige Beschränkungen des informationeilen Selbstbestimmungsrechts konkretisiert hat. a) Gesetzesvorbehalt im Rahmen der Sphärentheorie Gegenstand der Sphärentheorie war in erster Linie die Konkretisierung des Schutzbereichs des allgemeinen Persönlichkeitsrechts im Hinblick auf Informationseingriffe. Hinsichtlich der Voraussetzungen, unter denen dem Einzelnen in zulässiger Weise Beschränkungen auferlegt werden können, hat das Gericht keine besonderen Anforderungen entwickelt. Insoweit kamen demnach insbesondere die für Grundrechtsbeschränkungen allgemein geltenden Grundsätze des Gesetzes- und Parlamentsvorbehalts zum Tragen. b) Gesetzes- und Parlamentsvorbehalt für Beschränkungen des informationeilen Selbstbestimmungsrechts Für Beschränkungen des informationeilen Selbstbestimmungsrechts hat das BVerfG dagegen speziell den Gesetzesvorbehalt verschärft. Sie bedürfen einer verfassungsmäßigen "gesetzlichen Grundlage, aus der sich Voraussetzungen und Umfang der Beschränkungen klar und für den Bürger erkennbar ergeben und die damit dem rechtsstaatliehen Gebot der Normenklarheit entspricht"9. Darüber hinaus verlangt das Gericht insbesondere die Angabe des Verwendungszwecks, wenn Daten zwangsweise erhoben werden, sowie eine Reihe von Sicherungsmaßnahmen und Schutzvorkehrungen10 • Die Verfassungsrechtsprechung zeichnet somit ein außerordentlich dicht zu knüpfendes, flächendeckendes Netz der Regelung des staatlichen Datenverkehrs vor, die zu einer intensiven Verrechtlichung der Informationsverarbeitung in der Verwaltung führt.
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BVerfGE 65, S. 1, 44. BVerfGE 65, S. 1, 46.
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111. Das datenschutzrechtliche Verrechtlichungsdilemma
Die Konsequenzen, die sich aus der Verfassungsrechtsprechung zum informationeilen Selbstbestimmungsrecht für eine Verrechtlichung der Informationsverarbeitung in der Verwaltung ergeben, hängen vor allem davon ab, welche Reichweite der Parlamentsvorbehalt (1) und der Gesetzesvorbehalt (2) besitzen. Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse sind die Nachteile dieses Verrechtlichungsschubs zu diskutieren (3). 1. Reichweite des datenschutzrechtlichen Parlamentsvorbehalts
Von großer praktischer Bedeutung ist die Frage, in welchem Umfang die gebotenen datenschutzrechtlichen Vorschriften in der Form eines Parlamentsgesetzes ergehen müssen. Nach der Wesentlichkeitslehre braucht der Gesetzgeber nur die wesentlichen Fragen selbst zu regeln. Detailregelungen kann er administrativer Rechtsetzung überlassenll. Maßstab für die Wesentlichkeit soll dabei die Grundrechtsrelevanz sein12. Das Kriterium der Grundrechtsrelevanz erlaubt jedoch im Datenschutzrecht keine sichere Abgrenzung13, da, wie gezeigt, Schutzbereich und Eingriffsmerkmal beim informationeilen Selbstbestimmungsrecht außerordentlich weit gefaßt sind und einer nach der Intensität der Grundrechtsberührung abgestuften Differenzierung entgegenstehen. Besinnt man sich auf die Funktion des Parlamentsvorbehalts, so besteht zunehmend Einigkeit darüber, daß er vor allem dem demokratischen Prinzip dienen soll14. Das bedeutet, daß der Parlamentsvorbehalt umso weniger geboten ist, je weniger bei Entscheidungen die besonderen Leistungen des parlamentarischen Verfahrens mit seiner Veröffentlichungs- und Ausgleichsfunktion zum Tragen kommenls. Deshalb können vor allem solche Entscheidungen der Regelung durch die Verwaltung überlassen werden, die durch Rechtsbindungen, insbesondere durch das Übermaßverbot, inhaltlich stark vorgezeichnet sind, da hier das parlamentarische Verfahren speziell aufgrunddes zu beachtenden Erforderlichkeitsprinzips zu keiner wesentlich anderen Regelung 11
BVerfGE 49, S. 89, 126; vgl. auch BVerfGE 34, S. 165, 192; 41, S. 251, 259; 45,
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BVerfGE 34, S. 165, 192f.; 40, S. 237, 249; 45, S. 400, 418; 47, S. 46, 79; 58,
s. 400, 417; 47, s. 46, 78f.; 57, s. 295 , 320; 58, s. 257, 268f. s. 257, 272ff.
13 Zur Kritik der Grundrechtsrelevanz als Wesentlichkeitsrnerkrnal vgl. Eberle, DÖV 1984, S. 487, 490; Kloepfer, JZ 1984, S. 685, 692; Ossenbühl, in: Götz I Klein I Starck, Die öffentliche Verwaltung zwischen Gesetzgebung und richterlicher Kontrolle, München 1985, S. 9, 25f.; Papier, ebd., S. 36, 39f., 43f., jeweils rn.w.N. 14 BVerfGE 33, 125, 158; 40, S. 237, 249; 41, S. 251 , 260; aus der Literatur vgl. Eberle, DÖV 1984, S. 487, 489f. ; Klöpfer, JZ 1984, S. 685 , 694; Ossenbühl, ebd. (Fn. 13), S. 9, 20ff.; Papier, ebd. (Fn. 13), S. 36, 37f. 15 Eberle, DÖV 1984, S. 487, 489f.
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führen könnte als die administrative Rechtssetzung16. Aus dieser Überlegung lassen sich für typische Konstellationen staatlicher Informationsverarbeitung einige generalisierende Folgerungen ziehen, wobei zwischen der Erhebung persönlicher Daten (a) und deren Verwendung und Weitergabe (b) unterschieden werden soll 17 . a) Erhebung persönlicher Daten Soweit die Verwaltung vom Bürger persönliche Daten erhebt oder Auskünfte verlangt, um eine Maßnahme, die sie kraftGesetzesgegen ihn erlassen darf, vorzubereiten, kann man von unselbständigen Informationspflichten sprechen. In solchen Fällen, etwa im Rahmen der Gewerbeüberwachung, ist die staatliche Informationsverarbeitung akzessorisch zur gesetzlich bereits geregelten Aufgabe. Für diese Art der Informationsverarbeitung gilt das Übermaßverbot. Die Datenerhebung muß also - gemessen an der jeweiligen Verwaltungsmaßnahme, der sie dient- geeignet, erforderlich und verhältnismäßig sein. Vor allem das Gebot, die Datenverarbeitung auf das unbedingt erforderliche Maß zu beschränken, läßt auch bei einer gesetzlichen Regelung dieses Vorgangs kaum Spielraum. Deshalb ist das aufwendige parlamentarische Verfahren für Regelungen dieser Art nicht geboten. Zudem haben sich Regelungen dieser Art vor allem an sachstrukturellen Erfordernissen auszurichten, zu deren Einschätzung die Verwaltung aufgrundihrer Sachnähe und -kompetenz besser geeignet istJB. Im Ergebnis können deshalb unselbständige Informationspflichten, soweit sie überhaupt einer eigenständigen Rechtsvorschrift bedürfen, durch Verwaltungsrechtsetzung geregelt werden. Etwas anderes gilt dagegen für selbständige Informationspflichten, die, wie statistische Erhebungen oder Meldepflichten (z. B. im Gesundheitsrecht), nicht unmittelbar mit einer den Auskunftspflichtigen betreffenden Maßnahme zusammenhängen. Da hier ein großer Spielraum besteht, zu welchem Zweck und in welchem Umfang solche Daten erhoben werden sollen, muß der Ausgleich zwischen dem informationellen Selbstbestimmungsrecht und dem staatlichen Informationsanspruch' im parlamentarischen Verfahren gefunden werden. Für selbständige Informationspflichten gilt deshalb der Parlamentsvorbehalt.
Eberle, DÖV 1984, S. 487, 491f. Vgl. hierzu auch Eberle, in: Reinermann u. a., Neue Informationstechniken Neue Verwaltungsstrukturen?, S. 141, 146ff. 18 Zu den für die administrative Rechtsetzung streitenden Argumenten der Sachnähe und der angemessenen Entscheidungsorganisation vgl. BVerfGE 40, S. 237, 249; 49, S. 89, 127; 51, S. 268, 287ff. ; 68, S. 1, 68; BVerwGE 65 , S. 323, 326 sowie Eberle, DÖV 1984, S. 487, 491 ; Bssenbühl, ebd. (Fn. 13), S. 9, 27. 16
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b) Verwendung und Weitergabe persönlicher Daten Fraglich ist, in welchem Umfang auch die Verwendung und Weitergabe persönlicher Daten durch ein Parlamentsgesetz geregelt werden muß. Häufig regeln die materiellrechtlichen gesetzlichen Bestimmungen die zur Aufgabenerfüllung nötige Informationsverarbeitung implizit mit. Soweit z. B. die Erteilung einer Genehmigung nach den gesetzlichen Vorschriften von bestimmten Voraussetzungen abhängt und deren Vorliegen durch Vergleich der erhobenen Daten mit den gesetzlichen Anforderungen überprüft wird, berührt diese Datenverarbeitung zwar das informationeile Selbstbestimmungsrecht. Einer gesonderten Rechtsvorschrift, welche diese Verwendung der Daten erlaubt, bedarf es aber nicht mehr. Schreibt das Gesetz die Mitwirkung anderer Verwaltungsstellen z. B. im Rahmen eines Genehmigungsverfahrens vor, so wird dadurch auch die Weitergabe der erhobenen Daten an diese Stellen abgedeckt, ohne daß es noch einer speziellen Weitergaberegelung bedarf. Eine parlamentsgesetzliche Regelung ist aber immer dann geboten, wenn die persönlichen Daten für einen anderen als den Erhebungszweck verwendet werden oder wenn die Daten sonst an andere Stellen weitergegeben werden. Für beide Möglichkeiten liefern i.d.R. weder der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz noch sachstrukturelle Erfordernisse zwingende Regelungsvorgaben, so daß die rechtssetzenden Stellen einen erheblichen Regelungsspielraum besitzen. Da zudem in diesen Fällen das zentrale Anliegen des informationeilen Selbstbestimmungsrechts, eine zweck-und adressatenbezogene Datenverwendung zu gewährleisten, eingeschränkt wird, ist hier regelmäßig ein Parlamentsgesetz vonnöten. Doch wäre der Gesetzgeber überfordert, wollte man verlangen, daß er alle Fälle der Mehrfachverwendung von Daten oder ihre Weitergabe im Detail selbst regelt. Denkbar sind vor allem querschnittsartige Grundsatzregelungen für typische Konfliktlagen, die sodann bereichsspezifisch durch administratives Recht konkretisiert werden. So kann die Datenweitergabe zu Aufsichtszwecken durchaus allgemein geregelt werden, wie dies etwa im Rahmen der Novellierung des Verwaltungsverfahrensgesetzes vorgesehen ist. In dieser Richtung lassen sich gewiß noch weitere Falltypen der Aufgabenteilung zwischen parlamentarischer und administrativer Rechtssetzung herausarbeiten. 2. Anforderungen durch den datenschutzrechtlichen Gesetzesvorbehalt Für die Reichweite des datenschutzrechtlichen Gesetzesvorbehalts als Rechtssatzvorbehalt ist vor allem die rechtsstaatliche Funktion zu berücksichtigen, die das Gesetz erfüllt. Indem es Handlungsmaßstäbe setzt, Willkür verhindert und Kontrolle ermöglicht, gewährleistet es die rechtsstaatlich gebo-
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tene Rechtssicherheiti9. Auf diese Funktion kommt es dem BVerfG beim informationeilen Selbstbestimmungsrecht besonders an, da eine der wichtigsten Aufgaben, die das Gericht diesem Recht zuschreibt, die Begründung und Gewährleistung der persönlichen Verhaltenssicherheit ist. Deshalb entwickelt das Gericht spezielle Inhaltsanforderungen für die Vorschriften, die das informationeHe Selbstbestimmungsrecht in zulässiger Weise beschränken dürfen. Das BVerfG verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff der NormenklarheiL Er besagt, daß sich Voraussetzungen und Umfang der Beschränkungen des informationellen Selbstbestimmungsrechts klar und für jeden Bürger erkennbar aus der gesetzlichen Grundlage ergeben müssenzo. Weiter wird verlangt, daß bei zwangsweise erhobenen Daten der Verwendungszweck bereichsspezifisch und präzise bestimmt werden muß, daß ein - amtshilfefester - Schutz gegen Zweckentfremdung durch Weitergabeund Verwertungsverbote eingerichtet und daß darüber hinaus Aufklärungs-, Auskunfts- und Löschungspflichten als verfahrensrechtliche Schutzvorkehrungen, vorgesehen werden2I. Diese Anforderungen zum datenschutzrechtlichen Gesetzesvorbehalt als Rechtssatzvorbehalt führen im Ergebnis zu einer weitgehenden Verrechtlichung des zwischen- und innerbehördlichen Datenverkehrs. 3. Problematische Auswirkungen der Verrechtlichung Die strikte Beachtung der Anforderungen des datenschutzrechtlichen Gesetzesvorbehalts als Rechtssatzvorbehalt muß zu einer außerordentlich anwachsenden Normenflut führen. Zwar kann die Gefahr einer Überlastung des parlamentarischen Gesetzgebers dadurch vermieden werden, daß dem Rechtssatzvorbehalt durch administrative Rechtssetzung nachgekommen wird, was innerhalb der durch den Parlamentsvorbehalt oben aufgezeigten Grenzen möglich ist. Schaden droht jedoch von einer anderen Seite. Die mit dem informationeilen Selbstbestimmungsrecht verfolgte Absicht, staatliche Informationsverarbeitung durch die Betroffenen transparent zu machen, droht durch die zu erwartende Flut datenschutzrechtlicher Regelungen und deren hohe Rege· lungsdichte konterkariert zu werden. Der umfangreiche Rechtsstoff und die komplizierten Regelungen werden zur Orientierungslosigkeit der Bürger beitragen, zu Unverständnis und letztlich zur Verunsicherung der Bürger führen. Damit wird das mit dem Datenschutz verfolgte Anliegen, die Entscheidungsund Verhaltenssicherheit des Einzelnen zu erhöhen, in sein Gegenteil ver19 BVerfGE 8, S. 247, 325; vgl. dazu Eberle, DÖV 1984, S. 287, 288 rr~.w. N. in Fn. 40. 2o BVerfGE 65, S. 1, 44. 21 BVerfGE 65, S. 1, 46.
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kehrt. Die Verrechtlichung führt deshalb zu einem Dilemma: Je weiter sie voranschreitet, umso mehr droht sie, ihr Ziel zu verfehlen.
IV. Normenklarheit durch Informations- und Kommunikationspläne (IoK-Pläne)
Ein Ausweg aus dem Verrechtlichungsdilemma soll hier in der Form gesucht werden, daß für die aus Gründen des Gesetzesvorbehalts geforderten Rechtsgrundlagen staatlicher Informationsverarbeitung eine alternative Darstellungsform vorgeschlagen wird. Sie soll einfacher, effektiver und gleichzeitig verständlicher zur Transparenz des staatlichen Informationsgebarens beitragen und damit die rechtsstaatliehen Zielsetzungen, die mit dem informationeBen Selbstbestimmungsrecht verfolgt werden, nachhaltig umsetzen, ohne daß mit der Vermehrung der Rechtsvorschriften verbundene Verluste an Übersichtlichkeit und Verständlichkeit eintreten22. Zu diesem Zweck soll der IuK-Plan zunächst als mögliches neues rechtsdogmatisches Institut vorgestellt und eingeordnet werden (1) . Sodann sind die Elemente, aus denen IuK-Pläne zu bilden sind, näher darzustellen (2) und methodische Fragen der Plangestaltung abzuhandeln (3). 1. IuK-Pläne als Ausweg aus dem Verrechtlichungsdilemma
a) Kompensation unzulänglicher gesetzlicher Regelungstechnik Angesichts der unzulänglichen, als Verrechtlichungsdilemma beschriebenen Datenschutzgesetzgebung liegt es nahe, nach anderen Möglichkeiten zu suchen, um die rechtsstaatliche Bindung staatlicher Informationsverarbeitung zu gewährleisten. Die Frage lautet: Gibt es alternative Regelungsformen für den Datenschutz? Angesichts dieser Fragestellung gilt es zunächst zu klären, ob der Gedanke, eine an sich gebotene, im Anwendungsfall aber tatsächlich unzulängliche Regelungstechnik durch eine andere, geeignetere zu ersetzen, ob der Gedanke der Kompensation also im Rahmen der Dogmatik des informationeBen Selbstbestimmungsrechts überhaupt Platz finden kann. Ansätze hierzu finden sich im Volkszählungsurteil selbst. Dem Bundesverfassungsgericht dient seine datenschutzrechtliche Dogmatik offensichtlich dazu, die Verhaltenssicherheit des Einzelnen, seine Erwartungsgewißheit darüber, wie mit seinen Daten umgegangen wird, nicht nur rechtlich, sondern am besten auch tatsächlich zu gewährleisten23. Sein Anliegen ist es, diesen Schutz22 Zu weiteren, unter organisatorichen Aspekten wichtigen Funktionen der IuKPläne vgl. Eberle, in: Reinermann u. a., Neue Informationstechniken (Fn. 16), S. 152ff. 23 BVerfGE 65, S. 1, 45f.
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zweck des informationeilen Selbstbestimmungsrechts so effektiv durch regelungstechnische Vorkehrungen zu erfüllen, wie dies eben möglich ist. Erweist sich dabei ein regelungstechnisches Mittel als unzureichend, so wird es kompensiert durch ein anderes, unter den gegebenen Umständen geeigneteres Mittel24 • Im Volkszählungsurteil wird dieser Gedanke auf die Erhebung und Verwendung persönlicher Daten zu statistischen Zwecken angewendet. Erfolgt die Verarbeitung von Daten zu planerischen Zwecken, so läßt sie sich nicht durch enge und präzise Zweckbindung eingrenzen, wie dies bei der individuellen Verarbeitung von Daten im Rahmen konkreter Verwaltungsaufgaben möglich und geboten ist. Deshalb verpflichtet das Gericht hier unter dem Aspekt der Kompensation den Gesetzgeber, anstelle der normalerweise gebotenen, hier aber unzulänglichen gesetzlichen Zweckbindung die verfahrensmäßigen Sicherungen zu erhöhen, damit auf diese Weise der Schutz des informationeilen Selbstbestimmungsrechts hergestellt wird. Diesen Ansatz aufgreifen und erweitern heißt im Hinblick auf das Verrechtlichungsdilemma die Frage stellen: Können datenschutzrechtliche Parlamentsgesetze nicht entfeinert und reduziert werden, soweit auf andere Weise die für die Entscheidungsfreiheit der Bürger notwendige Transparenz staatlicher Datenverarbeitung sichergestellt wird? Damit sind wir bei meinem Vorschlag, die Darstellung der Informationsverarbeitungsregeln in Textform durch eine Darstellung der realen Informationsverarbeitungsvorgänge nach Art eines auf der Basis grafischer Elemente gestalteten Planes zu ersetzen. Hierbei handelt es sich um die strukturierte Darstellung von Informationsverarbeitungsvorgängen, die sich spezieller grafischer Elemente bedient, deshalb komplexe Prozesse besonders verständlich abbilden kann25. Solche Informations- und Kommunikationspläne müßten bereichsspezifisch die Zusammenhänge zwischen Verwaltungsaufgaben und den zu ihrer Erfüllung benötigten persönlichen Daten darstellen und zugleich die Kommunikationswege dieser Daten abbilden. Auf diese Weise sollte jeder IuK-Plan ein rechtsverbindliches Modell der behördlichen Information und Kommunikation liefern, das dem Bürger Gewißheit darüber gibt, "wer was wann und bei welcher Gelegenheit über ihn weiß" . b) Funktionen von IuK-Plänen (1) Rechtsstaatliche Funktionen
Aufgabe der luK-Pläne ist es, die rechtsstaatliehen Defizite der Datenschutzgesetzgebung auszugleichen. Diese bestehen darin, daß das Gesetz die BVerfGE 65 , S. 1, 44. Darstellungsformen dieser Art sind z. B. Petri-Netze, Flußdiagramme, Struktogramme u. dergl. 24 25
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Regeln für die staatliche Informationsverarbeitung nicht-mehr allgemein verständlich und verläßlich zu formulieren vermag. Dadurch verfehlt die Datenschutzgesetzgebung ihre rechtsstaatliche Funktion, den Rechts- und Pflichtenkrds des Bürgers gegenüber staatlicher Informationsverarbeitung exakt einzugrenzen und für Rechtssicherheit zu sorgen. IuK-Pläne eignen sich aus verschiedenen Gründen besser als Gesetze, diesen rechtsstaatliehen Anforderungen an Datenschutzregelungen gerecht zu werden: - Das Gesetz ist darauf angelegt, den Verwendungszusammenhang der Daten abstrakt darzustellen. Das Verständnis seines Regelungsgehalts wird oftmals dadurch erschwert, daß eine erhebliche gedankliche Subsumtionsarbeit zu leisten ist. Der IuK-Plan stellt statt dessen den realen Verwendungszusammenhang der Daten auf einer konkreteren Stufe dar. Der bereichsspezifische Zuschnitt der Pläne erlaubt es, das A.Qstraktionsniveau der Darstellung zu senken und so ihren Erklärungswert zu steigern. Die Pläne informiewn deshalb anschaulicher und bieten größere Rechtssicherheit als ein Gesetz. - IuK-Pläne lassen sich auf einige wenige Planelemente beschränken (welche Daten werden von welcher Stelle für welche Aufgabe verarbeitet). Dadurch vermi~teln sie plastisch ein auf das Wesentliche· reduziertes Strukturmodell staatlicher Information und Kommunikation. Durch diese Strukturbildung können die Muster der Informationsverarbeitung in den verschiedensten Verwa.ltungszweigen leichter erkannt werden. Das informationeile Dickicht der Verwaltung lichtet sich, die Produktionsstätten, Straßen und Umschlagplätze ci\es behördlichen Datenverkehrs werden sichtbar und versetzen den Bürger in die Lage, die Sinnhaftigkeit staatlicher Informationsverarbeitung zu begreifen. Hierin scheint mir ein wesentlicher Grund dafür zu liegen, daß solche Pläne die Verhaltenssicherheit der Betroffenen erhöhen und zur Vertrauensbildung beitragen können. - Auch in der Art der Darstellung sind die IuK-Pläne gegenüber dem Gesetz im Vorteil. Die grafische Darstellung wird der Komplexität von Informationsverarbeitungsprozessen besser gerecht als die sprachlich-textliche Ausdrucksweise des Gesetzes. Die Leistungsfähigkeit grafischer Ausdrucksmittel ist im übrigen in anderen Regelungsbereichen wie der Stadt- und Landesplanung erprobt.
(2) Legitimationsfunktion Zu prüfen ist, ob IuK-Pläne nicht auch als selbständige Rechtsgrundlagen für die Verarbeitung personenbezogener Daten durch die Verwaltung fungieren können.
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- Legitimationsbedarf Eine solche Legitimationsfunktion der luK-Pläne kommt in Betracht, soweit aus rechtsstaatliehen Gründen ein Gesetzesvorbehalt i. S. eines schlichten Normvorbehalts besteht, es eines Parlamentsgesetzes jedoch nicht bedarf. Konstellationen dieser Art sind oben schon aufgezeigt worden. Sie liegen insbesondere dann vor, wenn der Gesetzgeber der Verwaltung bestimmte Aufgaben auferlegt und sie zu ihrer Erfüllung zu bestimmten Maßnahmen ermächtigt hat, ohne daß gleichzeitig die nötigen Informationsverarbeitungsschritte mitgeregelt worden sind. In Fällen dieser Art bedarf es zwar aus rechtsstaatliehen Gründen einer Regelung, welche die Verwaltung auch zur Verarbeitung personenbezogener Daten befugt. Diese Regelung muß aber nicht notwendig in der Form eines Parlamentsgesetzes erfolgen. Dies ergibt sich daraus, daß der Gesetzgeber mit der Ermächtigung zur Aufgabenwahrnehmung und zum Erlaß bestimmter Maßnahmen bereits alles Wesentliche selbst geregelt hat. Die ausführenden Vorschriften sind insbesondere durch die Anwendung des Übermaßverbots inhaltlich weitgehend vorgezeichnet26. Personenbezogene Daten dürfen nur insoweit verarbeitet werden, als dies zur Erfüllung der vorgegebenen Verwaltungsaufgabe und zum Erlaß der gesetzlich vorgezeichneten Maßnahmen erforderlich und verhältnismäßig ist. Aufgrund dieser Bindungen bedarf es nicht des aufwendigen parlamentarischen Verfahrens. Vielmehr genügen schon Vorschriften, welche die Exekutive selbst erläßt. Als eine solche Form administrativer Rechtssetzung sind auch die IuK-Pläne anzusehen. - Juristische Handlungsform Fraglich ist dann nur noch, welche Handlungsform - Rechtsverordnung oder Verwaltungsvorschrift- für die IuK-Pläne in Betracht zu ziehen ist. Da es darum geht, die staatliche Informationsverarbeitung im Außenrechtsverhältnis gegenüber dem Bürger zu legitimieren, scheint die Rechtsverordnung die gebotene Handlungsform zu sein. Von Nachteil ist jedoch, daß ihre formellen Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen wenig flexibel sind und auf den hier infragestehenden Anwendungsbereich nicht passen: Eine Spezialermächtigung, wie sie nach Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG bzw. den entsprechenden landesverfassungsrechtlichen Bestimmungen verlangt wird, erscheint überflüssig, wenn der Inhalt der IuK-Pläne durch den Aufgabenbezug der Informationsverarbeitung bereits eingegrenzt ist. Als Verordnungsgeber ist in Harnburg der primär für administrative Rechtssetzung zuständige Senat wenig geeignet, das Verfahren zur Weiterermächtigung von Verwaltungsbehörden aber ist umständlich (vgl. Art. 53 HV). Die Publikation von Verordnungen im Gesetzes- und Verordnungsblatt entspricht nicht den Erfordernissen, den Regelungsinhalt den Betroffenen tatsächlich zugänglich zu machen. Schließlich ist 26 Vgl. zu dieser Fallkonstellation allgemein Eberle, DÖV 1984, S. 485, 491f. m.w.N.
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auch der Rechtsschutz gegenüber Verordnungen, soweit- wie in Harnburgdas Normenkontrollverfahren nach§ 47 VwGO nicht eingeführt ist, defizitär. Deshalb ist zu überlegen, ob die IuK-Pläne nicht als gesetzesvertretende Verwaltungsvorschriften durch die Verwaltungsbehörden selbst erlassen und in geeigneter Form publiziert werden können. Das Manko fehlender Außenwirkung der Verwaltungsvorschriften kann dadurch überwunden werden, daß die IuK-Pläne als Ausfluß originärer Rechtssetzungskompetenz der Exekutive begriffen werden27. Eine solche originäre Rechtssetzungskompetenz der Exekutive kann im Bereich der Informationsverarbeitung innerhalb des Rahmens angenommen werden, der vom parlamentarischen Gesetzgeber nach Maßgabe des Parlamentsvorbehalts durch die gesetzliche Regelung von Aufgaben und Maßnahmen vorgezeichnet ist und der nach Maßgabe des Gesetzesvorbehalts (als Rechtssatzvorbehalt) durch Vorschriften zur Informationsverarbeitung ausgefüllt werden muß. Zuständig zum Erlaß von IuK-Plänen sollte jede Behörde innerhalb ihres Aufgabenbereichs sein. Die Publikation der IuK-Pläne bedarf jedoch besonderer gesetzlicher Regelung, solange für Verwaltungsvorschriften von der Rechtsprechung eine Veröffentlichungspflicht abgelehnt wird. Dabei sollte ein bürger- und aufgabennahes Publikationsverfahren gewählt werden, da es auch insoweit darauf ankommt, daß der Bürger nicht nur- wie bei Gesetzen und Verordnungen- die rechtliche Möglichkeit hat, sich zu informieren, sondern daß er auch tatsächlich darüber in Kenntnis gesetzt wird, "wer was wann und bei welcher Gelegenheit über ihn weiß". Deshalb müssen die IuK-Pläne bei den Behörden selbst auf Anforderung eingesehen werden können und an den allgemeinen Anlauf- und Informationsstellen der Behörden zur Einsichtnahme bereitliegen. 2. Planelemente
Der Inhalt der IuK-Pläne ist von ihrer Aufgabe her zu bestimmen, den rechtmäßigen Umgang der Verwaltung mit personenbezogenen Daten zu gewährleisten und diesen dem betroffenen Bürger gegenüber transparent zu machen. Demnach muß Gegenstand der Pläne sein: - die Verwaltungsaufgabe, zu deren Erfüllung personenbezogene Daten verarbeitet werden sollen, - die Bestimmung der personenbezogenen Daten, deren Verarbeitung zur Erfüllung dieser Aufgabe erforderlich ist, 27 Ob es eine originäre Rechtssetzungskompetenz der Exekutive geben kann, ist umstritten; sie wird insbesondere bejaht von Vogel, VVDStRL 24 (1966) , S. 125, 166ff. ; Ossenbühl, AöR 1967, S. 30ff.; Papier, Die finanzrechtlichen Gesetzesvorbehalte und das grundrechtliche Demokratieprinzip, Berlin 1973, S. 34 ff.; Scholz, VVDStRL 34 (1976), S. 146, 149ff. , jeweils m.w.N.
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- die Verarbeitungsvorgänge, denen diese Daten unterworfen werden, - die zur Aufgabenerfüllung und zur Verarbeitung der Daten zuständigen Stellen. a) Verwaltungsaufgabe Die Bestimmung der Verwaltungsaufgabe dient dazu, das Zweckbindungsgebot, das für jede Verarbeitung personenbezogener Daten gilt, zu konkretisieren. Die Verwaltungsaufgabe ist der Maßstab, an dem die Geeignetheit und Erforderlichkeit der Verarbeitung dieser Daten gemessen wird. Problematisch ist, daß Verwaltungsaufgaben auf unterschiedlichen Konkretisierungsstufen beschrieben und umgrenzt werden können. Je abstrakter eine Aufgabe umschrieben wird, umso weiter ist das Tätigkeitsfeld der Verwaltung, das sie eingrenzen soll und umso weiter ist dann zugleich der Verwendungszusammenhang, in dem Daten verarbeitet werden können. Die Aufgabenumschreibung "Fernwahlangelegenheitenffelefongebühren", wie sie sich etwa im Aufgabengliederungsplan als Aufgabenbeschreibung einer Stelle der Universitätsverwaltung findet, ist z. B. als Maßstab für die Erstellung von Listen, in denen telefonnummernbezogen die angerufene Nummer sowie Zeit und Gesprächseinheiten aufgeführt werden, zu weit. Statt dessen sollten die Aufgaben so eng umgrenzt werden, daß ein direkter Erforderlichkeitszusammenhang mit dem zu verarbeitenden Datum erkennbar wird. Tatsächlich lassen sich nämlich in unserem Beispielsfall zwei unterschiedliche Teilaufgaben mit unterschiedlichem Datenbedarf unterscheiden. Die eine Aufgabe ("Überwachung der dienstlichen Ferngespräche") erfordert den genannten Datensatz, um die dienstliche Notwendigkeit der Gespräche gegebenenfalls nachweisen zu können. Die andere Aufgabe ("Abrechnung der Privatgespräche") erfordert lediglich die Angabe über die Gesprächszeiten und Gebühreneinheiten, nicht aber die Angaben über die gewählte Nummer. Das Beispiel zeigt, daß für die luK-Pläne eine möglichst konkrete Aufgabenbeschreibung geboten ist, wenn sie ihrer rechtsstaatliehen und legitimierenden Funktion gerecht werden sollen. b) Personenbezogene Daten Die Bestimmung, welche personenbezogenen Daten verarbeitet werden dürfen, grenzt den Bereich ein, innerhalb dessen der Betroffene eine Beschränkung seiner informationeilen Selbstbestimmung hinnehmen muß. Auch hier ist eine möglichst präzise Beschreibung der jeweiligen Daten vonnöten.
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c) Verarbeitungsphasen Um den Verarbeitungsgang der Daten steuern und transparent machen zu können, müssen IuK-Pläne die einzelnen Phasen der Verarbeitung erfassen, nämlich die -Erhebung, - Speicherung, - Veränderung, - Weitergabe, - Löschung der Daten. Jede dieser einzelnen Phasen ist für sich genommen am Erforderlichkeitsmaßstab zu messen, was anband der Pläne nachvollzogen werden kann. d) Zur Verarbeitung zuständige Stellen Nötig ist schließlich, daß die IuK-Pläne die zur Verarbeitung der Daten in ihrer jeweiligen Phase jeweils berechtigten Stellen aufführen. Diese Zuständigkeitsübersicht muß in Anlehnung an die Aufgabenstellung die Behördenstrukturen möglichst fein erfassen. Dies folgt daraus, daß die Verarbeitungsberechtigung dem Bürger zugleich den behördlichen Zuständigkeitsbereich beschreiben soll, innerhalb dessen er mit einem Zugriff auf seine Daten rechnen muß. Dieser Kreis ist im Sinne einer Verhaltenssicherheit des Bürgers möglichst klein zu ziehen, was sich in einer entsprechenden Darstellung in den IuK-Plänen niederschlagen muß. 3. Methodische Fragen
Die Aufstellung von IuK-Plänen setzt eine Analyse der Informations- und Kommunikationsstrukturen in der Verwaltung voraus. Insoweit empfiehlt es sich, an die vielfältigen Kommunikations- urid Datenstrukturanalysen anzuknüpfen, die augenblicklich in manchen Behörden durchgeführt werdenzs. Sie haben zum Ziel, Information und Kommunikation in der Verwaltung zum Zwecke der Neuorganisation, der Automation und des Informationsmanagements zu erfassen. Dabei ergeben sich durchaus auch parallele Aufgabenstellungen von Wirtschaftlichkeit im Umgang mit der Ressource Information einerseits und Datenschutz andererseits. Das Erforderlichkeitsprinzip, welches den sparsamen Umgang mit personenbezogenen Daten vorschreibt, ist auch unter Wirt28 Zu Begriff und Methode der Kommunikationsanalyse vgl. den gleichnamigen KGSt-Bericht Nr. 3/1989.
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schaftlichkeitsaspekten ein gültiges Organisationsprinzip. Das Transparenzgebot sodann ist nicht nur eine Datenschutzanforderung, sondern zugleich Maxime innerbehördlicher Führung und Kontrolle. Datenschutz erweist sich mithin nicht als ein Störfaktor, sondern als konstruktives Gestaltungsprinzip für die behördliche Information und Kommunikation. Für die Überlegungen, wie die Pläne selbst nach Inhalt und Ausdrucksform übersichtlich und leicht verständlich gestaltet werden können, empfiehlt sich ein Rückgriff auf Darstellungsmethoden, wie sie etwa in der Form der PetriNetze in der Informatik gebräuchlich sind29. Auf Einzelheiten dieser Art einzugehen, würde jedoch den engen zeitlichen Rahmen dieser Vorlesung sprengen.
29 Speziell zu den Petri-Netzen, aber auch zu anderen Entwurfsmethoden in diesem Zusammenhang vgl. A. Schulz, Softwareentwurf-Methoden und Werkzeuge, 1988, S. 149ff. und passim.
Rechtsgeschichte und Rechtsdogmatik* Von Hans Hermann Seiler I. Einführung
Über Glanz und Elend der Rechtsdogmatik hat uns Herr Kötz in seinem Vortrag in eindringlicher und amüsanter Weise unterrichtet. Seine, wie er es nannte, bescheidene Quintessenz 1 war, daß es gute und schlechte Dogmatik gibt, und er hat uns das durch rechtsvergleichende und rechtshistorische Betrachtungen nahe gebracht. Es gibt gute und schlechte Dogmatik - wer wollte einem solch ausgewogenen Urteil widersprechen. Da besteht keinerlei Anreiz, eine kräftige Gegenthese zu entwickeln, und so will ich mich in dieser Richtung auch gar nicht erst versuchen, sondern ich möchte in diesem rechtshistorischen Beitrag einige Überlegungen vortragen, die allerdings keineswegs den Anspruch erheben können, das ohnehin viel zu weit gefaßte Thema auch nur annähernd erschöpfen zu können und die darüber hinaus auch nicht streng systematisch gegliedert, in diesem Sinne also gerade nicht dogmatisch sind. II. Versuch einer Begriffsklärung
1. Zur Vorbereitung eines Referats gehört die Bemühung um eine möglichst exakte Definition des Themas, und so wäre hier zu fragen, was Rechtsdogmatik überhaupt ist. Es ist sicherlich nicht sehr sinnvoll, eine Frage an die Rechtsgeschichte zu stellen, wenn der Gegenstand dieser Frage nicht hinreichend präzisiert ist. Zwar gehen uns Juristen die Wörter "rechtsdogmatisch, Rechtsdogmatik, aus dogmatischen Gründen" usw. geläufig von den Lippen, aber können wir auch über den begrifflichen Inhalt dieser Wörter befriedigende Auskunft geben?
Wahrscheinlich ist die Frage nach der Definition des Begriffs Rechtsdogmatik schon recht naiv, eben die typische Frage eines mutigen Dilettanten. Das
* Referat, das der Verf. am 10. 5. 1989 im Rahmen einer Ringvorlesung des Fachbereichs Rechtswissenschaft I der Universität Harnburg zum Thema "Rechtsdogmatik und Rechtspolitik" gehalten hat. Der Vortragsstil ist beibehalten; die Fußnoten enthalten nur knappe, exemplarische Hinweise. I Oben S. 89.
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wurde sehr schnell klar, als ich mich an die Beantwortung dieser Frage machte. 2. Als erstes war festzustellen, daß dem allgemeinen Sprachverständnis der Begriff der Rechtsdogmatik fremd ist. Die Wörter "Dogma, Dogmatik" sind besetzt von der christlichen Theologie und von der Philosophie2. Wir wissen ja auch, daß es eine traditionsreiche katholische Dogmatik gibt und eine gleichfalls berühmte protestantische Dogmatik, über die namentlich auf Universitätsprofessuren für Dogmatik in den theologischen Fakultäten gelehrt und geforscht wird. Rechtsdogmatik gehört nicht zum Fundus unserer Normalsprache, ist dort sozusagen gar nicht vorgesehen.- Das ist nun nicht mehr als eine vielleicht mitteileuswerte Beobachtung, kann aber für unser Thema nicht viel besagen. Gibt es doch zahllose Fachwörter, die der Normalsprache unbekannt sind, und so wird es sich wahrscheinlich auch mit unserer Rechtsdogmatik verhalten.
3. Aufklärung über den Begriff der Rechtsdogmatik sollte demnach die juristische Fachliteratur geben. Aber diese Hoffnung erweist sich leider auch als trügerisch, und das ist nun schon recht deprimierend. Zieht man die einschlägigen großen Lehrbücher über die juristische Methodenlehre, über Rechtsphilosophie, den Allgemeinen Teil des BGB zu Rate, dann muß man feststellen, daß die meisten Autoren sich zwar darüber äußern, was sie unter Rechtsdogmatik verstehen, daß aber ein einigermaßen übereinstimmendes Bild nicht erkennbar ist, im Gegenteil, die Vielfalt der Äußerungen ist beunruhigend. Ich will mich mit der Aufzählung der zahlreichen Meinungen nicht aufhalten. Die Palette der Meinungen3 reicht jedenfalls von der Ansicht, Rechtsdogmatik sei mit der Rechtsordnung oder mit der Jurisprudenz gleichzusetzen4, über die Auffassung, man habe es mit einer Summe oder einem System von Begriffen und Lehrsätzen zu tuns, bis hin zu der Meinung, es handele sich um ein Erkenntnisverfahren6. Es kann danach nicht verwundern, daß auch empfohlen wird, den Ausdruck überhaupt zu vermeiden7. 2 Vgl. nur: Der große Brockhaus, 18. Aufl. (1989), s. v. Dogmatik; Der große Herder, 5. Aufl. (1954), s. v. Dogmatik; etwas abweichend neuerdings: Brockhaus Enzyklopädie 19. Aufl. (1988), s. v. Dogmatik. 3 Übersicht bei Gerhard Struck, Dogmatische Diskussion über Dogmatik, JZ 1975, s. 84ff. 4 z.B . Karl Larenz, Die Bindung des Richters an das Gesetz als hermeneutisches Problem, Festschr. f. Huber (1973), S. 292, 294, 307; ders., Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. (1983), S. 181; ferner: Münchener Rechtslexikon (1987) , s.v. Rechtsdogmatik. 5 Roland Dubischar, Grundbegriffe des Rechts (1968), S. 73; Josef Esser, Möglichkeiten und Grenzen des dogmatischen Denkens im modernen Zivilrecht, AcP 172 (1972), s. 97, 98. 6 Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. (1967), S. 54; Hans Dölle, Rechtsdogmatik und Rechtsvergleichung, RabelsZ 34 (1970), S. 404; Franz Bydlinski, Unentbehrlichkeit und Grenzen methodischen Rechtsdenkens, AcP 188 (1988), s. 447, 477.
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An dieser Stelle droht dem Referat wegen unklarer Themenstellung ein vorzeitiges Ende. Doch das wäre zweifellos zu defätistisch. Ich möchte daher mit einer kühnen Volte Rechtsdogmatik sozusagen arbeitshypothetisch und schlicht verstehen als eine zusammenhängende Ordnung von juristischen Begriffen und Regeln, die allgemeine Anerkennung und Befolgung beanspruchen8. Ich kann mich dabei auf eine Autorität wie den Österreichischen Rechtstheoretiker und Zivilrechtier Franz Bydlinski berufen, der in der letzten mir bekannten Stellungnahme zum Thema9 gemeint hat, alle diese meist sehr vagen Definitionsversuche seien wenig zweckvolL Man muß ja nicht alles definieren; es gibt zahlreiche Begriffe und Gegenstände, die nicht genau zu definieren sind, die wir aber trotzdem benutzen, weil sie wichtig sind. Und damit sind wir bei einem nächsten Punkt. Denn daß wir Rechtsdogmatik brauchen, weil sie mit erheblichen, und zwar durchaus praktischen Vorzügen verbunden ist, darüber ist man sich inzwischen wieder fast einig; Gegenstimmen sind allenfalls noch pianissimo zu vernehmen. Das war nicht immer so. Noch in den berüchtigten 68er und 70er Jahren konnte man- als ein Beispiel unter vielen -lesen: Dogmatik ist tot; man weigert sich nur, ihr Ableben zur Kenntnis zu nehmenlo. Wir sehen das heute anders: Dogmatik lebt, sie war allenfalls zeitweise scheintot oder zu Unrecht für tot erklärt. Ein kurzer Hinweis auf die praktischen Vorzüge der Dogmatik; Herr Kötz hat dazu ja bereits das Notwendige gesagt und einleuchtend durch einen Vergleich mit dem angelsächsischen Rechtskreis verdeutlichtll. Dogmatik dient der Entlastung des Richters und sonstigen Rechtsanwenders. Sie macht es entbehrlich, daß der Richter bei der Konfliktentscheidung in jedem Fall das gesamte Gedanken- und Argumentationsrepertoire immer wieder durchdenken und überprüfen muß. Rechtsanwendung wird durch sie einfacher und handlicher, um noch einmal das von Herrn Kötz zitierte Wort Konrad ZweigertslZ zu benutzen. Und Handlichkeit bedeutet zweitens Kostensenkung- ein sicherlich wichtiges soziales und volkswirtschaftliches Argument. Oder umgekehrt: Schlechte oder gar keine Dogmatik ist teuer. -Dogmatik dient drittens der Rechtssicherheit und der Einhaltung des Gleichheitsgrundsatzes. Sie 7 Wolfgang Naucke, Rechtsphilosophische Grundbegriffe, 2. Aufl. (1986) , S. 17 Fn. 13. 8 So etwa Christian Starck, Rechtsdogmatik und Gesetzgebung im Verwaltungsrecht, in: Gesetzgebung und Dogmatik (Fn. 29), S. 106. 9 (Fn. 6), S. 477 Fn. 31. 10 Ulrich Meyer-Cording, Kann der Jurist heute noch Dogmatiker sein? (1973), s. 32. u Oben S. 78 ff. 12 Konrad Zweigert, System und Dogmatik, Festschr. f . Eduard Bötticher (1969) , s. 443,448.
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bringt eine gewisse Konstanz in die Rechtsanwendung13 und sorgt dafür, daß gleichgelagerte Fälle auch gleich entschieden werden. -Nicht zu übersehen ist schließlich auch die didaktische Funktion der Dogmatik - das brauche ich hier nicht näher auszuführen; man lernt es, sich in Kürzeln zu verständigen; das ist übersichtlicher und geht schneller. -Daß alle diese Vorzüge auch mit Gefahren verbunden sind, ist richtig, kann aber für unser Thema vernachlässigt werden. Ich möchte diesen ersten Abschnitt mit zwei Bemerkungen schließen.
4. Die eine bezieht sich auf unsere Rechtssprache. Zu ihrem Bestand gehören die Wörter Dogmatik und dogmatisch; damit verbindet sie gewisse, wenn auch umstrittene sachliche Inhalte14. Dagegen ist im fachlich technischen Sinn das Wort Dogma selbst jedenfalls heute nicht gebräuchlich1s. Eigentümlich, daß gerade die im Zentrum dieses Wortfelds stehende Bezeichnung, das Stammwort, fehlt. Mir scheint das kein Zufall zu sein, sondern sprachpsychologische Gründe zu haben. Dogma ist der autoritativ feststehende unveränderbare Lehrsatz. Und dies für die Jurisprudenz zu übernehmen, soweit will man nun wieder nicht gehen. Ein gewisses Maß an Verbindlichkeit und Beständigkeit ist erwünscht; eine totale Inpflichtnahme ist dagegen unerwünscht. Sprachlich gesehen haben wir es daher mit einer Rechtsdogmatik ohne Dogmen zu tun. 5. Die zweite Bemerkung macht auf die praktischen Konsequenzen aufmerksam, die die Einführung des eben entwickelten Arbeitsbegriffs für Rechtsdogmatik mit sich bringt. Wenn Rechtsdogmatik nicht mit der gesamten Rechtsordnung gleichzusetzen ist, dann muß also unterschieden werden zwischen (geschriebenen und ungeschriebenen) Rechtssätzen, die zur Dogmatik gehören, und solchen, die nicht zu ihr gehören. Diese Abgrenzung ist häufig unproblematisch. Ein Satz wie der, daß im Sachenrecht Typenzwang besteht, gehört sicherlich zu den Grundprinzipien des BGB und damit zu seiner Dogmatik. Wenn der Gesetzgeber also im Sachenrecht die Vertragsfreiheit im inhaltlichen Sinn einführen würde, wäre das zweifellos ein erheblicher Eingriff in die Dogmatik. - Aber nicht selten ist die Abgrenzung schwieriger; das kam schon im Vortrag von Herrn Schmidt16 zur Sprache. Nehmen wir die Verjährung. Die Länge der Verjährungsfristen - ob die allgemeine Frist nun 20,30 oder 40 Jahre beträgt-, das ist sicherlich keine Frage der Dogmatik. Aber daß es überhaupt Verj ährung gibt, gehört wiederum zum dogma13 Vgl. auch Okko Behrends, Das Bündnis zwischen Gesetzgebung und Dogmatik und die Frage der dogmatischen Rangstufen, in: Gesetzgebung und Dogmatik (Fn. 29), s. 17. 14 Vgl. Jan Schröder, Das Verhältnis von Rechtsdogmatik und Gesetzgebung in der neuzeitlichen Rechtsgeschichte, in: Gesetzgebung und Dogmatik (Fn. 29), S. 38. 15 Lediglich bei Hans Hattenhauer, Grundbegriffe des Bürgerlichen Rechts (1982), S. 233, habe ich es gefunden. 16 Oben S. 9 ff.
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tischen Bestand. Wenn demnach der Gesetzgeber die Verjährung abschaffen würde, wäre dies ein Eingriff in die Dogmatik. - Der Rechtssatz des § 571 BGB , also daß bei einer Veräußerung des vermieteten Grundstücks der neue Eigentümer kraft Gesetzes in den Mietvertrag eintritt, demnach auch neuer Vermieter wird, dieser Rechtssatz ist seinerseits eine Durchbrechung der dogmatischen Prinzipien, daß Verträge nur unter den Vertragspartnern wirken und daß niemand ohne seinen Willen in einen Vertrag hineingezwungen werden kann. Er widerspricht daher wesentlichen dogmatischen Prinzipien; und trotzdem wird man ihn selbst angesichts seiner großen Bedeutung zur Dogmatik des BGB17 zu rechnen haben. Auch Ausnahmen von dogmatischen Regeln können Teil der Dogmatik sein. Aber es leuchtet ein, daß hier erhebliche Abgrenzungsprobleme liegen. 111. Zur Wortgeschichte und Dogmengeschichte
Versehen mit der Erkenntnis, daß es keine allseits anerkannte und befriedigende Umschreibung von Rechtsdogmatik gibt, daß wir uns für dieses Referat daher mit einer behelfsmäßigen Begriffsumschreibung begnügen müssen und daß Rechtsdogmatik allseits als notwendig und nützlich beurteilt wird, begeben wir uns nun in die Rechtsgeschichte. 1. Zunächst einige Bemerkungen zur Wortgeschichte und Wortbedeutung von Dogma. Sprachgeschichte ist ja keine isolierte Spezialgeschichte, sondern steht meist in engem Zusammenhang mit der Sachgeschichte.
Das Wort Dogma ist bekanntlich griechischen Ursprungs. Es bezeichnet seit der älteren griechischen Sprache den philosophischen Lehrsatz und später daneben auch - etwa im Neuen Testament - das religiöse Gebot oder die Satzungl8. Ein spezieller juristischer Gebrauch ist nicht nachweisbar. Dogma ist dann auch von der lateinischen Sprache übernommen worden und hat dort etwa dieselbe Bedeutung wie in der griechischen Ursprungssprache: Meinung, Lehrsatz eines Philosophenl9. Von besonderem Interesse für unsere Untersuchung ist natürlich die Frage, ob das Wort Dogma auch in der Sprache der römischen Juristen vorkommt. Die Antwort ist: in fachjuristischer Bedeutung nein ; wohl an einigen Stellen als Bezeichnung für nichtjuristische Inhalte, nämlich in bezug auf die Religionzo, ebenso wie auch in späterer Zeit. So ist zum Beispiel in einer KonstituVgl. Sehröder (Fn. 14), S. 38 Fn. 8, 39f. Vgl. Pape, Griechisch-deutsches Handwörterbuch I, 3. Aufl. (1880), s. v. Myjta. 19 Vgl. Georges, Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch I, 8. Aufl. (1913) , s. v. dogma. 20 Heumann I Seckel, Handlexikon zu den Quellen des römischen Rechts, 9. Aufl. (1907) , s. v. dogma. 17
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tion der Kaiser Gratian und Theodosius (380 n. Chr. )21 die Rede vom haereticum dogma, also von der Glaubenslehre der Ketzer, die dann mit starken Worten, wie es sich gehört, verdammt wird. Dogma oder sprachlich vergleichbare Wörter sind also keine Fachwörter der römischen Rechtssprache. Es scheint mir eine durchaus bemerkenswerte Erkenntnis zu sein, daß Dogma zwar ein sehr altes Wort ist, daß es aber in der Antike als technischer Ausdruck nur in wissenschaftlichen Disziplinen außerhalb der Rechtswissenschaft, nämlich der Philosophie und der Theologie, vorkommt. Dagegen ist Dogma der Mutter unseres heutigen Zivilrechts, dem antiken römischen Privatrecht, unbekannt. 2. Nach dieser sprachlichen Klärung nun einiges zur Sachgeschichte und hier zunächst eine Ausgangsüberlegung. Die Hauptquelle des römischen Rechts ist bekanntlich das Corpus Iuris Civilis des Kaisers Justinian aus den Jahren 533/34. Dieses sog. Gesetzbuch ist keine Kodifikation im modernen Sinn, also eine nach Paragraphen oder Artikeln geordnete Zusammenstellung von Rechtssätzen, sondern eine riesige Sammlung vorwiegend von Rechtsfällen mit Lösungen, die Justinian aus den Schriften der klassischen Juristen der Zeit etwa von Christi Geburt bis zum 3. Jahrhundert hat exzerpieren lassen. Und trotzdem liegt diesen juristischen Äußerungen, wie man bei ihrem Studium sehr bald erkennt, eine Ordnung zugrunde, die Rechtsinstitute, Begriffe, Regelungen enthält, die aufeinander abgestimmt sind, also ein (inneres) System, und insofern kann man, wenn auch mit etwas Zögern, sachlich - nicht sprachlich, wie wir gesehen haben von einer römischen Rechtsdogmatik sprechen. Wie bekannt sind die römischen Rechtstexte dann im Mittelalter seit dem 11. Jahrhundert in den oberitalischen Universitäten Bologna und Padua aufgenommen und bearbeitet worden. Insbesondere die sog. Kommentatoren haben sich darum bemüht, die römischen Rechtstexte zu erklären und zu einem möglichst widerspruchsfreien Lehrgebäude zusammenzufügen; sie haben also in dem hier so verstandenen Sinne dogmatisch gearbeitet. Seitdem, also seit Bologna bis heute, gibt es eine europäische Rechtswissenschaft, die dogmatische Methoden anwendet. 3. Man könnte nun in einem weiteren Schritt die Ergebnisse dieser Arbeit darzustellen versuchen, also fragen, wie sich diese Dogmatik, das heißt also die einzelnen Rechtssätze, Begriffe und Institute, von Rom bis heute entwikkelt haben. Man erkennt sehr schnell, daß die dabei gewonnenen Erkenntnisse sich in grober Einteilung zwei großen Sachbereichen zuordnen lassen. Erstens gibt es manche Rechtssätze und Regeln, die seit Rom keine wesentlichen Veränderungen erfahren haben, ja wo man- etwas überspitzt formu2t
Codex Iustiniani 1,1,1,1.
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liert- den Eindruck haben muß, daß die Vorschriften des BGB die römischen Regelungen lediglich ins Deutsche übersetzen. Dazu zählen manche Vorschriften der heute sog. gesetzlichen Schuldverhältnisse der Geschäftsführung ohne Auftrag (negotiorum gestio), der ungerechtfertigten Bereicherung (condictiones), ferner viele Begriffe und Regeln des allgemeinen Schuldrechts, etwa Verzug (mora), Erfüllung (solutio), Aufrechnung (compensatio). Dahin gehört aber auch etwa der Grundriß des Sachenrechts mit dem Eigentum als dem Vollrecht an Sachen im Zentrum, von dem zu unterscheiden sind einerseits die beschränkten dinglichen Rechte, die Pfandrechte und Dienstbarkeiten, und andererseits der Besitz als die tatsächliche Sachherrschaft. Es wäre aber völlig falsch anzunehmen, im Zivilrecht habe es seit Rom nur Kontinuität gegeben; davon kann nicht die Rede sein. In einer zweiten Rubrik wären also die Rechtssätze und Institute zu versammeln, bei denen Veränderungen und Neuschöpfungen zu verzeichnen sind. Auch hier einige Beispiele: Im römischen Recht gab es- jedenfalls in klassischer Zeit- einen Numerus clausus von Schuldverträgen, also einen Grundsatz, den wir heute im Sachenrecht kennen. Die Parteien mußten, wollten sie klagbare Verbindlichkeiten vereinbaren, sich an bestimmte Vertragstypen halten. Erst nach einer jahrhundertelangen Entwicklung ist dann der Grundsatz der Vertragsfreiheit im Sinne einer Inhaltsfreiheit anerkannt worden, daß also die Parteien in den Grenzen von Gesetz und guten Sitten Beliebiges mit verbindlicher Wirkung vereinbaren können.- Oder: Das römische Recht formuliert die Regel Alteri stipulari nemo potest (für einen anderen kann man sich nichts versprechen lassen). Damit war das ausgeschlossen, was wir heute unmittelbare Stellvertretung und echten Vertrag zugunsten Dritter nennen, und es hat dann Jahrhunderte gedauert, bis diese uns heute selbstverständlichen Rechtsinstitute zivilrechtlich formuliert und anerkannt wurden. Weiter: Im römischen Deliktsrecht gibt es lediglich einige recht spezielle Tatbestände wie z. B. furtum (Sachentziehung), damnum iniuria datum (Verletzung von Sklaven und Sachgütern) und iniuria (Personenverletzung), mit denen man mehr schlecht als recht- nämlich im Wege der extensiven Auslegung oder der Analogie- den sehr viel weiteren regelungsbedürftigen Bereich der unerlaubten Handlungen abzudecken versuchte. Erst im Vernunftrecht des 17. und 18. Jahrhunderts ist eine deliktische Generalklausel geschaffen worden (wer einen anderen widerrechtlich und schuldhaft schädigt, ist ihm zum Ersatz verpflichtet), die dann zwar von einigen europäischen Kodifikationen übernommen worden ist, nicht aber vom BGB, das eine eigenartige Kompromißlösung vorgezogen hat. Man kann in dieser Weise die gesamte europäische Privatrechtsgeschichte, gegliedert nach Sachbereichen und Epochen, durchgehen und die dogmatischen Leistungen jeder Epoche verzeichnen22, vom Mittelalter über den Usus 22 s. dazu die eindrucksvollen Gesamtdarstellungen von Helmut Coing (Europäisches Privatrecht I [1985] und II [1989]) sowie von Gerhard Wesenberg I Gunter Wesener
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modernus pandectarum und das Vernunftrecht bis hin in das 19. Jahrhundert, also bis zu jener imposanten Privatrechtsordnung, die die Verfasser des BGB vorfanden und aus der sie sich gewissermaßen bedienen konnten. Da würde dann in der Tat ein großartiges Gemälde entstehen, das im einzelnen zu beschreiben, sicherlich ein semesterfüllendes Vorhaben ist. Man würde übrigens sehr rasch erkennen, daß es ein durchaus unfertiges Gemälde ist23. Auf alten Landkarten findet man häufig größere weiße, weil unerforschte Flächen; dort steht dann der Hinweis: hic sunt leones (hier leben Löwen)24; und so etwas gibt es auch auf derLandkarte der juristischen Dogmen- und Institutionengeschichte in großem Umfang. Die Löwen dort zu vertreiben, das wäre schon eine reizvolle Aufgabe, und ich kann an dieser Stelle nur die rechtshistorisch interessierten Studenten einladen, an der Lösung dieser Aufgabe mitzuwirken. Die Einladung ist um so dringlicher, als - diese Randbemerkung kann ich mir nicht versagen - das Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt seine Forschungen in diesem Bereich neuerdings eingestellt hat, obwohl es doch als das einzige Institut in der Bundesrepublik mit einem angemessenen personellen und sachlichen Bestand, um das uns das Ausland beneidet, für diese wichtige Forschungsaufgabe wahrhaft prädestiniert ist. Man versteht nicht recht, warum dieser wichtige Forschungszweig verlassen und dort nun statt dessen - einem modischen, meines Erachtens aber schon wieder überholten Trend folgend - historische Justizforschung betrieben wird25.
IV. Problembereiche Wenden wir uns von diesem noch unfertigen Gemälde der juristischen Dogmengeschichte ab. Ich möchte die Aufmerksamkeit jetzt auf drei Problembereiche lenken, über die man historische Betrachtungen anstellen könnte: 1. Die Probleme, die die Rechtsdogmatik mit sich selbst hat. Herr Kötz hat in seinem Vortrag26 zu Recht die exzessiven Bemühungen um den Leistungsbegriff im Bereicherungsrecht mit mildem Spott bedacht. Man könnte dem noch andere Beispiele anfügen, das sog. Eigentümer-Besitzer-Verhältnis etwa oder auch so manches, was über das AGB-Gesetz geschrieben ist. (Neuere deutsche Privatrechtsgeschichte im Rahmen der europäischen Rechtsentwicklung, 4. Aufl. [1985)). 23 Wie auch von Coing (Fn. 22) immer wieder hervorgehoben wird. 24 Vgl. Michael Stolleis, Aufgaben der neueren Rechtsgeschichte, Rechtshistorisches Journa14 (1985) , S. 251. 25 Vgl. Dieter Simon, Normdurchsetzung, Ius commune (1988) , S. 201 ff. 26 Oben S. 87f.
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2. Man kann sich weiter mit dem Verhältnis von Rechtsanwendung und Rechtsdogmatik befassen. Da wäre über so manche Gerichtsentscheidung und Literaturäußerung nachzudenken, als Beispiel für viele etwa über den folgenden Satz aus einem Großkommentar zu § 398 BGB27: "Obwohl die dogmatische Begründung Schwierigkeiten bereitet, spricht aber das praktische Bedürfnis für die Zulassung der Einziehungsermächtigung". - Man könnte auch zu den kritischen Äußerungen Stellung nehmen, die Picker kürzlich über das Verhältnis von Richterrecht und Rechtsdogmatik veröffentlicht hatzs, ein Verhältnis, das häufig ein recht kontroverses ist.
V. Gesetzgebung und Dogmatik Ich möchte mich aber jetzt einem dritten Bereich zuwenden, nämlich dem Verhältnis von Gesetzgebung und Dogmatik, weil dies ein besonders aktuelles und gleichzeitig historisch interessantes Thema ist, mit dem sich auch kürzlich eine Kommission der Göttinger Akademie der Wissenschaften beschäftigt hat29. 1. Vergegenwärtigen wir uns noch einmal den historischen Hintergrund, wie er sich im Privatrecht des 18. Jahrhunderts darstellt. Dominierend ist in Deutschland das unkodifizierte römisch-gemeine Recht. Dogmatik hatte damals eine doppelte Funktion: Ordnung und Systematisierung der unkodifizierten Rechtssätze des römisch-gemeinen Rechts - und darüber hinaus die behutsame Fortentwicklung dieser Rechtssätze mit den Methoden und Mitteln eben dieser Dogmatik.
Diese Situation ändert sich grundlegend mit der Schaffung der modernen Nationalstaaten in Europa, als nunmehr der neuzeitliche Staat mit dem Lenkungs- und Machtinstrument der Gesetzgebung auch auf das Privatrecht übergreift und damit eine neue Macht in die privatrechtliche Welt eindringt. Denn bis dahin hatte die Gesetzgebung im Privatrecht eine vergleichsweise sehr bescheidene Rolle gespielt, sie war nur eine Randerscheinung. - Die Änderung geschah nicht abrupt, sondern allmählich. Zunächst gab es keine Konflikte, weil der Gesetzgeber (damals noch der Monarch mit seinen Ministern und Beamten) sich für seine Gesetzgebung der Autoritäten der Rechtsdogmatik bediente, das heißt bedeutende Juristen mit der Kodifizierung beauftragte und sich eigener nennenswerter Einflußnahme enthielt. Soergel/ Zeiss, BGB, 11. Auf!. (1986), § 398 Rdnr. 15. JZ 1988, S. lff. 29 Gesetzgebung und Dogmatik, hrsg. von Okko Behrends I Wolfram Henckel, Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch-Historische Klasse. Dritte Folge. Nr. 178 (1989). - Zahlreiche Überlegungen auf der gleichen Linie bereits bei Karsten Schmidt, Die Zukunft der Kodifikationsidee (1985) , insbes. s. 11ff. ; 67ff. 27
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So ist die erste große Kodifikation, der Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis von 1756, nichts anderes als ein in Paragraphen gegossenes Pandektenlehrbuch, ein Lehrbuch mit Gesetzeskraft, wie man etwas vereinfachend, aber im Kern zutreffend gesagt hat30. Das gibt schon das Titelblatt bekannt, in dem es heißt, der Codex sei ein Gesetz, "welches alle zur bürgerlichen Rechtsgelehrsamkeit gehörige Materien ... in sich begreift, so hin ... ein kurz-deutlich-ordentlich- und vollständiges Systema iuris privati universi, wie solches in hiesigen Chur-Landen dermalen und eingeführt ist in vier Theilen, 49 Capitulen, doch allerwegen in ganz natürlich-und ungezwungenem Zusammenhang darstellt". Und dieser lehrhafte Zug durchzieht das ganze Gesetzbuch. Nur ein kleines Beispiel: 1. Theil, 2. Capitul § 1
Das Recht wird hauptsächlich in göttlich-und menschlich-Natur-und Völker-Staatsund bürgerlich-weltiich-und geistlich-römisch-langobardisch-und teutsch-gemein-und statutarisch-geschrieben-oder ungeschrieben-durch Gewohnheit, Observanz oder besondere Freiheiten und Verordnungen eingeführtes Recht geteilt.
Man kann sagen, daß Gesetzgebung und Dogmatik hier identisch sind. 2. Schon anders, nämlich durchaus ambivalent, verhält es sich mit der zweiten großen Kodifikation, dem Preußiscfien Allgemeinen Landrecht von 179431. Diesem Gesetzbuch liegt bereits ein bestimmtes Reformprogramm zugrunde, in dem das Leitbild der Aufklärung zu erkennen ist, nämlich - in Kurzfassung - die Erziehung des Individuums zur Freiheit und dadurch zum Glück. Allerdings muß man für das Privatrecht gleich eipschränkend hinzufügen, daß die drei Reformer von Carmer, Suarez und Klein, die 15 Jahre lang in Berlin zusammen gelebt und gearbeitet haben, trotz aller Reformenergien an der traditionellen römischrechtlichen Privatrechtsdogmatik nicht vorbeikamen, weil sie die ihre Zeit beherrschende und vorbildliche war und Ersatzlösungen nicht zur Verfügung standen. So hat denn auch die römisch-gemeinrechtliche Dogmatik tiefe Spuren in dem Gesetzbuch hinterlassen, und insofern kann man noch von einem Bündnis, einem Zwangsbündnis zwischen Gesetzgebung und Rechtsdogmatik sprechen, wenn auch mit gelegentlicher Akzentsetzung im Sinne des Reformprogramms. Andererseits aber enthält das ALR eine Kampfansage an die Wissenschaft. Es will den wissenschaftlichen "Subtilitätenkram" abschaffen, alle Rechtsverhältnisse und -fragen umfassend und lückenlos regeln, und es erhebt damit einen totalen Geltungsanspruch. So ist das Gesetz mit seinen 19.194 ParagraZur Lehrhaftigkeit dieses Gesetzbuchs vgl. Jan Sehröder (Fn 14), S. 42f. Zum folgenden vgl. Hans Hattenhauer, Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten von 1794, Textausgabe mit Einführung (1970), S. 30ff. 30
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phen zur umfangreichsten Kodifikation geworden, die es - bisher - in deutscher Sprache gegeben hat. Konsequent war es danach, daß eine Auslegung und Kommentierung des Gesetzes nicht gestattet war32. Kein Jurist sollte befugt sein, mit seiner zweifelhaften Fachartistik die angeblich klaren und unzweideutigen Regelungen des Gesetzes zu verfälschen. Rechtsprechung und Wissenschaft waren damit zum reinen "Gesetzesbüttel" erniedrigt. Die Wissenschaft hat diesen Angriff mit Arroganz und Nichtbeachtung beantwortet. Erst 1810 wurde der erste zivilrechtliche Lehrstuhl Preußens besetzt, und zwar mit Savigny, der dann erst 1819 wirklich Landrechtsvorlesungen anbot. In einem Brief kennzeichnet er das ALR als in Form und Inhalt eine Sudelei. Erst 1845 wurde eine Professur für preußisches Recht begründet. Daß der 100. Geburtstag des Gesetzes im Jahre 1894 nahezu resonanzlos an der juristischen Fachwelt vorüberging, ist sicherlich auch mit eine Spätwirkung dieses alten Trauma. 3. Nun wäre es zweifellos abwegig anzunehmen, daß arrogante Nichtbeachtung der einzige Beitrag der Wissenschaft zur Auseinandersetzung zwischen Gesetzgebung und Dogmatik gewesen wäre. So war es natürlich nicht. Selbstverständlich hat man die neue Problematik erkannt und sich ihr gestellt. Ich brauche nur den Namen Savigny zu nennen, um deutlich zu machen, was ich meine. Freilich wird die Bedeutung und Einstellung Savignys zu unserem Thema häufig verkannt, weil zu einseitig gesehen. Mit Savigny verbinden die meisten lediglich seine Auseinandersetzung mit Thibaut über die Schaffung eines deutschen Volksgesetzbuches. In seiner berühmten Programmschrift "Über den Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft" (1814) hat Savigny diesem Projekt bekanntlich eine entschiedene Absage erteilt. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. In seinem grundlegenden Werk über das "System des heutigen römischen Rechts" Band 1 (1840) § 13 findet sich demgegenüber eine eingehend begründete Theorie der Gesetzgebung33. Zunächst äußert sich Savigny in sehr gewichtigen Worten zur Bedeutung des Gesetzes im Rahmen des poisitiven Rechts. Das positive Recht, so durch die Sprache verkörpert, und mit absoluter Macht versehen, heißt das Gesetz, und dessen Aufstellung gehört zu den edelsten Rechten der höchsten Gewalt im Staat (S. 39).
Im folgenden entwickelt und begründet Savigny seine Forderung, das Gesetz solle sich auf Gebote beschränken und Belehrungen unterlassen. Darin ist zunächst nicht mehr enthalten als der alte, zum Beispiel bei Seneca 32 33
Vgl. ALR Ein!. §§ 47 - 50; Hattenhauer (Fn. 31), S. 36; Sehröder (Fn. 14), S. 44. Dazu Behrends (Fn. 13), S. 18 ff. ; 21 ff.
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überlieferte Satz Iex iubeat, non disputet34. Darüber hinaus versucht Savigny damit eine Aufgabenteilung zwischen Gesetzgebung und Dogmatik festzulegen. Er prägt in diesem Zusammenhang den Gegensatz zwischen dem politischen und dem technischen Element im Privatrecht. Mit "politisch" werden offenbar die Prinzipien der Rechtsordnung erfaßt, nach denen der Bürger lebt. "Technisch" dagegen ist dann die Tätigkeit des Fachjuristen, der die Rechtsverhältnisse und Rechtsinstitute handhabt, mit denen die realen Verhältnisse geregelt werden. 4. Das Verhältnis dieser Elemente zueinander ist nicht ganz klar; die Savigny-Interpreten sind sich da nicht einig3s. Behrends etwa hält es für verfehlt, wenn man das politische und das technische im Modell Savignys gegeneinander ausspielt. Anders sehen es Jakobs und Schröder. Nach ihnen hat Savigny den Gesetzgeber allein für den politischen Bereich als zuständig angesehen; er kann also nur politisch neues Recht setzen. Das "unermeßliche Detail" dagegen, dafür ist nicht der Gesetzgeber zuständig, sondern das ist Aufgabe des Fachjuristen. Oder wie es Jakobs36- wohl überscharf-formuliert hat: Wer Savigny folgt, muß die Wissenschaft aus der Politik und den Gesetzgeber aus der Wissenschaft verweisen, eine Konsequenz, die von Behrends wiederum entschieden bestritten wird. Eine Entscheidung über diese Kontroverse ist in diesem Referat nicht erforderlich. Einig sind sich jedenfalls alle darin, daß Savigny eine erste Lösung für das neu aufgetauchte Problem des Verhältnisses zwischen Gesetzgebung und Dogmatik entwickelt, daß er für die Dogmatik eine bestimmte wichtige Aufgabe reklamiert hat und daß ohne Savignys Konzept die dann folgenden Auffassungen Jherings und Windscheids nicht denkbar wären. Diese Auffassungen sind hier nicht näher darzulegen37. Jhering, dessen schöpferische Energie ihn zu immer neuenEinfällen trieb, hat den Rangunterschied zwischen niederer und höherer Jurisprudenz erfunden, niedere Jurisprudenz als die bloße Gebots- und Paragraphenkenntnis, höhere Jurisprudenz als die Kenntnis und Beherrschung der Dogmatik. Er sah darin auch den Gegensatz zwischen imperativem Gesetz und dogmatischem Institut, hat später allerdings eine sehr viel pragmatischere Theorie der Dogmatik vertreten. Windscheid, der an den grundsätzlichen Fragen seines Freundes Jhering weniger interessiert war, erkannte die wachsende Bedeutung der Gesetzgebung. Ein kleiner Beleg38: In seinem Lehrbuch des Pandektenrechts stellt er Behrends (Fn. 13), S. 18f. Im einzelnen dazu Behrends (Fn. 13), S. 26ff. 36 Horst Heinrich Jakobs, Wissenschaft und Gesetzgebung im bürgerlichen Recht nach der Rechtsquellenlehre des 19. Jahrhunderts (1983), S. 55. 37 Einzelheiten bei Behrends (Fn. 13), S. 23ff. 38 Angeführt von Jakobs (Fn. 36), S. 74ff. 34
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erstmalig seit der 4. Auflage (1875) das Rangverhältnis von Gewohnheitsrecht zum Gesetzesrecht um. Statt wie bisher dem Gewohnheitsrecht wird nunmehr dem Gesetzesrecht der erste Rang zugewiesen und dies mit deutlichen Worten hervorgehoben. -Es war dann auch Windscheid, der sich für die Arbeit in der Ersten Kommission zum BGB zur Verfügung stellte und damit dort die praktischen Erträge der historischen Schule einbrachte. 5. Dieser nur knappe und flüchtige Auszug aus dem Gedankengut der drei großen Privatrechtsgelehrten des 19. Jahrhunderts mußte gebracht werden, weil diese Männer das geistige Fundament gelegt haben, auf dem die dritte Kodifikation steht, die hier zu erwähnen ist, das BGB. Das methodische Konzept für das Gesetzbuch stammt aus der geistigen Werkstatt dieser Gelehrten, wie die Gesetzesverfasser offen bekannt haben. Das läßt sich belegen mit zahllosen Äußerungen in den Materialien39. So heißt es etwa im Gutachten der Vorkommission von 187440, der Gesetzgeber solle sich darauf beschränken, "seine Anforderungen in ihrer ursprünglichen unmittelbar praktischen Form aufzustellen". Für "die heutige Zeit" sei "die Grenze zwischen Gesetz und Wissenschaft ... klar festzuhalten und zu scheiden, was dem Gesetzgeber und was der Wissenschaft zukommt". Dementsprechend wird immer wieder hervorgehoben, der Gesetzgeber solle disponieren, nicht unterweisen, diese oder jene Regelung oder Definition sei der Wissenschaft und Praxis zu überlassen41. Am klarsten wird diese Auffassung aber natürlich durch eine Betrachtung des Gesetzes selbst. Es ist offensichtlich, daß das BGB - ganz anders als ein Aufklärungsgesetz wie das ALR - das Zivilrecht nur noch zu einem geringen Teil darstellen will. Es verzichtet von vornherein auf eine Erwähnung von Grundprinzipien wie allgemeine Rechtsfähigkeit, Vertragsfreiheit, Testierfreiheit. Ebenso werden Grundbegriffe wie Willenserklärung, Vertrag, Schaden, Verjährung, Bedingung und vieles andere mehr nicht definiert. Auch aus der juristischen Konstruktion hält man sich möglichst heraus, so bei der Erfüllung (Vertrag oder Realakt), Darlehen (Konsensual- oder Realvertrag) oder Vormerkung (dingliches Recht oder nicht). Im uninformierten Leser muß diese Abstinenz gelegentlich den Eindruck entstehen lassen, hier sei ein substantieller Verlust, ein Rückschritt zu verzeichnen. Man lese etwa die eingehenden Vorschriften des ALR über den Irrtum beim Rechtsgeschäft (I 4 §§ 75ff.)42. Dort wird alles detailliert geregelt bis hin zur Unbeachtlicheit des Motivirrtums (I 4 § 149: "Gibt bei WillenserZum folgenden vgl. Sehröder (Fn. 14), S. 46ff. Horst Heinrich Jakobs I Werner Schubert, Die Beratung des Bürgerlichen Gesetzbuchs, Materialien zur Entstehungsgeschichte des BGB (1978), S. 186ff., 193, 195. 41 Vgl. die Zusammenstellung bei Jakobs (Fn. 36), S. 136ft 42 Beispiel nach Sehröder (Fn. 14), S. 57ff. 39
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klärungen, woraus gegenseitige Rechte und Verbindlichkeiten entstehen, ein Irrtum im Beweggrunde dem Irrenden niemals das Recht, von seiner Erklärung wieder abzugehen"). Das BGB dagegen nennt- von Savigny beeinflußt -in §§ 119, 120 nur die drei Fälle des beachtlichen Irrtums (Inhalts-, Erklärungs- und Eigenschaftsirrtum). Die Unbeachtlichkeit des Motivirrtums wird vor allem deshalb nicht erwähnt, weil man dies für überflüssig hielt; die maßgebenden Anordnungen stehen ja bereits im Gesetz, und das reicht aus. -Es hat also zwischen ALR und BGB nicht ein Schwund an Dogmatik in der Irrtumslehre stattgefunden- ganz im Gegenteil-, sondern nur eine Selbstbeschränkung des Gesetzgebers. Das Gesetz ist jedenfalls ohne Dogmatik nicht zu verstehen, und daher trifft das Wort meines Göttinger Kollegen 0. Behrends vom Bündnis, das zwischen großer Gesetzgebung und Dogmatik geschlossen ist43, zweifellos das Richtige. 6. Drei kleine Zusatzbemerkungen: a) Man sagt häufig, das BGB sei wegen seiner abstrakten Begrifflichkeit für Studenten so schwierig. Dies ist sicherlich nur die halbe Wahrheit. Vor mindestens ebenso große Schwierigkeiten stellt den Studenten der Umstand, daß unkodifizierte Dogmatik in die Rechtsanwendung mit einbezogen werden muß, daß das Gesetz zahlreiche Begriffe und Regelungen nicht nennt, sondern stillschweigend auf den dogmatischen Unterbau verweist, den es selbst gar nicht darstellt44. b) Aus demselben Grund geht die landläufige Vorstellung, das BGB sei ein Erzeugnis des Gesetzespositivismus, an der Sache vorbei. Wie wir gesehen haben, ist das Gesetz von großer Zurückhaltung, es enthält zahlreiche Lücken, und es ist ohne Dogmatik gar nicht anwendbar. c) Wenn ich recht sehe, hat unsere Methodenlehre von dem eben geschilderten besonderen Gesetzgebungsstil, den das BGB einhält, nicht ausreichend Kenntnis genommen. Ich nenne als Beispiel nur die sogenannte Gesetzesanalogie. Nach allgemeiner Meinung setzt sie eine Gesetzeslücke voraus, das heißt eine planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes. Ich habe den Eindruck, daß man im Einzelfall bei der Feststellung einer solchen Lücke noch viel zu stark allein am positiven Wortlaut des BGB haftet und nicht, wie es nach dem eben Gesagten geboten ist, den dogmatischen Regel- und Begriffsapparat, den der Gesetzgeber mit einbeziehen wollte, ohne ihn darzustellen, mitberücksichtigt und dementsprechend erst dann zur Bejahung einer Lücke kommt, wenn auch dieser Apparat keine Auskunft gibt.
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Fn. 13, S. 9. Zutreffend Sehröder (Fn. 14), S. 56; ferner K. Schmidt (FN 29), S. 17ff.
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VI. Schlußbetrachtung
Damit sind wir im 20. Jahrhundert angelangt, und unsere historische Betrachtung des Verhältnisses von Gesetzgebung und Dogmatik nähert sich dem Ende. Man kann rückblickend resümieren, daß dieses Thema- wenn man in großen Zeiträumen denkt-, relativ jung ist, und man darf weiter feststellen, daß ungeachtet mancher Spannungen und Schwankungen bis 1900 immer eine produktive Verbindung zwischen Gesetzgebung und Rechtsdogmatik bestanden hat. Aber richtig ist auch, daß dieses Bündnis zwischen den beiden Bereichen in neuerer Zeit zunehmend gestört wird. Die Ursachen solcher Störungen zu ermitteln, dies würde Stoff für mehrere weitere Referate geben. Dem Rechtshistoriker wird zum Beispiel die geänderte Rolle der Parlamente auffallen. Auf der einen Seite der Reichstag, der sich um die Fassung des BGB nur wenig gekümmert hat und die Hauptarbeit den beiden, mit hervorragenden juristischen Fachleuten besetzten Kommissionen überlassen hat. Ganz anders die Tätigkeit etwa des heutigen Bundestags und Bundesrats mit ihren Ausschüssen bei zivilrechtliehen Gesetzesprojekten. Da ist dann letztlich, bei der Ausarbeitung der Details, trotzmancher vorheriger Beratung und Vorarbeit durch Beiräte usw., häufig nicht gerade der juristische Sachverstand am Werk. Wahrscheinlich hat der kluge Vorschlag Savignys viel für sich, daß der Gesetzgeber die rechtspolitischen Daten zu setzen hat (politisches Element) und die rechtliche Ausgestaltung dann lieber den juristischen Fachleuten überlassen sollte (technisches Element). Freilich wird sich auch die Zivilrechtswissenschaft fragen müssen, ob sie mit der notwendigen Geschlossenheit und Entschiedenheit für die Werte der Rechtsdogmatik eintritt. Auch da sind mehr als Zweifel angebracht, und vielleicht wäre es nötig, durch eine Art innerer Mission zunächst einmal für eine interne Besinnung und Stabilisierung zu sorgen. Das Referat, so muß ich abschließend bekennen, bestand großenteils aus Lücken und Fragen. Immerhin hat es vielleicht andeuten können, daß die Rechtsgeschichte nicht wenige Perspektiven bietet, die die gegenwärtige Situation zu verstehen und zu bewältigen helfen können. Ein leicht abgewandeltes Wort von Golo Mann soll am Schluß stehen: Sicherlich sollte man keine überschwengliche Hoffnung auf die belehrende Kraft der Geschichte setzen, aber man erwartet doch, daß der historisch informierte Jurist und Rechtspolitiker weniger Unheil anrichten wird als der historisch ahnungslose.
§§ 129, 129a StGB und der strafprozessuale Tatbegriff Ein Beitrag zur Wehrlosigkeit der Dogmatik*
Von Gerhard Fezer I. Der Terroristen-Fall und seine Problematik
Der Bundesgerichtshof! hatte im Jahre 1980 über folgenden Fall zu entscheiden, der aus Gründen der Übersichtlichkeit stark vereinfacht wiedergegeben wird: Die Angeklagte war von 1971 bis Mai 1972 Mitglied der "RAF", einer nach damaligem Recht "kriminellen Vereinigung" im Sinne des § 129 StGB (heute wäre § 129a StGB einschlägig) . Im Jahre 1974 wurde sie wegen Beteiligung als Mitglied an dieser Vereinigung in Tateinheit mit Urkundenfälschung, Widerstand gegen die Staatsgewalt u. a. zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Nach einigen Jahren geriet sie in Verdacht, im fraglichen Zeitraum ihrer Mitgliedschaft mittels einer Sprengstoffexplosion mehrere Menschen getötet zu haben, so daß die Staatsanwaltschaft wegen Mordes in Tateinheit mit Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion (§§ 211, 311, 52 StGB) Anklage erhob. Das Landgericht verurteilte die Angeklagte entsprechend dieser Anklage zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Mit der Revision rügte die Angeklagte einen Verstoß gegen Art. 103 111 GG: Da zwischen §§ 211, 311 , 52 StGB einerseits und§ 129 StGB andererseits Idealkonkurrenz bestehe, liege auch eine einzige Tat im prozessualen Sinne vor. Die Betätigung als Mitglied einer kriminellen Vereinigung sei aber bereits Gegenstand der rechtskräftigen Verurteilung im Jahre 1974 gewesen, so daß die Strafklage wegen der im Jahre 1972 wiederum in Ausübung dieser Mitgliedschaft begangenen Morde verbraucht sei. Der Bundesgerichtshof hatte also das Verfahrenshindernis des Strafklageverbrauchs zu prüfen, das durch Art. 103 111 GG Verfassungsrang erhalten hat. Voraussetzung ist, daß es sich jeweils um "dieselbe Tat" handelt. Eine Definition dieses Tatbegriffs enthält das Grundgesetz nicht. Der Grundgesetzgeber ging von einem prozessualen Tatbegriff aus, wie er im "vorverfassungsrechtlichen Gesamtbild" des Prozeßrechts, insbesondere in der Rechtsprechung unangefochten Geltung besaß2. • Unveränderte Wiedergabe der Vortragsfassung. BGHSt 29, 288; verfassungsrechtlich gebilligt BVerfGE 56, 22.
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In der Rechtsprechung findet sich hierzu die jahrzehntelang verwendete Begriffsbestimmung: Der Tatbegriff stellt auf einen nach natürlicher Lebensauffassung zu beurteilenden einheitlichen Lebensvorgang ab. Tat in diesem Sinne ist der geschichtliche - und damit zeitlich und sachverhaltlieh begrenzte - Vorgang, auf welchen Anklage und Eröffnungsbeschluß hinweisen und innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben solP. Grundlage dieses prozessualen Tatbegriffs ist seine prinzipielle Unabhängigkeit vom materiell-rechtlichen Tatbegriff4. Er erweckt den Eindruck, als ob ausschließlich faktische Bewertungen ("lebensnahe Betrachtung", "natürliche Einheit", "unnatürliche Aufspaltung eines einheitlichen Lebensvorgangs") dafür maßgebend seien, ob zwei Verhaltensweisen eine einzige Tat i.S.d. Prozeßrechts oder zwei Taten bildens. So ist es jedoch in Wirklichkeit nicht. Bei Anwendung dieses Tatbegriffs im konkreten Fall durch die Rechtsprechung selbst zeigt sich vielmehr, daß der prozessuale Tatbegriff innerlich abhängig ist von den materiell-rechtlichen Vorgaben6. Dies sei an einem einfachen RechtsprechungsbeispieF erläutert, bevor der Terroristen-Fall gelöst werden kann. II. Der Kraftfahrer-Fall als Parallele
Der Angeklagte hat zwei Monate lang jeden Tag einen Pkw im Straßenverkehr geführt, ohne im Besitz einer Fahrerlaubnis zu sein. Er wurde wegen fortgesetzten Fahrens ohne Fahrerlaubnis (§ 21 StVG) verurteilt. Nach Rechtskraft dieses Urteils stellt sich heraus, daß er eine Fahrt in diesem Zeitraum dazu benutzt hat, aus einem Kühlhaus 90 kg Pommes frites zu stehlen.
BVerfGE 56, 22 (28). Vgl. z. B. BGHSt 13, 320; 23, 141 (145); 32,215 (216); 35, 80 (81 f.); ferner Gollwitzer, in: Rieß (Hrsg.), Löwe I Rosenberg, Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz mit Nebengesetzen , Großkommentar, 24. Aufl. ab 1984, § 264 Rdnr. 3; Hürxthal, in: Pfeiffer (Hrsg.), Karlsruher Kommentar zur Strafprozeßordnung, 2. Aufl. 1987, § 264 Rdnr. 3; Kleinknecht I Meyer, Strafprozeßordnung, Gerichtsverfassungsgesetz, Nebengesetze und ergänzende Bestimmungen, 39. Aufl. 1989, § 264 Rdnr. 2 jeweils m.w.N. 4 Hürxthal, Karlsruher Kommentar (Fn. 3), § 264 Rdnr. 3; Kleinknecht I Meyer (Fn. 3), § 264 Rdnr. 6; Fezer, Strafprozeßrecht li, 1986, 18110ff. m.w.N.; für eine Anlehnung an den materiell-rechtlichen Tatbegriff dagegen: Herzberg, Ne bis in idem -zur Sperrwirkung des rechtskräftigen Strafurteils, JuS 1972, 113; Oeh/er, Die Identität der Tat, in: Festschrift für Rosenfeld, 1949, S. 139. s Vgl. die Nachweise bei Gol/witzer, Löwe I Rosenberg (Fn. 3), § 264 Rdnrn. 4ff.; Hürxthal, Karlsruher Kommentar (Fn. 3), § 264 Rdnr. 3; Kleinknecht I Meyer (Fn. 3), § 264 Rdnr. 2. 6 Vgl. Fezer (Fn. 4), 18124ff. ; Neuhaus, Der strafprozessuale Tatbegriff und seine Identität, MDR 1988, 1012ff. und 1989, 213ff. 7 BGH NJW 1981 , 997. 2
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Der Tathergang war dabei so, daß die Wegnahme mit dem Einladen des Diebesguts noch nicht vollendet war, vielmehr erst das Wegfahren zur Begründung des neuen Gewahrsams geführt hat. Da dieses Wegfahren gleichzeitig auch Teil der Tatbestandsverwirklichung des § 21 StVG war, bestand zwischen dieser Vorschrift und § 242 StGB materiell-rechtlich Tateinheit. D.h., die Handlung "Fahren mit einem Pkw" erfüllte gleichzeitig (wenigstens teilweise)§ 21 StVG und§ 242 StGB (= Teilidentität). Die Frage war nun, ob wegen des Diebstahls noch ein neues Verfahren möglich war. Der Bundesgerichtshof hat Strafklageverbrauch angenommens. Unter Heranziehung der traditionellen Definition hat er hervorgehoben, daß nach natürlicher Auffassung ein einheitlicher Lebensvorgang stets vorliege, wenn die zur Aburteilung stehenden Vorgänge materiell-rechtlich in Tateinheit stünden. Dies ist im Ergebnis richtig, jedoch stimmt die Begründung nicht9 • Bei Idealkonkurrenz liegt eine einzige Tat im prozessualen Sinne nicht deswegen vor, weil stets nach natürlicher Betrachtungweise auch ein einheitlicher Lebensvorgang angenommen werden muß, sondern weil es eine innere Abhängigkeit gibt zwischen dem materiell-rechtlichen und dem prozessualen TatbegriffiO. Das muß im einzelnen von der Struktur des Strafverfahrens her kurz begründet werden, sonst fehlt für die Lösung des Terroristen-Falles die dogmatische Grundlage. Ausgangspunkt ist§ 200 I StPO. Durch die Schilderung eines tatsächlichen Geschehens im Sinne des "Lebensvorgangs" in der Anklageschrift (die Tat, die ihm zur Last gelegt wird) legt die Staatsanwaltschaft den Gegenstand der künftigen gerichtlichen Untersuchung und Entscheidung fest. Daran ist das Gericht gern. §§ 155 I, 264 I StPO gebunden. Innerhalb des Rahmens der angeklagten Tat ist das Gericht jedoch gern. § 155 II StPO dazu berechtigt und verpflichtet, das angeklagte Geschehen selbständig und umfassend aufzuklären und das materielle Recht unter allen relevanten Gesichtspunkten anzuwenden, auch z. B. unter solchen, die in der Anklageschrift gar nicht erwähnt sind. Das kann zu erheblichen Veränderungen gegenüber der Anklage führen, insbesondere zur Einbeziehung von Tatsachen, die in der Anklageschrift nicht erwähnt sind. Wesentlich ist nur, daß Grundlage der Rechtsanwendung das in der Anklageschrift geschilderte Verhalten des Angeklagten bleibt. Die Struktur des reformierten Anklageprozesses ist also durch eine umfassende gerichtliche Kognitionspflicht auf der Grundlage eines angeklagten Lebenssachverhalts gekennzeichnet. Diese beinhaltet die Verpflichtung, die angeklagte Tat s BGH NJW 1981,997. 9 Vgl. Fezer (Fn. 4), 18/37, 40. w Fezer (Fn. 4), 18/24ff.
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vollständig und erschöpfend zu erledigenu. Nur so kann die spätere Rechtskraftwirkung verantwortet werden. Die Auswirkungen dieser Strukturüberlegungen für die Bestimmung des Tatbegriffs sollen am Beispiel des Fahrens ohne Fahrerlaubnis aufgezeigt werden. Das tatsächliche Geschehen, das der Anklageschrift zugrunde liegt, ist, daß A ein Kraftfahrzeug geführt hat. Die Staatsanwaltschaft hat dies unter dem materiell-rechtlichen Aspekt des § 21 StVG angeklagt. Behandeln wir zunächst diesen Aspekt isoliert: Wir haben es hier mit einer Dauerstraftat zu tun, d. h. die einmalige Tatbestandsverwirklichung kann längere Zeit andauern (Dauerstraftat als rechtliche Handlungseinheit)12. Die Rechtsanwendung durch das Gericht im Sinne einer umfassenden Kognitionspflicht verlangt nun, daß das Gericht selbständig die Ausdehnung bzw. die Dauer der Tatbestandsverwirklichung erforscht13. Auch das materiell-rechtliche Institut des Fortsetzungszusammenhangs verbindet mehrere natürliche Einzelhandlungen oder auch Dauerstraftaten zu einer rechtlichen Handlungseinheit14. Einzelakte einer fortgesetzten Handlung sind einer getrennten materiell-rechtlichen Würdigung nicht zugänglich, weil sie alle miteinander nur eine einzige Tatbestandsverwirklichung darstellen. Schon deswegen können sie prozessual keine verschiedenen Taten bildenl5. Würde sich nach Rechtskraft des Urteils herausstellen, daß A nicht nur zwei Monate, sondern ein ganzes Jahr ohne Fahrerlaubnis gefahren ist und daß alle Einzelfahrten in Fortsetzungszusammenhang stehen, wäre keine neue Anklage mehr möglich, weil die im Rechtssinne einzige Tatbestandsverwirklichung bereits Gegenstand eines Verfahrens war. Die Rechtsprechung hat dies im Ergebnis nie anders beurteilt16. Nur hat sie auch hier wieder primär darauf abgestellt, daß alle Teilakte nach natürlicher Auffassung eine Einheit bilden. Das ist im übrigen für sich genommen gar nicht so ohne weiteres einleuchtend. Daß die rechtliche Einheit unbedingt maßgebend ist für die prozessuale Tateinheit, läßt sich auch für den Fall der Idealkonkurrenz belegen: Die umfassende Kognitionspflicht bedeutet, daß der Richter das in der Anklageschrift geschilderte Verhalten unter allen in Betracht kommenden materiell-rechtlichen Aspekten würdigt, auch wenn die Voraussetzungen eines Tatbestandes nur teilweise im Anklagegeschehen enthalten sein sollten17 . Für das Führen
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Vgl. Fezer (Fn. 4), 18115ff. Stree, in: Schönke I Schröder, Strafgesetzbuch, 23. Aufl. 1988, vor §§ 52ff.
Rdnrn. 81ff. 13 Fezer (Fn. 4), 18121; Hürxthal, Kar!sruher Kommentar (Fn. 3), § 264 Rdnrn. 1, 10.
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Stree, in: Schönke I Sehröder (Fn. 12), vor§§ 52ff. Rdnr. 31. Fezer (Fn. 4), 18137f.; vgl. Neuhaus (Fn. 6), MDR 1988, 1014f., 1017. Vgl. die Nachweise bei Fezer (Fn. 4), 18139.
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des Kraftfahrzeugs im Sinne des§ 21 StVG bedeutet dies, daß diese Handlung z. B. - wenigstens teilweise - auch Wegnahmehandlung im Sinne des § 242 StGB sein kann. Insofern ist das Gericht verpflichtet, diese Norm anzuwenden und die für weitere Tatbestandsmerkmale notwendigen Feststellungen (etwa Zueignungsabsicht) zu treffen. Fahren ohne Fahrerlaubnis und Diebstahl sind in diesem Fall schon materiell-rechtlich keine zwei Taten, weil beide Tatbestände wenigstens teilweise durch dieselbe Handlung verwirklicht werden; weil das so ist, stellen sie auch prozessual keine zwei Taten darts. Auf die Art und Schwere des idealkonkurrierenden Tatbestandes kommt es dabei selbstverständlich nicht an. Die Kognitionspflicht gebietet es auch, das Fahren ohne Fahrerlaubnis z. B. unter dem Aspekt der Tötungsdelikte zu würdigen: Hat etwa der ohne Fahrerlaubnis Fahrende einen Menschen zu Tode gefahren, sind §§ 21 StVG und 222 StGB (oder § 211 StGB) durch ein und dieselbe Handlung verwirklicht, so daß deswegen auch nur eine einzige Tat im prozessualen Sinne vorliegt. Die Rechtsprechung hat dies im Ergebnis nie anders gewertet, allerdings mit der unzutreffenden Begründung, nach natürlicher Auffassung liege nur eine einzige Tat vor19. Im Ergebnis ist dem Bundesgerichtshof im Kraftfahrer-Fall zuzustimmen: Bei materiell-rechtlicher Tatidentität im Sinne des§ 52 StGB liegt stets auch eine Tat vor2o (von der Verfahrensstrukturher kann das nicht anders sein). Das ist die eine Erkenntnis, die festzuhalten ist. Die andere ist, daß der so bestimmte Tatbegriff in allen Verfahrenssituationen und Verfahrensstadien gleich bestimmt werden muß2I. Auch das ist im Ergebnis lange Tradition der höchstrichterlichen Rechtsprechung22. Im Kraftfahrer-Fall bedeutet dies: Stellt sich während der Hauptverhandlung heraus, daß der Angeklagte auch Diebesbeute abtransportiert hat, ist keine Nachtragsanklage im Sinne des § 266 StPO zu erheben, vielmehr gern. § 265 StPO auf die Veränderung des materiell-rechtlichen Gesichtspunktes hinzuweisen. Ferner: Ein paralleles Verfahren wegen Diebstahls vor einem anderen Gericht wäre unzulässig (Verfahrenshindernis der anderweitigen Rechtshängigkeit), weil die Wegnahmehandlung, nämlich das Fahren mit dem Pkw, bereits Gegenstand eines gerichtlichen Verfahrens ist. Und schließlich: Stellt sich nach rechtskräftiger Verur17 Vgl. Krauth, Zum Umfang der Rechtskraftwirkung bei Verurteilung von Mitgliedern krimineller und terroristischer Vereinigungen, in: Strafverfahren im Rechtsstaat, Festschrift für Theodor Kleinknecht, 1985, S. 215, 232. 18 Fezer (Fn . 4), 18/44. 19 BGH NJW 1981, 997; vgl. die Nachweise bei Fezer (Fn. 4), 18/44 und Neuhaus (Fn. 6), MDR 1989, 216 Fn. 51. 2o Fezer (Fn. 4) , 18/40, 63. 21 Fez er (Fn. 4), 18/23, 116ff. ; Hürxthal, Karlsruher Kommentar (Fn. 3), § 264 Rdnr. 2 m.w.N.; a. A. Peters, Strafprozeß, 4. Aufl. 1985, §§ 36 II, 50 II 4b, 54 II 3b; Büchner, Der Begriff der strafprozessualen Tat, Diss. Würzburg 1976, S. 112ff. , 159ff. 22 Vgl. die Nachweise bei Hürxthal, ebd.
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teilung wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis der Diebstahl heraus, dann darf dieser nicht mehr angeklagt werden, weil "dieselbe Tat" (auch im Sinne des Art. 103 111 GG) bereits Gegenstand eines Verfahrens war. Hieraus wird insbesondere deutlich: Der Begriff der Tat im Sinne des Art. 103 III GG muß derselbe wie in § 200 StPO und wie in §§ 155, 264 StPO, ferner wie im nicht normierten Verfahrenshindernis der anderweitigen Rechtshängigkeit sein23. Zwischen der gerichtlichen Kognitionspflicht und der Rechtskraftwirkung besteht ein innerer Zusammenhang: Das Gericht hat das Recht und die Pflicht, die angeklagte Tat in ihrer durch die StA vorgenommmenen Begrenzung umfassend zu erforschen. So gesehen muß der Beschuldigte "mit allem rechnen". Zum Ausgleich dafür wird er nach Rechtskraft des Urteils umfassend geschützt: Es darf nicht zu seinen Lasten gehen, wenn das Gericht - aus welchen Gründen auch immer - eine Strafbarkeitsmöglichkeit nicht gesehen hat. Daraus geht gleichzeitig hervor, daß die Kognitionspflicht abstrakt zu verstehen ist. D. h., für die Rechtskraftwirkung kommt es nicht darauf an, ob dem Gericht die weitere Strafbarkeitsmöglichkeit faktisch zugänglich war oder nicht24. Der Umfang der materiellen Rechtskraft folgt also aus der Festlegung des Tatbegriffs. Die dabei erzielten Ergebnisse sind als zwangsläufig hinzunehmen im Sinne der Intention dieser Verfassungsnorm, Rechtsfrieden und Rechtsruhe herbeizuführen. Daß das Rechtsgefühl im Sinne der verfehlten Einzelfallgerechtigkeit unter Umständen stark strapaziert wird, ist systemimmanent. Daher darf die sich aus der Anwendung des Art. 103 Ill GG ergebende Konsequenz nie korrigiert werden, weil sie dem Gerechtigkeitsempfinden zuwiderläuft25. Art. 103 Ill GG trägt den Ausgleich zwischen Rechtssicherheit und Einzelfallgerechtigkeit gleichsam schon in sich. Für den Kraftfahrer-Fall bedeutet dies: Auch eine Anklage wegen Mordes wäre nicht mehr zulässig, wenn sich nach rechtskräftiger Verurteilung wegen Fahrensohne Fahrerlaubnis herausstellen würde , daß diese Tathandlung auch gleichzeitig Tötungshandlung war. Auch insoweit hat die höchstrichterliche Rechtsprechung Tradition. Damit ist die Grundlage gebildet für die Lösung des Ausgangsfalles. 01. Die Lösung des Terroristen-Falles
Im Terroristen-Fall26 hat der Bundesgerichtshof zunächst einmal an sich zwischen § 211 StGB und § 129 StGB Idealkonkurrenz angenommen. Das 23 24 25
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Vgl. bereits oben Fn. 21. Vgl. Fezer (Fn. 4), 18/15ff. Vgl. Krauth (Fn. 17), S. 219, 227ff. BGHSt 29,288 = NStZ 1981,72 m.Anm. Rieß.
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läßt sich auch nicht anders beurteilen: Durch das Herbeiführen der Explosion, die die Tatbestände der§§ 311, 211 StGB erfüllt, hat sich die Angeklagte auch an der kriminellen Vereinigung gerade in Verfolgung von deren Zielen beteiligt. Die Definition dieses Tatbestandsmerkmals des§ 129 StGB lautet: "Wer sich unter Eingliederung in die Organisation deren Willen unterordnet und eine Tätigkeit zur Förderung der kriminellen Ziele der Vereinigung entfaltet" .27 Realkonkurrenz wäre nur dann möglich, wenn der Tatbestand des § 129 StGB auf Beteiligungsakte beschränkt wäre, die gerade nicht gleichzeitig andere Straftatbestände erfüllten. Wenn aber Idealkonkurrenz besteht, müßte unser Terroristen-Fall auf der Grundlage der bisher erarbeiteten Dogmatik des Tatbegriffs wie folgt gelöst werden: Ein neues Verfahren ist nicht mehr möglich, weil dje Tötungshandlung bereits Gegenstand eines rechtskräftig abgeurteilten Verfahrens war. Dabei ist daran zu erinnern, daß auch nach der Rechtsprechung die Verurteilung nach § 129 StGB den Verbrauch der Strafklage hinsichtlich aller Beteiligungsakte zur Folge hat28. Da der Beteiligungsakt 1972 nicht mehr verfolgbar ist, ist auch der mit ihr in Tateinheit stehende Mord nicht mehr verfolgbar. Ob dieser Mord gegenüber der Verwirklichung des § 129 StGB wesentlich schwerer wiegt, ist systematisch gesehen völlig unerheblich. So hat der Bundesgerichtshof den Fall aber nicht gelöst, sondern gerade anders herum: Einem Verfahren wegen Mordes stehe Art. 103 III GG nicht entgegen, weil es sich gegenüber der Verurteilung aus § 129 StGB nicht um dieselbe Tat handelt: "Der Grundsatz, daß eine sachlich-rechtlich einheitliche Tat auch eine Tat im Sinne des § 264 StPO bildet, findet hier keine Anwendung. "29 Die Hauptbegründung lautet: § 129 StGB sei mit seiner besonderen Struktur als Organisationsdelikt mit den normalen Dauerdelikten bzw. dem Institut des Fortsetzungszusammenhangs nicht zu vergleichen (dies wird noch eingehend zu erörtern sein). Von einem rechtskräftigen Urteil wegen § 129 StGB würden nur solche in Idealkonkurrenz stehenden Straftaten erfaßt, die keine höhere Strafandrohung als § 129 StGB selbst enthielten. Gegenüber § 129 StGB schwerere Straftaten könnten aber noch verfolgt werden, wenn sie tatsächlich nicht Gegenstand des früheren gerichtlichen Verfahrens wegen § 129 StGB waren. Eine andere Auffassung würde dem Gebot Lenckner, in: Schönke I Sehröder (Fn. 12), § 129 Rdnr. 13. Hürxthal, Karlsruher Kommentar (Fn. 3), § 264 Rdnrn. 19f. m.w.N. 29 BGHSt 29, 288 (293); zust. Rieß NStZ 1981, 72 (73); Gollwitzer, Löwe I Rosenberg (Fn. 3), § 264 Rdnr. 7; Hürxthal, Karlsruher Kommentar (Fn. 3), § 264 Rdnr. 8 sowie im Ergebnis Schlüchter, Das Strafverfahren, 2. Aufl. 1983, Rdnr. 363 und Werle, Konkurrenz und Strafklageverbrauch bei der mitgliederschaftliehen Beteiligung an kriminellen und terroristischen Vereinigungen, NJW 1980, 2671, kritisch dagegen Kühne, Strafprozeßlehre, 3. Aufl. 1988, Rdnr. 346.7. 27 28
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materieller Gerechtigkeit widersprechen3o. Allerdings müsse der Angeklagte im Ergebnis so gestellt werden, als wäre nur ein Strafverfahren gegen ihn durchgeführt worden. D. h., § 129 StGB dürfe jetzt nicht noch einmal angewendet werden, die früher verhängte Strafe wegen § 211 StGB müsse bei einer Verurteilung wegen § 211 StGB (oder wenigstens bei der Vollstreckung) berücksichtigt werden31. Außerdem bleibe es bei dem Grundsatz, daß im Hinblick auf die materiell-rechtliche Tateinheit ein Verfahren wegen§ 211 StGB parallel neben einem Verfahren wegen§ 129 StGB nicht zulässig sei32. Vergleichen wir diese Begründung mit der bisher erarbeiteten und in der Rechtsprechung selbst in langer Tradition entwickelten Dogmatik des prozessualen Tatbegriffs, dann müssen wir erleben, daß das dogmatische Gebäude "eingestürzt" ist. Insbesondere soll nicht mehr gelten: - daß bei materiell-rechtlicher Tateinheit stets auch prozessuale Tateinheit angenommen werden muß; - daß ein einheitlicher Tatbegriff in der Rechtshängigkeits- und Rechtskraftsituation gilt; - daß die Kognitionspflicht abstrakt zu bestimmen ist (vielmehr soll die Rechtskraftwirkung davon abhängen, ob die zusätzliche Straftat tatsächlich Gegenstand des früheren Strafverfahrens war); - daß ein dem Rechtsgefühl widersprechendes Ergebnis der Rechtskraftwirkung nicht mit dem Hinweis auf das Gebot materieller Gerechtigkeit korrigiert werden darf; - daß ein Tatbestand, der in Idealkonkurrenz steht (hier§ 129 StGB), angewendet werden muß, d. h. seine Anwendung nicht untersagt werden kann. Kurz und gut: Die Anwendung des § 129 StGB hat dazu geführt, daß die Dogmatik des Tatbegriffs zerschlagen wird. Wenn ich nun begründen könnte, daß der Bundesgerichtshof dieses Ergebnis hätte vermeiden müssen, das eigentlich richtige Ergebnis also verfehlt hat, dann hätte sich dieses Thema als Vorlesungsbeitrag in dieser Reihe kaum gelohnt. Denn die andere Lösungsmöglichkeit- Strafklageverbrauch und Rechtskraftwirkung- ist, wie zu zeigen sein wird, genauso systemwidrig und rechtsstaatlich nicht akzeptabel. Ein anerkannter Experte des Strafprozeßrechts hat anläßtich dieser BGHEntscheidung, deren Ergebnis er grundsätzlich billigt, formuliert: Die Rechtsfortbildung "muß sich nicht kritiklos in das Prokrustesbett dogmatischer Vorgaben zwingen lassen".33 Dieses Bild ist von vornherein schief: Prokrustes hat
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BGHSt 29, 288 (295f.). BGHSt 29, 288 (297f.), insoweit zustimmend Rieß NStZ 1981, 72 (75). BGHSt 29, 288 (297), insoweit kritisch Rieß NStZ 1981 , 72 (75). Rieß, NStZ 1981, 72 (74).
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die Menschen, die nicht exakt in das vorhandene Bett paßten, zwangsweise gekürzt oder gestreckt. Dem Tatbestand des § 129 StGB ist aber derlei Mißhandlung nicht widerfahren. Niemand hat ihn gehindert und konnte ihn auch nicht hindern- um im Bild zu bleiben-, sich in seiner monströsen Übergröße in ein Bett zu legen, das für ihn von vornherein zu klein war: Nicht er wurde zurechtgestutzt, vielmehr hat er sich in diesem Bett zwangsweise den Platz verschafft, den er brauchte. Er konnte sich unversehrt wieder erheben und zurück blieb ein sichtbar demoliertes Bett. Damit wären wir beim Kern der Problematik oder bei der Wurzel des Übels angelangt: beim Tatbestand des§ 129 StGB . Er ist in mehrfacher Hinsicht singulär. Auf die nahezu uferlose Ausdehnung der Strafbarkeit in den Merkmalen des "Unterstützens" und des "Werbens" kann ich von vornherein nicht eingehen34. Allein die hier einschlägige Tatbestandsalternative "als Mitglied beteiligen" ist einzigartig und ohne Vorbild im StGB. Der Bundesgerichtshof versucht, dieses Tatbestandsmerkmal mit der Bezeichnung "Organisationsdelikt" von anderen Dauerstraftaten abzugrenzen: Ein tatbestandsrelevanter Teilnahmeakt könne in einer irgendwie gearteten Tätigkeit für die Zwecke der Vereinigung bestehen. Eine fortwährende Betätigung werde nicht vorausgesetzt. Lange Zeiten der Nichtbetätigung könnten dazwischenliegen, so daß sich Strafbarkeit über Jahre erstrecken könne. Die Täterschaft selbst verwirkliche sich in völlig unterschiedlichen Verhaltensweisen, die z. T. nur gegen § 129 StGB, z. T. aber auch gegen andere Strafnormen verstoßen könnten. Solche Straftaten könnten ihrer Zielrichtung nach völlig unterschiedlich sein: Sie könnten den Zielen der Vereinigung entsprechen, diese lediglich vorbereiten, sie könnten die Organisation aufrecht erhalten, Mitglieder schützen etc. 35 . Dies alles ist zutreffend gesehen. Der Tatbestand vereinigt so verschiedenartige, weder räumlich noch zeitlich, weder nach Ausführung noch nach Rechtsgutsverletzung noch nach Planung des Täters eingrenzbare Verhaltensweisen, wie dies in sonstigen Fällen strafrechtlicher Zusammenfassung natürlicher Handlungen, also auch bei der normalen Dauerstraftat oder beim Fortsetzungszusammenhang prinzipiell nicht der Fall ist. Auf einen solchen Tatbestand ist die Struktur unseres Strafverfahrens - wie oben erläutert nicht zugeschnitten: Die allseitige Kognitionspflicht des Gerichts, die in der 34 Vgl. hierzu v. Bubnoff, in: Jescheck I Ruß I Willms (Hrsg.), Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, 10. Aufl. Berlin ab 1978, § 129 Rdnm. 17f. ; Lenckner, in: Schönke I Sehröder (Fn. 12), § 129 Rdnrn. 14f. ; Rudolphi, in: Rudolphi I Horn I Samson, Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 2, Besonderer Teil, 4. Aufl. ab 1976 (Stand Jan. 1989), § 129 Rdnrn. 17ff. 35 BGHSt 29, 288 (294); ebenso BVerfGE 56, 22 (33) ; vgl. ferner v. Bubnoff, in: Leipziger Kommentar (Fn. 34), § 129 Rdnr. 16; Lenckner, in: Schönke I Sehröder (Fn. 12), § 129 Rdnr. 13; Rudolphi, in: Systematischer Kommentar (Fn. 34), § 129 Rdnr. 16.
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Anklageschrift geschilderte Handlung des Angeklagten unter allen in Betracht kommenden materiell-rechtlichen Gesichtspunkten zu würdigen und abzuurteilen, setzt eine gegenständliche und zeitliche Begrenzung voraus. Die Aburteilung muß strukturell möglich gewesen sein, sonst könnte die einschneidende Folge des Strafklageverbrauchs nicht eintreten. Die Anwendung des§ 129 StGB beinhaltet eine gerichtliche Verpflichtung, nach jeder Richtung und nahezu ohne jede Begrenzung- allein orientiert am Ziel und am Zweck der Vereinigung- nach strafbarem Verhalten zu forschen. Da folglich der Verfahrensgegenstand so ungenau festgelegt und umgrenzt ist wie nirgends sonst (also auch nicht bei den Dauerstraftaten und der fortgesetzten Handlung), wird die Struktur des reformierten Strafprozesses ad absurdum geführt. Insbesondere würde der Rechtskraftwirkung die innere Legitimation fehlen, weil diese von einer prinzipiell erfüllbaren Kognitionspflicht ausgeht. Der Vorrang der Rechtssicherheit vor der Realisierung der Einzelfallgerechtigkeit kann nicht mehr akzeptiert werden, wo tatbestandlieh vorprogrammiert ist, daß Strafbarkeit unentdeckt bleibt. Mit anderen Worten: Solche Tatbestände dürfte es nicht geben, weil sie im Verfahren nicht angewendet werden können, ohne daß die Verfahrensstruktur zerbricht, und zwar so oder so ( d. h. mit Rechtskraftwirkung oder ohne). Die tatsächliche Anwendung läßt sich aber solange nicht vermeiden, wie solche Tatbestände mit dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz vereinbar sind. Mein Beitrag zur Ringvorlesung besteht also darin, aufzuzeigen, daß der materiell-rechtliche Gesetzgeber bei der Verwirklichung seiner kriminalpolitischen Vorstellungen - insbesondere bei der Ausdehnung der Strafbarkeit auf die Verfahrensstruktur und insbesondere die Dogmatik des Tatbegriffs Rücksicht zu nehmen hat, insofern also nicht frei ist. Sonst wären wir wieder beim Inquisitionsprozeß angelangt mit der Uferlosigkeit der Strafverfolgung und dem Fehlen materieller Rechtskraft. Das sind Schranken für die rechtspolitische Zielsetzung, die bisher zu wenig beachtet worden sind. IV. Die Entstehung der§§ 129, 129a StGB Sie werden fragen, warum der Gesetzgeber diese Schranken so einfach ignoriert hat. Er hatte bei Schaffung und Formulierung dieser Tatbestände keinerlei Problembewußtsein. Während § 129a StGB als Qualifikationstatbestand erst 1976 in das Strafgesetzbuch kam36, hat § 129 StGB eine längere Geschichte. In der Fassung von 1871 bezieht sich die Vorschrift (wie ihre Vorgänger im 18. und 19. Jahrhundert auch)37 allein auf staatsfeindliche politische Durch das sog. Anti-Terrorgesetz vom 18. 8. 1976 (BGBl. I 2181). Vgl. hierzu Gräßle-Münscher, Der Tatbestand der kriminellen Vereinigung(§ 129 StGB) aus historischer und systematischer Sicht, Diss. München 1982, S. 3ff. 36
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Verbindungen, gehörte also zum reinen Staatsschutzstrafrecht (Beispiele: Verfolgung von Studentenverbindungen, Gewerkschaften, Sozialdemokraten, Kommunisten etc.). Im 1. Strafrechtsänderungsgesetz von 195138 wurden solche Vereinigungen von einem neuen Staatsschutzstraftatbestand erfaßt (§ 90a StGB a. F. ). Gleichzeitig wurde § 129 StGB - erstmals in der Strafrechtsgeschichte - zu einem Straftatbestand gegen kriminelle Vereinigungen umfunktioniert, weil er sonst keinen Regelungsinhalt mehr gehabt hätte39 (Vorbild: Entwurf eines Deutschen Strafgesetzbuches von 1936). Als Motiv des damaligen Gesetzgebers läßt sich nur eruieren, daß ein lückenloses System von Organisationstatbeständen geschaffen werden sollte (besondere Gefahren, die im planmäßigen Organisieren strafbarer Handlungen lägen). Die Tatbestandsalternative "beteiligen als Mitglied" wurde aus dem tradierten Staatsschutztatbestand gedankenlos mitübernommen. Durch die Änderung des Vereinigungscharakters (statt staatsfeindlicher Vereinigung jetzt kriminelle Vereinigung) erhielt dieses Tatbestandsmerkmal nebenbei ebenfalls einen anderen Charakter; das Zusammentreffen mit anderen Straftatbeständen war nun zwangsläufig. § 129 StGB spielte bis zum Ausbrechen der RAP-Kriminalität praktisch nur eine sehr geringe Rolle. Als sich in den 70er Jahren dann zeigte, daß die terroristischen Aktivitäten durch strafrechtliche Verfolgungen mit bisherigen Tatbeständen nicht gestoppt werden konnten, sie vielmehr immer häufiger und intensiver wurden, hat der Gesetzgeber 1976 in§ 129a StGB einen Qualifikationstatbestand geschaffen, der eine gegenüber § 129 StGB erhöhte Strafdrohung vorsah, wenn Ziel der terroristischen Vereinigung besonders schwere Verbrechen waren. In der Gesetzesbegründung heißt es: Damit solle der besonderen Gefährlichkeit dieser Banden für die innere Sicherheit der Bundesrepublik und das Funktionieren des Rechtsstaats Rechnung getragen werden. Vor allem sollten Personen im Umfeld ("Dunstkreis") der Organisation, also Sympathisanten und Unterstützer, abgeschreckt werden4o. Da dieses Ziel offensichtlich mit diesem Mittel wiederum nicht erreicht werden konnte, wurde 1986 § 129a StGB hinsichtlich der Tatbestandsalternativen "Gründen der Vereinigung" und "als Mitglied beteiligen" sogar zum Verbrechen hochgestuft41. Von den besonderen Problemen der Anwendung dieser Tatbestandsalternative im Strafverfahren war bei allen Änderungen nicht die Rede. Insbesondere hat seit 1951 niemand plausibel machen können, warum die blindlings übernomGesetz vom 30. 8. 1951 (BGBI. I 739). Vgl. Gräßle-Münscher (Fn. 37), S. 42ff., insbes. S. 47ff., 63ff. 40 Vgl. BT-Drucks. 7/3661; 7/3729; 7/4005, sowie v. Bubnoff, in: Leipziger Kommentar (Fn. 34), § 129a Rdnr. 1 m.w.N . 41 Gesetz zur Bekämpfung des Terrorismus vom 19. 12. 1986 (BGBI. I 2566). 38 39
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mene Tatbestandsalternative "beteiligen als Mitglied" auch für solche Mitglieder gelten muß, die durch ihre Betätigungshandlungen gleichzeitig andere Strafgesetze verletzen42. Soviel zur materiell-rechtlichen Ursache des Schadens, den die strafprozessuale Dogmatik des Tatbegriffs erlitten hat. Das sind im übrigen nicht die einzigen negativen Auswirkungen dieser Vorschriften im Strafverfahren. Allein ihre Existenz kann zu einem Strafklageverbrauch größten Umfangs führen. Wenn auch nur ein einzelner Beteiligungsakt oder eine einzelne mit § 129a StGB idealkonkurrierende Straftat isoliert zum Gegenstand eines gerichtlichen Strafverfahrens gemacht wird, tritt gerade nach Auffassung der Rechtsprechung mit Rechtskraft eines solchen Urteils Strafklageverbrauch in großem Umfang ein43. Alles, was sich später an mitgliedschaftliehen Beteiligungshandlungen herausstellt, darf nicht mehr angeklagt werden. Diese Gefahr des Strafklageverbrauchs führt in der Praxis zu umfassenden Ermittlungen mit der Folge einer außerordentlich großen Stoffülle des gerichtlichen Verfahrens und einer überlangen Verfahrensdauer, was zum Teil wieder die Grenzen der Belastbarkeit des Angeklagten und der Strafgerichtsbarkeit sprengt. Eine Ausklammerung der§§ 129, 129a StGB durch Anwendung des § 154a StPO würde am Verbrauch der Strafklage nichts ändern44. Noch einmal ganz deutlich: Ein kurzer und inhaltlich stark begrenzter Prozeß, etwa wegen Mordes, kann nur um den Preis des Strafklageverbrauchs bzgl. aller krimineller Aktivitäten des jeweils Angeklagten durchgeführt werden, ferner nur um den Preis, daß die Vorschriften der Strafprozeßordnung45 und des Gerichtsverfassungsgesetzes (vor allem §§ 120, 142a GVG: Zuständigkeit des Oberlandesgerichts und des Generalbundesanwalts!), die an § 129a StGB anknüpfen, nicht anwendbar sind. V. Abhilfe de lege ferenda
De lege lata ist das Problem der Anwendung der §§ 129, 129a StGB also nicht lösbar. Die Frage ist nun, ob sich ein Ausweg de lege ferenda anbietet. An Vorschlägen hat es in den vergangeneo Jahren nicht gefehlt. Es verwundert nicht, daß sie durchweg den Hebel im Strafprozeßn!cht ansetzen, das 42 Nur die Strafrechtskommission des Deutschen Richterbundes hat - ohne jede Resonanz- vorgeschlagen, diese Tatbestandsalternative auf die Fälle zu begrenzen, in denen der Beteiligungsakt nicht gleichzeitig unter andere Straftatbestände fällt; vgl. Grünwald, Der Verbrauch der Strafklage bei Verurteilungen nach den §§ 129, 129a StGB, in Festschrift für Paul Sockelmann zum 70. Geburtstag, 1979, S. 737, 749. 43 Vgl. näher Grünwald (Fn. 42), S. 738- 747. 44 Vgl. Rieß, Löwe I Rosenberg (Fn. 3), § 154a Rdnrn. 43ff. 45 Vgl. §§ 103 I 2, 111 I, 112 III, 138a II, 148 II, 148a, 163d StPO, ferner §§ 31ff. EGGVG.
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offenbar solange zurechtgebogen werden soll, bis die Anwendung des § 129a StGB zu keinem Strafklageverbrauch mehr führt. Es ist also eindeutig die Dogmatik, die ins Prokrustesbett gezwungen werden soll. Ich kann in aller Kürze nur drei Modelle vorstellen: 1. Durch gesetzliche Fiktion soll erreicht werden, daß bei an sich vorliegender Tateinheit etwa zwischen § 129 StGB und einem anderen Straftatbestand materiell-rechtlich oder prozessual zwei Taten angenommen werden können46. Das lautet etwa so: § 52 StGB gilt hier nicht ... Oder: § 264 StPO soll durch einen Zusatz ergänzt werden, daß mehrere Taten vorliegen, wenn ... Daß solche Normen unsinnig wären, braucht gar nicht erst dargelegt zu werden.
2. Es wird versucht, die gerichtliche Kognitionspflicht von vornherein zu begrenzen: So schlägt etwa Krauth vor47: Ein neues Verfahren sei zulässig, wenn die nachträglich bekanntgewordene Tatbestandsverwirklichung nicht tatsächlich Gegenstand des früheren Verfahrens war. Dann würde auch beim Angeklagten kein Vertrauensverlust eintreten, wenn ein weiteres Verfahren stattfindet. Der Urheber dieses zunächst für§ 129 StGB entwikkelten Vorschlags denkt aber darüber nach, ob eine solche konkrete Kognitionspflicht nicht auch auf andere Dauerdelikte und Fortsetzungstaten übertragen werden sollte. Ein ähnlicher Vorschlag48 regt die Änderung des § 264 StPO wie folgt an: "Gegenstand der Urteilstindung ist die in der Anklage bezeichnete Tat . . . , soweit das Gericht sie in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht zu würdigen in der Lage war." Mit solchen Vorschlägen wird indes die Systemverbiegung verstärkt, d.h. auf alle Fälle der rechtlichen Einheit ausgedehnt (also über§ 129 StGB hinaus). Demgegenüber ist noch einmal darauf hinzuweisen, daß das System des reformierten Strafverfahrens unbedingt auf einer abstrakten Kognitionspflicht aufbaut. Nach diesen Vorschlägen wäre auch im Autofahrer-Fall eine neue Anklage wegen Diebstahls möglich. Mit der jahrzehntelang höchstrichterlichen Rechtsprechung stünde dies nicht im Einklang; einer Rechtsprechung im übrigen, die der Grundgesetzgeber genau erkannt hat und die Grundlage des Art. 103 III GG geworden ist49.
46 Vgl. BT-Drucks. 8/976, S. 100; Sack, Beschleunigung von Strafverfahren, ZRP 1978, 72; w. N. bei Grünwald (Fn. 42), S. 749f., 752. 47 Krauth (Fn. 17), S. 215, 229ff. 48 Sack, Kürzerer Strafprozeß - eine Aufgabe für den Gesetzgeber, ZRP 1976, 257, 259. 49 Die Durchbrechung des strafprozessualen Systems durch die Rechtsprechung zu § 129 StGB wirkt "ansteckend". Schon hat das OLG Hamm sich berechtigt gefühlt, in einem bisher überhaupt nicht für problematisch gehaltenen Fall der Idealkonkurrenz zwischen einem Dauerdelikt und einem weiteren Straftatbestand ebenfalls "ausnahmsweise" zwei Taten im prozessualen Sinn anzunehmen (OLG Hamm NStZ 1986, 278
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3. Rebmannso und andere SI schlagen eine sogenannte Vorab- und Ergänzungsklage vor. So soll etwa § 155 StPO wie folgt ergänzt werden: "Die StA kann einzelne abstrakte Teile einer Tat oder einzelne von mehreren Gesetzesverletzungen vorab anklagen und sich die Verfolgung der übrigen Teile der Tat oder der übrigen Gesetzesverletzungen vorbehalten." So kann man aber mit Art. 103 111 GG nicht umgehen. Wenn die Vorabklage zu einem vollstreckungsfähigen Urteil führt (und sonst hätte sie gar keinen Sinn), dann bedeutet die Ergänzungsklage, daß wegen derselben Tat noch einmal eine Strafverfolgung stattfindet. Daß bei der zweiten Bestrafung die erste Bestrafung voll berücksichtigt werden soll, ändert nichts daran, weil Art. 103 III GG zum Schutz des Beschuldigten vor entsprechenden Belastungen bereits die Einleitung und Durchführung eines weiteren Verfahrens verbietet. Gegen das Gebot der Rechtssicherheit verstoßen würde auch die unter Umständen jahrzehntelange Ungewißheit, ob sich ein weiteres Verfahren anschließen wird. Fazit: Auch durch Gesetzesänderungen ist der Systembruch im Strafverfahren, zu dem die Anwendung des § 129 StGB führen kann, nicht zu vermeiden52, im Gegenteil, er würde nur noch verstärkt werden. Was also bleibt allein übrig? Da die§§ 129, 129a StGB offenbar nicht angewendet werden können, ohne daß die Struktur des Strafverfahrens zerbricht, müssen sie beseitigt werden. Sie gehören in den Inquisitionsprozeß, nicht in den reformierten Anklageprozeß. Die Strafbarkeilslücken werden sich m. E. in Grenzen halten. Ob diese Vorschriften bisher eine effektive Bekämpfung und Verfolgung von terroristischen Straftätern ermöglicht haben, läßt sich ohnedies nicht nachweisen. Insbesondere muß die vom Gesetzgeber so stark hervorgehobene Abschreckungswirkung bezweifelt werden53. m.Anm. Puppe JR 1986, 203 ; Neuhaus NStZ 1987, 138; Grünwald StV 1986, 241). Dort war der Angeklagte wegen "unerlaubten Waffenbesitzes" verurteilt worden. Nachträglich stellte sich heraus, daß er mit der fraglichen Waffe in der fraglichen Zeit einen Menschen töten wollte. Das OLG Hamm nahm trotz Idealkonkurrenz keinen Strafklageverbrauch an, hielt also ein neues Verfahren wegen Mordversuchs für zulässig mit der Begründung: "Hier, wo es um die Frage geht, ob die Verurteilung wegen des Dauerdelikts der Ausübung der tatsächlichen Gewalt über eine Waffe automatisch auch Strafklageverbrauch wegen einer mit dieser Waffe begangenen Straftat, insbesondere eines Tötungsverbrechens bewirkt, kann das Ergebnis nicht anders sein als bei der Entscheidung des BGH, deren Lösungsansatz sich nicht auf das Organisationsdelikt der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung beschränken läßt." Der 4. Strafsenat des BGH hat ebenfalls erwogen, die Rechtsprechung auf andere Fallgruppen zu erstrecken, diese Frage aber letztlich offengelassen (vgl. BGH NJW 1989, 1810). 5° Der Rebmann-Entwurf ist nicht veröffentlicht; vgl. Grünwald (Fn. 42) , S. 753. 51 Vgl. die Vorschläge des Deutschen Richterbundes, in: Das Parlament vom 21. 1. 1978; Lemke, Probleme der strafprozessualen Vorab- und Ergänzungsklage, ZRP 1980, 141. 52 Vgl. auch Grünwald (Fn. 42), S. 757.
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In dieser Situation habe ich mich umgesehen, wer eine ähnliche Auffassung vertritt. Dabei bin ich auf einen Entwurf eines Gesetzes zur ersatzlosen Streichung der§§ 129, 129a StGB aus dem Jahre 1984 gestoßens4. Begründet wird diese Forderung allerdings nicht mit der Struktur des Strafverfahrens, sondern mit allgemeinen rechtsstaatliehen Gründen, vor allem hinsichtlich der Tatbestandsalternative "unterstützen" und "werben", ferner mit der Nutzlosigkeit dieser Normen. Ich mache mir dagegen Sorgen um die strafprozessuale Dogmatik, die für sich genommen auch von besonderer rechtsstaatlicher Bedeutung ist. Sie hat sich gegenüber diesen Tatbeständen als wehrlos erwiesen und muß daher geschützt werden.
53 Skeptisch auch Ostendorf, Kommentar zum Strafgesetzbuch, Reihe Alternativkommentare, hrsg. von Wassermann, Bd. 3, 1986, § 129 Rdnrn. 6ff. 54 Vgl. den Gesetzesentwurf der Bundestagsfraktion der Grünen, BT-Drucks. 10/ 2396; zustimmend Ostendorf(Fn. 53),§ 129 Rdnr. 9.
Prozeßkostenhilfe und Prozeßkostenvorschuß Von Dirk Olzen I. Die Aufgabe Prozeßkostenhilfe und Prozeßkostenvorschuß sind zwei verschiedene rechtliche Instrumente, die einen gemeinsamen Hintergrund und eine gemeinsame Zielsetzung haben: Der Hintergrund besteht darin, daß Rechtstreitigkeiten hohe Kosten verursachen, verfolgt wird das Ziel, den prinzipiell gleichen Zugang zu den Gerichten unabhängig von den finanziellen Verhältnissen zu garantieren. Ich möchte mit meinem u. a . Vortrag deutlich machen, wie im Laufe dieses Jahrhunderts mit rechtsdogmatischen Mitteln ein rechtspolitisches Ziel erreicht worden ist, die Verlagerung der Prozeßkosten vom Staat auf die Familie. Dabei wird sich zeigen, daß dadurch die Situation des Unterhaltsberechtigten in vielen Fällen unerträglich geworden ist. II. Das geltende Recht 1. Das BGB regelt den Prozeßkostenvorschuß in zwei Normen, die 1957 durch das Gleichberechtigungsgesetz eingeführt wurden, die§§ 1360a Abs. 4 und 1361 Abs. 4. § 1360a Abs. 4 BGB lautet: "Ist ein Ehegatte nicht in der Lage, die Kosten eines Rechtsstreites zu tragen, der eine persönliche Angelegenheit betrifft, so ist der andere Ehegatte verpflichtet, ihm diese Kosten vorzuschießen, soweit dies der Billigkeit entspricht". Hierauf verweist§ 1361 BGB für die Zeit der Trennung zwischen den Ehegatten. Allen sonstigen Unterhaltsvorschritten fehlt eine entsprechende Regelung.
2. Die Prozeßkostenhilfe ist in den§§ 114ff. ZPO geregelt, in der heutigen Form seit 1981. § 114 Satz 1 ZPO macht sie u. a. davon abhängig, daß der Antragsteller nach seinen wirtschaftlichen Verhältnissen außerstande ist, die Kosten der Prozeßführung zu tragen. § 115 ZPO bestimmt, welche Einkünfte und Vermögenswerte zur Beurteilung der wirtschaftlichen Verhältnisse heranzuziehen sind. Bei allen dogmatischen Streitigkeiten, die es im Bereich des Prozeßkostenhilfeverfahrens gibt, herrscht über einen Punkt Einigkeit: Soweit eine bedürftige Partei einen Anspruch auf Prozeßkostenvorschuß hat, ist sie von der Prozeßkostenhilfe ausgeschlossen. Die staatliche Prozeßfinanzierung wird damit als subsidiär im Verhältnis zu derjenigen durch den Unterhalts-
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pflichtigen angesehen. Dieser Satz wird weder in Frage gestellt, noch näher begründet. 111. Kritische Analyse der historischen Entwicklung Um den Interessenwiderstreit zwischen Staat, Unterhaltsverpflichteten und Rechtsuchenden besser verstehen zu können, ist es interessant, auf die Entwicklung des früheren Armenrechtes bis zur heutigen Prozeßkostenhilfe einzugehen, ferner auf die Entwicklung des Unterhaltsrechtes unter dem speziellen Konkurrenzaspekt. Dabei zeigt sich, daß die heute diskutierten Fragen nicht neu sind, teilweise jedoch in der Vergangenheit anders beurteilt wurden. Vor allem macht der Blick auf die geschichtliche Entwicklung des Armenrechtes deutlich, daß ein wesentlicher Gesichtspunkt zu allen Zeiten darin bestand, einerseits der armen Partei Rechtsschutz zu gewähren, andererseits jedoch Mißbräuche zu vermeiden und die Kosten gering zu halten. 1. Der Ursprung unseres Armenrechtes ist im canonischen Recht begründet. Dort konnte die ursprünglich vollständige Unentgeltlichkeitl nicht aufrecht erhalten werden. Als aber die Kirchengerichtsbarkeit Gebühren erhob, traf sie gleichzeitig eine Regelung, wonach Arme hiervon befreit waren. Auch beigeordnete Anwälte erhielten kein Honorar2 • Außerdem bildete das Kirchenrecht im 14. Jahrhundert das Institut des sog. Armenanwaltes aus. Der Arme erhielt allerdings keinen Anspruch auf Zugang zum Gerichtsverfahren, sondern man gewährte das Armenrecht aus dem Gedanken der misericordia, der Barmherzigkeit gegenüber dem Schwachen3.
2. Ein Meilenstein der Entwicklung findet sich in den verschiedenen Reichskammergerichtsordnungen des 15. und 16. Jahrhunderts. Hier entstanden die Grundlagen für viele spätere Jahrhunderte. Neu war die Forderung nach einem dreifachen Eid des Rechtsuchenden: Über seine Bedürftigkeit - die er später durch Urkunde belegen mußte4 - darüber, daß er sie nicht mutwillig herbeigeführt hattes, und schließlich der Schwur, die Gerichts- und Anwaltskosten bei Besserung der wirtschaftlichen Verhältnisse zurückzuerstatten6. Dies bedeutete, daß von einem vollständigen Erlaß der Verfahrenskosten auf eine bedingte Stundung umgestellt wurde. Neu war auch die Einführung der I Schott, Das Armenrecht der deutschen Civilprozeßordnung, Jena 1900, S. 17; X. 3. 1. 10. 2 Lib VI 1, 13, 11, 4. 3 Vgl. auch Elsener, Gesetz, Billigkeit und Gnade im canonischen Recht, in: Summum ius, summa iniuria. Ringvorlesung der Tübinger Juristenfakultät, Tübingen 1963, 182. 4 RKGO von 1555, I 78. s Vgl. im einzelnen auch Meents, Das Armenrecht im sozialen Rechtsstaat des Grundgesetzes, Diss. Bonn 1975, S. 42. 6 RKGO von 1521, Tit. 25 § 1.
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richterlichen Vorprüfung hinsichtlich der Begründetheit der Klage7. All diese Regelungen waren Ausdruck des Bestrebens, den Mißbrauch des Armenrechtes zu verhindern&. In der Folgezeit wurden verschiedene Punkte modifiziert9. Bemerkenswert ist dabei vor allem, daß sich der Gedanke durchsetzte, der Arme müsse die Kosten des Gegners im Falle des Prozeßverlustes selbst tragenlO. Im 19. Jahrhundert kam man zu einer stärkeren Differenzierung der Armut: Sie war nicht länger einer bestimmten Gesellschaftsschicht generell zugeordnet, sondern wurde nun relativ bewertet, d. h. denjenigen Personen zugebilligt, deren Einkommen und Vermögen nicht ausreichten, ohne Beschränkung des eigenen Unterhaltes und dessen der Familie die Prozeßkosten aufzubringenn. Während manche Prozeßordnungen auf den "notwendigen Unterhalt" abstellten, nannten die Prozeßordnungen von Hannover aus den Jahren 1847, 185012 den "notdürftigsten Unterhalt", während die Lehre teilweise auf den "standesgemäßen" Unterhalt Rückgriff nahml3. Das gemeine Recht orientierte sich im wesentlichen ebenfalls an den Kriterien, die der Reichskammergerichtsprozeß ausgebildet hatte14. Allerdings hielt sich bis in das 19. Jahrhundert die Betrachtungsweise, das Armenrecht sei Rechtswohltat, nicht Anspruch des Bürgers15. 3. Der ZPO-Entwurf knüpft nach Angaben der Gesetzesverfasser ausdrücklich an die aufgezeigte Entwicklung an. Hieraus folgt, daß man offenbar keinen Bedarf für tiefgreifende Änderungen sah. Allerdings sind doch einige Aspekte des Gesetzgebungsverfahrens von Interesse. So wurden zunächst sämtliche Eidesleistungen der armen Partei abgeschafft, ebenso die Vorprüfung hinsichtlich mangelnder Mutwilligkeit oder Aussichtslosigkeit, weil sie unsicher sei und die Unbefangenheit des Gerichtes beeinträchtige16. Die spätere Formulierung "wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung nicht mutwillig oder aussichtslos erscheint" führte erst die Reichstagskommission ein 17 . 7 Vgl. § 8 des Reichsdeputationsabschiedes von 1600; ausf. Bopp, in: Weiske, Rechtslexikon für alle teutschen Staaten, Leipzig 1839, S. 441f. s Bopp (Fn. 7), S. 442; L inde, AcP 16, 71. 9 Vgl. Renaud, Civilprozeßrecht, 2. Auf!., Leipzig/Heidelberg 1873, S. 750ff.; Schott (Fn. 1), S. 28ff. w Renaud (Fn. 9), S. 757. 11 Renaud (Fn. 9) , S. 753ff. 12 §§ 47 bzw. 62. 13 Nachw. bei Trocker, Gutachten zum 51. DJT, München 1976, B. 9. 14 Nachw. bei Renaud (Fn. 9), S. 754f. 15 Renaud (Fn. 9), S. 759. Der Auffassung Trocker's (Fn. 13, B 7), das Armenrecht habe sich im Zuge der französischen Revolution vom Gnadenakt des Staates zum Anspruch des Bürgers gewandelt, kann nicht gefolgt werden , vgl. dazu schon Schott (Fn. 1), S. 39f.; a. A. wohl Linde, AcP 16, 68ff. Zur Entwicklung in Frankreich vgl. auch die Gesetzesmaterialien bei Hahn, Die gesamten Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, Berlin 1881, S. 206. 16 Vgl. Hahn (Fn. 15), S. 207f.
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Die Regelung, daß die mittellose Partei, deren finanzielle Situation sich später verbesserte, alle Prozeßkosten nachzuzahlen habels, wurde beibehalten. Erstmals war jetzt die Position des Armenrechtsuchenden im Gesetz als "Anspruch" bezeichnet. In der Novelle 1919 wurde dann das Teil-Armenrecht eingeführt, d. h. eine teilweise Übernahme der Verfahrenskosten durch den Staat bei entsprechender finanzieller Situation des Rechtsuchenden. Damit sollte nicht die Rechtsstellung des Bürgers verbessert werden, sondern es handelte sich um eine Maßnahme zur Entlastung der Staatskasse19. Eine weitere Verschärfung des Armenrechtes enthielt die Novelle 1933, die vom Ausschlußmerkmal der "Aussichtslosigkeit" auf die schärfere Anforderung "hinreichende Erfolgsaussicht" umstellte. 4. Die heutige Gesetzesfassung ist Folge einer tiefgreifenden Reformdiskussion des Gerichtskostenwesens, die Ende der 60er Jahre begann. Die Vorschläge gingen von einer völligen Abschaffung der Gerichtskosten bis hin zur obligatorischen Rechtsschutzversicherungzo. Keine dieser weitreichenden Änderungen ist jedoch Gesetz geworden; das am 1. 1. 1981 in Kraft getretene Prozeßkostenhilfegesetz brachte eher konventionelle Neuerungen mit sich. Die wichtigste ist wohl die Feststellung der Bedürftigkeit. Sie wird durch Bezugnahme auf eine Tabelle an feste Einkommensgrenzen gebunden, die die Zahl der Unterhaltsberechtigten berücksichtigt und auch den Beziehern mittlerer Einkommen Prozeßkostenhilfe ermöglicht. Allerdings werden letztere anteilig durch Ratenzahlung zu den Gerichts- und Anwaltskosten herangezogen. Es handelt sich somit bei der Prozeßkostenhilfe heute einesteils um Fremdfinanzierung durch den Staat, andernteils um eine bloße Kreditierung. Die wirtschaftlichen Vorgaben für die Einkommens- und Vermögensverhältnisse beruhen immer noch auf den Daten des Jahres 197921, so daß auf diese Weise die Zugangsmöglichkeiten zur Prozeßkostenhilfe weiter eingeschränkt wurden. Beibehalten wurde die Regelung, daß im Falle des Unterliegens dem Gegner die Prozeßkosten vollständig zu erstatten sind; dafür tritt die Prozeßkostenhilfe auch heute nicht ein. 5. Das erklärte Ziel, gleichen Rechtsschutz für alle Bürger zu gewährleisten, ist in der Praxis nur unvollkommen erreicht worden. Von der Möglichkeit der Ratenzahlung wird in geringerem Maße Gebrauch gemacht, als man es erwartet hatte. Nach der Novellierung des Gesetzes sind die Prozeßkostenhilfeverfahren im Jahre 1983 im Bundesdurchschnitt nur um 0,6 % gestiegen22. Der Hahn (Fn. 15), S. 554. §§ 112 bzw. 116aF; vgl. Hahn (Fn. 15), S. 1278. 19 Trocker (Fn. 13), B 15 m.w.Nachw. 20 Vgl. Grunsky, Gutachten zum 51. DJT, A 11. 21 Kritisch Künkel, in: Rahm I Künkel, Hdb. des Familiengerichtsverfahrens, 2. Aufl. 1987,2. Kap., Rz 6. 17
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Schwerpunkt liegt eindeutig im familiengerichtlichen Verfahren mit einem Anteil von 80 bis 90%23. Davon werden wiederum 80% der Bewilligungen ohne Ratenzahlungsanordnungen ausgesprochen24 • Dies verwundert nicht, weil die durchschnittlichen Kosten eines Scheidungsverfahrens bei ca. 3000,bis 5000,- DM liegen25, dieangesichtsder sonstigen Scheidungsfolgen von den Beziehern unterer Einkommen nicht aufgebracht werden können. In allgemeinen Zivilsachen scheinen die Bürger davon zurückzuschrecken, die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse offenzulegen, eine Scheu, die in Familiensachen ohnehin zu überwinden ist. Trotz der geringen Steigerung der Anträge sind die aufgewendeten Kosten enorm gestiegen. Während im Bundesgebiet 1976 72 Millionen DM und 1980 180 Millionen DM vom Staat aufgebracht wurden, waren es 1983 schon 400 Millionen26. Diese unvorhergesehene Kostenentwicklung27 hatte zur Folge, daß eine einschränkende Novellierung alsbald nach lokrafttreten des Gesetzes in Angriff genommen wurde. Man plante, die Anforderungen an die Darlegungs- und Beweislast zu verschärfen und die Feststellung der Bedürftigkeit dem Rechtspfleger zu übertragen, weil bei den Richtern unangebrachte Großzügigkeit vermutet wurde. Außerdem sollte eine künftige Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse während des Verfahrens berücksichtigt werden2B. Einige der genannten Vorschläge sind in der letzten Novellierung Gesetz geworden, die am 1. 1. 1987 in Kraft trat. Die wichtigste Neuerung besteht darin, daß gern. § 120 Abs. 1 ZPO die finanzielle Entwicklung des Antragsstellers in den folgenden vier Jahren berücksichtigt werden kann, etwa wenn die Arbeitslosigkeit entfällt. Auch können in derartigen Fällen die Raten in diesem Zeitraum durch das Gericht neu angepaßt werden (§ 120 Abs. 4 ZPO). Damit ist die Entwicklung des Prozeßkostenhilfegesetzes vorläufig abgeschlossen. Kritik hieran hat es genügend gegeben , die schärfste wohl von Egon Schneider29; "Das Prozeßkostenhilfegesetz ist eines der unnützesten und schlechtesten der Nachkriegszeit. Es bringt der armen Partei keinen besonderen Vorteil. Eher erschwert es deren Rechtsverfolgung. In der Prozeßpraxis löst es unergiebige, zeitraubende Mehrarbeit aus". Alternativ-Kommentar-ZPO I Deppe-Hilgenberg, 1987, Vor§ 114, Rz 15. AK-Deppe I Hilgenberg, Vor§ 114 Rz 13; Rahm I Künkel (Fn. 21), Kap. 2, Rz 3. 24 AK-Deppe I Hilgenberg, Vor§ 114, Rz 15. 25 Rahm I Künkel (Fn. 21), Kap. 2, Rz 3. 26 AK-Deppe I Hilgenberg, Vor§ 114 Rz. 12. 27 Man hatte mit 35 Mill. Mehrbelastung gerechnet. Vgl. AK-Deppe I Hilgenberg, Vor§ 114 Rz. 12. 28 Vgl. den Gesetzesentwurf der Bundesregierung vom 10. 3. 1985, BT-Drucks. 101 3054. 29 MDR 1981, 800. 22
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10 Rechtsdogmatik und Rechtspolitik
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IV. Prozeßkostenvorschuß und Prozeßkostenhilfe 1. Welche Schlußfolgerungen lassen sich nun aus der Entwicklung ziehen? Zunächst, daß der freie Zugang Bedürftiger zu den Gerichten ein Anliegen aller Rechtssysteme war. Die Wurzelliegt vor allem in christlichen Vorstellungen, und das Armenrecht war deshalb bis in das 19. Jahrhundert eine Wohltätigkeit des Staates, kein Anspruch des Bürgers. Dem Schutz der armen Bürger stand in der Neuzeit aber immer die Befürchtung gegenüber, eine zu weitgehende Entlastung - so auch die Verf. der ZPO wörtlich - brächte Gefahr: "Die Wohlhabenden der Chikane von prozeßsüchtigen Armen auszusetzen"30. Alt ist ferner der Gedanke, durch eine Verschärfung des Armenrechtes könne man die Gerichte, aber auch die staatlichen Finanzen entlasten. Der letztgenannte Gesichtspunkt fand seinen Niederschlag zunächst in der Idee, den Armen die Verfahrenskosten nur zu stunden und er ist auch gegenwärtig der zentrale Gesichtspunkt, der der Prozeßkostenhilfe Grenzen setzt. Es erstaunt deshalb nicht, daß jede Möglichkeit wahrgenommen wird, die Verfahrenskosten bedürftiger Parteien auf Dritte zu übertragen, in unserem Falle auf den Unterhaltspflichtigen. Dies ist der Hintergrund des Problems, wie sich Prozeßkostenhilfe und Prozeßkostenvorschuß zueinander verhalten.
2. Diese Frage ist nicht neu. Sie wurde aber erst im 19. Jahrhundert diskutiert, als man zum einen den Armutsbegriff stärker differenzierte und zum anderen der Umfang der Unterhaltspflicht Gegenstand der großen Kodifikationendes 18. und 19. Jahrhunderts geworden war. Eine Erklärung wird man wohl darin vermuten können, daß Ehefrau und Kinder bis in diese Zeit prozeßunfähig waren, so daß eine Konkurrenz in der Prozeßkostentragung nicht auftauchen konnte. Ich möchte diese wechselvolle Entwicklung kurz ansprechen, hier jedoch beschränkt auf die Hauptströmungen im 19. Jahrhundert, die für das BGB Bedeutung gewonnen haben. Man kann wohl ohne Übertreibung sagen, daß die Frage, ob die Unterhaltspflicht Verfahrenskosten umfaßt, zu den umstrittensten zivilrechtliehen Problemen des 19. Jahrhunderts gehörte. Es gab in der Rechtslehre zwei große Lager, wobei geringfügig die Ansicht überwog, Verfahrenskosten und Prozeßkostenvorschuß seien ein Teil des Unterhaltes3t. Die Rechtsprechung gewährte nahezu einheitlich einen Prozeßkostenvorschuß der Ehefrau gegen den Ehemann im Wege der einstweiligen Verfügung, und zwar auch für gegen ihn selbst gerichtete Prozesse32. Hahn (Fn. 15), S. 554. Nachw. bei Seuffert, ZPO, 11. Auf!. 1910, Bd. 1., Vor§ 91 Anm. 6a. 32 Vgl. die umfangreiche Zusammenfassung der Rechtsprechung bei Meyerhoff, JW 1900, 690, 693f.; ferner RGZ 5, 415, 416 (eingeschränkt durch Vermögenslosigkeit der Ehefrau); Nachw. bei Roth, System des Deutschen Privatrechts, 2. Th., Tübingen 1881, S. 17 Fn. 119; OAG Darmstadt (12. 11. 1836) Seuff A8, Nr. 424; Obertribunal Stutt30 31
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3. Deshalb ist es verständlich, daß die völlig entgegengesetzte Auffassung der Gesetzesverfasser des BGB Erstaunen hervorrief33. Aber es war nicht dieser Umstand allein: Vielmehr, daß offenbar während des gesamten Gesetzgebungsverfahrens keine Zweifel daran bestanden, die Unterhaltspflicht in diesem Punkt einzuschränken. Planck, der den Vorentwurfzum Familienrecht verfaßte, ging auf die gegenteilige Ansicht kaum ein. Nach seiner Auffassung waren Prozeßkosten deshalb kein Unterhalt, weil sie nicht der unmittelbaren Lebensversorgung dienten. Ausdrücklich heißt es bei ihm: "Fiskalische Gründe, welche eine Haftung des Mannes allerdings wünschenswert erscheinen lassen können, dürfen hier nicht den Ausschlag geben"34 • Diese Betrachtungsweise hatte schon der Entstehungsgeschichte der ZPO zugrunde gelegen. Hier war in der Reichstagskommission beantragt worden, bei der Definition der Armut einen Ausschlußgrund aufzunehmen, wenn der Rechtsuchende "alimentationspflichtige Angehörige besitzt, welche die Prozeßkosten für ihn zu bestreiten imstande sind"35. Begründet wurde dies damit, es sei unbillig, "daß eine an einen reichen Mann verheiratete Ehefrau oder ein in der Gewalt eines reichen Vaters stehendes Kind als vermögenslos einen Prozeß mit Hülfe des Armenrechts führe" . Der Antrag wurde jedoch ohne Aussprache abgelehnt. Allerdings war es auch am Ende des 19. Jahrhunderts nicht so, daß Ehegatten und sonstige Unterhaltspflichtige von den Prozeßkosten völlig befreit waren. Ohne auf die komplizierte Regelung im einzelnen einzugehen, kann man festhalten, daß die Prozeßkostentragungspflicht dem ehelichen Güterrecht entnommen wurde. Nach dem früheren Güterrecht des BGB hatte nämlich der Mann die Nutznießung am Vermögen der Ehefrau und am Vermögen des Kindes, etwa wie ein Nießbraucher. Da ihm die Nutzungen zustanden, wurde ihm auch die Verpflichtung auferlegt, die Verfahrenskosten für Frau und Kinder im gewissen Umfang aus güterrechtlichen Erwägungen zu tragen36. In der Sache handelte es sich aber um eine mittelbare Kostentragung, um eine solche aus fremdem Vermögen, und sie enthielt keine Vorschußpflicht. Zusammenfassend kann man feststellen, daß von den Verf. des BGB Prozeßkosten nicht zum Unterhalt gerechnet und fiskalische Gründe als nicht gart (5. 7. 1877) Seuff A33, Nr. 41; zweifelnd OAG Lübeck (16. 5. 1874) Seuff A32 Nr. 147; OAG Darmstadt (24. 11. 1855) Seuff A 24, Nr. 180 II; OAG Berlin (20. 1. 1873) Seuff A28, Nr. 35, 55ff.; AG Celle (12. 11. 1869) Seuff A 23, 4208; Nachw. bei Bürck, JW 1900, 269. 33 Meyerhoff, JW 1900, 690f.; Bürck, JW 1900, 269. 34 Vgl. die Begründung zu§§ 263- 266 TE bei Schubert, Die Vorlagen der Redaktoren für die 1. Kommission . .. Familienrecht, Bd. 2, Berlin!New York 1983, S. 1173f. 35 Hahn (Fn. 15), S. 554. 36 Vgl. dazu ausf. Seuffert, ZPO, 11. Aufl., Bd. 1, München 1910, Vor§ 91 Anm. 6a; ferner Motive zu dem Entwurfe eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich, Bd. IV., Familienrecht, Berlin/Leipzig 1888, S. 125f., 199f., 640, 696f. 10*
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ausreichend erachtet wurden, um den Unterhaltspflichtigen zu belasten. Diese Betrachtungsweise änderte sich erst in den 30er Jahren. Ein plastisches Beispiel aus dem Eltern-Kindverhältnis findet sich in der Kommentierung zu § 1610 BGB bei Palandt im Jahre 1939: "Warum die allgemeine Meinung die Prozeßkosten der Tochter eines vermögenden Vaters, die z. B. von der Ehe mit einem verbrecherischen Mann loskommen will, der Staatskasse, § 114 ZPO, noch in heutiger Zeit aufbürdet, bleibt unverständlich"37. Deutlicher wird der Hintergrund in einer grundlegenden Entscheidung des OLG Köln aus dem Jahre 1940, in der es wörtlich heißt: "Die Hilfe, die der Staat den Armen durch Übernahme der Anwaltskosten und der Auslagen durch Befreiung von Gebühren gewährt, ist ein Ausfluß der Volksgemeinschaft. Es widerspricht aber dem Wesen dieser Gemeinschaft, daß ihre Hilfe da in Anspruch genommen wird, wo die nächsten unterhaltspflichtigen Verwandten helfen können"38. Man erkennt daran, daß etwa um 1940 ein dogmatischer Umbruch dergestalt begann, daß die güterrechtliche Kostentragungspflicht der unterhaltsrechtlichen weichen mußte. Er führte dazu, daß in der Folgezeit ein Prozeßkostenvorschußanspruch aus Unterhaltsrecht bejaht wurde, der das Armenrecht ausschloß. Er gelang jedoch nicht völlig; auch die entgegengesetzte Betrachtungsweise blieb erhalten. Obwohl die Begründung sich auf den Gemeinnutzgedanken gestützt hatte, wurde sie nach dem zweiten Weltkrieg beibehalten39. Mit lokrafttreten des Gleichberechtigungsgrundsatzes 1953 wurde die Rechtslage dann völlig unübersichtlich. Die güterrechtlichen Vorteile des Mannes und alle darauf gründenden Vorschriften über die Prozeßkostentragung entfielen ersatzlos. Es gehörte zu den am meisten diskutierten Streitfragen, ob weiterhin eine Prozeßkostenvorschußpflicht des Mannes gegenüber Ehefrau und Kindern bestand40. Eine gesetzliche Grundlage fehlte völlig4t. Der vom Rechtsausschuß entwickelte heutige§ 1360a Abs. 4 BGB nahm auch zur Rechtsnatur des Anspruches nicht ausdrücklich Stellung42, im Unterausschuß "Familienrechtsgesetz" bezeichnete man den Prozeßkostenvorschuß aber schließlich als Teil der Unterhaltsverpflichtung43. Damit war der Umbruch nach Ansicht des Gesetzgebers vollzogen. Bei der Beratung des Eherechtsreformgesetzes 1976 erwog man noch einmal, den Prozeßkostenvorschuß für Streitigkeiten unter Ehegatten zu streichen. Ausdrücklich stellte die Entwurfsbegründung fest , fisPalandt I Lauterbach, BGB, 2. Auf!. 1939, § 1610 Anm. 3. DR 1941, 937f., w.Nachw. bei Meents (Fn. 5), S. 95, Fn. 2. 39 Meents (Fn. 5), S. 97 m.w.Nachw. 40 Vgl. die vierzehn Entscheidungen der Oberlandesgerichte in NJW 1953, 746ft. , 788, 828f., 905ff. 41 Vgl. Arnold, FamRZ 1954, 39ft. 42 BT-Drucksache 11/3409, S. 4. 43 Vgl. BT-Drucksache zu Il/3409, S. 38. 37 38
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kalisehe Gründe könnten nicht ausreichend sein, um eine solche Regelung aufrecht zu erhalten44. Der Rechtsausschuß allerdings glaubte, dem Ehegatten die Kosten anstelle des Staates aufbürden zu sollen45. V. Konsequenzen der Subsidiarität der Prozeßkostenhilfe
1. Man kann somit zwei Entwicklungslinien deutlich nachvollziehen: Alt ist die Idee, das Armenrecht mißbrauchsicher zu gestalten, ebenso der Gedanke, den Staat finanziell zu entlasten. Erst seit 50 Jahren- und entgegen der klaren Vorstellungen der BGB-Verfasser- sind Prozeßkosten Unterhaltsbestandteil, so daß die frühere Verantwortlichkeit des Staates in diesem Bereich auf die Familie übergegangen ist. Im folgenden soll nun gezeigt werden, welche z. T. unerträgliche Konsequenzen die Subsidiarität der Prozeßkostenhilfe für den Unterhaltsberechtigten mit sich bringt. 2. Sie resultieren daraus, daߧ 1360a Abs. 4 BGB eine Fülle unbestimmter Rechtsbegriffe enthält, deren jeweilige Auslegung zur Versagung oder Gewährung des Anspruches führt und somit unmittelbar Einfluß auf die Gewährung der Prozeßkostenhilfe hat.
a) Erstes Beispiel dafür ist die "persönliche Angelegenheit" i.S.d. Norm. Vermögensrechtliche Streitigkeiten muß der bedürftige Ehegatte immer auf eigene Kosten führen, da die Zugewinngemeinschaft prinzipiell Gütertrennung bedeutet. §§ 1363 Abs. 2, 1364 BGB. Es gibt eine kaum zu übersehende Anzahl von Gerichtsentscheidungen, die sich mit dem Merkmal der "persönlichen Angelegenheit" befassen, das für jeden Rechtsbereich der Ausfüllung bedarf. Eine eindeutige Definition ist bis heute nicht gelungen, der BGH spricht davon, es müsse eine "genügend enge Verbindung mit der Person des Ehegatten" vorhanden sein46. Anerkannt sind Ehe-, Kindschaftssowie Unterhaltssachen. Streit besteht demgegenüber schon bei erbrechtliehen Ansprüchen, ferner bei arbeitsrechtlichen und verwaltungsrechtlichen Streitigkeiten. Keiner dieser Gegenstände wird einheitlich behandelt47 . Sicher ist jedoch eins: Je weiter man den Begriff der personenrechtlichen Angelegenheit faßt, umso eher wird Prozeßkostenvorschuß gewährt und die Prozeßkostenhilfe zurückgedrängt48. 44 BT-Drucksache VII/650, S. 100.
BT-Drucksache VII/4361, S. 26f. BGHZ 41, 104, 112. 47 Vgl. nur Soerge/ I Lange, BGB, 12. Aufl. 1988, § 1360a Rz 26; Göppinger, Unterhaltsrecht, 5. Aufl. 1987, Rz 523. 48 Ausf. Gekeler, Die familienrechtlichen Prozeßkostenvorschußpflichten, Diss. Münster 1983, S. 11ff.; Palandt I Diederichsen, BGB, 49. Aufl. 1990, § 1360a, Anm. 3bdd. 45
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b) Des weiteren steht der Prozeßkostenvorschuß unter dem gesetzlichen Vorbehalt der "Billigkeit". Hieraus hat die Rechtsprechung den Grundsatz entwickelt, daß derjenige keinen Prozeßkostenvorschuß zahlen muß, der selbst Prozeßkostenhilfe ohne Ratenzahlungsverpflichtung in Anspruch nehmen könnte. Wie aber ist es mit demjenigen Unterhaltsverpflichteten, dem gegen Ratenzahlung Prozeßkostenhilfe zu gewähren wäre? Muß er nun bei Rechtstreitigkeiten mit dem Unterhaltsverpflichteten zum einen seine eigenen Prozeßkosten ratenweise abbezahlen, zum anderen auch der gegnerischen Partei Prozeßkostenvorschuß in Raten gewähren? Dies wird ebenso vertreten wie die Auffassung, die eigene Prozeßkostenhilfeberechtigung schließe jede Verpflichtung zum Prozeßkostenvorschuß aus49. Andere meinen, i.R.d. § 1360a Abs. 4 BGB sei die Einkommenstabelle des § 115 ZPO völlig ohne Bedeutung; es komme allein darauf an, ob dem Unterhaltsverpflichteten der eigene, angemessene Unterhalt bleibeso. Streitig beurteilt wird auch die Frage, ob der Vorschußberechtigte mit der Klageerhebung warten muß, bis er das Verfahren mit dem vom Unterhaltspflichtigen ratenweise geza.hlten Prozeßkostenvorschuß eröffnen kann. Wegen Unzumutbarkeit schlagen andere vor, Prozeßkostenhilfe zu gewähren und den ratenweisen Prozeßkostenvorschuß insoweit in Ansatz zu bringenst. c) Damit sind die Schwierigkeiten aber noch nicht erschöpft: Denn aus dem Billigkeitserfordernis leitet man auch ab, der beabsichtigte Rechtsstreit dürfe nicht aussichtslos sein. Der Unterschied zu§ 114 ZPO besteht nun darin, daß dort die "hinreichende Erfolgsaussicht" ausdrücklich im Gesetz steht. Bei § 1360a Abs. 4 BGB ist das nicht der Fall, und so gehen die Ansichten auseinander, wie man die Schlüssigkeit der Klage zu beurteilen habe. Manche wollen die "hinreichende Erfolgsaussicht" übernehmen52, andere stellen auf eine "Mindestaussicht auf Erfolg" ab53, wieder andere versagen Prozeßkostenvorschuß erst bei "offensichtlicher Aussichtslosigkeit"54. Insgesamt wird deutlich, daß überwiegend die Anforderungen an die Schlüssigkeit geringer sind als bei der Prozeßkostenhilfe, so daß auch auf diese Weise ein Vorrang des Prozeßkostenvorschusses erreicht wird. d) Die Billigkeit hat schließlich unter folgendem Aspekt Bedeutung: Es ist ungeklärt, inwieweit ein Prozeßkostenvorschuß durchsetzbar sein muß oder durchgesetzt werden muß, um die Bedürftigkeit i.S.d. § 114 ZPO auszuschließen. Zunächst einmal wird hier allgemein das Subsidiaritätsprinzip insoweit durchbrochen , als für die gerichtliche Durchsetzung des Anspruchs auf ProZöller I Schneider, ZPO, 15. Auf!. 1987, § 115 Rz 46. Soergel I Lange, § 1360a Rz 23. 51 Kalthoener I Büttner, Prozeßkostenhilfe und Beratungshilfe, München 1988, Rz 342. 52 Gernhuber, Familienrecht, 3. Auf!. 1980, § 21 IV 4; Pastor, FamRZ 1960, 263. 53 Göppinger (Fn. 47), Rz 555. 54 Palandt I Diederichsen, § 1360a Anm. 3bcc; Soergel I Lange,§ 1360a Rz 24. 49
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zeßkostenvorschuß Prozeßkostenhilfe gewährt wird, da auch für dieses Verfahren Kosten verauslagt werden müssenss. Abgesehen davon verlangt man, daß der Prozeßkostenvorschuß kurzfristig realisierbar ist, d. h. also, daß eine gerichtliche Durchsetzung einschließlich der Zwangsvollstreckung aussichtsreich erscheint56. In der Praxis reduziert man das Problem im Erkenntnisverfahren dadurch, daß Prozeßkostenvorschuß regelmäßig durch einstweilige Anordnung zugesprochen wird57, d. h. in einem summarischen Verfahren, das sich hinsichtlich der Beweisführung mit Glaubhaftmachung begnügt. Dennoch stellt sich das Problem, wie etwa beim unbekannten Aufenthalt des Vorschußpflichtigen vorzugehen ist oder wieviel erfolglose Vollstreckungsversuche notwendig sind, um den Anspruch auf Prozeßkostenhilfe geltend zu machen. e) Soviel zu den Schwierigkeiten, die im Verhältnis der Ehegatten zueinander bestehen. § 1361 Abs. 4 BGB erstreckt die Vorschußpflicht auf den Zeitraum der Trennung, während der BGH sich nach langem Streit unter den Oberlandesgerichten 198458 auf den Standpunkt gestellt hat, der nacheheliche Unterhalt umfasse keinen Prozeßkostenvorschuß. Vom Zeitpunkt der rechtskräftigen Scheidung an also kann der Unterhaltsverpflichtete ohne weiteres Prozeßkostenhilfe erlangen. Im übrigen hat sich jedoch deutlich gezeigt, welche Schwierigkeiten für den Mittellosen bestehen, der die Entscheidung zu treffen hat, ob er sich um Vorlage der Prozeßkosten an den Unterhaltspflichtigen oder an den Staat wenden soll. Denn er muß u. U. alle dargestellten Streitfragen für seinen eigenen Fall entscheiden, wenn er den richtigen Weg wählen und zumindest Verzögerungen in der Rechtsdurchsetzung vermeiden will. Stellt er fest, daß er sich auf den Prozeßkostenvorschuß verweisen lassen muß, hat dies zudem noch folgende Nachteile für ihn: Gern.§ 65 Abs. 1 GKG müssen zur Klageerhebung eine Gerichtsgebühr und die Zustellungskosten verauslagt werden. Rechtsanwälte können gern. § 17 BRAGO einen "angemessenen VorschuB" für Auslagen und Gebühren fordern, im Höchstfall die gesamten Kosten der ersten Instanz, d. h. zwei oder drei Gebühren, je nach voraussichtlichem Verfahrensverlauf. Jedenfalls die restlichen Gerichtsgebühren, die erst nach Abschluß des Verfahrens erhoben werden, fallen nicht unter den Vorschußbegriff und müssen vom Prozeßkostenvorschußberechtigten selbst getragen werden, so daß er auf diese Weise schlechter gestellt wird als bei der Prozeßkostenhilfe, die die gesamten Gerichtskosten übernimmt. Man kann also insgesamt feststellen, daß die finanzielle Entlastung des Staates mit erheblichen Schwierigkeiten und Nachteilen für den rechtsuchenden Ehegatten erkauft worden ist. 55 Künkel, DAVorm. 1983, 344; Göppinger I Wyk (Fn. 47) , Rz 3412; AK-Deppe I Hilgenberg, § 114 Rz 71. 56 Kalthoener I Büttner (Fn 51), Rz 338. 57 § 127 a ZPO bzw. §§ 620 Nr. 9, 621f ZPO. 58 BGH NJW 1984, 291.
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3. Noch ärger ist die Situation beim Verwandtenunterhalt, denn anders als im Ehegattenverhältnis fehlt allen sonstigen unterhaltsrechtlichen Vorschriften eine dem § 1360a Abs. 4 BGB vergleichbare Regelung. Dennoch wird ganz überwiegend auch hier ein Anspruch auf Prozeßkostenvorschuß bejaht59. Allerdings sind noch erheblich mehr Einzelheiten streitig als i.R.d. § 1360a BGB. Gernhuber60 kennzeichnet die Situation mit den Worten: "Allgemein anerkannt ist heute für die Vorschußpflicht unter Verwandten kein Satz". Diese Aussage kann allerdings nicht verwundern. Denn die Entstehungsgeschichte hat ja gezeigt, daß der Gesetzgeber im Jahre 1900 die Prozeßkosten nicht zum Unterhalt gerechnet hat. Weder bei der Abschaffung des alten § 1654 BGB, der dem Vater die Nutzungen am Kindesvermögen gewährte, noch beim ersten Eherechtsreformgesetz wurde von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, beide Materien (Ehegatten- und Verwandtenunterhalt) einander anzugleichen. Unter Auslegungsgesichtspunkten läßt sich hieraus nur der Schluß ziehen, der Gesetzgeber habe die Fragen unterschiedlich regeln wollen. Die demgegenüber vertretene Argumentation, schon § 1360a Abs. 4 BGB verdeutliche, daß ein Prozeßkostenvorschuß grundsätzlich Unterhaltsbestandteil sei, ist nach dem Gesagten nicht überzeugend61. Nicht einmal für den Ehegattenunterhalt selbst: Der Gesetzgeber hat das Maß des Unterhaltes in § 1360a Abs. 1 BGB detailliert beschrieben. Wenn er sich seiner Sache bezüglich der Einordnung des Prozeßkostenvorschusses sicher gewesen wäre, hätte nichts näher gelegen, als die Regelung in Absatz 1 hineinzunehmen. Beim Verwandtenunterhalt wird der Umfang des Unterhaltes ausdrücklich in § 1610 Abs. 2 BGB beschrieben. Berufsausbildungs- und Erziehungskosten werden dabei als Sonderpositionen genannt, obwohl sie dem Unterhalt näher stehen als die Prozeßkosten. Warum hat der Gesetzgeber die Frage des Prozeßkostenvorschusses nicht mit angesprochen? Selbstverständlich konnte ihm die heute überwiegend vertretene Ansicht nach der wechselvollen Geschichte auf keinen Fall sein62. Das Gesetz trifft zudem in § 1618a BGB seit 1980 die Regelung, daß Eltern und Kinder einander beistandspflichtig sind. Auch hierzu hätte der.Prozeßkostenvorschuß sachlich gepaßt. Das Familienrecht enthält in den §§ 1626 bis 1698b BGB fast 50 Vorschriften über die elterliche Sorge in persönlichen und vermögensrechtlichen Angelegenheiten, die mehrfach neu gefaßt wurden, aber keine Norm behandelt unser Thema. Es erstaunt deshalb nicht, wenn als Begründung für die Verpflichtung zum Prozeßkostenvorschuß der U nterhalt63, aber auch die Personensorge64 oder die Fürsorgepflicht65 59 60
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Nachw. (auch der Gegenansicht) bei Gekeler (Fn . 48), S. 71. (Fn. 52) § 41 VII 5. Soergel I Lange, § 1610 Rz 10. Vgl. auch Roth I Stielow, NJW 1965, 2046f. Soergel I Lange, § 1610 Rz 6. Gekeler (Fn. 48), S. 73f. Köhler, Hdb. des Unterhaltsrechts, 7. Aufl. 1986, § 18.
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genannt werden, z. T. auch eine Vermischung dieser Aspekte vorgenommen wird66. Die Unterscheidung ist nicht allein theoretischer Natur: Die elterliche Sorge als Grundlage würde das Problem auf Rechtsbeziehungen der Eltern zu ihren minderjährigen und unverheirateten Kindern beschränken67, ferner sogar auf das Verhältnis zum allein sorgeberechtigten Elternteil, etwa nach der Scheidung(§ 1671 BGB). § 1618a BGB betrifft das Eltern-Kind-Verhältnis im allgemeinen, während § 1610 BGB für alle Verwandten das Maß des Unterhaltes bestimmt(§ 1601 BGB). Die an sich notwendige Konsequenz, mangels einschränkender Tatbestandselemente in § 1610 Abs. 2 BGB allen Verwandten uneingeschränkt eine Prozeßkostenvorschußpflicht aufzuerlegen, wird nicht gezogen. Man versucht vielmehr, durch eine analoge Anwendung des § 1360a Abs. 4 BGB den Anwendungsbereich einzugrenzen, zunächst auf persönliche Angelegenheiten6s. Nicht wenige beschränken - ohne dogmatische Begründung - den Bereich der Rechtsstreitigkeiten sogar auf "lebenswichtige" Prozesse69. Auch das Merkmal der "Billigkeit" wird hier herangezogen und dient dazu, aussichtslose, nach a. A . offensichtlich aussichtslose70 Prozesse von der VorschuBpflicht auszunehmen. Andere wiederum stellen, wie bei § 114 ZPO, auf die hinreichende Erfolgsaussicht ab7t . Die Billigkeit dient ferner dazu, den Kreis der Berechtigten zu beschränken72. Stets wird es als billig angesehen, minderjährigen und unverheirateten Kindern Prozeßkostenvorschuß zu gewähren73, weil das minderjährige, unverheiratete Kind unterhaltsrechtlich der Ehefrau gleichgestellt sei74 • Noch enger ist die Ansicht, die auf die hausangehörigen Kinder abstellt75. Sehr viel häufiger aber wird die Einschränkung abgelehnt und ein Anspruch aller Kinder und auch der Eltern gegen ihre Kinder bejaht76. In diesem Zusammenhang wird etwas kontrovers beurteilt, ob die Eltern die Scheidungskosten ihres volljährigen Kindes übernehmen müssen77, Münchener-Kommentar I Köhler, BGB, 2. Auf!. 1987, § 1610 Rz 15. Vgl. Gekeler (Fn. 48), S. 81; § 1633 BGB. 68 Nachw. bei Göppinger, (Fn. 47), Rz 519; Soergel I Lange, § 1610, Rz 7; ferner bei Gekeler (Fn. 48), S. 74; Meents (Fn. 5), S. 114f. 69 Palandt I Diederichsen, § 1610, Anm. 3caa. 70 Palandt I Diederichsen, § 1610, Anm. 3cbb. 71 Nachw. bei Soergel I Lange, § 1610 Rz 7. 72 Nachw. bei Meents (Fn. 5), S. 112ff. 73 Soergel I Lange, § 1610 Rz 8. 74 AK-Deppe I Hilgenberg, §§ 114, 115 Rz 68 m.w.Nachw.; Gernhuber (Fn. 52), § 41 VII 5. 75 Nachw. bei Soergel I Lange, § 1610 Rz 8. 76 Göppinger (Fn. 47), Rz 520; zahlreiche Nachw. bei Soergel I Lange, § 1610 Rz 8; Erman I Küchenhoff, BGB, 7. Auf!. 1981, § 1610 Rz 11 (keine Stellungnahme von Erman I Holzhauer, 8. Auf!. 1989). 77 BejahendErman I Küchenhoff, § 1610 Rz 11m. Nachw. der Gegenansicht; Zöller I Schneider, § 115 Rz 48. 66
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umgekehrt, ob Kinder zu den Scheidungskosten ihrer Eltern herangezogen werden können7s. Außerhalb des Bereiches der ehelichen Kinder werden auch sonstige Verwandte in die Prozeßkostenvorschußpflicht einbezogen79, etwa nichteheliche Kinder, und zwar in beide Richtungenso, sogar ein Anspruch gegen den Scheinvater bei einer gegen ihn gerichteten Ehelichkeitsanfechtungsklage wird z. T. gewährtBl. 4. Offen ist heute das Problem, ob eine Prozeßkostenvorschußpflicht i.R.d. nichtehelichen Lebensgemeinschaft besteht. Obwohl sie keine gesetzliche Unterhaltspflicht begründet, wird dem Gedanken doch einige Sympathie entgegengebrachtB2. Und er ist auch nicht völlig von der Hand zu weisen: Wenn Prozeßkostenhilfe Sozialhilfe ist, kann man auf die Grundsätze des Sozialhilferechtes zurückgreifen und darin sind gern. § 122 BSHG eheähnliche Lebensgemeinschaften ausdrücklich den Ehen gleichgestellt. Die Problematik ist noch unter einem anderen Aspekt interessant. Verschiedene Arbeitsgerichte haben die fehlende gesetzliche Regelung zum Anlaß genommen, um unte( Hinweis unter Art. 3 I GG die Verfassungswidrigkeit des§ 1360a Abs. 4 BGB zu begründens3, eine Schwierigkeit, die im Familienrecht immer häufiger auftritt.
VI. Zwischenergebnis 1. Man kann nach alledem die Frage, ob ein Anspruch auf Prozeßkostenvorschuß besteht, der die Prozeßkostenhilfe ausschließt, nur als ungelöst bezeichnen. Die Konsequenzen sind für den Rechtsuchenden erheblich. Wie etwa soll er in folgendem Fall verfahren: Im Prozeßkostenhilfeverfahren verneint der Richter seine Bedürftigkeit unter Hinweis auf einen bestehenden Prozeßkostenvorschußanspruch. Der Antragssteiler wendet sich daraufhin an das zuständige Gericht, beantragt- etwa im Wege der einstweiligen Verfügung -den Prozeßkostenvorschuß und muß nun zur Kenntnis nehmen, daß dieser Richter die Angelegenheit nicht als persönlich, lebenswichtig oder aussichtsreich betrachtet. Wessen Entscheidung gilt?B4 • Was geschieht, wenn der erste Richter, an den sich der Antragsteller nun erneut wendet, bei seiner Auffassung bleibt? Ein Hinweis auf das Verhältnis von Voraussetzungen und Gren78 Verneinend Soergell Lange,§ 1610 Rz 11; Zöller I Schneider, § 115 Rz 47; a.A. Erman I Küchenhoff, § 1610 Rz 11. 79 Nachw. bei Gekeler (Fn. 48), S. 91. so Gekeler (Fn. 48), S. 85ff. 81 Erman I Küchenhoff, § 1610 Rz 12; Soergell Lange, § 1610 Rz 12. 82 Vgl. OLG Hamm, FamRz 1981, 493 m.Anm. Bosch; Schneider, MDR 1981,795. 83 LAG Köln, LAGE, § 115 ZPO, Nr. 12 m. Anm. Vol/kommer; LAG Berlin, LAGE, § 115 ZPO Nr. 14. 84 Vgl. schon Gaedeke, DR 1941, 939.
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zender Rechtskraft bei Prozeßkostenhilfebeschlüssen und einstweiligen Verfügungen muß genügen, um die Situation zu kennzeichnen. 2. All diese Unsicherheiten belasten aber nicht nur den Rechtsschutzsuchenden. Sie bedeuten auch für die Gerichte erhebliche Mehrarbeit, da jedes Prozeßkostenhilfegesuch unter dem Aspekt des Vorrangs eines Unterhaltsanspruches zu prüfen ist. Es ist deshalb schon zweifelhaft, ob die beabsichtigte Kostenersparnis angesichts des vermehrten Aufwandes durch die Gerichte wirklich im gewünschten Umfang erreicht werden kann. Im sonstigen Unterhaltsrecht, in dem die Rechtslage ebenfalls verworren ist, haben die Oberlandesgerichte sich - in dogmatisch vielleicht ebenfalls nicht ganz zweifelsfreier Weise - mit der Einführung von Tabellen zu helfen gesucht. Beim Prozeßkostenvorschuß ist es bei der Einzelfallentscheidung geblieben, und niemand wird - von den anerkannten Fällen abgesehen - eine gesicherte Prognose über die Begründetheil des Anspruchs geben können. Die Praxis behilft sich damit, einerseits die Bedürftigkeit i.S.d. § 114 ZPO im Hinblick auf Unterhaltspflichten Dritter nicht bis in alle Einzelheiten zu verfolgen, andererseits aber auch den Prozeßkostenvorschuß im Verfügungs- oder Anordnungsverfahren recht großzügig zu gewähren. Damit wird jedoch dem Unterhaltspflichtigen das Risiko aufgebürdet, sich durch Rechtsmittel gegen eine unrichtige Entscheidung zu wehren. Befriedigen kann dieses Vorgehen also nicht.
VII. Konsequenzen de lege ferenda und de lege lata? 1. De lege ferenda sind zwei Wege denkbar: a) Grunsky hat 1976 vorgeschlagen, Scheidungsverfahren, Ehenichtigkeitsund Eheaufhebungsverfahren sowie Ehelichkeitsanfechtungsverfahren kostenfrei durchzuführenss. Damit würde das Problem in der Praxis weitgehend entschärft, weil hier der Schwerpunkt der Prozeßkostenhilfe liegt. Allerdings hätten sich nach den Berechnungen Grunsky's die Zusatzkosten schon 1976 auf 500 Millionen DM belaufen; heute dürfte der Betrag erheblich höher sein. Angesichts des Wunsches nach Kostendämpfung hat ein derartiges Vorhaben somit wenig Aussicht auf Verwirklichung. Sachlich spricht dafür immerhin, daß es sich bei dem Scheidungsverfahren um ein vom Staat erzwungenes und einzig mögliches Verfahren handelt, mit dem eine Ehe beendet werden kann. Hier herrscht sozusagen ein staatliches Monopol. Dies gilt auch für die übrigen Verfahren, die ich genannt habe. b) Davon abgesehen könnte man sich überlegen, dem Rechtsuchenden zunächst Prozeßkostenhilfe zu gewähren und zugunsten des Staates eine Überleitungsvorschrift zu schaffen, die ihm die Durchsetzung des Kostenvorschußanspruches gegen den Unterhaltspflichtigen ermöglicht, wie etwa in § 37 ss (Fn. 20), A47ff.
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BAFöGoder § 90 BSHGB6. Allerdings würde die staatliche Durchsetzung des übergeleiteten Anspruchs ebenfalls Geld kosten und die Regelung liegt damit kaum im Bereich des zu Erwartenden, wenngleich sie m. E. begrüßenswert wäre. 2. Was also ist de lege lata zu tun , um dem Bedürftigen die Rechtsverfolgung zu erleichtern? M. E. bleiben drei Vorschläge: a) Man könnte die o. g. Überleitungsvorschriften im Wege einer Gesamtanalogie auf das Prozeßkostenhilfeverfahren übertragen. Der ihnen zugrundeliegende Gedanke trifft die hier vorliegende Situation recht genau: Beide Vorschriften beruhen auf der Erwägung, daß der Lebensunterhalt des Bedürftigen vorläufig und sofort gedeckt werden muß, daß dieser somit von Verzögerungen bei der Rechtsverwirklichung zu entlasten ist. Ähnliche Wertungen finden sich auch in den Vorschußregelungen des § 42 Abs. 1 SGB I und§ 141f AFG. In praktischer Hinsicht begegnet die Analogie aber den gleichen Bedenken wie die Einführung einer Überleitungsvorschrift: Gerichte oder Sozialämter müßten die Ansprüche durchsetzen. b) Man mag ferner erwägen, die Subsidiarität der Prozeßkostenhilfe völlig zu leugnen und bei der Bedürftigkeitsprüfung gern. § 114 ZPO außer Betracht zu lassen. Dafür läßt sich ins Feld führen, daß es sich nicht um ein allgemeines Rechtsprinzip handelt, die Subsidiarität vielmehr in § 2 Abs. 1 BSHG ausdrücklich normiert wurde, während der ZPO eine vergleichbare Regelung fehlt. Subsidiarität ohne Konkretisierung der Voraussetzung und der Grenzen ist aber eine zweifelhafte Angelegenheit. Andererseits ist die Beziehung zwischen Sozialhilfe und Prozeßkostenhilfe vom Gesetzgeber gewollt, wie der doppelte Verweis auf das BSHG in § 115 ZPO und auch die Gesetzgebungsgeschichte verdeutlichen. Dieser Standpunkt entspricht ferner der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes87. Selbst wenn man aber eine solche Qualifizierung der Prozeßkostenhilfe außer Betracht läßt, so müßte dennoch der Unterhaltsanspruch wie jeder andere vermögensrechtliche Anspruch auch zum Vermögen i.S.d. § 115 Abs. 2 ZPO gerechnet werden, das zur Prozeßkostenfinanzierung eingesetzt werden muß. c) Somit sind die Möglichkeiten begrenzt. Dennoch kann die Situation in einigen Punkten ohne Gesetzesänderung verbessert werden: aa) Die Einordnung der Prozeßkostenhilfe als Sozialhilfe sollte nicht nur die Subsidiarität begründen, sondern konsequenterweise auch sonstige Prinzipien des Sozialrechtes übernehmen. § 91 BSHG verbietet 86 87
Meents (Fn. 5), S. 129. BVerfG NJW 1974, 230.
Prozeßkostenhilfe und Prozeßkostenvorschuß
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eine Überleitung der Unterhaltsansprüche schon beim zweiten Verwandtschaftsgrad, beschränkt also den Kreis der Regreßpflichtigen auf Ehegatten, Eltern und Kinder. Hierin liegt eine zutreffende Wertung für den Vorrang des Prozeßkostenvorschusses, der damit im Ehegatten- und Eltern-Kind-Verhältnis ebenfalls seine Grenze finden muß. Damit sind die personellen Beziehungen eindeutiger fixiert als gegenwärtig, allerdings nicht die Schwierigkeiten ausgeräumt, die sich aus den unklaren Tatbestandserfordernissen der§§ 1360a Abs. 4 BGB und 1610 Abs. 2 BGB ergeben haben. Ferner ist offen, inwieweit der Prozeßkostenvorschußanspruch durchsetzbar sein oder durchgesetzt werden muß, um die Prozeßkostenhilfe auszuschließen. Hierzu möchte ich folgendes vorschlagen: Dem Unterhaltsberechtigten sollte Prozeßkostenhilfe gewährt werden, auch wenn ihm u. U. ein Prozeßkostenvorschußanspruch zusteht. Der Beginn der Ratenzahlungen, die gern. der allgemeinen Regel des § 271 BGB sofort fällig werden, weil§ 120 Abs. 1 S. 1 ZPO keine anderweitige Regelung trifft, ist allerdings auf den Zeitpunkt hinauszuschieben, in dem der Prozeßkostenvorschußanspruch üblicherweise realisiert werden kannBB. Gelingt dies, ist die Prozeßkostenhilfe gern. § 124 Nr. 3 ZPO aufzuheben, da die wirtschaftlichen Voraussetzungen für ihre Bewilligung von vornherein nicht vorgelegen haben. Andernfalls bleibt es bei der Prozeßkostenhilfe. bb) Fraglich ist, ob der Antragsteller verpflichtet sein soll, in allen Fällen den Prozeßkostenvorschußanspruch gerichtlich durchzusetzen und inwieweit ihm Vollstreckungsmaßnahmen zuzumuten sind. Die Prozeßkostenhilfebewilligung ist aber an das Fehlen einer mutwilligen Prozeßführung geknüpft, einer besonderen Ausformung des Rechtsschutzbedürfnisses. Mutwillige Prozeßführung liegt jedoch vor, wenn ein Rechtsinstitut zweckwidrig ausgenutzt wird. Dies wird man dann bejahen können, wenn der Antragsteller den Unterhaltspflichtigen nicht einmal zur Leistung des Prozeßkostenvorschusses aufgefordert hat. Andererseits ist es unzumutbar, ihm die Führung eines regulären Unterhaltsprozesses abzuverlangen. M. E. sollte die Grenze im Verfügungs- bzw. Anordnungsverfahren liegen. Zweifelhaft ist allerdings, ob dieses Verfahren vom Antragsteller stets durchzuführen ist, also auch dann, wenn sein Anliegen in die Kategorie der umstrittenen Sachverhalte fehlt. Unter dem Aspekt, daß die Mutwilligkeit eine Mißbrauchsschranke darstellt, ist diese Frage zu verneinen. Es bleibt der Bereich, in dem nach gesicherter Rechtsprechung die sachlichen Voraussetzungen eines Prozeßkostenvorschusses gegeben sind, sei es 88
Kalthoener I Büttner (Fn. 51), Rz 342.
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durch eine solche des BGH oder des jeweils zuständigen Oberlandesgerichtes. cc) Offen ist das Problem der Vollstreckung eines Titels, der im Anordnungs- oder Verfügungsverfahren erstritten wurde. Dabei würde ich eine Mutwilligkeit i.R.d. Prozeßkostenhilfeantrages verneinen, wenn der erste Vollstreckungsversuch fehlgeschlagen ist, sei es, weil bereits nicht zugestellt werden konnte oder weil kein vollstreckbares Vermögen vorhanden war. Ich muß zugestehen, daß der aufgezeigte Weg nur als Versuch gelten kann, die Unzulänglichkeiten des jetzigen Rechtszustandes abzumindern. Er läßt die rechtspolitische Zielsetzung, das Kostenrisiko zwischen Familie und Staat zu verteilen, nicht aus dem Auge und bringt hoffentlich etwas mehr Dogmatik in das Verhältnis zwischen beiden möglichen Kostenträgern. Ein wirklicher Ausweg aus dem Dilemma bleibt dem Gesetzgeber vorbehalten.
Dogmatik und Politik der "Wiederentdeckung des Opfers" Von Kurt Seelmann Die Grundprobleme des Strafrechts stehen im Ruf, ein Feld besonders hitziger Kontroversen zu sein. Vielleicht liegt das daran, daß im Strafrecht mehr als anderswo unterschiedliche philosophische und weltanschauliche Konzepte ganz unmittelbar auf die Lösung von Sachproblemen durchschlagen. Schnelle Antworten gehen da oft auf Kosten der Seriosität. Deshalb würde eine sich rasch ausbreitende h. M. in diesen Grundlagenfragen Verwunderung auslösen. Geradezu Skepsis läge nahe, wenn sich innerhalb weniger Jahre ein breiter Konsens bilden würde, höchste Vorsicht, wenn gar eine Euphorie um sich griffe. Von einer solchen Euphorie aber muß man sprechen, wenn man die Stellungnahmen zur sogenannten "Wiederentdeckung des Opfers" liest!. Seit dem Vortrag von Rieß auf dem Juristentag 1984 wird gar eine "Renaissance der Opferorientierung"2 beschworen. Lassen wir einmal das Stirnrunzeln beiseite, das den Rechtshistorikerangesichts der Selbstverständlichkeit befallen müßte, mit der in solchen Bezeichnungen von einer ursprünglichen Opferorientierung des Strafrechts ausgegangen wird3. Bleiben wir in der Gegenwart und fragen wir, was denn mit dieser Opferentdeckung gemeint ist. Zwei Forderungen sind es in erster Linie, die seit etwa 10 Jahren mit zunehmendem Nachdruck eingeklagt werden. Zwei Forderungen, zu deren Gunsten sich traditionell geradezu verfeindete strafrechtspolitische Lager verbünden: Die Wiedergutmachung des Schadens beim Verletzten durch den Täter müsse Vorrang vor anderen Leistungs- oder Duldungspflichten des Täters haben4 das Strafrecht solle primär, vor anderen Reaktionen , diese Wiedergutmachung ' Jung, JuS 1987, 157; Neumann, in: Hassemer (Hrsg.), Strafrechtspolitik, 1987, S. 225 ff.; zusammenfassende Darstellung zu dieser Wiederentdeckung u. a. bei Frehsee, Schadenswiedergutmachung als Instrument strafrechtlicher Sozialkontrolle. Ein kriminalpolitischer Beitrag zur Suche nach alternativen Sanktionsformen, Berlin 1987, S. 1-6; Kerner, in: Janssen I Kerner, Verbrechensopfer, Sozialarbeit und Justiz, Schriftenreihe der Deutschen Bewährungshilfe e . V., n. F. Bd. 3, 1985, S. 495ff. Zur amerikanischen Entwicklung McGillis, Crime Victim Restitution: An Analysis of Approaches, 1986; zur britischen Entwicklung Jung, ZStW 99 (1987) , 497; zur Situation in der Bundesrepublik, in Österreich und der Schweiz Dünkel I Rössner, ZStW 99 (1987), 845; weitere Nachweise bei Kondziela, MSchrKrim 1989, 177, Fn. 3. 2 Rieß, Gutachten C zum 55. Dt. Juristentag 1984, S. 59. 3 Kritisch dazu Boldt, Restitution, Criminal Law, and the ldeology of lndividuality, in: The Jo~rnal of Criminal Law & Criminology 77 (1986), S. 969 (980ff.). 4 Dazu Schreckling I Piplow ZRP 1989, 10.
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bewirken. Und die zweite Forderung: Die Stellung des Verletzten im Strafverfahren sei zu stärken durch Mitwirkungsrechte am Verfahren bis hin zu einer Dispositionsbefugnis über die Eröffnung des Verfahrens, ja bis zu einer "Waffengleichheit" des Opfers mit dem Beschuldigtens. Angesichts des ungemein breiten Konsens, den solche Forderungen heute unter Strafrechtlern und auch Kriminologen verbuchen können, lohnt ein kurzer Blick auf die ganz unterschiedlichen rechtspolitischen Lager, die solche Forderungen auf ihre Fahnen schreipen. Da gibt es zum einen eine Solidarisierung mit Straftatopfern, sei es aus Mitgefühl, sei es aus eigener Angst vor Straftaten6. Das reicht bis hin zu politischen Parolen wie der, man habe sich lange genug- und gemeint ist manchmal: viel zu sehr- mit den Tätern von Straftaten beschäftigt, etwa im Rahmen von Resozialisierungsbemühungen. Nun sei es hohe Zeit, sich auch einmal um das unschuldige Opfer zu kümmern und seine Situation zu verbessern. Hier schwingt ein Plädoyer für eine Rückkehr zu einem als klassisch verstandenen tatvergeltenden Strafrecht mit. Andere verstehen dagegen die Forderung nach einer Wiederentdeckung des Opfers geradezu als einen ersten Schritt zur Überwindung des Strafrechts7. Auch sie zeigen sich desillusioniert gegenüber dem Gedanken der Resozialisierung; sie weisen darauf hin, wie insbesondere in der Freiheitsstrafe deren prinzipiell entsozialisierende Wirkung durch bestimmte Maßnahmen bestenfalls begrenzt werden könnes. Sie melden aber auch Skepsis am Strafziel der Generalprävention an9, verweisen auf Probleme beim Nachweis der generalpräventiven Wirkung von Strafe einerseits und auf die hohen sozialen Kosten von Strafe, wie etwa die Begünstigung des Rückfalls als Folge strafrechtlicher Stigmatisierung andererseits. Soziale Konflikte sollen nach dieser Auffassung wieder auf ihren Ausgangspunkt im Verhältnis Täter-Opfer reduziert und dort auch - durch Wiedergutmachung- gelöst werden. Allenfalls deren Mißlingen dürfe zu einem durch das Opfer initiierten Strafverfahren führen. Zwischen diesen beiden strafrechtspolitisch so konträr denkenden Gruppen stehen schließlich all die, die sich von der Wiedergutmachung und von mehr Opferrechten im Verfahren eine bessere Grundlage für das Strafrecht, so wie es nun einmal gegenwärtig ist, versprechen: Sie rühmen die bessere Akzeps Rieß, Gutachten C zum 55. Dt. Juristentag 1984, S. 47. Dazu Neumann (Fn. 1), S. 236ff. 7 Schreckling I Pieplow, ZRP 1989, 10. s Dazu P. A. Albrecht, ZStW 97 (1985), 831; Abel I Marsh, Punishment and Restitution- A Restituionary Approach to Crime and the Criminal, 1984, S. 16f. 9 Zu Zweifeln an einer Legitimation von Strafe aus ihrer Abschreckungswirkung H. J. Albrecht, Stichwort "Generalprävention", in: Kaiser I Kerner I Sack I Schellhass (Hrsg.), Kleines Kriminologisches Wörterbuch, 2. Aufl. 1985, S. 132ff. ; Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, München 1981, S. 285ff. 6
Dogmatik und Politik der "Wiederentdeckung des Opfers"
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tanz des Strafrechts in der Bevölkerung, wenn es sich mehr um die Interessen des Opfers kümmere!O. Sie weisen auf eine bessere Motivation eines solchen Opfers zur Mitarbeit im Verfahren hinll. Und sie sehen die Strafziele der Generalprävention und der Resozialisierung gerade durch Wiedergutmachung und Stärkung der Opferrechte im Verfahren gewährleistet. Dem Täter könne so, eventuell in persönlicher Konfrontation mit dem Opfer, der Verletzungscharakter seines Verhaltens erst richtig bewußt werdenl2 • Und gegenüber der Rechtsgemeinschaft wirke die Orientierung an einem gerechten Täter-OpferAusgleich normstabilisierend im Sinne positiver GeneralpräventionB. Entlastung bringe diese Entwicklung für den Strafvollzug, nämlich durch Herausnahme eines großen Bereichs der mittleren Kriminalität aus dem Feld der Freiheitsstrafel4. Entlastet werde aber auch die Justiz durch mehr Opferdisposition über die Verfahrenseröffnungts. Schließlich darf man bei realistischer Interessenbewertung eine vierte Gruppe von Renaissance-Befürwortern nicht vergessen: Die inzwischen sehr zahlreichen Initiatoren und Mitarbeiter von staatlichen, halbstaatlichen und privaten Modellprojekten im Dienste des Täter-Opfer-Ausgleichsl6. Sie nutzen die heute bereits bestehenden Möglichkeiten einer Verfahrenseinstellung oder einer Strafaussetzung zur Bewährung unter der Auflage der Wiedergutmachung des Schadens, indem sie einen organisatorischen Rahmen für solche Wiedergutmachungen zur Verfügung stellen und indem sie eine Ausweitung solcher Möglichkeiten vehement ansteuern. Ich komme also zu meiner
These 1: Die "Wiederentdeckung des Opfers" wirkt konsensstiftend. Vergeltungstheoretiker, Abolitionisten, PräventionsbefürworteT und Projektleiter vereinen sich in der Orientierung am Straftatopfer. Strafrechtspolitik- das zeigt dieser Blick auf die Hintergründe- kann weithin anerkannte Trends hervorbringen, denen sich unterschiedliche, zum Teil einander widersprechende Begründungen zuordnen lassen. Der Verdacht liegt 10 Barnett, Ethics 87 (1977), S. 279ff.; McGillis (Fn. 1), S. 6ff.; Hudson, The Crime Victim and the Criminal Justice System- Timefora Change, in: Pepperdine Law Review 1984, s. 23ff. (34). II Kerner (Fn. 1), S. 504. 12 Morris (Hrsg.), lnstead of Prisons, 1976, S. 119; Noll, Die ethische Begründung der Strafe, 1962, S. 14; Frehsee (Fn. 1), S. 94ft. m.w.Nachw. 13 Worall, Restitution Programming for Correctional Agencies: A Practical Guide, 1981, s. 4. 14 Ein Argument, das in der Diskussion in den USA eine zentrale Rolle spielt, vgl. Barnett, Ethics 87 (1977), S. 279, 281; Note, Harvard Law Review 1984, S. 931. 15 Zur Ausdehnung der Dispositionsbefugnis Schünemann, NStZ 1986, 195. 16 Zusammenstellung in dem vom BMJ in Auftrag gegebenen Gutachten des Fachausschusses I ("Strafrecht und Strafvollzug") des Bundesverbandes der Straffälligenhilfe, hrsg. v. BMJ, 1988, S. 18ff.; Beste, KrimJ 1986, 161 (162f.).
II Rechtsdogmatik und Rechtspolitik
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da freilich nahe, daß in einer solchen Situation die Einigkeit einer Unklarheit der Begriffe geschuldet ist. Aber noch mehr. Der Blick auf die gesetzlichen und dogmatischen Formen, die dieser Trend inzwischen angenommen hat, offenbart erstaunliche Fernwirkungen der strafrechtspolitischen Begründungsvielfalt. Schauen wir zunächst, was sich beim Thema Opferorientierung in den letzten Jahren ereignet hat: 1976 trat ein Opferentschädigungsgesetz in Kraft, das Opfer von Gewalttaten unter bestimmten Bedingungen eine staatliche Entschädigung zukommen läßt. In den darauf folgenden Jahren wurden gesetzliche Bestimmungen, auf die der erwähnte strafrechtspolitische Trend sich stützen konnte, aus einem Dornröschenschlaf hervorgeholt: Vorschriften wie die schon erwähnten, daß bereits im Ermittlungsverfahren unter der Auflage der Wiedergutmachung des Schadens eingestellt werden kann oder daß die verhängte Strafe unter einer Wiedergutmachungsauflage zur Bewährung ausgesetzt werden kann, wurden trotz einer gewissen Zurückhaltung der Praxis in der Literatur breit aufgegriffenn. Zudem machte man sich klar, daß es im Jugendstrafrecht bereits in der Weisung, den Schaden nach Kräften wieder gutzumachen, eine eigenständige opferorientierte Sanktion gab. Auch Institute wie die Privatklage, die Nebenklage und das von jeher mehr als nur scheintote Institut des Adhäsionsverfahrens wurden von den Scheinwerfern wissenschaftlicher Erörterungen erfaßtl8. Parallel dazu hat sich im materiellen Recht eine VictimoDogmatik entwickelt, eine Zurechnungslehre unter Berücksichtigung des Opferverhaltens19. Schließlich wollte auch der Gesetzgeber nicht mehr zurückstehen und beschloß einmütig ein 1987 in Kraft getretenes Opferschutzgesetz. Den Forderungen nach einer prozessualen Besserstellung des Verletzten wurde darin entsprochen durch erweiterte Möglichkeiten der Nebenklage (§ 395 I StPO n. F.); man schuf ein prozessuales Verletzten-Informations- und Akteneinsichtsrecht (§§ 406d, 406e StPO). Dem Adhäsionsverfahren galt ein Wiederbelebungsversuch(§§ 403 I, 406 I 2 StPO); ein erfolgter Täter-OpferAusgleich wurde als Strafmilderungsgrund ins Strafzumessungsrecht eingefügt (§ 46 II StGB n. F.) und Zahlungserleichterungen im Rahmen der Vollstrekkung der Geldstrafe sollten die Möglichkeiten der Schadenswiedergutmachung durch den Täter an den Verletzten verbessern(§ 459a StPO). Lediglich zur Einführung der Schadenswiedergutmachung als eigenständiger strafrechtlicher Sanktion, wie sie seit Beginn der 80iger Jahre z. B. in den USA und in Großbritannien existiert20 und ab 1. Juli dieses Jahres auch in der DDR in
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Übersicht bei Kondziela (Fn. 1).
1s Jung, ZStW 93 (1981 ), 1147ff.; Rieß (Fn. 2), S. 9ff.; Schöch, NStZ 1984, 385.
19 Vgl. nur Schünemann, FS Faller, 1984, S. 357ff. ; ders., NStZ 1986, 439; Rillenkamp, Vorsatztat und Opferverhalten, 1981.
Dogmatik und Politik der "Wiederentdeckung des Opfers"
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Kraft treten wird21, konnte sich der Gesetzgeber noch nicht entschließen. Da die amtliche Begründung einer künftigen Einführung dieser Sanktion viel Wohlwollen entgegenbringt und da neben vielen Stimmen in der Wissenschaft auch eine vom Bundesjustizministerium in Auftrag gegebene Studie diese Sanktion bejaht22, wird sie wohl bald auch Gesetz werden. Die Rspr. hat diese Neuerungen inzwischen sogar überboten. Aus dem Strafmilderungsfaktor des Täter-Opfer-Ausgleichs in § 46 II StGB folgert unser Hanseatisches OLG Harnburg in einer Entscheidung aus diesem Jahr, daß der unterbliebene Täter-Opfer-Ausgleich - spiegelbildlich - die Strafe um der materiellen Genugtuung für das Opfer willen schärfen könne23. Betrachtet man in dieser Weise die Wiederbelebung alter und Schaffung neuer gesetzlicher Vorschriften sowie die Entwicklung in Wissenschaft und Rechtsprechung, so drängt sich zunächst das Bild einer linearen Fortschreibung des strafrechtspolitischen Trends über das Gesetz bis in die Strafrechtsdogmatik hinein auf. Doch dieser Eindruck von Harmonie täuscht. Gerade in der rechtsförmigen Umsetzung zeigen sich die Probleme und Widersprüchlichkeiten der politischen Ziele. Ich möchte dies hier nur anband von vier Problemzusammenhängen aufzeigen, formuliert in den Thesen 2- 5. Ich beginne hierbei mit meiner These 2: Opferorientierung bei den Sanktionen Läßt die Opferverantwortung bei der Zurechnung expandieren.
Je mehr man sich bei den Sanktionen auf das Ziel der Wiedergutmachung des Schadens einläßt, desto mehr löst man eine so zunächst gar nicht intendierte, ja dem ursprünglichen Ziel zuwiderlaufende Entwicklung der strafrechtlichen Zurechnungslehre aus. Soll ein bestimmter Täter an ein bestimmtes Opfer Wiedergutmachung leisten, so muß genau geprüft werden, was dieser Täter diesem Opfer angetan hat. Über den Umfang, in welchem der Täter dem Opfer Wiedergutmachung zu leisten hat, läßt sich nicht ohne einen Blick gerade auf das Verhalten des Opfers entscheiden. Es gerät- das ist bei dieser Art der Annäherung des Strafrechts an das Zivilrecht auch gar nicht verwunderlich- die Frage eines eventuellen Mitverschuldeos beim Opfer notwendig in den Blick: Füt die Wiedergutmachung an das aktuelle Opfer wird 2° § 3579 Victim and Witness Protection Act von 1982, 18 U. S. C. nach amerik. Bundesrecht und z. B. Wash. Rev. Code Ann. § 9A. 20030 (1) (1977 & Supp. 1982) für einen Bundesstaat. Zu den verschiedenen Regelungen in England und Schottland Jung, ZStW 99 (1987), 497. ' 21 Schadensersatz als eigenständige strafrechtliche Sanktion sieht nunmehr auch § 25 des StGB der DDR i.d.F. des 5. Strafrechtsänderungsgesetzes vom 14. 12. 1988 vor, die am 1. 7. 1989 in Kraft trat. 22 Gutachten des Fachausschusses I ("Strafrecht und Strafvollzug") des Bundesverbandes der Straffälligenhilfe, hrsg. v. BMJ 1988, S. 18ff. 23 HansOLG Harnburg NStZ 1989,226.
II *
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folglich über traditionelle Einbruchstellen bei der Notwehr und bei der Einwilligung hinaus relevant, ob und inwieweit das Opfer selbst Anlaß zur Tat gegeben hat, ihre Durchführung erleichtert oder auch nur Selbstschutzobliegenheiten vernachlässigt hat. Was eine Verbesserung des materiellen Opferschutzes bewirken sollte, wirkt sich in der Konsequenz täterbegünstigend aus. Eine ganz neue Richtung der Strafrechtsdogmatik, die bereits erwähnte sog. Victimo-Dogmatik, verdankt der Opferschutzorientierung ihre Existenz. Die Aufnahme der Erkenntnisse der empirischen Wissenschaft der Victimologie in die Strafrechtsdogmatik und damit in einem gewissen Umfang eine Entlastung des Täters ist paradoxerweise gerade das Ergebnis einer unter dem erklärten Ziel des verbesserten Opferschutzes angetretenen Strafrechtspolitik. Ob etwa der besonders Leichtgläubige oder der ohnehin schon Zweifelnde oder vielleicht beide vom Schutz des Betrugstatbestandes gar nicht erfaßt werden, ist seither Gegenstand intensiver Diskussion24. Ob die Entwendung im Selbstbedienungsladen oder das Schwarzfahren in der U-Bahn nicht schon deshalb aus dem Bereich kriminellen Unrechts herausfallen, weil hier der Täter vom Opfer und im Interesse des Opfers dessen Selbstschutzaufgaben überbürdet bekommt25, wird heute eingehend erörtert. Selbst die inzwischen weit täterfreundlichere Rechtsprechung des BGH bei Mitwirkung an fremder Selbstschädigung etwa im Bereich des Drogenkonsums26 und sogar bei der Suizidbeteiligung27 trägt victimo-dogmatische Züge. Ein ähnliches Zauberlehrling-Problem im Verfahrensrecht möchte ich kennzeichnen mit der These 3: Opferdisposition über das Verfahren fördert die Gefahr der Einschüchterung des Opfers durch den sozial mächtigeren Täter und der Ausgrenzung des inaktiven und nicht handlungskompetenten Opfers.
Die Geister, die man durch die Zuerkennung einer Prozeß-Subjekt-Stellung für das Opfer rief, wird man auch in ihrer Wirkung zu Lasten des Opfers nicht mehr los. Ein in das Verfahren eingebundenes Opfer ist ein öffentlich besser verfügbares Opfer- verfügbar auch für die Erörterung solcher victimo-dogmatischer Gesichtspunkte. Ein Opfer gar, das in weit größerem Maße als heute über die Eröffnung des Verfahrens disponieren kann, ist auch in weit größerem Maße als heute den Pressionen des u. V. sozial- vielleicht mit Hilfe der Medien -mächtigeren Täters ausgesetzt, in seinem Sinne zu entscheiden. In den USA, wo die Entwicklung der Opferorientierung der unseren einige Jahre vorauseilt, bedurfte es inzwischen eines "Victim and Witness Protection Act"28, der gegen 24 Hinweise zum Streitstand bei Seelmann, Grundfälle zu den Eigentums- und Vermögensdelikten , 1988, S. 64f. 25 Dazu Arzt, JuS 1974, 693; Alwart, JZ 1986, 563. 26 BGHSt 32, 262. 27 BGHSt 32, 367; BGH NJW 1988, 1532.
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Opfer-Einschüchterungen besonders restraining orders zulassen muß. Ein Opfer schließlich, das selbst über die Eröffnung des Strafverfahrens disponiert oder Verfahrensrechte wahrnimmt, muß ein aktives und handlungskompetentes Opfer sein. Das hilflose Opfer, dessen Schutz doch sonst etwa bei der Prozeßkostenhilfe im Vordergrund steht, fällt aus dem Schutzbereich gerade heraus. Die Orientierung des Strafrechts am aktuellen Opfer ist also im materiellen Recht wie im Verfahrensrecht für dieses Opfer eine zweischneidige Angelegenheit. Aber damit nicht genug. Der Einbau dieser Orientierung am aktuellen Opfer in das herkömmliche Strafrecht schafft zusätzliche Schwierigkeiten. Es entsteht eine tiefgreifende Unverträglichkeitzweier Konzepte, die bei der Forderung nach Orientierung am aktuellen Opfer gar nicht beachtet wurde. Eine "Wiederentdeckung des Opfers" liegt nämlich, von den historischen Vereinfachungen weiterhin abgesehen, schon aus einem anderen Grund gar nicht vor. Unser Strafrecht auch der letzten hundert Jahre war eindeutig opferorientiert-orientiert allerdings nicht am aktuellen, sondern am potentiellen Opfer. Galt doch lange Zeit als unumstritten, daß Aufgabe des Strafrechts der Schutz von Rechtsgütern sei29. Damit meinte man natürlich nicht das in der jeweiligen Straftat verletzte Rechtsgutsobjekt- was sollte daran nach der Verletzung noch geschützt werden? Man dachte an den Schutz anderer, potentieller Opfer in ihren Rechtsgütern mit Hilfe von Androhung oder Vollstreckung der Strafe. Diese Ausrichtung blieb auch dann noch bestehen, als sich Zweifel am sogenannten "Rechtsgüterdogma"30 entwickelt hatten. Wenn heute eine Reihe von Autoren die vordringlichste Aufgabe des Strafrechts nicht mehr in der Verhinderung von Straftaten, sondern in der Formalisierung des aus der Straftat entstehenden Konflikts durch symbolische Gewährleistung von Erwartungssicherheit sehen31, so bleibt der Orientierungspunkt doch das potentielle Opfer: Dessen Erwartungssicherheit soll durch eine zufriedenstellende Reaktion auf die geschehene Straftat erhalten bleiben. Diese traditionelle Orientierung des Strafrechts am potentiellen Opfer kann nun nicht etwa friedlich-schiedlich durch eine Orientierung am aktuellen Opfer ergänzt werden, sondern, dies ist meine
These 4: Zwischen dem Schutz potentieller Opfer und der Wiedergutmachung für das aktuelle Opfer drohen Zielkonflikte. Die heute h. M. versteht als Strafzwecke die Spezialprävention und in Grenzen auch die Generalprävention32. Sie erwartet von der Strafe also ganz wesent§ 3579 Victim and Witness Protection Act von 1982, 18 U. S. C. Dazu Jung, ZStW 93 {1981), 1151. 30 Dazu Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft, 1972, S. 1. 31 Jakobs, AT S. 6f., 27ff. {1!9ff.; 2/lff.) unter Verweis auf Luhmanns Rechtssoziologie; Schünemann, NStZ 1986, 194f. m.w.Nachw.; zum Zusammenhang von Erwartungssicherung und Rechtsgüterschutz Frehsee (Fn. 1), S. 87. 32 Zum Diskussionsstand Jakobs, AT, 1983, 1/27ff. 28
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lieh Verhaltenssteuerung und Erwartungssicherung. Wiedergutmachung gegenüber dem aktuellen Opfer als Ziel der Strafe würde dagegen Art und Höhe der Strafe von den Bedürfnissen eben dieses aktuellen Opfers, von seinem materiellen Schaden, u. U. zusätzlich von seinem ideellen Betroffensein, abhängig machen. Beide Zielbestimmungen- die Orientierung am potentiellen Opfer in den Präventionen und die Orientierung am aktuellen Opfer bei der Wiedergutmachung- können weit voneinander abweichen. Denn das ergebnislose Bemühen des Täters um Wiedergutmachung - etwa weil es an Eigenmitteln fehlt und sich ein Einkommen nicht in notwendiger Höhe erzielen läßt- mag für den Rechtsgüterschutz oder das Strafbedürfnis der Allgemeinheit ausreichen und damit für das "potentielle Opfer" genügen. So lassen es z. B. die §§ 15 JGG und 56b StGB- anders als z.B. § 153a StPO- ausreichen, daß der Schaden "nach Kräften" wiedergutgemacht wird. Das aktuelle Opfer geht dann aber finanziell u. U. leer aus. Umgekehrt ist denkbar, daß das aktuelle Opfer an einer Strafverfolgung überhaupt, aber auch an einer Schadenswiedergutmachung nicht interessiert ist, hingegen die potentiellen Opfer wenigstens eine Wiedergutmachung an das aktuelle Opfer zur Beruhigung ihres Gerechtigkeitsempfindens oder ihres Sicherheitsbedürfnisses brauchen. Nun behaupten zwar Befürworter einer Orientierung des Strafrechts am aktuellen Opfer, dem Verhalten dieses aktuellen Opfers könne eine Indizwirkung für das von einer bestimmten Straftat ausgehende Strafbedürfnis der Allgemeinheit zukommen33. Dies ist jedoch selbst im statistischen Schnitt äußerst unwahrscheinlich. Dagegen spricht nämlich der notwendig ganz unterschiedliche Informationsgrad über den der Straftat vorausgehenden Konflikt und auch der völlig unterschiedliche Grad der Betroffenheit. Stellt man also den traditionellen Zielen des Strafrechts die Wiedergutmachung gegenüber dem Opfer zur Seite, so führt dies zu einer gegenseitigen Beeinträchtigung der Ziele. Die schwierigsten Probleme für die doppelte Opferorientierung dürfte jedoch langfristig die Stärkung der Opferrolle im Verfahren aufwerfen. Dazu meine
These 5: Die Stärkung der Opferrechte im Verfahren gerät in Konflikt mit der herkömmlichen Entdramatisierung der Täter-Opfer-Beziehung; die Unschuldsvermutung wird durch eine Opfervermutung konterkariert. Der weitgehende Ausschluß des Verletzten von einer aktiven Teilnahme am Verfahren gegen den Beschuldigten, die grundsätzliche Reduktion des Opfers bestenfalls auf eine Zeugenrolle, ist lange Zeit als ein Entzug der Möglichkeit zur Rache, als Rationalisierung und Entdramatisierung des Täter-Opfer-Verhältnisses gerühmt worden34. Hierzu in einen eklatanten Widerspruch gerät die Tendenz, die Rolle des Verletzten im Verfahren weiter auszubauen, ihn 33 34
Schünemann, NStZ 1986, 195. Vgl. die Nachweise bei Neumann (Fn. 1), S. 225f.
Dogmatik und Politik der "Wiederentdeckung des Opfers"
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mit mehr Rechten zur Mitgestaltung des Verfahrens auszustatten. Räumt man dem Verletzten eine Subjektstellung im Strafverfahren ein, so erscheint es konsequent, den Anwendungsbereich der Nebenklage und des Klageerzwingungsverfahrens auszuweiten, Anwesenheits-, Informations- und Akteneinsichtsrechte für einen Verletztenbeistand zu schaffen, ja prozessuale "Waffengleichheit" zwischen Beschuldigtem und Verletztem zu fordern. Solche Rechte mögen auch vielfach geäußerten Opferinteressen entgegenkommen. Das Verfahren wird so aber durch eben jene Elemente persönlichen Betroffenseins wieder angereichert, die man um der Formalisierung der Konflikterledigung willen aus ihm ausgeklammert hat. Denn Zweck eines solchen Zuwachses an Verfahrensrechten wie z. B. des Informationsrechts kann nicht der Schutz des Opfers sein - dafür ist es nach Tatbegehung zu spät. Zweck kann im Falle des Informationsrechts die Entscheidung über einen Anschluß als Nebenkläger und damit verbunden das Interesse an der Abwehr von Verdachtsmomenten, das Einbringen eigener Betroffenheit sein. Darüber hinaus gerät die Zuerkennung solcher Rechte für das Opfer mit der Unschuldsvermutung für den Beschuldigten in Konflikt, ja sie stellt geradezu eine der Unschuldsvermutung widersprechende Opfervermutung35 aufsoweit sie nämlich nicht mehr allein der Verdachtsklärung dienen, sondern selbst schon Genugtuung bewirken soll. Die Aufzählung der Ungereimtheiten ließe sich auch in die Details hinein fortsetzen. Ich will es für meinen Zweck insoweit beim bisher Gesagten belassen und eine Zwischenbilanz ziehen: Rechtspolitische Trends, ja Moden scheinen es dort besonders leicht zu haben, wo die verschiedensten rechtspolitischen Motive sich in einer vagen Zielvorstellung treffen. Die dogmatische Umsetzung enthüllt dann aber die Widersprüche und Begründungsdefizite. Stärkung der Orientierung am aktuellen Opfer bei den Sanktionen gegen den Täter revolutioniert die Zurechnungsdogmatik im Sinne einer Entlastung des Täters; Stärkung der prozessualen Rolle des Opfers zieht eben dieses Opfer in die gerichtliche Auseinandersetzung mit hinein, bringt es in die Gefahr von Pressionen durch den Täter oder beläßt es in seiner Hilflosigkeit. Dahinter steht die unbedachte Doppelgleisigkeit der Opferorientierung überhaupt. Die traditionelle Orientierung am potentiellen Opfer verlangt andere Sanktionen als die im Trend stehende Orientierung am aktuellen Opfer; das traditionelle Verständnis des Verfahrens als einer Botdramatisierung jedenfalls der TäterOpfer-Beziehung und als Magna Charta des Beschuldigten reibt sich an der Einbeziehung des aktuellen Opfers unter dem Aspekt der Dramatik von Betroffenheit. Die Lehre aus diesem aktuellen Exempel im Verhältnis von Rechtsdogmatik und Rechtspolitik scheint nahe zu liegen: Eine nicht hinreichend durch35
Dazu Schünemann, NStZ 1986, 198.
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dachte, von unterschiedlichen Standpunkten mit unterschiedlichen Begründungen gestützte, aber doch wegen ihrer Nähe zum Zeitgeist wirkungsmächtige Rechtspolitik steht ziemlich entblößt mit ihren Widersprüchen da, wenn sie in gesetzliche Formen gegossen und rechtsdogmatisch bearbeitet wird. Rechtsdogmatik in ihrer Verpflichtung auf systematische Stimmigkeit, auf Kohärenz mit allgemein anerkannten Prinzipien, fungiert so als Probierstein für die Rationalität von Rechtspolitik. Dazu meine
These 6: Im Aufweis von Ungereimtheiten des strafrechtspolitischen Konzepts der Opferorientierung (These 2 bis 5) besteht eine "Kontrollfunktion" der Rechtsdogmatik. Diese Sicht drängt sich auf und sie ist auch nicht falsch. So manch anderes Lehrstück hierfür ließe sich aufzeigen. Gerade das Strafverfahrensrecht der letzten 20 Jahre enthält eine Fülle von Beispielen dafür, wie von wechselnden parlamentarischen Mehrheiten mit heißen Nadeln tagespolitischer Opportunität gestrickt wurde - unter Mißachtung sorgsam ausbalancierter rechtlicher Prinzipien. Nur Beispiele sind die Regelung der Ausschließung des Verteidigers aus dem Verfahren sowie das sogenannte Kontaktsperregesetz, das wegen offensichtlicher Unzulänglichkeit kurze Zeit später gleich wieder geändert werden mußte oder - ganz aktuell - die Kronzeugenregelung. Und dennoch ist diese "Kontrollfunktion" der Dogmatik doch begrenzt. Dogmatik kann ein neues rechtspolitisches Konzept auf seine systematische Stimmigkeit mit vorhandenen rechtlichen Regeln und Prinzipien testen und sie kann auch innerhalb des neuen Konzepts Kohärenzmängel aufspüren. Gegenüber mißlungener Rechtspolitik mag Dogmatik dann das sein, was Lichtenberg in ihr sah: die fruchtbare und gütige Mutter der Polemik. Das ist nicht wenig. Aber es ist doch dann zu wenig, wenn die vorhandenen rechtlichen Regeln und Prinzipien und ihre Dogmatik in einem bestimmten Bereich ihrerseits aus prinzipiellen Gründen kritikabel erscheinen. Sind es nicht gerade die Probleme der Orientierung des Strafrechts am potentiellen Opfer, auf die man so einhellig wenn auch inkonsistent mit der Renaissance des aktuellen Opfers glaubte reagieren zu müssen? Das "so nicht" der Dogmatik gegenüber einem neuen rechtspolitischen Konzept ist für den zu wenig, der mit dem rechtspolitischen status quo seine Probleme hat und dem die Dogmatik sein neues Konzept als unpassend aufgewiesen hat. "Wie dann" wird er fragen und nach einem anderen rechtspolitischen Konzept sinnen. Sollen die Schwierigkeiten sich nicht wiederholen, wird man sich dabei aber nicht weiter auf eine bloß intuitive Rechtspolitik der Opferorientierung verlassen dürfen. Daraus folgt, dies ist meine
These 7: Für die Strafrechtspolitik, daß diese sich bereits selbst an System-, Kohärenz- und Legitimationskriterien sowie an ihren absehbaren Folgen messen muß (dazu Thesen 8 bis 10).
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Dies ist zugegeben eine etwas altmodische Vorstellung in einer Zeit, da man Rechtspolitik nicht selten nur als "kontrolliertes Experiment" begreifen zu können glaubt, in der auch im Strafrecht besonders lautstark Gefordertes bisweilen erst einmal zum Gesetz gemacht und alles weitere bestenfalls neugierig abgewartet wird. Eine sich selbst im Sinne der These 7 kontrollierende Rechtspolitik müßte dagegen zunächst einmal fragen, worin denn die Unzulänglichkeit der das Strafrecht lange Zeit kennzeichnenden Orientierung am potentiellen Opfer genau besteht. Hier sind verschiedene Einwände zu differenzieren: 1.) daß die Orientierung am potentiellen Opfer mit dem Sanktionensystem de lege lata - Freiheits- und Geldstrafe vor allem - nur unzureichend verfolgt werden können und 2.) daß die Orientierung der Strafzwecke am potentiellen Opfer selbst problematisch ist. Ad 1) Die empirische Erforschung der Möglichkeit von Behandlung im Freiheitsstrafvollzug hat zu Ergebnissen geführt, die Schünemann von einem "Waterloo" des Resozialisierungsgedankens sprechen läßt36. Forschungen zur abschreckenden Wirkung von Strafe zeigen, daß sich für die schwere Gewaltkriminalität meßbare verbrechensmindernde Wirkungen durch eine bestimmte Art der Sanktionspraxis oder der Strafandrohung nicht erkennen lassen37. Daß das aktuelle Opferangesichts von Freiheits- und Geldstrafe für den Täter häufig leer ausgeht und daß dieses Opfer eine vergleichsweise geringe Motivation aufbringen wird, als Zeuge sachdienliche Angaben zu machen, wird als Beeinträchtigung des Strafzwecks der positiven Generalprävention, der Gewährleistung von Rechtsfrieden durch das Strafrecht, beanstandet38. Die Sanktionen de lege lata stehen also- vorsichtig formentiert- in einem "Spannungsverhältnis" mit den Strafzwecken. Ad 2) Die traditionellen Strafzwecke als solche stehen in Frage, wenn eingewandt wird, einer Strafe, die sich an den Präventionen orientiere, fehle es an rechtsstaatlich notwendigen immanenten Begrenzungen39 - wie der Gedanke der Wiedergutmachung sie enthält. - Sie formalisiere zudem bestehende Konflikte nur, trage zur Lösung des Ausgangskonflikts aber nichts bei, da es ihr um diesen Ausgangskonflikt ja ausdrücklich gar nicht gehe4o. Auch wenn man diese Argumente für z. T. überzogen und z. T . unscharf hält, enthalten sie doch einen diskutablen Kern. Einigkeit dürfte vielleicht über folgendes zu erzielen sein: Schünemann, GA 1986, 347. Kaiser, Kriminologie - Eine Einführung in die Grundlagen, 8. Auf!. 1989, S. 131. 38 Barnett (Fn. 10), S. 287; Frehsee (Fn. 1), S. 92; Roxin, in: Schöch (Hrsg.), Wiedergutmachung und Strafrecht - Symposion aus Anlaß des 80. Geburtstages von Friedrich Schaffstein, 1987, S. 42; Kerner (Fn. 1), S. 504. 39 Zu dieser Problematik etwa Hoerster, Festgabe Weinberger, 1984, S. 225, 231. 40 K.F. Schumann, MSchrKrim 70 (1987), 84. 36 37
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These 8: Der Weg "zurück" zur alleinigen Orientierung am potentiellen Opfer ist versperrt, schon weil diese Orientierung jedenfalls z. T. ihren eigenen Zielen hinderlich ist und die Ziele selbst zumindest der Ergänzung bedürfen. Läßt sich nun gegen die Orientierung des Strafrechts am aktuellen Opfer weniger einwenden? Nehmen wir uns einmal die vorhin mit dem Kontrollblick der Dogmatik innerhalb der Orientierung am aktuellen Opfer in den Thesen 2 und 3 entdeckten Ungereimtheiten vor: Daß Opferhilfe in Opferverantwortung mündet und Opferverfahrensdisposition in die Gefahr der Opfereinschüchterung. Die erste Ungereimtheit läßt sich durch eine bloße Korrektur der strafrechtspolitischen Erwartungen noch am leichtesten ohne Nebenwirkungen korrigieren. Die zweite ist wohl ernster zu nehmen, da es hier um die Freiheit der Beteiligten geht. Beeinträchtigt, wie Naucke meint, bereits das Verständnis der Straftat als "Konflikt" statt als Rechtsverletzung die Freiheit von Opfer und Täter, weil der Mächtigere sich dann durchsetzen wird und Rechtsgarantien weder für den Täter noch für das Opfer mehr hinreichend bestehen41? Man könnte dieses Problem wenigstens teilweise in den Griff bekommen, indem man eine Dispositionsbefugnis der unmittelbar Beteiligten über die Verfahrenseröffnung, etwa im Sinne eines generellen Sühneverfahrens, durch eine staatliche Kontroll- und Auffangstellung zum Schutz der Rechte der Beteiligten ergänzt42. Damit aber wäre die Reduzierung der Straftat auf ein Täter-Opfer-Problem bereits partiell zurückgenommen. Das eigentliche Defizit der ausschließlichen Orientierung des Strafrechts am aktuellen Opfer dürfte aber in einem anderen Punkt liegen: in der auch bei ihr bestehenden Abstraktion. So, wie die Orientierung bloß am potentiellen Opfer vom Konflikt, der zur Straftat geführt hat , grundsätzlich abstrahiert, so abstrahiert die bloße Orientierung am aktuellen Opfer grundsätzlich von den Auswirkungen des Konflikts auf Dritte. Dies führt zu meiner
These 9: Der Weg "vorwärts" zur Beschränkung auf die Orientierung am aktuellen Opfer gefährdet Freiheitsrechte der Beteiligten und abstrahiert von den Auswirkungen des Täter- Opfer-Konflikts auf Dritte. Aber damit scheinen wir uns jetzt im Kreis zu drehen: Orientierung allein am potentiellen Opfer ebenso wie Orientierung allein am aktuellen Opfer haben wichtige Gründe gegen sich, aber die Addition beider, wie sie in den letzten Jahren entstanden ist, erweist sich, das war ja die Ausgangsüberlegung zu den Thesen 4 und 5, gleichfalls als inkonsistent. Eine Strafrechtspolitik, die 41 Naucke, Die Sozialphilosophie des sozialwissenschaftlich orientierten Strafrechts, in: Hassemer I Lüderssen I Naucke (Hrsg.), Fortschritt im Strafrecht durch die Sozialwissenschaften?, Heidelberg 1983, S. 9ff., 17. 42 Walter, in: FS Rechtsw. Fakultät Köln, 1988, 557 (570). Weiterführende Hinweise hierzu auch bei Frehsee (Fn. 1), S. 378ff. Hierbei wäre dann auch sicherzustellen, daß nicht nur dem aktiven und handlungskompetenten Opfer geholfen wird. Zu diesem Problem Hassemer, Klug-FS, 1983, S. 217 (228, 233) .
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in ihren Überlegungen bis hierher vorgedrungen ist, wird nicht umhin können, ihre bisherige Argumentationsebene in Frage zu stellen. Sie hat sich um die Klärung von Grundsatzfragen gedrückt. Sie hat schlicht zu lösen versäumt, worin denn das Gemeinsame an der Verletzung durch eine Straftat für alle Beteiligten liegt, worin denn der innere Zusammenhang zwischen der Verletzung aktueller Opfer und potentieller Opfer besteht, warum es überhaupt problematisch ist, sich an zufällig gerade vorhandenen Bedürfnissen der einen oder der anderen zu orientieren. Deshalb meine These 10: Rationale Strafrechtspolitik der Opferorientierung muß vorab klären, worin die Straftat das aktuelle Opfer verletzt und inwiefern die Straftat eben dadurch andere verletzt.
Wer an dieser Stelle tief durchatmet und fürchtet, alles bisher Gesagte sei eigentlich nur die Einleitung zum Thema gewesen und jetzt gehe es erst richtig los, den kann ich beruhigen. Er hat dann zwar in der Problemsicht recht, aber nicht in der Einschätzung meines Vorhabens. Ich komme in meinem Vortrag nun bald zum Ende und möchte nur noch andeuten, wie sich Rechtsdogmatik und Rechtspolitik der Klärung solcher Grundsatzfragen annähern könnten. Daß bei bestimmten rechtswidrigen Taten eine rein zivilrechtliche Reaktion für nicht genügend erachtet wird, mag vielerlei (historische) Gründe haben. Rechtsethisch legitimiert kann diese Differenz aber nur sein, wenn als Resultat solcher Straftaten der unmittelbar Verletzte in einer Hinsicht verletzt ist, in der zugleich alle der Rechtsgemeinschaft Angehörenden verletzt sind. Die Tradition der praktischen Philosophie seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert sieht diese Verletzung im Entzug wechselseitiger Respektierung als Rechtssubjekt43. Da die Rechtsgemeinschaft insgesamt durch ein Geflecht solcher Respektierungs- oder Anerkennungsbeziehungen zusammengehalten wird, hat sie in jedem Fall ein langfristiges Interesse an der Wiederherstellung jeder einzelnen solcher Anerkennungsbeziehungen. Nun kann man vielleicht darüber streiten, wie diese Beziehung nach einer einseitigen Verletzung wieder herzustellen ist, ob dazu, wie diese Tradition meint, eine gleichwertige rechtliche Statusminderung des Täters nötig ist. Leichter wird darüber Konsens und in diesem Fall begründeter Konsens- zu erzielen sein, daß diese Wiederherstellung der Anerkennungsbeziehung notwendig für alle Beteiligten ist nebenbei gesagt auch für den Täter angesichtsder wechselseitigen Bedingtheit der Anerkennung - daß sie also prinzipiell nicht zur Disposition irgend welcher Beteiligter steht, sei es des aktuellen Täters, des aktuellen Opfers oder potentieller Opfer. Bei jeder insoweit einseitigen Orientierung, aber auch bei Kombinationen sind, wie wir sahen, die Folgeprobleme systematisch notwendig vorprogrammiert. 43 Zu dieser seit Hege) erörterten Deduktion der Strafe ausführlich See/mann, JuS 1979, 687.
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Ich muß mir hier die Konkretisierungen sparen, die Frage etwa, unter welchen Voraussetzungen daraus, daß in der Verletzung einer natürlichen Person die Rechtsgemeinschaft verletzt ist, sich umgekehrt ergeben kann, daß in der bloßen Wiedergutmachung dieser Person gegenüber auch das für den intersubjektiven Zusammenhang insgesamt Notwendige geleistet wird44 • Ich muß die Frage Ihren Überlegungen anheimstellen, ob sich auf der Grundlage dieses Anerkennungsmodells etwas über die historischen Veränderungen im Strafrecht ergeben könnte, ob eine in sich gefestigte und wohlgeordnete Gesellschaft sich auf immer weniger und immer weniger einschneidende strafrechtliche Reaktionen zurückziehen könnte45. Die Frage, worin überhaupt eine Anerkennungsverletzung zu sehen ist, könnte abhängig vom Stand der historischen Entwicklung sein. Manche der heute erörterten Veränderungen im Sanktionensystem ließen sich so vielleicht begründen. Aber dies sollte am Schluß nicht mehr sein als ein Hinweis auf den Nutzen der Rechtsphilosophie als juristischer Disziplin. Es sollte den Verdacht erhärten, daß ohne sie Rechtsdogmatik und Rechtspolitik sich bisweilen im Kreise drehen.
Dazu See/mann, JZ 1989, 676. Deutlich wird dies schon in § 218 von Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts von 1821 entwickelt. Die dem nur opferorientierten Strafrecht fehlenden Elemente "Vorsicht, Distanz, Zurückhaltung . . . " (Hassemer, Fn. 42, S. 230) lassen sich nach diesem Modell auch besser gewährleisten. 44 45
Abstrakte Rechtsgeschäfte in Wissenschaft und Gesetzgebung des 19. Jahrhunderts* Von Götz Landwehr Abstrakte Rechtsgeschäfte begegnen uns im geltenden Recht vor allem als Zuwendungsgeschäfte. Dazu gehören sämtliche Verfügungsgeschäfte wie die Eigentumsübertragung, die Begründung und Übertragung von beschränkten dinglichen Rechten1, der Erlaß und die Zession von Forderungen sowie die Schuldübernahme. Abstrakte Zuwendungsgeschäfte sind ferner das Schuldversprechen (§ 780), das Schuldanerkenntnis (§ 781), die Inhaberschuldverschreibung (§§ 793, 796) sowie Wechsel- und Scheckverbindlichkeiten. Ein abstraktes Geschäft besonderer Art ist die Erteilung von Handlungsmacht durch Bevollmächtigung oder Einräumung organschaftlieber Vertretungsmacht. Mit Ausnahme des Wechsels sind die abstrakten Rechtsgeschäfte erst im 19. Jahrhundert von der Wissenschaft entwickelt und schließlich in den Kodifikationen anerkannt worden. Die folgende Darstellung greift exemplarisch den Eigentumserwerb, das Schuldversprechen sowie die Vollmacht heraus. A. Eigentumserwerb
Die Ausgestaltung der Übereignung als abstrakter dinglicher Vertrag im BGB (§§ 929; 873, 925) bereitet nicht nur dem Laien Verständnisschwierigkeiten , sondern ist auch aus der Sicht der Rechtsdogmatik und der Rechtspolitik keineswegs selbstverständlich. Das zeigt in der Gegenwart ein Blick nach Frankreich, in die Schweiz und in die Deutsche Demokratische Republik. Der Code civil von 1804 läßt, der vernunftrechtlichen Lehre von Hugo Grotius2 folgend, in Art. 1582, 1583 das Eigentum durch bloßen kausalen Konsens, d. h. durch den Kaufvertrag übergehen. Diese Regeln galten bekanntlich in
* Der Vortrag wurde für die Drucklegung überarbeitet und hinsichtlich der quellenmäßigen Dokumentation zum besseren Verständnis erweitert. I Auch die Begründung einer Hypothek, einer Grundschuld und eines Pfandrechts an beweglichen Sachen und Rechten ist im Verhältnis zum Sicherungsvertrag ein abstraktes Rechtsgeschäft. Lediglich hinsichtlich der Innehabung des entstandenen Grundpfandrechts unterscheiden sich die akzessorische Hypothek(§§ 1163, 1170) und die selbständige (nicht akzessorische) Grundschuld. Etwas anders sind die Rechtsverhältnisse beim streng akzessorisch ausgebildeten Pfandrecht (vgl. §§ 1204 II, 1209 einer- und § 1252 andererseits) . 2 Hugo Grotius, De jure belli ac pacis libri tres, Paris 1625, lib. II, cap. 6, I. u. II.
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Deutschland bis zum Jahre 1900 in Teilen der preußischen Rheinlande sowie nach dem badischen Landrecht von 1808. In der Schweiz erfolgt die Übereignung durch ein selbständiges, aber rechtsgrundbedürftiges Verfügungsgeschäft (Art. 974 II, 975 I ZGB3). Nach dem Zivilgesetzbuch der DDR von 1975 geht das Eigentum "durch Kauf, Schenkung und anderen Vertrag" sowie anschließende Übergabe bei beweglichen Sachen und Eintragung im Grundbuch bei Grundstücken über(§§ 25, 26 ZGB). In Deutschland richtete sich in der Vergangenheit (seit der Rezeption des römischen Rechts) die Eigentumsübertragung vorwiegend nach den Grundsätzen des gemeinen Rechts. Danach erfolgte der Eigentumserwerb auf der Grundlage der vom usus modernus seit dem 16./17. Jahrhundert entwickelten Rechtsprinzipien durch titulus und modus acquirendi bzw. iusta causa und traditio, d. h. durch ein Kausalgeschäft, zu dem die Übergabe der Sache hinzutreten mußte4. Dem folgten die großen Kodifikationendes Vernunftrechts, der Codex Maximilianeus Bavaricus civilis (Chur-Bayerisches Landrecht) von 1756 (II, Kap. 3, § 7), das Allgemeine Landrecht (ALR) für die preußischen Staaten von 1794 (I 10 §§ 1, 25) und das Österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch (ABGB) von 1811 (§§ 424 - 426). I. Die Lehre vom abstrakten dinglichen Übereignungsvertrag
1. Die Übereignungslehre Savignys Eine völlig neue Bewertung der gemeinrechtlichen Übereignungslehre verdankt die Rechtswissenschaft Friedrich Carl von Savigny6. Nachdem er zu Beginn des 19. Jahrhunderts in seinen Marburger Vorlesungen von 1803/04, wenn auch mit einigen kritischen Nebentönen, noch die bisherige Doktrin vom Eigentumserwerb durch iustus titulus und modus acquirendi vorgetragen 3 Art. 974 II, 975 I ZGB gelten unmittelbar nur für Liegenschaften. Diese Bestimmungen werden aber im Rahmen von Art. 714 I auf bewegliche Sachen entsprechend angewandt. 4 Vgl. H. Coing, Europäisches Privatrecht, Bd. I: Älteres Gemeines Recht (1500 bis 1800), 1985, §56 (S. 303ff.). s ALR I 10 § 1: "Die mittelbare [sc. abgeleitete} Erwerbung des Eigentums einer Sache erfordert außer dem dazu nötigen Titel auch die wirkliche Übergabe derselben". Als Titel gelten Willenserklärungen (Verträge), Gesetze und Urteilssprüche (ALR I 10 § 2). 6 Zum folgenden siehe W. Felgentraeger, Friedrich Carl v. Savignys Einfluß auf die Übereignungslehre (Abh. d. Rechts- u. Staatswiss. Fak. d. Univ. Göttingen, Heft 3), 1927; J. G. Fuchs, lusta causa traditionis in der Romanistischen Wissenschaft (Basler Stud. z. Rechtswiss., Heft 35), Base11952, S. 82ff.; F. Ranieri, Die Lehre der abstrakten Übereignung in der deutschen Zivilrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, in: Wissenschaft und Kodifikation des Privatrechts im 19. Jahrhundert, Bd. li: Die rechtliche Verselbständigung der Austauschverhältnisse vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Entwicklung und Doktrin, hrsg. von H . Coing I W. Wilhelm, 1977, S. 90ff.
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hatte7, verwirft er im Wintersemester 1815/16 in seiner Berliner Pandektenvorlesung die Lehre von der iusta causa als dem obligatorischen Kausalgeschäft. Die zum Eigentumserwerb notwendige iusta causa bedeute nicht das Obligationsgeschäft, sondern "die Absicht des Eigentümers, mit der Tradition das Eigentum zu übertragen". Das eigentliche Übereignungsgeschäft bildet nach Savigny die Tradition, die nicht bloß eine tatsächliche Handlung (die Besitzverschaffung) darstellt, sondern "ihrer Natur nach ein wahrer Vertrag" ist, der durch die iusta causalediglich ausgedrückt wirds. In aller Deutlichkeit tritt uns die neue Lehre in der Pandektenvorlesung von 1827 entgegen: Die "Tradition ist ganz allgemein und notwendig ein Vertrag", durch den das Eigentum übertragen wird, "wenn beide Parteien ihren Willen übereinstimmend ausdrücken". Der Eigentumserwerb erfolgt demnach durch die Besitzübertragung, "wenn der Eigentümer den Willen hat, Eigentum zu übertragen", ohne daß es dazu einer iusta causa im Sinne eines obligatorischen Kausalverhältnisses bedarf9. Damit ist Savigny der erste, der die Übereignung als sachenrechtliehen Vertrag, als ein dingliches aus Einigung und Übergabe bestehendes Rechtsgeschäft begreift.
2. Die Ausbreitung der Lehre Savignys Der neuen Doktrin vom eigenständigen dinglichen Rechtsgeschäft war wie nur selten einer juristischen Entdeckung ein durchschlagender Erfolg beschieden. a) Noch bevor Savigny seine Lehre vom dinglichen Übereignungsvertrag publizierte, fand sie bereits Verbreitung durch seinen Schüler Michael Regenbrecht (1820)10 und vor allem durch Leopold August Warnkönig (1831)11, denen andere sich sofort anschlossenl2 • Nachdem Savigny seine Doktrin im "System des heutigen Römischen Rechts" (1840) und im "Obligationenrecht" (1853) dann selbst dargelegt hatteB, war ihr Siegeszug unaufhaltsam. Otto 7 Vorlesungsniederschriften von Jacob und Wilhelm Grimm. Siehe Felgentraeger (Fn. 6), S. 27ff. s Vorlesungsniederschrift von G . C. Burchardi. Siehe Felgentraeger (Fn. 6), S. 32ff. 9 Vorlesungsniederschrift eines unbekannten Hörers. Siehe Felgentraeger (Fn. 6), s. 36f. w Regenbrecht, Commentatio ad I. 36 D. de Acq. Rer. Dom. et I. 18 D. de Reb. Cred. , Berlin 1820. 11 Warnkönig, Bemerkungen über den Begriff der justa causabei der Tradition, in: AcP 6 (1831), S. lllff. 12 Albrecht Schweppe, System des römischen Privatrechts, 4. Auf!., Teil1 u. 2, 1828; Johann Nepomuk v. Wening-lngenheim, Lehrbuch des gemeinen Zivilrechts, 4. Auf! ., 1831. 13 System, Bd. II1 (1840), § 140, Bd. IV (1841), §§ 155, 159, 161, 163, 170; Obligationenrecht, Bd. II (1853), § 78 II B.
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Bähr (1855), Heinrich Demburg (1857), Ernst Pagenstecher (1857), Rudolf von Jhering (1865), Kar! Friedrich Sintenis (1868), Bernhard Windscheid (1875), Ernst Zitelmann (1879), um einige wichtige Autoren zu nennen, schließen sich ihr anl 4 . Zwar finden sich mit August Bechmann (1876) und vor allem anläßlich der Diskussion über den Entwurf zum BGB mit Emil Strohal (1889), Otto Wendt (1890), W. Kindei (1890) und Paul Krückmann (1897) auch einige ganz entschiedene Gegnerts, die sich jedoch trotz beachtlicher Argumente kein Gehör verschaffen konnten. b) Nicht nur in der Wissenschaft breitet sich die neue Lehre über die Rechtsgestalt der rechtsgeschäftliehen Eigentumsübertragung aus, auch in die Gesetzgebung findet sie schon bald Eingang. Während der erste Entwurf zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Königreich Sachsen von 1852/53 (ebenso wie die Entwürfe eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Großherzogtum Hessen von 1845 und 185116) noch der alten Titulus-Modus-Lehre folgti7 , heißt es nach der heftigen Kritik von Joseph Unger und Carl Georg Wächterts im revidierten Entwurf von 1860 beinahe mit den Worten Savignys: "Durch Übergabe wird das Eigentum einer beweglichen Sache erworben, wenn der Besitz derselben in der Absicht, Eigentum zu übertragen, übergeben wird" (§ 264). Damit wird die Übereignung als besonderes dingliches Rechtsgeschäft anerkannt. Jedoch leugnet der revidierte Entwurf ihren Charakter als unabhängigen Rechtsakt: "Liegt der Übergabe ein nichtiges Rechtsgeschäft zu Grunde, so bewirkt sie keinen Übergang des Eigentums" (§ 267 S. 1). Diese Bestimmung stieß als mit den Grundsätzen der Kondiktion nicht vereinbar auf Kritik und wurde deshalb gestrichenl9. Infolgedessen wurde nur der § 264 des revi-
14 Bähr, Die Anerkennung als Verpflichtungsgrund, 1. Auf!., 1855; Dernburg, AcP 40 {1857), S. 1 ff.; Pagenstecher, Die römische Lehre vom Eigentum, 1857; v. Jhering, Geist des römischen Rechts, Bd. III, 1, 1865; Sintenis, Das praktische gemeine Zivilrecht, 3. Auf! ., 1868; Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, 4. Auf!., 1875; Zitelmann, Irrtum und Rechtsgeschäft, 1879. 15 Bechmann, Der Kauf im Gemeinen Recht, Bd. I, 1876; Strohal, Jher. Jb. 27 {1889), S. 335ff.; Wendt, Jher. Jb. 29 (1890), S. 29ff. (35ff.); Kinde/, Jher. Jb. 29 {1890), S. 397ff.; Krückmann, Arch. f. bürgerl. Recht 13 (1897), S.lff. 16 Entwurf eines BGB für das Großherzogtum Hessen von 1845, Abt. II, Tit. 3: "Das Eigentum an Sachen wird erworben durch Übertragung im Gefolge eines rechtmäßigen Erwerbstitels. Der Erwerbstitel kann in einem Vertrage , in einem Vermächtnisse oder in einem richterlichen Urteile bestehen" . Ebenso: Rev. Entw. von 1851, Art. 54. Siehe dazu die Kritik von Kar/ Ludwig Arndts (1846), in: Gesammelte civilistische Schriften {1874), Bd. III, S. 349ff. (373). 17 Entwurf eines BGB für das Kgr. Sachsen {1852/53), § 378: "Zur Übertragung des Eigentums von dem bisherigen auf einen neuen Eigentümer wird ein dazu geeigneter Titel und Übergabe der Sache erfordert". 18 J. Unger, Der Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuchs für das Königreich Sachsen mit besonderer Rücksicht auf das Österreichische ABGB besprochen, 1853, S. 185ff.; C. G. Wächter, Der Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuchs für das Königreich Sachsen, 1853, S. 30.
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dierten Entwurfes als § 253 in das sächsische BGB von 1863 aufgenommen. Damit hatte die Eigentumsübertragung als von ihrem juristischen Grunde (von der causa) völlig getrennter und in ihren Wirkungen unabhängiger sachenrechtlicher Vertrag eine erste gesetzliche Anerkennung gefunden. Ausdrücklich heißt es dazu in den Motiven zu§ 253: "Der gewöhnlichen Meinung, daß zum Eigentumserwerb durch Tradition eine causa traditionis gehöre, liegt eine Vermischung des Erfordernisses übereinstimmender, auf Eigentumsübertragung gehender Willensrichtungen der Interessenten mit der in die Lehre von den Condictionen gehörenden Frage zu Grunde, ob und aus welchen Gründen das Resultat dieser Willensrichtung, die Eigentumsübertragung, rückgängig gemacht werden kann"20. Dieser Auffassung folgte ein Jahr später der Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Königreich Bayern (1864): "Die Übertragung des Eigentums einer beweglichen Sache wird dadurch bewirkt, daß der bisherige Eigentümer den Besitz derselben in der Absicht der Eigentumsübertragung einem anderen überläßt und dieser denselben in der Absicht des Eigentumserwerbes annimmt" 21 . c) Die neue Lehre vom rechtsgeschäftliehen Eigentumserwerb wurde aber nicht nur von den Gesetzgebern aufgenommen, sondern sie beeinflußte auch die Rechtsanwendung bestehender Gesetze. So schreibt Heinrich Demburg 1884 in seinem "Lehrbuch des Preußischen Privatrechts", daß der Eigentumserwerb nach dem ALR allein davon abhängig ist, daß der Tradition "der übereinstimmende auf den Eigentumsübergang gerichtete Wille der Kontrahenten zu Grunde liegt"22. Dem entgegenstehenden Wortlaut von I 10 § 1 ALR, der zum Eigentumserwerb das Vorhandensein eines Titels verlangt23, begegnet er mit dem Hinweis, daß das ALR beim Fehlen eines Rechtsgrundes nach derzeitiger Rechtsauffassung keine Vindikation, sondern nur eine persönliche condictio indebiti gewähre24. Ähnliche Tendenzen wie in der preußischen Rechtswissenschaft sind in Österreich bei der Bewertung der Bestimmungen des ABGB erkennbar.
19 E. Siebenhaar I G. Siegmann, Commentar zu dem bürgerlichen Gesetzbuche für das Königreich Sachsen, 2. Aufl., 1869, Bd. I, S. 266f. 20 Siebenhaar I Siegmann (Fn. 19), S. 264. 21 Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Königreich Bayern (Fortsetzung), 1864, Dritter Teil: Besitz und Rechte an Sachen, Art. 93. Siehe auch: Motive zum Entwurfe eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Königreich Bayern (Fortsetzung), 1864, S. 43f. 22 Dernburg, Lehrbuch des Preußischen Privatrechts, 4. Auf!., 1884, Bd. I, § 238 (S. 602). - Siehe auch St. Buchholz, Abstraktionsprinzip und Immobiliarrecht, 1978, s. 351f. 23 Siehe oben Fn. 5. 24 Demburg (Fn. 22), S. 603.
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Sogar für das von ganz anderen Grundsätzen geprägte französische Recht in den Rheinlanden und in Baden25 sind Ansätze zu einer Anlehnung an die Prinzipien des abstrakten dinglichen Veräußerungsvertrages auszumachen26. 3. Die rechtspolitische und dogmatische Begründung der Lehre vom abstrakten dinglichen Übereignungsvertrag
Die rasche Anerkennung, welche die Lehre von der dinglichen und abstrakten Rechtsnatur der Tradition in der Rechtswissenschaft und durch die Gesetzgebung erfuhr, zeugt von ihrer Faszination und ihrer Überzeugungskraft. Diese wird heute überwiegend in der vom Abstraktionsgrundsatz garantierten Rechtssicherheit und Rechtsklarheit gesehen27. Diese rechtspolitische Rechtfertigung des abstrakten dinglichen Übereignungsvertrages findet sich indes noch nicht bei Savigny2B. a) Savigny hat sich zur rechtspolitischen Begründung seiner Doktrin überhaupt nicht geäußert. Den Schlüssel für sein dogmatisches Verständnis liefert die immer wiederkehrende Feststellung, daß "die Tradition ein wahrer Vertrag" ist29. Ein Vertrag aber ist nach Savigny darauf gerichtet, ein Rechtsverhältnis zu begründen oder zu verändern3°. Durch ein Rechtsverhältnis wiederum wird "dem individuellen Willen ein Gebiet angewiesen ... , in welchem er unabhängig von jedem fremden Willen zu herrschen hat"Jl. Das Rechtsverhältnis ist demnach die Grundlage des subjektiven Rechts32. Der Vertrag als Mittel rechtlicher Selbstbestimmung dient der Begründung und Übertragung subjektiver Rechte. Zu den Rechtsverhältnissen gehört das Eigentum33. Dessen abgeleiteter Erwerb kann deshalb nur durch Vertrag erfolgen. Der Kaufvertrag scheidet dafür aus, da er allein, nach überkommener römisch-rechtlicher und von Savigny anerkannter Lehre, das Eigentum nicht übertragen kann, sondern die traditio hinzutreten muß34. Der Kaufvertrag ist demnach ein obligatorisches Siehe oben Text zu Fn. 2. Ranieri (Fn. 6), S. 92f. 27 Statt vieler siehe F. Baur, Lehrbuch des Sachenrechts, 14. Auf!. 1987, § 5 IV 1 (S. 42). 28 Zum folgenden siehe auch Ranieri (Fn. 6), S. 102f. 29 System, Bd. III, § 140 (S . 312, 313) , Beilage VIII (S. 354) . - Zu den Vorlesungsniederschriften siehe Felgentraeger (Fn . 6) , S. 34 (1815/16) , 35 (1820/21), 36 (1827). 30 System, Bd. III, § 104 (S. 5), § 140 (S . 309). 31 System, Bd. I, § 52 (S. 333), § 53 (S. 334). 32 System, Bd. I, § 4 (S. 7). 33 System, Bd. I,§ 53 (S. 335, 338), §56 (S. 367ff.) . 34 Anderer Auffassung ist Grotius, der die traditio als das zum titulus hinzutretende Element des Übereignungstatbestandes zwar als positivrechtlich, nicht aber als naturrechtlich ansieht (Fn. 2). 25
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Rechtsgeschäft, das lediglich den Zweck hat, zum Erwerb von Eigentum zu führen3s. Er begründet für sich allein nur schuldrechtliche Verpflichtungen. Das entscheidende Moment für den Eigentumserwerb ist deshalb nicht der Kaufvertrag, sondern die Tradition. Nun verträgt es sich aber nicht mit dem Wesen des Eigentums als eines Rechtsverhältnisses und damit eines Gebietes "unabhängiger Herrschaft des individuellen Willens"36, daß eine bloße Tatsache wie der Besitzerwerb für sich allein zur Übertragung des Eigentums führt. Vielmehr erfordert es das Prinzip rechtlicher Selbstbestimmung, die Tradition als einen auf den Verlust und den Erwerb von Eigentum gerichteten dinglichen Vertrag anzusehen. Savignys Hörern und den Lesern seiner Werke waren diese Zusammenhänge geläufig. Sie brauchten deshalb bei der dogmatischen Einordnung der Tradition als eigenständiges dingliches Rechtsgeschäft nicht ausdrücklich hervorgehoben zu werden. Deutlich wird dies bei Leopold August Warnkönig sichtbar: "Wenn man, abgesehen von aller positiven Gesetzgebung, bei Übertragung von Rechten auf andere nach dem Grunde oder der Ursache fragt, welche den anderen zum Herrn des vorher uns zustehenden Rechtes gemacht hat, wird jedermann, Jurist oder Nichtjurist, sagen müssen, daß es der Wille dessen sei, dem das Recht zustand, der es andern überlassen konnte, und nun wirklich jemandem überlassen habe. Denn im Begriff eines Rechts liegt die Notwendigkeit der dem Berechtigten zustehenden freien Befugnis über dasselbe, die Freiheit, es auszuüben und aufzugeben zu Gunsten eines Dritten. "37 Das in der Übereignungslehre Savignys zum Ausdruck kommende Willensdogma ist zwingende Folge eirter auf der Freiheit der Rechtssubjekte gegründeten Rechtslehre. Wenn das Eigentum als Rechtsverhältnis die rechtliche Willensherrschaft über die unfreie Natur zum Gegenstand hat38, dann erfordert die Übertragung dieses Herrschaftsrechtes einen Akt willentlicher Rechtsgestaltung. Der dingliche Übereignungsvertrag ist insoweit Ausdruck eines auf die menschliche Freiheit hin ausgerichteten Rechtssystems. Diese Rechtsauffassung als formal zu bezeichnen39, ist nur dann berechtigt, wenn man die Gerechtigkeitsvorstellungen einer auf Privatautonomie und Selbstbestimmung gegründeten Rechtsordnung grundsätzlich als formal ansieht. b) Savigny sieht den Zweck der Privatrechtsordnung vorrangig in der Verwirklichung der menschlichen Freiheit, deren gegenseitige rechtliche Anerkennung und Sicherung durch Rechtsverhältnisse erfolgt40, welche durch 35
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System, Bd. I, § 53 (S. 339), § 56 (S. 372, 373, 374); Bd. III, § 140 (S. 313). System, Bd. I, § 53 (S. 334). AcP 6 (1831), S. lllff. (121) . System, Bd. I, § 53 (S. 338), § 56 (S. 367). So Ranieri (Fn. 6), S. 102, 103. System, Bd. I,§ 52 (S. 331ff.).
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"die Vereinigung mehrerer zu einer übereinstimmenden Willenserklärung" begründet werden 41 . Die Ausgestaltung der Tradition als dingliches Rechtsgeschäft hat deshalb freiheitssichernde Funktionen. Erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wird demgegenüber die Bedeutung des abstrakten dinglichen Vertrages für den Verkehrsschutz hervorgehoben. (1) Erste Ansätze finden sich bei Otto Bähr (1855). Savigny betont nur die Unbeachtlichkeit "mangelhafter Beweggründe, insbesondere durch Irrtum", für die Wirksamkeit der Eigentumsübertragung und verweist dabei auf die Rückabwicklung durch Kondiktionen42. Bähr hebt demgegenüber die völlige Trennung und Unabhängigkeit der Eigentumsübertragung von dem ihr zugrunde liegenden Rechtsverhältnis hervor und bezeichnet die Übertragung des Eigentums "als abstrakte Vermögenszuwendung" 43. Diese stellt er auf eine gemeinsame Stufe mit der Stipulation, der Zession und dem WechseJ44, deren Funktion er darin sieht, die Verfolgung bereits vorhandener rechtlicher Verhältnisse "im Rechtswege zu erleichtern und sicher zu stellen"45. (2) Etwas deutlicher äußert sich Heinrich Demburg (1857). Nachdem er feststellt, daß zum Erwerb des Eigentums durch Tradition der Wille des Veräußerers, das Eigentum zu übertragen, und der Wille des Empfängers, das Eigentum zu erwerben, sowie die Überlassung des Besitzes ausreichend sind, daß das Eigentum auch bei fehlender causa übergeht und der Veräußerer nicht vindizieren, sondern nur kondizieren könne, gelangt er zu dem Ergebnis: "Auf diese Weise haben die Römer mit praktischem Takt und logischem Scharfsinn die Frage nach dem Eigentumsübergang, welcher für Dritte Wirkungen haben kann, streng gesondert von der Frage, ob derjenige, welchem ohne Rechtsgrund tradiert wurde, eine Vermögensbereicherung behalten kann, die ihm zwar durch den Willen des Verleihers, aber gegen dessen eigentliche Intentionen zugeflossen ist" 46. Hier wird mit dem Hinweis auf die Wirkungen, die der Eigentumserwerb für Dritte zeitigt, erstmals der Verkehrsschutz angesprochen.
(3) In aller Klarheit wird dieses Ziel dann von Rudolf von Jhering formuliert (1865). Er betont nachdrücklich, daß die Abstraktheit der Übereignung zur Folge hat, daß der Veräußerer beim Fehlen einercausanur eine Kondiktion gegen den Empfänger hat, daß das Eigentum selber dadurch nicht berührt wird, sondern "frei aus der einen Hand in die andere" geht. "Dieser Mechanismus . . . ist vielleicht einer der glücklichsten Gedanken des römischen System, Bd. III, § 140 (S. 309). Obligationenrecht, Bd. II, § 78 (S. 261); System, Bd. III, Beilage VIII (S . 354ff., 358ff.). 43 Bähr (Fn. 14, zitiert nach der 2. Aufl. 1867), S. 13ff. (15). 44 Bähr (Fn. 14), S. 30ff. 45 Bähr (Fn. 14), S. 1. 46 Dernburg, AcP 40 (1857), S. 1, 2. 4t
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Rechts, jedenfalls einer der festesten Anker für die Sicherheit des Eigentums". Der Tatsache, daß der Eigentumserwerb wegen Mangels in der causa nur beim Ersterwerber kondizierbar ist, "verdankt das Eigentum seine Reinheit, Sicherheit und freie Beweglichkeit"47. Abschließend stellt Jhering fest, daß sich die abstrakte Eigentumsübertragung auf den Gedanken reduzieren lasse: "Vereinfachung des Tatbestandes auf analytischem Wege durch Ausscheidung eines zum vollen Bestande des Verhältnisses gehörigen Moments". Das sei ein künstlicher Mechanismus "zum Zweck der Erleichterung der Rechtsverfolgung"48. Die Ausgestaltung der Eigentumsübertragung als abstraktes dingliches Rechtsgeschäft dient hier nicht mehr der Verwirklichung der Privatautonomie im Verhältnis zwischen Veräußerer und Erwerber, sondern dem Schutze Dritter (Verkehrsschutz). Bei der Bewertung dieser Zwecksetzung darf nicht unberücksichtigt bleiben, daß dem gemeinen Recht ein gutgläubiger Eigentumserwerb unbekannt war und daß dieser für das gesamte deutsche Rechtsgebiet erst durch das ADHGB von 1861 bei der Veräußerung beweglicher Sachen durch einen Kaufmann eingeführt wurde. II. Eigentumserwerb an Liegenschaften durch Auflassong und Eintragung im Grundbuch nach dem preußischen EEG
Paragraph 1 des preußischen "Gesetzes über den Eigentumserwerb und die dingliche Belastung der Grundstücke" (EEG) vom 5. Mai 1872, das zur Grundlage des geltenden Liegenschaftsrechts geworden ist, lautet: "Im Falle einer freiwilligen Veräußerung wird das Eigentum an einem Grundstück nur durch die auf Grund einer Auflassung erfolgte Eintragung des Eigentumsüberganges im Grundbuch erworben".
Dieser § 1 erscheint als ein weiterer Sieg des Savignyschen Dogmas vom abstrakten dinglichen Übereignungsvertrag und deshalb keiner weiteren Darstellung wert. Dieses Urteilliegt nahe, da der Justizminister Leonhardt (aus Hannover), der die Gesetzentwürfe den beiden Gesetzgebungshäusern vorlegte, und der Referent Förster (vom Apellationsgericht in Greifswald) Savigny-Schüler waren49. Die Gesetzgebungsgeschichte zeigt indes, daß dieses Urteil vorschnell istso. v. Jhering (Fn. 14), S. 202, 203. v. Jhering (Fn. 14), S. 213. 49 So Hans Brandt, Eigentumserwerb und Austauschgeschäft. Der abstrakte dingliche Vertrag und das System des deutschen Umsatzrechts im Lichte der Rechtswirklichkeit (Leipz. rechtswiss. Stud., H. 120), 1940, S. 89ff. so Zum folgenden siehe Stephan Buchholz, Abstraktionsprinzip und lmmobiliarrecht. Zur Geschichte der Auflassung und der Grundschuld, 1978, S. 142ff., 299ff., 311ff. , 331ff. -Zu der ähnlich verlaufenen Entwicklung in Österreich siehe Herbert Hofmeister, Die Grundsätze des Liegenschaftserwerbes in der Österreichischen Privatrechtsentwicklungseit dem 18. Jahrhundert, 1977. 47
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Die Intentionen des preußischen Gesetzgebers werden nur verständlich, wenn man einen Blick auf das Liegenschaftsrecht im ALR wirft. Der Eigentumserwerb von Grundstücken erfolgte wie bei beweglichen Sachen durch Titel und Tradition (I 10 §§ 1, 2 ALR). Eine Eintragung des Eigentumsübergangs im Hypothekenbuch war nur erforderlich, wenn man das Grundstück belasten wollte (I 10 § 6). Ein zu Unrecht im Hypothekenbuch als Eigentümer Eingetragener konnte das Grundstück zu Gunsten eines Gutgläubigen belasten (I 10 §§ 7 - 10). Ein unrichtiger Bucheintrag ermöglichte dagegen in der Regel keinen gutgläubigen Eigentumserwerb (I 10 § 24). Um zu erreichen, daß jeder Eigentumserwerb auch alsbald in das Hypothekenbuch eingetragen wurde, hatten die Verfasser des ALR das Institut der sog. "Zwangstitelberichtigung" geschaffen (I 10 §§ 12- 14), dem jedochtrotzder angedrohten Geldstrafe kein wirklicher Erfolg beschieden war. Als diese Einrichtung dann im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts als ein obrigkeitsstaatliebes Institut auf wachsende Ablehnung stieß, wurde sie durch KabinettsOrdre vom 31. Okt. 1831 suspendiert. Diese Rechtslage führte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem Nebeneinander von sog. "natürlichem" und "bürgerlichem" Eigentum an Liegenschaften. Der Erwerb des "natürlichen" Eigentums erfolgte durch Titel und Tradition ohne Bucheintrag. Der Inhaber dieses Eigentums konnte seinerseits durch Titel und Tradition über das Eigentum insgesamt verfügen, belasten konnte er das Grundstück nicht. Das "bürgerliche" Eigentum wurde durch Eintragung im Hypothekenbuch erworben ("Bucheigentum"). Sein Inhaber war berechtigt, die Liegenschaft zu belasten, auch wenn er nicht der wirkliche Eigentümer war. Durch Erbfolge und Veräußerungsgeschäfte ohne Bucheintrag entstand häufig ein zu größter Rechtsunsicherheit führendes Nebeneinander von "Naturaleigentum" und "Bucheigentum" in der Hand verschiedener Personen51. Weiterhin galt im Rechtsgebiet des ALR das sog. "materielle Legalitätsprinzip". Nach den Bestimmungen der Hypothekenordnung von 1783 waren die kollegial entscheidenden Hypothekenämter verpflichtet, bei jeder Eigentumseintragung im Hypothekenbuch die Gesetzmäßigkeit und Gültigkeit des Erwerbstitels zu prüfen (II §§ 12, 13, 58, 59 Allgemeine Hypotheken-Ordnung). Dieses Prinzip wurde seit den 30er Jahren von der Rechtspraxis, der Verwaltung und der Wirtschaft mit heftiger Kritik als Mittel obrigkeitlicher Kontrolle und Bevormundung bekämpft und seine Abschaffung verlangt52. 51 Buchholz (Fn. 50), S. 148ff.; ders. , Die Quellen des deutschen Immobiliarrechts im 19. Jahrhundert, in: Ius Commune VII (1978), S. 250ff. (258f.); J. Hedemann, Die Fortschritte des Zivilrechts im XIX. Jahrhundert, Teil II 2, 1935, S. 24, 216f., 257ff.
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2. Die Entwürfe zum preußischen EEG Angesichts dieser und anderer Mängel des preußischen Liegenschaftsrechts wurde seit den 40er Jahren über eine Reform des Hypothekenwesens diskutiert und wurden dazu eine Reihe von Entwürfen vorgelegt. Eine grundlegende Neuordnung des gesamten Liegenschaftsrechts wurde jedoch erst 1868 in Angriff genommen. Unmittelbarer Anlaß waren einmal erneute Klagen über den angeblich infolge der Unzulänglichkeiten des landrechtliehen Grundstücksrechts völlig zerrütteten ländlichen Bodenkredit und sodann vor allem der mit der Annexion von Hannover und Kurhessen erfolgte Erwerb großer Landesteile, in denen gemeines Recht galt und Hypothekenbücher unbekannt waren. a) Die 1868/69 vom Justizministerium vorgelegten Entwürfe über Grundeigentum und Hypothekenrecht hatten es sich zum Ziel gesetzt, das doppelte Liegenschaftseigentum zu beseitigen und den gemeinrechtlichen Eigentumserwerb durch titulus und formlose traditio durch eine Eigentumsübertragung allein durch staatlichen Eintragungsakt im Grundbuch (sog. Eintragungsprinzip) zu ersetzen. Dabei wollte man mecklenburgischen und hanseatischen Vorbildern folgen. Demgemäß hieß es im Entwurf, daß der Eigentumserwerb allein durch die Eintragung im Grundbuch herbeigeführt wird. Die daneben notwendige Auflassung, die durch Einreichung von Antrags- und Bewilligungsurkunden zu verschiedenen Zeiten beim Grundbuchamt bewirkt werden konnte, sollte demgegenüber nicht materielle Grundlage der Übereignung sein, sondern nur verfahrensrechtliche Voraussetzung für den staatlichen Eintragungsakt53. b) Der Entwurf von 1868/69 wurde in der Sitzungsperiode 1869170, geringfügig revidiert, erneut im Landtag eingebracht und vom preußischen Abgeordnetenhaus beraten, aber nicht mehr verabschiedet. Das Justizministerium legte deshalb am 5. Nov. 1871 dem Landtag einen wiederum revidierten (dritten) Entwurf vor, der die am ersten Entwurf geübte Kritik zu berücksichtigen suchte. Der dritte Entwurf nahm davon Abstand, die Auflassung als rein formelles Verfahrenselement zu konzipieren. Stattdessen bestimmte § 1, daß "das Eigentum an einem Grundstück nur durch die auf Grund einer Auflassung und iJTI Anschluß an dieselbe erfolgte Eintragung des Eigentumsübergan52 Buchholz (Fn. 50), S.151ff.; ders. (Fn. 51), S. 259f.; Brandt (Fn. 49), S. 82f.; Hedemann (Fn. 51), S. 260. 53 Entw. zum EEG von 1868/69: § 1: "Das Eigentum an einem Grundstücke wird im Falle einer freiwilligen Veräußerung nur durch Eintragung im Grundbuch erworben." § 2: "Die Eintragung des Erwerbers als Eigentümer erfolgt, wenn der eingetragene Eigentümer dieselbe bewilligt und derErwerbersie beantragt (Auflassung). Einer Vorlegung der Urkunde über das Veräußerungsgeschäft und eines Nachweises der Übergabe bedarf es nicht. "
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ges im Grundbuch erworben" wird. Die Auflassung sollte "durch die mündlich und gleichzeitig vor dem zuständigen Grundbuchamt abzugebenden Erklärungen des eingetragenen Eigentümers, daß er die Eintragung des neuen Erwerbers bewillige, und des Letzteren, daß er diese Eintragung beantrage", erfolgen (§ 2 des Entwurfs zum EEG von 1871). Bei der Eintragung sollte dem Grundbuchrichter nur die Prüfung der Rechtsgültigkeit der Auflassung, nicht aber der Gültigkeit des Grundgeschäfts obliegen54. Dies wurde in nur wenig geänderter Form zum Gesetz erhoben. 3. Die rechtspolitischen und dogmatischen Grundlagen des Auflassungs- und Eintragungsgrundsatzes
Die Abkehr vom reinen Eintragungsprinzip und die Hinwendung zum heute noch geltenden Auflassungs- und Eintragungsgrundsatz hatte praktische55 und vor allem pragmatische Gründe. a) Die Beratung der Reformentwürfe verlief in den beiden Häusern des preußischen Landtages, im Herrenhaus und im Abgeordnetenhaus, von Anfang an kontrovers. Lange Zeit stand die von leidenschaftlichen Debatten begleitete Verabschiedung des EEG auf des Messers Schneide56. Die Gegner der Reform bekämpfen die Beseitigung des landrechtliehen Titulus-Modus-Erwerbes als einen Indifferentismus gegen das materielle Recht und als eine Hinwendung zum formalen Buchrecht, das die Rechtsübertragung zu einem formellen, mechanischen Schreibakt verkümmern lasse. Die Auflassung als formeller Verfahrensakt sei nicht in der Lage, den Erwerbstitel mit seinem materiellen Inhalt als Voraussetzung des Eigentumserwerbs zu ersetzen. Außerdem bedeute der Fortfall der Legalitätsprüfung des Erwerbsgeschäfts die Aufgabe öffentlicher Fürsorge für den Grundbesitz und eine Aufforderung zum Vertragsbruch und zur Depossidierung der Schwachen. Das neue Liegenschaftsrecht mache den Grund und Boden zur Ware und liefere den Grundbesitz der Spekulation und Übervorteilung aus. Die Befürworter beriefen sich demgegenüber auf die Mängel des ALR, insbesondere die Rechtsunsicherheit schaffende Eigentumsduplizität. Sie traten für die Beseitigung von Erwerbshemmnissen, das Selbstdispositionsrecht und 54
Grundbuchordnung vom 5. 5. 1872:
§ 46: "Der Grundbuchrichter ist verpflichtet, die Rechtsgültigkeit der vollzogenen
Auflassung, Eintragungs- oder Löschungsbewilligungen nach Form und Inhalt zu prüfen . . .. Mängel des Rechtsgeschäfts, welches der vollzogenen Auflassung, Eintragungsoder Löschungsbewilligung zu Grunde liegen, berechtigen nicht, die beantragte Eintragung oder Löschung zu beanstanden." 55 Buchholz (Fn. 50), S. 302f. 56 Zum folgenden siehe ausführlich Buchholz (Fn. 50), S. 303ff.; Brandt (Fn. 49), S. lOOff.
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die Mündigkeit der Bürger ein. Das Legalitätsprinzip bekämpften sie als eine lästige, erfolglose und illusorische staatliche Kontrolle. b) Angesichts dieser emotionsgeladenen Diskussion kann in der Ersetzung des in den ersten Entwürfen enthaltenen Eintragungsprinzips durch den Auflassungsgrundsatz kein unmittelbares Bekenntnis des Gesetzgebers zum dinglichen Übereignungsvertrag im Sinne Savignys gesehen werden. Die Regelung des revidierten Entwurfs, der später Gesetz wurde, erscheint vielmehr als ein pragmatischer Kompromiß zwischen den Befürwortern des Titulus-Erwerbes und des Legalitätsprinzips auf der einen und den Anhängern eines auf Rechtssicherheit durch staatlichen Eintragungsakt, aber ohne inhaltliche Kontrolle des Erwerbsgeschäftes abstellenden Liegenschaftserwerbes auf der anderen Seite. Auffassung und Eintragung wurden zusammen zu einem ungetrennten, einheitlichen Rechtsakt umgebildet. Durch die unmittelbare rechtliche Verknüpfung mit dem rechtsbegründenden Publizitätsakt wurden die ursprünglich als reine Verfahrenshandlungen ausgestalteten Auffassungserklärungen dieses Charakters entkleidet und zur formal-rechtlichen Grundlage des richterlichen Eintragungsaktes erhoben57. Dabei wird in den Motiven zum EEG zwar auf gewisse Parallelen zum gemeinrechtlichen Eigentumserwerb hingewiesen und die Auffassungserklärung des Veräußerers mit dem titulus und die Eintragung mit dem modus acquirendi verglichenss, aber der nächste (von Savigny gegangene) Schritt zur Charakterisierung des Eigentumserwerbs an Liegenschaften als dinglicher Vertrag wie bei der Tradition wird nicht vollzogen. Das zeigt auch die inhaltliche Ausrichtung der Auffassung auf die Bewilligung und die Beantragung der Grundbucheintragung (§ 2 EEG) und nicht wie beim vertraglichen Willenselement der Tradition unmittelbar auf den gewollten Rechtsverlust und Rechtserwerb. 4. Die Auflassung als abstrakter dinglicher Vertrag Die Bewertung der Auffassung als dinglicher Vertrag erfolgte nicht durch den Gesetzgeber, sondern durch die Rechtswissenschaft. Bereits 1871 charakterisierte Otto Bähr, der als Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses an der Verabschiedung des EEG aktiv beteiligt war, nach vorausgehendem Hinweis auf Savignys Lehre von der Tradition als abstrakten Rechtsakt - die Auffassung, "den vor dem zuständigen Grundbuchamte erklärten geeinigten Willen, Eigentum zu übertragen", als in die Gerichtsstube verlegten abstrakten dinglichen Vertrag59. Dabei vertrat er allerdings die Auffassung, daß der Eigentumserwerb allein durch die gerichtSiehe dazu Buchholz (Fn. 50), S. 333ff. Jher. Jb. 11 (1871), S. 25. 59 Bähr, Jher. Jb. 11 (1871), S. lff. , (58, 70f.). Siehe dazu auch Buchholz (Fn. 50), s. 309f. 57 58
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liehe Auffassung erfolgt und daß die zwingend vorgeschriebene nachfolgende Eintragung im Grundbuch nur formelle Bedeutung hat60. Damit hat Bähr sich indes nicht durchsetzen können. Ein entsprechender von ihm im Abgeordnetenhaus eingebrachter Antrag, verfiel der Ablehnung61. Bährs klare Ausführungen bereiteten den Weg, daß in der Folgezeit Rechtswissenschaft und Rechtsprechung die Auffassung als abstrakten dinglichen Vertrag einordneten und damit ein einheitliches Dogma für den Eigentumserwerb an Mobilien und Immobilien schufen62. Heinrich Demburg vergleicht die Auffassung als abstraktes Rechtsgeschäft mit dem Wechsel63. Mit der völligen Loslösung der Übereignung vom Grundgeschäft verbindet er teils den Vorteil, "daß der Grundbuchrichter seine Prüfung bei der Eintragung des Erwerbers nicht auf die der Übertragung zu Grunde liegenden Geschäfte zu erstrecken hat", teils den Zweck, "den Verkehr mit Grundstücken trotz der gerichtlichen Form möglichst zu erleichtern"64. 111. Der abstrakte dingliche Vertrag im BGB
Mit der Anerkennung des abstrakten dinglichen Vertrages durch die Rechtswissenschaft und den Partikulargesetzgeber (Sachsen, Bayern) und insbesondere nach Einführung des Grundbuchsystems in Preußen durch das EEG (mit Geltung für zwei Drittel des Reichsgebietes) waren die entscheidenden Weichen für die Ausgestaltung des Eigentumserwerbs im BGB grundsätzlich gestellt65. 1. Die dogmatischen Grundlagen des Vorentwurfs In der Begründung des Vorentwurfs zum Sachenrecht stellt Reinhold Johow bei der Darstellung des Eigentumserwerbs einleitend fest, daß im künftigen Bürgerlichen Gesetzbuch die Grenze zwischen dem Recht der Schuldverhältnisse und dem Gebiet des Sachenrechts nicht verschoben werden dürfe, wenn es gelingen solle, die einzelnen Rechtsinstitute ihrer Rechtsnatur entsprechend zu ordnen. Deshalb verbiete es sich, der Lehre vom Titel und Modus zu folgen und "den obligatorischen Vertrag als Mittel zur Übertragung des Eigentums zu verwerten". Das Sachenrecht habe seine eigenen, die dinglichen Verträge, deshalb sei es nicht notwendig, die Mittel zu seiner Ordnung dem Bähr (Fn. 59), S. 71/72. Bähr (Fn . 59), S. 84 Fn. 46. 62 Siehe dazu Buchholz (Fn. 50), S. 337ft. 63 Dernburg, Preuß. Priv.R., 4. Auf!., 1884, Bd. I,§ 240 (S. 607 Fn. 6). 64 Demburg (Fn. 63), S. 607. 65 Zum folgenden siehe W. Schubert, Die Entstehung der Vorschriften des BGB über Besitz und Eigenturnsübertragung, 1966, S.lOOff. , 131ff. , 144ff., 161ff. 60
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Schuldrecht zu entlehnen. "Die Theorie vom titulus und modus acquirendi ist demnach für die Ordnung der Erwerbung des Eigentums in dem bürgerlichen Gesetzbuch entbehrlich und, weil sie die Grenze zwischen dem Sachenrechte und dem Obligationenrechte verrückt, auch verwerflich" .66 Im übrigen beschränkt sich Johow darauf, die Auffassung zum Eigentumserwerb durch traditio und iusta causa in Wissenschaft und Gesetzgebung sowie insbesondere die Entstehungsgeschichte und die Prinzipien des preußischen EEG ausführlich darzustellen67.
2. Die Entwürfe zum BGB a) Der von Johow erstellte Vorentwurf zum Sachenrecht übernimmt für das Liegenschaftsrecht fast wörtlich die Bestimmungen der §§ 1 und 2 des preußischen EEG über den Eigentumserwerb (TE-SaR §§ 117, 118 I). Bei den beweglichen Sachen folgt er in sprachlich abgewandelter, inhaltlich nur wenig veränderter Form den Normen des sächsischen BGB (§ 253) und des ähnlich lautenden Bayerischen Entwurfes (SaR Art. 93): "Das Eigentum an einer beweglichen Sache wird im Falle der Übertragung erworben durch die in dieser Absicht erfolgte Übergabe der Sache von Seiten des Eigentümers an den Erwerber" (TE-SaR § 132).
Ebenso wie im Bayerischen Entwurf (Art. 94) und ähnlich dem sächsischen BGB (§ 256) folgt eine Norm über die Abstraktheil des sachenrechtliehen Erwerbsgeschäfts: "Der Übergang des Eigentums wird in den Fällen des § 132 nicht gehindert durch die Meinungsverschiedenheit der Beteiligten über den Grund der Übertragung, auch nicht durch die irrige Voraussetzung eines zu der Übertragung verpflichtenden Rechtsgeschäfts" (§ 133).
b) Der I. Entwurf zum BGB löst sich bei der Normierung des Liegenschaftsrechts von seinem Vorbild, dem preußischen EEG. Er erweitert die Bestimmung über den Eigentumserwerb auf die Begründung, die Übertragung und Belastung sonstiger dinglicher Rechte und stellt eindeutig den Charakter des Erwerbsgeschäfts als dinglichen Vertrag klar (E I § 828 I, 11)68. 66 Die Vorlagen der Redaktoren für die erste Kommission zur Ausarbeitung eines Bürgerlichen Gesetzbuches, hrsg. von Werner Schubert, Sachenrecht, Teil 1: Allgemeine Bestimmungen, Besitz und Eigentum, 1982 (Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich. Sachenrecht. Vorlage des Redaktors R. Johow, 1880), S. 753f., ferner S. 758, 761/62. - Siehe auch: Motive zu dem Entwurfe eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich, 1888, Bd. II, S. 3; Bd. III, S. 3, 6, 7, 9 (B. Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, Bd. III, 1899, S. 2, 4, 5f.). 67 Johow (Fn. 66), S. 759- 761, 767- 775. 68 E I§ 828 I, II: "Zur Übertragung des Eigentums sowie zur Begründung, Übertragung oder Belastung eines anderen Rechtes an einem Grundstück durch Rechtsgeschäft ist ein zwi-
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Auch der I. Entwurf hält es für erforderlich, das Abstraktionsprinzip zu betonen, und nimmt eine entsprechende Bestimmung bereits beim Liegenschaftserwerb auf(§ 829)69. Ebenso wie im Grundstücksrecht verdeutlicht der I. Entwurf im Mobiliarsachenrecht seine juristischen Intentionen, indem er den vertraglichen und den abstrakten Charakter des Erwerbsgeschäfts klar formuliert (E I§ 874 1)70. c) Im II. Entwurf des BGB geben die§§ 794 I und 842 S. 1 etwas verändert den Inhalt von EI§§ 828 I, II und 874 I 1 wieder, wobei eine Formulierung gewählt wird, welche die Einigung zwischen Veräußerer und Erwerberinden Vordergrund stellt. Diese Bestimmungen des E II entsprechen nahezu wörtlich den §§ 873 I und 929 S. 1 BGB. Die 2. Kommission sprach sich nachdrücklich für die abstrakte Gestaltung der Eigentumsübertragung aus. Sie "gewähre die Möglichkeit, den Bigenturnsübergang in klarer und einfacher Weise zu vollziehen, und diene damit ganz wesentlich der Sicherheit des Verkehres"71 • Die Anregung, der Gesetzgeber solle dem Grundbuchrichter die Pflicht auferlegen, das dem Eigentumserwerb zugrunde liegende Kausalgeschäft vor der Eintragung im Grundbuch materiell zu prüfen, damit "sich der äußerliche Eigentumsübergang mit dem rechtmäßig gewollten Inhalte des Kausalgeschäfts decke", fand keinen Anklang. Eine sachliche Prüfung der Eintragung seitens des Richters sei "von zweifelhaftem Werte", da sie nicht vom wirklichen Tatbestand, sondern nur sehen dem eingetragenen Berechtigten und dem Erwerber zu schließender Vertrag und die Eintragung in das Grundbuch erforderlich, soweit nicht das Gesetz ein anderes bestimmt. Der Vertrag erfordert die Erklärung des Berechtigten, daß er die Eintragung der Rechtsänderung in das Grundbuch bewillige, und die Annahme der Bewilligung von Seiten des anderen Teiles." Die Gerichtlichkeil der Auflassung ist in E I § 868 geregelt. 69 EI§ 829: "Zur Wirksamkeit des im§ 828 bezeichneten Vertrages ist die Angabe des Rechtsgrundes nicht erforderlich. Die Wirksamkeit des Vertrages wird dadurch nicht ausgeschlossen, daß die Vertragschließenden verschiedene Rechtsgründe vorausgesetzt haben oder daß der von ihnen vorausgesetzte Rechtsgrund nicht vorhanden oder ungültig war. Die Vorschriften der §§ 737 - 748 über Rückforderung einer Leistung wegen ungerechtfertigter Bereicherung bleiben unberührt." Siehe auch: Motive, Bd. III, S. 187f. (Mugdan, Fn. 66, S. 103f.). 70 EI§ 874 I: "Zur Übertragung des Eigentums an einer beweglichen Sache durch Rechtsgeschäft ist ein zwischen dem Eigentümer und dem E rwerber unter Übergabe der Sache zu schließender Vertrag erforderlich, welcher die Willenserklärung der Vertragschließenden enthält, daß das Eigentum auf den Erwerber übergehen soll. Die Vorschriften des§ 829 finden entsprechend Anwendung." Siehe auch: Motive, Bd. III, S. 339 (Mugdan, Fn. 66, S. 188). 71 Protokolle der Kommission für die zweite Lesung des Entwurfs des Bürgerlichen Gesetzbuchs, 1899, Bd. III, S. 53, [S. 3386] (Mugdan, Fn. 66, S. 523). - Siehe auch Schubert (Fn. 65), S. 131.
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von den vorgelegten Urkunden ausgehen können. Im übrigen habe, so stellte die Kommission grundsätzlich fest, die Erfahrung gezeigt, "daß, wenn man den Richter verpflichte, jede beantragte Eintragung auch in Betreff des Kausalverhältnissesauf ihre Rechtmäßigkeit zu prüfen, die Erledigung der Anträge außerordentlich verzögert werde''73. In Anbetracht der uneingeschränkten Anerkennung des Abstraktionsgrundsatzes beschloß die Kommission die Streichung von E I § 829, da diese Norm zwar "richtig, aber überflüssig" sei. Der Satz 1 von § 829 habe gegenüber E I § 828 "keinen besonderen Rechtsinhalt, sondern verfolge einen rein lehrhaften Zweck, indem er nur mit Rücksicht auf die bisher in einigen Rechtsgebieten herrschende Lehre vom titulus und modus acquirendi zum Ausdruck bringe, daß fortan zu den Erfordernissen des Erwerbes dinglicher Rechte an Grundstücken außer dem abstrakten Vertrag und der Eintragung in das Grundbuch ein besonderer Rechtstitel nicht erforderlich sei". Ebensowenig sei es aber notwendig, den Inhalt von § 829 S. 1 in den§ 828 zu übernehmen. "Aus der beschlossenen Fassung des § 828 Abs. 1 ergebe sich, daß die daselbst für den Erwerb dinglicher Rechte an Grundstücken aufgestellten Erfordernisse auch zum Erwerbe genügend seien".74 Zu E I § 874 I wurde der Antrag gestellt, bei beweglichen Sachen den Eigentumserwerb außer von der Übergabe auch von einem gültigen obligatorischen Geschäft abhängig zu machen75. Dies wurde abgelehnt und ebenso wie beim Liegenschaftserwerb beschlossen, auch in § 874 I keinen direkten Hinweis auf das Abstraktionsprinzip aufzunehmen76. d) Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß für die Verfasser des BGB die Ausgestaltung der Übereignung als abstraktes dingliches Rechtsgeschäft nahezu eine Selbstverständlichkeit war. Dogmatische und rechtspolitische Erläuterungen dieses Grundsatzes erschienen deshalb beinahe überflüssig und fielen entsprechend knapp aus. Im Prinzip beschränkte man sich auf die Feststellung, daß der Entwurf in Übereinstimmung mit der Wissenschaft die TheoProtokolle, Bd. III, S. 54 [S. 3386f.] (Mugdan, Fn. 66, S. 523f.). Protokolle, Bd. III, S. 53 [S. 3386] (Mugdan, Fn. 66, S. 523). 74 Protokolle, Bd. III, S. 64 [S. 3408] (Mugdan, Fn. 66, S. 531). Zu Satz 2 von§ 829 (E I) heißt es, dieser "ergebe sich von selbst aus dem Wesen des dinglichen Vertrages", a.a.O. 75 Protokolle, Bd. III, S. 195 (S. 3676] (Mugdan, Fn. 66, S. 623) . - Siehe auch Schubert (Fn. 65), S. 161. 76 Dazu heißt es (ein wenig mißverständlich) in den Protokollen, Bd. III, S. 195f. [S. 3677]: "Wesentlich aus denselben Gründen wie bei dem§ 828 beschloß man, in dem § 874 nicht hervorzuheben, daß zum Übergange des Eigentums neben dem obligatorischen Rechtsgeschäft und der Übergabe der Sache ein besonderer (dinglicher) Vertrag notwendig sei. Eine gegenteilige Meinung wurde nicht vertreten" (Mugdan, Fn. 66, S. 624). Zur Streichung von E I § 774 I 1 siehe ebendort, S. 196 [S. 3678] (Mugdan, Fn. 66, S. 624). 72
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rie vomtitulusund modus acquirendi ablehne77. Unsicher war man lediglich, ob die übereinstimmenden Willensäußerungen des Veräußerers und Erwerbers als Vertrag oder als einseitige rechtsgeschäftliche Erklärungen anzusehen seien. Deshalb beschränkte man sich darauf, in§§ 873 I, 929 S. 1 die Einigung der beteiligten Personen festzustellen, und überließ die rechtliche Bewertung dieses Vorganges der Wissenschaft78. Im übrigen finden sich nur wenige Hinweise auf den vom Abstraktionsprinzip ausgehenden Verkehrsschutz79.
3. Die Kritik an den Entwürfen zum BGB Die Ausgestaltung der Übereignung als abstraktes dingliches Rechtsgeschäft fand überwiegend positive Aufnahmeso. Nur wenige grundsätzliche kritische und ablehnende Stimmen wurden laut. a) Otto (von) Gierke betrachtet den dem Entwurf zugrunde gelegten Abstraktionsgrundsatz zunächst aus einer grundsätzlich skeptischen Distanz, aber insgesamt nicht völlig ablehnend. "Die mit der LosreiBung des Veräußerungsgeschäftes vom Veräußerungsgrunde unverkennbar verknüpften Gefahren" dürften "zum Teil durch die Vorteile überwogen werden, welche aus der selbständigen Wirksamkeit einer in sich selbst fehlerfreien Veräußerungshandlung für die Sicherheit des Rechtsverkehrs erwachsen". Auch würden Bedenken "gegen die Gültigkeit einer ihrem Grunde nach hinfälligen abstrakten Willenserklärung insoweit, als Auflassung oder leibliche Übergabe erforderlich ist, durch die eindringliche Sinnfälligkeit des Erklärungsmittels abgeschwächt". Das den Entwurf beherrschende Abstraktionsprinzip entspreche als teilweise schon geltendes Recht "dem Zuge der Zeit". Darüber dürfe man aber niemals vergessen, "daß ihm nur eine formale Bedeutung innewohnt und daß es schlechthin nicht auf Kosten des materiellen Rechtes durchgeführt werden darf" . "Die Obligation, welche einen Veräußerungsgrund schafft, und die Veräußerungshandlung, welche den veränderten Rechtszustand herstellt, gehören zusammen, und wenn das Recht sie äußerlich gegeneinander verselbständigt, will und darf es doch ihren inneren Zusammenhang hiermit keineswegs verleugnen".SI Motive, Bd. III, S. 7, 159, 333 (Mugdan, Fn. 66, S. 4, 88, 184). Siehe einerseits: Motive, Bd. III, S. 7, 172, 333 (Mugdan, Fn. 66, S. 4, 95, 184)und andererseits: Protokolle, Bd. III, S. 56ff., 195 (S. 3391ff., 3676f.] (Mugdan, s. 525f., 623). 79 Protokolle, Bd. III, S. 53 [S. 3386] (Mugdan, Fn. 66, S. 523). - Im übrigen wird hinsichtlich der Abstraktheit des Übereignungsgeschäfts auf den Erlaßvertrag verwiesen (Protokolle, Bd. III, S. 65 (S. 3408]; Mugdan, Fn. 66, S. 531), dessen abstrakte Ausgestaltung mit einem Verkehrsbedürfnis begründet wird (Motive, Bd. II, S. 115; Mugdan, Fn. 66, Bd. II, 1899, S. 63). 80 Siehe Schubert (Fn. 65), S. 118ff., 125ff., 155ff. 81 0. Gierke, Der Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs und das deutsche Recht, 1889, s. 187, 188f. 77
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Deutlich kritischer fällt Gierkes Kommentar dann bei der Betrachtung der einzelnen Materien des Sachenrechts aus. Für das Liegenschaftsrecht des Entwurfes stellt er unter Berufung auch auf andere Autoren fest, daß "die rücksichtslose Durchführung des Prinzips eines unbedingt wirksamen abstrakten Vertrages, der gleich der Wechselobligation niemals wegen Mängel im Rechtsgrunde umgestoßen, sondern höchstens durch eine außerhalb des Sachenrechts liegende Bereicherungsklage in gewissem Umfange unschädlich gemacht werden kann, das materielle Recht" bedrohe82 . Beim Mobiliarsachenrecht lobt Gierke zunächst, daß der Entwurf nicht das französische Prinzip der Eigentumsübertragung durch bloßen Konsens übernommen, sondern sich für das im übrigen Deutschland geltende Traditionssystem entschieden habe. Er beklagt dann aber, daß der Gesetzentwurf diesem System keine "natürlichere und den deutschen Rechtsanschauungen minder widersprechende Gestalt verliehen" habe. Er prangert es als "eine doktrinäre Vergewaltigung des Lebens" an, wenn der Entwurf "durch lehrbuchartige Sätze" dazu zwinge, "die einfachste Veräußerung einer beweglichen Sache in mindestens drei voneinander rechtlich ganz unabhängige juristische Vorgänge zu zerlegen". Am Beispiel des Handkaufes demonstriert Gierke, daß man sich bei einem solchen Geschäft des täglichen Lebens fortan stets vor Augen halten müsse, daß rechtlich zu trennen sei: zwischen dem Abschluß des obligatorischen Vertrages und seiner Erfüllung, der Vornahme des abstrakten dinglichen Vertrages und schließlich der in der Übergabe liegenden Rechtshandlung. Nach der rhetorischen Frage, ob das "nicht bare Fiktionen" seien, folgt das abschließende negative Urteil: Indem "zwei gegeneinander selbständige Verträge erdichtet werden, wo es sich in Wahrheit nur um zwei verschiedene Betrachtungsformen eines einheitlichen Rechtsgeschäftes handelt, wird nicht nur der wirkliche Hergang auf den Kopf gestellt, sondern auch das materielle Recht durch Überspannung eines formalen Gedankens geschädigt". 83 Dabei bleibt allerdings unklar, ob diese Ablehnung nur das Handgeschäft betrifft oder der abstrakten Ausgestaltung des Traditionsprinzips insgesamt gilt. b) Weniger gefühlsbetont und in der Argumentation dogmatisch ist die ablehnende Kritik von Emil Strohal, der der Lehre Savignys vom dinglichen Übereignungsvertrag vorwirft, "eine vorzugsweise theoretische und aprioristische Beurteilung des Rechtslebens" zu sein. Strohal bekämpft die Vorstellung, daß "die rechtsübertragende Kraft der Tradition auf die dabei angeblich erfolgende übereinstimmende Erklärung des Eigentumübertragungs- und Eigentumübernahme-Willens" zurückzuführen und daß "daneben die EiniGierke (Fn. 81) , S. 315. Gierke (Fn. 81), S. 336. Ironisch schließt Gierke seine Kritik mit dem Satz, es fehle nur noch, "daß in Fällen, in denen sowohl der Kaufvertrag als der Vollzug der Übergabe beurkundet ist, der Stempelfiskus einen doppelten Vertragsstempel erhebt!" 82
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gung über die causa traditionis ein völlig nutzloses superfluum" sei, als fiktiv und willkürlichs4. Der Eigentumsübergang bei der Tradition erfordere neben dem naturalen Akt eine materiell-rechtliche Grundlage. Diese liege nicht in einem fiktiven Rechtsübertragungs- und Rechtserwerbswillen, sondern in der vorhergehenden oder gleichzeitigen Einigung über einen Rechtfertigungsgrund für den Eigentumserwerb (iusta causa). Denn erst dadurch stehe fest, daß durch den Eigentumsübergang "der gebenden Partei kein materielles Unrecht geschieht". Fehle eine Einigung über die causa, dann sei geradezu gewiß, "daß die gebende Partei bei Statuierung des Eigentumsübergangs ein materielles Unrecht erlitte", und es erscheine überdies in der Regel "selbst ein Besitzüberlassungswille schlechthin ausgeschlossen". "Was die Rechtsordnung bei solcher Sachlage bestimmen sollte, Eigentum trotzdem übergehen zu lassen, bleibt also völlig unerfindlich" .ss Strohal erblickt in dem Erfordernis der Einigung über eine iusta causa traditionis beim Eigentumserwerb "eine nicht zu unterschätzende Garantie gegen allzu häufiges Vorkommen von materiell ungerechtfertigten und deshalb wieder rückgängig zu machenden Eigentumsübertragungen"86. Als Regelfall sei deshalb zu normieren, daß das Vorhandensein eines Kausalgeschäfts Wirksamkeitsvoraussetzung für den Eigentumsübergang sein müsse. Die gegenteilige Auffassung des Entwurfes, der die iusta causa lediglich als Motiv der Rechtsübertragung betrachte, sei "aufgelegt falsch"87 . Nur im Liegenschaftsrecht mit dem staatlichen Bucheintrag billigt Strohal dem Gesetzgeber das Recht zu, "das Kausalgeschäft aus dem Rechtsübertragungstatbestand völlig auszuscheiden" und den Grundbuchrichter nur anzuweisen, bei einer Eintragung lediglich darauf zu achten, ob ein äußerlich korrekter Antrag und eine entsprechende Eintragungsbewilligung vorliegenss. Schließlich beruft sich Strohal für die Richtigkeit seiner Auffassung auf das Bereicherungsrecht. Die Existenz des Kondiktionssystems und seine Regelung im Entwurf beruhe offenbar auf der richtigen Erkenntnis, "daß der naturale Zusammenhang zwischen Rechtsübertragung und Kausalgeschäft trotz aller künstlichen Mittel, beide auseinanderzuhalten, ein unzerreißbarer 84 Strohal, Rechtsübertragung und Kausalgeschäft im Hinblick auf den Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutes Reich, in: Jher. Jb. 27 (1889) , S. 335ff. (358, 359). 85 Strohal (Fn. 84), S. 363. 86 Strohal (Fn. 84), S. 386. 87 Strohal (Fn. 84), S. 396. Ein Eigentumserwerb soll allerdings erfolgen, wenn das Kausalgeschäft später wegen Irrtums oder Täuschung angefochten wird. In diesem Fall soll der Veräußerer gegen den Erwerber nur einen Kondiktionsanspruch geltend machen können. A . a. 0 ., S. 386 - 389, 403. ss Stroha/ (Fn. 84), S. 395.
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ist". "Indem die Rechtsordnung dem Geber gegen den Nehmer im selben Augenblicke, wo sie einen dinglichen Rechtseffekt eintreten läßt, wegen der Mangelhaftigkeit der causa einen Anspruch auf Rückgängigmachung dieses Effekts gewährt, gesteht sie ein, daß die durch die Ausscheidung des Kausalverhältnisses aus dem Rechtsübertragungs-Tatbestand erzielte Vereinfachung im konkreten Fall zu einem schweren Fehler geführt hat, der wieder repariert werden muß" _89 Die vom Gesetzgeber selbst eingestandene Unzulänglichkeit des abstrakten Eigentumserwerbs, die sich insbesondere beim Konkurs des Eigentümers, der rechtsgrundlos erworben habe, zeige90, erfordere beim Fehlen einer iusta causa die Gewährung eines Vindikations- und nicht eines Kondiktionsanspruchs91. c) Die Kritiker des abstrakten dinglichen Vertrages92 haben sich kein Gehör verschaffen können. Dieses Institut, das der Rechtsklarheit und der Rechtssicherheit dienen soll, entsprach, wie Gierke richtig bemerkt hatte, dem Zuge der Zeit. So überrascht es nur wenig, daß Gierke seine grundsätzlichen Bedenken später nicht mehr wiederholt93. Nach dem lokrafttreten des BGB wandte sich die Diskussion der Frage zu, inwieweit der Vorwurf sittenwidrigen Verhaltens nicht nur dem Kausalgeschäft, sondern auch dem dinglichen Rechtsgeschäft gegenüber erhoben und statt eines Konditionsanspruchs aus §§ 812 I, 817 eine Vindikation geltend gemacht werden könne94. Erst in der Reformdiskussion der 30er und 40er Jahre , insbesondere während des Nationalsozialismus, wurde die Berechtigung des abstrakten dinglichen Rechtsgeschäfts grundsätzlich infrage gestellt95.
Strohal (Fn. 84) , S. 410. Strohal (Fn. 84), S. 389, 406, 411. Insbesondere für den Fall des Konkurses des Erwerbers hält es Strohal für völlig ausgeschlossen, "dem Laienverstande auch nur begreiflich zu machen", daß der übertragene Gegenstand zur Konkursmasse gehöre und der Veräußerer der rechtsgrundlos übergebenen Sache sich in die Reihe der Konkursgläubiger einreihen müsse. 91 Strohal (Fn. 84), S. 406 - 410. Abstrakte dingliche Rechtsgeschäfte will Strohal aufgrund Parteiabrede bei Kompliziertheit des konkreten Kausalgeschäfts oder bei Interesse an einer Geheimhaltung des Kausalverhältnisses gegenüber Dritten unter Wahrung bestimmter Formen, wie bei der Auflassung, zulassen. A. a. 0. , S. 398. 92 Zu den Kritikern des abstrakten dinglichen Vertrages gehören auch die in Fn. 15 genannten Autoren. 93 Gierke, Deutsches Privatrecht, Bd. II, 1905, S. 316f., 450f., 546f. 94 Siehe z. B. Neubecker, Arch. f. Bürger!. Recht 22 (1903), S. 34ff. (67 - 72); Litten, Arch. f. Rechts- u. Wirtschaftsphilosophie 16 (1922/23), S. 493ff. 95 Siehe z. B. E. Cohn, AcP 135 (1932), S. 67ff. ; H. Krause, AcP 145 (1939), S. 312ff.; H . Lange, AcP 146 (1941) , S. 28ff.; ders., AcP 147 (1941), S. 290ff.; ders., AcP 148 (1943), S. 188ff. ; Ph. Heck, Das abstrakte dingliche Rechtsgeschäft , 1937; H. Brandt (Fn. 49). 89
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B. Der abstrakte Schuldvertrag
Das ältere gemeine Recht und die gemeinrechtliche Wissenschaft forderten bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts für den obligatorischen Vertrag- abgesehen vom Wechsel- außer der Willenseinigung der Parteien das Vorhandensein einer causa. Der Rechtsgrund, der entweder unmittelbar aus dem Vertrag hervorgehen oder aber im Prozeß bewiesen werden mußte, wurde verlangt, um die Ernstlichkeil der Schuldnerverpflichtung zu gewährleisten. Ausgeschlossen war damit die Anerkennung einer Verpflichtung, in der die Zahlung einer bestimmten Geldsumme ohne Hinweis auf die Grundlage dieser Zusage versprochen wurde (abstraktes Versprechen). Auch zum Beweise eines Schuldvertrages verlangte man eine Schuldurkunde, die den Schuldgrund nannte (sog. cautio discreta). Einem abstrakt lautenden Schuldschein (sog. cautio indiscreta) wurde die Anerkennung versagt96 • Nach einer ersten, frühen Entscheidung des Oberappellationsgerichts zu Kassel aus dem Jahre 1823 mehren sich seit der Mitte der 40er Jahre Urteile der deutschen Obergerichte, in denen die Klagbarkeit von Schuldurkunden, die aufgrund einer Abrechnung oder eines Kontokorrents erstellt worden waren, anerkannt wurde97. Nach 1850 war es in der Rechtsprechung beinahe Allgemeingut, daß die Abrechnung als ein eigenständiges Rechtsgeschäft anzusehen ist und deshalb einen selbständigen Schuldgrund darstellt, ohne daß auf die ursprünglichen Forderungen zurückgegriffen werden muß. In dieser Rechtsprechung lag zunächst noch nicht die Zulassung eines abstrakten Schuldversprechens, sondern nur die Bewertung der Abrechnung als einer gegenüber den ursprünglichen Schuldverpflichtungen neuen causa debendi. Diese Rechtspraxis war aber der erste Schritt zur Anerkennung kausaloser Verpflichtungen. I. Die Anerkennung als Verpflichtungsgrund
1. Die Lehre Otto Bährs Im Jahre 1855 erschien die Schrift "Die Anerkennung als Verpflichtungsgrund" von Otto Bähr, damals Richter am Obergericht in Fulda, später am Oberappellationsgericht zu Kassel (seit 1863), dann am 1867 neuerrichteten Oberapellationsgericht in Berlin und schließlich am Reichsgericht (1879), den wir bereits im ersten Teil kennengelernt haben. Dieses Buch, das es sich zum 96 Siehe H. Coing, Europäisches Privatrecht, Bd. I, 1985, S. 400ft., Bd. II, 1989, S. 437; H. Kiefner, Der abstrakte obligatorische Vertrag in Praxis und Theorie des 19. Jahrhunderts, in: Wissenschaft und Kodifikation des Privatrechts im 19. Jahrhundert, Bd. II, hrsg. von H. Coing I W. Wilhelm (1977), S. 74ff. (78ff.). 97 Zum folgenden siehe H. Kiefner (Fn. 96), S. 77.
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Ziel gesetzt hatte, "der Stipulationslehre praktische Bedeutung zu geben", hat die Diskussion über den abstrakten Schuldvertrag bis fast zum Ende des Jahrhunderts beherrscht98. a) Bähr unterscheidet zwischen materiellen (kausalen) und formellen (abstrakten) Schuldverträgen99. Die materiellen Verträge, in denen Bähr das ursprüngliche Erscheinungsbild des Obligationenverhältnisses vermutet, sind durch die "Ungetrenntheit des die einzelne Verpflichtung begründenden Versprechens von seinem Rechtsgrunde" charakterisiert!OO. Bei diesen Obligationen hat "das einfache Versprechen kein von seinem Rechtsgrunde getrenntes, selbständiges Dasein; es biidet vielmehr nur mit diesem zusammen denjenigen Willensakt, welchen wir Vertrag nennen"IOt. Die causa, mit der zusammen das Versprechen einen ungetrennten Willensakt darstellt, ist der zur objektiven Realität gelangte juristische Zweck, der juristische Grund, um dessen willen eine Obligation eingegangen wirdt02. Die völlige Abhängigkeit des obligatorischen Versprechens von seinem Rechtsgrunde demonstriert Bähr an den Austauschverhältnissen: Wo "ein Versprechen·gegen ein anderes gegeben wird, da steht jedes zu dem andern in dem Verhältnis der Rückbeziehung; keines derselben hat ein selbständiges Leben; jedes existiert nur mit und in dem andern"t03. Der rechtliche Grund für "diese innige Verbindung des obligatorischen Versprechens mit seinem Rechtsgrunde" liegt in "dem vermutlichen Willen der Kontrahenten"t04. b) Die formellen Verträge sind dadurch gekennzeichnet, daß "das einfache Versprechen mitteist Abstraktion von dessen Rechtsgrund zu einer selbständigen Obligation erhoben wird"tos. Als historisches Beispiel nennt Bähr die römisch-rechtliche Stipulation, deren rechtswirkende Kraft allein auf dem "einseitigen Schuldversprechen ohne Rücksicht auf den mit ihm korrespondierenden juristischen Grund" beruhtl06. Unter Rückgriff auf die Feststellung, daß die untrennbare Verbindung des obligatorischen Versprechens mit seiner causa bei den kausalen Schuldverhältnissen auf den Willen der Vertragsparteien zurückzuführen ist, gelangt Bähr entgegen der damals in der Wissenschaft herrschenden Meinung zu dem Ergebnis, daß nicht nur materielle Ver98 "Die Anerkennung als Verpflichtungsgrund" hat drei Auflagen erlebt: 2. Aufl., 1867; 3. Aufl., 1894.- Hier und im folgenden wird die 2. Aufl. zitiert: S. 321. Zum folgenden sjehe Kiefner (Fn. 96), S. 82f.; Friedrich Kübler, Feststellung und Garantie, 1967, S. 66ff. 99 Bähr (Fn. 98), S.16ff., 21ff., 29ff., 165ff., 169ff., 172ff. 100 Bähr (Fn. 98), S. 166. 101 Bähr (Fn. 98), S. 167, vgl. S. 17. 102 Bähr (Fn. 98), S.13, vgl. S. 15, 17. 103 Bähr (Fn. 98), S. 18, vgl. S. 167, 169. 104 Bähr (Fn. 98), S. 169. 105 Bähr (Fn. 98), S. 22, vgl. S. 169. 106 Bähr (Fn. 98), S. 29, vgl. S. 169ff.
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träge, sondern auch formelle Schuldverträge als wirksam anzusehen sind. Wenn "überhaupt die freie Bewegung des Willens das Grundprinzip des heutigen Obligationenrechts" ist, dann "muß dieser Wille auch die Fähigkeit haben, jene Verbindung aufzugeben und das einfache Versprechen isoliert zu einem vollendeten Vertrage zu erheben". Zum Beweis beruft sich Bähr wiederum auf das römische Recht. Dort habe der Wille unzweifelhaft die Fähigkeit besessen, mit Hilfe der Formalkontrakte abstrakte Obligationen zu begründen. Für das Recht seiner Zeit stellt er deshalb fest: "Dem von Formen entfesselten Willen kann aber keine geringere Kraft beiwohnen als dem an Formen gebundenen" .101 Für Bähr bestehen keine Zweifel, daß die Anerkennung abstrakter Schuldversprechen möglich und notwendig ist, um "das Bedürfnis prozessualischer Sicherung" zu befriedigen. Er verweist dazu auf die in der Praxis vorkommenden Geschäfte: das sog. Abrechnungsgeschäft, die Anerkennungserklärung, die Rechnungstellung (einschließlich der kaufmännischen Gutschrift, Saldoziehung und Kontokorrentstellung), den Schuldschein und die Quittung sowie im kaufmännischen Verkehr den Wechsel. All diese Geschäfte sieht Bähr wie den Wechsel als "wahre Verträge" an, "welche man insofern als formelle Verträge bezeichnen kann, als sie den ihren materiellen Bestand ausmachenden Rechtsstoff nicht in sich selbst tragen, vielmehr in ihnen ein einseitiges Schuldversprechen (beziehungsweise ein Schulderlaß) losgetrennt von seinem materiellen Rechtsgrunde zur prozessualischen Selbständigkeit erhoben ist" .1os Als das gemeinsame Element der formellen (abstrakten) Schuldverträge bezeichnet Bähr die vom materiellen Rechtsgrund losgelöste "Anerkennung des Bestandes oder Nichtbestandes eines Schuldverhältnisses"109. Ein solches Anerkenntnis gewährt ein selbständiges Klagerecht, ohne daß es dazu der Darlegung einer causa bedarf, und schließt Einreden des Beklagten unmittelbar aus dem Kausalverhältnis aus. Der abstrakte Schuldvertrag dient demnach der "prozessualischen Sicherung" eines Forderungsrechtesllo. Ein derartiges Rechtsgeschäft erfordert die Erklärung des einen Teiles, sich verpflichten zu wollen, "und zwar mit einem solchen Willen, welcher aus dem ursprünglichen Bestand oder Nichtbestand der Verbindlichkeit nicht mehr die Bedingung seiner Gültigkeit, sondern nur seine Voraussetzung (causa) entnimmt" , und die Annahme des Versprechens durch den anderen Teillll.
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Bähr (Fn. Bähr (Fn. Bähr (Fn. Bähr (Fn. Bähr (Fn.
98), S. 169, vgl. S. 114ff. 98), S. 171. 98), S.l75. 98), S.llOff., 189ff., 4. 98), S. 179, 181.
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2. Die Anerkennung der Lehre Bährs durch Rechtsprechung und Gesetzgebung Die Rechtsprechung hatte schon vor der Schrift Bährs die Klagbarkeil von Zahlungsversprechen, die aus Abrechnungen herrührten, ausgesprochen, indem die Abrechnungsabrede als eine causa angesehen wurde112. Bähr seinerseits nahm diese Rechtspraxis zum Anlaß, um aus ihr das Bedürfnis nach einer generellen Anerkennung des abstrakten Schuldanerkenntnisses abzuleitenm. Nach dem Erscheinen seiner Abhandlung wiederum neigten die Obergerichte überwiegend dazu, die Wirksamkeit eines abstrakten Versprechens, dem ein selbständiger Verpflichtungswille zugrunde lag, anzuerkennen114. Auch von der Gesetzgebung wurde in der Folgezeit die Rechtsgültigkeit einer cautio indiscreta ausgesprochen. Das ADHGB normierte den abstrakten kaufmännischen Verpflichtungsschein (Art. 301). Der abstrakte Anerkenntnisvertrag wurde im sächsischen BGB (§§ 1397 - 1401) geregelt. Der Dresdener Entwurf (Art. 922- 926) und der Bayerische Entwurf (II 1, Art. 21, 22) enthielten Bestimmungen über das Schuldanerkenntnis und das abstrakte Zahlungsversprechenll5.
3. Die Stellungnahme der Wissenschaft In der Wissenschaft stieß Bährs Lehre von der "Anerkennung als Verpflichtungsgrund" auf Ablehnung bei Dernburg, Sintenis, Delbrück, Schlesinger, Bruns, Brinz, Thöl und Hesse. Sie fand überwiegend positive Aufnahme bei Windscheid, Arndt, Unger, Bekker, Vangerow, Endemann und Jheringll6. Aus der Vielzahl der Stimmen seien hier nur einige exemplarisch herausgegriffen. a) Ganz auf dem Boden der bis dahin herrschenden Lehre steht der aus der Praxis stammende Chr. August Hesse. Nur kausale Schuldverpflichtungen seien einklagbar, denn, "indem der Schuldner den Grund angibt, warum er sich zu einer Leistung verpflichtet, bezeichnet er zugleich das Gesetz oder den Siehe oben B. vor I. Bähr (Fn. 98), S. 233ff. , 322. 11 4 Einzelnachweise siehe v. Liebe, in: Gruchot, Beiträge zur Erläuterung des Deutschen Rechts 28 (1884), S. 547ff. (558); Koch, Gutachten für den 8. Deutschen Juristentag, Verh. d. 8. dt. Juristentages, Bd. I, 1869, S. 283ff. (285); v. Kübel (Fn. 146), s. 553ff. 115 v. Liebe (Fn. 114), S. 586ff., 607ff., 611ff.; Koch, ZHR 10 (1866), S. 428ff. ; ders. (Fn. 114), S. 288ff.; v. Kübel (Fn. 146), S. 568ff., 571 ff. 116 Einzelnachweise siehe v. Liebe (Fn. 114), S. 553ff. , 558; Bähr (Fn. 98) , S. 322ff.; 3. Aufl., 1894, S. 243ff.; Koch (Fn.l14), S. 285f. ; v. Kübel (Fn.146), S. 542ff. !12
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Rechtssatz, auf Grund dessen sein Wille rechtliche Bedeutung gewinnt" . Es gebe keinen Rechtssatz: "Du mußt halten und erfüllen, was du versprochen hast". Das sei ein sittliches Prinzip, aber kein juristisches Gesetz 117. Soweit man sich für die Anerkennung abstrakter Verpflichtungen auf die "Souveränität des Willens der Kontrahenten" berufe, sei das "eine Spekulation der neueren Jurisprudenz". "Der Wille, welcher nicht der Rechtsordnung sich fügt , sondern über der Rechtsordnung steht, kann nur Unrecht sein und Unordnung erzeugen. Rechtlich wirksam kann der Wille der Parteien nur insofern sein, als er sich an Gesetz und Rechtsgrundsätze anlehnt und von diesen seine Weihe empfängt. "118 Die causa des Versprechens sei insbesondere unentbehrlich für die richterliche Beurteilung einer Forderung. Zwar sei der Richter "nicht der Vormund der Parteien", aber noch weniger dürfe er "blindes Werkzeug und urteilsloser Exekutor des Parteiwillens" sein. Der Richter habe "nach unzweifelhaften Rechtssätzen" zu prüfen, ob ein Anspruch tatsächlich und rechtlich begründet sei, "und diese Pflicht kann er ohne Angabe dercausanicht erfüllen".ll9 Der ganze Zweck der neuen Lehre von der Anerkennung als Verpflichtungsgrund laufe darauf hinaus, "einem Gläubiger, der aus Nachlässigkeit oder Unwissenheit ein unzulängliches Schuldbekenntnis angenommen hat, von den Folgen seiner Nachlässigkeit und Unwissenheit zu befreien" . Um einem nachlässigen oder auch schikanösen Gläubiger zu helfen, wälze man dem Schuldner "einen unnatürlichen und mitunter diabolischen Beweis zu und fördert damit die Gelegenheit zu Betrügereien und Chikanen" .120
Heinrich Demburg hält die praktische Durchführung der Lehre vom abstrakten Anerkennungsvertrag "wenigstens in der Schroffheit", mit der Bähr sie geltend mache, für "verderblich". "So wichtig die Sicherheit im Rechtsleben ist, wichtiger ist materielle Gerechtigkeit" .121 117 Hesse, Juristische Probleme , 1872, S. 253. -An anderer Stelle bezeichnet Hesse die causa als die "Garantie für die Wahrheit, Ernstlichkeit und Bedachtheit des Willens, für Treue und Redlichkeit, in einer Zeit gesteigerter Ansprüche an das Leben, des Luxus und der Verlockungen zum Genuß" (Uber das Wesen und die Arten der Verträge des heutigen römischen Rechts, 1868, S. 205). Zu Hesse siehe auch Kiefner (Fn. 96), S. 88. 11s Hesse (Fn. 117), S. 257. 119 Hesse (Fn. 117), S. 252f. 12o Hesse (Fn. 117), S. 258. 121 Dernburg, Krit. Zeitschrft. f. d. ges. Rechtswiss. 3 (1856), 496ff. (496).- Später hat sich Demburg in seinem Pandektenlehrbuch der Lehre Bährs uneingeschränkt angeschlossen (Pandekten, 2. Auf!. 1888, Bd. I, § 84, S. 189; Bd. II, § 22, S. 61: Das kausale Geschäft "belastet aber natürlich den Gläubiger, wenn er die ihm geschuldeten Summen einklagen will, oft mit schwierigen Beweisen. In Folge dessen kann der rechtzeitige Eingang seiner Außenstände stocken, damit vielleicht selbst der Weiterbetrieb seines Gewerbes. - Die Notwendigkeit des präzisen Einganges geschuldeter Gelder für den Verkehr vor allem rechtfertigt die Schöpfung abstrakter Obligationen.").
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b) Rudolf von Jhering lobt die abstrakte Obligation als das "würdige Seitenstück" der abstrakten Eigentumsübertragungi22. Wie bei dieser sieht er den praktischen Nutzen der Ausscheidung des Kausalmoments in der Beweiserleichterung für den Kläger und in dem Abschneiden von Einwendungen des Beklagteni23. Darüber hinaus nennt er den Vorteil der Zirkulationsfähigkeit. Infolge der abstrakten Ausgestaltung gehen Eigentum, Wechsel, Obligation "frei und rein in die zweite Hand über"I24. Damit greifen seine Ausführungen in zweierlei Hinsicht über Bähr hinaus. Zum einen spricht er nicht mehr nur vom Anerkennungsvertrag, sondern generell von der Wirksamkeit abstrakter Obligationen. Zum anderen sieht er ihre Funktionen nicht nur als prozessuales Sicherungsmittel, sondern darüber hinaus in der Mobilität des abstrakten Forderungsrechts. 4. Die Verhandlungen des 8. und 9. Deutschen Juristentages (1869 und 1870) Angesichts der nicht ganz einhelligen Auffassung der deutschen Gerichte und der teilweise heftigen Kontroverse in der Wissenschaft nahm sich der Deutsche Juristentag des brisanten Themas an und verhandelte 1869 und 1870 (8. und 9. DJT) über die Gesetzgebungsfrage: "Soll das künftige gemeinsame deutsche Obligationenrecht die verbindliche Kraft des Anerkennungsvertrages aufnehmen, und wie ist dieses Rechtsgeschäft zu regeln?"I25. a) Referent auf dem 8. DJT war Rudolf von Jhering 116 • Die Frage nach der Gültigkeit abstrakter Schuldversprechen konzentriert Jhering auf das Problem, ob "die abstrakt verpflichtende Kraft des Willens" anzuerkennen sei127. Hierbei gehe es nicht um eine Konzession des Gesetzgebers, sondern "um die Anerkennung eines Rechtsprinzips, um die Zulassung eines Gedankens, der sein Anrecht in sich selber trägt" . Hier komme die Idee der Freiheit, die Idee der "Autonomie des subjektiven Willens" , auf die das ganze Privatrecht gebaut ist, zum Zuge. "Aus dieser Idee ergibt sich als Konsequenz von selbst 122 Jhering, Geist des römischen Rechts, Bd. III, 1865, S. 204. Die Ausscheidung des Kausalmoments hat bei der abstrakten Obligation "ganz dieselbe Bedeutung wie bei der Eigentumsübertragung; indem sie die Fäden, mit denen das Verhältnis am Boden festhängt, löst, hebt sie dasselbe auf eine künstliche Höhe abstrakter Existenz und verweist das Zurückgebliebene in die Form besonderer Klagen" (a. a. 0 .). 123 Jhering (Fn. 122), S. 205, 201. 124 Jhering (Fn. 122), S. 205, 201f. 125 Gutachter waren R. Koch und Prof. Götz, die sich in unterschiedlicher Intensität für die Zulassung des abstrakten Anerkennungsvertrages aussprachen. Verh. d. 8. DJT, 1869, Bd. I , S. 283ff. u. 309ff. 126 Zum folgenden siehe auch Kiefner (Fn. 96), S. 84ff.; Kühler (Fn. 98) , S. 82. Referent auf dem 9. DJT (1870) war der Handelsgerichtsrat Hauser. 127 Verh. d. 8. DJT, 1869, Bd. II, S. 94ff. (102).
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die abstrakt verpflichtende Kraft des Willens und es bedarf besonderer Gründe, um diese Konsequenz abzuwehren".t28 Als denkbaren Grund gegen die Zulassung abstrakter Versprechen nennt Jhering das Interesse des Schuldners, dessen Lage durch den Verzicht aufVerteidigungsmittel aus dem Grundverhältnis verschlechtert werde. Jhering erkennt an, daß der abstrakte Schuldvertrag Gefahren für denjenigen mit sich bringt, der beim Abschluß unbedachtsam vorgegangen ist, aber es sei nicht weniger wahr, "daß diese Gefahren dem Unbedachtsamen auf dem Gebiete des Rechtes überall drohen". "Die Idee der Bevormundung des Privatverkehrs" sei völlig undurchführbar und widerspreche "dem ionersten Wesen des Privatrechtes". Der Schutz des Schuldners dürfe nicht so weit gehen, daß man darüber das Recht des Gläubigers und "die gerechtfertigten Interessen des Verkehrs" preisgibtt29. Ein zweiter Grund gegen die Anerkennung abstrakter Verträge könnte das Interesse des Staates sein, da das abstrakte Versprechen dazu dienen könne , die Verfolgung unmoralischer oder gesetzwidriger Zwecke zu verdecken. Dem hält Jhering entgegen, daß der Richter im Zivilprozeß nicht die Aufgabe eines Polizeibeamten oder eines Inquisitors habe. Es würde eine völlige Verkennung seiner wahren Stellung bedeuten, wenn der Richter darüber zu wachen hätte, daß Rechtsgeschäfte nicht zu illegalen Zwecken mißbraucht werdenl3o. Demgegenüber sprechen nach Jhering "die Autonomie des subjektiven Willens" und die "Zweckmäßigkeitsrücksicht" eindeutig für die Zulassung des abstrakten Schuldversprechens. Er stellt dazu die rhetorische Frage, ob man Zweifel haben könne, welche von beiden Rücksichten die gewichtigere sei: "die Rücksicht auf den Verkehr, auf Vereinfachung und Sicherung der Rechtsverhältnisse, der Abkürzung und Ausschließung der Prozesse, oder die Rücksicht auf Unerfahrenheit und Leichtsinn?"131 Schließlich nennt Jhering noch einen "ethischen" Grund. Ihm sei es "von jeher als ein arger Verstoß gegen das einfache Rechtsgefühl erschienen" , daß der Schuldner einen von ihm ausgestellten Schuldschein mit der Bemerkung, er sei eine cautio indiscreta, zurückweisen könne. "Wer leichtsinniger Weise einen Schuldschein ausstellt über eine Summe, die er gar nicht oder in dem Betrage nicht schuldete, hat sich selber die Folgen seines Leichtsinns zuzuschreiben; wer dagegen im guten Glauben an die Kraft des gegebenen Wortes und des geschriebenen Buchstabens sich mit einem Schuldschein begnügt, welcher die causa nicht angibt, der hat, wenn ihm hinterher dieser Schuldschein durch den Einwand 12s 129
130 131
Verh. Verh. Verh. Verh.
d . 8. DJT, d . 8. DJT, d. 8. DJT, d. 8. DJT,
Bd. Bd. Bd. Bd.
II, S. 104. II, S. 105. II, S. 106; vgl. 9. DJT, Bd. III, 1871, S. 89. II, S.106f.; vgl. 9. DJT, Bd. III, S. 89.
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der cautio indiscreta entwertet wird, für diesen Schaden weniger sich selbst als das Recht verantwortlich zu machen".132 Abschließend äußert Jhering die Vermutung, daß "die Fälle ungleich häufiger sein dürften, wo ein Schuldner sich hinter das bequeme Versteck der Einrede der cautio indiscreta geflüchtet hat, um sich seiner Verpflichtung zu entziehen, als wo ein Gläubiger sich des abstrakten Schuldscheins bedient hat, um von einem Schuldner ein Versprechen zu erlangen, dem es an dem Rechtsgrunde gebrach". Wenn das richtig sei, habe die bisherige Lehre von der Unstatthaftigkeit einer cautio indiscreta "viel mehr dem unordentlichen Schuldner, als dem unredlichen Gläubiger zum Vorteil gereicht". 133 b) Als Kritiker meldete sich auf dem 8. DJT Carl Georg Wächter zu Wort. Er bewertet die neuere Theorie über den Anerkennungsvertrag als "einen sehr gefährlichen Vorgang für den ganzen Verkehr" und für künftige Schuldner, als "einen ähnlich gefährlichen, wie es die großen Konzessionen sind, die wir an den kaufmännischen Verkehr und an den Verkehr auf den Börsen gemacht haben, wodurch unser ganzes Vermögen, soweit es au porteur lautet, ganz dem Zufall Preis gegeben ist"134. Die Charakterisierung der Anerkennung als einen Vertrag, durch den eine abstrakte Verbindlichkeit begründet werde, kennzeichnet Wächter als eine Fiktion, die von den Juristen oktroyiert sei. Der anerkennende Schuldner wolle keinen Vertrag schließen, sondern dem Gläubiger nur ein Beweismittel in die Hand geben135. Schließlich stellt er grundsätzlich fest: "Unsere Obligationen werden verkörpert und bekommen Natur und Gestalt bloß durch die causa; wenn der Richter die causa nicht kennt, kann er aus der Obligation nicht urteilen, er kann bloß über den formellen Vorgang und etwa über die Bedeutung erkennen, die das Gesetz demselben beilegt". Für derartige gesetzlich anerkannte formelle Vorgänge gebe es nur zwei Beispiele, den Wechsel und die Stipulation. Bei beiden Einrichtungen gehe aber bereits das Gesetz selbst davon aus, daß sie "eigentlich eine gefährliche Konzession gegen den Verkehr" seien136. Gegen eine Ausweitung dieser Tatbestände hat Wächter grundsätzliche Bedenken. Auf dem 9. DJT bekämpfte Heinrich Degenkalb die These von der "absoluten Souveränität des Privatwillens", auf der die Theorie des abstrakten Schuldversprechens gegründet sei. Den Glauben an diese Souveränität und daran, daß der Privatwille in der Weise Grundlage des Obligations- und Kontraktrechts sei, daß er dem abstrakten Versprechen Wirksamkeit verleihen könne, teile er nicht. Dazu beruft er sich auf den bisher unangefochten aner132 133 134 135 136
Verh. Verh. Verh. Verh. Verh.
d. 8. DJT, Bd. d. 8. DJT, Bd. d. 8. DJT, Bd. d. 8. DJT, Bd. d. 8. DJT, Bd.
II, S. 107f. II, S. 111; vgl. 9. DJT, Bd. III, S. 89f. II, S. 118f. II, S. 119. II, S. 120.
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kannten Satz, "daß dem Wesen des vernünftigen Willens entsprechend, bei der Schaffung einer Obligation dazu gehört, daß derjenige, der ein obligatorisches Versprechen gibt, sich bewußt ist, daß er aus einer bestimmten causa versprechen will". Degenkolb erblickt darin einen bisher nicht gelösten Widerspruch, daß einerseits das Erfordernis, andererseits die Indifferenz einer causa (beim abstrakten Versprechen) behauptet werde. "Wie kann man beides vereinigen, die Notwendigkeit der subjektiven causa, daß derjenige, der sich zu etwas anheischig machen will, dieses tut zu einem bestimmten Zweck, und daß er auf der andern Seite ohne Rücksicht darauf, ob der Zweck eintrifft, verbunden sein soll. Ich glaube da, daß man mit der einen Hand wegnimmt, was man mit der andern Hand gibt" .137 Einen weiteren Widerspruch sieht er darin, daß "die Souveränität des Privatwillens" zwar soweit reiche, aus einem abstrakten Versprechen ohne Rücksicht auf das Vorhandensein einer causa eine Verpflichtung zu begründen, daß dann aber beim Fehlen einer causa "gegen diesen Willen wieder eine condictio, eine exceptio gegen die Klage soll geltend gemacht werden können"138. Degenkalb gelangt zu dem Ergebnis, daß die Wirksamkeit abstrakter Versprechen nicht aus der "Souveränität des Willens" , sondern allein aus der "objektiven Rechtsordnung" abzuleiten ist. Die Kraft der Stipulation sei von "der positiven Rechtsordnung im Interesse der Sicherheit des Rechtsverkehrs, daß der einzelne Wort halte, ohne zu fragen nach der causa", geschaffen worden139. Deshalb sei das abstrakte Versprechen nicht schlechthin anzuerkennen, sondern nur aufgrund eines gesetzgeberischen Aktes und nur insoweit, als es der Rechtsverkehr entschieden fordere140. c) Wächter und Degenkolb, die beiden einzigen Kritiker, die sich zu Wort gemeldet hatten, konnten sich kein Gehör verschaffen. Die Warnung vor den Gefahren abstrakter Verbindlichkeiten mußte auch schon deshalb verhallen, weil sich die Rechtsprechung, ohne daß bisher Mißstände beklagt wurden, auf dem Wege befand, die Wirksamkeit abstrakter Schuldversprechen anzuerkennen. Degenkalbs Kampf gegen die "Souveränität des Privatwillens" war bereits deswegen kein Erfolg beschieden, weil er die Möglichkeit und auch die Notwendigkeit der Anerkennung von abstrakten Versprechen durch die Gesetzgebung, soweit dies an bestimmte Formen gebunden wurde, nicht grundsätzlich bestritt. So überwog auf dem Juristentag eine Stimmung, die der Mannheimer Rechtsanwalt Ladenburg auf die Formel brachte, daß die Anerkennung der abstrakten Obligation jetzt und heute erfolgen müsse "und zwar rein aus dem Grunde, weil wir darin die Freiheit des Individuums, über sein 137 Verb. d. 9. DJT, Bd. III, 1871 , S. 96ff. (97).- Degenkolb war Professor in Freiburg, seit 1872 in Tübingen und dann in Leipzig (1893) . 138 Verh. d. 9. DJT, Bd. III, S. 97/8. 139 Verh. d. 9. DJT, Bd. III, S. 98. 140 Verh. d. 9. DJT, Bd. III , S. 98f.
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Vermögen nach seiner Willkür zu verfügen, anerkennen"141. Die von Jhering vorgeschlagene These J142 wurde in leicht veränderter Fassung mit großer Mehrheit angenommen: "Ein ohne Angabe des Schuldgrundes ausschließlich auf ein Schuldigsein oder die Leistung eines Gegenstandes gerichteter Vertrag ist klagbar"143.
Die These von der Wirksamkeit abstrakter Versprechen hatte sich damit durchgesetzt, ohne daß der auf dem Juristentag gleichfalls anwesende Otto Bähr "sein Kind, die von ihm in die Welt gesetzte Anerkennungstheorie", selbst zu verteidigen brauchte' 44 • II. Der abstrakte Schuldvertrag im BGB
Von Otto Bähr über die Diskussion auf dem Deutschen Juristentag und dessen Beschlüssen führt der Weg beinahe geradlinig zur vollen Anerkennung des abstrakten Schuldvertrages in §§ 780, 781 BGß145. Franz von Kübel, der Verfasser der Vorlagen zum Schuldrecht für die 1. Kommission, schildert ausgehend von Art. 922 - 926 des Dresdener Entwurfes eingehend die Stellung von Wissenschaft und Rechtsprechung sowie der neueren Gesetzgebung zum Wesen des Schuldanerkennungsvertrages, wobei die Ausführungen keine Zweifel an der Anerkennung dieses Instituts durch die künftige Gesetzgebung aufkommen lassen146.
1. Der 1. Entwurf zum BGB Der I. Entwurf erkennt die Wirksamkeit eines vom Schuldner schriftlich erteilten abstrakten Schuldversprechens und Anerkenntnisses an147. Die Motive stellen dazu lapidar fest , daß das Schuldversprechen und der Schuld141 Verh. d. 9. DJT, Bd. III, S. 95; Ladenburgs positive Stellungnahme siehe im übrigenS. 85ff. 142 Verh. d. 8. DJT, Bd. li, S. 111. 143 Verh. d . 9. DJT, Bd. III, S.l07, 343. -Zu den anderen beiden Thesen siehe ebendort. t44 Jhering, Verh. d. 9. DJT, Bd. III, S. 88. 145 Zum folgenden siehe auch Kübler (Fn. 98) , S. 83ff. 146 Die Vorlagen der Redaktoren für die erste Kommission zur Ausarbeitung des Entwurfs eines Bürgerlichen Gesetzbuchs, hrsg. von Werner Schubert, Recht der Schuldverhältnisse, Teil 3, Besonderer Teil Il, Verfasser: Franz Phitipp von Kübel, 1980, S. 531ff. (Material über Schuldanerkennung), 536- 562, 568- 577, 580- 584. 147 EI§ 683: "Ist in einem von dem Gläubiger angenommenen Versprechen einer Leistung oder in einem von dem Gläubiger angenommenen Anerkenntnisse, zu einer Leistung verpflichtet zu sein, ein besonderer Verpflichtungsgrund nicht angegeben oder nur im allgemeinen bezeichnet, so ist das Versprechen oder Anerkenntnis nur dann gültig, wenn es von dem Schuldner in schriftlicher Form erteilt ist. "
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anerkennungsvertrag "zu den abstrakten Verträgen" gehörent4s. Das abstrakte Schuldbekenntnis spiele im Rechtsleben eine große Rolle und sei von der Gerichtspraxis selbst dort anerkannt worden, wo der Buchstabe des Gesetzes scheinbar entgegenstehe. Die sog. diskreten (kausalen) Schuldscheine seien für den Verkehr zu umständlich, deshalb hätten sich die völlig indiskreten (abstrakten) Schuldbriefe im Verkehr immer mehr eingebürgert. Infolgedessen sei es "im Interesse des Verkehrs" und "durch das praktische Bedürfnis" dringend geboten, dem abstrakten Schuldanerkenntnis verbindliche Kraft einzuräumen 149. Außerdem müsse das vertragsmäßige abstrakte Schuldversprechen als verpflichtend anerkannt werden. Zwischen Anerkenntnis und Schuldversprechen sei "bei einer für den Verkehr so eminent wichtigen Materie" kein Unterschied zu machen. Besondere Gefahren seien durch die Anerkennung der Wirksamkeit abstrakter Schuldversprechen nicht zu befürchten, da der Schuldner sich ohne dies durch Wechselausstellung oder als Kaufmann durch Ausstellung eines Verpflichtungsscheines (Art. 301 ADHGB) abstrakt verpflichten könnetso. Folglich bestanden keine Bedenken, das abstrakte Schuldversprechen allgemein anzuerkennen. Den von abstrakten Verbindlichkeiten drohenden Gefahren will das Gesetz durch das Gebot der Schriftform vorbeugen. "Dem abstrakten Schuldversprechen kann Wirksamkeit nur beigelegt werden, wenn der Wille des Schuldners, sich abstrakt zu verpflichten, zweifellos feststeht. Aus dem bloß mündlichen, die materielle causa nicht ergebenden Versprechen des Schuldners ist jener Wille noch nicht zu entnehmen" . Die Zulassung des bloß mündlichen abstrakten Vertrages rufe folglich die Gefahr "schwer wiegender Übelstände" sowie "drohender Härten und Unbilligkeiten" für den Schuldner hervortst. Sie wird deshalb verworfen. Abschließend heben die Motive hervor, daß das abstrakte Schuldversprechen seinem Wesen nach eine Verpflichtung begründet, "welche nach dem Willen des Versprechenden von dem das Versprechen veranlassenden Schuldverhältnisse losgelöst sein soll". Deshalb sind Einwendungen des Schuldners aus dem Kausalverhältnis grundsätzlich ausgeschlossen, weil sich anderenfalls die Bedeutung des abstrakten Versprechens lediglich auf eine Umkehrung der Beweislast beschränken würdel52 • In Übereinstimmung mit der vorherrschenden Auffassung in der Rechtswissenschaft und mit den Bestimmungen des sächsischen BGB (§ 1399) sowie des Dresdener (Art. 925) und des Bayerischen (II 1, Art. 21 II) Entwurfes gewährt der I. Entwurf dem Versprechenden jedoch einen Anspruch auf Aufhebung des Versprechens nach den allge148 Motive, Bd. II, S. 688 (Mugdan, Fn. 66, Bd. II, S. 384). 149 Motive, Bd. II, S. 690 (Mugdan, Fn. 66, Bd. Il, S. 385). 150 151 152
Motive, Bd. Il, S. 690f. (Mugdan, Fn. 66, Bd. II, S. 385f.). Motive, Bd. II, S. 689 (Mugdan, Fn. 66, Bd. II, S. 384f.). Motive, Bd. II, S. 693 (Mugdan, Fn. 66, Bd. II, S. 387).
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meinen Grundsätzen über Kondiktionen, wenn das Grundverhältnis von Anfang an nicht bestanden hat oder nachträglich entfallen istl53.
2. Der 11. Entwurf zum BGB Die 2. Kommission formulierte E I § 683 um und gab dieser Bestimmung die heute in §§ 780, 781 BGB enthaltene Fassung. E I § 684 wurde den Vorschriften über ungerechtfertigte Bereicherung eingegliedert (§§ 812 II, 817 S. 2, 821 BGB)I54. Der Antrag, die §§ 683, 684 E I ersatzlos zu streichen, wurde in der 2. Kommission mit ausführlicher Darlegung der sachlichen Gründe für ein Bedürfnis des Verkehrs an der Begründung abstrakter Schuldverpflichtungen abgelehntJ55. Gegenüber den von der Minderheit erhobenen Einwendungen räumte die Mehrheit zwar ein, daß möglicherweise "das Bedürfnis für die Zulässigkeit abstrakter Schuldverbindlichkeiten in landwirtschaftlichen Kreisen" nicht so fühlbar "wie in dem sonstigen Geschäftsverkehre, namentlich im Handel" hervorgetreten sei, stellte dann aber mit Entschiedenheit fest, "dies dürfe jedoch das BGB, welches für alle Bevölkerungskreise gelten wolle, nicht abhalten, eine Regelung der Frage im Sinne des Entwurfs" vorzunehmeni56. Die Anerkennung, die den abstrakten Schuldverpflichtungen "in der modernen Theorie und Praxis" zuteil geworden sei, lasse keine Zweifel aufkommen, daß ein dringendes Bedürfnis bestehe, sie auch über den Handelsverkehr hinaus anzuerkennen. Die Befürchtung, daß die Zulassung abstrakter SchuldverEI§ 684: "Der Schuldner, welcher ein den Verpflichtungsgrund nicht angebendes oder nur im allgemeinen bezeichnendes Schuldversprechen oder Schuldanerkenntnis erteilt hat, kann die Erfüllung der aus dem Versprechen oder Anerkenntnisse sich ergebenden Verpflichtung verweigern oder Befreiung von der letzteren verlangen, wenn die Voraussetzungen vorhanden sind, welche für die Rückforderung einer Leistung wegen ungerechtfertigter Bereicherung gelten. Die Vorschriften der §§ 737 - 741 [Bereicherungsrecht] finden entsprechende Anwendung, wenn die Urkunde in der ausdrücklich oder stillschweigend erklärten Voraussetzung erteilt ist, daß eine Verbindlichkeit zu der versprochenen Leistung oder die anerkannte Verbindlichkeit bestehe. Die Verweigerung der Erfüllung und der Anspruch auf Befreiung wird dadurch nicht ausgeschlossen, daß von dem Schuldner durch Erteilung des Versprechens oder Anerkenntnisses gegen die guten Sitten oder die öffentliche Ordnung verstoßen worden ist." Vgl. Motive, Bd. II, S. 693 (Mugdan, Fn. 66, S. 387); Protokolle, Bd. II, S. 503. 154 E II §§ 719, 720, die aus E I§ 683 hervorgegangen sind, entsprechen fast wörtlich §§ 780, 781 BGB. Der Inhalt von EI§ 684 Abs. 1 u. 2 erscheint in E II § 737 Abs. 2 u. § 745 (§§ 812 II, 821 BGB). EI§ 684 Abs. 3 findet sich in E II § 741 S. 2 (§ 817 S. 2 BGB) wieder. 155 Protokolle, Bd. II, S. 501 - 503 [S . 2576 - 2579] (Mugdan, Fn. 66, Bd. II, S.1040f.). 156 Protokolle, Bd. II, S. 503 [S . 2580/81] (Mugdan, Fn. 66, Bd. II, S. 1041). 153
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sprechen dem Wucher Vorschub leisten könne, sei nach den bisher gemachten Erfahrungen unbegründet, "denn der Wucherer werde für seine Zwecke den Wechsel dem abstrakten Schuldscheine meist vorziehen". Im übrigen müßten derartige Rücksichten zurückstehen gegenüber den Bedenken, daß durch die Versagung der Wirksamkeit abstrakter Versprechen "der Wortbruch begünstigt und die Grundsätze von Treu und Glauben verletzt würden".l57
3. Die Kritik Gierkes Otto (von) Gierke sieht in der generellen Einführung des abstrakten Schuldversprechens im I. Entwurf einen "überaus gewagten Schritt des Gesetzgebers". "Im Handelsverkehr ausgebildet und für ihn unentbehrlich, entspricht der vom materiellen Verpflichtungsgrunde losgelöste Schuldschein im gewöhnlichen bürgerlichen Verkehr kaum einem Bedürfnis". Er befürchtet, wie später die Minderheit in der 2. Kommission , daß das abstrakte Schuldversprechen zu wucherischen und anderen unlauteren Zwecken "auf die schnödeste Weise" mißbraucht werde. Schon die allgemeine Wechselfähigkeit berge ernste Gefahren, um so mehr müsse die Gesetzgebung davon Abstand nehmen, "eine neue für jedermann zugängliche Gattung wechselähnlicher Papiere zu schaffen, bei deren Ausstellung die mit Wort und Form des Wechsels verknüpften Vorstellungen ihre mahnende und abschreckende Kraft nicht entfalten und die überdies nicht bloß auf eine bestimmte Geldsumme lauten, sondern die Verpflichtung zu jeder beliebigen bestimmten oder unbestimmten Leistung formalisieren können" .1ss
Diese Kritik verhallte. Gottlieb Planck, Mitglied der 2. Kommission, gibt die damals vorherrschende Meinung wohl am treffendsten wieder: Die Möglichkeit eines Mißbrauchs könne nicht bezweifelt werden, aber es sei auch zweifelsfrei, "daß der gesunde und ehrliche Geschäftsverkehr unter der Unverbindlichkeit der gedachten Verträge am schwersten leiden würde". Die Anerkennung der abstrakten Verbindlichkeit entspreche "einem unabweisbaren Verkehrsbedürfnis".l59 Unabhängig davon ließ Gierke bei seiner Kritik unberücksichtigt, daß die Einrede aus § 821 BGB im Gegensatz zum Wechsel jedem Zessionar entgegengehalten werden kann.
Protokolle, Bd. II, S. 504 [S. 2582} (Mugdan, Fn. 66, Bd. II, S. 1041/42). Gierke, Der Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs und das deutsche Recht, . 1889, s. 225f. 159 Planck, AcP 75 (1889), S. 327ff. (410).- Zur späteren Auseinandersetzung mit dem abstrakten Schuldversprechen siehe Neubecker, Arch. f. Bürger!. Recht 22 (1903), S. 34ff. (72ff.) ; Stampe, ZHR 55 (1904), S. 387ff.; Klingmüller, ZHR 58 (1906), S.152ff.; Kübler, Feststellung und Garantie, 1967, S.107ff. , 124ff., 150ff. , 164ff., 210ff.; Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. II: Besonderer Teil, 11. Auf!., 1977, § 65 I (S. 428). 157
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C. Die abstrakte Bevollmächtigung In den Vernunftrechtskodifikationen erscheint die gewillkürte Stellvertretung mit dem Auftrag verbunden. Das preußische ALR bringt dies bereits äußerlich in der Bezeichnung "Vollmachtsauftrag" zum Ausdruck (I 13 §§ 5 216). Das Österreichische ABGB behandelt den Bevollmächtigungsvertrag als Teil des Auftrages mit Ansätzen zu einer Unterscheidung zwischen Vollmacht und Auftrag (§§ 1002- 1034). Der Code civil definiert den "Auftrag" oder die "Bevollmächtigung" als die Ermächtigung durch den Gewaltgeber, "für ihn" und "in seinem Namen" zu handeln, ohne daß eine scharfe Trennung zwischen Vollmacht und Mandat erfolgt (Art. 1984). Das Fehlen des Instituts der Vertretung im römischen Recht führte dazu, daß in der gemeinrechtlichen Wissenschaft nach Anerkennung der direkten Stellvertretung versucht wurde, diese mit den Regeln des Mandats zu erfassenl60. Noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts heißt es bei Karl Friedrich Sintenis, daß die Wirkung des Mandats nach zwei verschiedenen Seiten reicht. Einmal bewirke das Mandat, daß "der Mandatar den Mandanten in rechtlicher Hinsicht vertritt, für ihn erwirbt und verliert, Gläubiger oder Schuldner wird und überhaupt handelnd auftritt". Zum anderen regele das Mandat "die eigentliche Obligation zwischen dem Mandatar und dem Mandanten" _161 Diese Erkenntnis führte aber noch nicht dazu, Vollmacht und Mandat als unterschiedliche Rechtssphären anzusehen.
Rudolf von Jhering ist 1857 einer der ersten, der hervorhebt, daß die Begriffe "Mandatar" und "Stellvertreter" selbst da, wo sie in einem einzelnen Fall zusammentreffen, "zwei völlig verschiedene Seiten des Verhältnisses" ausmachen 16 2 • Die Ausdrücke "Mandatar" und "Mandant" bezeichneten "das relative Verhältnis zwischen diesen beiden Personen, die innere Seite des Verhältnisses", die Begriffe "Stellvertreter" und "Prinzipal" kennzeichneten hingegen "ihre Qualität dritten Personen gegenüber, ihren absoluten Charakter, die äußere Seite des Verhältnisses"l63. Jhering trennte also deutlich zwischen Mandat und Vollmacht und betonte, daß die eine Seite "für die andere voll160 Siehe dazu Ulrich Müller, Die Entwicklung der direkten Stellvertretung und des Vertrages zugunsten Dritter, 1969 (Beitr. z. Neueren Privatrechtsgesch. , Bd. 3), S.130ff., 144ff., 152ff.; Stanislaus Dniestrzanski, Die Aufträge zugunsten Dritter, Bd. I, 1904, S. 9ff., 26ff.; Heinz Mohnhaupt, Savignys Lehre von der Stellvertretung, in: Ius Commune VIII (1979), S. 60ff. ; Wolfram Müller-Freienfels, Die Abstraktion der Vollmachtserteilung im 19. Jahrhundert, in: Wissenschaft und Kodifikation des Privatrechts im 19. Jahrhundert, Bd. II, hrsg. von Helmut Coing I Walter Wilhelm, 1977, S.144ff. 161 Sintenis, Das praktische gemeine Civilrecht, Bd. II, § 113, 2. Aufl., 1861 (S. 575), 3. Aufl., 1868 (S. 583). 162 Jhering, Jher. Jb. 1 (1857) , S. 273ff. (313) . 163 Jhering (Fn. 162), S. 313.
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kommen gleichgültig und einflußlos" und "ihr Zusammentreffen ein zufälliges" ist. Es gebe Mandatare, "die keine Stellvertreter sind", und Stellvertreter, "die keine Mandatare sind" .164 Damit hat Jhering die für die weitere Rechtsentwicklung entscheidenden Differenzierungen herausgearbeitet. Es fehlte nur noch die Erkenntnis, daß Mandat und Stellvertretung zwei völlig verschiedene Rechtsverhältnisse darstellen. Jhering sah in ihnen trotz ihrer Unabhängigkeit von einander nur zwei Seiten desselben Verhältnisses165. I. Die Lehre Labands von der selbständigen Vollmacht
Im Jahre 1866 erschien in der Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht Paul Labands Aufsatz über "Die Stellvertretung bei dem Abschluß von Rechtsgeschäften nach dem allgem. Deutsch. Handelsgesetzbuch" 166, der die weitere Rechtsentwicklung maßgebend beeinflußt hat167. 1. Labands Lehre a) Nach einführenden Darlegungen zur rechtlichen, logischen und ethischen Möglichkeiten einer direkten Stellvertretung und deren Abgrenzung zu anderen Formen des Tätigwerdens für andere stellt Paul Laband, insoweit Jhering folgend, fest: "Nichts ist für den wahren Begriff der Stellvertretung und die juristische Durchbildung dieses Instituts nachteiliger gewesen als die Zusammenwertung der Stellvertretung mit dem Mandat". Auftrag und Vollmacht können, müssen aber nicht zusammenfallen. Wenn jemand einen anderen beauftrage, ein Rechtsgeschäft für Rechnung des Auftraggebers abzuschließen, dann liege sehr häufig in dem Auftrag die Vollmacht, es auch in seinem Namen zu tätigen. Auch könne man für den bürgerlichen Verkehr vielleicht die Vermutung aufstellen, "daß jeder Mandatar, wenn nicht das Gegenteil ausdrücklich vorgeschrieben oder in der Natur der Verhältnisse begründet ist, ermächtigt sei, als Stellvertreter des Mandanten zu handeln". Das ändere aber nichts an dem Grundsatz, "daß Auftrag und Vollmacht nur zufällig, nicht notwendig zusammentreffen" .168 Ein Mandat kann ohne Vollmacht erteilt werden, dann hat der Mandatar den Auftrag im eigenen Namen auszuführenl69. Vollmachten können ohne Auftrag vorhanden sein. Laband nennt dafür die Vertretungsbefugnis des Prokuristen, des Gesellschafters einer offenen Handelsgesellschaft und des Vorstandes einer Aktiengesell164
165 t66
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Jhering (Fn. 162), S. 313. Siehe dazu auch Müller-Freienfels (Fn. 160), S. 158ff. ZHR 10 (1866), S. 183 - 241. Zum folgenden siehe Müller-Freienfels (Fn. 160), S. 172- 190. ZHR 10 (1866), S. 203f. ZHR 10 (1866), S. 204f.
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schaft170. Auftrag und Vollmacht sind "keineswegs als die innere und äußere Seite desselben Verhältnisses aufzufassen", sondern sie sind "zwei an sich verschiedene Verhältnisse", die in vielen Fällen sich nur tatsächlich decken171. Mit dieser Feststellung war Laband bei der entscheidenden, über Jhering hinausgehenden Erkenntnis angelangt. (1) Das Mandat regelt das Innenverhältnis zwischen Auftraggeber und Beauftragten. Die Vollmacht bestimmt das Außenverhältnis des Mandatars zu Dritten. Sie begründet die Befugnis, "durch die eigenen im fremden Namen abgeschlossenen Verträge einen anderen zu berechtigen und zu verpflichten", ohne Rücksicht auf den Inhalt des Auftrages172.
(2) Zum Verhältnis von Mandat und Vollmacht stellt Laband fest, daß der Auftrag für die Stellvertretungsbefugnis bedeutungslos ist. Die Erteilung oder der Widerruf einzelner Aufträge habe keinen Einfluß auf die Vertretungsbefugnis des Beauftragten. Ebenso wenig beeinflußten die Ausschließung oder Modifizierung der Vollmacht "an und für sich. und mit Notwendigkeit" , die Aufträge, deren Erledigung der Beauftragte übernommen habe. Dieses gelte nicht nur für den Prokuristen, den Gesellschafter einer OHG und den Vorstand einer AG, bei denen der Umfang der Vollmacht "gesetzlich fixiert ist und im Interesse der Verkehrssicherheit unveränderlich ist", sondern für jeden gewillkürten Stellvertreter. Bei jeder rechtsgeschäftlich erteilten Vertretungsmacht könne "die Vollmacht viel umfassender sein als der dem Bevollmächtigten erteilte Auftrag". Bei der Erteilung einer Vollmacht bezwecke der Prinzipal oft gerade, "daß der Bevollmächtigte selbständig die Geschäfte besorgt, ohne daß der Prinzipal ihn durch bestimmte Aufträge zu dirigieren braucht". Aber auch dann, wenn der Prinzipal dem Bevollmächtigten Aufträge erteilt oder Anweisungen hinsichtlich eines bestimmten Gebrauchs der Vollmacht macht, sind das nur Instruktionen, "deren Nichtbefolgung der Bevollmächtigte dem Prinzipal gegenüber zu verantworten hat, die aber dem Dritten nicht entgegengehalten werden können" .m In diesen Zusammenhang gehört Labands bekanntes und häufig zitiertes Beispiel: "Wenn der A dem B Vollmacht erteilt, in seinem Namen dem C ein Pferd abzukaufen, ihn aber zugleich beauftragt, nicht mehr als 100 Rtlr. zu bewilligen und nur einen Schimmel zu kaufen, so handelt derB als befugter Stellvertreter, wenn er auch dem C einen Rappen für 200 Rtlr. abkauft; d. h. das Geschäft ist zwischen dem A und dem C rechtsverbindlich; C hat die actio venditi gegen A; A aber kann mit der actio mandati von B Schadensersatz verlangen"174. 110 ZHR 10 (1866), S. 171 ZHR 10 {1866), S. m ZHR 10 {1866), S. 173 ZHR 10 (1866), S. 174 ZHR 10 (1866), S.
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14 Rechtsdogmatik und Rechtspolitik
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Das innerhalb des Rahmens der Vollmacht abgeschlossene Geschäft ist wirksam ohne Rücksicht darauf, ob der Vollmachtgeber "den Abschluß dieses bestimmten Vertrags angeordnet, ob er dem Ermessen des Bevollmächtigten freien Spielraum gewährt oder ob er endlich den Abschluß dieses Vertrages geradezu untersagt hat"175. (3) Die Bevollmächtigung ist für Laband kein einseitiges Rechtsgeschäft, sondern ein vom Auftrag verschiedener Konsensualvertrag. Durch ihn verpflichten sich die Kontrahenten gegenseitig, daß Rechtsgeschäfte, welche der Bevollmächtigtenamens des Vollmachtgebers abschließen wird, in ihrer Wirkung so angesehen werden sollen, als hätte sie der Vertretene selbst abgeschlossen 176. b) Im Anschluß an diese grundlegenden Feststellungen untersucht Laband, inwieweit das ADHGB die Unterscheidung von Auftrag und Vollmacht durchgeführt und gesetzlich verankert hat. Laband gelangt dabei zu dem Ergebnis, daß das ADHGB im Gegensatz zur bisherigen Theorie und vorhergehenden Gesetzgebung terminologisch zwischen Vollmacht und Auftrag trennt. Die Ausdrücke "Vollmacht" und "Ermächtigung" sind die Bezeichnungen für die rechtsgeschäftlich erteilte direkte oder unmittelbare Stellvertretungsbefugnis, während der Ausdruck "Auftrag" keine Beziehung zur Vertretungsmacht hati77. Inhaltlich unterscheidet Laband vier im ADHGB geregelte Arten der Bevollmächtigungi78: (1) Die gesetzlich normierte, unbeschränkbare Vollmacht (z. B. des Prokuristen).
(2) Die gesetzlich normierte, beschränkbare Vollmacht (z. B. des Korrespondentreeders und des Schiffers), deren Beschränkung nach außen nur wirkt, wenn der Dritte sie kennt. (3) Die vertraglich bestimmte Vollmacht mit gesetzlich beschriebenem mutmaßlichen Umfang (z. B. des Handlungsbevollmächtigten), deren Beschränkung Wirksamkeit nur entfaltet, wenn der Dritte sie gekannt hat oder nach den tatsächlichen Umständen hätte kennen müssen. (4) Die vertraglich bestimmte Vollmacht ohne gesetzlich beschriebenen mutmaßlichen Umfang (z. B. in Art. 42 II, 47 II, 498; 58 II, 269 sowie 298, 787 ADHGB), bei welcher der Dritte beweisen muß, daß die dem Stellvertreter erteilte Vollmacht zum Abschluß des fraglichen Geschäfts namensdes Vollmachtgebers berechtigte. 175 ZHR 10 (1866), S. 206.
ZHR 10 (1866), S. 208. ZHR 10 (1866), S. 209ff. (212, 214). 178 ZHR 10 (1866), S. 218ff. (220, 222, 224). 176
177
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Bei all diesen Vollmachten sieht Laband seine These bestätigt, daß für die Außenwirkungen gegenüber Dritten allein die Vollmacht maßgeblich ist, daß "bloße Aufträge und dienstliche Anweisungen allein" den Umfang einer Vollmacht nicht einschränken179, daß schließlich überhaupt der Auftrag "für die Stellvertretungsbefugnis irrelevant" ist 180. c) Die selbständige vom Auftrag getrennte Vollmacht bezeichnet Laband als formelle Stellvertretungsbefugnis. Dieser Ausgestaltung des Instituts der Stellvertretung komme eine "weitreichende prl\ktische Verwertung zu, welche eine wesentliche Signatur des modernen Verkehrsrecht ist": "Durch die Loslösung der Vollmacht vom Mandat, der Stellvertretungsbefugnis vom Rechtsverhältnis, das in concreto zwischen dem Repräsentanten und dem Repräsentierten besteht, ist die Möglichkeit einer selbständigen Verkehrslegitimation gegeben. Der Stellvertreter ist Dritten gegenüber befugt, Rechte eines andern geltend zu machen, gleichviel in welchem Rechtsverhältnis er zu diesem andern steht, ob er dessen Mandatar oder Zessionar ist, ob er dessen Interessen materiell fördert oder verletzt."181 Die "Trennung der formellen Verkehrslegitimation von der materiellen Berechtigung" betrachtet Laband als ein Wesensmerkmal des modernen Zivilrechts und als ein Zeichen rechtlichen Fortschritts. Er sieht Parallelen in der Entwicklung des Indossaments aus einer zur Zahlungserhebung legitimierenden Blankoquittung, in der Einführung der Grundbuch- und Hypothekenverfassung im Liegenschaftsrecht und in der Anerkennung der Grundsätze über den gutgläubigen Eigentumserwerb im ADHGB (Art. 306, 307)182. Abschließend stellt Laband fest, daß für den Rechtsverkehr, "wie er sich im heutigen wirtschaftlichen Leben gestaltet hat", die Prüfung der materiellen Befugnisse durch f()rmelle Kriterien ersetzt werden muß. "An die Stelle der Berechtigung tritt die Legitimation. Aus dieser Wurzel ist die formelle Stellvertretungsbefugnis des heutigen Rechts erwachsen. "183
2. Die Anerkennung der Lehre Labands durch die Wissenschaft Ebenso wie Savignys Lehre vom selbständigen dinglichen Vertrag und Bährs Theorie von der Anerkennung als Verpflichtungsgrund erhielt Labands These von der Selbständigkeit der Vollmachterteilung in ungewöhnlich rascher Zeit eine fast einhellige Zustimmung von der Wissenschaft184. Bereits !79
180 181 182 183 184 14*
ZHR 10 (1866), S. 222. ZHR 10 (1866), S. 206. ZHR 10 (1866), S. 240. ZHR 10 (1866), S. 240f. ZHR 10 (1866), S. 241. Müller-Freienfels (Fn. 160), S.190ff.; Dniestrzafzski (Fn.160), S. 3lff.
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im nächsten Band der ZHR erschien der Aufsatz des bereits an anderer Stelle genannten Mannheimer Rechtsanwalts Ladenburg über "Die Vollmacht als Verkehrsmittel". Der Autor betont- deutlicher und wohl auch weitergehend als Laband selbst - die Unabhängigkeit der Vollmacht von ihrer causa und damit die Abstraktheit der Bevollmächtigung. Weiterhin erhebt er, ohne dafür allerdings Beifall zu erhalten, die Vollmachtsurkunde zum übertragbaren Legitimationspapierrss. Windscheid, Dernburg, Brinz, Regelsberger, Lenel schließen sich der Lehre Labands über die Trennung von Vollmacht und Auftrag an 186. Kritiker fanden sich nur wenige. Friedrich Curtius blieb mit seiner Auffassung, "die Vollmacht reicht soweit als der Auftrag", die er "als Prinzip der Lehre von der Vollmacht" ausgibt, beinahe ein AußenseiteriB7. Ein ähnliches Schicksal widerfuhr R. von Canstein, der Auftrag und Vollmacht als "Arten einer und derselben Gattung" (als "zwei ganz ähnliche Verhältnisse") ansieht, deren Unterschiede nicht qualitativer, sondern quantitativer Art sindl88.
3. Die dogmatische Bewertung der L ehre Labands Laband hat seine Lehre von der Selbständigkeit der Vollmacht gegenüber dem Auftrag zwar ausführlich begründet und dabei auch rechtspolitische Erwägungen angestellt, dennoch ist hier noch auf einige von Laband nicht ausdrücklich angesprochene Punkte einzugehen, um die Bedeutung seiner Theorie richtig einschätzen zu können. a) Laband folgt- anders als Savigny, der der Urheber der sog. Geschäftsherrentheorie isti89- bei der dogmatischen Erfassung der Stellvertretung der sog. Repräsentationstheorie. Danach ist nicht der Vertretene, sondern der Stellvertreter "das produktive Organ des konkreten Vertragswillens"I9o. Durch die Vollmacht wird der eigene Wille des Vertreters nicht ihm selbst, sondern dem Vertretenen, als "Subjekt der dadurch begründeten Verpflichtung und Berechtigung", zugerechnet191. Da der Wille des einen nicht ohne 185
ZHR 11 (1868), S. 72ff. (72, 87ff.). Siehe dazu auch Müller-Freienfels (Fn. 160),
s. 191 f.
186 Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, 4. Aufl., Bd. I, 1875, § 74; Demburg, Pandekten, 2. Aufl., Bd. I, 1888, § 119; Brinz, Lehrbuch der Pandekten, Bd. IV, 2. Aufl. 1892, § 582 (S. 376); Regelsberger, Pandekten, Bd. I, 1893, § 163 (S. 592); Lenel, Jher. Jb. 36 (1896), S. lff. (13ff.). -Siehe dazu auch Dniestrzaflski (Fn. 160), s. 35ff. 187 Curtius, AcP 58 (1875), S. 69ff. (82). 188 Canstein, Grünhuts Zeitschr. f. d. Privat- u. öffentl. Recht 3 (1876), S. 670ff. (673, 674, 683 , 684) . - Siehe dazu auch Dniestrzaflski (Fn . 160), S. 31 ff., 94. 189 Zur Geschäftsherrentheorie siehe Mohnhaupt (Fn. 160), S. 60f.; MüllerFreienfels (Fn. 160), S. 154ff. 190 ZHR 10 (1866) , S. 228f.
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weiteres für den Willen des anderen gelten kann, "denn der eigene Wille ist grade das innerste Wesen, die unverletzliche Prärogative der freien Person"192, kann die durch die Vollmacht bewirkte Rechtsfolge ohne Mitwirkung des Vertreters nicht herbeigeführt werden. Deshalb ist die Bevollmächtigung kein einseitiges Rechtsgeschäft des Vollmachtgebers, sondern bei Laband geradezu zwingend ein Vertragl93. Im Rahmen des Mandats ist der Beauftragte nachträglichen einseitigen Instruktionen und Weisungen des Auftraggebers unterworfenl94. Da aber einseitige Rechtshandlungen des Mandanten den eigenen Willen des Vertreters nicht zum Willen des Vertretenen umgestalten können, sondern der Vertreter dabei unmittelbar mitwirken muß, kann die Vollmachterteilung nicht durch den Auftrag selbst, sondern nur durch ein anderes, selbständiges Rechtsgeschäft, den vom Mandat losgelösten Bevollmächtigungsvertrag, erfolgen. Das erscheint, auch wenn Laband das nicht ausdrücklich ausspricht, als eine juristische Notwendigkeit. Insoweit ist die begriffliche Trennung von Mandat und Vollmacht auch eine Folge der von Laband vertretenen Repräsentationstheorie. b) Leitbild der Lehre Labands sind die gesetzlich normierten unbeschränkbaren und beschränkbaren sowie die vom Gesetz präsumtiv beschriebenen Vollmachten. Er betont zwar immer wieder, daß seine Darlegungen für alle rechtsgeschäftlich erteilten Vollmachten gelten, aber seine Ausführungen orientieren sich doch immer wieder - entsprechend der Ausrichtung am ADHGB- an der Person des Prokuristen, des Gesellschafters einer OHG, am Vorstand einer AG, am Handlungsbevollmächtigten und an anderen kaufmännischen Stellvertretern. Bei den unbeschränkbaren Vollmachten ergibt sich von selbst, daß Bevollmächtigung und Auftrag zwei unterschiedliche, selbständige Rechtsgeschäfte sind. Die anderen gesetzlich normierten oder beschriebenen Vollmachten werfen das Problem auf, inwieweit zulässige Abweichungen vom gesetzlichen Leitbild des Vollmachtsumfanges nach außenhin Wirkungen entfalten können. Dabei stellt sich die Frage, inwiefern Dritte, mit denen der Stellvertreter Geschäfte abschließt, auf den vom Gesetz beschriebenen mutmaßlichen Umfang der Vollmacht vertrauen dürfen. Dies wird von Laband gesehen und im Sinne einer Rechtsscheinshaftung gelöstl95. Der Zusammenhang seiner Ausführungen zeigt aber, daß er Abweichungen von der mutmaßlichen ZHR 10 (1866), S. 208, 229. ZHR 10 (1866), S. 186. 193 ZHR 10 (1866), S. 208. - Zur Behandlung der Bevollmächtigung als einseitiges Rechtsgeschäft des Vollmachtgebers siehe: Dniestrzanski (Fn. 160), S. 36ff. 194 Dernburg, Pandekten, 2. Auf!. , Bd. II, 1889, § 116 (S. 310). Siehe auch: ZHR 10 (1866), s. 207f., 222. !95 ZHR 10 (1866), S. 220, 222. - Den Begriff der Rechtsscheinshaftung gebraucht Laband dabei nicht. 191
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Machtbefugnis eines Stellvertreters vorrangig im Auftragsverhältnis ansiedeln und nur in besonderen Fällen als Beschränkungen des gesetzlich präsumtiven Umfangs der Vollmacht ansehen wi11196. Das entspricht auch seiner Vertragstheorie, derzufolge die Vollmacht nicht einseitig, sondern nur unter Mitwirkung des Stellvertreters begründet und verändert werden kann. Einseitige Anordnungen des Vertretenen sind deshalb nur im Rahmen des Mandats relevant. Insoweit gewinnt man den Eindruck, als habe Laband mit seiner Lehre über die strikte Trennung von Auftrag und Vollmacht auch Probleme lösen wollen, die heute in Anbetracht der Einseitigkeit der Bevollmächtigung allein unter dem Gesichtspunkt einer Rechtsscheinsvollmacht betrachtet werden. c) Beim häufig zitierten Rappen-Beispiel verweistLabandin einer (bisher anscheinend übersehenen) Fußnote für die Richtigkeit seiner Auffassung auf ALR I 13 §§ 93, 97, 98, 147, wobei § 93 wörtlich mitgeteilt wird 197. Diese Bestimmung lautet: "Ist einer besonderen Instruktion in der Vollmacht [gemeint ist die Urkunde gern. I 13 §§ 8, 91] nicht erwähnt oder deren Vorzeigung verboten, so ist die Sache zwischen dem Machtgeber und dem Dritten bloß nach dem Inhalte der Vollmacht zu beurteilen" (§ 93).
Das ALR geht, wie auch die Bezeichnung "Vollmachtsauftrag" belegt, von der Identität von Auftrag und Vollmacht aus (vgl. I 13 §§ 5, 85, 153, 154). Das wird auch von Laband hervorgehoben198. Die Bestimmung von I 13 § 93 behandelt einen Fall, in dem "der Bevollmächtigte die Grenzen seines Auftrags überschritten hat"199, also insoweit ohne Vertretungsmacht aufgetreten ist. Das ALR normiert hier eine Rechtsscheinshaftung. Wenn Laband sich darauf ausdrücklich bezieht, dann zeigt dies, daß die Rechtfertigung für die Vertragsstellung des Dritten, mit dem der Vertreter paktiert hat, eigentlich weniger in der Selbständigkeit der Vollmacht gegenüber dem Auftrag, als vielmehr in dem vom Vollmachtgeber veranlaßten Rechtsschein zu suchen ist. Dieser Befund läßt Labands Lehre über die Trennung von Auftrag und Vollmacht teilweise in einem anderen Licht erscheinen2oo. II. Die VoUmachterteilung im BGB
Für die Verfasser des BGB war die strikte Unterscheidung von Vollmacht und Auftrag, nachdem die Lehre von Laband sich durchgesetzt hatte, kein grundsätzliches Problem. 196 ZHR 10 (1866), S. 222: "Bloße Aufträge und dienstliche Anweisungen allein schränken den Umfang der Vollmachgt noch nicht ein". Ihre Nichtbeachtung ist "nicht notwendig zugleich eine Überschreitung der Stellvertretungsbefugnis". 197 ZHR 10 (1866) , S. 230/31, Fn. 69. 198 ZHR 10 (1866), S. 209. 199 So lautet die gesetzliche Zwischenüberschrift zu §§ 90- 97 (I 13 ALR). zoo Siehe dazu auch unten S. 218 f.
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1. Die Vorlagenfür den 1. Entwurf zum BGB Albert Gebhard, der Verfasser des Teilentwurfs für den Allgemeinen Teil, geht davon aus, daß der Auftrag seinem Wesen nach nicht nur die Vornahme von Geschäften durch den Beauftragten im Namen des Auftraggebers, sondern auch die Ausführung von Rechtshandlungen und Geschäften im eigenen Namen für den Mandanten zum Gegenstand hat. Infolgedessen sei es geboten, "dem Zuge der neuen Rechtswissenschaft" folgend Mandat und Vollmacht als zwei unterschiedliche Rechtsgeschäfte auszugestalten20t. Die Bevollmächtigung ist ein einseitiger Rechtsakt des Vollmachtgebers202. Bei einem Auftrag, der auf die Tätigung von Geschäften in fremdem Namen gerichtet ist, "ist die Vollmachterteilung das notwendige Mittel, um den gesetzten Zweck zu erreichen". Deshalb werde die Bevollmächtigung zugleich in der Willenserklärung, durch die der Auftrag erteilt wird, zu finden sein. "Dieses Zusammentreffen beruht aber nicht auf Identität, sondern auf dem Verhältnis von Mittel und Zweck". Für das Verhältnis von Auftrag und Vollmacht gilt deshalb der Satz: "Wer den Zweck will, will auch das Mittel, und wer das Mittel setzt, will auch den Zweck". 203 Aus der "Funktion der Vollmacht als eines Mittels" wird die Konsequenz abgeleitet, "daß die Beendigungsarten des Mandats zugleich auch Endigungsarten für die Vollmacht- mit Vorbehalt des Schutzes gutgläubiger Drittensein müssen" .204 Dazu heißt es an anderer Stelle: Die Wirkung der Bevollmächtigung bleibt, so lange ihre Erteilung nicht Dritten kundbar gemacht ist, "von ihrer causa abhängig". "Vielleicht kann man, ohne die Erregung eines Mißverständnisses befürchten zu müssen, sagen, die Vollmacht sei, obwohl ein einseitiges, doch kein abstraktes Rechtsgeschäft". 2os Dies wird in anderem Zusammenhang nochmals hervorgehoben: Auch wenn die Vollmacht im künftigen Gesetz vom Auftrag getrennt und selbständig behandelt wird, so muß doch "die stete Abhängigkeit der Vollmacht von ihrer causa, welche meistens ein Auftrag ist", beachtet werden. Die Vollmacht ist nur ein Mittel, um die vom Auftrag bezweckte Rechtsveränderung herbeizuführen. "Da das Mittel nur als Mittel zum Zweck gewollt wird, so wird mit Hinwegfallen des Zweckes auch das Mittel ungewollt" .206 2o1 Die Vorlagen der Redaktoren für die erste Kommission zur Ausarbeitung des Entwurfs eines Bürgerlichen Gesetzbuches, hrsg. von Werner Schubert, Allgemeiner Teil, Teil2, Verfasser: Albert Gebhard, 1981, S. 190. 202 Gebhard (Fn. 201), S.187. 203 Gebhard (Fn. 201), S. 190. 204 Gebhard (Fn. 201), S. 191. 205 Gebhard (Fn. 201), S. 191. 206 Gebhard (Fn. 201), S.192.- Dementsprechend lautet§ 35 des von Gebhard vorgelegten Teilentwurfs:
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Schließlich enthält eine Fußnote die bemerkenswerte Feststellung, daß "die von dem Bestande und Umfange des Auftrags unabhängige Funktion der Vollmacht" sich "aus der Rücksicht auf dritte Personen" erklärt. "Sie ist eine Schutzmaßregel zu Gunstendes guten Glaubens" .201
2. Die Beratung in der 2. Kommission Ebenso wie die Motive zum I. Entwurf, die sich inhaltlich an die Darlegungen von Gebhard anlehnen208, bringen die Beratungen in der 2. Kommission keine neuen Gesichtspunkte zum Verhältnis von Auftrag und Vollmacht. Lediglich bei der Beratung von E I§ 119 Abs. 3, der umformuliert als§ 138 I S. 1 im II. Entwurf erscheint und inhaltlich mit§ 168 S. 1 BGB übereinstimmt, fiel die Bemerkung, daß trotz sonst durchgeführter Trennung von Bevollmächtigung und Auftrag "die Vollmacht kein abstraktes Rechtsgeschäft bilde, sich vielmehr stets an ein anderes Rechtsverhältnis anlehne und mit dessen Existenz stehe und falle"209. Demnach war man der Auffassung, daß die Vollmacht als selbständiges Rechtsgeschäft vom Auftrag zu trennen, aber nicht in jeder Hinsicht abstrakt im Verhältnis zu ihrem Grundgeschäft auszugestalten ist.
3. Die Stellungnahme der Wissenschaft Während der Beratungen zum BGB war so gut wie keine Kritik an der scharfen Unterscheidung von Auftrag und Vollmacht und der weitgehenden Unabhängigkeit der Vollmacht vom Grundverhältnis laut geworden2to. Ein grundsätzlich neuer Ansatz zur Erfassung der Stellvertretung findet sich zwar bei Ludwig Mitteis, jedoch ging es dabei im wesentlichen um das Verhältnis von Vollmachterteilung und Vertretergeschäft211. Erst nach dem lokrafttreten des BGB wurden heftige Angriffe gegen die Ausgestaltung der Vollmacht als abstraktes Rechtsgeschäft von Siegmund Schloßmann (1900) und Stanislaus Dniestrzanski (1904) erhoben212, die aber wenig beachtet wurden und erst in der Gegenwart wieder aufgegriffen werden213. "Der rechtliche Bestand der Vollmacht hängt ab von dem Bestande desjenigen Rechtsverhältnisses, zu dessen Zwecke die Vollmacht erteilt worden ist, insonderheit der Geschäftsführung vermöge Auftrags". Siehe dazu die Erläuterungen S. 193f. 207 Gebhard (Fn. 201), S. 192 Fn. 1 a. E. 2os Motive, Bd. I, S. 228f. (Mugdan, Fn. 66, Bd. I, 1899, S. 478f. 209 Protokolle, Bd. I, S. 145 [S. 299] (Mugdan, Fn. 66, Bd. I, S. 742). 21o Vgl. z.B. Gierke (Fn.158), S.170. 211 L. Mitteis, Die Lehre von der Stellvertretung, 1885. -Siehe dazu Dniestrzanski {Fn. 160), S. 40ff. 212 Schloßmann, Die Lehre von der Stellvertretung, Teil I, 1900, S. 229ff. , 255ff., 262ff.; Teil II, 1902, S. 436ff., 451ff. ; Dniestrzanski {Fn.160), S. 87ff., 301f., 333ff.
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D. Schlußbetrachtung
Der Pandektist Ernst lmmanuel Bekker hat für den Bereich des Vermögensrechts die Kategorie der Zuwendungsgeschäfte gebildet und diese in kausale und abstrakte untergliedert214. Daraus hat Andreas von Tuhr eine grundlegende Lehre über "Die abstrakte Zuwendung" entwickelt215, die bis heute Bestandteil der Lehrbücher zum Allgemeinen Teil des BGB ist und von Heinz Hübner zu einer allgemeinen Theorie über "Kausale und abstrakte Rechtsgeschäfte", untergliedert in "Zuwendungsgeschäfte" und "Erteilung von Handlungsmacht", erweitert worden ist216. Positivrechtliche Grundlage einer derartigen übergreifenden Dogmatik der abstrakten Rechtsgeschäfte ist - zumindest für die Zuwendungsgeschäfte- vor allem das Bereicherungsrecht, das in § 812 und § 817 die rechtsgrundlose Zuwendung dinglicher und obligatorischer Vermögensrechte einheitlichen Prinzipien unterstellt und damit auf gemeinsame Merkmale abstrakter Zuwendungen hinweist. Die Gemeinsamkeit liegt zunächst in der Struktur dieser Rechtsgeschäfte, die eben dadurch gekennzeichnet ist, daß bei ihrer rechtlichen Ausgestaltung nur auf die von ihnen unmittelbar bewirkte Rechtsveränderung abgestellt und der von ihnen verfolgte rechtliche Zweck als nicht konstitutiv ausgeschieden und besonderen selbständigen Zweckvereinbarungsgeschäften (Kausalgeschäften) zugewiesen wird. Ob darüber hinaus auch funktionale Gemeinsamkeiten vorhanden sind, muß nach dem Ergebnis dieser Untersuchung für die hier behandelten abstrakten Rechtsgeschäfte als zweifelhaft angesehen werden. Die abstrakte dingliche Übereignung, das wichtigste Beispiel für abstrakte Verfügungsgeschäfte, diente nach den Vorstellungen ihres Urhebers, Friedrich Carl von Savigny, der Sicherung der rechtlichen Selbstbestimmung (Privatautonomie). Erst 40 Jahre nach der Geburt des abstrakten dinglichen Vertrages wurde dieses Rechtsgebilde in den Dienst des Verkehrsschutzes gestellt. Dritte sollten Eigentum erwerben können ohne Rücksicht darauf, ob der Veräußerer seinerseits sich hinsichtlich des Veräußerungsgegenstandes auf eine seinen eigenen Erwerb rechtfertigende iusta causa berufen konnte. Siehe Müller-Freienfels (Fn. 160), S. 200ff. , und die dort genannten Autoren. E. I. Bekker, System des heutigen Pandektenrechts, Bd. Il, 1889, § 100 (S. 145ff.). 21s A. v. Tuhr, Der Allgemeine Teil des Deutschen Bürgerlichen Rechts, Bd. II 2, 1918, § 73 (S. 103 - 136). 216 H. Hübner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuches, 1. Auf!., 1985, § 31 B IV (S. 272- 283). -Siehe auch W. Flume, Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts, Bd. Il: Das Rechtsgeschäft, 1. Auf!. 1965, § 12 (S. 152 - 182), der allerdings die Vollmacht nicht zu den abstrakten Rechtsgeschäften rechnet, § 50, 1 (S. 840); Enneccerus-Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 15. Auf!. 1960, Bd. II, § 148 I (S. 914- 919) . 213
214
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Mit der Anerkennung des gutgläubigen Erwerbs beweglicher Sachen zunächst durch das ADHGB, dann durch das BGB für den gesamten Güterverkehr hat die Abstraktheit der Verfügung bei Mobilien viel von ihrer Funktion, Dritte zu schützen und damit den Güterverkehr zu fördern, eingebüßt. Darauf hat eindringlich Philipp Heck bereits vor 50 Jahren hingewiesen217. Darüber hinaus wird man die Frage stellen müssen, ob die strikte Trennung von Verfügungs- und Kausalgeschäft bei den Realgeschäften (Handkauf und Handschenkung) - in Anbetracht der Rückabwicklung fehlgeschlagener Übereignungen nur nach Bereicherungsgrundsätzen- nicht vielmehr als verkehrshemmend und deshalb als verfehlt anzusehen ist218. Demgegenüber wird man für das Liegenschaftsrecht feststellen müssen, daß der abstrakten Auflassung nach wie vor die bereits vom preußischen Gesetzgeber in den Vordergrund gestellte Funktion, die Grundbucheintragung zügiger zu gestalten, zukommt. Die Funktion des abstrakten Schuldvertrages hat Otto Bähr in der "prozessualischen Sicherung" von Forderungen gesehen. Die wesentlich weitergehenden ursprünglichen Vorstellungen von Jhering haben sich nicht durchsetzen können, er selbst hat sie später aufgegeben. Nach dem BGB bietet die abstrakte Forderung dem Gläubiger den Vorzug, daß er seine Klage substantiieren kann, ohne auf die causa der Schuldnerischen Verbindlichkeit, die ihm bei einer Zession der Forderung vielleicht sogar unbekannt ist, eingehen zu müssen. Der Schuldner kann demgegenüber die Kausalosigkeit des Versprechens dartun und die daraus abgeleitete Einrede aus § 821 BGB geltend machen. Diese Einrede kann gern. § 404 BGB auch dem Zessionar entgegengehalten werden. Der abstrakte Schuldvertrag des bürgerlichen Rechts dient deshalb nicht dem Verkehrsschutz, der Erleichterung des Rechtsverkehrs mit Forderungen, sondern sein Zweck ist die Klageerleichterung, was allerdings auch zur Verkehrserleichterung beiträgt. Darin unterscheidet sich das abstrakte Versprechen von den abstrakten Forderungen, die in durch Indossament übertragbaren Schuldurkunden (Wechsel, Scheck, kaufmännischer Verpflichtungsschein) verbrieft sind. Diese "in höherem Maß abstrakten" Forderungen (v. Tuhr) sind infolge der dem Indossament beigelegten Wirkungen Einwendungen aus dem Kausalverhältnis nicht ausgesetzt und leiten daraus ihre Verkehrsfähigkeit ab. Für die Vollmacht hat Paul La band die Bedeutung der formellen Stellvertretungsbefugnis für den Rechtsverkehr betont. Das BGB hat die Bevollmächtigung als selbständiges Rechtsgeschäft so gestaltet, daß die Vollmacht jederzeit einseitig ohne Mitwirkung des Vertreters und ohne Rücksicht auf die Art ihrer Ph. Heck, Das abstrakte dingliche Rechtsgeschäft, 1937, S. 20 - 26. Günther Jahr, Zur iusta causa traditionis, in: SavZRG RA 80 (1963) , S. 141ff. (154ff.); W. Flume (Fn. 216), § 12 III 5 c) (S. 181f.); H. Weitnauer, in: W. Erman, Handkommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 7. Auf!. , 1981, Vorbem. vor § 433 Rdnr.14. 217
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Erteilung intern widerrufen werden kann. Dafür wird man auf die in den Materialien für die Erteilung einer Vollmacht gemachten Aussagen zurückgreifen und für das Erlöschen der Vollmacht entsprechend feststellen dürfen, daß in der Regel in jeder den Auftrag konkretisierenden oder einschränkenden Anweisung des Auftraggebers zugleich die interne Erklärung der Beschränkung oder des Widerrufs der zum Zwecke der Erfüllung des Auftrags erteilten Vollmacht zu sehen ist. Die Materialien sprechen für diesen Fall ausdrücklich davon, daß der Bestand der Vollmacht "von ihrer causa abhängig" ist. Der ebenfalls dort bereits angesprochene "Schutz gutgläubiger Dritten", denen die Bevollmächtigung, nicht aber ihr Erlöschen kund geworden ist, wird vom BGB durch eine umfassende Rechtsscheinshaftung (§§ 170- 173) gewährleistet. Damit ist aber dem Verkehrsschutzinteresse ausreichend genüge getan. Die Abstraktheit der Vollmacht vom Grundgeschäft ist, soweit sie überhaupt dem BGB zugrunde liegt, überflüssig. Dieses Ergebnis überrascht nicht, da bereits die Analyse der Lehre Labands zeigte, daß ihr Urheber der Sache nach eine Haftung des Vollmachtgebers für veranlaßten Rechtsschein begründen wollte. Abschließend ist für die hier behandelten abstrakten Rechtsgeschäfte festzustellen, daß ihnen bei übereinstimmender formaler Struktur erheblich unterschiedliche Funktionen zu kommen. Deshalb erscheint es fragwürdig, ob man generell sagen kann, daß der Abstraktionsgrundsatz immer "der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit" dient219.
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So H. Hübner (Fn. 216), S. 272.
Rechtsdogmatik und Rechtspolitik unter der Finanzvedassung des Grundgesetzes Von Peter Selmer
I. Grundfragen 1. Zur Themenwahl
Meinen nachfolgenden Bemerkungen darf ich voranschicken, daß ich zunächst gezögert habe, Ihnen gerade das Finanzwesen als einen weiteren Betrachtungsgegenstand unserer Ringvorlesungsthematik vorzuführen, gibt es doch im Staatsrecht und mehr noch im Verwaltungsrecht Exempel, an denen sich die Verschränkung von Rechtsdogmatik und Rechtspolitik prima facie einfacher und durchsichtiger veranschaulichen ließen. Dem Finanzrecht haftet ja seit jeher der Geruch einer ein wenig esoterischen Materie an. Bei Günter Dürig, einem der Autoren des bekannten Grundgesetzkommentars von Maunz I Dürig I Herzog habe ich erstmals 1971 in einer von ihm verfaßten und der dtv-Textausgabe des Grundgesetzes vorangestellten "Einführung" in bezug auf den grundgesetzliehen Finanzabschnitt der Art. 104a ff. GG die Aufforderung an den Leser entdeckt: "Wenn Sie nicht müssen, steigen Sie da bitte nicht ein. Das brauchen und verstehen nur wenige Experten"!. Nähme man dieses Aperc;u ernst, so dürfte ich mich an dieser Stelle mit einer finanzverfassungsrechtlichen Darlegung, noch dazu einer solchen unter dem Aspekt der Bezüge von Rechtsdogmatik und Rechtspolitik, schwerlich hervortrauen. Indes ist jener Bemerkung nachdrücklich zu widersprechen. Sie wird nicht dadurch überzeugungskräftiger, daß sie sich 17 Jahre später auch in der jüngsten Auflage jener Textausgabe von 19882 unverändert wiederfindet. Die Finanzverfassung bildet, abgesehen von ihrer spezifisch grundrechtssichernden Funktion, das Kernstück der bundesstaatliehen Ordnung. Denn es ist nicht zweifelhaft, daß die Entfaltung der Bund und Ländern verfassungsrechtlich zugewiesenen Sachkompetenzen und der Umfang ihres allgemeinen politischen Gestaltungsspielraumes maßgeblich von der Verteilung der Finanzierungsmöglichkeiten auf Gesamtstaat und Gliedstaaten abhängen. Für einen Bundesstaat, der einen erheblichen Anteil des Sozialprodukts als Steuern eint Vgl. Dürig, in: Grundgesetz, Textausgabe mit ausführlichem Sachverzeichnis und einer Einführung, 11. Aufl., 1971, S. 19. 2 s. 22.
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nimmt, bedeutet das, daß der Wahrung der finanzverfassungsrechtlichen Zuständigkeitsbereiche von Bund und Ländern eine erstrangige Bedeutung für die Stabilität der föderativen Verfassung zukommt3. Daß die Ausnutzurig der ihnen eingeräumten Kompetenzen darüber hinaus bedeutende Auswirkungen für die Freiheitsentfaltung der lastentragenden Bürger im vermögensrechtlichen Bereich hat, liegt auf der Hand. Auch das BVerfG hat in diesem Sinne die finanzverfassungsrechtlichen Normen der Art. 104a ff. GG als einen der "tragenden Eckpfeiler der bundesstaatliehen Ordnung des Grundgesetzes"4 bezeichnet und mehrfach die Schutzwirkung betont, die die finanzverfassungsrechtlichen Zuständigkeitsbestimmungen und ihre Einhaltung zugunsten der Bürger entfaltens. Diese brauchten nur die kompetenzmäßige Auferlegung von Geldleistungspflichten hinzunehmen6. Hinzu kommt, daß das Finanzverfassungsrecht in einem weiteren Sinne nicht auf die Regelungen der Verfassung über "Das Finanzwesen" beschränkt ist. Gewiß, das Grundgesetz hat den finanziellen Angelegenheiten des Bundesstaates einen gesonderten Abschnitt zugewiesen, der sich in den Art. 104a108 GG mit der Verteilung der Ausgabenlasten, der Steuergesetzgebungszuständigkeiten, der erzielten Finanzaufkommen sowie der Finanzverwaltung auf Bund und Länder befaßt und in den Art. 109 - 115' GG zur Haushaltswirtschaft, zur Rechnungsprüfung und zur Kreditaufnahme, vorrangig des Bundes, Stellung nimmt. Diese Bestimmungen werden aber ergänzt durch eine Fülle finanzordnungsbedeutsamer Vorschriften in anderen Abschnitten des Grundgesetzes. Nicht nur findet sich das gesamte Gesetzgebungs-, Ertragsund Verwaltungsregime der außersteuerlichen Abgaben- d. h. der Gebühren, Beiträge und Sonderabgaben - nicht im Abschnitt über das Finanzwesen, sondern in die allgemeinen Zuständigkeitsregeln der Art. 73ff. GG verwiesen?. Auch die den .Abgabengesetzgebern gezogenen materiell-verfassungsrechtlichen Grenzen ergeben sich sämtlich nicht aus der Finanzverfassung im engeren Sinne. Sie bestimmen sich vielmehr nach den allgemeinen Maßgaben des Grundgesetzes, insbesondere nach den Anforderungen des Rechtsstaatsprinzips und der Grundrechte. Insgesamt ist es Aufgabe der sich im weiteren Sinne -also ausdrücklich oder (insoweit) "ungeschrieben"B- als finanzverfassungsrechtlich darbietenden Normen des Grundgesetzes, einerseits für eine bundesstaatlich gerechte Aufteilung der Finanzzuständigkeiten, andererseits für eine 3 Selmer, Finanzordnung und Grundgesetz, AöR 101 (1976), S. 239ft. (240); dem folgend BVerfGE 55, 274 (300f.). 4 BVerfGE 55, 274 (300); 72, 330 (388). 5 BVerfGE 55, 274 (302); 67, 256 (288, 290). 6 BVerfGE 34, 139 (416); 55, 274 (302). 7 Vgl. dazu m.w.N. Selmer I Brodersen I Nicolaysen, Straßenbenutzungsabgaben für den Schwerverkehr, 1989, S. 44, 57f., 63. s Vgl. hierzu zuletzt K. Vogel, Das ungeschriebene Finanzrecht des Grundgesetzes, in: Gedächtnisschr. f. W. Martens, 1987, S. 265ff.
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rechtsstaatlich gerechte Verteilung der notwendigen Abgabenlasten Sorge zu tragen. 2. Rechtsverbindlichkeit der Finanzverfassung
Ihrer Eigenart nach ist die Finanzverfassung, auch soweit sie sich nicht in der Aufstellung von Kompetenzregeln erschöpft, weithin sozusagen "non-selfexecuting", d. h. auf Umsetzung durch den einfachen Gesetzgeber angelegt. Das verleiht der Frage Bedeutung, welchen Raum die Rechtsdogmatik- diese hier nur verstanden im Sinne spezifisch juristischer, die Rechtswelt strukturierender Denkformen9 - für die finanzverfassungsbelebende Finanz- und Steuerpolitik der Legislative gewinnt oder doch gewinnen kann bzw. gewinnen sollte. Dieser "dogmatikoffene" Raum darf allerdings nicht von vornherein grundsätzlich überdehnt werden. Die Regeln der Finanzverfassung haben Verfassungsrang, nicht mehr - d. h. sie bilden keine Art Überverfassung -, aber auch nicht weniger. So kann entgegen gelegentlichen Ansätzen keine Rede davon sein, daß der Finanzverfassungangesichts des spezifisch "technischen" Charakters vieler ihrer Vorschriften und des in der Tat hohen Abstraktionsgrades ihrer tatbestandliehen Formulierungen ein weicherer Verpflichtungsgehalt innewohnte als der sonstigen VerfassunglO- mit der Folge, daß sie schon aus diesem Grunde nicht nur abweichenden Kompromissen und Handhabungen, sondern auch klugen dogmatischen Einfällen weithin zugänglich wäre. Im Sinne dieses Verständnisses hat sich vor einiger Zeit auch das BVerfG geweigert, die Normen der Finanzverfassung mit minder verbindlichen Regelungen etwa im Bereich des Völkerrechts ("soft law")ll auf eine Stufe zu stellenl2. Richtig ist allerdings, daß die normativen Festlegungen der Finanzverfassung zumTeil nicht das Maß an inhaltlicher Bestimmtheit aufweisen , das für Regelungen im Staat-Bürger-Verhältnis charakteristisch ist13 oder doch durchgehend sein sollte. Vielmehr werden in großem Maße unbestimmte Begriffe mit entsprechenden Beurteilungs- und Entscheidungsspielräumen, ja gelegentlich sogar Blankettbegriffe und Leerformeln verwendet, denen es an konkretisierbarem Rechtsgehalt für sich allein weitgehend fehlt1 4 • Dem kommt 9 Vgl. 0 . Behrends, Gesetzgebung und Dogmatik, Bericht über eine Tagung in Göttingen, Zeitschr. f. Gesetzgebung 1989, S. 68ft. (72); vgl. zu Begriff und Aufgabe der Dogmatik ferner unten bei und in Fn. 19ff. 10 Vgl. bereits K. Vogel, Finanzverfassung und politisches Ermessen, 1972, S. 8f.; Selmer, AöR 101 (1976), S. 239 (241); zuletzt ausdrücklich im obigen Sinne BVerfGE 72, 330 (388f.). 11 Vgl. dazu den Überblick von Ehricke, "Soft law" - Aspekte einerneuen Rechtsquelle, NJW 1989, S. 1906ff. m.w.N. 1z BVerfGE 72, 330 (388). 13 So aus jüngerer Zeit ausdrücklich auch BVerfGE 72, 330 (390); s. auch Fn. 14.
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auch für den vorliegenden Zusammenhang Bedeutung zu. So wie sich innerhalb des jeweils verbindlich gesetzten Rahmens der politische Prozeß nach seinen eigenen Regeln und Bedingungen zu entfalten vermagi5, so fand und findet gerade auch hier die Rechtsdogmatik ein reiches Betätigungsfeld. Es auch nur annähernd umfassend zu beschreiben, erscheint an dieser Stelle weder möglich noch notwendig. Einige wichtige Beispiele mögen deshalb genügen. So werden im Grundgesetz die Begriffe der Steuer, des Beitrags und der Gebühr zwar verwendet, von ihm aber weder definiert noch hinsichtlich ihres Verhältnisses zueinander oder zu weiteren denkbaren (Sonder-)Abgaben geklärt. Als wahre Fundgrube ganz unbestimmter Begriffe und Formeln erweisen sich ferner etwa die in Art. 104a IV GG normierten Grundsätze für die Gewährung von Finanzhilfen des Bundes an die Länder für Investitionen der Länder und Gemeinden- wie jüngst im Zusammenhang mit dem Strukturhilfegesetz vom 20. 12. 1988 (Stichwort: "Albrecht-Initiative")I6 wieder deutlich geworden ist''- oder die Grundsätze des Art. 106 III S. 4 GG für die Verteilung der Umsatzsteuer auf Bund und Länder. Zu den Voraussetzungen, unter denen die Länder im Bereich der konkurrierenden Steuergesetzgebung Steuern erheben dürfen, geben Art. 105 II GG i. V. mit Art. 72 I GG nur ganz vage Auskunft; auch das im Bereich der ausschließlichen Steuergesetzgebung der Länder explizite Verbot der Erhebung Bundessteuern gleichartiger örtlicher Verbrauch- und Aufwandsteuern durch die Länder ist weitgehend der Konkretisierung offen und bedürftig. Ähnliches läßt sich für die Kreditbeschaffungsvoraussetzungen des Art. 115 I GG sagen. Mehr noch gilt im Bereich der "ungeschriebenen", insbesondere der materiellen Finanzverfassung, daß alle wesentlichen handlungsleitenden Werte zwar vom Grundgesetz im Kern anerkannt werden, ohne dogmatische AufschlüsseJung aber im Verborgenen bleibeniB. Denken Sie für den Bereich des Rechtsstaatsprinzips 14 Vgl. dazu für viele Fischer-Menshausen, Unbestimmte Rechtsbegriffe in der bundesstaatliehen Finanzverfassung, Schriften des Vereins f. Socialpolitik, n. F. 96/1, 1978, S. 135ft.; Fr. Klein, Die Finanzverfassung als Gegenstand gerichtlicher Auseinandersetzungen insbesondere zwischen Bund und Ländern, in: Festschr. f. Döllerer, 1988, S. 285ff. (287ff.), jew. m.Nachw. 1s Vgl. BVerfGE 72, 330 (390). 16 Art. 1 des Gesetzes zum Ausgleich unterschiedlicher Wirtschaftskraft in den Ländern v. 20. 12. 1988, BGBl I, 2358. 17 Vgl. näher Patzig, Regionale Ungleichgewichte und bundesstaatliche Finanzverfassung, DÖV 1989, S. 330ff.; Carl, Förderung von Investitionen Privater durch Finanzhilfen nach Art. 104a IV GG, DVBI1989, S. 589ff.; Krautzberger, Das Strukturhilfeprogramm des Bundes, KStZ 1989, S. 124ff. 18 Der jüngsten Darlegung von Lang, Verantwortung der Rechtswissenschaft für das Steuerrecht, StuW 1989, S. 201ff. (205), "die gegenwärtige Verfassung (verbürgt) ein System von Grundwertungen, das dem praktisch orientierten Gerechtigkeitsdiskurs relativ konkrete Anweisungen" gebe, vermag ich (insoweit) nicht zuzustimmen.
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(Art. 20 111 GG) etwa an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wie den Grundsatz der Rechtssicherheit und für den Grundrechtsbereich an die im allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 I GG) nur unscharf angelegte Forderung nach Steuergerechtigkeit oder die in der Berufs- und Eigentumsfreiheit (Art. 12 I, 14 GG) nur zu erahnenden quantitativen Grenzen der Besteuerung.
3. Zur Tragweite dogmatischen Denkens Allerdings: Rechtsdogmatik erschöpft sich nicht in Interpretation, hier in Verfassungsinterpretationt9. Sie soll vielmehr- und das liegt sozusagen auf einer anderen Ebene - überhaupt als besonders sachhaltige Denkform Gerechtigkeitsfragen juristisch operational machenzo, um auf diese Weise vor allem eine ständige Neuargumentation ad hoc zu vermeiden2t, sei es für die verwaltungsmäßige Entscheidung eines steuerlichen Einzelfalles, sei es bei der gesetzesvorbereitenden Dogmatik für den Finanzgesetzgeber. Da sie dies dadurch zu bewirken sucht, daß sie Wertungsgesichtspunkte in andere Begriffe transformiert, die nach Möglichkeit ihrerseits eine nach logischen Kriterien vorgenommene Subsumtion ermöglichen sollen, geht es freilich auch hier nicht ohne Interpretation: "Denn die Begriffe, die die Dogmatik bildet und mit denen sie ,operiert', sind ja zum großen Teil Chiffren für bestimmte Regelungsinhalte, die ihrerseits interpretationsbedürftig sind"22; denken Sie nur an die verschiedenen Begriffselemente des verfassungsrechtlichen Steuerbegriffs - von der Gegenleistungsfreiheit der Steuer bis zur Voraussetzung der Einnahmeerzielung. Lassen Sie mich meine mehr allgemeinen Bemerkungen mit dem Hinweis schließen, daß es eine spezifische "Dogmatisierungskompetenz" nicht gibt wie sonst nicht, so auch nicht für den Bereich des Finanz- und Steuerrechts. Das folgt ohne weiteres aus der Eigenart der Dogmatik als einer besonders sachhaltigen juristischen Denkform23 . Zuständig für sie ist, wer sie betreibt. Von den verschiedenen Entfaltungsansätzen der Rechtsdogmatik greift die Thematik unserer Ringvorlesung die Phase de lege ferenda heraus, die Phase also, in der darüber nachgedacht wird, was Gesetz werden soll. Die Frage, der im folgenden nachzugehen ist, muß mithin lauten: Hat die Rechtsdogmatik, Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl., 1983, S. 216. Ausgehend von der neuerdings wieder von Schlink, Der Staat 1989, S. 161ff. (171) resümierten- traditionellen- "dreifache(n) Gewißheit, daß es Kriterien gibt, an denen sich juristische Aussagen als richtig oder falsch erweisen, daß immerhin einige dieser Kriterien außer Zweifel stehen und daß die Richtigkeit bzw. Falschheit durch gegenläufige Rechtsprechung noch nicht widerlegt wird". 21 Vgl. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, Taschenbuchausgabe 1972, S. 91. 22 Larenz (Fn. 19), S. 216f. , 220. 23 Behrends, Zeitschrift f. Gesetzgebung 1989, S. 68ff. (72). 19
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von wem auch immer ins Werk gesetzt, auf die Finanz- und Steuerpolitik den Einfluß nehmen können, der ihr gebührt? II. Die Einwirkungen der Rechtsdogmatik auf die Finanz- und Steuerrechtspolitik: Befund und Kritik
1. Bestandsaufnahme Geht man den dogmatischen Klärungen der eingangs aufgelisteten finanzverfassungsrechtlichen Freiräume und Unbestimmtheiten nach, so seneint sich auf diese Frage zunächst ein jedenfalls partiell positiver Befund anzubieten: Manche Probleme sind, unbeschadet nach wie vor offener Einzelfragen, jedenfalls im Grundsätzlichen hinreichend dogmatisch geklärt. Auch kommt diesen dogmatischen Verfestigungen ersichtlich im allgemeinen eine unentbehrliche Bedeutung für die Rechtspolitik zu. Das gilt etwa für den Steuer-, Beitrags- und Gebührenbegriff24; auch der Begriff der den herkömmlichen Abgabenkatalog ergänzenden sog. Sonderabgabe25 gewinnt aufgrund fortschreitender dogmatischer Strukturierung zunehmend an Konturen26, die von 24 Zum Steuerbegriff vgl. Starck, Überlegungen zum verfassungsrechtlichen Steuerbegriff, in: Vogel I Tipke (Hrsg.), Festschr. f. Wacke, 1972, S. 193ff.; Selmer, Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht, 1972, S. 74ff.; Knies, Steuerzweck und Steuerbegriff, 1976, S. 73ff. ; Bodenheim, Der Zweck der Steuer, 1979, passim; für einen Überblick Stern, Staatsrecht li, 1980, S. 1097 ff.; Fischer-Menshausen, in: v. Münch (Hrsg.), Grundgesetz, 2. Aufl., 1983, Art. 105 Rdnrn. 6ff. m.w.Nachw.; aus der Judikatur des BVerfG vgl. BVerfGE 3, 407 (435); 4, 7 (13); 7, 244 (251); 8, 274 (317f.); 29, 402 (408f.); 36, 66 (70); 38, 61 (79f.); 42, 223 (228); 49, 343 (353); 55, 274 (299); zum Gebührenbegriff s. Wilke, Gebührenrecht und Grundgesetz, 1973, S. 16ff.; F. Kirchhof, Gebührenflexibilität der Deutschen Bundespost, 1988, S. 27; Puwalla, Qualifikation von Abgaben, 1987, S. 42ff.; Selmer I Brodersen I Nicolaysen (Fn. 7), S. 54ff.; aus der Judikatur vgl. BVerfGE 50, 217 (226); BVerfG, NJW 1984, S. 1871; zum Beitragsbegriff vgl. Wilke, ebd. S. 117ff.; Flämig, Art. "Beitrag", in: HwStR, 2. Aufl., 1981, 1. Bd., S. 186; Puwalla, ebd., S. 48ff.; Selmer I Brodersen I Nicolaysen, ebd., S. 62f.; aus der Judikatur des BVerfG s. BVerfGE 14, 312 (317); 42, 223 (228); 49, 343 (353). 25 Zur Sonderabgabe vgl. Selmer, Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht, S. 183ff.; ders., Die parafiskalischen Abgaben im Spannungsfeld von nationalem Recht und europäischem Gemeinschaftsrecht, DStZIA, S. 396ff.; ders. Steuer und parafiskalische Sonderabgabe, GewArch 1981, S. 41ff.; ders. Finanzierung des Umweltschutzes und Umweltschutz durch Finanzierung, in: Thieme (Hrsg.), Umweltschutz im Recht, 1988, S. 25ff., 40ff.; Mußgnug, Die zweckgebundene öffentliche Abgabe, in: Festschr. f. Forsthoff, 1972, S. 259ff.; Friauf, Zur Zulässigkeit von außersteuerlichen Sonderabgaben, in: Festschr. f. Haubrichs, 2. Aufl., 1977, S. 103 ff.; ders., Zur Zulässigkeit von Sonderabgaben, JA 1981, S. 261ff.; Richter, Zur Verfassungsmäßigkeit von Sonderabgaben, 1977; Osterloh, Zur Zulässigkeit von Sonderabgaben, JuS 1982, S. 421ff.; Henseler, Begriffsmerkmale und Legitimation von Sonderabgaben, 1984; Puwalla, Qualifikation von Abgaben, S. 57ff.; aus der Judikatur des BVerfG s. BVerfGE 55, 274; 57, 139; 67, 256; BVerfG, NJW 1988, S. 2529. 26 Die freilich noch keinesweg hinreichend deutlich ausgeformt sind: vgl. Selmer I Brodersen I Nicolaysen (Fn. 7), S. 64ff.
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der Finanzrechtspolitik auch beachtet werden. Entsprechendes trifft auch für andere Komplexe zu, so etwa für das implizite Gleichartigkeitsverbot des Art. 105 II GG27 - das ausdrückliche des Art. 105 II a GG harrt dagegen noch der dogmatischen Klärung2s -, für die im Rechtsstaatsprinzip angesiedelte Dogmatik zur Frage rückwirkender Steuer- und sonstiger Abgabengesetze29 oder für die Voraussetzungen, unter denen der Bund gemäß Art. 115 I GG Kredite aufnehmen kann3°. Gelegentlich ist die Rechtsdogmatik der Rechtspolitik und ihren Bedürfnissen sogar vorausgeeilt. So gibt es, was das Verhältnis von Abgabenerhebung und Eigentumsgarantie (Art. 14 I GG) angeht, heute eine Fülle rechtsdogmatischer Ansätze vor allem des Schrifttums3t, deren reicher Ertrag in keinem Verhältnis zu der- bislang- mangelnden praktischen Bedeutung der Frage steht. Bei alledem wird allerdings bereits hier allenthalben die Neigung deutlich, die Finanz- und Steuerrechtsdogmatik - und hier insbesondere die gesetzesvorbereitende Dogmatik - auf eine reine Verfassungsrechtsdogmatik zu 27 Vgl. nur Tipke, Über die Gleichartigkeit von Steuern, StuW 1975, S. 242ff.; s. aus der Judikatur des BVerfG etwa BVerfGE 7, 244 (260); 13, 181 (193), 16, 64 (75); 40,56 (62.f.); 49,343 (355); 65,325 (351). 28 Vgl. Selmer, Finanzverfassungsrechtliche Streitfragen im Bereich der örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern, DöV 1974, S. 374ff.; Bökelmann, Die örtlichen Steuern und das Gleichartigkeitsverbot in Art. 105 Ila GG, 1974; Fischer-Menshausen, in: v. Münch (Hrsg.), Grundgesetz, 2. Aufl. (1983), Art. 105 Rdnrn. 23ff.; aus der Judikatur des BVerfG vgl. BVerfGE 40,56 (64); 65,325 (350f.); 69, 174 (183f.). 29 Walz, Verbotene Rückwirkungen, gebotene Übergangsregelung, richterliche Vertragsanpassung- Rechtssicherheit und Risikozuweisung bei Steuerrechtsänderungen -, in: Finsinger I Sirnon (Hrsg.), Recht und Risiko, 1988, S. 253ff. (254), wähnt hier freilich nicht zu Unrecht nach wie vor ein "Sumpfgebiet der Dogmatik". Vgl. zum Thema aus dem Schrifttum ferner Selmer, Rückwirkung von Gesetzen, Verwaltungsanweisungen und Rechtsprechung, Steuerkongreßreport 1974, S. 83ff. m. zahlr. Nachw. zum derzeitigen Meinungsstand; seither etwa noch Pieroth, Rückwirkung und Übergangsrecht, 1981; J. lliopoulos-Strangas, Rückwirkung und Sofortwirkung von Gesetzen, 1986; Institut "Finanzen und Steuern" (Bearbeiter H. Hahn), Zur Rückwirkung im Steuerrecht - Zugleich eine KritiK am Beschluß des BVerfG v. 14. 5. 1986 - , 1987; Fiedler, Neuorientierung der Verfassungsrechtsprechung zum Rückwirkungsverbot und zum Vertrauensschutz? NJW 1988, S. 1624ff.; K. Vogel, Rechtssicherheit und Rückwirkung zwischen Vernunftrecht und Verfassungsrecht, JZ 1988, S. 833ff.; aus der Judikatur zuletzt vor allem BFH, BStBL II 1983, S. 259ff.; BVerfGE 63,343 (353ff.); 72, 200 (241ff.). 30 Vgl. neben den Kommentierungen zu Art. 115 GG für viele li. Wolf, Verfassungsrechtliche Grenzen der Staatsverschuldung in der BRep. Deutschland, Diss. Harnburg 1984 m. zahlr. Nachw. zum Meinungsstand; aus der Judikatur s. jüngst BVerfG, DVB11989, S. 610 m. Anm. A. Janssen = DÖV 1989, S. 633. 31 Vgl. Selmer, Steuerinterventionismus und Verfassungsrecht, S. 295ff. mit zahlr. Nachw. zum derzeitigen Meinungsstand; s. seither insbes. P. Kirchhof u. v. Arnim, Besteuerung und Eigentum, VVDStRL 39, S. 213ff. und 286ff.; Draschka, Steuergesetzgebende Staatsgewalt und Grundrechtsschutz des Eigentums, 1983; Loritz, Das Grundgesetz und die Grenzen der Besteuerung, NJW 1986, S. lff. (9f. m.w.N.); aus der Judikatur des BVerfG s. nur BVerfGE 14, 221 (241); 19, 119 (129); 27, 111 (131); BVerfG, HFR 1969, S. 347.
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beschränken. Das heißt: Es geht häufig nicht so sehr darum, in einem eigentlich rechtsdogmatischen Sinne "richtige" Ordnungsgedanken und Strukturen zu entwickeln, sondern solche, die unter größtmöglicher Freiheit der Rechtspolitik und damit des einfachen Gesetzgebers dem Grundgesetz - möglicherweise gerade noch - gerecht werden. Nicht nur reduziert sich damit die Rechtsdogmatik in wesensfremder Verengung auf Verfassungsinterpretation; sie denaturiert insoweit auch zur reinen Vermeidungsstrategie zwecks Umschiffung verfassungsrechtlicher Klippen. Nicht selten ersetzt deshalb die Judikatur des BVerfG die sachlich strukturierende Denkform der Dogmatik32. Manche Begründungen zu Gesetzentwürfen lesen sich denn auch - und das gilt gerade auch für das Finanzrecht- passagenweise wie Übungsarbeiten zur Überprüfung der Verfassungsrechtskonformität der geplanten Regelung. 2. Steuergerechtigkeit zwischen Dogmatik und Politik Diese Feststellungen treffen mehr noch als für die engere Finanzverfassung vor allem für den aus Art. 3 I GG hergeleiteten materiellen Grundsatz der "Steuergerechtigkeit"33 zu, der in besonderer Weise ein der Ausfüllung offenes Prinzip verkörpert. Das BVerfG hat diese Offenheit bekanntlich zum Anlaß genommen, die dem einfachen Gesetzgeber seit jeher zugesprochene Gestaltungsfreiheit auch auf das Finanz- und Steuerrecht zu übertragen34 • Diese Gestaltungsfreiheit des Steuer- und Abgabengesetzgebers soll erst dort enden, "wo die gleiche oder ungleiche Behandlung der geregelten Sachverhalte nicht mehr mit einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise vereinbar ist, wo also kein einleuchtender Grund mehr für die Gleichbehandlung oder Ungleichbehandlung besteht. Nur die Einhaltung dieser äußersten Grenzen der gesetzgeberischen Freiheit (Willkürverbot) ist vom BVerfG nachzuprüfen, nicht aber, ob der Gesetzgeber im Einzelfall die jeweils zweckmäßigste, vernünftigste und gerechteste Lösung gefunden 32 Vgl. hierzu neuestens instruktiv auch Schlink, Die Entthronung der Staatsrechtswissenschaft durch die Verfassungsgerichtsbarkeit, Der Staat 1989, S. 161ff. , der mit Recht (S. 168- 170) von einem herrschenden "Bundesverfassungsgerichtspositivismus" spricht. 33 Zur (aus Art. 3 I GG abgeleiteten) Bindung des Steuergesetzgebers an den Grundsatz der "Steuergerechtigkeit" vgl. BVerfGE 6, 55, (70); 13, 181 (202) ; 21, 54 (67); 22, 156 (161f.); 23, 1 (6); 25, 309 (312); 26, 172 (184); 26, 302 (310); 26, 327 (337); 29,327 (335); 35,324 (335); 37,38 (47); 38, 61 (97); 47, 1 (29); 49, 343 (360) ; 50,386 (391); 65, 325 (354); 68, 287 (310); 74, 182 (199f.); vgl. aber auch Fn. 34. Aus dem Schrifttum s. besonders instruktiv Tipke, Steuergerechtigkeit in Theorie und Praxis, 1981, passim. 34 Daß aus diesem Grund der Begriff der "Steuergerechtigkeit" in der Judikatur des BVerfG praktisch nur geringe Bedeutung erlangt hat, hat neuerdings wieder Herzog, Leitlinien und Entwicklungstendenzen der Rspr. des BVerfG in Steuerfragen, StbJb 1985/86, S. 27 ff. (35), mit Recht festgestellt.
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hat" 35 . Hieran hat das Gericht, ungeachtet einer von ihm seit einiger Zeit gelegentlich verwendeten "neuen Formel"36 - auf die einzugehen sich hier erübrigt-, bis heute unbeirrt festgehalten. Es können keine Zweifel bestehen, daß diese verfassungsgerichtliche Grenzziehung, die als solche im Grunde nicht zu beanstanden ist37, für die Einwirkungskraft der Rechtsdogmatik auf die Finanz- und Steuerrechtspolitik geradezu erschreckende, vom BVerfG gewiß nicht gewollte noch als solche von ihm zu vertretende Folgerungen gezeitigt hat. Sie hat in diesem Sinne vor allem die Konsequenz nach sich gezogen, daß bei Ministerialbürokratie und Parlamenten, was den Gesichtspunkt der Steuergerechtigkeit angeht, eine ersichtliche Scheu, ja Unlust zur dogmatischen Operationalisierung dieses Gesichtspunktes besteht. Sie fühlen und gerieren sich zumeist allein als "Experten des politisch Machbaren"38; rechtlich sind sie ganz auf die Frage fixiert: Wird das politisch Machbare gegebenenfalls der Gleichheitskontrolle des BVerfG standhalten? Dabei wird die schlichte Selbstverständlichkeit übersehen, daß die Rechtspolitik auch im Bereich des Steuer- und Abgabenrechts keineswegs nach Maßgabe des politisch Gewollten nur Regelungen vorzubereiten braucht, für die sich irgendein beliebiger sachlicher Grund im weiten Bereich des Noch-nicht-Willkürlichen aufspüren läßt. Vielmehr soll sie steuerliche Normen und Normenzusammenhänge statuieren, die durchgehend sachgemäß und gerecht sind und deren Ausgewogenheit nach allen Seiten einwandfrei sichergestellt ist - auch wenn die Legislative als unmittelbar demokratisch legitimierte Instanz nur hinsichtlich äußerster Grenzen der verfassungsgerichtlichen Kontrolle und Verwerfungskompetenz unterliegt. Kurz gesagt: Die Finanz- und Steuerpolitik ist durchgehend auf die Schaffung "richtigen", d. h . aber gerechten Finanz- und Steuerrechts verpflichtet, nicht nur auf bloße Verfassungsgerichtsfestigkeit. Die praktischen Auswirkungen der einseitigen Verfassungsgericht-Fixierung der Steuer- und Abgabengerechtigkeitspolitik unter Vernachlässigung rechtsdogmatischer Implikationen, d. h. hier: steuergerechtigkeitsrechtlicher Richtigkeitserwägungen, waren und sind beträchtlich. Wenn schon vor längerem die Steuergesetzgebung als eine "zerfahrene Gelegenheits- und Flickgesetzgebung" bezeichnet wurde39, wenn vom geltenden Steuerrecht als einem "Steuerchaos, Steuerdschungel, Steuerdickicht, Steuerirrgarten, SteuerlabyBVerfGE 65, 325, 354 (st. Rspr.). Vgl. BVerfGE 55,72 (88); 67, 231 (236) , 68,287 (301); s. näher Maaß, Dieneuere Rspr. des BVerfG zum allgemeinen Gleichheitssatz, NVwZ 1988, S. 14m. Fn. 8. 37 A. A. Lang, StuW 1989, S. 201 ff. (206): Das BVerfG räume dem Steuergesetzgeber eine "zu weitgehende Gestaltungsfreiheit" ein. 38 Zum Terminus s. Kloepfer, Gesetzgebung im Rechtsstaat, VVDStRL 40, 63ff. (89) . 39 Vgl. 0. Bühler, StbJb. 1955/56, S.. 32. 35
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rinth"40 gesprochen wird, wenn vor etmger Zeit von "einem weitgehend pathologischen Befund eines unübersichtlichen, teilweise widersprüchlichen, ständig geänderten Gesetzesrechts" 41 , ja neuestens sogar von einem "Verfall der Steuergesetzgebung"42 die Rede ist, dann ist Ursache hierfür nicht zuletzt auch die immerwährende Hoffnung der Steuerpolitik, das auf die Durchsetzung äußerster Grenzen beschränkte BVerfG werde gegebenenfalls - nicht jeder Unfug ist verfassungsgerichtlich anfechtbar! - die jeweilige Regelung schon passieren lassen. Beispiele für die Dogmatik-Gleichgültigkeit der Finanz- und Steuerpolitik gibt es auch aus jüngerer Zeit in Fülle. Nur ein in die Gegenwart hineinreichendes sei hier genannt: Die durch das Steuerreformgesetz 199043 eingeführte 10%ige sog. Quellensteuer und ihre - nur kurze Zeit nach ihrem Inkrafttreten verfügte - kürzliche Wiederabschaffung. Die Quellensteuer übrigens keine eigenständige Steuer, sondern lediglich ein besonderes Erhebungsverfahren für die schon bisher steuerpflichtigen Kapitaleinkünfte - war bekanntlich eingeführt worden, um für eine gleichmäßigere Anwendung der Steuergesetze bei der Besteuerung der Einkünfte aus Kapitalvermögen, also für mehr Steuergerechtigkeit Sorge zu tragen. Sie war gewiß ein passabler Weg44, wäre auch eine Quellenbesteuerung in realistischer Höhe der steuerrechtsdogmatisch überzeugendere Weg gewesen4s. Der soeben beschlossene ersatzlose Wegfall der Quellensteuer jedenfalls hat mit Steuerpolitik wenig und mit Steuerrechtsdogmatik nicht mehr das geringste zu tun. Im Grunde signalisiert er scheinbar "das restlose Eingeständnis, daß der Gesetzgeber sich mit der Verkürzung von Steuern auf Kapitalerträge auch in Zukunft abfinden wi11"46. 40 Vgl. Tipke, Die Situation des Steuerrechts im Jubiläumsjahr 1988, in: Festschr. der Rechtsw. Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Universität Köln, 1989, S. 865. 41 P. Kirchhof, Die Kunst der Steuergesetzgebung, NJW 1987, S. 3217. 42 Knobbe-Keuk, Zum Verfall der Steuergesetzgebung, BB 1988, S. 1086ff. ; s. a. Send/er, Der Rechtsstaat im Bewußtsein seiner Bürger, NJW 1989, S. 1761 ff. (1762). 43 Vom 25. 7. 1988 (BGBl I, 1093). 44 Zu dem mit ihr zugleich verbundenen Zinssteueramnestiegesetz vgl. dezidiert krit. aber (für viele) etwa Tipke, Die rechtliche Misere der Zinsbesteuerung, BB 1989, S. 157ff.; Weyand, Auswirkungen der Verfassungswidrigkeit des Amnestiegesetzes, BB 1989, S. 404ff.; Reiß, Die Hinführung zur Steuerehrlichkeit, ZRP 1989, S. 168ff. ; Lang, Das Zinssteueramnestiegesetz, FR 1989, S. 349ff. ; Hoffschmidt, Steueramnestie und Schutz von Bankkunden - Eine gesetzgeberische Fehlleistung, KritV 1989, S. 102ff. ; Send/er, NJW 1989, S. 1761ff. (1762f.) , jew. m.w.N.; s. zum Steueramnestiegesetz jüngst auch BFH, DB 1989, S. 1648ff. 45 Vgl. zur Höhe krit. etwa auch Tipke, BB 1989, S. 157; Lang, StuW 1989, S. 349ff. (357). 46 Reiß, ZRP 1989, S. 168; s. ähnlich auch Send/er, NJW 1989, S. 1761ff. (1763): "Die zu erwartende Beseitigung dieser Steuer sieht beinahe aus wie eine gesetzgebensehe Anerkennung der Steuerhinterziehung als eines wohlerworbenen Rechts" ; vgl. (für viele) krit. ferner Lang, FR 1989, S. 349ff. (357); Birk, Gleichheit und Gesetzmäßigkeit der Besteuerung, StuW 1989, S. 212ff. (214).
Finanzverfassung, Rechtsdogmatik und Rechtspolitik
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3. Grenzen der Rechtsdogmatik
Die Rechtsdogmatik ist gegen Erscheinungen dieser und ähnlicher Art gewiß machtlos. Sie ist nur eine gedankliche, eine geistige Macht ohne Schwert, allein basierend auf der sachlichen Überzeugungskraft der "klugen", der "richtigen" Lösung. Nicht selten gibt sie freilich vor, über ein solches Schwert zu verfügen: So wächst gerade in der Finanz- und Steuerrechtsdogmatik- sozusagen als Rückwirkung des allseitigen Schielens auf das BVerfGersichtlich die Neigung, wissenschaftlich ausgeformte dogmatische Strukturen zur Herstellung von Steuer- und Abgabengerechtigkeit vorschnell als vom geltenden Verfassungsrecht gefordert auszugeben, anstatt es bei ihnen als sachgerechten und stimmigen Denkfiguren bewenden zu lassen. Insofern muß von einer gewissen, sogleich näher zu erläuternden Selbstüberschätzung der Steuerrechtsdogmatik gesprochen werden. Diese Selbstüberschätzung rührt wohl einmal aus dem ohnmächtigen Gefühl, auf andere Weise als durch Anhebung der gewünschten Strukturen auf Verfassungsebene praktisch nichts bewirken zu können. Hinzu tritt aber als weitere Ursache, daß das BVerfG die Steuerrechtswissenschaft zu einer verfassungsrechtlichen Verbrämung vieler ihrer dogmatischen Thesen selbst dadurch ermutigt hat, daß es sich bei der Anwendung des allgemeinen Gleichheitssatzes gelegentlich einer spezifisch steuerrechtsdogmatischen Begrifflichkeil bedient. Das gilt in besonderer Weise für die Rezeption des Begriffs der "Leistungsfähigkeit". Mehrfach hat das Gericht es als ein aus Art. 3 I GG abzuleitendes "grundsätzliches Gebot der Steuergerechtigkeit" bezeichnet, "daß die Besteuerung nach der (wirtschaftlichen) Leistungsfähigkeit ausgerichtet wird" 47. Es hat dadurch, ohne letztlich freilich in der Sache seine Kontrolle zu verschärfen, der verbreiteten irrigen Auffassung Vorschub geleistet, alles, was die Steuerrechtsdogmatik bislang vermittels Steuergesetzgebung, Finanzrechtsprechung und Steuerrechtswissenschaft in den Begriff der Leistungsfähigkeit hineingelegt hat, sei Inhalt des geltenden Verfassungsrechts geworden - ohne angemessen zu berücksichtigen, daß der allgemeine Gleichheitssatz auch der Ausformung anderer dogmatischer Strukturen als solchen an die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit anknüpfenden sehr wohl Raum läßt48. BVerfGE 43, 108 (120) ; vgl. ferner BVerfGE 47, 1 (29); 61, 319 (342ff.). Die Tendenz des jüngeren Schriftturns geht freilich überwiegend in eine das Leistungsfähigkeitsprinzip nicht nur spezifisch steuerrechtlich, sondern gerade auch verfassungsrechtlich immer stärker gewichtende Richtung: Vgl. zum Problernkreis (ohne hier nach der Intensität der Gewichtung näher zu differenzieren) aus den letzten Jahren: Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernorrnen, 1983, S. 43ff., 155ff. und passim; ders., Zum Stand der Theoriediskussion in der Steuerrechtswissenschaft, StuW 1983, S. 293ff.; ders., Gleichheit und Gesetzmäßigkeit der Besteuerung, StuW 1989, S. 212ff.; P. Kirchhof, Der verfassungsrechtliche Auftrag zur Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, StuW 1985, S. 319ff.; vor allem (neben 47
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Der jetzige Präsident des BVerfG, Roman Herzog, hat deshalb vor kurzem mit Recht die kritische Frage aufgeworfen, "ob unsere Vorgänger am BVerfG besonders gut beraten waren, als sie ... auf die steuerrechtliche Terminologie zurückgriffen; denn daraus ergaben sich nur falsche Hoffnungen, die das Bundesverfassungsgericht nicht erfüllen kann"49. Das trifft in der Tat zu und ist um die Erläuterung zu ergänzen, daß damit keineswegs nur die Hoffnungen beschwerdeführender Steuerbürger, sondern auch die dogmatisierender Steuerrechtier gemeint sind (oder doch gemeint sein sollten), die ihre im Begriff der "Leistungsfähigkeit" gründenden gedanklichen Kategorien grundsätzlich mit der Kraft der Verfassung begaben möchten. Für die Zukunft erscheint es, will man nicht für die Anwendung des Art. 3 I GG ganz auf den Begriff der "Leistungsfähigkeit" verzichten, unumgänglich, zwischen einem steuerrechtliehen und einem steuerverfassungsrechtlichen Begriff der Leistungsfähigkeit zu unterscheidenso, wobei sich der erstere - absolute- streng an den von der Steuerrechtsdogmatik herausgearbeiteten Systemgedanken und Leitlinien orientiert, während der letztere- relative- sich zwar rechtsdogmatisch als Ausfluß der Steuergerechtigkeit und damit des Art. 3 I GG darstellt, dafür aber auch nur nach Maßgabe der von dieser Grundrechtsbestimmung gezogenen weiten Grenzen konkrete Bedeutung gewinnt. Keine Zweifel sollten jedenfalls darüber bestehen, daß der bei der Herstellung steuerlicher Gerechtigkeit nicht selten zu beobachtenden DogmatikIndifferenz des Steuergesetzgebers nicht damit begegnet werden kann, daß Bonn näher an Karlsruhe gerückt, d. h. die verfassungsgerichtliche Kontrolle von Finanz- und Steuergesetzen weiter nach vorn verlegt und auf die im weiteren Sinne dogmatisch "richtige" Strukturierung der steuerlichen Vorschriften ausgedehnt wirdst. Eine solche Verfahrensweise verbietet sich mangels hinreichender Aussagedichte der Verfassung wie auch angesichts der funktionellrechtlichen Grenzen, die dem BVerfG gegenüber der aufgrund demokratischer Legitimation zur Gesetzgebung berufenen Legislative gezogen sind. Die Einhaltung des Grundsatzes der "Steuergerechtigkeit" sollte daher vom BVerfG auch künftig grundsätzlich nur auf das Fehlen einer evident groben einer Fülle weiterer Publikationen im obigen Sinne) Tipke (Fn. 40), S. 877ff., zuletzt dezidiert vor allem Lang, StuW 1989, S. 201ff. (206f. m. Fn. 35). Zurückhaltender vgl. insbes. Selmer, AöR 101 (1976), S. 399ff. (446f.); Walz, Steuergerechtigkeit und Rechtsanwendung, 1980, S. 105ff., 155ff. und passim; Schuppert, Verfassungsrechtliche Prüfungsmaßstäbe bei der verfassungsgerichtlichen Überprüfung von Steuergesetzen, in: Festschr. f. Zeidler, 1987, S. 691ff. (711ff.); s.a. Fn. 49. 49 R. Herzog, Der Weg zum BVerfG- Das Verhältnis zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Steuergerichtsbarkeit, DStZ 1988, S. 287ff. (290); ähnlich zurückhaltend bereits ders., Leitlinien und Entwicklungstendenzen der Rspr. des BVerfG in Steuerfragen, StbJb. 1985/86, S. 27ff. (38ff.). 50 So auch R. Herzog, DStZ 1988, S. 287ff. (290). 51 A.A. etwa Lang, StuW 1989, S. 201ff. (206f.m. Fn. 35); Tipke (Fn. 40), S. 883.
Finanzverfassung, Rechtsdogmatik und Rechtspolitik
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Sachwidrigkeit und nicht auf die steuerrechtsdogmatische Konsistenz der Regelung überprüft werden dürfen. Entgegen einer im Steuerrecht gelegentlich vertretenen Auffassungsz wird sich diese Beschränkung auch durch einen Rückgriff auf den Gedanken der sog. "Systemgerechtigkeit" oder "Systemtreue" im allgemeinen nicht mit Erfolg auflösen lassen. Dieser Gedanke ist kein selbständiger verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab, sondern lediglich Hilfsüberlegung bei der Feststellung eines eventuellen Verstoßes gegen den allgemeinen Gleichheitssatz, dessen Anwendungsregeln er daher voll und ganz unterworfen bleibt53. Ebensowenig wie dieser ist er somit in der Lage, den Steuergesetzgeber auf bestimmte dogmatische Strukturen festzulegen, d. h. ihm eine ad hoc "neue Ausrichtung seiner Vernünftigkeitskriterien"54 von Verfassungs wegen abzuschneiden.
111. Schlußbemerkung Was wir also brauchen- und damit komme ich zum Schluß- ist eine aus sich heraus größere dogmatische Standfestigkeit des Finanz- und Steuergesetzgebers auch dort, wo es nicht um unmittelbar aus der Verfassung ableitbare dogmatische Strukturen steuer- und abgabenrechtlicher Richtigkeit und Gerechtigkeit geht. Die Finanz- und Steuerpolitik sollte in diesem Zusammenhang insbesondere auch auf die nach wie vor beträchtliche Überlagerung und Ergänzung steuerrechtlicher Regeln und der ihnen zugehörigen dogmatischen Strukturen durch außersteuerrechtliche Aspekte, hier insbesondere auf dirigistisch differenzierende Steuerverschonungen, weitestgehend verzichten. Das setzt freilich voraus, daß der Finanz- und Steuergesetzgeber endlich konsequent Abschied nimmt von dem "populistischen Anpassungsopportunismus"55, mit dem er seit langem und dies bis heute in einer Art nacheilendem Gehorsam der- seit einiger Zeit sogenannten - Stimmungsdemokratie seinen Tribut entrichten zu müssen glaubt. Respekt vor den für die abgabenrechtliche Inanspruchnahme politisch Verantwortlichen wird sich bei den lastentragenden Steuerbürgern letztlich nur dann einstellen, wenn sie sich statt hektischer Kurzatmigkeit mit ihren Wechselbädern einer verläßlichen Rationalität und Kontinuität steuerrechtspolitischer Gestaltung konfrontiert sehen. Die 52 Vgl. etwa Tipke, Steuerrecht- Chaos, Konglomerat oder System?, StuW 1971, S. 2ff.; ders., Anwendung des Gleichheitssatzes im Steuerrecht- Methode oder irrationale Spekulation, BB 1973, S. 157ff. 53 Vgl. auch BVerfGE 61, 138 (148f.). 54 BVerfGE 60, 16 (43). 55 Hierzu und zum Folgenden vor allem H. Klages, Wandlungen im Verhältnis der Bürger zum Staat - Thesen auf empirischer Grundlage, 1988, S. 21 und passim; s. ferner Sendler, NJW 1989, S. 1761. (1763); R. Scholz, Sind die Volksparteien in der Krise?, Die Welt v. 10. 6. 1989, S. 7.
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steuerpolitisch Handelnden sollten künftig mehr als bisher berücksichtigen, daß die Rechtsdogmatik hierzu und damit zur Wahrung der Steuergerechtigkeit einen wichtigen Beitrag leisten kann und muß56.
56 In diesem Sinne überaus eindringlich jüngst auch Lang, StuW 1989, S. 201ff. (207 u. passim) in seiner (nach meinem obigen Vortrag publizierten) Kölner Antrittsvorlesung.
Rechtsdogmatik und Rechtspolitik im Werkvertragsrecht Leistungen des Gesetzgebers und der Rechtsprechung
Von Frank Peters I. Einleitung 1. Beginnen wir mit einem praktischen Fall: Der Bauunternehmer U hat ein größeres Areal erworben, auf dem er einen Komplex von Einfamilienhäusern errichtet. Er versucht natürlich aus Gründen der Liquidität, diese schon während der Planungs- und der Bauphase zu veräußern, hat damit aber nicht durchweg Erfolg. Insbesondere das Ehepaar E schließt seinen notariellen Kaufvertrag mit U erst zu einem Zeitpunkt ab, in dem "ihr" Haus schon fix und fertig ist.
Das Haus weist zwei Mängel auf. Zum einen ist die Garage kleiner als in der Baubeschreibung vorgesehen, zum anderen kommt es im Keller wegen unzureichender Isolierung zu Durchfeuchtungen. Freilich haben die E's den Zustand der Garage schon bei ihren Besichtigungen des Hauses bemerkt, sich Ansprüche insoweit bei der Übergabe aber nicht vorbehalten. Und die Feuchtigkeit im Keller schlägt erst nach Jahr und Tag durch. Die E's befragen das BGB nach ihren Möglichkeiten 1• Wegen der Garage stoßen sie alsbald auf § 464 BGB, der einen Vorbehalt der Rechte bei der Übergabe verlangt. Und wegen des Kellers sehen sie, daß die Jahresfrist des § 477 BGB abgelaufen ist, daß sie aber auch bei Fristwahrung eigentlich kaum die Chance gehabt hätten, ihre Interessen hinreichend zu wahren. Denn wandeln wollen sie nicht, weil ihnen das Haus insgesamt gefällt, es auch günstig war und sie Kosten und Mühen eines neuen Umzugs scheuen. Eine Minderung läßt den Keller feucht und liefert schätzungsweise auch nicht entfernt den erheblichen Betrag, der zur Mängelbeseitigung erforderlich ist. Von einem Nachbesserungsanspruch spricht das Kaufrecht nicht2 • So könnten die Kosten der Sanierung wohl zwar als Schadensersatz wegen Nichterfüllung liquidiert werden, aber zugesichert,§ 463 S. 1 BGB, ist bei aller Dehnbarkeit dieses Begriffs nichts, und für den Vorwurf der Arglist, § 463 S. 2 BGB, fehlt I Die denkbaren Regelungen des konkreten Vertrages seien aus Gründen der Übersichtlichkeit außer Betracht gelassen. 2 Vgl. dazu Köhler JZ 1984, 393. In der Praxis wird Nachbesserung oft vereinbart.
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es gegenüber U an hinreichenden und beweisbaren Anhaltspunkten. Schadensersatzansprüche auf anderer Basis aber, so machen sie sich klar, können sie neben § 463 BGB nicht gut unterbringen. Die E's klagen einem befreundeten Juristen ihr Leid, der sie sehr schnell trösten kann: Die Rechtsprechung behandelt Fälle dieser Art nach Werkvertragsrecht3. Damit stehen zunächst fünf Jahre zur Rechtsverfolgung zur Verfügung,§ 638 BGB4. Der bei der Abnahme unterbliebene Vorbehalt wegen der Garage schadet gar nichts, weil § 640 II BGB nach seinem Wortlaut nur die sonstigen Bestellerrechte kassiert, nicht aber den Anspruch auf Schadensersatz wegen Nichterfüllung nach § 635 BGB5. Nach letzterer Bestimmung gibt es wegen beider Mängel Schadensersatz wegen Nichterfüllung- also das volle Interesse - unter kommaden Bedingungen; denn zu vertreten, fahrlässig verursacht, sind sie allemal. Und wegen des Kellers kann vorab die Nachbesserung betrieben werden, ob man sie nun nach § 633 II BGB von U verlangt oder ob man- angenehmer noch- nach § 633 111 BGB vorgeht, indem man U wegen der Nachbesserung in Verzug setzt und dann von ihm einen Kostenvorschuß für eine Nachbesserung durch einen anderen Unternehmer einklagt6. 2. Dieser rechtliche Befund sei als solcher zunächst einmal hingenommen. Er läßt jedenfalls zwei Beobachtungen zu, denen unsere Aufmerksamkeit gelten soll: Erstens: Kaufrecht und Werkvertragsrecht sind offenbar austauschbar. Zweitens: Das Werkvertragsrecht ist dabei das "bessere" Kaufrecht, wenn es denn problemlos zu interessengerechten Lösungen führt. II. Die Austauschbarkeit von Kauf und Werkvertrag 1. Die konstatierte Austauschbarkeit von Kauf und Werkvertrag verblüfft, wenn man den historischen Hintergrund des Werkvertrages betrachtet.
a) Die weitgehend vom römischen Recht geprägten Väter des BGB - Mütter hat es nicht - kannten von dort den Vertragstyp der locatio conductio. Diesen Doppelnamen kann man- üblich ist es nicht- wörtlich mit "Gestellung" (von locare, hinstellen), "Mitnahme" (von conducere, mitsichführen) wiedergeben, wobei die locatio conductio aus heutiger Sicht Miete, Dienstvertrag und eben den Werkvertrag umfaßte. Bei der Miete und dem Dienstvertrag waren der Mieter bzw. der Dienstherr der conductor, der Mitnehmer, bei Vgl. BGHZ 63, 96; 68, 372; 74, 205; BGH NJW 1981 , 2344; 1982, 2243. Dabei ist eine Verkürzung dieser Frist wegen§ 11 Nr. lOf AGBG nur durch individuelle Absprache möglich. s So jedenfalls BGHZ 61, 369; 77, 134. 6 Vgl. BGHZ 47, 272; 68, 372. 3 4
Rechtsdogmatik und Rechtspolitik im Werkvertragsrecht
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der locatio conductio operis, dem Werkvertrag, nahm dagegen der Unternehmer die zu bearbeitende Sache mit, war also conductor. Ließen sich dabei Miete und Dienstvertrag noch unter dem Aspekt der Gebrauchsüberlassung auf Zeit zusammenfassen, so liegt es auf der Hand, daß der Werkvertrag, bei dem Rollen von locator und conductor gleichsam umgekehrt waren, nur mühsam mit ihnen unter eine gemeinsame Überschrift zu bringen war. Gleichwohl behandelt das führende Lehrbuch des ausgehenden 19. Jahrhunderts von Windscheid I Kipp unter der Paragraphenüberschift der Dienstmiete neben dem Dienstvertrag auch nur mit sehr knappen Bemerkungen?. Das Verbindende der Vertragstypen liegt in der fremdnützigen Tätigkeit auf Zeit. Jedenfalls aber scheint bei dieser Systematik ein Austausch von Kauf- und Werkvertragsrecht ausgeschlossen. b) Das BGB ist nicht die erste Kodifikation, die den Werkvertrag aus dem Dasein im Schatten von Miet- und Dienstvertrag erlöst und ihn als eigenständigen Vertrag regeltS. Immerhin muß schon dies als ein rechtsdogmatisches und rechtspolitisches Verdienst seiner Verfasser gewertet werden. Bemerkenswert ist vor allem aber das dogmatische Konzept, das der Regelung zugrunde liegt. Es verblaßt der auf Tätigkeit und Dauer bezogene Charakter der locatio conductio operis, so daß jene Elemente in den Hintergrund treten, die die Nähe zum Dienstvertrag begründet hatten9. Das BGB sucht vielmehr die Nähe zum Kauf, indem es den Schuldinhalt des Unternehmens auf die Lieferung eines Erfolges reduziert, so § 631 BGB, der Zug um Zug gegen die Zahlung der Vergütung abzuliefern ist, so der Kern der viel mißverstandenen Bestimmung des§ 641 BGBW. Die Herstellung des Werkes durch den Unternehmer, praktisch von enormer Wichtigkeit, hat bei diesem Konzept eines punktuellen Leistungsaustausches kaum noch Bedeutung. Sie sinkt zur Vorbereitungshandlung herab und ist Sache des Unternehmers. Gewiß kann man ihm Fristen setzen, wenn er mangelhaft oder verzögerlich arbeitet, §§ 634, 636 BGB, aber diese dürfen nicht vor dem vorgesehenen Ablieferungsdatum ablaufenll . Wenn man gemeinhin von einer Vorleistung des Unternehmers spricht, darf man das, überspitzt formuliert, eigentlich nur dann tun, wenn
Lehrbuch des Pandektenrechts, 9. Auf!. 1906, § 401 (Bd. II 744ff.). s Vgl. bereits für Preußen ALR I 11 §§ 925ff., für Österreich§§ 1165ff. ABGB. Freilich verklammern beide Kodifikationen den Werkvertrag noch mit dem Dienstvertrag, was das BGB dann auch gliederungsmäßig aufgibt. 9 Daß die Abgrenzung dieser Vertragstypen nach wie vor Schwierigkeiten bereiten kann, sei nicht geleugnet. Weithin ergeben sie sich aus der Natur des jeweiligen Vertrages; im übrigen können sich die Parteien auch Vorteile daraus versprechen, daß sie ihren Vertrag der einen oder der anderen Materie zuweisen oder zuzuweisen versuchen. 10 Das kann hier nicht näher ausgeführt werden ; vgl. dazu einstweilen Peters, Festschr. Korbion, 1986, S. 337ff. 11 § 634 I 2 Hs. 2 BGB, auf den dann§ 636 I 1 Hs. 1 BGB Bezug nimmt. 7
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man bereit ist, auch die Aufgabe des Bestellers, sich rechtzeitig den Werklohn zu besorgen, als eine Vorleistung zu qualifizieren. Dabei ist die ersichtliche Anlehnung der Regelung an den Kauf mit äußerster Konsequenz betrieben. Die §§ 633 I und 637 BGB entsprechen ihren kaufrechtlichen Vorbildern, den §§ 459 und 476 BGB, fast wörtlich. Die Wandlung und die Minderung sind dem Kauf entlehnt, auch wenn sie sich weniger leicht übertragen lassen, als sich der Gesetzgeber das vorgestellt haben magt2. Die§§ 634 IV und 639 I BGB enthalten detaillierte Verweisungen auf das Kaufrecht. Es kann nicht überraschen, daß der Gesetzgeber Anlaß sah, abschließend in § 651 BGB einen Rangierbahnhof für die Zuordnung der Fälle zu einer der beiden Materien zu schaffen. Es geht diesem freilich kaum anders als mancher Anlage der Bundesbahn: Er wird kaum noch benutzt und ist stillegungsbedürftig13 • 2. Vor diesem Hintergrund aber kann prinzipiell jeder Kaufvertrag als ein Werkvertrag verstanden werden. Daß man Eigentümer einer Sache, Inhaber eines Rechts werden soll, ist ein denkbarer Erfolg im Sinne des § 631 BGB; der dortige Erfolgsbegriff ist weit zu fassent 4 • Gewiß bleibt als Abgrenzungskriterium, daß beim Werkvertrag eine vorbereitende Tätigkeit geschuldet wird, beim Kauf nicht, aber es verschwimmt, da diese Tätigkeit beim Werkvertrag gering ausfallen kannts, zudem vom Gesetzgeber in das Vorfeld der eigentlichen Vertragsabwicklung verdrängt worden ist, andererseits aber auch der Lieferung einer Sache weithin deren Herstellung vorausgehen muß. Auch der Verkauf der künftigen Sache ist eine vertraute Erscheinungi6. 111. Vorzüge der gesetzlichen Regelung des Werkvertrages gegenüber dem Kauf
Etwas salopp wurde vorhin der Werkvertrag als der bessere Kaufvertrag bezeichnet. Das gilt es, näher zu beleuchten und zu belegen. 1. Das praktische Zentralproblem beider Materien liegt darin, daß die gelieferte Sache nicht immer so ist, wie sie wohl sein sollte- hierauf wollen wir uns 12 Die für den Werkvertrag typische Bearbeitung einer Sache läßt sich nicht ohne weiteres rückgängig machen; für die Minderung ergeben sich vor dem Hintergrund des § 472 BGB erhebliche Berechnungsprobleme. 13 Die Abgrenzung ist rein formal (vertretbare oder nicht vertretbare Sache, Hauptund Nebensache) und kennt nur ein starres Entweder-Oder, obwohl doch verbreitet ein Zusammentreffen von kauf- und werkvertragliehen Elementen ist; man denke an die Lieferung und Montage. 14 Erman I Seiler, BGB, 8. Auf!. 1989, Rz. 9 vor§ 631. 1s Wenn z. B. ein wertvoller wesentlicher Bestandteil mit geringen Mühen montiert wird. 16 Als emptio rei speratae schon dem römischen Recht bekannt, vgl. Kaser, Das römische Privatrecht I, 2. Auf!. 1971, S. 549.
Rechtsdogmatik und Rechtspolitik im Werkvertragsrecht
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aus Zeitgründen jedenfalls im wesentlichen beschränken. Für diesen Fall müssen angemessene Reaktionen bereitgehalten werden. Dabei zeigt es sich, daß die kaufrechtliche Regelung weitestgehend einer altehrwürdigen römischrechtlichen Tradition verhaftet geblieben ist, was ihr - als Rechtshistoriker muß ich es leider bekennen- durchaus nicht zum Vorteil gereicht hat. Daß der Gesetzgeber beim Werkvertrag ohne übermächtige Vorbilder gestalten konnte, hat sich positiv ausgewirkt; bedeutende Väter sind eben oft auch eine Belastung. a) Von besonderem praktischen Interesse ist zunächst die Frage, unter welchen Voraussetzungen Schadensersatz wegen Nichterfüllung verlangt werden kann, weil dieser Rechtsbehelf die Interessen des Erwerbers voll abzudecken vermag. Wer bei der Fallbegutachtung Wandlung oder Minderung voranstellt, hält sich zwar an das System des Gesetzes, geht aber an den Bedürfnissen der Parteien vorbei. aa) Das Kaufrecht kennt hier in § 463 BGB die beiden Alternativen der zugesicherten Eigenschaften und der arglistig verschwiegenen Mängel. Beide Tatbestände weisen signifikante Schwächen auf.
(1) Bei der zugesicherten Eigenschaft haftet der Verkäufer verschuldeosunabhängig für die Übernahme einer Garantie. Der entsprechende Tatbestand ergab im römischen Recht einen guten Sinn, weil die Garantie bestimmter Eigenschaften durch den Verkäufer ohne weiteres angenommen werden konntel7. Bei seinem heutigen Nachfolger ist das nicht mehr ohne weiteres möglich; dieser wird vielmehr, um § 463 S. 1 BGB wissend, Ausdrücke wie "Zusicherung" oder "Garantie" meiden wie der Teufel das WeihwasseriB. Nun bestehen aber eklatante Haftungsbedürfnisse, und die Folge ist, daß stillschweigende, konkludente Zusicherungen das Feld beherrschen. Deren Voraussetzungen lassen sich aber nur schwer erfassen19, so daß der Begriff der Zusicherung ständig davon bedroht ist , seine Konturen zu verlieren. Rechtsunsicherheit tritt ein. (2) Verschuldeosabhängig ist die Haftung für das arglistige Verschweigen von Mängeln. Arglist vermag sicher eine Schadensersatzpflicht zu rechtfertigen, doch gibt es ohne Zweifel auch Fälle, in denen ein minderes Verschulden die Haftung auch noch tragen würde2o. Die so entstandene Haftungslücke wird von Wandlung und Minderung nur unzureichend gefüllt, wenn diese den Käufer auf den Stand "Null" zurückwirft, jene ihn zum Leben mit dem ManVgl. dazu Kaser (Fn. 16), S. 557ff. Beliebt ist allerdings die Vorspiegelung einer Zusicherung: "Verkäufer versichert, daß ihm von Mängeln nichts bekannt ist". 19 Vgl. dazu Staudinger I Honsell, BGB, 12. Auf!. 1978, Rz. 75ff. zu§ 459. zo Die Art. 33 I lit. d, e, 41 II, 82ff. EKG begnügen sich für einen Schadensersatzanspruch des Käufers wegen Sachmängeln mit weitaus geringeren Anforderungen. 17
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gel nötigt. Das ist aber nicht das einzige Manko des § 463 S. 2 BGB. Einerseits löst diese Bestimmung einen unguten Anreiz aus, den schweren Vorwurf der Arglist zu erheben und zu untermauern21 . Andererseits sagte mir neulich der Anwalt eines auf Schadensersatz in Anspruch genommenen Verkäufers, daß sein Mandant- als Kaufmann- seine Zahlungspflicht nüchtern abzuschätzen bereit sei, daß es ihm aber schwer zu schaffen gemacht habe, daß das Gericht dauernd von Arglist gesprochen habe. In der Tat wirke die Anspruchsgrundlage stigmatisierend, brandmarkend22. Wenn es gute Politik der Zivilrichter ist, stets die moralisch schonendste Anspruchsgrundlage heranzuziehen, etwa culpa in contrahendo statt § 826 BGB, dann wird sie hier vom Gesetz konterkariert. bb) Demgegenüber ist es die zentrale Voraussetzung des § 635 BGB im Werkvertragsrecht, daß der Mangel zu vertreten ist. Er muß also im wesentlichen mindestens auf Fahrlässigkeit beruhen. Das führt einerseits dazu, daß Schadensersatz bis auf wenige Ausnahmefälle verlangt werden kann 23, Haftungslücken nicht entstehen. Andererseits fühlt sich die Unternehmerseite, soweit ersichtlich, durch die Haftung nicht überstrapaziert. Es wird im Prozeß der Mangel geleugnet, seltener auch das Verschulden, auch die Höhe der Schäden verbreitet dort zuweilen Schrecken24 , doch dem Grunde nach wird die Haftung akzeptiert. Die Regelung ist insoweit evident sachgerecht. Nur am Rande sei vermerkt, daß auch das Werkvertragsrecht den problematischen Begriff der zugesicherten Eigenschaften kennt, daß er hier eine besondere praktische Bedeutung aber niemals hat gewinnen können. b) Das Kaufrecht kennt keine Nachbesserung, jedenfalls beim Stückkauf nicht25; beim Gattungskauf gibt es, der Nachbesserung vergleichbar, die Nachlieferung freilich nur als Recht des Käufers, nicht als Befugnis des Verkäufers26. Auch hier werden die Traditionen sichtbar, wenn das römische Recht einen Nachbesserungsanspruch ebenfalls nicht kannte. 21 Für den freilich in mindestens gleicher Weise auch noch der Umstand verantwortlich ist, daß Arglist des Verkäufers die knappen Verjährungsfristen des Gewährleistungsrechts ausschaltet, § 447 I 1 BGB. 22 Bei der Annahme von Arglist des Verkäufers führen kaum noch Wege an der Bejahung des Straftatbestandes des Betruges, § 263 StGB , vorbei. 23 Im Ergebnis hat sich der Unternehmer grundsätzlich vom Vorwurf der Fahrlässigkeit zu entlasten, so zutreffend Erman I Seiler, Rz. 29 zu § 635. Wenn er sich dann noch am geltenden Stand von Wissenschaft und Technik zu orientieren hat, der Mängel des Werkes doch grundsätzlich ausschließt, entgeht er dem Schadensersatz nur in den seltenen Fällen, in denen die herrschende Meinung der Techniker irrte. 24 Sie können den Werklohn leicht um ein Vielfaches übersteigen, z. B. im Kleiderreinigungsbereich. Im Baubereich können die absoluten Beträge existenzbedrohend werden. 25 Vgl. o. Fn. 2; die vertragliche Praxis sieht freilich anders aus. 26 Vgl. zum Recht des Verkäufers aufzweite Andienung Staudinger I Honsell, Rz. 7 zu§ 480 m.w.N.
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Das Argument gegen einen Nachbesserungsanspruch, daß viele Verkäufer bloße Händler und damit zur Nachbesserung gar nicht in der Lage seien27 , ist schon für sich unschlüssig, weil es eben auch viele gibt, die selbst oder durch Dritte nachbessern können. Der Siegeszug der Nachbesserung in den AGB der Verkäufer widerlegt ihre Ablehnung durch den Gesetzgeber endgültig. In der Tat bringt die Nachbesserung ja beiden Seiten Vorteile, dem Verkäufer, weil sie weithin die billigste Lösung ist und jedenfalls den Vertrag erhält, dem Käufer, weil der Mangel entfällt. Bei der Minderung wiegt die Preisersparnis oft nicht den Mangel auf, jedenfalls subjektiv nicht, bei der Wandlung steht der Käufer mit leeren Händen da und weiß nicht, ob es ihm beim nächsten Kauf besser ergeht. Er kann die Wandlung natürlich auch dazu benutzen, aus einem ohnehin bereuten Vertrag "auszusteigen"; aber das ist schwerlich das Ziel der gesetzlichen Regelung. Demgegenüber stellt das Werkvertragsrecht die Nachbesserung in den Vordergrund- zum Nutzen beider Seiten. Dabei ist die Lösung des Gesetzgebers, gemessen an vorangegangenen Lösungen, radikal und konsequent. Denn der Besteller wird grundsätzlich28- nicht nur nach seiner Wah]29- zunächst auf die Nachbesserung verwiesen, und gleichzeitig ist diese nicht nur ein Recht des Bestellers, sondern eben auch eine unentziehbare Befugnis des Unternehmers30. c) Vorgängige Nachbesserung also und Schadensersatz unter angemessenen Voraussetzungen- das sind, neben einer etwas günstiger ausgestalteten Verjährung, die Pluspunkte des Gewährleistungsrechts des Werkvertrages, dieprovokativ formuliert,- geschaffen werden konnten, weil man ohne die Belastungen mit einer großen Erbschaft frei nachdenken konnte. 2. Die mit 21 Paragraphen ohnehin signifikant kürzere Regelung des Werkvertragsrechts reduziert sich noch weiter, wenn man berücksichtigt, daß manche Bestimmungen leerlaufen3 1 , andere kaum akzeptiert worden sind32. Unter den verbleibenden sei als rechtsdogmatisch und rechtspolitisch besonders gelungen nur noch auf eine hingewiesen, auf§ 649 BGB. Der Käufer, der Lust und Neigung verliert, die Sache entgegenzunehmen, ist in einer wenig beneidenswerten Lage. Eigene Schritte aus dem Vertrag her27 Vgl. Krückmann LZ 1915, 1563; Süß, Wesen und Rechtsgrund der Gewährleistung für Sachmängel, 1931, 59. 28 Vorbehaltlich der Voraussetzungen des§ 634 II BGB. 29 So der Dresdner Entwurf in Art. 640. 30 Vgl. § 634 I BGB. 31 So die §§ 646 BGB, weil es Werke , die der Abnahme nicht fähig sind, letztlich nicht gibt; gebilligt werden kann jedes Werk, und § 650 BGB, weil das dortige Kündigungsrecht dem Besteller bei einer Kostenüberschreitung nicht weiterhilft. 32 So insbesondere die §§ 642, 643 BGB; auch der Anspruch auf Abnahme nach § 640 I BGB wird fast nie durchgesetzt.
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aus zu unternehmen, erlaubt ihm das Gesetz nicht. Er kann beim Verkäufer um gut Wetter bitten, um eine gütliche Einigung. Wenn sich der Verkäufer darauf nicht einläßt, ist er dessen weiterem Vorgehen hilflos ausgeliefert. Der Verkäufer kann es sich überlegen, ob er nach§ 326 BGB vorgehen soll, oder ob es nicht lohnender ist, den Kaufpreis einzuklagen und zu vollstrecken; manchmal ist es das. Ganz anders steht der Besteller da. Er kann nach § 649 BGB ohne Angabe von Gründen kündigen und muß dann nur den Unternehmer - unter Abzug ersparter Aufwendungen - auszahlen. Auch das ist eine vorbildliche Regelung.
IV. Mängel der gesetzlichen Regelung Nach soviel Lob für den Gesetzgeber, seine Rechtsdogmatik und Rechtspolitik, seien auch einige Schattenseiten der gesetzlichen Regelung nicht verschwiegen. Freilich wäre es dabei zu billig, jene Regelungen des Werkvertragsrechts aufzulisten, die mißglücktJ3 oder nicht konsequent genug durchdacht34 sind. Zwei grundsätzliche, sich überschneidende Problemkreise seien angesprochen. 1. Der erste ist der Kontext des Werkvertragsrechts. Auch für dieses gelten die Bestimmungen des Allgemeinen Teils und des Allgemeinen Schuldrechts, die nun aber vom Kaufrecht her konzipiert sind. Die Besonderheiten des Werkvertrages hat der Gesetzgeber nicht immer hinreichend gewürdigt. Einige Beispiele: a) Natürlich, so möchte man sagen, gibt der Verkäufer sein Angebot kostenlos ab. Das ist für den Werkunternehmer nicht so selbstverständlich. Wenn er sinnvoll anbieten will, muß er oft kostenintensiv planen und berechnen. Und gleichzeitig hat sein Angebot für den Besteller schon einen eigenen Wert. Er kann es entweder bei Gericht im Prozeß mit einem früheren Unternehmer zur Darlegung dafür einreichen, wieviel eine bestimmte Instandsetzung kosten wird. Der jetzige Unternehmer dient ihm so unfreiwillig als Gutachter. Oder der Besteller holt das erste Angebot ein, überdeckt die rechte Spalte mit den Preisen, photokopiert es und holt auf dieser Basis bequem weitere Angebote ein. Es kann nicht überraschen, daß der kaufrechtliche Grundsatz der Kostenfreiheit des Angebots für den Werkvertrag immer wieder angezweifelt worden ist35. 33 So z. B. die§§ 643, 645 I 2 BGB, die für den Unternehmer, der wegen des Verhaltens des Bestellers kündigt, eine zu geringe Vergütung vorsehen. 34 So z.B . § 634 BGB, der mit der Übernahme der Wandlung aus dem Kaufrecht nicht hinreichend die praktischen Probleme bedenkt, mit denen sie beim Werkvertrag verbunden ist.
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b) Zwischen den Zeilen enthält das BGB den Grundsatz des pacta sunt servanda, der im Kaufrecht auch ohne weiteres sinnvoll ist. Für den Werkvertrag ist er nicht so selbstverständlich, wie schon die Kündigungsmöglichkeit nach § 649 BGB belegt, die aber doch nur einen Teil der Problematik abdeckt. Kann der Besteller nicht auch verlangen, daß mehr geleistet wird, als ursprünglich vereinbart war, oder anderes? Darf der Unternehmer anders als zunächst vorgesehen ausführen36? Der Werkvertrag ist eben weithin eine Expedition in ungewisses Gelände, bei der eine Neuorientierung zuweilen geboten sein kann. Änderungsmechanismen aber hält das BGB nicht eigens bereit; von einer Störung der Geschäftsgrundlage läßt sich in diesen Fällen nicht sinnvoll reden. c) Für den Werkvertrag ist eine zeitliche Dimension zwar nicht unentbehrlich, aber doch typisch. Für ihn wie für den Kauf gelten dabei gleichermaßen für die Fälligkeit§ 271 BGB, für den Verzug die§§ 284ff. BGB, für die Vertragsauflösung aus zeitlichen Gründen § 326 BGB, die sich beim Kauf auch ohne übermäßige Probleme anwenden lassen. Anders beim Werkvertrag: Kommt es für die Fälligkeit der Leistung des Unternehmers auf Arbeitsbeginn oder Arbeitsende an? Wenn auf letzteres: Wie soll der branchenfremde Besteller wissen, wann der Unternehmer zumutbarerweise fertig sein kann? Und was ist, wenn schlicht das Wetter einen Strich durch die Rechnung macht37? Wenn die Fälligkeit aber wenigstens für den Besteller so ungewiß ist: Wann soll er den Unternehmer dann mahnen, um ihn in Verzug zu setzen und auch nach § 326 BGB vorgehen zu können? Und wenn er endlich nach § 326 BGB vorgehen kann: Muß er dann wirklich eine Nachfrist für "die Leistung" setzen, wie es das Gesetz verlangt, wenn diese vielleicht noch viel Zeit in Anspruch nehmen wird, oder muß nicht eine Nachfrist zur Erklärung über die Leistungsbereitschaft reichen oder für die Arbeitsaufnahme? 2. Der zweite Problembereich ist der der Erstellung der Leistung. Aus seiner kaufartigen Sicht des Werkvertrages hat der Gesetzgeber ihr nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet, obwohl gerade diese Phase Anlaß zu erheblichen Reibungen der Parteien geben kann. Der Besteller möchte zuschauelf, kontrollieren und auf die umgehende Abstellung etwaiger Mängel dringen können, der Unternehmer sieht sich durch das Wetter oder andere Unternehmer behindert, will Subunternehmer beschäftigen und begehrt Abschlagszahlungen, um nur einen kleinen Ausschnitt aus den denkbaren Problemen zu nen35 Vgl. zuletzt Vygen, Festschr. Korbion, 1986, S. 439ff.; lngenstau I Korbion, VOB, 11. Aufl. 1989, Rz. 21ff. zu§ 20 VOB/A. 36 Einen Anspruch des Bestellers auf geänderte und erweiterte Leistungen sieht § 1 Nr. 3, 4 VOB/B vor. Der Unternehmer ist nicht zu einseitigen Änderungen befugt, hat aber nach § 4 Nr. 3 VOB/B auf Bedenken gegen die vorgesehene Art der Ausführung hinzuweisen. Gleichwertige Regelungen fehlen dem BGB. 37 Vgl. zum Wetter die Regelung in§ 6 Nr. 2 II VOB/B.
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nen, bei denen es nicht wunder nimmt, daß die VOB/B hier umfangreiche Regelungen bereit hält38. Wo sie nicht vereinbart ist, lassen sich angemessene oder angemessen erscheinende Lösungen oft nur noch mit Hilfe des § 242 BGB entwickeln. V. Die Rolle der Rechtsprechung Das Werkvertragsrecht des BGB hat mit nur einer marginalen Änderung39 das Jahr 1989 erreicht. Diese Konstanz teilt es zwar mit dem Kaufrecht, aber dort überrascht sie weniger, wenn man die lange Erprobung jener Regelungen bedenkt. Bei der neukonzipierten Materie des Werkvertragsrechts kann hierin ebenso ein Beweis für die Qualität des Gesetzes gesehen werden wie in dem Umstand, daß es dem Werkvertrag gelungen ist, dem Kauf einen Teil seines Wassers abzugraben, vgl. das EingangsbeispieL Diese erstaunliche Vitalität des Werkvertragsrechts wie auch der Umstand, daß Reformen von den Beteiligten kaum gewünscht werden40, wäre freilich ohne die Tätigkeit der Rechtsprechung kaum denkbar. Bei der Würdigung ihrer Beiträge seien- des Generalthemas der Vorlesungsreihe "Rechtsdogmatik und Rechtspolitik" eingedenk- prinzipiell zwei Bereiche unterschieden. 1. Zunächst stand die Rechtsprechung vor der Aufgabe, jenes doch nur sehr grobe Regelungsraster, das das Gesetz bietet, zu präzisieren. Sie hat dabei weithin mit den üblichen rechtsdogmatischen Methoden gearbeitet. Es ist jedoch nicht zu verkennen, daß schon hier ein gutes Stück Rechtspolitik zu beobachten ist, die ich, ohne den Versuch einer exakten Definition zu wagen, als ergebnisorientiertes Denken verstehen möchte. Das Gesetz nämlich und die üblichen Methoden der Interpretation nach Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Systematik und Zweck lassen den Rechtsanwender oft im Stich; er muß sich dann letztlich für das entscheiden, was ihm vernünftig erscheint4I. Das sei an einigen Beispielen exemplifiziert.
a) Es gibt Probleme, für die die Rechtsdogmatik mehrere Lösungsmöglichkeiten anbietet, unter denen dann nur nach Wertungsgesichtspunkten gewählt werden kann. So ist es etwa eine alltägliche Konstellation, daß Mängel des Werkes von dem Besteller mitverursacht worden sind. Wenn wir uns fragen, ob das seinen Nachbesserungsanspruch beschränkt, werden wir die Lösung sicherlich bei § 254 BGB zu suchen haben. Dazu können wir dann den KornVgl. §§ 3 - 6, 16 Nr. 2 VOB/B . Es wurde der jetzige § 633 II 2 BGB 1976 im Rahmen des Erlasses des AGBGesetzes eingefügt. 40 Vgl. die Beschlüsse des 55. DJT. 1984, II I 193ff., die in ihrer generellen Reformfeindlichkeit wohl gerade die Sicht der Beteiligten widerspiegeln. 41 Für den Fall von Lücken von Gesetz und Gewohnheitsrecht ruft Art. 1 II des schweizerischen ZGB den Richter ausdrücklich zur Rechtspolitik auf. 38
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mentaren zu § 633 BGB entnehmen, daß der Nachbesserungsanspruch ein Erfüllungsanspruch ist, wenn auch in modifizierter Form42 , und anschließend im Staudinger nachlesen, daß § 254 BGB auf Erfüllungsansprüche keine Anwendung finde43. Danach könnte der Besteller entweder uneingeschränkte Nachbesserung begehren, oder man müßte ihm den Nachbesserungsanspruch in krassen Fällen mit § 242 BGB ganz aus der Hand schlagen. Das ist eine rechtsdogmatisch sicherlich korrekte Argumentation. Man kann rechtsdogmatisch aber auch andere, ansetzen. Wegen des Mangels könnte der Besteller nämlich über kurz oder lang auch Schadensersatz nach § 635 BGB begehren, und auf diesen Anspruch müßte er sich seine Mitverursachung mindernd nach § 254 BGB anrechnen lassen. Dann kann es aber nicht angehen, daß von zwei doch recht ähnlichen Ansprüchen, die derselbe Sachverhalt auslöst, der eine dem Prinzip des Alles oder Nichts folgt, der andere einer prozentualen Kürzung unterliegt. Mithin ist§ 254 BGB- entsprechend- auch auf den Nachbesserungsanspruch anzuwenden. Die Rechtsprechung verurteilt zur Nachbesserung Zug um Zug gegen Kostenbeteiligung des Bestellers44, das ist schlicht billig und vernünftig. b) In dem Beispiel eben konnte die Lösung immerhin noch voll mit den Mitteln der Rechtsdogmatik entwickelt werden, auch wenn den Ausschlag rechtspolitische Überlegungen gaben. Zuweilen gibt die Rechtsdogmatik aber auch keine näheren Lösungshinweise, so etwa, wenn man in dem Beispielsfall die Vorfrage stellt, wann der Besteller den Mangel denn mitverursacht hat. Darf sich der Unternehmer damit verteidigen, daß er den Mangel zwar verursacht habe, daß der Besteller aber bei gehöriger Beaufsichtigung seiner, des Unternehmers, Arbeit dem Mangel ohne weiteres hätte vorbeugen können? Hier sind rechtspolitische Wertungen gefordert. Die Rechtsprechung verneint die Möglichkeit, ein Mitverschulden des Bestellers mit dieser Begründung anzunehmen4s. Sie nimmt so den Unternehmer, der einen Erfolg schuldet, streng in die Pflicht. Rechtsdogmatisch mag man dazu auf das Wesen des Werkvertrages rekurrieren, aber das bleibt doch eine vage Begründung. Der getroffenen Wertung entspricht es, daß die Rechtsprechung in dem umgekehrten Fall, daß die vom Besteller vorgesehene Art der Ausführung auf Bedenken stößt, dem Unternehmer eine Warnpflicht auferlegt46. c) Auch das ist Rechtspolitik, für die Rechtsdogmatik allenfalls unterstützende Argumente liefert. Die Rechtspolitik ist aber eben doch in erster Linie Vgl. nur Erman I Seiler Rz. 24 zu§ 633. Staudinger I Medicus, BGB, 12. Auf!. 1980, Rz. 23 zu§ 254. 44 Vgl. BGH NJW 1981, 1448, 1449; BGHZ 90, 344. Die Rechtsprechung zieht als Grundlage § 242 BGB heran. 45 Vgl. BGH NJW 1973, 518; VersR 1962, 1062. 46 Wie sie in § 4 Nr. 3 VOB/B ausdrücklich anerkannt ist. Es handelt sich aber um einen allgemeinen Grundsatz, vgl. BGH LM § 633 Nr. 3; NJW 1987, 643. 42 43
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gefordert, weil die Antwort des Gesetzes auf die anstehenden Fragen einfach nicht präzise genug ist. Ein drittes Beispiel möge belegen, daß die Rechtsdogmatik zuweilen nur Scheinbegründungen liefern kann , aber keine ernstzunehmenden: Wenn der Besteller den Unternehmer behindert, hat er für die dadurch entstehenden Mehrkosten aufzukommen. Das ist zwar in den Grundlagen unklar47, aber doch im Ergebnis nicht zu leugnen. Wie nun aber, wenn es auf der Baustelle nicht der Besteller selbst ist, der den Unternehmer behindert, sondern ein anderer Unternehmer, den der Besteller eingeschaltet hat: Der Maler kann nicht malen, weil der Maurer nicht rechtzeitig fertiggeworden ist. Hier lassen sich Argumente für und gegen die Anwendung des § 278 BGB anführen48. Man sollte sich klarmachen, daß das alles nicht zwingend ist. Die Rechtsprechung, die § 278 BGB hier restriktiv anwendet49, betreibt offenkundig Rechtspolitik zugunsten des Bestellers. d) Im Ergebnis also hier eine Rechtsprechung, die sich zwar im Einklang mit der Rechtsdogmatik hält, von dieser aber doch auch im Stich gelassen wird, und die ihre Entscheidungen jedenfalls so trifft, daß sie befriedigen können, rechtspolitisch sinnvoll erscheinen. 2. Wenn bereits in dem eben skizzierten Bereich die Rechtspolitik eine gewichtige, der Dogmatik mindestens gleichwertige Rolle spielte, und dies sicherlich zu Recht, gibt es einen weiteren Bereich, in dem Rechtspolitik und Rechtsdogmatik in offenen Gegensatz geraten, wobei dann die Rechtspolitik weithin die Oberhand behält.
In dem Eingangsbeispiel war der Vorbehalt der Rechte wegen bekannter Mängel bei der Abnahme unterblieben. Der Anspruchsausschluß nach § 640 II BGB wird von der Rechtsprechung nicht auch auf den Anspruch aus § 635 BGB bezogen, weil diese Bestimmung nicht mitzitiert wirdso. Aus dogmatischer Sicht ist die Begründung dürftig, wenn man etwa einen Blick auf die Entstehung des Gesetzes und die Parallelvorschriften bei Kauf und Mietest wirft. Wem meine eigene dogmatische Kritik nicht ausreicht52, kann sich von der sehr viel gründlicheren bei Wilhelm überzeugen lassen53. Nur: Bei nüchterner Betrachtung ist die ganze Bestimmung des § 640 II BGB schwer erträg47 Man kann hier einen zusätzlichen Vergütungsanspruch wegen Verletzung einer Gläubigerobliegenheit nach § 642 BGB annehmen oder auch einen Schadensersatzanspruch aus positiver Forderungsverletzung wegen Verletzung einer Schuldnerpflicht; § 6 Nr. 6 VOB/B normiert ganz generell einen Schadensersatzanspruch, dessen dogmatische Grundlagen im Dunkeln bleiben. 48 Vgl. dazu Walze[ BauR 1984, 569; Ingenstau I Korbion Rz. 128 zu§ 6 VOB/B. 49 Vgl. OLG Köln NJW 1986, 71. so Vgl. BGHZ 77, 134. 51 §§ 464, 539, 545 BGB. 52 NJW 1980, 750. 53 JZ 1982, 448.
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lieh. Durch einmalige Unaufmerksamkeit büßt der Besteller wohlerworbene Rechte ein. Für die Annahme von Verzicht oder Verwirkung reicht sein Verhalten nicht aus. Umgekehrt ist die Befreiung von der Gewährleistungspflicht für den Unternehmer ein Lottogewinn, der sogar ohne Einsatz erzielt werden konnte. Hier Schadensbegrenzung zu betreiben, die Bestimmung restriktiv auszulegen, ist aus rechtspolitischer Sicht zu begrüßen. Andere Beispiele für die Durchsetzungsfähigkeit der Rechtspolitik seien nur kurz aufgeführt. Es sind dies das Eingangsbeispiel der werkvertragliehen Gewährleistung beim Kauf schlüsselfertiger Häuser, die Unterscheidung zwischen Mangelschäden und Mangelfolgeschäden, bei denen jeweils die angestrebten Rechtsfolgen, vorzugsweise hinsichtlich der Verjährung, die Argumentationsweise bestimmen, vor allem aber die Auslegung des § 633 III BGB. Danach kann der Besteller, wenn der Unternehmer mit der Beseitigung eines Mangels im Verzug ist, diesen selbst beseitigen und- so muß man das wohl verstehen- anschließend die Kosten bei dem Unternehmer liquidieren. Der von der Rechtsprechung mit knapper Begründung, letztlich nur aus § 242 BGB entwickelte Anspruch des Bestellers auf Kostenvorschuß54 entspricht schwerlich den Intentionen des historischen Gesetzgebers, wenn er dessen System der werkvertragliehen Gewährleistung revolutioniert hat, und muß damit auch dem Rechtsdogmatiker suspekt sein, dem die Loyalität gegenüber dem historischen Gesetzgeber ein hoher Wert ist. 3. Zum Spannungsverhältnis zwischen Rechtsdogmatik und Rechtspolitik in der Rechtsprechung abschließend einige kurze Bemerkungen, die die Problematik weder erschöpfen können noch sollen. a) Bei aller Kraft der Rechtspolitik büßt die Rechtsdogmatik ihre Bedeutung nicht ein. Zum einen errichtet sie gewisse unüberschreitbare Schranken. So sind etwa die Fristen des § 638 BGB bei allem Ärgernis, das sie erregen, vorgegeben. Freilich darf man diese begrenzende Wirkung nicht überschätzen. So hat selbst die Tragweite der Fristen des § 638 BGB erhebliche Modifikationen hinnehmen müssen , indem man den Begriff des Bauwerkes ausgeweitet hat55 und weithin auf die Anspruchsgrundlage der positiven Forderungsverletzung mit ihrer dreißigjährigen Verjährungsfrist ausweicht56. Darüber hinaus behält die Rechtsdogmatik eine dienende Funktion. Wo sie verwertbare Argumente liefert, wie etwa den Wortlaut des§ 640 II BGB , werden diese aufgegriffen. In weiteren Fällen ermöglicht sie die Rechtspolitik erst argumentativ, etwa mit der Entwicklung der Unterscheidung zwischen ManVgl. BGHZ 47, 272; 66, 138; 68,372. So ist z. B. nach BGHZ 57, 60 ein Rohrbrunnen ein Bauwerk, nach BGH NJW 1986, 1927 auch ein in die Erde eingebetteter und an die Ölzufuhrleitung angeschlossener Heizöltank. 56 Vgl. nur Palandt I Thomas, BGB, 48. Auf!. 1989, Vorbem. 4e vor § 633, Anm. 4b zu § 638. 54 55
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gelschäden und Mangelfolgeschäden. Denn so ergebnisorientiert die Rechtsprechung auch sein mag, es wird durchweg der Eindruck aufrechtzuerhalten versucht, daß sich diese Ergebnisse bruchlos aus dem Gesetz ergeben und damit rechtsdogmatisch abgesichert sind. b) Bei der Bewertung der Rechtspolitik ergeben sich natürlich dort Legitimationsprobleme, wo das Gesetz letztlich verändert wird. Die Grenzen des Zulässigen sind hier weder auszuloten noch auch nur anzudeuten. Bemerkenswert ist jedenfalls, daß die Betroffenen, Besteller und Unternehmer, die Rechtsprechung weithin zu akzeptieren scheinen, was bei den letzteren durchaus nicht selbstverständlich ist, da diese eher besteller- als unternehmerfreundlich ausfällt; jedenfalls hatten die genannten Beispiele sämtliche diese Tendenz, wenn es auch sicherlich Gegenbeispiele gibt57. Vielleicht sehen sie die Problematik nicht so deutlich. Wer die Problematik wie der Rechtslehrer oder der Richter sieht, tut sich mit der Bewertung schwerer. Dabei ist es bemerkenswert, wie weitgehend hier Herkunft und Funktion prägen. Dem Rechtslehrer wird die stringente dogmatische Begründung vorzugswürdig erscheinen, der Richter möchte die Parteien lieber mit einem Ergebnis nach Hause schicken, das er angemessen findet. Mir kam neulich eine bezeichnende Geschichte von Rudolf von Jhering zu Ohren. Nach römischem und gemeinem Recht ging die Gefahr beim Kauf bereits mit dem Vertragsschluß auf den Käufer über, konnte der Verkäufer also von dann an bei einem zufälligen Untergang der Sache den Kaufpreis von dem Käufer verlangen. Galt das auch bei einem doppelten Verkauf der Sache mit der Folge, daß dem Verkäufer zwei Kaufpreise zustehen? Jhering war mit dieser Frage zunächst literarisch befaßt gewesen und hatte die bejahende Antwort der römischen Quellen als konsequent und scharfsinnig befunden. Nur leider wurde der Fall später erneut an ihn herangetragen, dieses Mal in richterlicher Funktion. Und daß der Verkäufer den Kaufpreis doppelt beanspruchte, sich dazu auch noch auf seine, Jherings, Äußerungen berufen konnte , stürzte diesen in eine schwere und anhaltende Krise.
VI. Schlußbemerkungen 1. Es wird deutlich geworden sein, daß mein eigenes Bekenntnis zur Rechtsdogmatik verhaltener ausgefallen ist, als dies zuweilen in dieser Vorlesungsreihe anklang. 2. Man kann mit dem Werkvertragsrecht sehr gut leben, wie es vom Gesetzgeber vorgeformt und von der Rechtsprechung ausgeprägt worden ist. Die 57 Man muß hier freilich schon etwas suchen, vgl. aber immerhin den Satz, daß der Besteller, der Mängel eigenmächtig beseitigt, auch insoweit keine Ansprüche gegen den Unternehmer haben soll, wie dieser dadurch Aufwendungen erspart hat, vgl. BGH NJW 1966, 39 gegen BGH BB 1961, 430.
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vom Justizministerium entfachte Diskussion über Reformen scheint mir hier mit Skepsis zu sehen zu sein, ein Standpunkt, mit dem ich nicht allein stehe58. Sicher bedarf die Verjährungsfrage der Aufarbeitung59. Geändert werden könnten sonst noch Einzelheiten; so ließe sich etwa ein Anspruch des Unternehmers auf Abschlagszahlungen normieren60. Soweit es nur darum geht, das gelebte Recht wieder im Gesetz auszuweisen6t, kann man daran zweifeln, ob das ein Tätigwerden des Gesetzgebers rechtfertigt. Dem Gewinn an Klarheit und Übersichtlichkeit stehen Aufwand und Risiken gegenüber. Hier zu saldieren, ist schwierig.
58 Vgl. o. Fn. 40, ferner Keilholz in Gutachten und Vorschläge zur Überarbeitung des Schuldrechts III, 1983, S. 243, 323. 59 Die Fristen des § 638 BGB sind zu unterschiedlich und teilweise zu knapp, der Anwendungsbereich der Bestimmung ist unklar, auch muß es befremden, wenn diese Bestimmung auf Ansprüche aus positiver Forderungsverletzung keine Anwendung findet, wohl aber beim Kauf§ 477 BGB. 60 Im Anschluß an§ 16 Nr. 2 VOB/B. 61 Z. B. den Anspruch auf Kostenvorschuß zur Mängelbeseitigung.
Die Treupflicht des Aktionärs Von Klaus-Peter Martens Die ganz undramatische Überschrift dieses Vortrags steht in einem auffälligen Mißverhältnis zur inneren Dramatik der rechtlichen Grundlagen, die sich hinter dieser Thematik verbergen. Es geht - allgemein formuliert - um den systemgerechten Umgang mit Generalklauseln bzw. generalklauselartigen Pflichttatbeständen im allgemeinen und um den normativen Standort des Aktienrechts, seine normative Offenheit oder Geschlossenheit im besonderen. Das deutsche Aktienrecht ist in einer nunmehr schon langjährigen Geschichte als ein relativ starres, vor allem auf Rechtssicherheit bedachtes, deshalb auch grundsätzlich zwingendes und abschließendes Regelungswerk entwickelt worden'. Das rechtspolitische Leitbild war und ist auch heute noch das als Publikumsgesellschaft organisierte Großunternehmen2, dessen Verfassung vor allem auf eine flexible Unternehmensführung, effiziente Unternehmenskontrolle und stabile sowie breite Legitimationsbasis ausgerichtet ist. Angesichts der Komplexität dieser Kompetenzbereiche und der unternehmens- und wirtschaftspolitischen Bedeutung der Einzelentscheidungen müssen die dafür vorgesehenen Verfahren und Kompetenzgrenzen eindeutig fixiert werden. Die inhaltliche Richtigkeit derartiger Entscheidungen entzieht sich wegen des Unternehmerischen Ermessens weitgehend richterlicher Kontrollierbarkeit, und der Richter ist deshalb gut beraten, sich in diesem Bereich in judizieller Bescheidenheit zu üben. Das Aktienrecht ist aus dieser Sicht in erster Linie gesetzliches Organisationsrecht3, das so zu verfassen ist, daß die für das Unternehmen erforderlichen Entscheidungen möglichst reibungslos und ohne unverhältnismäßigen Aufwand, aber doch mit einer relativen Richtigkeilsgewähr beschlossen werden können. Also: richtiges und erfolgreiches unternehmerisches Verhalten durch Verfahren - das ist und muß eine der Leitmaximen des Aktienrechts sein. Freilich: dieser organisationsrechtliche Ansatz des Aktienrechts ist immer wieder "bekriegt" worden mit dem Vorwurf eines dadurch bedingten Werte1 Die Grundsatznorm findet sich in § 23 Abs. 5 AktG. Zu den Anwendungsproblemen der Ergänzungsklausel des § 23 Abs. 5 Satz 2 AktG Geßler, in: Festschrift für M. Luther (1976), S. 69. 2 Dazu Begründung zum RegE eines AktG, abgedr. bei Kropf!, Aktiengesetz (1965), s. 14. 3 Dazu eindringlich Würdinger, Aktienrecht und das Recht der verbundenen Unternehmen, 4. Auf!. (1981), S. 21ff.
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verlustes, eines Defizits an rechtspolitischer Sinnhaftigkeit und materialer Gerechtigkeit4. Die derzeitige Strömung in Literatur und Rechtsprechung zielt deshalb auch auf eine zunehmende Verrechtlichung und Kontrollierbarkeit des Entscheidungsverhaltens der einzelnen Organe bzw. Organmitglieder sowie der Aktionäre. Wie immer wenn sich zwei rechtspolitische Positionen derart diametral gegenüberstehen, ist zu vermuten, daß sich die Wahrheit in der Mitte befindet. Deshalb ist es selbstverständlich auch aus meiner Sicht verfehlt, das Aktienrecht, darin inbegriffen die Rechtsstellung der Aktionäre, lediglich als ein Bündel formaler kompetenzrechtlicher Verhaltensregeln zu begreifen. Gerade wegen seiner volkswirtschaftlichen Bedeutung muß die Aktiengesellschaft auch das Postulat inhaltlicher Gerechtigkeitsstandards erfüllen, nicht nur ihre volkswirtschaftliche Nützlichkeit, sondern auch ihren substantiellen Gerechtigkeitsgehalt erweisen. Wenn dies nicht gelingt, dann steht das Aktienrecht ständig unter dem Vorbehalt utilitaristischer Reformüberlegungen , wie sie ja auch in dem Mitbestimmungsurteil des Bundesverfassungsgerichts mehr oder weniger angestellt worden sind5. Freilich- und damit beginnen meine kritischen Bedenken - kann dieses Gerechtigkeitspostulat auch im Übermaß und damit zum Schaden des Aktienrechts, der davon betroffenen Unternehmen und schließlich auch zum Schaden der zwangsbeglückten Aktionäre eingelöst werden6; denn auch das objektive Aktionärsinteresse ist primär auf eine erfolgreich operierende Aktiengesellschaft und auf eine rentierliehe Aktienbeteiligung gerichtet. I. Die Linotype-Entscheidung
Diese Bedenken haben sich spätestens anläßtich der Lektüre einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 1. Februar 1988 eingestellt, die unter dem Stichwort "Linotype" bekannt geworden ist7. Dort war über die Wirksamkeit des Auflösungsbeschlusses einer Aktiengesellschaft zu befinden. An dieser Gesellschaft war die Mehrheitsaktionärin mit einem Aktienkapital von 96 Prozent beteiligt, während sich die übrigen Aktien im Streubesitz befanden. Die wesentlichen Geschäftsaktivitäten der Gesellschaft wurden mit der Mehrheitsaktionärin abgewickelt, so daß diese alsbald den Plan verfolgte, die 4 Dazu eindringlich Wiedemann, Rechtsethische Maßstäbe im Unternehmens- und Gesellschaftsrecht, ZGR 1980, 147ff. s BVerfGE 50,290, 356ff.; dazu kritisch Martens, ZGR 1979,491, 495ff. 6 Ähnlich Würdinger, {Fn. 3), S. 52: "Wertvorstellungen solcher Art dürfen jedoch nicht zu einer Denaturierung der AG und zur Angleichung ihrer Mitgliedschaftsverhältnisse an Personengesellschaften führen"; deshalb kritisch gegenüber Lutter, Theorie der Mitgliedschaft, AcP 1980, 84ff. in Fn. 8. 7 BGHZ 103, 184ff. = JZ 1989, 443 mit Anm. Wiedemann = NJW 1988, 1579 mit Anm. Timm = JR 1988, 505 mit Anm. Bommert; ausführlich Lutter, ZHR 153 {1989), 446.
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Gesellschaft rechtlich und organisatorisch durch verschmelzende oder rechtsändernde Umwandlung in ihren Unternehmensbereich einzugliedern (§§ 33 KapErhG, 369 AktG). Da dazu die Zustimmung aller Gesellschafter erforderlich war, unterbreitete sie den Minderheitsaktionären ein Angebot auf Übernahme ihrer Aktien. Dieses Angebot wurde jedoch nicht vollständig angenommen, so daß auch die für den Umwandlungsbeschluß erforderliche Einstimmigkeit nicht zu erwarten war. Als strategische Alternative kam deshalb ein Auflösungsbeschluß in Betracht, für den nach der Satzung lediglich eine o/s-Mehrheit erforderlich war und der sodann auch mit den Stimmen der Mehrheitsaktionärin gefaßt wurde. Dieser Auflösungsbeschluß war Streitgegenstand der Anfechtungsklage, über die der Bundesgerichtshof in letzter Instanz zu befinden hatte. 1. Die Entscheidungsrelevanz der Treupflicht In grundsätzlicher Hinsicht hat der Bundesgerichtshof sowohl eine Umgehung der Umwandlungsvorschriften als auch einen Mißbrauch des Stimmrechts verneint und schließlich auch eine Inhaltskontrolle dieses Beschlusses abgelehnt. Unter Berufung auf eine jüngere Entscheidungs wiederholt der Bundesgerichtshof: "Ein mit der nötigen Mehrheit gefaßter Auflösungsbeschluß bedarf keiner sachlichen Rechtfertigung, er trägt seine Rechtfertigung in sich". Deshalb ist es nach Ansicht des Bundesgerichtshofs auch unerheblich, ob die Liquidation der Gesellschaft ausschließlich dazu diene, mißliebige Aktionäre aus dem Verband zu verdrängen. D a auch der Minderheitsaktionär von Rechts wegen in der Lage sei, "in gleicher Weise wie der Mehrheitsgesellschafter das Unternehmen oder Teile des Gesellschaftsvermögens im Zuge der Liquidation der Gesellschaft zu erwerben und fortzuführen", befinde er sich nicht in einer Situation, die einem Ausschluß aus seiner Gesellschaft gleichzustellen wäre. Nach diesem für den Minderheitsaktionär und die zahlreichen Kritiker der schon zitierten Vorentscheidung schmerzlichen Befund, zeigte der Bundesgerichtshof dem Mehrheitsaktionär dann doch noch die rote Karte. Das Foulspiel bestehe in der Verletzung der Treupflicht, die nunmehr auch im Verhältnis der Aktionäre untereinander anerkannt werde. Diese Treupflicht sei jedenfalls dann verletzt worden, wenn die Mehrheitsaktionärin vor dem Auflösungsbeschluß im Zusammenspiel mit dem Vorstand eine ausreichend sichere Grundlage für den Erwerb des Gesellschaftsvermögens geschaffen habe. Durch einen solchen Sturmlauf auf das Gesellschaftsvermö8 BGHZ 76, 352; dazu kritisch Martens, GmbHR 1984, 265, 269f.; Wiedemann, ZGR 1980, 147, 157; Hirte, Bezugsrechtsausschluß und Konzernbildung (1986) , S. 150ft.; Lutter, ZGR 1981 , 171 , 181; Timm, JZ 1980, 665 , 669ft. ; a. A. mit ausführlicher Darstellung des Meinungsstands Martin Winter, Mitgliedschaftliehe Treuebindungen im GmbH-Recht (1988), S. 154ft., 162.
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gen habe die Mehrheitsaktionärin "dem Kläger und den weiteren Minderheitsaktionären die Chance genommen, sich um den Erwerb der betroffenen Unternehmensteile zu bemühen und das Unternehmen der Beklagten in irgendeiner Form fortzuführen". Dabei soll es nach Ansicht des Bundesgerichtshofs auch nicht darauf ankommen, ob diese Erwerbschance der Minderheitsaktionäre schon im Vorhinein durch vertragliche Absprachen vereitelt werde, auch andere Umstände tatsächlicher Art seien dazu in gleicher Weise wie vertragliche Bindungen geeignet - soweit die Entscheidungsgründe. Diese Entscheidung ist offensichtlich in mehrfacher Hinsicht mißglückt. Schon die soeben genannte Gleichstellung von vertraglicher und tatsächlicher Bindung ist kaum nachvollziehbar, geschweige denn im Einzelfall nachprüfbar. Genügt dafür auch das kollusive Augenzwinkern, das gelegentliche Gespräch bei einem gemeinsamen Besuch des Deutschen Galoppderby's oder beim Herrenabend im Überseeclub? Geradezu naiv ist die Vorstellung, daß die mit 96 Prozent beteiligte Mehrheitsaktionäon ihre Pläne und Erwartungen nicht schon vor dem Auflösungsbeschluß mit dem ihm kraft Bestellungsbeschlusses verbundenen Vorstand erörtert hat. Nach meinem Eindruck ist es ohnehin ein Gebot gesellschafts- oder unternehmenskonformen Verhaltens, den Vorstand schon vor dem Auflösungsbeschluß über die weitergehenden Pläne und die Modalitäten der nachfolgenden Unternehmensübernahme zu informieren, weil sich nur auf diese Weise Irritationen innerhalb und außerhalb des Unternehmens vermeiden lassen. Vor allem aber ist einzuwenden, daß die Gerechtigkeit auf der Grundlage der vom Bundesgerichtshof vertretenen Ansicht zu einem strategischen Problem verkümmert; denn ob ein derartiges Arrangement vor dem Auflösungsbeschluß oder erst nach dem Auflösungsbeschluß mit einseitiger Voraberklärung der Mehrheitsaktionärin getroffen wird, ist aus der Sicht der Mehrheitsaktionärin weitgehend unerheblich. Da ihr ohnehin eine gleichsam natürliche Anwartschaft auf Erwerb des Unternehmens zusteht9 , kann sie den geeigneten Verhandlungszeitpunkt vor oder nach dem Auflösungsbeschluß mit großer Gelassenheit abwarten. Nach Kenntnis dieser BGH-Entscheidung wird es sicherlich keinen Mehrheitsaktionär mehr geben, der seine eigenen Übernahmeabsichten durch vorschnelle Gespräche mit dem Vorstand torpedieren wird. Der Schutz der Minderheitsaktionäre läßt sich jedenfalls auf diese Weise nicht realisierenlo. Generell ist einzuwenden, daß diese Sachproblematik ohnehin nicht unter dem Stichwort Treupflicht, sondern unter dem Stichwort Gleichbehandlungs9 Im Zweifel wird der Mehrheitsaktionär den Auflösungsbeschluß ohnehin nur dann initiieren, wenn Gewißheit besteht, daß konkurrierende Ubernahrneangebote nicht zu erwarten sind; so richtig Lutter, ZHR 153 (1989) , 446, 451; ähnlich Wiedemann, JZ 1989, 449. 10 Die von Wiedemann, JZ 1989, 449 behandelte Abfindungsproblematik ist vorn BGH nicht erörtert worden. Nach den Entscheidungsgründen bestand offensichtlich kein Anlaß, auf die Angernessenheit des Übernahmepreises einzugehen.
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pflicht zu analysieren ist. Anerkennt man die vom Bundesgerichtshof hervorgehobenen Erwerbschancen aller Aktionäre, dann liegt es nahe, daraus eine Verpflichtung des Vorstands zu entwickeln, das Unternehmerische Vermögen allen Aktionären in gleicher Weise zum Verkauf anzubietenll. Sodann ist der Kaufvertrag grundsätzlich mit demjenigen Aktionär oder außenstehenden Erwerber abzuschließen, der den höchsten Kaufpreis zu zahlen bereit ist. Unterläßt der Vorstand ein derart öffentliches Verkaufsverfahren, so ist er den in ihren Erwartungen enttäuschten Aktionären wegen der Beeinträchtigung ihrer Erwerbschancen zum Schadensersatz verpflichtet. Sedes materiae ist der Gleichbehandlungsgrundsatz, der in § 53 a AktG nunmehr auch seinen positiv-rechtlichen Ausdruck gefunden hat. An diesen Zwischenbefund anknüpfend ist zu erörtern, ob auch dem Mehrheitsaktionär eine Gleichbehandlungspflicht obliegt, aufgrund derer den Minderheitsaktionären Schadensersatzansprüche wegen Vereitelung ihrer Erwerbschancen zustehen. Generell wird man diese Frage verneinen müssen, hingegen immer dann Ausnahmen anerkennen, wenn das Aktiengesetz den Mehrheitsaktionär ausdrücklich zur Leistung an die Minderheitsaktionäre verpflichtet. Sodann ist diese Pflicht- z. B. Abfindungspflicht- gegenüber allen Aktionären gleichermaßen zu erfüllen. Eine solche gesetzliche Pflicht besteht aber im vorliegenden Fall nicht. Es kommen deshalb auch keine Schadensersatzansprüche anderer Aktionäre in Betracht; vielmehr ist der Mehrheitsaktionär gegenüber der Gesellschaft verpflichtet, diese Sondervorteile wegen Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes zurückzugewähren bzw. auszugleichen12. Das bedeutet, daß er Zahlung in Höhe der zwischen dem alternativen Kaufpreisangebot anderer Aktionäre und seinem eigenen Kaufpreis bestehenden Differenz leisten oder das erworbene Unternehmensvermögen zurückgewähren muß13.
2. Die Begründung der Treupflicht Diese hier nur skizzenhaft dargestellten Überlegungen lassen doch schon hinreichend deutlich erkennen, daß die anstehende Problematik in keinem inneren Zusammenhang mit einer etwaigen Treupflichtverletzung steht. In der Hauptsache war über die funktionsgerechte Ausübung des Stimmrechts II Ebenso Martin Winter (Fn . 8), S. 162; Scholz I Karsten Schmidt, GmbHG, 6. Aufl. (1980), § 70 Rdnr. 14. 12 Davon zu unterscheiden ist das Problem, ob den anderen Aktionären jedenfalls eine Klagebefugnis zur Durchsetzung dieser Ansprüche zusteht; bejahend Zöllner, ZGR 1988, 392, 401ff., 405f. 13 Um jedem Mißverständnis vorzubeugen, sei ausdrücklich klargestellt, daß diese Differenz lediglich die obere Preisbemessung ausmacht, daß aber im übrigen die untere Preisgrenze selbstverständlich in der objektiven Angemessenheit der Unternehmensbewertung liegt.
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bzw. die gesetzes- und interessenkonformen Wirkungen des Auflösungsbeschlusses zu befinden. Aus dieser Sicht kommt der Entscheidung keine grundsätzliche Bedeutung zu, wohl aber wegen der erstmaligen Anerkennung einer zwischen den Aktionären bestehenden Treupflicht14. Treupflichten im Verhältnis des Aktionärs zu seiner Gesellschaft hatte der Bundesgerichtshofwenn auch nur en passant-schon in einer früheren Entscheidung bejaht, freilich auch dies in einem Zusammenhang, der nach heutigem Verständnis mit anderen Maßstäben zu würdigen ist15. Zur Begründung seiner nunmehr geäußerten Ansicht16 über die zwischen den Aktionären bestehende Treupflicht hat sich der Bundesgerichtshof auf Argumente berufen, die nicht über jeden Zweifel erhaben sind. So heißt es z. B.: Es sei nicht verständlich, "gesellschaftsrechtliche Treupflichten der Aktionäre einer AG zu verneinen, nach deren Umwandlung in eine Personengesellschaft unter Beibehaltung ihrer inneren Struktur und Organisation eine Treupflicht der Gesellschafter jedoch zu bejahen"17. Dieses Argument ist schon deshalb schief, weil damit von vornherein die rechtsformspezifischen Unterschiede vernachlässigt werden. Das Argument wird nur vordergründig mit der Umwandlungsproblematik verpackt. Anerkennt man nämlich rechtsformspezifische Unterschiede, die sowohl für die Begründung als auch für den Umfang der Treupflicht relevant sind, dann sind diese selbstverständlich auch im Umwandlungsfall zu respektieren. Verneint man hingegen solche Unterschiede, dann bedarf es nicht des Hinweises auf die Umwandlung, um etwaige Treupflichten zu bejahen. Des weiteren hat sich der Bundesgerichtshof auf die außerordentlichen Machtbefugnisse des Mehrheitsgesellschafters berufen, "so daß auch hier als 14 In der Literatur wird eine solche Treupflicht inzwischen wohl überwiegend bejaht; Wiedemann, Gesellschaftsrecht (1980), S. 431; Lutter, JZ 1976, 230ff.; Zöllner, Kölner Kommentar zum AktG (1976), § 243 Rdnr. 195; Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht (1986), S. 436ff.; Raiser, Recht der Kapitalgesellschaften (1983), S. 246ff. ; eine solche Treupflicht ablehnend Flume, Die juristische Person (1983), S. 269ff.; Eckardt in: GeBIer I Hefermehl I Eckardt I Kropff, AktG, § 1 Rdnr. 50; Hefermehl I Bungeroth, in: GeBier I Hefermehl I Eckardt I Kropff, AktG, § 53a Rdnr. 19, 23; Baumbach I Hueck, AktG, 13. Aufl. (1968), §54 Rdnr. 11; Meyer-Landrut, in: Großkommentar zum AktG, 3. Aufl. (1973), § 1 Anm. 34; Würdinger (Fn. 3), S. 52; skeptisch auch Hüffer, in: GeBier I Hefermehl I Eckardt I Kropff, AktG, § 243 Rdnr. 49. 15 BGHZ 14, 25, 38, nämlich anläßlich der Ausübung des Stimmrechts. Seit BGHZ 71, 41 (Kali und Salz) bedarf es dazu freilich nicht mehr des Rückgriffs auf die Treupflicht. Vielmehr handelt es sich um Grenzen, die der gesetzlichen Beschlußkompetenz immanent sind, somit auch nicht von subjektiven Voraussetzungen, insbesondere nicht dem Verschulden abhängig sind; im Ansatz wie hier Hüffer, in: GeBier I Hefermehl I Eckardt I Kropff, AktG, § 243 Rdnr. 50ff.; a.A. Zöllner, Kölner Kommentar zum AktG, § 243 Rdnr. 197. 16 Anders der Bundesgerichtshof in BGHZ 18, 350, 365 sowie JZ 1976, 561, 562. 17 Dazu schon Wiedemann (Fn. 14), S. 433f.: Die Pflichten könnten nicht in der Garderobe abgegeben werden. Diese vielfach zitierte Formulierung beruht auf einer Verkennung der normativen Grundlagen. Der rechtliche Vorgang ereignet sich nicht in der Garderobe, sondern auf der Bühne, wo eine neue Rolle übernommen wird, die sehr wohl mit anderen Rechten und Pflichten verbunden sein kann.
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Gegengewicht die gesellschaftsrechtliche Pflicht zu fordern ist, auf diese Interessen Rücksicht zu nehmen" 18. Auch dieses Argument ist derart pauschal und vordergründig, daß es nur eine geringe Überzeugungskraft aufweist. Dazu wäre nämlich vor allem der Nachweis erforderlich, daß das vorhandene Instrumentarium zur Eingrenzung zügelloser Mehrheitsherrschaft im Aktienrecht nicht ausreiche und deshalb um die Treupflicht ergänzt werden müsse. Inzwischen ist jedoch das Aktienrecht gerade auch durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs derart verfeinert worden, daß ein Bedarf nach weitergehenden Kontrollinstrumenten nicht zwingend erforderlich erscheint 19 • In diesem Zusammenhang sei auf die zunehmende Inhaltskontrolle von Mehrheitsbeschlüssen und den zunehmenden Ausbau des gesetzlichen Konzernrechts hingewiesen. Diese inneren Grenzen der Stimmrechtsausübung wurden vormals unter dem Aspekt der Treupflicht entwickelt, während heute auf die dem Beschlußgegenstand immanenten Funktionsgrenzen abgestellt wird2o. Und was das Konzernrecht betrifft, so besteht ein Bedarf nach Anwendung der Treupflicht nur noch im Bereich des ungeschriebenen GmbH-Konzernrechts und wird auch dort mehr und mehr durch die analoge Anwendung des für die Aktiengesellschaft verfaßten Konzernrechts eingelöst2t. Drittens beruft sich der Bundesgerichtshof darauf, "daß auch eine AG ähnlich einer GmbH organisatorisch ausgestaltet sein und daher einer Personengesellschaft nahe kommen kann" . Für die Annahme einer gesellschaftsrechtlichen Treupflicht sei aber nicht die Rechtsform der Gesellschaft, sondern im wesentlichen nur ihre innere Struktur entscheidend. Auch diese Argumentation ist nur begrenzt tauglich. Sicherlich kann es im Einzelfall entscheidend auch darauf ankommen, ob es sich um einen geschlossenen oder offenen Gesellschafterkreis handelt, wobei allerdings ohnehin zu bedenken ist, daß die eine geschlossene Gruppe bildenden Gesellschafter zumeist durch Konsortialvertrag, also durch eine BGB-Gesellschaft22 über ihr Aktienrechtsverhältnis hinaus miteinander verbunden sind. Mag also im Einzelfall auch die Realstruktur der Gesellschaft relevant sein, so darf doch nicht verkannt werden, daß vor allem die rechtlichen Rahmenbedingungen zu beachten sind. Diese werden aber wesentlich geprägt durch die rechtsformspezifischen Unterschiede der einzelnen Gesellschaften. Gerade im Verhältnis von GmbH und AG, auf das zur Begründung der Treupflicht immer wieder hingewiesen wird , 18 In Anlehnung an die Entscheidung BGHZ 65, 15, 18f. (ITT) ; zustimmend Lutter, ZHR 153 {1989), 446, 454f.; ebenso Wiedemann {Fn. 14), S. 432f. 19 Insofern einschränkend auch Lutter, ZHR 153 {1989), 446, 453. 2o Besonders deutlich Hüffer, in: GeBier I Hefermehl I Eckardt I Kropff, AktG, § 243 Rdnr. 49. 21 BGHZ 95 , S. 330 {Autokran) sowie ZIP 1989, 440; dazu Karsten Schmidt, ZIP 1989,545. 22 Dazu Ulmer, Die Gesellschaft bürgerlichen Rechts, 2. Auf!. {1986), Vor § 705 Rdnr. 40.
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besteht ein wesentlicher Unterschied in der Verkehrsfähigkeit der Anteile, den Haftungsverhältnissen und der geschäftspolitischen Steuerbarkeit. Aus diesen Gründen und weniger aus Gründen der abweichenden Realstruktur besteht in der GmbH ein weitaus größerer Bedarf für den Rückgriff auf die gesellschaftsrechtliche Treupflicht. Richtig ist hingegen der Hinweis des Bundesgerichtshofs, daß die körperschaftliche Struktur der AG das Bestehen einer Sonderverbindung zwischen den Mitgliedern einer Korporation nicht ausschließe. In der Tat hat man bis in die jüngste Vergangenheit die Ansicht vertreten, daß die juristische Person alle Rechtsbeziehungen innerhalb ihres Rechtsbereiches absorbiere, so daß nur Rechtsbeziehungen gegenüber der juristischen Person, also auch eine Treupflicht des Mitglieds nur gegenüber dem Verband bestehen könnten. Auf diese Weise wurde die juristische Person als ausschließliches Zuordnungssubjekt innerhalb des Verbands dogmatisiert23. Inzwischen hat man dieses relativ enge, zudem auch konstruktivistische und wenig interessengerechte Verständnis überwunden. Im GmbH-Recht werden deshalb Treupflichten im Verhältnis der Gesellschafter untereinander generell als unstreitig behandelt. Deshalb ist die Berufung auf die juristische Person auch im Zusammenhang der aktienrechtlichen Treupflicht ohne Argumentationswert24. Entscheidend ist vielmehr der positivrechtliche Befund, daß das Aktienrecht im Gegensatz zum GmbH-Recht weitestgehend zwingend und in der Absicht einer abschließenden Regelung formuliert worden ist, während das GmbH-Gesetz, sieht man von seinen Haftungsvorschriften ab , überwiegend dispositiv und unvollständig, also auf einen offenen Entwicklungsprozeß angelegt ist. Vor diesem Hintergrund kommt der Treupflicht eine für das Aktienrecht einerseits und das GmbH-Recht andererseits ganz unterschiedliche Funktion zu. Innerhalb des regelungsoffenen GmbH-Rechts dient die Treupflicht als Instrument innovatorischer Rechtsentwicklung. Eine vergleichbare Funktion kam und kommt wohl heute noch der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers zu. Auch die Fürsorgepflicht war der Motor für eine Rechtsentwicklung außerhalb einer Kodifikation. Im Aktienrecht wird hingegen die Treupflicht mehr und mehr zur Korrektur, Einschränkung oder Ausweitung der gesetzlichen Vorschriften instrumentalisiert. Auf diese Weise wird das Aktienrecht mit einer Generalklausel überfrachtet, die die innere Geschlossenheit des Aktienrechtssystems auflöst und sich als ein Regulativ für rechtspolitische Wunschvorstellungen erweist. Ist die Treupflicht erst einmal im Aktienrecht etabliert, dann äußert sie wie auch sonst eine Suggestivkraft und rechtspolitische Eigendynamik, die sodann 23 Ausführlich dazu Martin Winter (Fn. 8}, S. 63 sowie lmmenga, Die personalistische Kapitalgesellschaft (1970}, S. 271. 24 Zutreffend Wiedemann (Fn. 14}, S. 433.
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kaum noch beherrschbar ist. Versucht man diesen Befund mit Beispielen aus dem bürgerlichen Recht zu verdeutlichen, so bietet es sich an, das GmbHRecht mit dem Schuldrecht und das Aktienrecht mit dem Sachenrecht zu vergleichen. Vertragliche oder außervertragliche Treupflichten spielen im Schuldrecht eine überragende, oftmals kaum noch überschaubare Rolle. Dazu genügt es, auf die stürmische Entwicklung der culpa in contrahendo und der positiven Vertragsverletzung hinzuweisen, die in ihren richterlichen Konkretisierungen nur noch für den Spezialisten erkennbar sind2s. Beide Rechtsfiguren haben das gesetzliche System derart überwuchert , daß sie kaum noch zu bändigen sind. Hingegen kommt den Treupflichten im Sachenrecht wohl nur ein Schattendasein zu. Der numerus clausus der Rechtsfiguren und der strengrechtliche Charakter des Sachenrechts stehen offensichtlich einer Inflation aufgrund treurechtlicher Tendenzen entgegen, wie wir sie im Schuldrecht erleben. Natürlich kann man den Anwendungsbereich der Treupflicht auch im Aktienrecht nicht gänzlich ausschließen. Aber diese Pflicht ist nach meinem Eindruck im Gegensatz zum GmbH-Recht ohne jeglichen Argumentationswert. Es kommt auf die konkreten Besonderheiten des Einzelfalls an, um daraus eine ungeschriebene Einzelpflicht im Verhältnis der Aktionäre untereinander zu entwickeln. Insofern ist die Treupflicht im Aktienrecht nur eine terminologische Sammelbezeichnung für alle ungeschriebenen Gesellschafterpflichten, jedoch ohne eigenen Erkenntnis- und Beurteilungswert. Ich will diesen Befund an zwei Beispielen demonstrieren , die zugleich die unterschiedlichen Regelungstendenzen der Treupflicht erkennen lassen. Der eine Fall erregt derzeit in Deutschland die Gemüter und wird wahrscheinlich als GirmesFall in die Rechtsprechung und Literatur eingehen. Der zweite Fall hat den Supreme-Court von Kalifornien beschäftigt. II. Treupflicht und Zustimmungspflicht
Über das Vermögen der Girmes AG ist der Konkurs eröffnet worden. Die zuvor unternommenen Sanierungsbemühungen sind im wesentlichen an der starren, unnachgiebigen Haltung des Beklagten gescheitert. Die an dem Sanierungsplan beteiligten Banken, die Arbeitsverwaltung, die Mitarbeiter und Lieferanten sowie der Pensionssicherungsverein hatten sich auf einen Sanierungsplan geeinigt, der allsehige Opfer vorsah. Dieser Sanierungsplan stand unter dem Vorbehalt einer Kapitalherabsetzung im Verhältnis von 5 : 2. Der Beklagte, zugleich Herausgeber einer Börsen- und Wertpapierzeitschrift namens Effektenspiegel, hatte sich zunächst zustimmend, später ablehnend zs Umfangreiche Darstellung bei Wiedemann, in: Soergel, Bürgerliches Gesetzbuch, 11. Auf!. (1986), Vor§ 275. 17*
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über diesen Sanierungsplan öffentlich geäußert. Es gelang ihm, eine Sperrminorität von 25 Prozent zu mobilisieren, die er sodann auf der Hauptversammlung vertrat. Die wiederholten Versuche des Girmes-Vorstands, den Beklagten zur Vernunft zu bewegen, schlugen alle fehl. Und auch auf der Hauptversammlung war der Beklagte nach vielerlei Überredungskünsten nur bereit, einer Kapitalherabsetzung im Verhältnis 5 : 3 zuzustimmen. Dies entsprach jedoch nicht der Bedingung des Sanierungsplans, der wegen des komplizierten Abstimmungsverfahrens auch nicht mehr geändert werden konnte. Somit scheiterte auch der Sanierungsplan und am Ende stand die Konkurseröffnung. Zur Begründung seiner Entscheidungsblockade berief sich der Beklagte - so wie er sich auch in der Öffentlichkeit äußerte - auf die unzureichende Opferbereitschaft der Banken. Nunmehr verlangen die um den Wert ihrer Aktien gebrachten Aktionäre, diese vertreten durch die "Schutzgemeinschaft der Kleinaktionäre", von dem Beklagten Schadensersatz26. Im Mittelpunkt dieses Rechtsstreits steht die Frage, ob der Beklagte verpflichtet war, dem Beschluß über die geplante Kapitalherabsetzung zuzustimmen. Da die Kapitalherabsetzung eine Änderung der Satzung bedingt, kann man diese Frage noch schärfer und präziser formulieren. War der Beklagte zur Zustimmung anläßtich einer Grundlagenänderung verpflichtet? Diese Frage ist bisher nur zum Personengesellschaftsrecht und zum GmbH-Recht erörtert worden. Es wird nicht überraschen, daß dort im Grundsatz eine Zustimmungspflicht unter Berufung auf die gegenseitige Treupflicht überwiegend bejaht wird27. Offensichtlich in Anlehnung an diesen Meinungsstand vertritt nunmehr die Klägerin die Ansicht, daß auch der Beklagte aufgrund der ihm obliegenden Treupflicht zur Zustimmung anläßtich dieses Kapitalherabsetzungsbeschlusses verpflichtet gewesen sei. Unter dem Eindruck des ebenso dramatischen wie unheilvollen Verlaufs dieser Angelegenheit ist man geneigt, der Klägerin aus vollem Herzen beizupflichten. Aber Rechtsanwendung sollte auch mit kühlem Kopf betrieben werden. So belehrt das Gesetz in § 117 Abs. 7 Ziff. 1 AktG, daß die Ausübung des Stimmrechts in der Hauptversammlung von jeglicher Schadensersatzpflicht freigestellt ist. Und wenn noch ein Restzweifel bestehen sollte, sei auf die Materialien verwiesen. Dort heißt es: "Eine Haftung auch für die Stimmrechtsausübung wird im Schrifttum mehrfach gefordert. Der Entwurf trägt dieser Forderung insofern Rechnung, als er in den konzernrechtlichen Haftungsvorschriften das herrschende Unternehmen nicht von der Haftung für die Ausübung des Stimmrechts befreit. Es erscheint jedoch nicht angängig, darüber hinaus jeden Aktionär für die AusDazu Handelsblatt vom 8. Mai 1989, S. 5. Zum GmbH-Recht BGHZ 98, 276; ausführliche Darstellung bei Martin Winter (Fn. 8), S. 175ff. ; zum Personengesellschaftsrecht BGHZ 64,253, 258; 68, 81 , 82; WM 1979, 1058, 1060f.; NJW 1984, 173f.; BB 1987, 20ff.; ausführliche Darstellung bei Karsten Schmidt (Fn. 14), S. lOOff. 26 27
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übung seines Stimmrechts haften zu lassen .... In krassen Fällen kommt daneben eine Haftung für die Ausübung des Stimmrechts nach § 826 BGB in Betracht"28. Die Konzernrechtsvorschriften kommen in der vorliegenden Sache offensichtlich nicht zur Anwendung, da auf jeden Fall der beherrschende Einfluß fehlt. Allerdings ist es nicht schlechthin ausgeschlossen, gesetzliche Vorschriften in ihrem Anwendungsbereich zu reduzieren oder gar zu kassieren. Unter diesem Aspekt könnte argumentiert werden, daß die Vorschrift des § 117 Abs. 7 Ziff. 1 AktG zwar in der Publikumsgesellschaft weiterhin uneingeschränkt anwendbar sei29, nicht aber auf Aktionäre, die über wesentlichen Einfluß, also zumindest über eine Sperrminorität verfügen würden. Diesem Einfluß müsse die rechtliche Verantwortung in Form einer entsprechenden Treupflicht korrespondieren. Das würde freilich sodann nicht nur für den Beklagten, sondern auch für alle anderen institutionellen Aktionärsvertreter gelten. Diese respektieren zwar die freie Willensentscheidung der Einzelaktionäre, verfügen aber aufgrund ihres Vorschlagsrechts über maßgeblichen Einfluß auf die Willensbildung der Aktionäre und sind deshalb jedenfalls tatsächliche Entscheidungsträger auf der Hauptversammlung. Gleichwohl bestehen zahlreiche, schwerwiegende Bedenken, diese gesetzliche Grundsatzentscheidung unter Berufung auf die in ihrem normativen Stellenwert außerordentlich ungesicherte Treupflicht zu korrigieren3o. Würde man aktienrechtliche Vorschriften derart widerstandslos preisgeben, mag auch im vorliegenden Einzelfall ein entsprechendes Regelungsbedürfnis spürbar sein, dann stünde das Aktiengesetz weitgehend zur Disposition der Rechtsanwendung. Und auch wenn man das Sachproblem aus der Sicht des Gesetzgebers betrachtet, wird man unmittelbar mit den Regelungsschwierigkeiten konfrontiert. Sicherlich würden wir auch aus heutiger Sicht für eine So die Begründung zum RegE eines AktG, abgedr. bei Kropff(Fn . 2) , S. 163f. Für die Publikumsgesellschaft nach dem Personengesellschaftsrecht bejaht der BGH eine entsprechende Zustimmungspflicht; vgl. NJW 1985, 972 sowie 974. 30 Grundsätzlich ablehnend deshalb auch Zöllner, Kölner Kommentar zum AktG , § 243 Rdnr. 203; A. Hueck, ZGR 1972, 237, 250f. Eine Zustimmungspflicht aufgrund der Treupflicht hingegen grundsätzlich bejahend Lutter, ZHR 153 (1989), 446, 468. Hinsichtlich der im Streit befindlichen Schadensersatzansprüche scheint aber auch Lutter "Angst vor der eigenen Courage" zu empfinden, heißt es doch ebd.: "Ob daneben auch noch Schadensersatzansprüche der nachteilig betroffenen Mitaktionäre dann bestehen, wenn diese keine der soeben genannten Möglichkeiten (sc. Anfechtungsklage gekoppelt mit einer positiven Beschlußfeststellungsklage) ergreifen, könnte eher zweifelhaft sein. Das Gesetz läßt jedenfalls eher die Tendenz erkennen, Fragen solcher Art im Anfechtungsverfahren bzw. im (positiven) Beschlußfeststellungsverfahren zu klären, die dann auch als gesetzliche Mittel zur Schadensvermeidung zu verstehen sind, § 254 II BGB" . Unter dem Eindruck dieser Ausführungen ist man eher geneigt, auch Lutter in die Reihe derjenigen einzuordnen, die Schadensersatzansprüche wegen der Stimmrechtsausübung versagen. 28 29
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generell schadensersatzrechtliche Freistellung der Publikumsaktionäre hinsichtlich der Ausübung ihres Stimmrechts plädieren. Auf der anderen Seite unterliegt der zumeist als Konzernherr auftretende Mehrheitsaktionär ohnehin besonderen Bindungen, die sich auch auf die Ausübung seines Stimmrechts erstrecken. Es verbleibt mithin ein diffuser Regelungsbereich , der tatbestandlieh nur schwer zu erfassen ist. Auch eine etwaige Anknüpfung an eine Sperrminorität ist ungesichert, weil das Aktiengesetz für das qualifizierte Mehrheitserfordernis zwar überwiegend, aber nicht ausschließlich ein Dreiviertel-Stimmenquorum vorsieht und diese Regelungen zudem durch die Satzung verschärft werden können. Angesichts der inhomogenen Aktionärsstruktur ist es mithin außerordentlich problematisch, eine geeignete Haftungsvorschrift für das Stimmrechtsverhalten der Aktionäre zu entwickeln. Auch dieses Regelungsproblem indiziert, daß die Berufung auf die Treupflicht zur Begründung einer generellen Stimmrechtsverantwortung untauglich ist und allemal mehr Fragen aufwirft als dadurch gelöst werden. Schließlich ist ohnehin zu bedenken, daß dieses Problem im Aktienrecht weit weniger gravierend ist als im Personengesellschafts- und im GmbHRecht. Der Grund liegt in der weitaus geringeren Zuständigkeit der Hauptversammlung im Vergleich zur Gesellschafterversammlung der GmbH- bzw. der Gesellschafter in den Personengesellschaften. Insbesondere fehlt jegliche Zuständigkeit in den Angelegenheiten der Geschäftsführung, so daß insgesamt das Schadenspotential sachwidriger Stimmrechtsausübung relativ gering ist. Dazu ist auch an die schadensverhütende Wirkung des Anfechtungsverfahrens zu erinnern. Vielfach tritt schon durch die Erhebung der Anfechtungsklage eine Blockade der geplanten Maßnahmen ein, so daß durch obsiegendes Urteil die Angelegenheit endgültig erledigt wird. Da auch der Vorstand nach § 76 AktG jedenfalls dann zur Erhebung der Anfechtungsklage verpflichtet ist, wenn sich der Beschlußgegenstand zum Schaden der Gesellschaft auswirken kann31, bestehen mithin zahlreiche Sicherungen zur Abwehr pflichtwidrigen oder auch nur sachwidrigen Stimmrechtsverhaltens32. Man sollte sich deshalb auch unter dem Eindruck der ganzen Dramatik des Girmes-Falles nicht zu einer grundlegenden Korrektur des Aktienrechts verleiten lassen, die in ihren Folgewirkungen und ihrer systemverändernden Bedeutung kaum zu bemessen ist. Für eine derartige Operation ist jedenfalls die Treupflicht ein gänzlich ungeeignetes und geradezu willkürlich anmutendes Instrument.
Dazu Hefermehl, in: GeBier I Hefermehl I Eckardt I Kropff, AktG, § 83 Rdnr. 12. Insofern kommt auch eine entsprechende Anwendung des § 243 Abs. 2 AktG in Betracht. Wird mit der Ausübung des Stimmrechts in Form einer Zustimmungsverweigerung ein Sondervorteil "zum Schaden der Gesellschaft oder der anderen Aktionäre zu erlangen" gesucht, so ist dieses Veto gesetzeswidrig und somit unbeachtlich. Der positive Beschlußinhalt kann sodann mit der positiven Beschlußfeststellungsklage geltend gemacht werden; dazu BGHZ 76, 191, 197ff. für das Aktienrecht. 31
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Soweit mir der Sachverhalt bekannt ist, gehe ich davon aus, daß der Beklagte auch auf der Grundlage des § 826 BGB den Aktionären schadensersatzpflichtig ist.
111. Treupflicht und Aktienmarkt Der Entscheidung des Supreme-Court von Kalifornien lag folgender Sachverhalt zugrunde33. An einer als Aktiengesellschaft organisierten Bausparkasse war ein Mehrheitsgesellschafter mit nahezu 90 Prozent beteiligt. Das Aktienkapital war an der Börse nicht notiert und, da die Aktien einen überaus hohen Nennwert und einen noch höheren Buchwert hatten, waren diese praktisch nicht verkäuflich. Deshalb gründete der Mehrheitsgesellschafter eine Beteiligungsgesellschaft, in die er sein Aktienkapital einbrachte. Sodann führte er die Aktien seiner Beteiligungsgesellschaft an der Börse ein und konnte auf diese Weise erhebliches Vermögen liquidieren, während die Minderheitsgesellschafter mit ihren Aktien weiterhin "eingemauert" waren. Der Supreme-Court hat den Mehrheitsgesellschafter verurteilt, die übrigen Aktionäre so zu stellen, als seien sie an der Reorganisation der Gesellschaft beteiligt. In den Gründen ist dem Mehrheitsgesellschafter ganz allgemein aufgegeben worden, sein Beteiligungsrecht auch gegenüber den Minderheitsaktionären in fairer und billiger Weise auszuüben. Gegen diese Pflicht zu loyaler Berücksichtigung der Minderheitsinteressen sei hier verstoßen worden , zumal die Beteiligung der Minderheit an der von dem Mehrheitsgesellschafter gegründeten Gesellschaft auch zurnutbar gewesen sei. Dieser Fall unterscheidet sich von dem Girmes-Fall in einer für die rechtliche Beurteilung wesentlichen Hinsicht. War zunächst über das Verhalten der Aktionäre innerhalb der Gesellschaft und die damit verbundenen Rechte und Pflichten sowie über den Anwendungsbereich einer gesetzlichen Vorschrift zu befinden, so stellt sich nunmehr die Frage nach den Verhaltensstandards gleichsam für das Marktverhalten der Aktionäre untereinander. Es geht um den korrekten Umgang anläßlich des Erwerbs und der Veräußerung von Aktien, um die Verwertung marktrelevanter Informationen, um die Organisation von Abfindungs- und Take-over-Verfahren und um die mit der Übertragung der Mehrheitsherrschaft verbundenen Rechtsfolgen. Diese ohnehin nur unvollständige Aufzählung der einschlägigen Problembereiche läßt schon erkennen, daß es für deren Lösung keine Zauberformel und Einheitsbetrachtung geben kann. Auch die vom Supreme-Court betonte Pflicht zur fairen und billigen Behandlung der Minderheitsaktionäre ist offensichtlich nur eine Leerformel, die dem Richter die Kompetenz verleiht, nach eigenem Belieben über den Ausgang des Streitverfahrens zu befinden . 33 Dazu Lutter, JZ 1976, 225; ders., ZHR 153 (1989), 446, 459 sowie Grossmann, Die AG 1975, 158.
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In diesem gesamten Problembereich ist das deutsche Aktienrecht in der Tat defizitär. Es enthält lediglich in dem konzernrechtlichen Abfindungsverfahren ein Instrument, das die Interessen außenstehender Aktionäre angemessen schützt und den Mehrheitsaktionär weitestgehend zur Gleichbehandlung verpflichtet34. Darüber hinaus weist das Aktiengesetz jedoch keine Vorschriften auf, die sich mit dem Marktverhalten des Mehrheitsaktionärs und den Marktinteressen der Minderheitsaktionäre beschäftigen. Angesichts dieser Lückenhaftigkeit ist es nur allzu verlockend, diesen positiv-rechtlich ungeregelten Zustand durch intensiven Gebrauch der Treupflicht auszufüllen. Aber gerade in dieser Hinsicht ist äußerste Vorsicht geboten. Zum einen ist zu bedenken, daß diese gesetzliche Enthaltsamkeit eben auch ein Spiegelbild der augenblicklichen Gerechtigkeitsvorstellungen ist. Es bedarf also zunächst einmal des Nachweises eines unabweislichen Regelungsbedarfs, der durch den Gesetzgeber nicht allzu bald gedeckt wird. Zum anderen und vor allem aber ist auf die Komplexität dieser Regelungsprobleme hinzuweisen, die sich mit diesem relativ kärglichen Instrument der Treupflicht nicht bewältigen lassen. Das läßt sich besonders eindringlich an dem Take-over-Verfahren darlegenJs. Bekanntlich kann nach deutschem Aktienrecht ein Aktienpaket gleichsam klammheimlich an der Börse peu apeu aufgekauft werden. Das hat zur Folge, daß sich der Börsenkurs kontinuierlich verbessert, die Aktie also kontinuierlich teurer wird und dadurch den zuerst ausgestiegenen Aktionären ein entsprechender Gewinn entgeht. Es kommt also zu einer Ungleichbehandlung der zum Verkauf bereiten Aktionäre. Wird hingegen ein öffentliches Übernahmeangebot offeriert, dann selbstverständlich nur auf der Grundlage eines Einheitspreises. Es ist unbestreitbar, daß ein solches Übernahmeverfahren einen weitaus größeren Gerechtigkeitsgehalt aufweist als der versteckte Aufkauf über die Börse. Gleichwohl ist es aus meiner Sicht schlechthin unvertretbar, auf der Grundlage des Gleichbehandlungsgrundsatzes oder der Treupflicht eine generelle Pflicht zur Eröffnung eines solchen Übernahmeverfahrens zu statuieren36. Schon wegen der technischen Verfahrensmodalitäten und des relevanten Paketumfangs ist dieser Begründungsansatz völlig unergiebig. Daraus läßt sich allenfalls der rechtspolitische Appell an den Gesetzgeber ableiten, alsbald für Abhilfe zu sorgen und den Aktienmarkt insgesamt, vor allem aber den Umgang des Mehrheitsgesellschafters mit seinem Aktienkapital erstmals umfassend zu regeln. Ich bin überzeugt, daß die rechtspolitischen Dazu näher Martens, Die AG 1988, 124ff. m.w.N. Vgl. dazu den Entwurf der EG-Kommission für eine 13. Richtlinie des Rats auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts über Übemahmeangebote, BT-Drucks. 1114338 = ZIP 1989, 675 . 36 Ebenfalls ablehnend Lutter, ZHR 153 (1989), 446, 461f.; anders ders. im Rahmen des Abfindungsverfahrens nach§ 305 AktG, in: JZ 1976, 225 gegen BGH JZ 1976, 561 =Die AG 1976, 281 ;ebenso Grunewald WM 1989, 1233, 1235; weitergehend jedoch Schwark, in: Festschrift für W. Stimpel (1985) , S. 1087, 1109f. 34 35
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Widerstände außerordentlich groß sein werden und eine solche Regelung wenn überhaupt - dann erst nach langjährigen Vorarbeiten und vermutlich nur in Ansätzen zu erwarten ist. Angesichts dieses noch weitgehend unentwikkelten Rechtszustands ist deshalb äußerste Vorsicht geboten, amerikanische Gerechtigkeitsvorstellungen unkritisch auf die Anwendung deutschen Aktienrechts zu übertragen, zumal die Entscheidung des Supreme-Courts auch in Amerika nicht ungeteilten Beifall gefunden hat. Gleichwohl hat Marcus Lutter mit der ihm eigenen Kühnheit für futuristische Problemlösungen dem Supreme-Court auch aus der Sicht des deutschen Aktienrechts höchstes Lob gezollt. Auch der Großaktionär sei zwar in der Verfügung über seine Aktien grundsätzlich frei . Werde aber der Markt durch Maßnahmen des Großaktionärs gestört oder gar beseitigt, seien also die Kleinaktionäre nach allen Regeln organisatorischer Kunst "eingemauert", seien also die verbliebenen Aktionäre dem Großaktionär damit nicht gerade auf Gedeih und Verderb, aber doch sehr weitgehend in ihren unmittelbaren Rechten und Interessen ausgeliefert, so entspreche das nicht mehr einem regulären Bild des Verhältnisses von Mehrheit und Minderheit am Markt: in solchen Fällen würden selbst betont zurückhaltend formulierte Pflichten zu korporativer Treue verletzt und immanente Schranken einer rechtlichen Ordnung von der Mehrheit überschritten. Der Supreme-Court von Kalifornien hätte daher nach deutschem Recht ebenso judizieren müssen wie nach seinen eigenen Grundsätzen37. Demgegenüber ist darauf hinzuweisen, daß sich die Situation der Minderheitsgesellschafter durch die Maßnahmen des Mehrheitsgesellschafters in keiner Weise verschlechtert hat. Sie haben ihre Aktien vorher nicht veräußern können, noch können sie sie nunmehr veräußern. Da die Aktionäre mithin nicht benachteiligt worden sind, stellt sich nur die Frage, ob der Mehrheitsgesellschafter verpflichtet ist, sie in gleicher Weise an den Vorteilen seiner Reorganisation zu beteiligen. Ich vermag dafür keine auch nur im Ansatz geeignete Begründung zu erkennen. Aus meiner Sicht stellt sich das Verhalten des Mehrheitsgesellschafters als ein Akt privatautonomer Dispositionsfreiheit dar. Sicherlich darf der Mehrheitsgesellschafter seine Aktien auf dem Kapitalmarkt nicht derart verwerten, daß sich daraus negative Entwicklungen für das Aktienkapital der übrigen Aktionäre ergeben können. Es bleibt ihm aber unbenommen, sein Aktienkapital bestmöglichst zu verwerten, ohne daß daraus den anderen Aktionären entsprechende Partizipationsrechte zuwachsen38. Deshalb ist der Mehrheitsgesellschafter auch nicht verpflichtet, die anderen Aktionäre an dem anläßlich der Veräußerung seines Aktienkapitals erlösten JZ 1976, 225, 231f. ; ders., ZHR 153 (1989), 446, 459. So auch Lutter, ZHR 153 (1989), 446, 460 in anderen Zusammenhang unter Berufung auf "die vorn Gesetz sehr ernst genommene freie Übertragbarkeit der Aktien" . 37 38
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Klaus-Peter Martens
Paketzuschlag zu beteiligen39. Das Aktienkapital als solches ist ein dem Mehrheitsgesellschafter eigenes Rechtsgut, über das er, sofern er nicht die Interessen anderer Aktionäre beeinträchtigt4D, nach freiem Belieben, also auch mit allen Chancen und Risiken verfügen kann . Das Problem dieses Falles liegt nach meiner Ansicht ohnehin auf einer ganz anderen Argumentationsebene. Es geht um die allgemeine Frage, in welchem Umfang Gesellschaftsbeteiligungen mobil und fungibel sein müssen, in welchem Umfang auch die Freiheit zur Anteilsveräußerung bzw. zum Austritt aus der Gesellschaft geschützt werden muß. Wenn der Mehrheitsgesellschafter vorliegend nicht entsprechend verfahren wäre, hätte sich das Problem in derselben Weise gestellt. Dazu kann ich in diesem Zusammenhang nicht abschließend Stellung beziehen. Nur soviel sollte deutlich geworden sein, daß diese Grundsatzproblematik nicht mit der Treupflicht gelöst werden kann , sondern daß dafür Überlegungen erforderlich sind, die das allgemeine Verbandsrecht berühren und dort gleichsam an den Grundfesten rütteln. Generell wird man feststellen können, daß die Gesellschaftsbeteiligung eben nicht "eingemauert" werden darf, daß vielmehr auch die Freiheit zum Austritt bzw. zur Veräußerung geschützt werden muß. Für diese allgemeine, weit über das Aktienrecht hinausreichende Aufgabe ist die Treupflicht gänzlich ungeeignet.
IV. Zusammenfassung Nach dieser Demonstration ihres praktischen Anwendungsbereichs soll abschließend die Bedeutung der Treupflicht im Aktienrecht mit wenigen Thesen zusammengeiaßt werden. 1. Die Treupflicht dient als rechtspolitische Allzweckwaffe, um mehr oder weniger beliebige Ergebnisse zu produzieren. 2. Diese Beliebigkeit steht in einem eindeutigen Widerspruch zur gesetzlichen Konzeption des Aktienrechts, die auf abschließende und umfassende Konfliktsregelung angelegt ist. Selbstverständlich bedarf auch eine solche Kodifikation der Ergänzung durch ungeschriebene Pflichten und Pflichtmaßstäbe. Aber eine solche Ergänzung muß auf einer sorgfältigen Abwägung der divergenten Interessen im Einzelfall beruhen. Die Berufung auf eine allgemeine Treupflicht ist für eine solche Einzelfallbetrachtung ohne jeglichen Erkenntniswert. Ihre einzelfallbedingte Anerkennung kann nur das Ergebnis einer umfassenden Analyse im AktG angelegter Wertungen sein.
Ebenso Lutter, ZHR 153 (1989) , 446, 462 ; vgl. auch Wiedemann (Fn . 14), S. 452. Ob insofern eine Verpflichtung anzuerkennen ist, nicht an einen liquidationswilligen Erwerber zu veräußern, wird streitig beurteilt; eine solche Verpflichtung bejahend Wiedemann (Fn. 14), S. 451; hingegen verneinend Lutter, ZHR 153 (1989) , 446, 461. 39 40
Die Treupflicht des Aktionärs
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3. Die zunehmende Aktualität der Treupflicht im Aktienrecht läßt kodifikatorische Auflösungstendenzen erkennen, die schon in anderem Zusammenhang kritisch vermerkt worden sind. Diese Kritik richtet sich vor allem gegen die in der Holzmüller-Entscheidung vertretene Ausweitung der Hauptversammlungskompetenzen41. Auch in dieser Entscheidung hat sich der Bundesgerichtshof eines Beurteilungsmaßstabes bedient, der weder im Aktiengesetz angelegt noch hinreichend prognostizierbar ist, sich somit als eine kompetenzrechtliche Generalklausel erweist, die dem Richter einen unangemessenen Entscheidungsspielraum eröffnet. 4. Diese Entwicklung wird in der Literatur vielfach in anderen Bereichen des Aktienrechts forciert. Demgegenüber ist daran zu erinnern, daß sich das Aktienrecht wegen seiner wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Komplexität weniger als andere Rechtsgebiete als Experimentierteid für rechtspolitische Innqvationen eignet. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sei auf das feinsinnige Gebäude der von Bommelhoff entwickelten Konzernleitungspflicht verwiesen, das zwar in seiner theoretischen Anlage von eindrucksvoller Konzernarchitektur ist, aber doch den Erwartungen praktischer Wirtschaftsvernunft nur in engen Grenzen entspricht, und auf die von vielen befürwortete richterliche Kontrollierbarkeit organrechtlicher und organpolitischer Streitigkeiten42, die nach meinem Eindruck jenseits richterlicher Erkenntnisfähigkeit liegen43. 5. Juristen neigen oftmals dazu, aufgrund eines tiefempfundenen Sendungsbewußtseins eine Allzuständigkeit für jegliche Art von Konfliktsschlichtung zu reklamieren. Nach meiner Überzeugung sind auch Juristen, darin inbegriffen Professoren der Rechte, nur begrenzt geeignet, der dieser Allzuständigkeit korrespondierenden Verantwortung zu entsprechen. Wahrhafte Souveränität besteht auch in der Bescheidenheit vor den objektiven Grenzen rechtswissenschaftlicher Erkenntnisfähigkeit.
BGHZ 83, 122 und dazu Martens, ZHR 147 (1983) , 37lff. Dazu BGH, Die AG 1989, 89 = WM 1989, 98 = BB 1989, 240; zu dieser Entscheidung Theisen, DB 1989, 311; Raiser, Die AG 1989, 185; Brücher, Die AG 1989, 190. 43 Dazu Mertens, Kölner Komm. zum AktG, 2. Auf!. (1989), S. 76 Rdnr. 4. 41
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Deutsche Zivilrechtskodifikationen und internationale Rechtsvereinheitlichung Von Rolf Herber I. Der gegenwärtige Zustand unserer großen Kodifikationen
Deutschland hat, wie viele kontinentaleuropäische Staaten, eine lange und bis auf das römische Recht zurückreichende Tradition der Privatrechtskodifizierung. Glanzleistung - und zugleich Höhepunkte - der Zivilrechtskodifikation bilden das BGB und das HGB. Mit ihrem hohen Abstraktionsgrad erscheinen sie uns noch heute als Meisterstücke der Gesetzgebungstechnik, die zwar - dies hat man den Kodifikationen oft vorgeworfen - zur Herausbildung einer von der Umgangssprache verschiedenen juristischen Terminologie beigetragen haben (diese Terminologie allerdings war in der partikularrechtliehen Zeit eher noch mehr abgesetzt vom Umgangsdeutsch, war sie doch weitgehend lateinisch), die jedoch andererseits die Grundgedanken unserer Privatrechtsgestaltung so klar und abstrakt darlegen, daß sie auch unter den stark veränderten wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen unserer Tage noch im Stande sind, für die Entscheidung jedenfalls der wesentlichen Fragen eine einigermaßen sichere Basis zu geben. Mit Recht bilden sie deshalb übrigens auch den Kern jeder sinnvollen juristischen Ausbildung; hier in allererster Linie erschließen sich dem Rechtsstudenten Gegenstand und Methode seiner Disziplin. Je perfekter ein Werk ist, desto schwerer läßt es sich fortentwickeln. Die Verfasser des BGB und- gewiß in geringerem Maße- des HGB hatten bei der Konzeption ihrer Regelung eine Vielzahl von Überlegungen und Vorgaben im Kopf, die ihre Nachfolger nicht in gleicher Weise nachvollziehen können. Bedenkt man, wie sehr sich auch die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse und Vorstellungen gewandelt haben, so wird deutlich, wie schwer es schon dem nationalen Gesetzgeber fallen muß , eine systemgerechte Fortentwicklung so komprimierter Gesetze wie dieser Kodifikationen vorzunehmen. Es kommt hinzu, daß sich die Methode der Gesetzgebung seit der Jahrhundertwende grundlegend geändert hat: Beeinflußt vor allem von den ausufernden Normen des Verwaltungsrechts ist auch die Terminologie des Zivilrechts leider langatmiger und unpräziser geworden. Die Gesetzgebung im pluralistischen Staat und zumal in einem Bundesstaat hat mannigfaltige Rücksichten ebenso auf eine Vielzahl von mehr oder weniger kompetenten Mitwirkenden und Ratgebern im staatlichen und wissenschaftlichen Bereich wie auf
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massiven Einfluß der verschiedenen Interessenverbände und einer - häufig unzureichend informierten- öffentlichen Meinung zu nehmen, oder nimmt sie jedenfalls. Dies erschwert eine an Billigkeitsgrundsätzen orientierte, vor allem aber klare und einfache Gesetzgebung, weil Forderungen nach Ausnahmen zugunsten bestimmter Wirtschaftskreise oder Sozialbereiche sowie der Versuch, die getroffene oder doch zumindest beabsichtigte Regelung durch unklare Ausdrucksweise gegenüber der Öffentlichkeit zu verschleiern, teils bewußt und teils unbewußt die Gesetzgebung mehr und mehr prägen. Bei uns haben diese Rücksichten, mehr noch als vielleicht in vergleichbaren Staaten, in den letzten Jahrzehnten fast zum Erliegen einer organischen Fortbildung der deutschen Zivilrechtsordnung geführt. Der Gesetzgeber hat die Fortentwicklung des Zivilrechts weitestgehend den Gerichten überlassen , was ihm leider durch die abstrakte Formulierung der Kodifikationen - zunächst gedacht nur als ein Regulativ für die Beantwortung unbeabsichtigt offengelassener Fragen- erleichtert wurde. Die Rechtsordnung hat hierfür einen hohen Preis bezahlen müssen: Das praktizierte Recht hat sich weiter als nach meiner Auffassung vertretbar vom geschriebenen entfernt. Die Rechtslage ist zumeist nicht mehr, wie wir es gewohnt sind, aus einem- im wesentlichen einheitlichen, sicher auch schon seit langem durch Nebengesetze, Verordnungen und allgemeine Geschäftsbedingungen aufgelockerten - Gesetzeswerk, sondern zunehmend nur noch unter Heranziehung der Judikatur zu ermitteln. Für den Umgang mit Gerichtsentscheidungen, die Einschätzung ihrer Präzedenzwirkung und ihre Systematisierung fehlen uns jedoch nach unserer gesamten Rechtstradition Erfahrung und Rechtsgrundsätze, die in den Staaten des Common Law mangels einer der unseren entsprechenden Rechtssystematik schon seit langem entwickelt werden mußten und die dort eine gewisse Rechtssicherheit verbürgen. Die deutsche Gesetzgebung auf dem Gebiet des Zivilrechts steht deshalb schon geraume Zeit- freilich, wie ich fürchte, ohne sich dessen hinreichend bewußt zu sein - vor der Entscheidung, ob sie die Kodifikationen soweit wie irgend möglich wieder konsolidieren oder ob sie vor dem Ansturm gewachsener Regelungsbedürfnisse und komplizierterer Lebenssachverhalte kapitulieren und auch auf diesem Rechtsgebiet in eine mehr oder weniger unsystematische Praxis der Regelung von Einzelfällen nach dem Vorbild öffentlich-rechtlicher Maßnahmengesetze abgleiten soll 1 . Nur wenige von Ihnen werden sich noch an die großen Anstrengungen erinnern können , die unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg zur Wiederherstellung der Kodifikationen unternommen wurden. Allen voran die bewundernsI Zur Problematik der Kodifikation vgl. grundsätzlich Karsten Schmidt, Die Zukunft der Kodifikationsidee, Heft 167 der Schriften der Juristischen Studiengesellschaft Karlsruhe, 1985.
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werte Leistung des Gesetzes von 1950 zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiet der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und des Kostenrechts. Auch im BGB wurden zunächst vor allem mit der Wiedereinfügung der Regelung des Eherechts und des Testamentsrechts in die Kodifikation-Rekodifikationsbemühungen deutlich, die später gelegentlich- z. B. beim Reisevertragsrecht- nochmals aufgenommen wurden, andererseits jedoch mit AGB-Gesetz und Produkthaftungsgesetz2 (um nur einige Beispiele zu nennen) heute mehr und mehr aus dem Auge verloren werden. Immerhin stellt das BGB auch heute noch im Kern eine geschlossene Regelung unseres Zivilrechts dar, deren Lücken freilich doch einer gewissen, wenn auch vorsichtigen Ausfüllung durch den Gesetzgeber bedürften. Daß der Versuch hierzu von einer Bundesregierung eingeleitet wurde, die sich in ihren politischen Anschauungen von der gegenwärtigenman darf heute wohl nur noch sagen: etwas- unterscheidet, hat zwar weniger sachliche Bedeutung- denn so verschieden sind diese Unterschiede mit Rücksicht auf das Zivilrecht wohl doch nicht-, dürfte jedoch bei der inzwischen alle Lebensbereiche erfassenden Politisierung zunächst einmal ein frühes Ende für auch zaghafte Versuche der Fortentwicklung darstellen. Mit der Folge, daß die Rechtsprechung sich im wesentlichen wird weiter behelfen müssen und auch, daß die zu beobachtende Tendenz zunehmenden politischen Einflusses auf die Dritte Gewalt, die ja auf diese Weise zum Vorreiter der Rechtsfortbildung werden muß, sich noch verstärken könnte. Etwas anders verlaufen ist die Entwicklung beim HGB. Hier sind die großen Veränderungen insbesondere durch Herausnahme des Aktienrechts und durch die Sondervorschriften des Transportrechts nicht so sehr politisch, sondern durch den immens gewachsenen Regelungsbedarf dieser Rechtsgebiete bedingt. Die Rückführung in das HGB wäre kaum noch möglich - zumindest nicht, ohne dessen Gesicht vollständig zu verändern. Deshalb sind heute viele handelsrechtliche Fragen außerhalb des HGB geregelt; andererseits sind ganze Regelungskomplexe, wie etwa das Arbeitsrecht der kaufmännischen Angestellten, obsolet oder zumindest nicht mehr zeitgemäß. Der beklagenswerte Zustand unseres Handelsgesetzbuchs ist umso bedauerlicher, als das Handelsrecht historisch stets Vorreiter jeder zivilrechtliehen Kodifizierung gewesen ist. Hier wurden am schnellsten sich verändernde wirtschaftliche Anschauungen und Bedürfnisse vom Gesetzgeber rezipiert. Das Bundesministerium der Justiz hat freilich immer wieder Versuche unternommen, neue handelsrechtliche Regelungen in die Kodifikation einzufügen und damit den bedauerlichen Zustand des Torsos, den das HGB heute darstellt, zu beheben- ein Zustand, der sogar dazu geführt hat, daß die Berechtigung eines selbständigen Handelsgesetzbuchs in der Wissenschaft ernsthaft bezweifelt z Gesetz über die Haftung für fehlerhafte Produkte vom 15. 12. 1989 (BGBI. I 2198).
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worden ist. Beispiele bilden namentlich das nach dem Kriege neu geregelte Handelsvertreterrecht3 und, vor allem, das kürzlich als Drittes Buch in das HGB eingearbeitete neue Recht der Rechnungslegung4, letzteres sogar einheitlich für alle Unternehmensformen. Und für das Gebiet des Transportrechts regen sich immer wieder Überlegungen, ähnliches zu versuchens. Man muß also feststellen, daß unsere großen Zivilrechtskodifikationen die Zeitläufe nicht unbeschädigt überstanden haben und daß sie vor allem vom deutschen Gesetzgeber in den letzten Jahrzehnten zu sehr im Stich gelassen wurden. Auf der anderen Seite bilden sie noch heute das Rückgrat unserer Rechtsordnung. Entsprechend dem Kodifikationsprinzip spricht immer noch zumindest eine Vermutung dafür, daß sich die Antwort auf eine bestimmte Rechtsfrage diesen Gesetzen oder doch wenigstens den ihnen zugrundeliegenden Prinzipien entnehmen läßt. II. Form der auf das deutsche Recht einwirkenden internationalen Rechtsinstrumente
So sehr sich der Gesetzgeber bei uns heute scheut, von sich aus neu auftretende Fragen zu regeln, so stark ist doch andererseits der Druck zur Übernahme neuer Normen von außen geworden. Die Rechtsvereinheitlichung entwickelt, nach einer sehr fruchtbaren Zeit vor und nach dem Zweiten Weltkrieg, heute eine hypertrophe Aktivität, die alle Rechtsordnungen mit immer neuen Forderungen auf Anpassung an internationale Standards konfrontiert. Es kann hier nicht oder nur sehr am Rande von den Eigenarten und Gesetzmäßigkeiten der internationalen Rechtsvereinheitlichung die Rede sein; deren Notwendigkeit ist im Kern ohne Frage zu bejahen, mag man auch über die Zweckmäßigkeit und vor allem Ausgereiftheit vieler Projekte durchaus verschiedener Meinung sein können. Im Mittelpunkt unserer Überlegungen soll heute die mehr technische Frage stehen, wie - d . h. schlicht: in welcher Form -der deutsche Gesetzgeber die Vielfalt internationaler Normierungspflichten in das deutsche Recht übernimmt. Denn dies hat, wie ich noch zu zeigen hoffe, erheblichen Einfluß auf die gesamte Struktur unserer Rechtsordnung und könnte das Grundkonzept der Kodifikation, auf dem unsere Zivilrechtsordnung immer noch aufgebaut ist, ernsthaft weiter in Gefahr bringen. Ich brauche wohl kaum näher darzulegen, welchen Umfang die von außen auf den deutschen Gesetzgeber zukommende Normenflut hat. Bereits ein Blick auf den Inhalt des Amtsblatts der Europäischen Gemeinschaften vermittelt Gesetz vom 6. 8. 1953, BGBI. I , 771. Bilanzrichtlinien-Gesetz vom 19. 12. 1985, BGBI. I, 2355. 5 Vgl. etwa Basedow, Der Transportvertrag, 1987, S. 8, 515; Bauer, ZHR 1989, 342, 344; Herber, JZ 1974, 629f.; Karsten Schmidt, Fn. 1, S. 65. 3 4
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einen Eindruck hiervon. Doch ist es gar nicht einmal in erster Linie das Europarecht, an das ich hier denke; hierbei handelt es sich immerhin um die Rechtssetzung einer Staatengemeinschaft, die naturgemäß einen gewissen Raum einnehmen muß, könnte sie auch oft zentralere Fragen in größerer Klarheit und Knappheit zum Gegenstand haben und sich ganz allgemein mehr Zurückhaltung auferlegen. Ich denke hier vielmehr an die das Privatrecht immer noch mehr berührende allgemeine, das heißt sogenannte weltweite Rechtsvereinheitlichung auf dem Gebiet des Zivilrechts, die sich zumeist noch der traditionellen Form internationaler Staatsverträge bedient und heute ebenfalls- nach Anfangserfolgen und übertriebenen Erwartungen hinsichtlich ihrer das internationale Recht vereinfachenden Wirkung- beginnt, einen nur noch dem Fachmann auf Spezialgebieten einigermaßen vertrauten Dschungel zu bilden, der Gerichte, Anwälte und Wirtschaft schon jetzt oft vor fast unlösbare Probleme stellt. Es ist vielleicht nicht immer deutlich, wie viele internationale Organisationen sich heute mit der - mehr oder weniger vollkommenen - Vorbereitung und Verabschiedung internationaler Übereinkommen auf dem Gebiet des Zivilrechts im allgemeinen und des Handelsrechts im besonderen befassen. Angefangen vom Römischen Institut für die Vereinheitlichung des Privatrechts, einem Überbleibsel der Völkerbundszeit, über die Wirtschaftskommission der UN für Europa bis hin zur Kommission der Vereinten Nationen für Internationales Handelsrecht stehen mehr oder weniger sachkundige Organisationen zur Verfügung, um die internationale Gesetzgebung mit immer neuen Initiativen und Regelungsversuchen voranzutreiben. Sie werden ergänzt durch speziellere Organisationen auf den verschiedensten Feldern des Rechtes, von denen ich beispielhaft und mit Blick auf das Handelsrecht nur erwähnen will die Welthandelskonferenz (UNCTAD), die Internationale Zivilluftfahrtbehörde (ICAO), die Internationale Seeschiffahrtsorganisation (IMO), das Berner Zentralamt für den Internationalen Eisenbahnverkehr, die Zentralkommission für die Rheinschiffahrt in Straßburg, die Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO); es ließen sich viele andere hinzufügen. Sie alle haben in letzter Zeit internationale Übereinkommen normativen Inhalts auf dem Gebiet es Zivilrechts produziert, die nur unzureichend aufeinander abgestimmt sind, häufig Neuauflagen einer schon früher geschaffenen Regelung mit oft unklaren Anwendungsbereichsvorschriften darstellen und immer einen verschiedenen Kreis von Konferenzstaaten und Mitgliedsländern haben. Die Lehre von der Kollision internationaler Konventionen untereinander ist deshalb eine Disziplin geworden - Majoros6 hat ihr eine ausführliche Untersuchung gewidmet. Die Rechtsvereinheitlichung im Rahmen internationaler Organisationen ist, von Ausnahmen abgesehen, verhältnismäßig neu. Bis vor wenigen Jahrzehnten 6
Majoros, Les Conventions Internationalesen Matiere de Droit Prive, Paris, 1976.
18 Rechtsdogmatilc: und Rechtspolitilc:
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wurde die Rechtsvereinheitlichung allgemein von freien Diplomatischen Konferenzen betrieben, die sich auf Einladung eines Staates ohne eine feste Organisation- und deshalb in der Regel ohne zureichende Vorbereitung- zu einer Diplomatischen Konferenz mit mehr oder weniger zufälligem Teilnehmerkreis trafen. Es gibt nicht nur aus der Vorkriegsgeschichte eine Reihe von Beispielen für große Erfolge solcher Konferenzen, beispielsweise die Brüsseler Diplomatischen Seerechtsübereinkommen7, die bis auf das Jahr 1910 zurückgehen. Zuletzt gehörte die Raager Kaufrechtskonferenz von 1964 hierzu, deren ausgezeichnete Ergebnisse dann allerdings auch politisch eben an dieser Form der Konferenzorganisation gescheitert sind, weil sie nicht weltweit akzeptiert wurdens. Heute spielen Konferenzen dieser Art nur noch eine geringere Rolle; sie nehmen sich namentlich solcher Gegenstände an, die selbst den unbedeutendsten internationalen Organisationen als nicht verabschiedungswert erschienen oder die nur regionale Bedeutung haben. Gewiß hat die heutige Praxis, internationale Übereinkommen vermehrt in Organisationen vorzubereiten, erhebliche qualitative Verbesserungen der internationalen Gesetzgebung mit sich gebracht. Die Übereinkommen gewinnen an Präzision, jedenfalls sofern- wie namentlich bei der VN-Kommission für Internationales Handelsrecht - ein fachlich qualifiziertes Sekretariat zur Unterstützung der staatlichen Delegationen zur Verfügung steht. Doch darf man sich über das Ergebnis keinen Illusionen hingeben: Internationale Gesetzgebung ist schon von ihrer Ausgangslage her sehr viel schwieriger als nationale. Es handelt sich ja keineswegs darum, unterschiedliche nationale gesetzliche Regelungen auf einen einheitlichen Nenner zu bringen, der nach der Idealvorstellung der Theorie gewissermaßen ganz einfach dadurch ermittelt wird, daß man die Rechtsordnungen vergleicht und dann die sogenannte beste feststellt - es gibt in den meisten Fällen weder überhaupt nationale Regelungen noch auch nur ähnliche nationale Rechtsvorstellungen und schon gar keine beste Lösung, die andere Konferenzteilnehmer als solche anerkennen. Hier wie im innerstaatlichen Bereich müssen vielmehr Lösungen für Probleme gefunden werden, und zwar in der Regel originär und aufgrund rechtspolitischer Entscheidungen. Was das bei der Vielfalt beteiligter Wirtschaftsordnungen, rechtspolitischer Vorstellungen, kulturhistorischer Verschiedenheiten und unterschiedlicher gesetzestechnischer Regelungsgebräuche bedeutet, kann man sich kaum vorstellen, wenn man an solchen Arbeiten nicht teilgenommen hat. Zu allen sachlichen Schwierigkeiten, Meinungsverschiedenheiten und politischen Vorgaben für die einzelnen Delegationen kommt noch ein zusätzliches großes Handicap hinzu: die Sprache.
7 Zu deren Geschichte vgl. insbesondere Herber, Gedanken zur internationalen Vereinheitlichung des Seehandelsrechts, Festschrift Rolf Stödter, S. 55, 59. 8 Dazu Herber, RIW 1980, 601 ff.
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Konferenzen werden heute, soweit sie weltweit sind, regelmäßig in vier, oft sechs Arbeitssprachen abgehalten. In diesen Sprachen werden Anträge gestellt, Verhandlungen geführt, Abänderungsanträge vorgebracht und schließlich die Texte abgefaßt. Dabei sind in aller Regel alle Sprachen- häufig noch mehr als die Arbeitssprachen-gleichermaßen rechtlich verbindlich. Ein internationales Übereinkommen etwa wie das VN-Übereinkommen über den internationalen Warenkauf von 1980, das unser Kaufrecht demnächst kräftig beeinflussen wird, ist verbindlich in Englisch, Französisch, Spanisch, Russisch, Chinesisch und Arabisch- nicht jedoch in Deutsch. Die verschiedenen Versionen enthalten naturgemäß mehr oder weniger gravierende Abweichungen - nicht nur, weil die Übersetzungen in andere Sprachen als die zentralen Arbeitssprachen häufig in aller Eile während der letzten Konferenznacht von mehr oder weniger sprachkundigen Konferenzteilnehmern vorgenommen werden, sondern vor allem deshalb, weil viele Begriffe infolge einer unterschiedlichen Rechtssystematik in den fremden Sprachen überhaupt keine Entsprechung haben. Internationale Übereinkommen können also nicht das Maß an Genauigkeit und vor allem nicht an Übereinstimmung mit der Terminologie und Gesetzgebungspraxis des deutschen Rechts haben, welches nationale Gesetze aufweisen oder zumindest aufweisen sollten. Sie müssen in viele Rechtsordnungen passen, und jede Delegation versucht mit wechselndem Erfolg auf der Konferenz, das Übereinkommen auch formal in ihrem Sinne zu beeinflussen. Werfen wir nun , nachdem wir uns diese Ausgangslage vergegenwärtigt haben, noch kurz einen Blick auf die verschiedenen Arten der Rechtsinstrumente, deren sich die Rechtsvereinheitlichung heute bedient. Im Vordergrund steht, wie erwähnt, nach wie vor die völkerrechtliche, normativ gefaßte und daher unmittelbarer innerstaatlicher Anwendung fähige zwischenstaatliche Übereinkunft, das sogenannte rechtsvereinheitlichende multilaterale Übereinkommen. Im deutschen Recht wird es ebenso wie in den meisten Auslandsrechten durch Vertragsgesetz und Ratifizierung zugleich zu innerstaatlichem Recht erhoben. Dies kann entweder in der Form bloßer Transformation geschehen, indem das Übereinkommen als solches in seinem Originaltext innerstaatlich angewendet wird. Es kann jedoch auch in der Weise erfolgen, daß das Übereinkommen nicht in seinem Originaltext, sondern in einer dem innerstaatlichen Recht angepaßten Form übernommen wird; im letzten Fall spricht man von einer Inkorporation. Ich möchte hier darauf verzichten, die staatsrechtlichen Details vor Ihnen auszubreiten. Für unsere Zwecke sollte es genügen, darauf hinzuweisen, daß im deutschen Staatsrecht heute unzweifelhaft sein dürfte, daß die Wahl der Art der Umsetzung durch einfaches Gesetz getroffen werden kann9. Sagt das Vertragsgesetz 9 Vgl. statt aller Maunz I Dürig, Grundgesetz, Art. 59 Rdnrn. 22ff.; Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, 1985, S. 198.
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nichts hierzu, so ist ein normativ gefaßtes Übereinkommen innerstaatlichselbstverständlich nur im Rahmen seines völkerrechtlichen Geltungsbereiches und in der Form der vertraglich verbindlichen Originalsprachen- unmittelbar anwendbares innerstaatliches Recht. Doch kann die innerstaatliche Gesetzgebung die Transformation ausschließen. Der Staat ist dann völkerrechtlich verpflichtet, die Anwendung der Rechtsregeln des Übereinkommens in anderer Weise sicherzustellen. Von der Freiheit der Vertragsstaaten, ein Übereinkommen in der einen oder anderen Form in ihr innerstaatliches Recht umzusetzen, gibt es freilichauf der völkerrechtlichen Ebene - Ausnahmen: Manche Übereinkommen schreiben vor, daß nur die unmittelbare Anwendung des Vertragstextes zulässig ist. Es handelt sich dann um sogenannte lois uniformes. Das ist im Bereich des Handelsrechts- und, soweit ich sehe, überhaupt- bisher nur zweimal vorgekommen: Bei den Genfer Wechsel- und Scheckübereinkommen von 1930 und 193110 sowie beim Haager Kaufrechtsübereinkommen von 196411; in beiden Fällen jedoch haben die Übereinkommen den Vertragsstaaten ausdrücklich gestattet, den im übrigen wörtlich vorgeschriebenen Übereinkommenstext in einer Übersetzung in ihre Landessprache als innerstaatliches Gesetz einzuführen; selbstverständlich hat Deutschland von dieser Möglichkeit auch Gebrauch gemacht. Allerdings gab es in einigen Übereinkommen auf dem Gebiet des Seerechts auch einen sogenannten Einarbeitungsvorbehalti2; dieser besagte umgekehrt, daß die Vertragsstaaten frei sind, das Übereinkommen in einer ihrer Gesetzgebung angepaßten Form in ihr Recht zu übernehmen. Doch ist heute - seit der Seerechtskonferenz von 196813 - im Rahmen der Konferenzstaaten nicht mehr zweifelhaft, daß dieser Vorbehalt überflüssig, weil völkerrechtlich mangels gegenteiliger Vertragsbestimmung selbstverständlich ist. Neben den völkerrechtlichen Übereinkommen sind es namentlich zwei weitere Instrumente, die auf die deutsche Gesetzgebung unmittelbar oder mittelbar einwirken: Verordnungen und Richtlinien der Europäischen Gemeinschaft. Praktische Bedeutung für unser Thema hat die Richtlinie. Gerade auf dem Gebiet des Handels- und Gesellschaftsrechts, aber zunehmend auch auf dem des allgemeinen bürgerlichen Rechts spielt sie eine zunehmend wichtige Rolle.
w RGBI. 1933 II, 377, 537. 11 BGBI. 1973 II, 885ff. 12 Nämlich nach dem Unterzeichnungsprotokoll zu dem Brüsseler Übereinkommen von 1924 über Konnossemente, RGBI. 1939, II, 1042, und nach Art. 16 des Brüsseler Protokolls von 1968 zu diesem Übereinkommen, Schadee I Claringbould, International Transport Treaties, S. I - 148, 150. 13 Dazu im einzelnen Herber, ZG 1987, 17, 38 Fn. 63.
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Die Richtlinie ist im EWG-Vertrag14 definiert als ein Instrument, das sich nur an die Vertragsstaaten wendet, für diese "hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich" ist, "jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel ... überläßt". Richtlinien müssen also von den Mitgliedstaaten der EG in ihre innerstaatliche Gesetzgebung durch eigenständiges Gesetz umgesetzt werden. Ich will hier nicht den Streit um die unmittelbare Wirkung solcher Richtlinien in besonderen Ausnahmefällen wieder aufgreifenls. Es genügt der Hinweis, daß diese Richtlinien jedenfalls im Regelfall von den Vertragsstaaten in ihre Gesetzgebung übernommen werden müssen und daß sie sich zumindest nach der Vorstellung der Vertragsstaaten des EWG-Vertrages nicht zu einer unmittelbaren Anwendung eignen, weil sie nämlich bewußt mit Wahlrechten und ausfüllungsbedürftigen Begriffen formuliert sind, die eine unmittelbare Anwendung kaum möglich machen. Dem steht nicht entgegen, daß Richtlinien heute leider oft so formuliert werden, daß man sie durchaus unmittelbar anwenden könnte- zumal, wie schon gesagt, unsere Erwartungen an die Präzision der Formulierung einer gesetzlichen Bestimmung in beklagenswerter Weise geringer geworden sind. Nach dem EWG-Vertrag ist eine solche Formulierung an sich nicht zulässig; läßt die inhaltliche Vorgabe in der Sache keine Ausfüllungsmarge mehrzu-was durchaus vorkommen kann-, so steht der Gemeinschaft nur das Instrument der Verordnung zur Verfügung, für die andere Kompetenzvorschriften gelten. Verordnungen der EG werfen im Rahmen unserer Betrachtungen keine Besonderheiten auf: Sie gelten unmittelbar in der BR Deutschland, so daß sich für den deutschen Gesetzgeber mangels jedweder Regelungskompetenz formale Probleme nicht mehr stellen. Spricht man von Rechtsvereinheitlichung, so muß man heute vermehrt denken auch an Modellgesetze, Empfehlungen und ähnliche unverbindliche Formen internationaler Einflüsse auf die innerstaatliche Gesetzgebung. Sie sind flexibler, bringen zwar ein geringeres Maß an Rechtseinheit, doch finden sieoder könnten zumindest finden -eine größere Akzeptanz bei den Vertragsstaaten, die sich nicht auf Dauer binden und vor allem eine vorgeschlagene Regelung nicht ohne jede Abweichung übernehmen müssen. Diese, wegen eines rechtlich unbegründeten moralischen Annahmezwanges rechtspolitisch sicher nicht ganz unbedenklichen - und gelegentlich mokant als sogenanntes "soft law" bezeichneten - Instrumente bieten für uns jedoch ebenfalls keine Besonderheiten: sie stellen Anregungen an den nationalen Gesetzgeber dar, seine innerstaatliche Gesetzgebung in der einen oder anderen sachlichen Form auszurichten; er kann ihnen folgen oder auch nicht, jedenfalls die Form der entsprechenden Gesetzgebung frei wählen. 14
Art. 189 I.
Zur Problematik und zum Streitstand eingehend Herber, Festschrift Georg Döllerer, S. 225ff. , 229ff. 15
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Fassen wir also zusammen: Aus dem internationalen Raum kommen heute starke Gesetzgebungsimpulse auf den deutschen Gesetzgeber zu. Sie haben die Form entweder von internationalen rechtsvereinheitlichenden Übereinkommen, die in der Regel normativ gefaßt sind. Diese können durch Vertragsgesetz und Ratifikation zu innerstaatlich unmittelbar anwendbarem Recht erhoben werden; dann gelten sie innerhalb ihres völkerrechtlichen Anwendungsbereiches i.d.F. des oder der Urtexte. Sie können auch unter Ausschluß der erwähnten Transformation in jeder anderen geeigneten Form durch innerstaatliches Gesetz in unsere Rechtsordnung übernommen werden. Im Rahmen der Europäischen Gemeinschaften haben wir daneben mit den sogenannten Richtlinien zu tun. Sie enthalten stets Regelungsbefehle an die nationalen Gesetzgeber, die diese in mehr oder weniger freier Umsetzung und unter Ausfüllung von Wahlmöglichkeiten in innerstaatliches Recht umzusetzen haben. 111. Methoden der Übernahme internationalen Einheitsrechts in die deutsche Rechtsordnung
Wie hat nun der deutsche Gesetzgeber bisher internationale Verpflichtungen, die auf Anpassung unseres Zivilrechts an internationale Übereinkünfte gerichtet waren, erfüllt? Ich habe die rechtlichen Möglichkeiten hierfür bereits kurz skizziert- doch wie sind sie in der Praxis ausgeübt worden? Für Richtlinien der EG ist dies keine Frage: Sie werden in mehr oder weniger enger Anlehnung an den Text des internationalen Instrumentes, unter Ausfüllung von Wahlrechten und in Anpassung an Systematik und Terminologie des deutschen Rechts in unser Gesetzessystem eingefügt. Dem Gesetz, das eine Richtlinie umsetzt, sieht man zumeist nur an der Überschrift an, worauf die Initiative des deutschen Gesetzgebers beruht. Dieser hält sich auch häufig keineswegs an den Anwendungsbereich der Richtlinien, weil eine Differenzierung nach dem mehr oder weniger zufälligen Regelungsbereich des europäischen Instruments für die Systematik des deutschen Rechts nachteilig wäre. Ein Beispiel bietet etwa die durch die erste gesellschaftsrechtliche Richtlinie veranlaßte Einführung des sogenannten positiven guten Glaubens des Handelsregisters in Art. 15 Abs. 3 HGB; diese Änderung war an sich nur für Kapitalgesellschaften vorgeschrieben, mußte jedoch vom deutschen Gesetzgeber im Hinblick auf die in unserem Gesetzessystem nicht im Gesellschaftsrecht, sondern im allgemeinen Handelsrecht geregelten Wirkungen der Registereintragung auf alle Kaufleute erstreckt werden, wollte man nicht willkürliche und sachlich nicht zu vertretende Differenzierungen einführen. Freilich zeichnet sich, da Richtlinien mehr und mehr normativ formuliert werden - was letztlich leichter ist als die Erörterung und Festlegung der ursprünglich vom EG-Vertrag ins Auge gefaßten gleichwertigen Lösungen für
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ein bestimmtes Problem- , die Versuchung ab, die Richtlinienbestimmungen wörtlich zu übertragen. Wir können dies sowohl bei der Produkthaftungsrichtlinie als auch bei der Handelsvertreterrichtlinie beobachten. Obgleich hiergegen die schon dargelegten Bedenken bestehen, ist dies vom gesetzestechnischen Standpunkt nicht allzu gefährlich: Die EG ist trotz ihres immensen Wachtstums immer noch eine verhältnismäßig geschlossene Gemeinschaft, in der die Richtlinien auch unter dem Gesichtspunkt deutscher Rechtssystematik und unter Anwendung der deutschen Sprache ausgearbeitet werden. Richtlinien sind daher - von ihrer Zweckbestimmung einmal abgesehen - häufig weit geeigneter als weltweite internationale Übereinkommen, zumindest in wesentlichen Teilen unverändert Bestandteil des deutschen Gesetzes zu werden. Die Problematik konzentriert sich deshalb auf internationale Übereinkommen. So verschieden deren Art, Herkunft und damit gesetzestechnische Qualität ist, so unterschiedlich sind die Formen der Umsetzung gewesen. Zwischen beidem besteht jedoch leider wenig Zusammenhang; die Wahl der Umsetzung beruht vielmehr .weitestgehend auf zufälligen und nicht abgestimmten Entscheidungen vieler Ministerien. Ein generelles System gibt es bisher in der Bundesrepublik Deutschland nicht. Lassen Sie mich, weil eine vollständige D~rstellung der bisherigen Erfahrungen jeden Rahmen sprengen müßte, einige Gruppen herausgreifen, an denen ich beispielhaft die bisherige Umsetzungspraxis zeigen möchte. Die ersten handelsrechtliehen Übereinkommen von größerer Bedeutung sind die bis auf das Jahr 1890 zurückgehenden internationalen Eisenbahnübereinkommenl6. Sie enthalten- in ihren ersten, periodisch durch revidierte Neufassungen ersetzten -Versionen eine Regelung nur des Eisenbahnfrachtvertrages. Diese unter der Abkürzung CIM bekannt gewordenen Übereinkommen sind in Deutschland durch Ratifikation und bloße Transformation zum Gesetz erhoben worden. Sie standen und stehen heute noch in ihrer jüngsten Fassung von 1980 (der sogenannten COTIF17)- die inzwischen als Anlagen sogenannte Einheitliche Rechtsvorschriften für den Personenbeförderungsvertrag und für den Güterbeförderungsvertrag im internationalen Eisenbahnverkehr enthält - als selbständige Gesetze neben der deutschen Kodifikation. Einer Kodifikation, des HGB, jedoch, die dem Eisenbahnrecht ohnehin nur ganz wenige Paragraphen widmet und dieses innerstaatlich in die zweitrangige Rechtsquelle der Eisenbahnverkehrsordnung verwiesen hat. Was im Eisenbahnrecht praktiziert wurde, wurde im internationalen Seerecht keineswegs in gleicher Weise gehandhabt. Dies war das nächste Rechts16 Den Anfang machte das Internationale Übereinkommen über den Bisenbahnfrachtverkehr vom 14. 10. 1890, RGBI. 1892, 793. 11 RGBI. 1985 II, 130, 132.
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gebiet, dem sich die Rechtsvereinheitlichung zuwandte: Übereinkommen von 1910 über den Zusammenstoß von Schiffen und über Bergung und Hilfeleistung bildeten den Anfang. Sie wurden schon 191318 in das deutsche Handelsgesetzbuch eingearbeitet. Die Problematik des Nebeneinanderbestehens transformierten Übereinkommensrechts einerseits und eingearbeiteten HOBTextes andererseits wurde dabei nicht einmal gesehen. Die Einarbeitungspraxis setzte sich fort mit dem nächsten großen Seerechtsübereinkommen, den sogenannten Haager Regeln von 1924: Sie wurden vollständig und in zum Teil erheblich abweichender Formulierung durch das Seefrachtgesetz von 193719 in das Handelsgesetzbuch eingearbeitet. Gleiches geschah durch das Erste Seerechtsänderungsgesetz von 197220 mit dem Brüsseler Übereinkommen von 195721 über die Beschränkung der Reederhaftung, welches das deutsche Recht auf diesem Rechtsgebiet grundlegend änderte und deshalb mit der Aufhebung einer Reihe bis dahin vertrauter Rechtsinstitute einherging. Andere, kleinere seerechtliche Übereinkommen wurden teils in das HGB eingearbeitet- so das Übereinkommen von 1952 über die zivilrechtliche Zuständigkeit bei Schiffszusammenstößen22 -, teils als selbständige Übereinkommensregelungen neben der Kodifikation als solche angewendet - so das Übereinkommen über den Arrest von 195223 und das Übereinkommen über die Beförderung radioaktiver Güter von 197224 • Einen ganzen Komplex selbständiger, unmittelbar kraft Übereinkommensgeltung angewendeter Vorschriften internationalen Rechts bildet inzwischen das Ölhaftungsrecht auf See; es ist geprägt durch die beiden großen internationalen Übereinkommenzs über die Haftung der Tankerreeder für Ölschäden der See von 1969 und über die Errichtung eines internationalen Entschädigungsfonds für Ölschäden von 1971; die Ausführungsgesetzgebung, die sich bisher in dem Vertragsgesetz zu den Übereinkommen fand, ist kürzlich in dem - allerdings noch nicht in Kraft getretenen - Ölschadengesetz von 198826 konsolidiert worden. Hier bildet sich, neben dem HGB und außerhalb der von diesem geregelten Rechtsmaterien, eine eigenständige Kodifikation heraus. Ähnliches könnte übrigens in Kürze für das Gefahrgutrecht gelten. Bevor ich auf die weitere Entwicklung im Seerecht durch das Zweite Seerechtsänderungsgesetz27 eingehe, die in besonders markanter Form die unter-
RBGl. 1913, 49, 66, 89. RGBl. 1937 I, 891. 2o BGBl. 1972 I, 966. 21 BGBl. 1972 li, 672. 22 BGBl. 1972 I, 966; BGBl. 1972 II, 653, 663. 23 BGBI. 1972 li, 653, 655. 24 RGBl. 1975, II, 957, 1026. 25 BGBI. 1975, li, 301, 305, 320. 26 Gesetz vom 30. 9. 1988 über die Haftung und Entschädigung für Ölverschmutzungsschäden durch Seeschiffe, BGBI. 1988 I, 1770. 18 19
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schiedlichen Praktiken zeigt, möchte ich noch meine allgemeine Übersicht zu Ende führen: Auf dem Gebiet des Luftrechts werden das Warschauer Abkommen von 192928 sowie die späteren Protokolle und Zusatzübereinkommen hierzu im Rahmen des völkerrechtlichen Geltungsbereichs - also für internationale Luftbeförderungen unter übereinkommensgemäßer Beteiligung von Vertragsstaaten- grundsätzlich neben dem deutschen Gesetz angewendet. Das deutsche Luftverkehrsgesetz wurde für innerstaatliche Beförderungen nur in manchen Hinsichten an das internationale Recht angepaßt, weil der Schutz der Passagiere dort unzureichend erschien. Wenden wir uns vom Transportrecht, in dem die Rechtsvereinheitlichung seit jeher eine Vorreiterrolle gespielt hat, das aber andererseits im Handelsgesetzbuch schon seit langem nicht mehr hinreichend kodifiziert ist, noch kurz den Erfahrungen im allgemeinen Handelsrecht zu: Hier sind Einarbeitungen in die Kodifikation - zu der ich Aktiengesetz und GmbH-Gesetz hinzurechne - außer bei Richtlinien der EG bisher praktisch nicht vorgenommen worden. Die beiden großen, durch internationale Übereinkommen geregelten Komplexe, Wechsel- und Scheckrecht (mit dem Geltungsbereich sowohl für internationale als auch für nationale Tatbestände) und internationales Kaufrecht, sind durch internationale Übereinkommen geprägt, die den Vertragsstaaten als sogenannte lois uniformes keine Wahl der Umsetzung lassen. Beide Vertragswerke sind in der Fassung einer deutschen Übersetzung als eigenständige Gesetze29 (übrigens nicht nur als Vertragsgesetze und deshalb keineswegs nur im Gesetzblatt Teil II) erlassen worden. Das Wechsel- und Scheckrecht wird trotzBemühungender Vereinten Nationen zu seiner internationalen Neuformulierung sicher noch auf längere Zeit bestehen bleiben. Das Haager Kaufrecht von 1964 wird im nächsten Jahr durch das VN-Übereinkommen von 1980 über den internationalen Warenkauf30 ersetzt werden; dieses Übereinkommen ist keine loi uniforme mehr, wird jedoch von der BR Deutschland ebenfalls als eigenständiger Block von Vorschriften für internationale Übereinkommen ohne formale Verbindung zum HGB oder BGB angewendet werden. Künftig allerdings- und auf diesen Unterschied muß ich noch zurückkommen- in der Fassung der Originalsprachen, nicht in einer deutschen Fassung. 27 Gesetz vom 25. 7. 1986 zur Änderung des Handelsgesetzbuchs und anderer Gesetze, BGBI. 1986 I, 1120. 2s RGBI. 1933 II, 1039. 29 Wechselgesetz vom 21. 6. 1933, RGBI. I, 399, Scheckgesetz vom 14. 8. 1933, RGBI. I, 597; einheitliches Gesetz über den internationalen Kauf beweglicher Sachen vom 17. 7. 1973, BGBI. I, 856; einheitliches Gesetz über den Abschluß von internationalen Kaufverträgen über bewegliche Sachen vom 17. 7. 1973, BGBI. I, 868. Jo BGBI. 1989 II, 586.
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Betrachten wir zum Abschluß das Zweite Seerechtsänderungsgesetz von 198631, das zwar eine für Sie etwas abgelegene Materie betrifft, doch in exemplarischer Form die verschiedenen Umsetzungsmöglichkeiten zeigt: Dieses Gesetz regelt drei Bereiche des Seerechts auf der Grundlage internationaler Übereinkommen neu: Zunächst das allgemeine Recht der Haftungsbeschränkung auf der Basis des Londoner Übereinkommens von 197632, welches zugleich ratifiziert worden ist. Sodann das Recht der Personenbeförderung auf See; dies auf der Grundlage des Athener Übereinkommens von 197433, welches jedoch wegen zu geringer Haftungssummen nur in seinen Grundsätzen, nicht hinsichtlich der Haftungshöhe übernommen werden konnte und daher nicht zugleich ratifiziert worden ist. Schließlich das Recht der Güterbeförderung, das auf der Basis des Brüsseler Protokolls von 196834 modernisiert worden ist; auch dieses internationale Übereinkommen ist- aus politischen Gründen, die mit dem Schicksal des in Harnburg 1978 beschlossenen VN-Übereinkommens über die Beförderung von Gütern auf See35 zusammenhängen - innerstaatlich vollständig übernommen, völkerrechtlich jedoch nicht ratifiziert worden. Die drei Gebiete, deren Neuregelung weitestgehend durch die erwähnten Übereinkommen geprägt ist, sind nun gesetzestechnisch in ganz unterschiedlicher Weise behandelt worden: Das völkerrechtlich verbindlich gewordene Londoner Übereinkommen von 1976 über die Haftungsbeschränkung ist nicht- wie noch sein durch das Erste Seerechtsänderungsgesetz in das HGB eingefügtes Vorgänger-Übereinkommen von 1957 - in die deutsche Kodifikation inkorporiert worden, sondern besteht selbständig neben dieser. In § 486 HGB wird auf das Übereinkommen verwiesen, welches im übrigen nur innerhalb seines völkerrechtlichen Geltungsbereiches - und über diesen Umweg auch auf innerstaatliche Tatbestände - sowie in seinen Originalsprachen anzuwenden ist. Es steht nicht im Bundesgesetzblatt Teil I (und auch nicht im Schönfelder, selbst, wenn Sie den Zusatz kaufen), sondern ergibt sich nur aus dem Bundesgesetzblatt Teil II. Das Passagierhaftungsübereinkommen dagegen, welches ja nicht kraft völkerrechtlicher Transformation angewendet werden konnte, ist in einer deutschen Übersetzung als Anlage zum HGB , also als deutsches Gesetz erlassen worden. Eine interessante Neuerung, ein Mittelweg zwischen Einarbeitung und unmittelbarer Anwendung. Diese Form soll den Gerichten nahelegen, die überein31 32
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Vgl. Fn. 27. BGBI. 1986 li, 786, 787. Abgedruckt bei Schadee I Claringbould, International Transport Treaties, S. I Vgl. Fn. 12. Abgedruckt bei Schadee I Claringbould, International Transport Treaties, S. I -
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kommensgemäße Regelung in ihrer Auslegung weitestgehend an der Rechtsprechung der Vertragsstaaten des Übereinkommens zu orientieren. Außerdem dient sie der Vorbereitung einer künftigen Ratifizierung, die nach einer von der Bundesregierung angestrebten Erhqhung der Haftungssummen beabsichtigt ist. Der Übersichtlichkeit der Kodifikation allerdings dient diese Erfindung nicht. Schließlich ist das Brüsseler Protokoll von 1968 zur Änderung der Haager Regeln vollständig in das 5. Buch des Handelsgesetzbuchs eingearbeitet worden. Hier wurde das Verfahren, das bei dem Hauptübereinkommen, dem Konnossementsübereinkommen von 1924, angewendet wurde, mit Recht fortgesetzt. Abgesehen davon, daß das Protokoll völkerrechtlich für uns nicht verbindlich ist, wird also nicht sein Text, sondern nur das angepaßte deutsche Recht angewendet. Schon bis hierher ein verwirrendes Bild, dem sich noch eine gewisse, von der Wissenschaft heftigst kritisierte36 Delikatesse - nämlich das Gesetz zur Änderung des Internationalen Privatrechts von 198637 - hinzufügen ließe, welches das EG-Übereinkommen über das internationale Schuldvertragsrecht38 in das EGBGB eingearbeitet hat. Hier hat sich ein Streit zwischen Gesetzgeber und Wissenschaft entfaltet, der erstmals die gesetzgeberische Problematik, die den Gegenstand unserer heutigen Betrachtung bildet, etwas grundsätzlicher angeleuchtet hat: Die Bundesregierung schlug vor, das Schuldvertragsübereinkommen in das EGBGB als eine Kodifikation des deutschen IPR einzuarbeiten. Die Wissenschaft war ziemlich geschlossen dagegen und hielt eine unmittelbare Anwendung des Übereinkommens für geboten, insbesondere, weil dadurch das Gebot international möglichst einheitlicher Auslegung auch bei der innerstaatlichen Anwendung deutlicher hervortrete. Der Deutsche Bundestag ist dem Entwurf gefolgt, wie ich meine, mit Recht. Er hat der Übersichtlichkeit und leichteren Verständlichkeit des deutschen Rechts im Inland den Vorrang vor einem Prinzip gegeben, das keineswegs wirklich eine größere Garantie für international einheitliche Auslegung darstellt, jedoch andererseits die Zersplitterung unseres Zivilrechts weiter gefördert hätte. Eine andere Frage ist freilich, ob die Umsetzung gerade des !PR-Übereinkommens sehr sachgerecht erfolgt ist. Die Einarbeitung eines Übereinkommens in innerdeutsches Recht erfordert außerordentlich sorgfältige Arbeit, an der es hier in mancher Hinsicht gefehlt hat. Wie so oft hat der Streit um den Grundsatz die Diskussion über das Detail, unter dessen Unvollkommenheit die Praxis nunmehr leiden muß, zurücktreten lassen. Dazu im einzelnen Herber, ZG 1987, 17, 39. BGBL 1986 I, 1142. 38 BGBL 1986 II, 809; die unmittelbare innerstaatliche Anwendung (Transformation) dieses Übereinkommens wurde durch Art. 1 Abs. 2 des Vertragsgesetzes ausdrücklich ausgeschlossen. 36
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Versuchen wir, aus den dargestellten Erfahrungen Grundsätze abzuleitendie freilich den Gesetzgeber kaum bewegt haben dürften-, so läßt sich vielleicht Folgendes feststellen: Internationale Übereinkommen sind in der Vergangenheit teils durch Einarbeitung in nationale Gesetze, zum größeren Teil durch bloße Transformation und eigenständige Anwendung neben den deutschen Gesetzen übernommen worden. Die Einarbeitungsform findet sich namentlich im Seehandelsrecht, in dem um die Jahrhundertwende eine verhältnismäßig geschlossene Kodifikation bestand und stets der Wille vorherrschte, auf nationale und internationale Tatbestände dieselben Regeln anzuwenden. Hier wurden besonders Übereinkommen über das Seefrachtrecht und über das Recht der Haftungsbeschränkung in das deutsche Recht inkorporiert. Allerdings finden sich auch auf diesem Rechtsgebiet Übereinkommen, die als solche angewendet werden. Dies gilt vor allem dort, wo die Übereinkommen entweder Materien betreffen, die im deutschen Recht bisher nicht geregelt waren- so etwa beim Ölhaftungsrecht39 und bei der Beförderung radioaktiver Güter40 -, oder wo ihre Anwendung auf internationale Tatbestände beschränkt werden sollte - so etwa beim Arrestübereinkommen von 195241 und bei dem Übereinkommen über die Immunität von Staatsschiffen von 192642. In neuerer Zeit ist dieses Prinzip mit dem Zweiten Seerechtsänderungsgesetz verlassen worden, welches die Neuregelung des Reederhaftungsrechts nicht mehr in das HGB übernommen hat, sondern- und zwar auch für die (allerdings wenigen) rein innerdeutschen Fälle - der eigenständigen Anwendung des Übereinkommens von 1976 überließ. Für die Passagierhaftung ist ein Mittelweg gewählt worden, der der deutschen Kodifikation HGB eine sogenannte "Anlage" beschert hat. Einen anderen Einarbeitungsfall können wir noch für das internationale Privatrecht registrieren, wenngleich mit Unvollkommenheiten und einigen zweifelhaften Regeln über den Vorrang des Übereinkommens vor dem eingearbeiteten Recht, auf die ich hier im einzelnen nicht eingehen kann. Die Einarbeitungsfälle sind jedoch eher Ausnahmen. Das mag vor allem daran liegen, daß die Einarbeitung Zeit und Mühe kostet, die bei der heutigen Hektik der Gesetzgebung, insbesondere auch der internationalen, keineswegs immer aufgewendet werden können. Die bloße Transformation ist leichter, sie wälzt jedoch die gesetzgeberischen Probleme auf die Rechtsprechung ab. 39 40 41 42
Vgl. Fn. 25, 26. Vgl. Fn. 24. Vgl. Fn. 23. RGBI. 1927 II, 483.
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Deshalb ist die bloße Ratifikation eines Übereinkommens ohne allzu große Rücksicht auf Überschneidungen mit bestehendem Recht heute eher die Regel. Beispiele habe ich dafür genannt. Zum großen Teil sind sie freilich durchaus sachgerecht: Solange das deutsche Recht keine Kodifikation etwa des Transportrechts enthält, kann es nur sinnvoll sein, das internationale Eisenbahnrecht, das internationale Straßenbeförderungsrecht, das Internationale Luftrecht als gesonderte Vorschriftengruppen für internationale Beförderungen kraft des Übereinkommensrechts wenigstens in sich geschlossen und in möglichster Übereinstimmung mit ausländischer Interpretation anzuwenden. Das deutsche Recht auf diesen Gebieten ist ohnehin unzulänglich. IV. Gebote für das künftige Gesetzgebungsverfahren im Interesse der Rechtssicherheit
Diese Folgerungen aus der bisherigen, mehr pragmatischen als durchdachten Praxis zeigen bereits, wie sich der deutsche Gesetzgeber in Zukunft nach meiner Auffassung verhalten sollte: Soweit internationale Übereinkommen Rechtsgebiete betreffen, die in deutschen Kodifikationen geregelt sind, sollte die Übereinkommensregelung nicht als solche, sondern kraft Einarbeitung in das jeweilige deutsche Gesetz angewendet werden. Der Übersichtlichkeit des deutschen Rechts und der Verlautbarung des Gesetzgeberwillens in der deutschen Rechtssprache kommt hier der Vorrang zu. Es ist ja keineswegs so, daß bei eingearbeitetem Recht der internationale Ursprung der Vorschriften alsbald vergessen würde. Im Gegenteil: Gerade die deutsche Rechtsprechung hat - im Gegensatz etwa zur englischen- eine lange Tradition, die Entstehungsgeschichte eines Gesetzes bei seiner Auslegung zu berücksichtigen. Stellen sich Auslegungsprobleme und prüft sie die Geschichte einer Vorschrift, so stößt sie notwendig nicht nur auf deren internationalen Ursprung, sondern berücksichtigt automatisch denn die Heranziehung anderer Meinungsäußerungen ist ebenfalls eine alte deutsche Rechtsprechungstradition - die Rechtsprechung in anderen Vertragsstaaten, soweit sie dem jeweiligen Gericht praktisch zur Verfügung steht. In der Verlautbarung der Judikatur der Vertragsstaaten muß allerdings eine Verbesserung eintreten. UNCITRAL ist auf einem vielversprechenden Wege hierzu43. 43 Die Kommission hat in ihrer 21. Sitzung (1988) beschlossen (vgl. Report of the United Nations Commission on International Trade Law on the work of its twenty-first session, Chapter X, paras. 98ff.), den Austausch von Gerichtsentscheidungen zum VN-Kaufrechtsübereinkommen von 1980 zu vermitteln; dabei wird zugleich die Übersetzung in die Arbeitssprachen der VN sichergestellt. Die Mitteilung von Entscheidungen wird gegenwärtig- allerdings in beschränkterem Umfang und nicht durch Vermittlung der Staaten - durch die von UNIDROIT herausgegebene Revue de Droit Uniforme vorgenommen.
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Daß die Anwendung eines Übereinkommens als solchem die Rechtsanwendung verbessere, vermag ich nicht zu sehen. Ich halte es im Gegenteil für höchst bedenklich, wenn der deutsche Gesetzgeber ein Übereinkommen mit ausschließlicher Geltung in fremden Sprachen für den innerstaatlichen Rechtsverkehr für verbindlich erklärt. Zwar steht nirgendwo geschrieben, daß die Gesetzessprache Deutsch ist, doch sollte man wohl erwarten, daß ein Gesetzestext zumindest als solcher verständlich und vor allem auch zugänglich ist. Nehmen Sie das Beispiel des kürzlich ratifizierten Londoner Haftungsbeschränkungsübereinkommens von 1976: Es gilt gleichermaßen in Englisch, Französisch, Spanisch und Russisch. Englischer und französischer Text sind im Bundesgesetzblatt (Teil li) verkündet worden. Der spanische und der russische Text hingegen sind nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch seitens der Vereinten Nationen bisher nirgendwo veröffentlicht. Weichen die Texte voneinander ab, so hat man sich an dem Willen der Konferenz zu orientieren. Nimmt man dies genau, so stößt man auf eine Fülle von Abweichungen, die sich notwendig aus der verschiedenen Begriffsbildung der Vertragssprachen ergibt. Ich halte unter solchen Umständen die Anwendung des Originaltextes schlicht für eine Illusion und kann nur hoffen, daß sich die deutschen Gerichte an der unverbindlichen Übersetzung orientieren. Nicht eingearbeitet werden kann allerdings ein Übereinkommen dort, wo eine Regelung in einer deutschen Kodifikation oder einem größeren Gesetz überhaupt fehlt. Das gilt in der Regel, wenn Übereinkommen sich auf die Regelung internationaler Tatbestände beschränken . Im übrigen ist von Fall zu Fall zu entscheiden, wie die Umsetzung zu erfolgen hat. Unterschiede bestehen auch hinsichtlich einzelner Rechtsgebiete: So wird man etwa im internationalen Ölhaftungsrecht den betroffenen Mineralölgesellschaften, Reedern und Behörden eher zumuten können, mit einem Übereinkommenswerk in englischer Sprache zu arbeiten, als auf anderen Gebieten. Bei dem gekennzeichneten Zustand unserer Kodifikationen sollte sich allerdings häufiger als bisher die Frage stellen, ob ein internationales Übereinkommen nicht etwa einen Anlaß dazu geben sollte, zugleich das deutsche Rechtin möglichster Anlehnung an das internationale - neu zu regeln. So mag sich dann eine Kodifikation ergeben. Das ist etwa beim Internationalen Privatrecht der Fall gewesen und sollte für das deutsche Transportrecht erwogen werden. Dort, wo eine umfangreichere, bewußt in sich geschlossene Regelung als eigenständige angewendet wird, stellt sich jedoch ein zusätzliches Problem: das der Sprache. Nehmen wir als markantestes Beispiel das Wiener Kaufrechtsübereinkommen von 1980: In Deutschland steht aufgrundder Vorgabe der Übereinkommen von 1964 und infolge der Entscheidung des Gesetzgebers zu dem neuen Übereinkommen das Internationale Kaufrecht unverbunden
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und selbständig neben dem Kaufrecht des BGB und HGB. Zwar sind Anpassungendes BGB und des HGB auf lange Sicht in der Diskussion, doch würden sie unser gesamtes Schuldrecht in Mitleidenschaft ziehen und werden deshalb nicht vollständige Angleichungen sein können und sicher noch lange Zeit auf sich warten lassen. Wendet man aber nun das Wiener Kaufrecht in seiner internationalen Fassung- die hier erfreulicherweise sehr weitgehend deutschen Rechtsvorstellungen entspricht- an, so hätte sich für den deutschen Gesetzgeber nach meiner Auffassung angeboten, eine minimale Angleichung an unser Recht zumindest insofern vorzunehmen, als er dieses Übereinkommen in deutscher Sprache für verbindlich erklärt. Das wäre zulässig und das mindeste, was man ehrlicherweise hätte erwarten können. Die Anwendung in den sechs Vertragssprachen, die nunmehr vorgeschrieben ist, ist weder möglich noch sinnvoll. Sie geschieht übrigens ja auch nicht in den vielen Staaten, in denen eine dieser sechs Sprachen als Amtssprache gilt: Dort wird in aller Regel nur die eigene Sprache angewendet. Und in einigen Ländern44 wird das Kaufrechtsübereinkommen trotz seines einheitlichen Auslegungsgebotes schlicht in die eigene Gesetzgebung eingearbeitet - notwendig mehr oder weniger korrekt. Es ließe sich noch manches hinzufügen45. Klare Grundsätze werden sich jedoch auch danach sicher nicht für jeden Einzelfall aufstellen lassen. Abschließend liegt mir jedoch an folgender Feststellung: Nach meiner Auffassung muß sich der deutsche Gesetzgeber künftig vermehrt dafür entscheiden, internationale Übereinkommen in das deutsche Gesetz einzuarbeiten. Dies kostet Mühe und bringt die Gefahr von Mißverständnissen mit sich .. Doch wird der internationalen Rechtsangleichung nicht dadurch genützt, daß die Rechtsanwendung im Inland in einer Weise erschwert wird, die heute schon die Feststellung des in Deutschland geltenden Rechts auf den von der Rechtsangleichung besonders betroffenen Spezialgebieten fast unmöglich macht. Wir müssen uns auf die Tradition unserer Kodifikationen besinnen und nicht nur das innerstaatliche Recht, sondern auch die für internationale Tatbestände geltenden Vorschriften- und erst recht natürlich das vereinheitlichte Recht für innerstaatliche Tatbestände- in diese Kodifikationen einarbeiten. Nur dann zeigen sich auch Widersprüche zum deutschen System, die der Gesetzgeber zu lösen hat und nicht der Rechtsprechung überlassen darf. So würden etwa bei einer Einarbeitung des Produkthaftungsrechts in das BGB Widersprüche zu unserem bestehenden Haftungssystem ganz zu schweigen von etwaigen Widersprüchen zwischen dem Produkthaf44 So etwa in den skandinavischen Staaten, die den Abschlußteil des Übereinkommens überhaupt nicht übernommen haben und das materielle Kaufrecht in ihre nationalen Kaufrechtsgesetze einarbeiten. 45 Zu der Problematik der Übernahme internationaler Übereinkommen vgl. auch Herber, ZG 1987, 17ff. , 40ff.
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tungsrecht und dem Wiener Kaufrecht-zumindest offenbar geworden sein46. Der Gesetzgeber wird seiner Aufgabe nicht gerecht, wenn er in falsch verstandenem Internationalismus auf eine eigene Entscheidung solcher Probleme verzichtet. Und er zerstört die Einheit unserer Kodifikationen. Wenn ich darauf hinweise, daß dabei der deutschen Sprache künftig eine größere Bedeutung beigemessen werden sollte als bisher, so ist dies auch keineswegs ein Aufruf zu vielleicht modischem neuem Nationalbewußtsein. Die deutsche Rechtswissenschaft und insbesondere die deutsche Gesetzgebung haben eine Tradition, die sie verpflichtet sind, auch in das internationale Einheitsrecht einzubringen. Ebenso wie etwa die französische oder die italienische. Das Einheitsrecht ist heute, wie Sie wissen, weitestgehend durch die Verwendung der englischen Sprache gekennzeichnet. Gerade das aber bringt für uns Kontinentaleuropäer die große Gefahr mit sich, daß die von den Römern überlieferten Rechtsbegriffe in kürzester Zeit verloren gehen werden, wenn wir sie nicht als einen Bestandteil des vereinheitlichten Rechts aufrechterhalten und zumindest in der Diskussion über die Auslegung des Einheitsrechts mit unseren kontinentaleuropäischen Vertragspartnern verwenden. Vor allem aber sollte der Klarheit und Übersichtlichkeit der deutschen Rechtsordnung größerer Wert beigemessen werden, mögen diese auch notwendig durch die internationale Rechtsvereinheitlichung verändert werden. Diese wird vor allem verlangen, daß auch die Kodifikationen öfter geändert werden; deshalb müssen sie jedoch nicht als Instrument überhaupt aufgegeben werden- im Gegenteil, die Einarbeitung neuer internationaler Übereinkommen in die bestehende Gesetzgebung ist oft der einzige Weg, die Transparenz der Gesamtregelung zu erhalten. Blicken wir über die Grenzen, so ist es ja auch keineswegs so, daß andere Staaten auf eine sinnvolle Fortentwicklung ihres Rechts unter Einbeziehung des internationalen Einheitsrechts verzichten. Holland unternimmt seit Jahren eine Gesamtreform seines Zivil- und Handelsrechts. Für das besonders durch internationale Rechtsangleichung gekennzeichnete Gesamtgebiet des Trausportrechts hat Prof. Schadee in Rotterdam eine Kodifikation entworfen, die voraussichtlich in Kürze Gesetz werden wird und eine Reihe von Fragen erstmals und im Zusammenhang regelt, die bisher nicht befriedigend durch inter46 Durch das Produkthaftungsgesetz vom 15. 12. 1989 (BGBI. I, 2198). -Es ist bezeichnend, daß im Schriftlichen Bericht des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages (BT-Drucks. 11/5520, S. 12) zum Verhältnis der Neuregelung zum BGB gesagt wird: "Das Produkthaftungsgesetz tritt neben die nach geltendem Recht praktizierte Produkthaftung, die sich im Wege der Fortbildung des Deliktsrechts . . . auf der Grundlage der §§ 823ff. des Bürgerlichen Gesetzbuches entwickelt hat. Vor diesem Hintergrund wurde in den Ausschußberatungen erörtert, ob in Betracht gezogen werden solle, die produkthaftungsrechtlichen Regelungen in das Bürgerliche Gesetzbuch einzustellen. Der Ausschuß sah einvernehmlich hierfür keine Möglichkeit."
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nationale Übereinkünfte geregelt worden sind. Frankreich hat vor längerer Zeit ein neues Seerecht geschaffen, ebenso die UdSSR. Und die DDR ist uns in ihrer Gesetzgebung auf dem Gebiet des internationalen Handelsrechts namentlich mit dem vorbildlichen Gesetz über internationale Wirtschaftsverträge- weit voraus. Wie sehr wir neuer gesetzgeberischer Anstrengungen in der Bundesrepublik Deutschland bedürfen, wird deutlich, wenn man von einem Ausländer nach der Rechtslage auf fast einem beliebigen handelsrechtliehen Rechtsgebiet gefragt wird: Die Übersendung des Gesetzes führt in aller Regel zu keinerlei Aufklärung; man müßte eigentlich ein Lehrbuch hinzufügen, oder besser: mehrere. Dies aber kann nicht ein befriedigender Zustand der Gesetzgebung in einem Industriestaat sein. Die internationalen Einflüsse auf die Gesetzgebung haben zum Verfall der deutschen Kodifikationen beigetragen, eine Entschuldigung hierfür sind sie nicht. Soll nicht die im deutschen Rechtsraum verständliche Ordnung des Zivilrechts vollends verloren gehen, müssen geeignete Formen der Rezeption oder doch zumindest Einbindung der internationalen Normen in die deutsche Gesetzgebung und insbesondere unsere Kodifikationengefunden werden. Sie müssen sowohl den internationalen Verpflichtungen als auch dem Gebot der Rechtssicherheit genügen. Mehr noch als im rein innerstaatlichen Bereich ist die Kodifikation- mag sie auch künftig häufigerem Wandel unterliegen müssen- die einzige Chance, Erkennbarkeit und Übersichtlichkeit der zunehmenden Zahl von Rechtsregeln zu wahren. Der Weg, internationale Übereinkommen in ihrer zufälligen, vorgegebenen, oft sehr unvollkommenen Form und in ihrem fremdsprachlichen Originaltext unmittelbar und ohne Einbindung in die deutsche Rechtsordnung im Inland als Gesetz anzuwenden, ist nur in Ausnahmefällen eine annehmbare Lösung. Der Gesetzgeber genügt seinen Pflichten in aller Regel nur dann, wenn er sich der Mühe unterzieht, sich über die Einordnung der neuen Rechtssätze in das System des deutschen Rechts Gedanken zu machen und entstehende Ungereimtheiten und Nahtstellen zu glätten. Diese Aufgabe darf er nicht der Rechtsprechung überlassen, die er damit ebenso überfordert, wie er den Rechtsverkehr verunsichert.
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