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German Pages 828 Year 2021
Recht, Sport, Technik und Wirtschaft in mehrdimensionalen Perspektiven Liber amicorum für Klaus Vieweg zum 70. Geburtstag
Herausgegeben von
Sigrid Lorz, Thomas Regenfus, Anne Röthel und Hans-Dieter Spengler
Duncker & Humblot . Berlin
Recht, Sport, Technik und Wirtschaft in mehrdimensionalen Perspektiven Liber amicorum für Klaus Vieweg zum 70. Geburtstag
Recht, Sport, Technik und Wirtschaft in mehrdimensionalen Perspektiven Liber amicorum für Klaus Vieweg zum 70. Geburtstag
Herausgegeben von
Sigrid Lorz, Thomas Regenfus, Anne Röthel und Hans-Dieter Spengler
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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Vorwort Klaus Vieweg kann am 5. Mai 2021 auf siebzig Lebensjahre zurückblicken. Mit dieser Festschrift möchten ihm Weggefährten, Kolleginnen und Kollegen sowie seine Schülerinnen und Schüler ihre Ehre und Anerkennung erweisen. Klaus Vieweg wurde in Minden in Westfalen geboren, und Westfalen ist ihm auch im weiteren Verlauf seines Lebens eine Heimat geblieben. Vieles begann dann auch dort: Klaus Vieweg studierte an der Universität Bielefeld Rechtswissenschaften und anschließend an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster Rechtswissenschaften und Sport. Dort fand er in Professor Dr. Dr. Rudolf Lukes seinen akademischen Lehrer und mit der Juristin Cornelia Maas-Vieweg sein privates Glück. Nun folgten prägende und lehrreiche Jahre. Im Jahr 1981 wurde er promoviert mit einer Schrift zu „Atomrecht und technische Normung“; es entstanden der JuS-Auslandsstudienführer zusammen mit Professor Dr. Bernhard Großfeld und eine 500 Seiten umfassende Studie zu „Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen“ in europäischen Rechtsordnungen zusammen mit Rudolf Lukes und Ernst Hauck. Forschungsaufenthalte in London, Dublin, Utrecht und Kopenhagen ergänzten die akademische Ausbildung, prägend blieb auch die Referendarstation an der Deutsch-Mexikanischen Industrie- und Handelskammer in Mexiko City. Die weit verzweigte Forschungstätigkeit von Rudolf Lukes ebnete den Weg für einen rechtswissenschaftlichen Unkonventionalismus, der das Werk und Wirken von Klaus Vieweg von Anfang an kennzeichnen sollte. Genauso wie Rudolf Lukes ein Verständnis von Wirtschaftsrecht entwickelte, bei dem herkömmliche Fächergrenzen wie diejenige zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht zurückgetreten sind, bereitete Klaus Vieweg den Weg für die Emanzipation des Technikrechts und des Sportrechts. Dass heute beide Rechtsbereiche gemeinhin selbstverständlich als eigenständige Materien anerkannt sind und ihren festen Standort im Konzert der Rechtswissenschaft haben, zählt zu den wesentlichen Leistungen des wissenschaftlichen Wirkens von Klaus Vieweg. So ist es für die Rechtswissenschaft und vor allem für das Sportrecht eine glückliche Fügung, dass sich der verehrte Jubilar – dem auch eine Karriere als Turner und dank seiner Trainer-A-Lizenz für Kunstturnen auch als Turntrainer offen gestanden hätte – letztlich dann doch gegen den Sport und für das Recht entschied. Seine bis heute Maßstab setzende und viel rezipierte Habilitationsschrift „Normsetzung und -anwendung deutscher und internationaler Verbände“ kann als Anfangspunkt einer Entwicklung gelten, deren Bedeutung für viele aus der Zeit wahrscheinlich nicht vorhersehbar war. Im Jahr 1990 war die Zeit jedenfalls noch nicht reif für eine Lehrbefugnis für Technikrecht oder Sportrecht. Aber Klaus Vieweg erhielt eine für damalige Verhältnisse ungewöhnlich weite venia legendi: für
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Vorwort
die Fächer Bürgerliches Recht, Handels- und Gesellschaftsrecht, deutsches und internationales Wirtschaftsrecht und Zivilprozessrecht. Nun ging alles ganz schnell. Nach Lehrstuhlvertretungen in Marburg, Berlin (Freie Universität) und Bielefeld erhielt Klaus Vieweg binnen kurzer Zeit einen Ruf auf eine Professur an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, bevor er – nach einem Berufungsvortrag zu Datenschutz und Arbeitsrecht – den Ruf der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg annahm. Von 1991 bis 2016 sollte er der Universität und der Fakultät verbunden bleiben als Inhaber des neu geschaffenen Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Rechtsinformatik, Technik- und Wirtschaftsrecht sowie als Direktor des ebenfalls neu gegründeten Instituts für Recht und Technik. Im Jahr 2002 wurde die von Klaus Vieweg ins Leben gerufene Forschungsstelle für Deutsches und Internationales Sportrecht errichtet und ebenfalls dem Institut angegliedert. Einen Ruf an die Universität Dresden lehnte er ab. Lehrstuhl, Institut und Forschungsstelle sollten ihm fortan zur Herzensangelegenheit werden. Die Räume im Dachgeschoss der verwunschen gelegenen Villa in der Hindenburgstraße sind unter seiner Leitung von Anfang an zu einem Ort der lebhaften Begegnung und des Miteinanders einer stets großen Zahl an Hilfskräften sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern geworden. Manche mögen noch heute das Bild vom „Taubenschlag“ vor Augen haben, so viele Personen gingen ständig ein und aus. Es werden im Laufe der Zeit rund einhundert Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gewesen sein, die schon zu Studienzeiten oder auch erst nach ihrem Examen dem Institut verbunden waren. Und so steil die Treppe in die Institutsräume im Dachgeschoss auf den letzten Metern auch war – das Miteinander der immer größer werdenden Gruppe der „IRuTis“ sollte nicht von Hierarchien geprägt sein. Auch mit anderen Konventionen brach Klaus Vieweg vor der Zeit: Einer Quote für ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis hat es nie bedurft. Ein anderes Anliegen war ihm das Persönliche: Bis heute erfreut sich Klaus Vieweg an den privaten Lebenswegen und nimmt lebhaften Anteil an allen Höhen und Tiefen. Privates und Berufliches gingen bruchlos ineinander über, und aus der Überfülle seiner beruflichen Kontakte, sei es in die Wissenschaft oder in die Praxis, national oder international, in Kreisen der Technik, des Sports oder der Kunst, entspann sich ein immer dichter werdendes Netzwerk, das er aufmerksam pflegte. Nicht nur die Türen des Instituts, auch die seines kunstsinnigen Hauses waren weit geöffnet für seine hieraus erwachsenen langjährigen Freundschaften. Die legendären Sommerfeste, die er zusammen mit seiner zu früh aus dem Leben gerissenen Frau für den immer größer werdenden Kreis an Freunden, Kollegen und Mitarbeitern ausrichtete, werden unvergesslich bleiben. Genauso großzügig und weit verzweigt war auch sein Engagement in Gremien und Arbeitskreisen. Die Zahl der von Klaus Vieweg übernommenen Mitgliedschaften und ebenso die Zahl der von ihm veranstalteten Tagungen legen Zeugnis ab über einen Wissenschaftler, der sich zutiefst als ein Vermittler versteht. So entstand auf seine Initiative
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nicht nur die International Association of Sports Law (IASL), deren Honorary Vice President er heute ist. Er ist auch Vizepräsident der Deutschen Vereinigung für Sportrecht e. V. (DVSR) und Geschäftsführer der Forschungsstelle für Deutsches und Internationales Sportrecht. Spätestens damit ist Erlangen auf der Weltkarte des Sportrechts ein bekannter Ort geworden. Und auch die Mitgliedschaft in der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (acatech) ist ihm ein wichtiges Ehrenamt geworden. Auch in seinem didaktischen Wirken zog es Klaus Vieweg zielsicher an die Grenzen des Herkömmlichen. Schon früh erkannte er die Möglichkeiten, die sich aus der Verknüpfung von klassischem gedrucktem Lehrbuch und ergänzenden digitalen Formaten ergeben könnten. Mit der von ihm entworfenen Sachenrechtstrilogie aus Lehrbuch, Fallsammlung und Examinatorium hat er sich nachhaltig in die juristische Lehrbuchliteratur eingeschrieben. Als Mitherausgeber des JuS-Auslandsstudienführers lag es nahe, dass er seine Internationalität auch in die Erlanger Fakultät einbrachte. Dem Amt des „Erasmus“- bzw. „Sokrates“-Beauftragten für die Partnerfakultäten in Großbritannien, Irland, Polen, Portugal und Spanien hauchte er viel Tatkraft und Interesse ein, nicht nur die Fakultät, sondern auch zahllose Jahrgänge von Gaststudierenden, insbesondere aus Nottingham und Cork, sind ihm für sein vielfältiges Engagement verbunden. Umgekehrt bereitete es ihm immer wieder Freude, an den Universitäten Nottingham, Cork und vor allem am Trinity College Dublin zu unterrichten. Wichtig und prägend für die Fakultät war schließlich das Wirken von Klaus Vieweg als Dekan in den Jahren 1999 bis 2001, in denen er sich mit hohem persönlichen Einsatz um die Berufung namhafter Wissenschaftler auf vakante Lehrstühle bemühte. Mit dem ihm eigenen Gespür erkannte er frühzeitig Gefahren für die Freiheit von Forschung und Lehre, die von beabsichtigten Entscheidungen auf landespolitischer oder inneruniversitärer Ebene auszugehen drohten, und setzte sich stets offensiv für die Interessen der Fakultät ein. Mit dieser Festschrift soll das Werk eines breit interessierten Wissenschaftlers geehrt werden, ein Werk, das geprägt ist von Interaktion und Interdisziplinarität. Vielen Forschungsprojekten von Klaus Vieweg ist eine ungebrochene Begeisterung für Neues und ein nicht nachlassendes Gespür für innovative und weiterführende Fragestellungen eingeschrieben. Entsprechend weit erstreckt sich sein wissenschaftliches Œuvre in der Forschungslandschaft. Auch wenn das Technikrecht und das Sportrecht am dichtesten mit seinem Namen verbunden sind: Klaus Vieweg ist der Breite seiner venia legendi auch im Weiteren verbunden geblieben. Er forschte und publizierte u. a. im Nachbarrecht und im Wirtschaftsrecht, im Vereinsrecht und im Stiftungsrecht, zur Schiedsgerichtsbarkeit und zum Kartellrecht, im Deliktsrecht und im Produkthaftungsrecht, und auch diese Liste ist nicht vollständig. Darüber hinaus galt sein Interesse der Realität des Rechts und überhaupt den methodischen Grundlagen des Rechts. Diese breite Palette an eigenen Forschungsfeldern, lebensweltlichen Interessen und den vielfältigen seinem Œuvre ablesbaren Verknüpfungen der Rechtswissenschaft zur Technik, zur Wirtschaft, zum Sport und zur Kunst und zu den diese Lebensfelder thematisierenden Wissenschaften ließ sich nur annähernd einfangen durch
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diese Festschrift aus dem großen Kreis seiner Weggefährten und Kollegen sowie seiner Mitarbeiter und Schüler. Von Herzen gratulieren wir mit Klaus Vieweg einem einflussreichen Rechtswissenschaftler, einem weitsichtigen Mentor und einem engagierten Kollegen zu seinem 70. Geburtstag. Wir sind ihm für seinen kritischen Sachverstand und seine Liebenswürdigkeit dankbar und wünschen ihm eine weiterhin ungebrochene Faszination für seine juristischen und nicht-juristischen Lebensthemen. Sigrid Lorz, Thomas Regenfus, Anne Röthel und Hans-Dieter Spengler
Danksagung Die Herausgeber danken – auch im Namen aller Verfasser – dem Verlag Duncker & Humblot, namentlich dem geschäftsführenden Gesellschafter Dr. Florian Simon, LL. M., herzlich für die spontane Bereitschaft, diese Festschrift für Klaus Vieweg zu publizieren. Ohne die großzügige verlagsseitige Unterstützung wäre das Erscheinen dieser Festschrift in dieser Form schwerlich denkbar gewesen. Der Verlag Duncker & Humblot hat das wissenschaftliche Werk von Klaus Vieweg von früh auf begleitet. Nach der Dissertationsschrift „Atomrecht und technische Normung“, die im Jahr 1981 in den „Schriften zum Öffentlichen Recht“ erschienen ist, folgte im Jahr 1991 die vielzitierte Habilitationsschrift „Normsetzung und -anwendung deutscher und internationaler Verbände“ in den „Schriften zum Bürgerlichen Recht“. Mit der Gründung der Schriftenreihe „Beiträge zum Sportrecht“ im Jahr 1998 wurde die Verbindung des Verlags Duncker & Humblot zum Jubilar intensiviert. In der Reihe sind seither neben zahlreichen Dissertationen z. B. die acht Tagungsbände zu den Interuniversitären Sportrechtstagungen, die Ergebnisse der Studie zum Sportrecht in den Mitgliedstaaten der EU (Legal Comparison and the Harmonisation of Doping Rules) und eine Sammlung sportrechtlicher Abhandlungen des Jubilars erschienen. Eine wesentliche Basis dieser engen Zusammenarbeit mag dabei in dem guten persönlichen Verhältnis zwischen dem Jubilar und Dr. Florian Simon, LL. M., liegen, der an der Universität Erlangen-Nürnberg Rechtswissenschaften studiert und ein reges Interesse für das Sportrecht entwickelt hat. Möge die Kooperation noch lange andauern und fruchtbar sein! Großen Dank sprechen die Herausgeber auch Herrn Dr. Frank Schlöffel aus, der als Lektor die Entstehung dieser Festschrift betreut hat. Die stets unkomplizierte Korrespondenz und die zügige Abstimmung in allen formalen und inhaltlichen Fragen haben maßgeblich zum reibungslosen Entstehen der Festschrift beigetragen.
Inhaltsverzeichnis Stefan Arnold Geltung, Gerechtigkeit und Fairness in der Praxis des Rechts. Rechtsphilosophische Überlegungen am Beispiel des Sportrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Susanne Beck KI als Herausforderung für individuelle (strafrechtliche) Verantwortlichkeit . . .
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Georg Caspers Vorsatzhaftung für den Personenschaden im Betrieb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Werner F. Ebke Informationsrechte bei Wechsel des Abschlussprüfers nach § 320 Abs. 4 HGB und Art. 18 EU-APrVO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Sebastian Egger Verbandsregeln und europäisches Kartellrecht. Eine Untersuchung am Beispiel des TPO-Verbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Michael Fischer Die einkommensteuerrechtliche Behandlung von Veräußerungsverlusten aus Vollrisikozertifikaten im Privatvermögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Jutta Förster Probleme bei der Einkommensbesteuerung von Sportlern . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Maximilian Forschner Über Haltung und Zivilcourage in bewegten Zeiten. Ein philosophisches Plädoyer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Heinz Gerhäuser Digitalisierung. Wegbereiter für technischen, wirtschaftlichen und sozialen Paradigmenwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Stefan Grundmann Normschöpfung und Europäisches Vertragsrecht. Eine Vogelflugperspektive auf die Hauptentwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Barbara Grunewald Die Grenzen des sogenannten Abspaltungsverbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Jörg Gundel Die Anerkennung der Staatshaftung für verfassungswidrige Gesetzgebung in Frankreich. Ein Vorbild für das deutsche Staatshaftungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . 169
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Martin Gutzeit Befristung von Arbeitsverhältnissen mit Fußballspielern. Ruhe nach oder vor dem Sturm? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Johannes Hager Die Beweislastverteilung im Arzthaftungsrecht. Zum voll beherrschbaren Bereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Ernst Hauck Neuere Entwicklungen wettbewerblicher Unterlassungsansprüche gegen Krankenkassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Peter W. Heermann Der CAS und das europäische Sportkartellrecht – noch deutlich entfernt von der juristischen „Normalform“! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Sven Hölscheidt Sport in der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Niloufar Hoevels Anerkennung einer iranischen Ehescheidung in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . 243 Jochen Hoffmann Amateursport und Kartellrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Matthias Jahn Vertrauliche Andeutungen eines Mitschuldigen an einer „Gesetzesanwendung, die die Gesetzesumgehung nur mühsam kaschiert“, oder: Sind wir nicht alle Primaten in Grimms Entscheidungsbäumchen? Ein Feuilleton aus stets aktuellem Anlass . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Nikolaos K. Klamaris Die Anfechtung der Entscheidungen der Schiedsgerichte nach dem griechischen Zivilprozessrecht. (Ein kurzer Überblick mit Hinweisen auch auf ausgewählte Rechtsprechung des Areopags) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Rüdiger Krause Auf dem Weg zu einem Beschäftigtendatenschutzgesetz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Hans Kudlich Ein Fehleinkauf. Strafbarkeitsrisiken bei der Verpflichtung eines Profi-Fußballspielers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Hans Lenk Values in Top-level Sports . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Saskia Lettmaier Die Veröffentlichung von Bildnissen des Kindes durch die sorgeberechtigten Eltern: Rechtsprobleme des „Sharenting“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Christoph Link Der „christliche Staat“, Friedrich Julius Stahl und die Preußische Verfassung von 1850 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373
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Sigrid Lorz Schiffe und Staatenimmunität. Ein Beitrag zur Gerichtsbarkeit über ausländische Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 Madeleine Martinek Warenaustausch zwischen China und Deutschland. Die europäische CE-Kennzeichnung und das chinesische CCC-Verfahren im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . 395 Michael Martinek Vorschlag zur teleologischen Reduktion des Restschadensersatzanspruchs nach § 852 S. 1 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 Bernd Mertens Das Konzept eines Allgemeinen Teils in der Zivilrechtsgesetzgebung aus methodengeschichtlicher Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 James A. R. Nafziger The Essential Role of National Identity in International Sports Competition . . . 441 Martin Nolte Sportsponsoring während Corona. Zum Schicksal von Verträgen bei Verschiebung und Absage von Sportevents . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 Thomas Regenfus Gedanken zum Mitgliedsbeitrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 Christoph Röhl Zum Nachweis der Erbenstellung gegenüber dem Grundbuchamt . . . . . . . . . . . 473 Mathias Rohe Recht in der Einwanderungsgesellschaft. Überlegungen zu interkultureller Rechtsvermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491 Lena Rudkowski COVID-19 als Risiko in der Sportveranstaltungsausfallversicherung . . . . . . . . . 499 Stefan Chr. Saar Liebe ohne Kabale. Ein Adelskonkubinat im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . 509 Peter Salje Netzbetreiber-Pflichtverletzung und Haftung im Anschlussverhältnis. Zugleich ein Beitrag zur subjektiven Reichweite von Netzanschlussnutzungsverhältnissen 523 Urs Scherrer Die Veränderungen des (Sportrechts-)Lebens durch „COVID-19“ . . . . . . . . . . . 537 Martin Schimke Ausländerklauseln im Sport. Eine Bestandsaufnahme am Beispiel des Basketballs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 549 Martin Schulte Staat und Technik. Prolegomena zur Evolution von Recht und Politik im Zeichen der Digitalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565
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Robert Sieghörtner Der Griff der Eingriffsnormen nach dem Internationalen Familienrecht . . . . . . . 577 Hans-Dieter Spengler Ein kubanischer Sklavenkaufvertrag von 1811 aus dem Photoarchiv von Klaus Vieweg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589 Jürgen Stamm Die Rückführung der verbotenen Eigenmacht und der Selbsthilfe des Besitzers in das Gefüge des Bürgerlichen Gesetzbuchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 603 Udo Steiner und Anne Müller Das Bundesverfassungsgericht und der Sport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 621 Franz Steinle Verkehrsunfall eines Trainers infolge Übermüdung und seine rechtlichen Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 631 Clemens Stewing Verstößt die unterschiedliche Auslegung der Bußgeldvorschriften für Kartellverstöße durch Bundeskartellamt und Rechtsprechung gegen den verfassungsrechtlichen Anspruch auf rechtliches Gehör? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 645 Rudolf Streinz EGMR und Sport. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Rechtsfragen aus dem Bereich des Sports . . . . . . . . . . . . . . 655 Franz Streng Schusswaffen, Sport und Recht. Eine kriminologisch-rechtspolitische Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 669 Andrzej J. Szwarc Der sog. Sportbetrug als Straftat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 685 Christoph Vedder Die UNESCO-Konvention gegen Doping im Sport. Die Staaten als Garanten des Sportrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 699 Max Vollkommer Formstrenge, Formerleichterung und Heilung von Formmängeln, dargestellt am Beispiel von Unterschriftsmängeln bei bestimmenden Schriftsätzen im Zivil719 prozess. Drei Fälle und ihre Lösung aus der Sicht des BGH und des BVerfG Lothar Vollmer Der Europäische Verein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 739 Gert G. Wagner Kann das Anti-Doping-Gesetz Doping beenden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 751 Wolf-Dietrich Walker Die Rechtsfolgen eines unwirksamen Zwangsabstiegs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 767
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Heinrich de Wall Die Coronakrise und das öffentliche Recht. Anlass zum Nachdenken über Begriffe und Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 777 Stephan Weth Der Profifußballspieler – ein „normaler“ Arbeitnehmer? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 789 Reinhold Zippelius Wege und Irrwege zur Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 799 Schriftenverzeichnis von Klaus Vieweg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 811 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 825
Geltung, Gerechtigkeit und Fairness in der Praxis des Rechts1 Rechtsphilosophische Überlegungen am Beispiel des Sportrechts Von Stefan Arnold I. Einführung Eine der grundlegenden rechtsphilosophischen Fragen betrifft das Problem der Geltung des Rechts.2 Die Geltung des Rechts, so die These der folgenden Zeilen, entsteht in einem von Strukturen wechselseitiger Anerkennung geprägten und ständig voranschreitenden diskursiven Prozess, in dem die Gesetztheit des Rechts (also seine Positivität) ebenso integriert ist wie faktisch-empirische Elemente (die Faktizität des Rechts) und das Ideal der Gerechtigkeit (die ideale Dimension des Rechts). Dabei wird zugleich gezeigt, dass im sportrechtlichen Diskurs Fairness als Tugend eine ähnliche Funktion erfüllt wie im allgemeinen rechtlichen Diskurs Gerechtigkeit als Tugend. Auch Klaus Vieweg hat den Begriff der Geltung gelegentlich fruchtbar werden lassen – etwa für die Frage der verbandsautonomen Normsetzung.3 Dabei nahm er in den Blick, wie der Staat „privater Normsetzung Geltung – rechtliche Wirkung – verschafft“. Wenn Vieweg dabei Geltung als rechtliche Wirkung erklärt, spricht er implizit wichtige Paradigmen der Geltung an: Staatliche Autorität, Legitimität und Positivität. Ähnlich liegt es, wenn Vieweg mit Blick auf § 242 BGB davon spricht, die Norm verschaffe den Mindestanforderungen an ein rechtsstaatliches Verfahren „Geltung“.4 Vor diesem Hintergrund werde ich zunächst erarbeiten, worin das Problem der Geltung des Rechts besteht und wie sich Geltung und Normativität des Rechts zueinander verhalten. Daran anschließend nehme ich die rechtliche Praxis in den Blick, in der die Geltung des Rechts entsteht. In dieser Praxis werde ich Strategien der Geltungsbegründung identifizieren, die drei „klassischen“ rechtsphilosophischen Positionen zum Begriff des Rechts und seiner Geltung entsprechen. Abschließend werde ich zeigen, dass Gerechtigkeit als Tugend eine zentrale Bedeutung für die 1
Mein Dank gilt Nils Buchholz und Norman Weitemeier für viele hilfreiche Anregungen. Llompart, Dichotomisierung in der Theorie und Philosophie des Rechts, Berlin 1993, S. 179 ff.; Überblick bei Wittreck, Geltung und Anerkennung von Recht, Baden-Baden 2014, S. 17 ff. 3 Vieweg, in: Steiner/Walker (Hrsg.), Von „Sport und Recht“ zu „Faszination Sportrecht“, Ausgewählte Schriften von Klaus Vieweg, Berlin 2016, S. 89 (90). 4 Vieweg (Fn. 3), S. 425 (439 ff.). 2
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Stefan Arnold
Rechtsgeltung zukommt und dabei eine Parallele zur Fairness als Tugend im Sport (und im Sportrecht) aufzeigen. II. Geltung und Normativität des Rechts Der Begriff der Geltung ist höchst facettenreich. Im juristischen Sprachgebrauch wird das Wort „Geltung“ in vielen Kontexten verwendet. So sprechen wir von der zeitlichen oder räumlichen Geltung von Rechtsnormen: Das Kaufrecht des deutschen BGB gilt beispielsweise nicht unbedingt, wenn eine Mailänder Taschenmanufaktur Taschen an eine Kölner Modeboutique verkauft. In zeitlicher Hinsicht gelten kaum noch Normen des BGB in seiner ursprünglichen Fassung vom 1. 1. 1900. Auch beim sachlichen Anwendungsbereich von Kollisionsnormen ist deren Geltung in Rede: Die Normen der Rom II – VO gelten für außervertragliche Schuldverhältnisse, für vertragliche Schuldverhältnisse dagegen diejenigen der Rom I – VO. Der Begriff der Geltung betrifft auch Einzelheiten zur In-Kraft-Setzung von Normen nach den jeweiligen Normsetzungsverfahren. Um Einzelheiten solcher Fragen, die unter dem Begriff „Geltung“ erörtert werden, soll es im Folgenden nicht gehen, sondern um die grundlegende rechtsphilosophische Frage, die jedenfalls heute mit dem Begriff der Geltung verbunden ist: Die Frage nach der Normativität des Rechts. Auch Normativität ist zugegebenermaßen ein Wort, das in vielerlei Bedeutung verwendet und verstanden werden kann.5 Wenn im Folgenden von Normativität die Rede ist, sind nicht rein subjektive Vorstellungen von der Sinnhaftigkeit oder Verbindlichkeit einzelner Rechtsnormen oder auch eines gesamten Rechtssystems gemeint, sondern die (objektive) Rationalität des Rechts. Normativität wird also als die Eigenschaft des Rechts verstanden, die das Recht rational erscheinen lässt. Rationales Recht basiert auf vernünftigen Gründen und ist somit für seine Adressatinnen befolgungswürdig. Es dient in dieser Form dazu, Menschen in ihren Unternehmungen rational zu leiten.6 Die funktionelle Aufgabe des Rechts und seine Geltung sind damit verknüpft: Kommt dem Recht keine Normativität zu, fehlt es also an der rationalen Begründbarkeit, so kommt ihm gleichfalls weder Geltung zu, noch kann es als nachvollziehbare Richtschnur die Adressatinnen in ihrem Handeln leiten. Die Normativität des Rechts verstehe ich also als notwendige Bedingung seiner Geltung. Wenn in der Rechtsphilosophie über das Recht oder seine Geltung verhandelt wird, werden, wenn man diesem Verständnis folgt, normative Fragen diskutiert. Der Begriff der Rechtsgeltung ist wohl sogar der Schlüsselbegriff, unter dem in der Rechtsphilosophie jedenfalls seit 5 Hilgendorf, in: Mahlmann (Hrsg.), FS für Hubert Rottleuthner; Green, The Normativity of Law: What is the Problem?, abrufbar unter https://www.uvic.ca/victoria-colloquium/assets/ docs/Green_Normativity.pdf, zuletzt abgerufen am 31. 8. 2020; Enoch, Oxford Studies in the Philsosophy of Law 1 (2011), 1 (2); Stemmer, Normativität, Berlin/New York 2008, S. 12. Kuch spricht treffend von der „notorischen ,Ungriffigkeit‘“ des Begriffs, s. Kuch, Die Autorität des Rechts, Tübingen 2016, S. 149. 6 Hruschka, Das Verstehen von Rechtstexten, München 1972, S. 64 f.; vgl. auch Wittreck (Fn. 2), S. 35 ff.
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etwa 100 Jahren die Normativität des Rechts verhandelt wird. Der Zusammenhang zwischen der Normativität des Rechts und seiner Fähigkeit, Menschen rational zu leiten, zeigt deutlich, dass es bei der Geltungsdiskussion nicht etwa um ein rein akademisches Glasperlenspiel ohne Weltbezug geht. Wenn Recht nicht rational erklärbar ist, wenn ihm keine Normativität zukommt, bleiben nur Fatalismus oder Nihilismus:7 Die Inhalte des Rechts sind dann beliebig, belanglos, brüchig. Recht kann ohne Normativität – und damit ohne Geltung – seine gesellschaftliche Ordnungsfunktion kaum mehr erfüllen. Auch deshalb kann man nur zustimmen, wenn José Llompart formuliert, die Geltungsfrage sei „das Kernproblem der Theorie und Philosophie des Rechts überhaupt“.8 Die Geltungsfrage führt uns zugleich unweigerlich zur Frage nach dem Begriff des Rechts selbst, nach seinen zentralen Eigenschaften und seinen Wirkungen. III. Die Praxis des Rechts als Schlüssel zur Rechtsgeltung 1. Geltung, Praxis und Anerkennung Die folgenden Zeilen nähern sich der Rechtsgeltung aus einer pragmatischen Perspektive, in der die rechtliche Praxis zentral steht. Die Praxis des Rechts ist vom Diskurs unterschiedlicher Akteure geprägt.9 Gesetzgeber, Richterinnen und Beamte – um einige der zentralen Akteure des Rechts zu benennen – stehen in ihren Rechtssetzungen und Rechtsauslegungen in einem stetig fortlaufenden Diskurs, in dem Begründungen in Form von Argumentationen eine entscheidende Rolle spielen. Die Richterin begründet ihr Urteil. Auch für Gesetze finden wir Begründungen der am Gesetzgebungsprozess beteiligten Akteure. Manchmal mag eine Richterin ihr Urteil schlicht durch einen Verweis auf den Wortlaut des Gesetzes begründen, manchmal mit dem Gesetzeszweck, oder auch mit der Sachgerechtigkeit einer Lösung. Immer aber geht es in den Begründungen darum, rechtlichen Positionen Rationalität zu verleihen: Wir wären irritiert, wenn wir in einem Urteil lesen würden, dass der Beklagte zur Schadensersatzzahlung verpflichtet ist, „weil heute Donnerstag ist“. Dem Urteil würde seine Überzeugungskraft fehlen, es wäre in seiner Normativität gefährdet. Hier zeigt sich der normative Charakter der rechtlichen Praxis, in der es um die Verwirklichung rechtlicher Geltungsansprüche geht.10 Dabei spielen in der Praxis des Rechts Anerkennungsstrukturen eine maßgebliche Rolle. Anerkennung ist spätes7
Brandom, in: Hubbs/Lind, Pragmatism, Law, and Language, New York 2014, S. 19 (19 f.). 8 Llompart (Fn. 2), S. 179. 9 Vgl. dazu schon Arnold, Geltung, Diskurs und Rhetorik – Der Geltungsbegriff Joachim Hruschkas im Modus der Anerkennung, JRE 27, Zugleich Gedächtnisschrift für Joachim Hruschka, Berlin 2019, S. 21 (29); Arnold, in: Klippel/Loehnig/Walter (Hrsg.), Grundlagen und Grundfragen des Bürgerlichen Rechts, Bielefeld 2016, S. 5. 10 Zum Folgenden noch ohne Bezugnahme auf die Rechtsgeltung Arnold, in: Klippel/ Loehnig/Walter (Fn. 9), S. 13 ff.; sowie Arnold, MOPP 2017, S. 257 (272).
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tens seit Hegels Phänomenologie des Geistes11 ein Zentralbegriff der praktischen Philosophie.12 Und mit Robert B. Brandoms anspruchsvoller Anerkennungskonzeption können wir die Geltung des Rechts aus der sozialen und zugleich normativen Praxis des rechtlichen Diskurses erklären.13 Das habe ich an anderer Stelle bereits eingehend begründet und beschränke mich hier auf eine knappe Zusammenfassung: Anerkennung lässt sich als normative Einstellung der Akteure des Rechts verstehen.14 Jeder Akteur des Rechts erkennt andere Akteure des Rechts als ihrerseits anerkennende Akteure an und wird seinerseits ebenso anerkannt. Anerkennung hat dabei zwei Komponenten: Autorität und Verantwortung.15 Wer eine Rechtsnorm anwendet, erkennt den Normgeber in seiner Autorität an,16 übernimmt aber zugleich Verantwortung für nachfolgende Rechtsanwendungen. So ist Anerkennung immer zugleich auf die Vergangenheit und auf die Zukunft bezogen.17 Neben der intersubjektiven Anerkennung zwischen Personen erfolgt dabei auch eine Anerkennung des Rechts selbst.18 Diese Konzeption Brandoms muss allerdings durch Gerechtigkeit als Tugend ergänzt werden, damit die Anerkennung in der Praxis des Rechts gelingen kann.19 In der so verstandenen Praxis des Rechts erhält das Recht seine Geltung. Dabei lassen sich im juristischen Diskurs verschiedene Strategien beobachten, mit denen der Geltungsanspruch des Rechts eingelöst werden soll. Im Folgenden werde ich drei dieser Strategien identifizieren, die zentralen rechtsphilosophischen Positionen zum Geltungsbegriff (bzw. zum Rechtsbegriff) entsprechen. 2. Geltung und Positivität Die erste Strategie zur Vermittlung von Geltungsansprüchen besteht in der Berufung auf die Gesetztheit des Rechts, also seine Positivität. Die Positivität des Rechts steht in Begründungen juristischer Urteile oft zentral. Wenn sich Akteure des Rechts auf die Positivität des Rechts berufen, um Geltung zu erzeugen, wenden sie eine besonders naheliegende Strategie an. In der rechtstheoretischen Debatte wird die Geltung des Rechts oft sogar ausschließlich auf seine Positivität gestützt oder fällt sogar 11 Hegel entfaltet seinen Anerkennungsbegriff im Kapitel über das Selbstbewusstsein, vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes (1806), in: Moldenhauer/Michel (Hrsg.), Werke, Band 3, Frankfurt am Main 1996. 12 Im Überblick dazu Iser, in: Zalta (Hrsg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy, 2013, abrufbar unter http://plato.stanford.edu/archives/fall2013/entries/recognition/, zuletzt abgerufen am 1. 9. 2020. S. auch Honneth, DZPh 2008, 875 f.; Bertram, DZPh 2008, 877 ff. 13 Siehe insbes. Brandom, Eur. J. Philos. 1999, S. 164 ff.; Brandom (Fn. 7), S. 19; nur angedeutet dagegen in seinem Hauptwerk: Brandom, Making It Explicit. Reasoning, Representing, and Discursive Commitment, Cambridge, Massachusetts 1994, S. 130. 14 Brandom, Eur. J. Philos. 1999, S. 169 ff. 15 Brandom, Eur. J. Philos. 1999, S. 172 f.; Brandom (Fn. 7), S. 19 (28 ff.). 16 Brandom, Eur. J. Philos. 1999, S. 180 f.; Brandom (Fn. 7), S. 19 (32 f.). 17 Brandom, Eur. J. Philos. 1999, S. 180 f.; Brandom (Fn. 7), S. 19 (32 f.). 18 Brandom, Eur. J. Philos. 1999, S. 169 ff.; Brandom (Fn. 7), S. 19 (28 ff.). 19 Arnold, MOPP 2017, S. 257 (275 ff.).
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mit ihr zusammen – nämlich von Vertretern des Rechtspositivismus. Trotz aller Ausdifferenzierungen lässt sich wohl die Trennungsthese verkürzt als allgemeines Kennzeichen positivistischer Rechtstheorien20 bezeichnen. Der Trennungsthese zufolge besteht zwischen Recht und Moral keine notwendige Verbindung. Der Positivismus fokussiert vielmehr darauf, dass Rechtsnormen von Institutionen in Geltung gesetzt werden, die zur Setzung ihrerseits durch hierarchisch übergeordnete Institutionen legitimiert sind. Das lässt sich gut anhand des Rechtspositivismus von Hans Kelsen veranschaulichen. In Hans Kelsens „Reiner Rechtslehre“ geht es um die „Reinheit“ des Rechts, das von außerrechtlichen Elementen – wie Religion, Politik oder Moral – möglichst unberührt erklärt werden soll. Dementsprechend sucht er auch den Geltungsgrund jeder Norm in der Geltung anderer Normen.21 Aber wie lässt sich die Geltung der Verfassung als hierarchisch höchster Norm begründen? Kelsen begegnet dem infiniten Regress durch seine berühmte „Grundnorm“: Sie sei denklogisch als letzter Grund für die Verbindlichkeit des positiven Rechts vorauszusetzen.22 Kelsen erklärt Geltung also zum Modus der Existenz von Recht, die ihm allein durch seine Positivität zukommt. Wenn Rechtsnormen ordnungsgemäß im Stufenbau der Rechtsordnung gesetzt sind, existieren sie als Rechtsnormen und das ist ihre Geltung– und zwar grundsätzlich unabhängig von ihrem Inhalt oder auch von ihrer Anerkennung in der Rechtsgemeinschaft. Kelsen formuliert das ganz deutlich: „Eine Rechtsnorm gilt nicht darum, weil sie einen bestimmten Inhalt hat …, sondern darum, weil sie in einer bestimmten … Weise erzeugt ist. … Daher kann jeder beliebige Inhalt Recht sein.“23 Auch im Sportrecht werden Geltungsansprüche unter Berufung auf die Positivität des Sportrechts legitimiert. Mit dieser Strategie beginnt etwa Klaus Vieweg, wenn er sich mit der Geltung von Fairness und fairplay im Sport befasst: Er sucht nach positiven Rechtsgrundlagen und deren jeweiligen Geltungsansprüchen. 24 Allerdings sind Fairness25 und fairplay keine rules sondern principles im Sinne der Unterscheidung Dworkins.26 Und sie lassen sich auch nicht – wie das Prinzip von Treu und Glauben im BGB – aus einer klar identifizierbaren einzelnen Rechtsnorm (wie § 242 BGB) herleiten. Ihre Positivität folgt, wie Klaus Vieweg gezeigt hat, allenfalls aus einem Zusammenspiel unterschiedlicher Rechtsgrundlagen.27 Vielleicht muss das positive Sportrecht sogar verlassen werden, um die Geltung von Fairness und 20
Dazu im Überblick https://plato.stanford.edu/entries/legal-positivism/, zuletzt abgerufen am 1. 9. 2020. 21 Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., Wien 1960, S. 196. 22 Zur Kritik etwa Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, 3. Aufl. der Studienausgabe, Freiburg 2011, S. 154 ff. 23 Kelsen (Fn. 21), S. 200 f. 24 Vieweg (Fn. 3), S. 425 (439 ff.). 25 Zur fairness vgl. auch Morgenroth, ZStV 2013, 132. 26 Dworkin, Taking rights seriously, 6. Aufl., London 1991, S. 22 ff.; dazu auch Alexy (Fn. 22), S. 119 f. 27 Vieweg (Fn. 3) S. 619 (627) =Vieweg/Staschik, SpuRt 2013, 227 ff.
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fairplay als umfassendes Prinzip des Sportrechts zu erklären. Es gibt gute Gründe, Recht und insbesondere Rechtsprinzipien nicht allein wegen ihrer Positivität Geltung zuzuschreiben.28 Das kann ich hier nicht umfassend begründen, sondern nur auf einige zentrale Punkte hinweisen: Zu unbestimmt, mehrdeutig und lückenhaft ist gesetztes Recht, zu wenig kann die Positivität erklären, ohne auf faktische, vorpositive Aspekte zurückgreifen zu müssen,29 zu stark wäre die gesellschaftliche Ordnungsaufgabe des Rechts ohne Einbeziehung auch einer idealen Dimension gefährdet. 3. Geltung und Faktizität Im juristischen Diskurs begegnet auch deshalb eine zweite Strategie der Geltungserzeugung: Geltung wird auch durch faktische, vorpositive Elemente vermittelt. Geltung verlangt nach Faktizität, und Faktizität vermittelt Geltung.30 Wenn Recht sozial wirksam sein soll – ein Aspekt, der auch in Klaus Viewegs Rede von der „Geltung“ anklingt –, muss Recht gelebt, befolgt und notfalls erzwungen werden. Diese Strategie der Geltungserzeugung liegt der von Austin und Hobbes vertretenen Imperativtheorie des Rechts zugrunde.31 Und sie steht auch im Rechtsrealismus ganz im Vordergrund.32 Die Rechtsrealisten konzentrieren sich auf die faktischen Wirkungen des Rechts, seine sozialen oder ökonomischen Effekte. Die berühmte Definition des Rechts von Oliver Wendell Holmes bringt diese Fokussierung auf den Punkt: „The prophecies of what the courts will do in fact, and nothing more pretentious, is what I mean by the Law“.33 Die Faktizität des Rechts zeigt sich aber nicht nur in dem, was Richterinnen tun, sondern auch in dem Verhalten der Menschen überhaupt: Wir richten unser Verhalten nach dem Recht aus – nicht alle Menschen und nicht in allem, was wir tun, aber doch die meisten Menschen in den meisten Fällen. Wir erkennen das Recht also an. Das liegt freilich auch an den Sanktionen des Rechts – ein weiteres empirisches Faktum. Sanktionen tragen ganz entscheidend dazu bei, den Geltungsanspruch des Rechts einzulösen. Auch die Geltung von Spielregeln lässt sich faktisch-empirisch begründen: Spielregeln gelten, weil sich Spielerinnen und Spieler im Großen und Ganzen an sie halten oder aber ihre Verletzung 28 Arnold, JRE 27 (2019), S. 21 (28); näher auch schon Arnold, in: Klippel/Loehnig/Walter (Fn. 9), S. 5; Arnold, MOPP 2017, S. 257. 29 Dazu etwa Alexy (Fn. 22), S. 107 sowie mit Fokus auf die Verfassungsgeltung Wittreck (Fn. 2), S. 19 ff. 30 Dazu, dass man darin keinen unzulässigen Sein-Sollens-Schluss sehen muss (und schon gar keinen naturalistischen Fehlschluss), s. Augsberg, ARSP 94 (2008), 461. 31 Hobbes, Leviathan or The Matter, Forme and Power of a Commonwealth Ecclesiasticall and Civil, London 1651, S. 136 f.; Austin, Lectures on Jurisprudence or the Philosophy of Positive Law, 5. Ed.v. R. Campbell, Bd. I, London 1885, S. 88 ff. 32 Vgl. für den skandinavischen Rechtsrealismus Olivecrona, Law as Fact, Kopenhagen/ London 1939; Ross, Towards a Realistic Jurisprudence, Darmstadt 1989, S. 39 (39 ff., 78 f.); Lundstedt, Legal Thinking Revised, Stockholm 1956; im Überblick: Spaak, Ratio Juris 30 (2017), 75 ff. 33 Holmes, 10 Harv. L. Rev. (1896), 457 (461).
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sanktioniert wird: Die Fußball-Spielregel „Du sollst das Spielfeld verlassen, wenn Du eine rote Karte bekommst“ gilt in dieser Perspektive eben auch deshalb, weil die meisten Spielerinnen und Spieler den Platz nach Erhalt der roten Karte tatsächlich verlassen; weil sie die Regel also im Großen und Ganzen anerkennen und es bei Normverletzungen zu effektiven Sanktionen kommt – oft durch Mitspielerinnen und Betreuer aus der eigenen Mannschaft – notfalls werden die Spielerinnen eben vom Platz gezerrt. Dagegen gelten positiv gesetzte Spielregeln – man denke an das Gebot körperlosen Spiels beim Basketball – nicht unbedingt, wenn sich niemand mehr an sie hält. Die Geltung verschaffende Kraft der Faktizität zeigt sich auch, wenn sportliche Ereignisse im Rahmen des privaten Deliktsrechts verarbeitet werden. Wenn geltende Spielregeln gebrochen werden und es zu Verletzungen kommt, kommen deliktische Schadensersatzansprüche in Betracht. Auch die Geltung solcher Ansprüche kann faktisch-empirisch untermauert sein. So liegt es, wenn sich Gerichte auf Tatsachenentscheidungen von Schiedsrichterinnen und Schiedsrichtern stützen – also Entscheidungen, die unmittelbar an eine Spiel- oder Wettkampfsituation anschließen und die nicht oder nur sehr eingeschränkt im Nachhinein korrigiert werden können.34 Durch solche Tatsachenentscheidungen wird der Wettkampfablauf durch rasche Entscheidung gesichert und die Autorität der Schiedsrichter oder Kampfrichterin geschützt.35 Die Tatsachenentscheidung bezieht ihre Geltung also auch aus dem Faktum, dass die Schiedsrichterin eben so und nicht anders entschieden hat. Dieser Geltungsanspruch kann sich im zivilen Deliktsrecht fortsetzen. Ein Beispiel bietet die Entscheidung des OLG Frankfurt vom 14. 11. 2019.36 Die Handballtorfrau einer Jugendmannschaft versuchte, den Sprungwurf der gegnerischen Handballspielerin abzuwehren. Durch den Zusammenprall erlitt die Handballspielerin einen Kreuzbandriss im linken Knie. Der Schiedsrichter erteilte der Handballtorfrau eine rote Karte – allerdings ohne Bericht, so dass sie lediglich für das Spiel selbst gesperrt war. Keiner der Vereine hatte sich gegen die Einschätzung des Schiedsrichters gewehrt. Das OLG Frankfurt verneinte einen Anspruch aus § 823 BGB. Dabei stützte es sich in seiner Begründung entscheidend auf ein Faktum, nämlich darauf, dass der Schiedsrichter lediglich eine rote Karte ohne Bericht verhängt hat. Daher läge kein erheblicher Regelverstoß vor, der die Haftung aus § 823 BGB begründen würde. Denn bei solchen sehe das maßgebliche Sportregelwerk die rote Karte mit Bericht vor. Entscheidend für die Anwendung des § 823 BGB war also die Faktizität der Schiedsrichterentscheidung, die eben lediglich in einer roten Karte ohne Bericht bestand.
34 Näher zum Begriff der Tatsachenentscheidungen auch mit Blick auf verschiedene Arten von Tatsachenentscheidungen (mit oder ohne technische Assistenz, mit verbandsinternen Überprüfungsmöglichkeiten und gegebenenfalls mit Korrektur im Wettkampf) Vieweg (Fn. 3), S. 425 (431 ff.). 35 Eingehend Vieweg (Fn. 3), S. 425 (431 ff.). 36 OLG Frankfurt, VersR 2020, 778.
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4. Geltung, Gerechtigkeit und Fairness Eine weitere Strategie der Geltungserzeugung ist die Berufung auf das Ideal der Gerechtigkeit. Diese Strategie steht nahe bei idealistischen Perspektiven auf das Recht, in denen der Begriff des Rechts oder seine Geltung mit dem Ideal der Gerechtigkeit in Verbindung gebracht wird. Am klarsten wird diese rechtsphilosophische Perspektive erkennbar, wenn es um den Umgang mit gesetzlichem Unrecht geht – eine Frage, die schon Aristoteles erörtert hat37 und die auch etwa in der christlichen Naturrechtslehre zentral stand.38 Recht und Gerechtigkeit können freilich in unterschiedlicher Intensität verbunden gedacht werden. Man kann genügen lassen, dass das Recht bloß den Anspruch auf Gerechtigkeit erhebt.39 Denkbar ist auch, nicht einzelne Rechtsnormen zu betrachten, sondern das jeweilige Rechtssystem in seiner Gesamtheit.40 Auch die Intensität der Verbindung von Recht und Gerechtigkeit kann unterschiedlich stark gedacht werden. Eine nur schwache Verbindung von Recht und Gerechtigkeit finden wir etwa bei Dreier („Minimum an ethischer Rechtfertigung oder Rechtfertigungsfähigkeit“)41 oder Alexy (Recht als Normensystem mit „Anspruch auf Richtigkeit“, bestehend aus Normen, „die nicht extrem ungerecht sind“)42 : Sie binden die Rechtsgeltung nur an ein Mindestniveau materieller Legitimität. Gleiches gilt für die in Deutschland vielleicht berühmteste Geltungstheorie überhaupt, der Geltungstheorie Gustav Radbruchs nach dem zweiten Weltkrieg. Nach der Radbruch’schen Formel kommt positiven Gesetzen dann keine Geltung zu, wenn: „der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, dass das Gesetz als ,unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat“43 (Unerträglichkeitsformel)
oder wenn „die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewusst verleugnet wurde (…) [sodass das Recht] überhaupt der Rechtsnatur [entbehrt].“44 (Verleugnungsformel).
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Näher dazu Arnold, Vertrag und Verteilung, Tübingen 2014, S. 30. Vgl. etwa Augustinus von Hippo, De Civitate Dei, 4,4; Thomas von Aquin, Summa Theologica, Erster Teil des zweiten Teils, quaestio 91, 2. Artikel. Beide Werke sind online in der Bibliothek der Kirchenväter verfügbar: http://www.unifr.ch/bkv/, zuletzt abgerufen am 1. 9. 2020. 39 Hruschka (Fn. 6), S. 64 f. 40 Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, Berlin 1967, S. 117 ff. 41 Dreier, NJW 1986, 890. 42 Alexy (Fn. 22), S. 149 f. 43 Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, abgedruckt in: Dreier/ Paulson, Rechtsphilosophie. Studienausgabe, 1. Aufl., Heidelberg 1999, S. 216. 44 Radbruch (Fn. 43), S. 216. 38
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Eine deutlich stärkere Verbindung von Recht und Gerechtigkeit hat demgegenüber etwa Joachim Hruschka vertreten: Rechtssätze gelten ihm zufolge nur dann, wenn sie auch auf das Ideal der Gerechtigkeit ausgerichtet sind. 45 Das kommt der Etymologie des Wortes „Geltung“ am nächsten, steht doch „gelten“ spätestens seit dem 19. Jahrhundert für etwas Anerkennenswertes, Wertvolles und insofern quer zu der im Rechtspositivismus postulierten inhaltlichen Neutralität der Rechtsgeltung.46 Die ideale Dimension der Geltung zeigt sich im Sportrecht in sportspezifischer Prägung: Man kann die Prinzipien der Fairness und des fairplay als besondere Ausprägungen der Idee der Gerechtigkeit verstehen. Gerechtigkeit und Fairness stehen freilich ohnehin in enger Beziehung zueinander. Nur allzu oft begegnet das Wort fair oder unfair auch im Kontext von Gerechtigkeitsdiskursen. Die Gerechtigkeitstheorie von John Rawls propagiert justice as fairness – so auch der Titel eines wichtigen Essays Rawls‘ über Gerechtigkeit.47 Fairness und fairplay können – als Ausprägung der Gerechtigkeit – auch als äußerste „Grenzen“ fungieren, durch die sich das Verhalten einer Sportlerin trotz seiner äußeren Regelkonformität als regelwidrig brandmarken lässt.48 Und so wie bei der Gerechtigkeit im Allgemeinen gilt auch für Fairness und fairplay: Bestimmte Inhalte oder Forderungen dieser Prinzipien lassen sich nur schwer festmachen: Ihre Konkretisierungen sind immer nur vorläufig und in Abhängigkeit von den jeweils herrschenden Vorstellungen und Rahmenbedingungen möglich. Das fairplay-Prinzip ist zudem ganz wie die Gerechtigkeit aufs Engste mit dem Gleichheitsprinzip verbunden – im fairplay steht die Chancengleichheit im Vordergrund.49 Und ebenso, wie man Gesetze als Ausprägungen bzw. Konkretisierungen der Gerechtigkeit verstehen kann, haben Spielregeln im Sport auch die Umsetzung sportethischer Prinzipien zum Ziel.50 5. Gerechtigkeit und Fairness als Tugenden Die Begründung von Geltungsansprüchen im juristischen Diskurs hat also drei Dimensionen: Die Dimension der Positivität, die Dimension der Faktizität und die Dimension der Idealität. Diese Dimensionen korrelieren mit den drei wichtigsten rechtsphilosophischen Entwürfen vom Begriff und der Geltung des Rechts. Die Praxis des Rechts erzeugt so seine Geltung, indem sie Geltungsansprüche mit der Positivität des Rechts, mittels seiner faktisch-empirischen Dimension, aber auch unter Berufung auf die Gerechtigkeit als Rechtsidee einlöst. Diese Praxis und damit die Geltung des Rechts wird stabilisiert, wenn in den diskursiven Anerkennungsprozes45
Hruschka (Fn. 6), S. 64 ff. Arnold, JRE 27 (2019), S. 21 (22 f.). 47 Rawls, 14 Philosophy and Public Affairs (1985), S. 223 ff. 48 Vieweg (Fn. 3), S. 425 (436). 49 Vieweg (Fn. 3), S. 425 (430). 50 Vieweg (Fn. 3), S. 425 (430).
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sen Gerechtigkeit als Tugend eingeschrieben wird.51 Auch der Sport selbst, so meine These, hat eine spezifische Normativität und Geltung. Sport ist nicht bloß stumpfes Bewegen ohne Sinn, Sport kann uns zu besseren Menschen bilden und sogar als Verhaltenswegweiser fungieren. Diese spezifische Geltung des Sports ist indes auf Fairness als Tugend angewiesen. Das soll im Folgenden durch eine Gegenüberstellung von Gerechtigkeit als Tugend und Fairness als Tugend begründet werden. Aristoteles hat die Gerechtigkeit in der Nikomachischen Ethik als menschliche Tugend konzeptualisiert.52 Gerechtigkeit ist in dieser Perspektive zunächst keine Eigenschaft von Zuständen oder Ergebnissen wie etwa die Einkommensverteilung in einer Gemeinschaft oder die Verfassung politischer oder sozialer Institutionen. Gerechtigkeit ist vielmehr eine Charaktereigenschaft von Personen, von uns Menschen. Und sie ist, jedenfalls für Aristoteles, in einem gewissen Sinn sogar die höchste Tugend des Menschen.53 Für den Sport formuliert Yvonne Thorhauer ganz in diesem Sinne, dass „sich im Sport Fairness als die Tugend schlechthin erweist.“54 Und für das Sportrecht verweist uns auch Klaus Vieweg auf einen von Hans Lenk betonten Aspekt sportlicher Fairness, nämlich die Achtung und Beachtung des Gegners als Spielpartner.55 Auch hier klingt Fairness als menschliche Tugend der Sportlerin deutlich an. Gleiches gilt für die Einschätzung Viewegs, dass sich Fairness als Verhaltensmaßstab vor allem durch die Respektierung des Gegners und die Rücksichtnahme auf dessen Interessen auszeichnet.56 Ganz deutlich formuliert Boris Henning: „Fairness ist eine spezifisch sportliche Tugend“.57 Fairness als Tugend ist in erster Linie eine Eigenschaft der Sportlerinnen und Sportler. Sie sollte aber auch weitere Akteure im Sport leiten – etwa Schiedsrichterinnen und Schiedsrichter, Veranstalterinnen und Veranstalter, Trainerinnen, Funktionäre und so weiter.58 Fairness als Tugend geht über die bloße Regelkonformität hinaus. Entscheidende Bedeutung kommt ihr gerade bei Regelungslücken zu, und auch dann, wenn keine effektiven Sanktionen bestehen.59 Gerechtigkeit als Tugend ist inhaltlich weitgehend unbestimmt. Sie schweigt über spezifische materielle Gerechtigkeitskriterien, die Auskunft etwa darüber geben könnten, welche Rechtsinhalte gerecht sind. Auch wenn zwei Akteure unterschiedliche und vielleicht einander widersprechende materielle Gerechtigkeitsvorstellun51
Arnold, MOPP 2017, S. 257, passim. Aristoteles, Nikomachische Ethik, E. Grumach (Hrsg.), Übers.: Franz Dirlmeier, Darmstadt 1956, 1129a. 53 Aristoteles (Fn. 52), 1129b. 54 Thorhauer, in: Thorhauer/Kexel (Hrsg.), Compliance im Sport – Theorie und Praxis, 2018, S. 13 (28). 55 Vieweg (Fn. 3), S. 425 (437). 56 Vieweg (Fn. 3), S. 425 (439). 57 Hennig/Pawlenka, Sportethik, Leipziger Sportwissenschaftliche Beiträge 45 (2004), S. 152 (156). 58 Thorhauer (Fn. 54), S. 13 (16). 59 Thorhauer (Fn. 54), S. 13 (16). 52
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gen verfolgen, können sie doch beide „gerecht“ handeln.60 Das steht im Einklang mit der Gerechtigkeit als objektive Idee des Rechts: Auf sie zielt das Recht ab, ohne sie jemals vollständig und abschließend zu konkretisieren. Konkrete inhaltliche Forderungen der Gerechtigkeit ergeben sich vielmehr nur in Abhängigkeit von den jeweiligen zeitgeschichtlichen, wirtschaftlichen, sozialen und politischen Hintergründen.61 Auch hier lässt sich die Parallele zur Fairness als Tugend im Sport deutlich ziehen: Auch Fairness als Tugend zielt auf objektiv faire Verhaltensweisen ab. Was diese aber inhaltlich konkret auszeichnet, lässt sich wiederum immer nur mit Blick auf den jeweiligen Anwendungszusammenhang und die zeitgeschichtlichen Umstände sagen. Man kann Vieweg nur zustimmen: „Ein Endpunkt der Konkretisierung des Fairnessbegriffs ist noch nicht erreicht.“62 Ich würde hinzufügen: Und er wird auch nie erreicht werden. Gerechtigkeit als Tugend ist eine persönliche Eigenschaft der Akteure des Rechts, die in ihren Rechtsauslegungen und -anwendungen darauf abzielen, Gerechtigkeit als Rechtsidee zu verwirklichen. Diese Konzeption, wonach Gerechtigkeit zugleich als menschliche Tugend und als objektive Rechtsidee in das Recht eingeschrieben wird, stabilisiert das Recht und die Gesellschaft.63 Das wird besonders klar, wenn wir uns in Erinnerung rufen, dass das Recht mit der Befugnis zu zwingen verbunden ist – und zwar selbstverständlich auch im freiheitlich demokratischen Rechtsstaat. Natürlich sind Zwang und Gewalt im demokratischen Rechtsstaat weniger willkürlich, auch weniger offensichtlich und seltener als in Unrechtsstaaten oder Diktaturen. Gleichwohl prägen Zwang und Gewalt das Recht und die Verteilungsergebnisse, die es erzielt, ganz unvermeidbar.64 Zwang und Gewalt zu akzeptieren – etwa Bußgelder, polizeiliche Maßnahmen, Vollstreckungsakte und so fort – fällt uns aber umso leichter, wenn wir den Akteuren des Rechts Gerechtigkeit als Tugend zuschreiben dürfen. Zudem wird so der juristische Diskurs offen für materielle Gerechtigkeitsargumente und erzwingt die notwendigen Kontextualisierungen des Rechts. Diese Offenheit sollten wir begrüßen. Die Moral oder das Politische aus dem Recht fernzuhalten, ist ohnehin unmöglich. Je offener der juristische Diskurs mit den unvermeidbar politischen Elementen des Rechts umgeht, umso eher kann er nachvollziehbare und rationale Begründungen erzeugen, die für die Stabilität des Rechts unverzichtbar sind. IV. Schlussbemerkung Die Geltung des Rechts entsteht in einem von Strukturen wechselseitiger Anerkennung geprägten und ständig voranschreitenden diskursiven Prozess. Dieser Pro60
Arnold, MOPP 2017, S. 257 (276 f.). Arnold (Fn. 37), S. 25. 62 Vieweg (Fn. 3), S. 425 (439). 63 Ausführlich dazu Arnold, MOPP 2017, S. 257 (276 f.). 64 Grundlegend: Hale, Political Science Quarterly 1923, 470; Cohen, The Cornell Law Quarterly 1927, 8; vgl. auch Arnold (Fn. 37), S. 115 ff. 61
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zess ist die Praxis des Rechts. In ihr sind die Gesetztheit des Rechts (seine Positivität) ebenso integriert wie faktisch-empirische Elemente (die Faktizität des Rechts) und das Ideal der Gerechtigkeit (die ideale Dimension des Rechts). Diese drei Geltungsdimensionen prägen auch die Praxis des Sportrechts. Gerechtigkeit als Tugend muss in die Anerkennungsstrukturen der rechtlichen Praxis eingeschrieben werden, um das Recht in seiner Normativität und Stabilität zu stärken. Im Sport und im Sportrecht erfüllen die Prinzipien der Fairness und des fairplay eine ähnliche Funktion wie die Gerechtigkeit als Tugend für das Recht im Allgemeinen. Fairness als Tugend kann zu robusten und stabilen ethischen Handlungsweisen im Bereich des Sports führen.65 So lässt sich die Normativität des Sports stärken – seine Leitbildfunktion, sein Vorbildcharakter, seine Geltung jenseits bloßer Bewegungsabläufe. Und so wie sich Gerechtigkeit als Tugend durch Erziehung und Bildung erwerben und ausformen lässt, kann man sich auch die Tugend der Fairness im Sport durch teils lange Charakterbildung aneignen.66 Das rückt, am Rande bemerkt, die jeweiligen Lehrerinnen und Lehrer in den Vordergrund: Die rechtswissenschaftliche Lehre muss Studentinnen und Studenten nicht bloß mit dogmatischem Rüstzeug versehen, sondern sie auch dabei unterstützen, Gerechtigkeit als Tugend zu erwerben. Im Sport tragen vor allem die Trainerinnen und Trainer, aber auch Vereins- und Verbandsfunktionäre eine ähnliche Verantwortung.
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Thorhauer (Fn. 54), S. 13 (16). Vgl. Thorhauer (Fn. 54), S. 13 (16).
KI als Herausforderung für individuelle (strafrechtliche) Verantwortlichkeit1 Von Susanne Beck Einleitung Dass die rechtliche Begleitung des technologischen Fortschritts von zentraler Bedeutung ist, hat Klaus Vieweg schon sehr früh erkannt und in diesem Bereich wesentliche Pionierarbeit geleistet. Nicht nur mit der Gründung seines weithin bekannten Instituts für Recht und Technik und der daraus stammenden wichtigen Forschung und Vernetzung, sondern auch mit seinem interdisziplinären Engagement war er einer der Wegbereiter für die heutige diverse Landschaft der rechtlichen Begleitung verschiedener aktueller Technologien. Auch mir hat er in Gesprächen und Diskussionen neue Wege für die interdisziplinäre Erforschung aufgezeigt und mich ermutigt, neuartige Themen anzugehen – weshalb ich hoffe, dass die folgenden Überlegungen zu individueller Verantwortlichkeit im Kontext von Künstlicher Intelligenz (KI) sein Interesse finden. Bis heute scheint man in der rechtlichen Debatte in Deutschland der Meinung zu sein, dass selbst bei Beteiligung von KI die Entscheidungsprozesse zumeist der Kontrolle der Menschen unterliegen. Dabei geht man davon aus, dass KI Menschen nie vollständig ersetzen können wird. Es handle sich nur um ein weiteres Werkzeug, dass von Menschen genutzt werden kann. Selbst wenn sie komplexer ist, ihre Entscheidungen schwer abschätzbar und ihre Konsequenzen vielleicht gefährlicher sind als die herkömmlicher Werkzeuge, erscheint es vielen doch plausibel, dass die bisherigen Rechtsstrukturen den Herausforderungen der KI gewachsen sind. Im Folgenden werden wir die Angemessenheit dieses Narrativs diskutieren und darauf Ideen folgen lassen, die sich mit notwendigen Anpassungen befassen. Eine der intensiv geführten Diskussionen zu KI betrifft die rechtliche Verantwortung. Um diese Diskussion zu verstehen, werden wir die aktuelle rechtliche Lage in Deutschland betrachten und die Herausforderungen, mit der sie sich aufgrund dieser neuen Technologie konfrontiert sieht. Dabei konzentrieren wir uns auf die strafrechtliche Verantwortlichkeit.
1 Vgl. zu den Überlegungen auch Beck, AI Narratives on Individual Criminal Responsibilty in German Legal Practice (in Vorbereitung für Gless et al.). Für die unverzichtbare Unterstützung bei der Rückübersetzung ins Deutsche gilt mein herzlichster Dank Verena Beck.
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I. KI und menschliche Entscheidungsfindung Zunächst müssen wir verstehen, wie sich KI-gesteuerte Unterstützungssysteme2 auf menschliche Entscheidungen auswirken. Typischerweise trifft ein Experte Entscheidungen auf Basis seines Wissens und seiner Erfahrung. Die Einführung von KI-basierten Unterstützungssystemen kann dies ergänzen.3 Für die juristische Perspektive ergeben sich Herausforderungen aus der Autonomie des Systems. Dabei ist darauf zu achten, dass die Schwierigkeit, rechtliche Verantwortlichkeit zu ermitteln, nicht nur bei voll automatisierten Systemen entsteht. Statt dessen kann festgestellt werden, dass es in unserer modernen Gesellschaft über die letzten Jahrzehnte ohnehin immer schwieriger wurde, individuelle Verantwortlichkeiten zuzuschreiben („Risikogesellschaft“).4 Das führt zur Diffusion von moralischer und rechtlicher Zuschreibung und schwächt nicht nur das Strafrechtssystem, sondern die Gesellschaft an sich. Doch die Charakteristika von KI erhöhen die Herausforderungen noch darüber hinaus. Menschliche Kontrolle über die Maschine hängt nicht nur von der Technologie, sondern auch von äußeren Umständen ab, etwa die Geschwindigkeit, mit der Entscheidungen getroffen werden müssen. Wenn die Entscheidung schnell getroffen werden muss, – z. B. im Verkehr, in der Kriegsführung oder im Operationssaal – kann der Einfluss der Vorschläge der Maschine größer sein als bei Entscheidungen, in denen der Mensch sich Zeit lassen, Gründe und Argumente abwägen oder eine zweite Meinung einholen kann. Auch ist von Relevanz, über welche Informationen bzgl. der Maschine der Mensch verfügt, etwa über die Funktionsweise des Algorithmus, ob die Maschine Gründe für die Vorschläge angibt, ob der Mensch an der Dateneingabe beteiligt war, etc. Und letztlich hängt der Einfluss der Maschine auf den Menschen und ihre Entscheidungen auch vom Menschen selbst ab, von seiner Einstellung zu Maschinen, seiner Belastbarkeit und dem Vertrauen in seine Erfahrungen. Zu beachten sind weiterhin psychologische Einschränkungen: Sich gegen die Vorschläge einer Maschine zu entscheiden, kann schwierig werden. Auch ist es schwer, alle Gründe für einen spezifischen Vorschlag zu verstehen, da die Maschine über mehr Informationen verfügt, als sie diese an einen Menschen weitergeben kann. Daher ist anzunehmen, dass es Situationen gibt, in denen zwar ein Mensch in den Vorgang miteinbezogen ist, aber keine bedeutsame Kontrolle hat. Gerade dies sind die kritischen Situationen, für die wir rechtliche Lösungen finden müssen. 2 Dies ist auch der Hauptfokus des Projekts vALID, gefördert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung, in dem auch das Team der Autorin tätig ist. Für das Folgende siehe auch Braun/Hummel/Beck, Journal of Medical Ethics 2020, 1 ff., https://www.gesund heitsforschung-bmbf.de/de/valid-klinische-entscheidungsfindung-durch-kunstliche-intelligenzethische-rechtliche-und-10430.php, letzter Aufruf am 31. 7. 2020. 3 Dabei ist zwischen konventionellen, integrativen und vollautomatischen Systemen zu unterscheiden, vgl. Yu et al., Nature Biomedical Engineering 2018, 719 ff. 4 Prittwitz, JA 1993, 49 f.; Hilgendorf, Strafrechtliche Produzentenhaftung in der „Risikogesellschaft“, Berlin 1992.
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Daher müssen empirische Daten gesammelt und Erkenntnisse anderer Disziplinen darüber, wie Entscheidungen durch KI beeinflusst werden, hinzugezogen werden. Die Veränderungen menschlicher Entscheidungen unterscheidet sich dabei, wie erwähnt, je nach dem Lebensbereich, den betroffenen Menschen und der Geschwindigkeit, in der Entscheidungen gefällt werden müssen. Zukünftig werden empirische Analysen wie auch die Erkenntnisse anderer Fachgebiete wie Psychologie, Soziologie, Entscheidungswissenschaften etc. in diesem Zusammenhang noch wichtiger werden und damit auch die Zusammenarbeit von Rechtspraxis und Rechtswissenschaft mit diesen Disziplinen. II. Herausforderungen für die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit Die Veränderungen des Entscheidungsfindungsprozesses durch KI verändern insbesondere die individuelle strafrechtliche Verantwortung.5 1. Kausalität Die Probleme im Hinblick auf die Wahl der Handlung beruhen auf Herausforderungen des Nachweises der Kausalität.6 Es wird zumindest nicht in allen Fällen, in denen Maschinen die Entscheidung übernommen haben, möglich sein, zu beweisen, dass ein bestimmter „Fehler“ zu dem bestimmten Ergebnis geführt hat. Als Ergebnis des „Deep Learning“ sind KI-Entscheidungen oft das Ergebnis einer so genannten „Black Box“.7 Daher könnte der Jurist dazu verleitet werden, die Person und die Handlung auszuwählen, die an der endgültigen Entscheidung teilgenommen haben („human in the loop“), da dies immer beweisbar ist. 2. Objektive Zurechnung Das Kriterium der objektiven Zurechnung ist noch problematischer. Hier muss das Ergebnis als Werk des Täters angesehen werden.8 In Fällen, in denen die Maschine die Entscheidung bestimmt und Menschen die Entscheidung nur vorbereitet oder den Rahmen für die Entscheidung gesetzt haben, spielt die Maschine selbst eine Rolle im Entscheidungsprozess.9 Wenn ein anderer die Kausalitätskette (vorsätzlich) 5
Vgl. Beck, Journal AI & Society archive 2016, 473 ff. Beck, Journal AI & Society archive 2016, 473 (474). 7 Bathaee, Harvard Journal of Law and Technology 2018, 893 ff. 8 Zum Beispiel Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil, 8. Aufl. München 2017, § 4 Rn. 43. 9 Besonders falls die Entscheidung der Maschinen schneller, rationaler und sachkundiger ist als die Entscheidungen, die Menschen vorher getroffen haben, siehe Arkin, Governing Lethal Behavior: Embedding Ethics in a Hybrid Deliberative/Reactive Robot Architecture, Technical Report GIT-GVU-07-11, 2008, https://www.cc.gatech.edu/ai/robot-lab/online-publi cations/formalizationv35.pdf, letzter Aufruf am 31. 7. 2020. 6
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unterbricht, schreibt man das Ergebnis nicht dem ersten Akteur zu.10 Dies könnte theoretisch auch gelten, wenn die Maschine die endgültige Entscheidung trifft.11 Aber selbst in Fällen, in denen diese beim menschlichen Individuum bleibt, kann man bezweifeln, ob eine Zurechnung möglich ist.12 Wenn die Maschine die Entscheidung wesentlich vorbereitet und die Wahlmöglichkeiten reduziert, wenn die Maschine den Menschen psychologisch beeinflusst und dadurch einen großen Anteil des Entscheidungsfindungsprozesses übernimmt, ist das Individuum kaum noch „Schöpfer“ des Ergebnisses. Dies wird natürlich von mehreren Aspekten abhängen, wie etwa: Wie stark ist der Einfluss der Maschine? Wie viel Raum lässt sie der menschlichen Entscheidung? Diese Fragen werden in Zukunft für jeden Einzelfall neu beantwortet werden müssen.13 III. Mögliche Lösungen in der herkömmlichen Rechtspraxis Die Rechtspraxis könnte zu unterschiedlichen Lösungen für die erwähnten Herausforderungen gelangen. Viele dieser Problemstellungen und der möglichen Lösungen werden bereits an anderer Stelle14 ausführlich diskutiert. 1. Lösung: „Human in the Loop“ Eine mögliche Lösung zur Darstellung des rechtlichen Narrativs, das auf der Prämisse beruht, dass sich die individuelle menschliche Verantwortung durch den Einsatz von KI nicht oder zumindest nicht wesentlich ändert, besteht darin, sicherzustellen, dass immer (oder zumindest in den meisten Fällen) ein Mensch in der Schleife (human in the loop) ist. Dieser könnte dann zur Verantwortung gezogen werden.15 10
Für weitere Nachweise, siehe Beck/Nussbaum, HRRS 2020, 112 (119 f.). In einem übertragenen Sinn ist der Effekt des (ersten) beteiligten Menschen dann durch die letzte Handlung oder Entscheidung der Maschine beendet, die eine neue Kausalitätskette beginnt. Im Zusammenhang mit diesem Fall kann man auch von überholender Kausalität sprechen. Siehe Rengier, Strafrecht Allgemeiner Teil, 9. Aufl. München 2017, § 12 Rn 23. 12 Die herkömmliche objektive Zurechnung basiert auf dem Konzept der individuellen Verantwortlichkeit; Jäger, Willensfreiheit, Kausalität und Entschlossenheit, GA 2013, 3 ff. 13 Die objektive Zurechnung im herkömmlichen Sinne bedeutet wiederum, dass die strafrechtliche Verantwortung in der Regel den einzelnen Menschen als zentrale Handlungseinheit und als den entsprechenden Schuldigen bei Fehlhandlungen ansieht, was hier nicht mehr vorausgesetzt werden kann. Jain, in: Bhuta/Beck/Geiß/Liu/Kreß (Hrsg.), Autonomous weapons systems: Law, Ethics, Policy, Oxford 2016, S. 303 ff. 14 Die Lösungen reichen von der Idee, alle menschlichen Parteien hinter der Maschine (Programmierer, Benutzer usw.) in eine neue juristische Person, die so genannte „elektronische Person“, zu überführen, bis hin zu der Idee, nur die menschliche Partei, die nachweislich den Fehler gemacht hat, verantwortlich zu machen. Siehe Gu¨ nther et al., in: Leroux/Labruto (Hrsg.) Suggestion for a green paper on legal issues in robotics, euRobotics, The European Robotics Coordination Action 2012. 15 Sharkey, Staying in the loop: human supervisory control of weapons, in: Bhuta/Beck/ Geiß/Liu/Kreß (Fn. 13), S. 23 ff. 11
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Dies wird im Kontext von Autonomen Waffensystemen (AWS)16 oft gefordert, aber auch in anderen Situationen ist man geneigt, nach einem Menschen zu verlangen, der die Entscheidung überprüfen sollte.17 Abhängig vom jeweiligen Menschenbild könnte argumentiert werden, dass dies das Ergebnis der Entscheidung verbessert.18 Zudem könnte es für den Adressaten der Entscheidung von Vorteil sein, nicht von einer Maschine, sondern von einem Mitmenschen beurteilt zu werden; für AWS wird dies sogar von einigen als notwendig erachtet, um die Würde des Adressaten zu schützen.19 Die Forderung nach einem „human in the loop“ kann einige der sozialen, ethischen und rechtlichen Probleme von KI lösen.20 Aber dies muss auf der Bedingung beruhen, dass der „human in the loop“ eine bedeutsame Kontrolle über die Entscheidung hat.21 Die Bedeutung von „bedeutsamer
16 Z. B. von Chengeta, der den im Entstehen begriffenen Begriff der „sinnvollen menschlichen Kontrolle“ im Zusammenhang mit dem Vorschlag der in Großbritannien ansässigen NGO Article 36 als mögliche Lösung für die auf AWS basierenden Herausforderungen diskutiert. Siehe Chengeta, New York University Journal of International Law and Politics 2017, 833 ff. 17 Z. B. sollte ein Mensch bei gewerblichen oder privatwirtschaftlichen Aufgaben oder Anwendungen Teil des Regelkreises bleiben, indem er eine überwachende Rolle übernimmt („human on-the-loop“), um einen sicheren Betrieb zu gewährleisten, siehe Nothwang et al., 2016 Resilience Week (RWS), 214 ff., https://ieeexplore.ieee.org/document/7573336/, letzter Aufruf am 31. 7. 2020. 18 In diesem Zusammenhang hat Heyns festgestellt, dass wenn Menschen aus dem Regelkreis herausgenommen werden, die Gefahr besteht, dass die Menschheit aus dem Regelkreis herausgenommen wird („taking humans out of the loop risks taking humanity out of the loop“), was bedeutet, dass es dort, wo Menschen aus dem Regelkreis herausgenommen sind, keine sinnvolle menschliche Kontrolle geben kann, siehe Heyns, Report at the Twenty-Third Session of the Human Rights Council, U. N. Doc. A/HRC/ 23/47, at 7 (9. April 2013). 19 Zur Debatte über die Frage, ob es eine Verletzung der Menschenwürde darstellt, eine Maschine über Leben oder Tod entscheiden zu lassen, siehe Heyns, Report of the special rapporteur on extrajudicial, summary or arbitrary executions, 2013. Es wird argumentiert, dass die Menschenwürde das Recht einschließt, dass ein Mensch über das Ende von Menschenleben entscheiden muss. Zusammenfassend wird gesagt, dass Maschinen den Wert des menschlichen Lebens nicht begreifen können. Siehe Birnbacher, Autonomous weapon systems and human dignity, in: Bhuta/Beck/Geiß/Liu/Kreß (Fn. 13), S. 105 (119). 20 Ganz einfach, weil eine menschliche Antwort eine soziale Bedingung ist, zumindest im Moment, siehe Beck, in: Battaglia/Mukerji/Nida-Rümelin (Hrsg.), Rethinking Responsibility in Science and Technology, Pisa 2014, S. 167 (180). 21 Auch wenn die Gesellschaft von dieser Entwicklung profitiert, z. B. durch den Einsatz adaptiver Aufzugssysteme oder eines Systems zur automatischen Diagnose von Lungenkrebs, und es zu einem Schaden kommt, gibt es viele Maschinenaktionen, bei denen die traditionelle Art der Verantwortungszuschreibung nicht mit unserem Gerechtigkeitsempfinden und dem moralischen Rahmen der Gesellschaft vereinbar ist, weil kein Individuum genügend Kontrolle über die Aktionen der Maschine hat, so dass man die Verantwortung gegenüber einem Individuum nicht übernehmen kann. Siehe Matthias, Ethics and Information Technology 2004, 175 (177), http://citeseerx.ist.psu.edu/viewdoc/download?doi=10.1.1.456.8299&rep=rep1&ty pe=pdf, letzter Aufruf am 31. 7. 2020.
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menschlicher Kontrolle“ ist Thema intensiver Debatten,22 wie auch ihre notwendigen Bedingungen.23 Solange wir hier nicht mehr Klarheit erreichen als bisher, scheint es nicht angemessen, einen einzelnen Menschen zu „opfern“, nur um das Konzept der Verantwortung zu erhalten. Wenn die Mitglieder der Zivilgesellschaft verstehen, dass jemand für Handlungen verantwortlich gemacht werden kann, ohne angemessene Kontrolle über Entscheidungen und deren Ergebnisse zu haben, kann dies auch zu geringerer Akzeptanz des Konzepts der rechtlichen Verantwortung führen. Dies wiederum kann zu Skepsis gegenüber der Technologie führen. Technologische und psychologische Zwänge sind gute, aber nicht die einzigen Gründe, die die Frage aufwerfen, ob es plausibel ist, den Menschen in der Schleife (human in the loop) in gleicher Weise verantwortlich zu machen, wie wir uns gegenseitig in anderen Zusammenhängen zur Verantwortung ziehen. Man darf auch nicht vergessen, dass die Idee, Entscheidungen auf Maschinen zu übertragen, durch individuelle Verantwortlichkeit unterlaufen werden könnte.24 In vielen Fällen will man vermutlich gerade Maschinen einsetzen, damit sie bestimmte Aspekte von Entscheidungen übernehmen, da man nicht in der Lage ist, alle relevanten Informationen zu sammeln oder sie so schnell wie nötig zu verarbeiten. Wenn man weiterhin die volle Verantwortung für die Entscheidung trägt, könnte der Sinn der Übertragung des Entscheidungsprozesses für viele Nutzer hinfällig werden. 2. Lösung: Weniger Verantwortlichkeit Eine andere Lösung besteht darin, die reduzierte individuelle Verantwortung für die Entscheidungen mit KI zu akzeptieren. Wie erwähnt: Im Kontext von KI wird es in vielen Fällen unmöglich sein, die Kausalität einer bestimmten Handlung (Fehlverhalten) zu einem bestimmten Ergebnis nachzuweisen.25 Dies ist der Fall, weil der Lernprozess schwer zu verstehen sein wird – sowohl ex ante als auch ex post. Und selbst wenn er transparent gemacht 22
Die bedeutsame menschliche Kontrolle wird insbesondere im Hinblick auf die Regulierung von AWS intensiv diskutiert, z. B. von Crootof, Temple International & Comparative Law Journal 2016, 53 ff., SSRN: https://ssrn.com/abstract=2705560, letzter Aufruf am 31. 7. 2020. 23 Siehe u. a. Key Elements of Meaningful Human Control, ARTICLE 36, April 2016, verfügbar unter http://www.article36.org/wp-content/uploads/2016/04/MHC-2016-FINAL.pdf und http://www.article36.org/wp-content/uploads/2016/04/MHC-2016-FINAL.pdf, letzter Aufruf für beide am 31. 7. 2020. Es findet sich auch der Versuch, Kriterien aus philosophischer Sicht zu entwickeln, z. B. von Santoni de Siovan den Hoven, Meaningful human control over autonomous systems: a Philosophical account, in Front. Robot. AI 5:15, 2018, https://doi.org/ 10.3389/frobt.2018.00015, letzter Aufruf am 31. 7. 2020. 24 Ausführlicher: Beck, Journal AI & Society archive 2016, 473 (477). 25 Das Problem der Beweisbarkeit von Kausalität oder Fehlverhalten kann z. B. dann auftreten, wenn der Besitzer des Roboters für den Schaden verantwortlich gemacht werden soll und die genaue unzureichende Handlung nicht nachgewiesen werden kann, vgl. Decker, in: Battaglia/Mukerji/Nida-Rümelin (Fn. 20), S. 67 (75).
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wird, wird es fast unmöglich sein, zu analysieren, welcher Teil des Programms, welche Informationen über ein bestimmtes Netzwerk zu welchem Ergebnis geführt haben. Möglicherweise muss man in solchen Fällen einfach akzeptieren, dass niemand strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann.26 Ein solches Ergebnis akzeptiert auch, dass die Entscheidungen, die von Maschinen getroffen oder auch nur beeinflusst werden, sich von menschlichen Entscheidungen unterscheiden – sie sind nicht unbedingt besser oder schlechter, sondern vor allem anders. Grundlage dafür ist auch ein Überdenken der menschlichen Verantwortung für gemeinsame, hybride Handlungen. Teil dieser Akzeptanz könnte auch durch die Änderung eines bestimmten Verständnisses des sogenannten „zulässigen Risikos“ erreicht werden. Wichtig ist dabei, zu verstehen, dass dieses Konzept nicht etwas ist, das von Rechtspraktikern außerhalb des Rechtssystems gefunden werden kann, sondern dass es innerhalb des Rechtssystems entwickelt wird. Häufig wird nicht vollständig dargelegt, welche Aspekte der Rechtspraktiker in die Definition des „zulässigen Risikos“ einbezieht.27 Relevant sind meist die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Risikos, die Schadensintensität und das Schadensausmaß.28 Ebenfalls von Bedeutung ist die Möglichkeit der Risikovermeidung.29 Diese Aspekte müssen gegen den gesellschaftlichen Nutzen und (als Teil davon) den möglichen wirtschaftlichen Ertrag abgewogen werden.30 Es erscheint daher plausibel, die Kriterien wie das zulässige Risiko technologiefreundlich auszulegen und damit die individuelle strafrechtliche Verantwortung zu reduzieren. Dabei ist aber zu bedenken, dass dies zu unerwünschten Nebenwirkungen führen kann, die man zumindest im Vorfeld erkennen muss: Für die Gesellschaft mag es sich als schwierig erweisen, mit diesen Risiken umzugehen, ohne jemanden „verantwortlich machen“ zu können, ohne jemanden zu finden, der für die Schäden „einsteht“, der die Rechtsverletzung bereut.31 Damit einhergehen könnte aber auch die Veränderung von Entscheidungen als solche, sofern Verantwortung nicht übernommen werden muss: Das Eingehen von Risiken, das Ignorieren potenzieller Folgen und Schäden, die ausschließliche Konzentration auf den eigenen Profit könnten dadurch erleichtert werden. Diese Probleme können nicht gelöst werden, indem man, wie oben gezeigt, einen Menschen in die Schleife („human in the loop“) setzt. Zumal es in vielen Fällen die falsche Person wäre, die zur Verantwortung gezogen würde, die aber nie in der Lage gewesen wäre, eine bedeutsame Entscheidung über Einsatz, Programmierung und Entscheidungsspielraum von KI-basierten Maschinen zu treffen. 26
Bathaee, Harvard Journal of Law and Technology 2018, 893 ff. Burgstaller, Das Fahrlässigkeitsdelikt im Strafrecht – Unter besonderer Berücksichtigung der Praxis in Verkehrssachen, Wien 1974, S. 58; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil I, 4. Aufl. München 2006, § 24 Rn. 37 f.; Schünemann, JA 1975, 575 (575 f.). 28 Lenckner, in: Bockelmann/Kaufmann/Klug, Festschrift für Karl Engisch zum 70. Geburtstag, Frankfurt am Main 1969, S. 490 (500 f.). 29 Nicklisch, NJW 1982, 2633 (2637). 30 Gleß/Weigend, ZStW 2014, 561 (583). 31 Markwalder/Simmler, Aktuelle Juristische Praxis/Pratique Juridique Actuelle 2017, 171 (181). 27
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Zusammenfassend kann man sagen: Die Diffusion von Verantwortlichkeit, ohne ergänzende Lösungsansätze zu finden, könnte problematische Folgen haben: Der Geschädigte könnte mit der Situation allein gelassen werden, die entstandenen Schäden könnten unbewältigt bleiben. Als Folge davon könnte die Gesellschaft über die technologische Entwicklung besorgt sein, bei der die Verantwortlichkeit für Schäden und Rechtsverletzungen unklar bleibt.32 Deshalb ist es notwendig, öffentliche Einstellungen ernst zu nehmen. IV. Alternative Lösungen In den bisherigen Ausführungen sind wir zu der Einsicht gelangt, dass die möglichen traditionellen Lösungen nicht für alle denkbaren Fälle völlig überzeugend oder akzeptabel sind. Deshalb ist es notwendig, Alternativen in Betracht zu ziehen. Ohne auf Einzelheiten eingehen zu können, sollen hier zumindest einige Möglichkeiten genannt werden. Vergessen darf dabei auch nicht werden, dass das Recht selbst auch andere Lösungsmöglichkeiten33 aufweist, wie z. B. im Zivilrecht die Regulierung über die verschuldensunabhängige Haftung, die Einführung von Pflichtversicherungen für die Nutzung der KI oder auch die Schaffung der e-Person.34 Im öffentlichen Recht existieren Mechanismen der Validierung und Zertifizierung für Algorithmen und Entwickler. Eine solche behördliche Genehmigung könnte an den Nachweis geknüpft sein, dass das System die spezifischen Entscheidungsarten verlässlich verbessert, auf ordnungsgemäßen Risikobewertungen beruht oder – falls erforderlich – ethisch dahingehend trainiert ist, Vorurteile abzubauen.35 Dies könnte die öffentliche Akzeptanz der Technologie sicherstellen und damit die Grundlage für die Entwicklung eines zulässigen Risikos ohne die negativen Folgen einer eingeschränkten individuellen Verantwortlichkeit bilden. Einige sprechen sich sogar dafür aus, dass KI-Systeme selbst Verantwortung übernehmen. Dies würde voraussetzen, diesen Systemen einen rechtlichen Status (z. B. Rechtspersönlichkeit kollektiver Einheiten) zuzuweisen. Neben der Frage, ob dies effektiv sein könnte, insbesondere unter Berücksichtigung der Verflechtung dieser Systeme, muss man auch verstehen, dass dies dazu führen könnte, dass sich das gegenwärtige Ver32 Castell u. a., Public Views of Machine Learning – Findings from public research and engagement conducted on behalf of the Royal Society, in The Royal Society/Ipsos MORI 2017 S. 1 ff.; auch Inhoffen, Digitales & Technik, Lifestyle, Omnibus (DE) 2018, Wirtschaft, https://yougov.de/news/2018/09/11/kunstliche-intelligenz-deutsche-sehen-eher-die-ris/, https:// yougov.de/news/categories/transport/, https://yougov.de/news/categories/technology/, https://yo ugov.de/news/categories/lifestyle/, https://yougov.de/news/categories/omnibus-de/ und https:// yougov.de/news/categories/wirtschaft/. 33 Borges, NJW 2018, 977 (980); Lutz, NJW 2015, 119 (122); auch Lohmann, ZRP 2017, 168 ff. 34 Borges, NJW 2018, 977 (977); Specht/Herold, MMR 2018, 40 (43). 35 Daniel et al., in Duke Margolis Center for Health Policy, 2019, S. 1 (5), https://healthpo licy.duke.edu/sites/default/files/2019-11/dukemargolisaienableddxss.pdf, letzter Aufruf am 31. 7. 2020.
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ständnis von Rechtsbegriffen wie Handlung, Zuschreibung, Autonomie, Persönlichkeit oder Verantwortlichkeit ändern könnte. Es ist jedoch denkbar, diese Konzepte, z. B. den Begriff der Verantwortlichkeit in solchen Zusammenhängen zu verändern – weg vom Individuum hin zum Kollektiv, zum System, ja sogar zur Maschine. Solche systemischen oder kollektiven Ansätze sind für die zivilrechtliche Haftung zweifellos möglich. Mit Blick auf das Strafrecht wäre zu diskutieren, ob es sich dabei noch um eine strafrechtliche Verantwortlichkeit handelt oder ob die Verantwortung nicht besser gesamt in einem anderen Rechtsbereich angesiedelt wäre. Das funktioniert nur, wenn diese Lösung theoretisch sowohl von den Opfern als auch von der Gesellschaft akzeptiert werden kann. Allerdings müsste auch dies in einer akzeptablen Weise kommuniziert werden – es ist jedenfalls nicht akzeptabel, eine ungerechtfertigte Verantwortlichkeit eines Einzelnen nur deshalb zu bejahen, um die Gesellschaft zu beruhigen, die doch selbst eine bestimmte Technologie wollte.36 Das macht deutlich, wie wichtig Kommunikation auch in normativen Kontexten ist. Die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Einzelnen ist eine Möglichkeit, die Stabilität von Normen gegenüber der Gesellschaft zu kommunizieren, aber nicht die einzige. Wenn Menschen – als Personen, die über die Programmierung, Produktion oder Nutzung dieser Maschinen entscheiden – kommunizieren, dass die Risiken angemessen berücksichtigt werden (durch Versicherungen, Unternehmen, die Teilnehmer usw.) und mit den Vorteilen einer bestimmten neuen Technologie abgewogen werden, ist es möglich, die Gesellschaft auf andere Weise zu stabilisieren. Dies muss kontrolliert und immer wieder öffentlich diskutiert werden, denn es wird nicht möglich sein, im Vorfeld die perfekte, angemessene und nachhaltige Lösung für solch komplexe Herausforderungen zu finden. Aber es ist wichtig, dass es bereits jetzt Menschen gibt, die sich für die Entwicklung als solche verantwortlich fühlen, und dass die Gesellschaft die Verantwortung für die Einführung von KI in verschiedene Lebensbereiche, für den Aufbau ihres ethischen und rechtlichen Rahmens und den bewussten Umgang mit Schäden, Verletzungen und Risiken übernimmt. Es ist auch wichtig, Technologien in enger Zusammenarbeit mit normativen Disziplinen zu entwickeln und so interdisziplinäre Lösungen für die bisher aufgezeigten Herausforderungen zu finden, die sowohl technologische als auch rechtliche Reformen und Anpassungen umfassen. Auf der Grundlage solcher Forschungen lässt sich bereits heute eine enge Wechselwirkung zwischen Forschung, Politik und Wirtschaft beobachten und zwar mit dem Anspruch, neue rechtliche Rahmenbedingungen für die technologische Entwicklung zu schaffen sowie alternative politische Lösungen zu finden (ein Beispiel hierfür ist die Arbeit von politischen Expertengruppen auf 36
In diesem Kontext über die Funktion von Strafe: Gaede, KI – Rechte und Strafe für Roboter?, Baden-Baden 2019, S. 58; Streng, in: Roland/Tatjana/Luis (Hrsg.), Festschrift für Bernd Schünemann, Berlin 2014, S. 827 (829); Markwalder/Simmler, ZStW 2017, 20 (45); Seher, in: Hilgendorf/Beck (Hrsg.), Intelligente Agenten und das Recht, Baden-Baden 2016, S. 45 (58).
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nationaler oder EU-Ebene). Diese Kooperationen sollten weiter ausgebaut werden und so weit wie möglich auch die Öffentlichkeit einbeziehen. Eine Möglichkeit besteht darin, die angebliche Black Box von KI so transparent wie möglich zu machen. Dies könnte durch die Hervorhebung der Funktionsprinzipien der KI oder durch die Vermittlung ihrer Annahmen, Entscheidungen und der damit verbundenen Bestimmungen zur Angemessenheit geschehen. Dadurch könnte hoffentlich ein gewisses Maß an Vertrauen in die Systeme geschaffen und damit die Probleme verringert werden, die durch Situationen entstehen, in denen jemand durch diese Systeme geschädigt wird, ohne dass jemand dafür (strafrechtlich) zur Verantwortung gezogen werden kann.37 Ein wichtiger Ansatz, der rechtliche und technologische Lösungen verbindet, besteht darin, interdisziplinär spezifische Entscheidungsprozesse zu schaffen, die es den Beteiligten ermöglichen, die Kontrolle über die Entscheidung zu behalten, um ihre rechtliche Verantwortung rechtfertigen zu können. Ein Beispiel ist das vom BMBF geförderte Projekt vALID.38 Ziel des Projekts ist es, eine ethische, rechtliche und technische Analyse darüber zu erstellen, wie KI-gesteuerte Entscheidungsunterstützungssysteme so eingesetzt werden können, dass der Mensch angemessene Kontrolle behält. Aber natürlich ist dies nicht das einzige derartige Projekt. In Zukunft wird es hoffentlich noch viele weitere Projekte nicht nur in Deutschland, sondern auf europäischer Ebene geben, in denen interdisziplinäre Teams die Mensch-Maschine-Interaktion verbessern und so der Gesellschaft und den politischen Institutionen ermöglichen, praktische Lösungen und normative Rahmenbedingungen zu finden. Aus der Perspektive der Rechtswissenschaften wird dies dazu beitragen, Konzepte zur Steuerung von Verantwortungs-, Rechenschafts- und Haftungszuschreibungen zu entwickeln. V. Zusammenfassung und Ausblick In der deutschen Rechtspraxis wird nach wie vor hauptsächlich davon gesprochen, dass KI nur ein weiteres Werkzeug ist, das von Menschen eingesetzt werden kann; und selbst wenn KI komplexer, ihre Entscheidungen schwieriger vorhersehbar und ihre Folgen potenziell gefährlicher sind bei traditionellen Werkzeugen, erscheint es den meisten Teilnehmern an der Debatte plausibel, dass unsere traditionellen Rechtsstrukturen in der Lage sind, mit diesen Herausforderungen umzugehen. Wir haben gezeigt, dass dieses Narrativ nicht ausreichend erscheint und es folgten einige Skizzen zu möglicherweise notwendigen Änderungen und wie diese in der deutschen Rechtspraxis umgesetzt werden könnten.
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Kroll, Philosophical Transactions R. Soc. A376: 20180084. https://www.gesundheitsforschung-bmbf.de/de/valid-klinische-entscheidungsfindungdurch-kunstliche-intelligenz-ethische-rechtliche-und-10430.php (11. 01. 2021). 38
Vorsatzhaftung für den Personenschaden im Betrieb Von Georg Caspers I. Fürsorgepflicht des Arbeitgebers und Haftungsausschluss durch die gesetzliche Unfallversicherung Nach § 618 Abs. 1 BGB ist der Arbeitgeber verpflichtet, Maßnahmen zum Schutz von Leben und Gesundheit seiner Arbeitnehmer zu ergreifen. So hat er Räume, Vorrichtungen oder Gerätschaften, die er zur Verrichtung der Dienste zu beschaffen hat, so einzurichten und zu unterhalten und Dienstleistungen, die unter seiner Anordnung oder seiner Leitung vorzunehmen sind, so zu regeln, dass der Verpflichtete gegen Gefahr für Leben und Gesundheit soweit geschützt ist, als die Natur der Dienstleistung es gestattet. Diese arbeitsvertragliche Fürsorgepflicht wird durch die öffentlichrechtlichen Arbeitsschutznormen konkretisiert. Diesen kommt eine Doppelwirkung zu, soweit sie ihrem Inhalt nach geeignet sind, den Gegenstand einer vertraglichen Vereinbarung zu bilden. Sie werden dann über § 618 Abs. 1 BGB in das Arbeitsvertragsrecht transformiert und sind neben der öffentlich-rechtlichen Pflicht zugleich unabdingbare privatrechtliche Pflicht des Arbeitgebers im Sinne eines von diesem einzuhaltenden Mindeststandards.1 Erleidet der Arbeitnehmer infolge der Verletzung der sich aus § 618 Abs. 1 BGB ergebenden Schutzpflichten durch den Arbeitgeber oder dessen Erfüllungsgehilfen einen Schaden, ist dieser nach zivilrechtlichen Grundsätzen an sich nach § 280 Abs. 1 BGB (ggfs. i. V. m. § 278 BGB) zu ersetzen. Auch kommt eine Haftung aus unerlaubter Handlung nach den § 823 Abs. 1 und 2, § 831 Abs. 1 BGB in Betracht. Erfüllt der Arbeitgeber die ihm in Ansehung des Lebens und der Gesundheit seiner Arbeitnehmer obliegenden Verpflichtungen nicht, so finden über die gesetzliche Verweisung des § 618 Abs. 3 BGB die für unerlaubte Handlungen geltenden Vorschriften der §§ 842 – 846 BGB auch im Fall der vertraglichen Haftung entsprechende Anwendung. Beispielsweise ist das neue Hinterbliebenengeld nach § 844 Abs. 3 BGB über den Weg des § 618 Abs. 3 BGB in diesen Bereich der Vertragshaftung im Grundsatz mit einbezogen.2 1
BAG, NZA 2009, 102, Rn. 13; näher dazu Kamanabrou, in: Dornbusch/Fischermeier/ Löwisch, Kommentar zum gesamten Arbeitsrecht, 9. Aufl. 2019, BGB § 618 Rn. 4 ff.; Krause, in: Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht Kommentar, 9. Aufl. 2020, BGB § 618 Rn. 6, 12; Staudinger/Oetker (2019), § 618 Rn. 14 ff.; Wank, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 20. Aufl. 2020, BGB § 618 Rn. 4 f. 2 Wagner, NJW 2017, 2641 (2643).
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Allerdings wird in der ganz überwiegenden Zahl im Betrieb erlittener Gesundheitsschäden diese Haftung durch die gesetzliche Unfallversicherung ausgeschlossen: Nach § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VII sind Unternehmer den Versicherten, die für ihr Unternehmen tätig sind oder zu ihrem Unternehmen in einer sonstigen die Versicherung begründenden Beziehung stehen, sowie deren Angehörigen und Hinterbliebenen nach anderen gesetzlichen Vorschriften zum Ersatz des Personenschadens, den ein Versicherungsfall verursacht hat, nur verpflichtet, wenn sie den Versicherungsfall vorsätzlich oder auf einem nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 – 4 SGB VII versicherten Weg herbeigeführt haben. Wer Unternehmer ist, bestimmt § 136 Abs. 3 SGB VII. Versicherungsfälle sind gem. § 7 Abs. 1 SGB VII Arbeitsunfälle (§ 8 SGB VII) und Berufskrankheiten (§ 9 SGB VII). Die Sperrwirkung des § 104 Abs. 1 SGB VII erfasst alle Personenschäden sowie sämtliche hiermit verbundenen weiteren Kosten und Aufwendungen wie Heilungs- und Therapiekosten, Verdienstausfall, entgangener Gewinn, entgangener Unterhalt usw.3 Die zivilrechtliche Haftung des Unternehmers wird durch die öffentlich-rechtliche Leistungspflicht der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung ersetzt, auch wenn die Leistungen nicht deckungsgleich sind und der Haftungsausschluss unabhängig davon greift, ob die Leistungen den Personenschaden in jeder Hinsicht kompensieren.4 So werden beispielsweise Ansprüche auf Schmerzensgeld (§ 253 Abs. 2 BGB) und Hinterbliebenengeld (§ 844 Abs. 3 BGB) vom Haftungsausschluss erfasst, obwohl das Unfallversicherungsrecht diese immateriellen Schäden nicht kompensiert.5 § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VII bezieht sich auf alle Haftungsgründe des bürgerlichen Rechts.6 Erfasst sind sowohl vertragliche Schadensersatzansprüche als auch solche aus unerlaubter Handlung und Gefährdungshaftung. Ist ein Versicherungsfall nicht gegeben, greift die Sperre der Haftung für den Personenschaden dagegen nicht ein.7 Eine Verursachung des Versicherungsfalls durch Erfüllungs- und Verrichtungsgehilfen ist von dem gesetzlichen Haftungsausschluss umfasst. Verletzt ein Arbeitnehmer im Rahmen seiner betrieblichen Tätigkeit fahrlässig einen Arbeitskollegen an Körper und Gesundheit, haftet der Arbeitgeber auf den Ersatz von Heilungskosten, Erwerbsschäden und Schmerzensgeld trotz §§ 280 Abs. 1, 278 BGB und § 831 Abs. 1 BGB nicht.8 Auch der Arbeitnehmer als Schädiger ist in diesem Fall nach Maßgabe des § 105 Abs. 1 Satz 1 SGB VII von der Haftung für den Personenschaden befreit. Nach dieser Bestimmung sind Personen, die durch eine betriebliche Tätigkeit einen Versicherungsfall von Versicherten desselben Betriebs verursachen, diesen sowie deren Angehörigen und Hinterbliebenen nach anderen gesetzlichen Vorschrif3
HWK/Giesen (Fn. 1), SGB VII § 104 Rn. 6; ErfK/Rolfs (Fn. 1), SGB VII § 104 Rn. 15. BGH, NZS 2012, 546 = VersR 2012, 724, Rn. 10, 12. 5 HWK/Giesen (Fn. 1), SGB VII § 104 Rn. 6; ErfK/Rolfs (Fn. 1), SGB VII § 104 Rn. 15. 6 BAG, AP SGB VII § 104 Nr. 4 = VersR 2005, 1439 (1440); BAG, NZA 2020, 745, Rn. 16. 7 Näher dazu Rolfs, SGb 2018, 523 f. mit Beispielen aus der Rechtsprechung. 8 ErfK/Rolfs (Fn. 1), SGB VII § 104 Rn. 12; Wagner, in: MüKoBGB, 8. Aufl. 2020, § 831 Rn. 7. 4
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ten zum Ersatz des Personenschadens nur verpflichtet, wenn sie den Versicherungsfall vorsätzlich oder auf einem nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 – 4 SGB VII versicherten Weg herbeigeführt haben.9 Für den erlittenen Personenschaden kommt die gesetzliche Unfallversicherung auf. Für allgemeine Sachschäden10 muss der Arbeitnehmer unter den gesetzlichen Voraussetzungen des § 823 Abs. 1 BGB hingegen einstehen, während der Arbeitgeber unter denjenigen der §§ 280 Abs. 1, 278 BGB und des § 831 Abs. 1 BGB sowie mittelbar nach den Grundsätzen des innerbetrieblichen Schadensausgleichs analog § 670 i. V. m. § 257 Satz 1 BGB für den von seinem Arbeitnehmer herbeigeführten Sachschaden haftet. Die Rechtfertigung der Haftungsfreistellung des Arbeitgebers und der Betriebsangehörigen für den Personenschaden wird bekanntlich auf mehrere Argumente gestützt: Zunächst ist in der Haftungsbefreiung des Arbeitgebers und der weiteren von den §§ 105 ff. SGB VII erfassten Personen, für die er meist einzustehen hätte, eine Gegenleistung dafür zu sehen, dass die gesetzliche Unfallversicherung ausschließlich aus den Beiträgen der Unternehmer finanziert wird (sog. Finanzierungsargument). Die gesetzliche Unfallversicherung hat damit auch die Wirkung einer Haftpflichtversicherung (Haftungsersetzung durch Versicherungsschutz).11 Daneben tritt, nicht minder gewichtig, das sog. Friedensargument: Durch die Übernahme der Haftungsrisiken aus Berufsunfällen und Berufskrankheiten durch die gesetzliche Unfallversicherung bei gleichzeitiger Vermeidung langwieriger Schadensersatzstreitigkeiten zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern und der Arbeitnehmer untereinander sollen die Arbeitsbeziehungen entlastet werden.12 Auch der Gedanke der betrieblichen Gefahrengemeinschaft wird zum Tragen gebracht. Jeder im Betrieb Tätige kann gleichermaßen zum Geschädigten und zum Schädiger werden.13 Schließlich wird auf die Vorteile verwiesen, die darin liegen, dass dem Geschädigten mit der gesetzlichen Unfallversicherung stets ein zahlungsfähiger Schuldner zur Seite steht (Liquiditätsargument), dass bei einem Arbeitsunfall ein eventuelles Ver9 Nach § 105 Abs. 2 SGB VII gilt § 105 Abs. 1 SGB VII entsprechend, wenn nicht versicherte Unternehmer geschädigt worden sind. Für versicherte Unternehmer gilt dies erst recht, sie werden von § 105 Abs. 1 Satz 1 SGB VII erfasst; vgl. dazu BGH, NJW 2008, 2916, Rn. 14; Otto, NZV 1996, 473 (476); Rolfs, NJW 1996, 3177 (3179); Waltermann, NJW 2002, 1225 (1227). Zur Verfassungswidrigkeit des § 105 Abs. 2 SGB VII HWK/Giesen (Fn. 1), SGB VII § 105 Rn. 12 m. w. N. 10 Anders liegt es bei den Sachschäden, die durch § 8 Abs. 3 SGB VII Gesundheitsschäden gleichgestellt sind. 11 HWK/Giesen (Fn. 1), SGB VII Vor §§ 104 – 113 Rn. 3; ErfK/Rolfs (Fn. 1), SGB VII § 104 Rn. 1; von einer Fortentwicklung zu einer „sozialen Haftpflichtversicherung“ spricht Waltermann, NJW 2002, 1225 (1227). 12 HWK/Giesen (Fn. 1), SGB VII Vor §§ 104 – 113 Rn. 3; ErfK/Rolfs (Fn. 1), SGB VII § 104 Rn. 1. 13 Gitter, Schadensausgleich im Arbeitsunfallrecht, 1969, S. 245 ff.; von Koppenfels-Spies, in: FS Stürner (2013) S. 201 (202); Lindemann/Polzer, DB 2017, 1087; Waltermann, NJW 2002, 1225 (1228 f.); Ricke, in: Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, 101. EL [1. 9. 2018], SGB VII § 104 Rn. 2b; auch – mit Blick auf § 106 Abs. 3 Var. 3 SGB VII – BGHZ 148, 209 (212) = NJW 2001, 3127 (3128); BGH, NJW 2008, 2916, Rn. 11.
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schulden des Schädigers nicht nachgewiesen werden muss und dass ein etwaiges Mitverschulden des Geschädigten meist unberücksichtigt bleibt.14 Eine Ausnahme besteht nur mit dem Anspruchsausschluss des Verletzten und seiner Hinterbliebenen unter den engen Voraussetzungen des § 101 SGB VII. In die Haftungsfreistellung einbezogen sind nicht nur die eigenen Arbeitnehmer des Unternehmers selbst. Vielmehr meint § 105 SGB VII alle Personen, die in den Unfallbetrieb eingegliedert und so dem arbeitgeberseitigen Direktionsrecht im Unfallbetrieb unterworfen sind. Dies trifft z. B. auf Leiharbeitnehmer zu.15 § 106 Abs. 3 Var. 3 SGB VII erstreckt die §§ 104, 105 SGB VII16 schließlich auf den Fall, dass Beschäftigte mehrerer verschiedener Unternehmen auf einer gemeinsamen Betriebsstätte Tätigkeiten verrichten, etwa auf einer Baustelle gemeinsam eingesetzt werden. Dazu müssen die betrieblichen Aktivitäten der beteiligten Unternehmen aber bewusst und gewollt ineinandergreifen, miteinander verknüpft sein, sich ergänzen oder unterstützen. Eine gemeinsame Betriebsstätte liegt nur bei einem bewussten Miteinander im Betriebsablauf vor, das sich zumindest tatsächlich als ein betriebliches Zusammenwirken mehrerer Unternehmen darstellt. Dieses muss sich auf konkrete Arbeitsvorgänge beziehen; es muss also eine gewisse Verbindung zwischen den Tätigkeiten als solchen und der jeweiligen Unfallsituation gegeben sein.17 Dass Versicherte zweier verschiedener Unternehmen auf derselben Betriebsstätte lediglich aufeinander treffen, genügt dagegen nicht.18 Der Unternehmer selbst wird nach § 106 Abs. 3 Var. 3 SGB VII allerdings nur dann von der Haftung gegenüber den Versicherten eines anderen Unternehmens befreit, wenn er ebenfalls gesetzlich unfallversichert ist und auf der gemeinsamen Betriebsstätte selbst betriebliche Tätigkeiten verrichtet. Im Fall des § 106 Abs. 3 Var. 3 SGB VII sollen nur Ansprüche zwischen den tatsächlich zusammenwirkend Handelnden untereinander ausgeschlossen werden.19 Sofern der Unternehmer selbst nicht nach § 106 Abs. 3 Var. 3 SGB VII privilegiert ist, jedoch sein Arbeitnehmer, der den Versicherungsfall verursacht hat, kommen aber die Regeln über die gestörte Gesamtschuld zur Anwendung. § 840 Abs. 2 BGB wird dabei nicht nach den Grundsätzen des innerbetrieblichen Schadensausgleichs korrigiert, diese bleiben unberücksichtigt, was zur
14 Waltermann, NJW 2002, 1225 (1226); HWK/Giesen (Fn. 1), SGB VII Vor §§ 104 – 113 Rn. 4. 15 Otto, NZV 1996, 473 (475); Waltermann, NJW 2002, 1225 (1226 f.); HWK/Giesen (Fn. 1), SGB VII § 105 Rn. 3. 16 § 105 Abs. 2 SGB VII wird durch § 106 Abs. 3 Var. 3 SGB VII allerdings nicht in Bezug genommen, vgl. BGH, NJW 2008, 2916, Rn. 11 ff., 16; Waltermann, NJW 2008, 2895 (2896 f.). 17 BGH, NJW 2008, 2916, Rn. 19; BGH, NJW 2011, 3298, Rn. 12, 15 f., beide m. w. N. 18 Siehe im Einzelnen BGH, NZS 2013, 431 = VersR 2013, 460, Rn. 10, m. w. N. 19 BGHZ 148, 214 (217 ff.) = NJW 2001, 3125 (3126 f.); BGHZ 148, 209 (212 f.) = NJW 2001, 3127 (3128); zustimmend Waltermann, NJW 2002, 1225 (1230); ablehnend Imbusch, VersR 2001, 1485 (1486 f.); kritisch auch Tischendorf, VersR 2002, 1188 (1190 f.).
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Konsequenz hat, dass der Unternehmer dem Geschädigten im Ergebnis nicht nach § 831 Abs. 1 BGB haftet.20 II. Entsperrung der Schadensersatzhaftung bei Vorsatz 1. Doppelter Vorsatz Die Haftungsprivilegierungen für den im Betrieb erlittenen Personenschaden nach den §§ 104, 105 SGB VII greifen nicht ein, wenn der Versicherungsfall vorsätzlich herbeigeführt wurde. Es gilt die allgemeine Definition des Schuldrechts.21 Der Handelnde muss die Umstände, auf die sich der Vorsatz beziehen muss, gekannt bzw. vorausgesehen und in seinen Willen aufgenommen haben.22 Bedingter Vorsatz genügt. Dabei entspricht es ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und des Bundesarbeitsgerichts, dass sich der Vorsatz – abweichend von den allgemeinen zivilrechtlichen Voraussetzungen – nicht nur auf den haftungsbegründenden Tatbestand, sondern auch auf den Verletzungserfolg (besser: die Verletzungsfolgen23), also den zu erwartenden Schaden, erstrecken muss, um dem Schädiger das gesetzliche Haftungsprivileg zu nehmen.24 Das Erfordernis des „doppelten Vorsatzes“ gilt für § 104 SGB VII und § 105 SGB VII gleichermaßen25 und war auch schon unter der Geltung der §§ 636, 637 RVO anerkannt.26 Im Zuge der Verabschiedung des Gesetzes zur Einordnung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung in das Sozialgesetzbuch27 vor knapp 25 Jahren hat allerdings eine andere Sichtweise einen gewissen Zuspruch erhalten. Gegenstimmen haben auf den geänderten Wortlaut der gesetzlichen Bestimmungen („Versicherungsfall“ statt „Arbeitsunfall“) und auf den den Rückgriff der Sozialversicherungs-
20 Zutreffend BGHZ 157, 9 (14 ff.) = NJW 2004, 951 (952 ff.); BGH, NJW 2008, 2916, Rn. 21; Imbusch, VersR 2001, 1485 (1488 ff.); Tischendorf, VersR 2002, 1188 (1191 f.); im Einzelnen Staudinger/Vieweg (2015), § 840 Rn. 62; MüKoBGB/Wagner (Rn. 8), § 840 Rn. 41 f. 21 HWK/Giesen (Fn. 1), SGB VII § 104 Rn. 10. 22 Siehe allgemein BGH, NJW-RR 2012, 404, Rn. 10; Staudinger/Caspers (2019), § 276 Rn. 22; Palandt/Grüneberg, 79. Aufl. 2020, § 276 Rn. 10. 23 So BGHZ 154, 11 (20) = NJW 2003, 1605 (1607). 24 Zuletzt BGH, NZS 2012, 546 = VersR 2012, 724, Rn. 14; BAG, NZA 2020, 745, Rn. 46 ff.; kritisch zur uneinheitlichen Begriffsverwendung in der Rechtsprechung Brose, RdA 2011, 205 (211). 25 BAG, NZA 2003, 436 (437); HWK/Giesen (Fn. 1), SGB VII § 104 Rn. 10, § 105 Rn. 7. 26 BGHZ 75, 328 (330 ff.) = NJW 1980, 996 f.; BAG, AP RVO § 636 Nr. 9 = VersR 1976, 574. 27 Art. 1 des Gesetzes zur Einordnung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung in das Sozialgesetzbuch (Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz – UVEG) vom 7. 8.1996, BGBl. I, 1254.
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träger regelnden neuen § 110 Abs. 1 SGB VII verwiesen.28 Danach haften Personen, deren Haftung nach den §§ 104 – 107 SGB VII beschränkt ist, den Sozialversicherungsträgern für die infolge des Versicherungsfalls entstandenen Aufwendungen, wenn sie den Versicherungsfall vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführt haben, jedoch nur bis zur Höhe des zivilrechtlichen Schadensersatzanspruchs. Dabei ordnet § 110 Abs. 1 Satz 3 SGB VII ausdrücklich an, dass sich das Verschulden nur auf das den Versicherungsfall verursachende Handeln oder Unterlassen zu beziehen braucht.29 Der Bundesgerichtshof und das Bundesarbeitsgericht sind diesen Argumenten nicht gefolgt, sondern haben auch unter dem SGB VII an dem Erfordernis des doppelten Vorsatzes festgehalten. Die Änderung von „Arbeitsunfall“ in „Versicherungsfall“ biete keinen Ansatzpunkt für die Annahme, dass damit der Regelungsgehalt der neuen Vorschriften abweichend von der bisherigen Rechtslage habe gestaltet werden sollen. Die §§ 104, 105 SGB VII verwiesen auf den in seinem Sinngehalt unveränderten Begriff des Arbeitsunfalls (§ 7 Abs. 1, § 8 Abs. 1 SGB VII). Der Versicherungsfall sei erst eingetreten, wenn die Verletzungshandlung auch zu einem Schaden, also zu einem Verletzungserfolg geführt habe. Den Gesetzesmaterialien sei ebenfalls nicht zu entnehmen, dass der Gesetzgeber in diesem Punkt eine Änderung beabsichtigt habe.30 Auch den Verweis auf § 110 Abs. 1 Satz 3 SGB VII hat die Rechtsprechung als nicht durchschlagend erachtet. Die Vorschriften der §§ 104 – 109 SGB VII und der §§ 110 – 113 SGB VII hätten mit der Beschränkung der Haftung gegenüber Versicherten, ihren Angehörigen und Hinterbliebenen einerseits und der Haftung gegenüber den Sozialversicherungsträgern andererseits einen unterschiedlichen Regelungsgehalt. Eine Unterscheidung sei auch in der Sache gerechtfertigt. Denn die Ablösung der Haftpflicht der Unternehmer sei eine der wesentlichen Grundlagen der Unfallversicherung, die sich aus der Beitragspflicht der Unternehmer ergebe. Daneben diene sie der Wahrung des Betriebsfriedens, weil sie Ersatzstreitigkeiten zwischen Unternehmer und Versichertem verhindere. Die Haftungsbefreiung derer, die durch eine betriebliche Tätigkeit einen Versicherungsfall verursachten, bezwecke ebenfalls die Wahrung des Betriebsfriedens und beruhe darüber hinaus auf der Überlegung, dass das Zusammenwirken im Betrieb leicht zu Schädigungen führen könne, so dass eine Haftung des Schädigers in der Regel als unbillig erscheine und nur dann Platz greifen solle, wenn ihn ein besonders schwerer Vorwurf treffe und deshalb die Belastung der Versichertengemeinschaft nicht mehr vertretbar erscheine. Der originäre Anspruch des Sozialversicherungsträgers gegen den Schädiger aus § 110 SGB VII knüpfe demgegenüber an präventive und erzieherische Gründe an und werde bereits dann ausgelöst, wenn der Ver28 Otto, NZV 1996, 473 (477); Rolfs, NJW 1996, 3177 (3178, 3181); Rolfs, DB 2001, 2294 (2297); Schwarze, in: Otto/Schwarze/Krause, Die Haftung des Arbeitnehmers, 4. Aufl. 2014, § 23 Rn. 7. 29 Dazu noch unten III. 30 BGHZ 154, 11 (15 f.) = NJW 2003, 1605 (1606); BAG, NZA 2003, 436 (437); BAG, AP SGB VII § 104 Nr. 4 = VersR 2005, 1439 (1441).
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sicherungsfall grob fahrlässig herbeigeführt worden sei.31 In § 110 Abs. 1 Satz 3 SGB VII wird demgemäß eine Einschränkung gegenüber der in den §§ 104, 105 SGB VII getroffenen Regelung erblickt. Der für den originären Haftungsausschluss im Vordergrund stehende Gedanke der Wahrung des Betriebsfriedens sei für den Anspruch der Sozialversicherungsträger nicht von ausschlaggebender Bedeutung, da er die betriebliche Zusammenarbeit in weitaus geringerem Maße belaste als eine Auseinandersetzung unter den an dem Arbeitsunfall unmittelbar Beteiligten. Für eine einheitliche Auslegung bestehe kein Anlass.32 Schließlich nehmen auch die Schulunfälle als Argument für den doppelten Vorsatz breiten Raum in der Begründung der Gerichte ein. Damit sind diejenigen Unfälle gemeint, die aus Spielen und Raufereien unter den Schülern resultieren. Auch die Schüler allgemein- und berufsbildender Schulen zählen nach § 2 Abs. 1 Nr. 8b SGB VII zum versicherten Personenkreis der gesetzlichen Unfallversicherung und werden gem. § 106 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII von der Haftungsfreistellung der §§ 104, 105 SGB VII erfasst. Da der Haftungsausschluss bei Schulunfällen den Schulfrieden und das ungestörte Zusammenleben von Lehrern und Schülern in der Schule gewährleisten solle, dürfe das Haftungsprivileg nicht eng ausgelegt werden.33 Wolle man in den Fällen, in denen es durch die unglückliche Verkettung von Zufällen zu schweren Verletzungen von Mitschülern komme, bereits die vorsätzliche Tathandlung für die Entsperrung der Haftung ausreichen lassen, liefe das Haftungsprivileg gerade bei dieser Gruppe typischer Schulunfälle vielfach leer, was nicht Sinn der gesetzlichen Regelung sein könne.34 Im Ergebnis ist der Rechtsprechung aus den von ihr genannten Gründen zu folgen. Gerade anhand der ausdrücklichen Regelung des § 110 Abs. 1 Satz 3 SGB VII, die bei den §§ 104, 105 SGB VII nicht getroffen wurde, zeigt sich, dass der Gesetzgeber differenzieren wollte. Die Vorschrift spricht gegen einen Gleichlauf der Voraussetzungen von Direktanspruch und Regress.35 Das gesetzliche Haftungsprivileg soll erst ausgeschlossen sein, wenn sich der Vorsatz des Schädigers auch auf die Herbeiführung des die Versichertengemeinschaft belastenden Ereignisses richtet.36 Insoweit ist nicht zu übersehen, dass diese Sichtweise nur ganz selten zu einer Entsperrung der Haftung wegen Vorsatzes führt, da es an einer (bedingt) vorsätzlichen Herbeiführung der Verletzungsfolgen regelmäßig fehlt. Auf der anderen Seite wird auch hinsichtlich des jeweiligen haftungsbegründenden Tatbestands nur selten vorsätzliches, sondern lediglich grob fahrlässiges Verhalten gegeben sein. Jedenfalls kann aus 31
BGHZ 154, 11 (17 f.) = NJW 2003, 1605 (1606). BGHZ 154, 11 (18 f.) = NJW 2003, 1605 (1606 f.); ähnlich BAG, NZA 2003, 436 (437 f.). 33 Vgl. BGH, NJW 2009, 681, Rn. 12 im Zusammenhang mit der erforderlichen Schulbezogenheit der Verletzungshandlung. 34 BGHZ 154, 11 (19 f.) = NJW 2003, 1605 (1607). 35 Falkenkötter, NZS 1999, 379 (380); Maschmann, SGb 1998, 54 (56). 36 Reichold, in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, Band 1, 4. Aufl. 2018, § 59 Rn. 21. 32
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der vorsätzlichen Missachtung von Unfallverhütungsvorschriften, auf die der Unfall zurückzuführen ist, nicht auf eine vorsätzliche Herbeiführung des Verletzungserfolgs geschlossen werden. Denn derjenige, der vorsätzlich eine zugunsten des Arbeitnehmers bestehende Schutzvorschrift missachtet, will regelmäßig nicht die Schädigung und den Arbeitsunfall des Arbeitnehmers selbst, sondern vertraut und hofft darauf, dass diesem kein Unfall widerfährt, so dass mit Blick auf die Unfallfolgen nur von bewusster Fahrlässigkeit auszugehen ist.37 Gleiches wird bei einem Verstoß gegen Verkehrssicherungspflichten, etwa das unterlassene Räumen und Streuen eines Gehweges im Winter, angenommen.38 Selbst wenn der Unternehmer den verkehrsunsicheren Zustand des Unfallfahrzeugs gekannt hat, lässt dies nicht die Annahme zu, er habe den Unfall und die konkreten Verletzungsfolgen billigend in Kauf genommen.39 Wird der Schadensersatzanspruch gegen den Unternehmer und andere Betriebsangehörige wegen vorsätzlicher Herbeiführung des Versicherungsfalls ausnahmsweise entsperrt, muss sich der Geschädigte gem. § 104 Abs. 3, § 105 Abs. 1 Satz 3 SGB VII die gesetzlichen oder satzungsmäßigen Leistungen, die von den Trägern der Sozialversicherung aus Anlass des Unfalls erbracht werden, anrechnen lassen. Dadurch wird eine Bereicherung des Geschädigten vermieden.40 Zugleich wird eine doppelte Inanspruchnahme des Schädigers unterbunden, da § 110 Abs. 1 Satz 1 SGB VII den Regressanspruch der Sozialversicherungsträger auf die Höhe des zivilrechtlichen Schadensersatzanspruchs beschränkt.41 Neben etwaigen Differenzbeträgen („Schadensspitzen“) zu den Leistungen der Sozialversicherung42 steht dem Geschädigten vor allem ein Anspruch auf Schmerzensgeld zu. Dieser bleibt ihm voll erhalten. Auch ein etwaiger Anspruch der Hinterbliebenen auf Hinterbliebenengeld nach § 844 Abs. 3 BGB wird entsperrt. 2. Zurechnung des Verschuldens Dritter? Häufig bedient sich der Arbeitgeber bei der Erfüllung seiner Pflichten im Arbeitsverhältnis Dritter als seiner Erfüllungsgehilfen. Dies trifft vor allem auf Vorgesetzte 37 BGH, NZS 2012, 546 = VersR 2012, 724, Rn. 14; BAG, NZA-RR 2010, 123, Rn. 50; grundlegend auch schon BAG, AP RVO § 636 Nr. 9 = VersR 1976, 574. 38 BAG, NZA 2020, 745, Rn. 51. 39 BAG, AP SGB VII § 104 Nr. 4 = VersR 2005, 1439 (1441): Kenntnis des Unternehmers von der Funktionsuntüchtigkeit der Sicherheitsgurte auf der Rückbank und davon, dass das Fahrzeug mit runderneuerten Reifen ausgestattet ist. 40 Von Koppenfels-Spies, in: Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, 6. Aufl. 2019, SGB VII § 104 Rn. 10; ErfK/Rolfs (Fn. 1), SGB VII § 104 Rn. 19; allgemein zum Bereicherungsverbot im Schadensersatzrecht Vieweg, in: Staudinger Eckpfeiler des Zivilrechts (2018), Kap. J Rn. 87 ff. 41 Dazu noch unten unter III. 42 Hierzu im Einzelnen HWK/Giesen (Fn. 1), SGB VII § 104 Rn. 14; ErfK/Rolfs (Fn. 1), SGB VII § 104 Rn. 19.
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und Personalverantwortliche zu und geschieht insbesondere auch bei der Erfüllung der Pflichten zum Schutz von Leben und Gesundheit der Arbeitnehmer bei der Arbeitsleistung.43 Das wirft die Frage auf, ob die Haftungsfreistellung des Arbeitgebers nach § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VII endet, wenn zwar nicht ihm selbst, wohl aber seinem Erfüllungsgehilfen die vorsätzliche Herbeiführung des Versicherungsfalls – im Sinne des doppelten Vorsatzes – vorzuwerfen ist. Der Arbeitgeber müsste dann trotz Versicherungsfalls nach §§ 280 Abs. 1, 618 Abs. 1, 278 Satz 1 BGB für den Personenschaden seines Arbeitnehmers haften. Das Bundesarbeitsgericht hat dies – noch zu § 636 Abs. 1 Satz 1 RVO – in einem Fall bejaht, in dem ein Vorgesetzter wissentlich Arbeitnehmer mit Sanierungsarbeiten in einem Gebäude betraut hatte, bei denen diese mit asbesthaltigem Material ohne die erforderlichen Schutzvorkehrungen in Berührung gekommen waren. Vom Arbeitnehmer darauf angesprochen, drängte der Vorgesetzte auf die Fortsetzung der Arbeiten. Das Gewerbeaufsichtsamt verfügte schließlich die sofortige Einstellung der Arbeiten und die Versiegelung des Gebäudes. Das Bundesarbeitsgericht kam zu dem Schluss, dass der beklagten Arbeitgeberin – es handelte sich um eine Kommune – der Vorsatz ihres Erfüllungsgehilfen gem. § 278 Satz 1 BGB auch im Kontext des § 636 Abs. 1 Satz 1 RVO (jetzt § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VII) zuzurechnen sei; die Haftungsprivilegierung greife hier wegen des Vorsatzes nicht.44 Die gleiche Frage kann mit Blick auf § 31 BGB für die Haftung einer juristischen Person für die vorsätzliche Herbeiführung des Versicherungsfalls durch eines ihrer Organe gestellt werden. Das Bundesarbeitsgericht scheint auch hier im Grundsatz von einer Haftung auszugehen, wenn es in einem neueren Urteil für die Haftung einer Seniorenpflegeheimbetreiberin im Zusammenhang mit § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VII den Ausführungen des Landesarbeitsgerichts gefolgt ist, dass keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich seien, dass der gesetzliche Vertreter der Beklagten Vorsatz hinsichtlich des Verletzungserfolgs gehabt habe.45 Gleiches gelte für ein gegebenenfalls der Beklagten zurechenbares Verhalten des mit Räum- und Streuarbeiten beauftragten Mitarbeiters.46 Im Ergebnis ist diese Rechtsprechung abzulehnen, eine Zurechnung des Verschuldens von Organen, gesetzlichen Vertretern und Erfüllungsgehilfen nach § 31 BGB und § 278 Satz 1 BGB kommt nicht in Betracht. Dafür spricht, mit Blick auf § 278 BGB, schon der Wortlaut des § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VII,47 nach dem Unternehmer den Versicherten nur verpflichtet sind, wenn sie den Versicherungsfall vorsätzlich (…) herbeigeführt haben. Dementsprechend muss auch bei der Vertragshaftung für Personenschäden im Rahmen eines Versicherungsfalls der Vorsatz in der 43
Zu den Erfüllungsgehilfen des Dienstberechtigten bei der Erfüllung seiner Pflichten aus § 618 BGB näher Staudinger/Oetker (2019), § 618 Rn. 291 ff. 44 BAG, NZA-RR 2012, 290, Rn. 41 ff., 45 ff.; im Nachgang auch BAG, NZA-RR 2014, 63, Rn. 22 ff. zum „doppelten Vorsatz“ des Erfüllungsgehilfen. 45 Vgl. BAG, NZA 2020, 745, Rn. 48 f. 46 Vgl. BAG, NZA 2020, 745, Rn. 48 f. 47 Lindemann/Polzer, DB 2017, 1087 (1091); Rolfs, SGb 2018, 523 (525).
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Person des Unternehmers selbst vorliegen, um ihm das Haftungsprivileg des § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VII zu nehmen. Für die deliktische Haftung nach § 831 Abs. 1 BGB hat dies das Bundesarbeitsgericht bereits richtig erkannt.48 Dagegen lässt sich zwar einwenden, dass § 831 Abs. 1 BGB als eigenständige Haftungsnorm für vermutetes eigenes Verschulden und § 278 Satz 1 BGB als Zurechnungsnorm strukturell verschieden sind und § 278 BGB im Rahmen bestehender Schuldverhältnisse den Zweck verfolgt, zu verhindern, dass sich der Schuldner durch schlichte Delegation an einen Dritten von seiner Haftung befreit.49 Dass § 278 BGB aber eine Freizeichnung für den Vorsatz von gesetzlichen Vertretern und Erfüllungsgehilfen im Grundsatz nicht ausschließt, folgt schon aus § 278 Satz 2 BGB. In diesem Kontext entfaltet dann auch das Finanzierungsargument seinen Sinn. Es kommt zu einer Ablösung der Haftpflicht des Unternehmers für das Verschulden seiner Erfüllungsgehilfen durch den mittels Beiträge der Unternehmer finanzierten gesetzlichen Unfallversicherungsschutz. Das spricht dafür, bei der Anwendung des § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VII eine Zurechnung über § 278 Satz 1 BGB auch bei vorsätzlicher Herbeiführung des Versicherungsfalls durch Erfüllungsgehilfen und gesetzliche Vertreter zu versagen.50 Deren Eigenhaftung bleibt dagegen unberührt. Dass für die Anwendung von § 31 BGB und § 278 Satz 1 BGB kein Raum ist, ergibt sich schließlich und vor allem aus einem Umkehrschluss, der § 111 SGB VII zu entnehmen ist.51 Nach dieser Bestimmung haften nach Maßgabe des § 110 SGB VII auch die Vertretenen, wenn ein Mitglied eines vertretungsberechtigten Organs, Abwickler oder Liquidatoren juristischer Personen, vertretungsberechtigte Gesellschafter oder Liquidatoren einer Personengesellschaft des Handelsrechts oder gesetzliche Vertreter der Unternehmer in Ausführung ihnen zustehender Verrichtungen den Versicherungsfall vorsätzlich oder grob fahrlässig verursacht haben (§ 111 Satz 1 SGB VII). Daraus folgt, dass der Gesetzgeber eine Zurechnung des groben Verschuldens von Organen und gesetzlichen Vertretern nach § 31 BGB und § 278 Satz 1 BGB bei Versicherungsfällen als ausgeschlossen ansieht, da die Bestimmung sonst überflüssig wäre. Da der Gesetzgeber eine dem § 111 Satz 1 SGB VII gleichlautende Regelung bei § 104 Abs. 1 SGB VII nicht getroffen hat, muss davon ausgegangen werden, dass der Unternehmer dort nicht für den Vorsatz eines Organmitglieds oder gesetzlichen Vertreters haftet.52 Ist der Unternehmer eine juristische Person, haftet diese folglich dem Versicherten gegenüber für einen von einem Organmitglied vorsätzlich herbeigeführten Ver48
BAG, NZA 2003, 436 (438); zu § 636 RVO LG Fulda, NJW-RR 1987, 1438. Zur Funktion des § 278 BGB allgemein Staudinger/Caspers (2019), § 278 Rn. 1; MüKoBGB/Grundmann, 8. Aufl. 2019, § 278 Rn. 1; Palandt/Grüneberg (Fn. 22), § 278 Rn. 1; Kramme, in: Prütting/Wegen/Weinreich, 15. Aufl. 2020, BGB § 278 Rn. 1. 50 Lindemann/Polzer, DB 2017, 1087 (1091); Rolfs, SGb 2018, 523 (525 f.). 51 Zutreffend ErfK/Rolfs (Fn. 1), SGB VII § 104 Rn. 12; auch Lindemann/Polzer, DB 2017, 1087 (1092). 52 Lindemann/Polzer, DB 2017, 1087 (1092); Rolfs, SGb 2018, 523 (525). 49
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sicherungsfall nicht.53 Gleiches muss im Fall der vorsätzlichen Herbeiführung eines Versicherungsfalls durch einen gesetzlichen Vertreter oder Erfüllungsgehilfen i. S. d. § 278 Satz 1 BGB gelten. Der Unternehmer, gleichgültig ob es sich bei diesem um eine juristische oder natürliche Person oder um eine rechtsfähige Personenvereinigung handelt (vgl. § 136 Abs. 3 Nr. 1 SGB VII), haftet dann nicht. Der Geschädigte erhält die Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung und kann sich daneben an den Schädiger halten, dessen Haftung nach § 105 Abs. 1 Satz 1 SGB VII wegen vorsätzlicher Herbeiführung des Versicherungsfalls entsperrt ist. Nach § 105 Abs. 1 Satz 3, § 104 Abs. 3 SGB VII vermindern sich die Ersatzansprüche um die Leistungen, die der Geschädigte nach Gesetz oder Satzung infolge des Versicherungsfalls erhält.54 3. Haftungsfreizeichnung und Ausschlussfrist Nach § 276 Abs. 3 BGB kann die Haftung wegen Vorsatzes dem Schuldner nicht im Voraus erlassen werden. Der Unternehmer kann sich also von seiner Haftung für einen Personenschaden, den Versicherte, die für sein Unternehmen tätig sind oder zu dem Unternehmen in einer sonstigen die Versicherung begründenden Beziehung stehen, aufgrund einer vorsätzlichen Herbeiführung des Versicherungsfalls durch den Unternehmer erleiden, nicht im Voraus freizeichnen. Der Grund für § 276 Abs. 3 BGB liegt darin, dass es für die Rechtsordnung nicht erträglich wäre, wenn sich ein Gläubiger von vornherein der Willkür des Schuldners ausliefern würde.55 Folgt man der hier abgelehnten Auffassung des Bundesarbeitsgerichts, dass die vorsätzliche Herbeiführung des Versicherungsfalls durch einen Erfüllungsgehilfen dem Unternehmer nach § 278 Satz 1 BGB auch im Kontext von § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VII zuzurechnen ist,56 ist eine Freizeichnung von der Haftung wegen Vorsatzes des Erfüllungsgehilfen nach der ausdrücklichen Vorschrift des § 278 Satz 2 BGB im Grundsatz möglich. Ein solcher Haftungsausschluss kann allerdings nur bei einem besonderen Hinweis in der vertraglichen Vereinbarung angenommen werden.57 Zudem ist die Möglichkeit eines Haftungsausschlusses in Allgemeinen Geschäftsbedingungen eingeschränkt. Für vorsätzlich von einem Erfüllungsgehilfen herbeigeführte Personenschäden kommt er nach § 309 Nr. 7 lit. a) BGB nicht in Betracht. Dies wird insbesondere für die Frage der Zurechnung des Verschuldens von Arbeitnehmern relevant. 53 ErfK/Rolfs (Fn. 1), SGB VII § 104 Rn. 12; Rolfs, NJW 1996, 3177 (3178); zu § 636 RVO Schick, in: RGRK–BGB, 12. Aufl. 1997, § 618 Rn. 207; offengelassen von LG Fulda, NJW-RR 1987, 1438 f.; a. A. Stelljes, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, BeckOK SozR, 57. Ed. [1. 6. 2020], SGB VII § 104 Rn. 24. 54 Dazu oben unter II. 1. 55 Staudinger/Caspers (2019), § 276 Rn. 121; MüKoBGB/Grundmann (Fn. 49), § 276 Rn. 182. 56 Oben unter II. 2. 57 Vgl. BAG, NZA 2013, 1265, Rn. 22.
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Da der Arbeitsvertrag für das AGB-Recht als Verbrauchervertrag im Sinne des § 310 Abs. 3 BGB angesehen wird, gilt eine entsprechende Freizeichnungsklausel als vom Arbeitgeber gestellt und genügt es für die Anwendung der AGB-Inhaltskontrolle, wenn die vorformulierte Vertragsbestimmung nur zur einmaligen Verwendung bestimmt war und der Arbeitnehmer auf Grund der Vorformulierung auf ihren Inhalt keinen Einfluss nehmen konnte.58 Dies trifft in aller Regel zu. Nicht selten werden die beiderseitigen Ansprüche von Arbeitnehmern und Arbeitgebern aus dem Arbeitsverhältnis und solche, die mit ihm in Verbindung stehen, von einer arbeitsvertraglichen oder tarifvertraglichen Ausschlussfrist erfasst, die meist deutlich kürzer ist als die regelmäßige Verjährungsfrist des § 195 BGB. Vertragliche und deliktische Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche wegen Verletzung der Gesundheit werden von solchen Ausschlussklauseln im Grundsatz erfasst.59 Die Bestimmung des § 202 Abs. 1 BGB, wonach die Verjährung wegen Vorsatzes nicht im Voraus durch Rechtsgeschäft erleichtert werden kann, ist aber auch auf vereinbarte Ausschlussfristen anzuwenden. Die Vorschrift ergänzt den allgemeinen Grundsatz des § 276 Abs. 3 BGB, der erst durch § 202 Abs. 1 BGB seine volle Wirksamkeit entfaltet.60 Zudem sind arbeitsvertragliche Ausschlussfristen als AGB an den §§ 307 ff. BGB zu messen. Arbeitsvertragliche Ausschlussfristen legt das Bundesarbeitsgericht zu Recht dahingehend aus, dass diese Ansprüche wegen vorsätzlicher Vertragsverstöße und vorsätzlich begangener unerlaubter Handlungen schon gar nicht erfassen.61 Eine zwischen den Parteien des Arbeitsvertrags vereinbarte Ausschlussfrist sei dahingehend auszulegen, dass sie nur die von den Parteien für regelungsbedürftig gehaltenen Fälle erfassen solle. Der Arbeitgeber habe grundsätzlich kein Interesse daran, einen gesetzeswidrigen Haftungsausschluss für vorsätzlich verursachte Personenschäden zu vereinbaren, der in jedem Falle wegen § 134 BGB nichtig und bei Formulararbeitsverträgen zudem nach § 309 Nr. 7 lit. a) BGB ohne Wertungsmöglichkeit unwirksam wäre. Bei der Vereinbarung einer Ausschlussfrist dächten die Parteien des Arbeitsvertrags vor allem an laufende Entgeltansprüche, nicht aber an vertragliche oder deliktische Ansprüche wegen Personenschäden.62 Für in Tarifverträgen geregelte Ausschlussfristen, auf welche die §§ 305 – 310 BGB gem. § 310 Abs. 4 Satz 1 BGB nicht anzuwenden sind, steht das Bundesarbeitsgericht mit einer eng am Wortlaut des § 202 Abs. 1 BGB orientierten Auslegung hingegen auf dem Standpunkt, dass § 202 Abs. 1 BGB dem Verfall von Schadensersatzansprüchen aus vorsätzlichem Handeln durch Ausschlussfristen nicht entgegen-
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St. Rspr. seit BAG, NZA 2005, 1111 (1115 f.); Staudinger/Krause (2019), §§ 305 – 310 Anh. Rn. K 108 ff.; ErfK/Preis (Fn. 1), BGB §§ 305 – 310 Rn. 23; HWK/Roloff (Fn. 1), BGB § 310 Rn. 2 ff. 59 BAG, NZA 2007, 1154, Rn. 49. 60 BAG, NZA 2005, 1111 (1112). 61 BAG, NZA 2005, 1111 (1112 f.); BAG, NZA 2013, 1265, Rn. 19 ff. 62 BAG, NZA 2013, 1265, Rn. 22.
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steht,63 was angesichts der Funktion der § 202 Abs. 1, § 276 Abs. 3 BGB abzulehnen ist.64 Wenig später hat das Gericht die arbeitsvertragliche Bezugnahme auf eine solche tarifvertragliche Ausschlussfrist als nach § 202 Abs. 1, § 134 BGB teilnichtig angesehen,65 so dass sie nach der Rechtsprechung Schadensersatzansprüche aus vorsätzlichem Handeln nur dann erfasst, wenn der Tarifvertrag nach § 4 Abs. 1 TVG oder § 5 Abs. 4 TVG normativ wirkt.66 Unabhängig von dieser Differenzierung kann die Haftung für vorsätzliches Handeln von Erfüllungsgehilfen und gesetzlichen Vertretern indessen auch in zeitlicher Hinsicht durch eine tarifvertragliche Ausschlussfrist begrenzt werden.67 Denn über die § 276 Abs. 3, § 278 Satz 2 BGB hinaus will § 202 Abs. 1 BGB nicht gehen. Für Organmitglieder, sofern man entgegen der hier vertretenen Auffassung68 deren vorsätzliche Herbeiführung des Versicherungsfalls der juristischen Person zurechnen will, gilt § 278 Satz 2 BGB hingegen nicht.69 III. Regress des Sozialversicherungsträgers nach § 110 SGB VII Wie bereits dargelegt, können die Sozialversicherungsträger nach Maßgabe des § 110 SGB VII für die infolge des Versicherungsfalls entstandenen Aufwendungen beim Schädiger Rückgriff nehmen, jedoch nur bis zur Höhe des zivilrechtlichen Schadensersatzanspruchs. Dabei handelt es sich um einen eigenständigen Erstattungsanspruch. Liegen seine Voraussetzungen vor, besteht er unabhängig davon, ob die Haftung der nach den §§ 104 ff. SGB VII privilegierten Personen ausgeschlossen oder wegen vorsätzlicher Schädigung ausnahmsweise wieder entsperrt ist.70 Denn ein Forderungsübergang nach § 116 SGB X ist – nach allerdings nicht unumstrittener Auffassung – in letzterem Fall ausgeschlossen, wie sich aus § 104 Abs. 1 Satz 2, § 105 Abs. 1 Satz 3 SGB VII ergibt.71 Der Sozialversicherungsträger muss bei doppeltem Vorsatz des Schädigers aber erst recht bei diesem Rückgriff nehmen 63
BAG, AP TVG § 4 Ausschlussfristen Nr. 198, Rn. 24 ff., 32 ff. Staudinger/Caspers (2019), § 276 Rn. 121; Löwisch/Rieble, Tarifvertragsgesetz, 4. Aufl. 2017, § 1 Rn. 1904. 65 BAG, NZA-RR 2014, 177, Rn. 26 ff. 66 BAG, AP TVG § 4 Ausschlussfristen Nr. 198, Rn. 33; BAG, NZA-RR 2014, 177, Rn. 34, 36 ff. 67 BAG, NZA 2007, 1154, Rn. 43; BAG, NZA-RR 2014, 177, Rn. 41. 68 Oben unter II. 2. 69 Vgl. BAG, NZA-RR 2014, 177, Rn. 41; allgemein zur Zurechnung des Organverschuldens bei der Vertragshaftung Staudinger/Caspers (2019), § 278 Rn. 124 f. m. w. N. 70 Deinert, RdA 2013, 146 (153); KKW/von Koppenfels-Spies (Rn. 40), SGB VII § 110 Rn. 5; KK/Ricke (Fn. 13), SGB VII § 110 Rn. 4; Waltermann, in: Eichenhofer/von Koppenfels-Spies/Wenner, Kommentar zum Sozialgesetzbuch VII, 2. Aufl. 2019, § 104 Rn. 23. 71 Deinert, RdA 2013, 146 (148); KKW/von Koppenfels-Spies (Rn. 40), SGB VII § 104 Rn. 9; Eichenhofer/von Koppenfels-Spies/Wenner/Waltermann (Fn. 70), § 104 Rn. 23; a. A. HWK/Giesen (Fn. 1), SGB VII § 104 Rn. 12; zum Streitstand auch ErfK/Rolfs (Fn. 1), SGB VII § 104 Rn. 16. 64
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können, auch wenn der Wortlaut des § 110 Abs. 1 Satz 1 SGB VII für das Gegenteil spricht. Gegenüber den §§ 104, 105 SGB VII bedeutet § 110 Abs. 1 SGB VII eine Haftungsverschärfung. Denn sowohl der Verschuldensgrad als auch der Bezugspunkt des Verschuldens sind weniger streng als bei § 104 Abs. 1 Satz 1 und § 105 Abs. 1 Satz 1 SGB VII: Dies zum einem, weil für den Rückgriff auch schon die grob fahrlässige Herbeiführung des Versicherungsfalls genügt.72 Zum anderen, weil sich das Verschulden gem. § 110 Abs. 1 Satz 3 SGB VII nur auf das den Versicherungsfall verursachende Handeln oder Unterlassen zu beziehen braucht. Es kann deshalb zu einem Rückgriff des Sozialversicherungsträgers wegen vorsätzlicher Herbeiführung des Unfalls auch dann kommen, wenn es am Vorsatz hinsichtlich der Verletzungsfolgen im Sinne des doppelten Vorsatzes fehlt. Allerdings gilt auch für § 110 Abs. 1 Satz 3 SGB VII der allgemeine zivilrechtliche Vorsatzbegriff. Der Handelnde muss den rechtswidrigen Erfolg vorausgesehen und in seinen Willen aufgenommen haben.73 Ein etwaiges Mitverschulden des Verletzten ist bei der Berechnung des den Aufwendungsersatzanspruch begrenzenden (fiktiven) Schadensersatzanspruchs anspruchsmindernd zu berücksichtigen.74 Schließlich können die Sozialversicherungsträger gem. der Reduktionsklausel des § 110 Abs. 2 SGB VII nach billigem Ermessen, insbesondere unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Schuldners, auf den Ersatzanspruch ganz oder teilweise verzichten. Wenn billiges Ermessen dies gebietet, sind sie nach § 39 Abs. 1 SGB I dazu auch verpflichtet.75 Bei der Berechnung des den Aufwendungsersatzanspruch begrenzenden Schadensersatzanspruchs sind nach Auffassung des Bundesgerichtshofs und einiger Stimmen im Schrifttum auch solche Schadenspositionen einzubeziehen, die den Leistungen der Sozialversicherung nicht kongruent sind. Das trifft insbesondere auf das Schmerzensgeld zu.76 Dem ist nicht zu folgen. Denn in den Fällen der Haftungsentsperrung droht eine doppelte Belastung des Schädigers, die § 110 Abs. 1 Satz 1 SGB VII mit der Begrenzung auf den zivilrechtlichen Schadensersatzanspruch gera-
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Zu Recht kritisch zu dieser Regelung von Koppenfels-Spies, in: FS Stürner (2013) S. 201 (206 ff.), die aus guten Gründen für eine Haftungsbefreiung des Unfallverursachers bei grober Fahrlässigkeit auch gegenüber dem Sozialversicherungsträger plädiert und den Rückgriff nur bei vorsätzlichem Handeln ermöglichen will. 73 BGH, NJW 2009, 681, Rn. 29; HWK/Giesen (Fn. 1), SGB VII § 110 Rn. 4; ErfK/Rolfs (Fn. 1), SGB VII § 110 Rn. 5; mit Kritik am Gesetzeswortlaut auch Brose, RdA 2011, 205 (214). 74 Vgl. BGHZ 175, 153 (158 f.) = NJW 2008, 2033, Rn. 11, 13; Otto, NZV 1996, 473 (478); HWK/Giesen (Fn. 1), SGB VII § 110 Rn. 6; ErfK/Rolfs (Fn. 1), SGB VII § 110 Rn. 7. 75 BGHZ 57, 96 (99) = NJW 1972, 107 (108); BGHZ 168, 161 (168) = NJW 2006, 3563, Rn. 19; HWK/Giesen (Fn. 1), SGB VII § 110 Rn. 14; KK/Ricke (Fn. 13), SGB VII § 110 Rn. 31; ErfK/Rolfs (Fn. 1), SGB VII § 110 Rn. 10. 76 BGHZ 168, 161 (163 ff.) = NJW 2006, 3563, Rn. 6 ff.; BGHZ 175, 153 (154 f.) = NJW 2008, 2033, Rn. 4 f.; zustimmend Brose, RdA 2011, 205 (217 ff.); Deinert, RdA 2013, 146 (149).
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de verhindern will.77 Eine solche lediglich im Rahmen der Ermessenausübung nach § 110 Abs. 2 SGB VII einzufangen,78 überzeugt schon aus systematischen Gründen nicht. Schließlich zeigt auch § 116 SGB X, dass ein Rückgriff auf Schadenspositionen, die zu den Leistungen der Sozialversicherung sachlich und zeitlich inkongruent sind, dem Sozialversicherungsrecht fremd ist.79 Dies bei dem Rückgriff nach § 110 Abs. 1 SGB VII anders zu sehen, ist nicht gerechtfertigt.80 IV. Zusammenfassung Eine Entsperrung der Haftung für den Personenschaden im Betrieb wegen vorsätzlicher Herbeiführung des Versicherungsfalls nach den § 104 Abs. 1 Satz 1, § 105 Abs. 1 Satz 1 SGB VII kommt nur ganz selten vor, da es jedenfalls an der vom Gesetz geforderten vorsätzlichen Herbeiführung auch der Verletzungsfolgen in der Regel fehlt. Im Fall der Haftung für den Verrichtungsgehilfen nach § 831 Abs. 1 BGB muss der doppelte Vorsatz in der Person des Unternehmers selbst vorliegen, um ihm das Haftungsprivileg des § 104 Abs. 1 SGB VII zu nehmen. Auch kommt – entgegen der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts – bei der Vertragshaftung eine Zurechnung des Vorsatzes von Erfüllungsgehilfen und gesetzlichen Vertretern nach § 278 Satz 1 BGB zur Entsperrung der Haftung für den Personenschaden nicht in Betracht. Schließlich kann auch eine Zurechnung des Organverschuldens nach § 31 BGB bei § 104 Abs. 1 SGB VII nicht vorgenommen werden. Haftungsfreizeichnungen und Ausschlussfristen sind an den § 276 Abs. 3, § 202 Abs. 1 BGB zu messen. Dies muss entgegen der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts auch für tarifvertragliche Ausschlussfristen gelten. Arbeitsvertragliche Ausschlussfristen werden zu Recht dahingehend ausgelegt, dass diese Ansprüche wegen vorsätzlicher Vertragsverstöße und vorsätzlich begangener unerlaubter Handlungen schon gar nicht erfassen. Bei der Berechnung des den Regress der Sozialversicherungsträger nach § 110 Abs. 1 Satz 1 SGB VII begrenzenden (fiktiven) Schadensersatzanspruchs ist das Schmerzensgeld entgegen der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht einzubeziehen.
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Küppersbusch, NZV 2005, 393 (395 f.); Rolfs, SGb 2018, 523 (528). BGHZ 168, 161 (168) = NJW 2006, 3563, Rn. 19. 79 Von Koppenfels-Spies, in: FS Stürner (2013) S. 201 (210 f.); Küppersbusch, NZV 2005, 393 (395); Lemcke, r + s 2005, 307 f. 80 Von Koppenfels-Spies, in: FS Stürner (2013) S. 201 (209 ff.); ablehnend auch MHdB ArbR/Reichold (Fn. 36), § 59 Rn. 28; ErfK/Rolfs (Fn. 1), SGB VII § 110 Rn. 7. 78
Informationsrechte bei Wechsel des Abschlussprüfers nach § 320 Abs. 4 HGB und Art. 18 EU-APrVO Von Werner F. Ebke Rechnungslegungsskandale wie Comroad, Enron, FlowTex, Parmalat und WorldCom sowie jüngst Wirecard geben weltweit Anlass zu der Frage nach der Verantwortung staatlicher Aufsichtsstellen (in Deutschland etwa des Bundesamts für Finanzdienstleistungsaufsicht [BaFin] oder der Abschlussprüferaufsichtsstelle [APAS] beim Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle), privatrechtlich organisierter (Private Enforcement-)Einrichtungen (in Deutschland beispielsweise der Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung [DPR]) und insbesondere der Abschlussprüfer, die die Jahresabschlüsse der in die Schieflage geratenen prüfungspflichtigen Unternehmen geprüft und bestätigt haben.1 Der nachfolgende Beitrag beschäftigt sich – losgelöst von der Frage nach der Verantwortung von Behörden oder Privaten im Einzelfall – mit den Informationsrechten des Abschlussprüfers im Rahmen einer gesetzlich vorgeschriebenen (Konzern-)Abschlussprüfung, insbesondere bei Wechsel des Abschlussprüfers (§ 320 Abs. 4 HGB und Art. 18 EU-APrVO).2 I. Ziel und Gegenstand gesetzlicher Jahresabschlussprüfungen 1. Ziel Wesentliches Ziel gesetzlich vorgeschriebener Abschlussprüfungen durch unabhängige Wirtschaftsprüfer oder Wirtschaftsprüfungsgesellschaften ist es, festzustellen, ob der Jahresabschluss bzw. der Konzernabschluss den gesetzlichen Vorschriften und sie ergänzende Bestimmungen des Gesellschaftsvertrages oder der Satzung entspricht und der Abschluss unter Beachtung der Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung (§ 317 Abs. 1 Satz 1 HGB) ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechen1 Vgl. zu Enron: Coffee, Bus. Law. 57 (2002), 1403; Gordon, U. Chi. L. Rev. 69 (2002), 1233; Hartgraves, DWB 2004, 753; Rapoport/Dharan (Hrsg.), Enron: Corporate Fiascos and Their Implications, 2004; Ronen, Stan. J. L. Bus. & Fin. 8 (2002), 39; Semple, Fed’n Def. & Corp. Couns. Q. 53 (2002), 85; Parker, Eur. Acc. Rev. 2005, 383; zu Parmalat: Ferrarini/ Guidici, in: Armour/McCahery (Hrsg.), After Enron: Improving Corporate Law and Modernising Securities Regulation in Europe and the US, 2006, S. 159; Scarso, GesRZ 2004, 291; zu Wirecard: IDW, Positionspapier: Fortentwicklung der Unternehmensführung und -kontrolle. Erste Lehren aus dem Fall Wirecard (Stand: 16. 11. 2020); allgemein Ebke, in: FS Yamauchi, 2006, S. 105; Ebke, in: FS Stürner, 2013, S. 1001. 2 Siehe dazu zuletzt Ebke, in: MüKoHGB, 4. Aufl. 2020, § 320 Rn. 28 ff.
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des Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Gesellschaft vermittelt (§ 317 Abs. 1 Satz 2, § 264 Abs. 2 Satz 1, § 297 Abs. 2 Satz 2 HGB).3 Die Prüfung ist so anzulegen, dass Unrichtigkeiten (d. h. unbeabsichtigt begangene Handlungen) und Verstöße (d. h. absichtlich begangene Handlungen) gegen die in § 317 Abs. 1 Satz 2 aufgeführten Bestimmungen, die sich auf die Darstellung des sich nach § 264 Abs. 2 HGB ergebenden Bildes der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage des Unternehmens wesentlich auswirken, bei gewissenhafter Berufsausübung erkannt werden (§ 317 Abs. 1 Satz 3 HGB). Der Lagebericht und der Konzernlagebericht sind darauf zu prüfen, ob der Lagebericht mit dem Jahresabschluss, ggf. auch mit dem Einzelabschluss nach § 325 Abs. 2a HGB, bzw. mit dem Konzernabschluss sowie mit den bei der Prüfung gewonnenen Erkenntnissen des Abschlussprüfers in Einklang stehen und ob der (Konzern-)Lagebericht insgesamt ein zutreffendes Bild von der Lage des Unternehmens bzw. des Konzerns vermittelt (§ 317 Abs. 2 Satz 1 HGB). Dabei ist auch zu prüfen, ob die Chancen und Risiken der künftigen Entwicklung zutreffend dargestellt sind (§ 317 Abs. 2 Satz 2 HGB). Die Prüfung des (Konzern-)Lageberichts hat sich auch darauf zu erstrecken, ob die gesetzlichen Vorschriften zur Aufstellung des Lage- bzw. Konzernlageberichts beachtet worden sind (§ 317 Abs. 2 Satz 3 HGB). Im Hinblick auf die Vorgaben nach den §§ 289b bis 289e HGB und den §§ 315b und 315c HGB ist nur zu prüfen, ob die nichtfinanzielle (Konzern-) Erklärung bzw. der gesonderte nichtfinanzielle (Konzern-)Bericht vorgelegt wurde (§ 317 Abs. 2 Satz 4 HGB). 2. Gegenstand Gegenstand der Prüfung der Rechnungslegung von Kapitalgesellschaften i. S. v. § 316 Abs. 1 Satz 1 HGB sowie Personenhandelsgesellschaften i. S. v. § 264a Abs. 1 HGB ist der Jahresabschluss, bestehend aus Bilanz, Gewinn- und Verlustrechnung und Anhang (§§ 242 Abs. 3, 264 Abs. 1 Satz 1 HGB), sowie der Lagebericht (§ 316 Abs. 1 Satz 1 HGB). Bei kapitalmarktorientierten Kapitalgesellschaften (§ 264d HGB), die nicht zur Aufstellung eines Konzernabschlusses verpflichtet sind, gehören zum Jahresabschluss außerdem die Kapitalflussrechnung und der Eigenkapitalspiegel, die mit der Bilanz, der Gewinn- und Verlustrechnung und dem Anhang eine Einheit bilden (§ 264 Abs. 1 Satz 2 HGB).4 Nach § 317 Abs. 1 Satz 1 HGB ist die Buchführung (vgl. § 243 Abs. 1 HGB) in die Prüfung des Jahresabschlusses einzubeziehen.5 Zur Buchführung zählen die Finanzbuchführung, die Anlagenbuch3 Auf die Abschlussprüfung bei kapitalmarktorientierten Unternehmen i. S. v. § 264d HGB ist § 317 HGB gemäß Abs. 3a nur insoweit anzuwenden, als die EU-APrVO Nr. 537/2014 (ABl. EU L 158 vom 27. 5. 2014, S. 77, L 170 vom 11. 6. 2014, S. 66) keine spezifischen Anforderungen enthält. 4 BGH, Beschl. v. 23. 1. 2019 – VII ZR 3/18, openJur 2019, 2346 Rn. 4; BGH Beschl. v. 21. 11. 2018 – VII/ZR 3/18, openJur 2019, 2285 Rn. 26. 5 Zu Einzelheiten siehe Graumann, Wirtschaftliches Prüfungswesen, 5. Aufl. 2017, S. 345 ff. Zur Digitalisierung im Rechnungswesen siehe Kreher/Gundel, WPg 2020, 677.
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führung, die Lohn- und Gehaltsbuchhaltung und die Lagerbuchhaltung, ferner das Inventar.6 Die Kostenrechnung ist nicht unmittelbar Gegenstand der Abschlussprüfung; sie muss aber insoweit in die Prüfung mit einbezogen werden, als sie Grundlage für Ansatz oder Bewertung einzelner Bilanzposten ist.7 Für die Prüfung einer nach dem Umsatzkostenverfahren aufgestellten Gewinn- und Verlustrechnung (§ 275 Abs. 3 HGB) ist die Kostenstellen- und die Kostenträgerrechnung heranzuziehen.8 Der Abschlussprüfer des Konzernabschlusses hat auch die im Konzernabschluss zusammengefassten Jahresabschlüsse, insbesondere die konsolidierungsbedingten Anpassungen, in entsprechender Anwendung des § 317 Abs. 1 HGB zu prüfen (§ 317 Abs. 3 Satz 1 HGB). Bei einer Kapitalgesellschaft, die als Inlandsemittent (§ 2 Abs. 14 WpHG) Wertpapiere (§ 2 Abs. 1 WpHG) begibt und keine Kapitalgesellschaft i. S. d. § 327a HGB ist, hat der Abschlussprüfer im Rahmen der Prüfung auch zu beurteilen, ob die für Zwecke der Offenlegung erstellte Wiedergabe des (Konzern-)Abschlusses und des (Konzern-)Lageberichts den Vorgaben des § 328 Abs. 1 HGB entsprechen (§ 317 Abs. 3b HGB).9 Bei einer börsennotierten Aktiengesellschaft muss der Abschlussprüfer außerdem beurteilen, ob der Vorstand die ihm nach § 91 Abs. 2 AktG obliegenden Maßnahmen in einer geeigneten Form getroffen hat und ob das danach einzurichtende Überwachungssystem seine Aufgaben erfüllen kann (Funktionsprüfung: § 317 Abs. 4 HGB). Das Risikofrüherkennungssystem ist Teil des internen Kontrollsystems, dessen Prüfung „unabdingbar“ ist, da sie Voraussetzung für die Einschätzung des Kontrollrisikos ist und daher Art, zeitliche Abfolge und Umfang der Prüfungshandlungen durch den Abschlussprüfer bestimmt.10 Wird der (Konzern-)Abschluss oder der (Konzern-)Lagebericht nach Vorlage des Prüfungsberichts (§ 321 HGB) geändert, so hat der Abschlussprüfer diese Unterlagen erneut zu prüfen, soweit es die Änderung erfordert (Nachtragsprüfung: § 316 Abs. 3 Satz 1 HGB). Über das Ergebnis der Nachtragsprüfung ist zu berichten; der Bestätigungsvermerk ist entsprechend zu ergänzen (§ 316 Abs. 3 Satz 2 HGB).11 6 Merkt, in: Baumbach/Hopt, HGB, 39. Aufl. 2020, § 317 Rn. 2; Burg, in Hachmeister/ Kahle/Mock/Schüppen, HGB, 2018, § 317 Rn. 27. Zu Einzelheiten siehe Graumann (Fn. 5), S. 405 – 428. 7 Böcking/Gros/Rabenhorst, in: Wiedmann/Böcking/Gros, Bilanzrecht, 4. Aufl. 2019, § 317 Rn. 6; Schmidt/Almeling, in: Beck’scher Bilanzkommentar, 11. Aufl. 2018, § 317 Rn. 5. 8 BeckBilKomm/Schmidt/Almeling (Fn. 7), § 317 Rn. 5; Schüppen, in: Heidel/Schall (Hrsg.), HGB, 3. Aufl. 2020, § 317 Rn. 9. 9 Über das Ergebnis der Prüfung nach § 317 Abs. 3b HGB ist in einem besonderen Abschnitt des Bestätigungsvermerks zu berichten (§ 322 Abs. 1 Satz 4 HGB). Diese Regelung stimmt mit den Empfehlungen des CEAOB vom 28. 11. 2019 überein. Siehe MüKoHGB/ Böcking/Ebke/Hanke (Fn. 2), Nachtrag ESEF-UG § 322 Rn. 14. 10 WBG/Böcking/Gros/Rabenhorst (Fn. 7), § 320 Rn. 8. Zur Praxis der Prüfung des internen Kontrollsystems siehe Maciuka/Richtering, WPg 2019, 1; Dieterle, WPg 2020, 362. 11 § 316 Abs. 3 Satz 1 und 2 HGB gelten entsprechend für die Wiedergabe des (Konzern-) Abschlusses und des (Konzern-)Lageberichts, welche eine Kapitalgesellschaft, die als Inlandsemittent (§ 2 Abs. 14 WpHG) Wertpapiere (§ 2 Abs. 1 WpHG) begibt und keine Kapitalgesellschaft i. S. d. § 327a HGB ist, für Zwecke der Offenlegung erstellt hat (§ 316 Abs. 3 Satz 3 HGB).
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Der durch das AReG vom 10. 5. 201612 in § 317 HGB eingefügte Absatz 4a stellt klar, dass – soweit nichts anderes bestimmt ist13 – sich die Prüfung nicht darauf zu erstrecken hat, ob der Fortbestand des geprüften Unternehmens oder die Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit der Geschäftsführung zugesichert werden kann („AntiErwartungslücke-Klausel“14). Dadurch wird der Verantwortungsbereich des Abschlussprüfers von dem Verantwortungsbereich der gesetzlichen Vertreter der prüfungspflichtigen Gesellschaft abgegrenzt. Dass die gesetzlichen Vertreter und nicht der Abschlussprüfer den Jahresabschluss zu vertreten haben, stellt schon § 322 Abs. 2 Satz 2 HGB klar. Mit dem Begriff „zugesichert“ dürfte ein eigenständiges Prüfungsurteil des Abschlussprüfers im Prüfungsbericht (§ 321 HGB) bzw. Bestätigungsvermerk (§ 322 HGB) gemeint sein.15 Allerdings verlangt § 322 Abs. 2 Satz 3 HGB, dass der Abschlussprüfer im Bestätigungsvermerk auf Risiken, die den Fortbestand des Unternehmens oder eines Konzernunternehmens gefährden, gesondert eingeht. Burg weist zutreffend darauf hin, dass daraus, dass eine derartige Angabe im Bestätigungsvermerk nicht enthalten ist (weil keine fortbestandsgefährdenden Risiken ersichtlich sind), keine Zusicherung des Abschlussprüfers bezüglich des künftigen Fortbestands des Unternehmens abgeleitet werden kann.16 Die Abschlussprüfung nach § 317 HGB umfasst auch nicht die Prüfung der Ordnungsmäßigkeit der Geschäftsführung, der wirtschaftlichen Lage der Gesellschaft, des Berichts des Aufsichtsrats nach § 171 Abs. 2 AktG und die unterjährige Zwischenberichterstattung.17 Aufgrund der gesetzlich vorgegebenen Prüfungsgegenstände und Prüfungsziele (§ 317 Abs. 1 Satz 3 HGB), die sich im Bestätigungsvermerk spiegeln (§ 322 Abs. 3 Satz 1 HGB), besagt ein uneingeschränkter Bestätigungsvermerk also nicht, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse des geprüften Unternehmens „gesund und unverwundbar“ sind.18 Selbst ein uneingeschränkter Bestätigungsvermerk ist 12
BGBl. I S. 1142. Siehe z. B. die Erweiterung des gesetzlichen Prüfungsauftrags gemäß § 53 HGrG (Prüfung der Geschäftsführung): Heidel/Schall/Schüppen (Fn. 8), § 317 Rn. 29. Umstritten ist allerdings, ob die Prüfung auf Verlangen der an einem privatrechtlich organisierten Unternehmen mehrheitlich beteiligten Gebietskörperschaft (§ 53 Abs. 1 HGrG) eine Pflichtprüfung i. S. v. § 316 Abs. 1 Satz 1 HGB darstellt. Mit Recht bejahend Schüppen, ZIP 2015, 814; Baumbach/Hopt/Merkt (Fn. 6), § 316 Rn. 1; a. A. Kersting, ZIP 2014, 2420; Kersting, ZIP 2015, 817. 14 Heidel/Schall/Schüppen (Fn. 8), § 317 Rn. 28. 15 BeckBilKomm/Schmidt/Almeling (Fn. 7), § 317 Rn. 8; HKMS/Burg (Fn. 6), § 317 Rn. 25. 16 HKMS/Burg (Fn. 6), § 317 Rn. 26. 17 HKMS/Burg (Fn. 6), § 317 Rn. 24; BeckBilKomm/Schmidt/Almeling (Fn. 7), § 317 Rn. 7. 18 Scheffler, in: FS Havermann, 1995, S. 651 (666). Ebenso Heidel/Schall/Schüppen (Fn. 8), § 322 Rn. 13 („kein Urteil über die wirtschaftliche Lage des Unternehmens“) unter Hinweis auf OLG Celle NZG 2000, 613 (614) und OLG Karlsruhe WM 1985, 940 (942). In diesem Sinne auch BGH WM 2020, 987 (988) („… die Prüfung des Jahresabschlusses und des Lageberichts von Kapitalgesellschaften durch einen Abschlussprüfer [ist] keine umfassende Rechts- und Wirtschaftsprüfung, sondern nur eine Rechnungslegungsprüfung“). 13
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daher kein von der Rechnungslegung und Buchführung losgelöstes „Gesundheitstestat“19 oder „Gütesiegel der wirtschaftlichen Lage“20 und schon gar nicht eine „Garantieübernahmeerklärung“ des Abschlussprüfers.21 Zu beachten ist ferner: Auch wenn der Abschlussprüfer seine Prüfung risiko- und problemorientiert (vgl. § 322 Abs. 2 Satz 2 HGB) und mit der stets gebotenen „kritischen Grundhaltung“22 durchzuführen hat, ist die gesetzliche Abschlussprüfung keine gezielte Unterschlagungsprüfung oder sonstige forensische Prüfung:23 Auf die Aufdeckung und Aufklärung strafrechtlicher Tatbestände (z. B. Untreuehandlungen, Unterschlagungen, Diebstähle, Betrugsstraftaten, Kollusionen) und außerhalb der Buchführung und Rechnungslegung begangener Ordnungswidrigkeiten ist die gesetzliche Abschlussprüfung ihrem Wesen und den gesetzlichen Zielvorgaben nach nicht ausgerichtet.24 Der Abschlussprüfer darf auch nicht „auf eigene Faust“ eine Sonderprüfung veranstalten.25 Erfährt der Abschlussprüfer bei Durchführung der Prüfung von in § 321 Abs. 1 Satz 3 HGB genannten „Unrichtigkeiten“ oder „Verstößen“ bzw. „Tatsachen“, die den „Bestand des geprüften Unternehmens oder des Konzerns gefährden“ oder seine „Entwicklung wesentlich beeinträchtigen“ können, so hat er ihnen (auch solchen, die erst nach dem Abschlussstichtag eingetreten sind!) durch geänderte oder erweiterte Prüfungshandlungen nachzugehen und darüber zu berichten, sofern gesetzliche Verpflichtungen dem nicht entgegenstehen.26 Ebenso gilt: Ergibt eine grundsätzlich zulässige (bewusste oder mathematisch-statistische) 19
WBG/Böcking/Gros/Rabenhorst (Fn. 7), § 322 Rn. 5. Spieth/Förschle, in: FS Ludewig, 1996, S. 1049 (1058); Erle, in: FS Röhricht, 2005, S. 859 (870 und 876); Baumbach/Hopt/Merkt (Fn. 6), § 322 Rn. 1; Quick, in: Merkt/Probst/ Fink (Hrsg.), Rechnungslegung nach HGB und IFRS, 2017, § 322 Rn. 233; a. A. HKMS/ Müller (Fn. 6), § 322 Rn. 4 („durchaus ein Gütesiegel … aber vielleicht besser als Echtheitszertifikat zu bezeichnen“). 21 So aber Grunewald, ZGR 1999, 583 (598); ähnlich Lutter, ZSR 124 (2005-II), 415 (448) („Garant gegenüber Markt und Öffentlichkeit“); unklar Frings, WPg 2006, 821 (822) („… Garant [allerdings nicht im Sinne einer absoluten Gewährleistung]“); a. A. (wie hier) Becker, Verwaltungskontrolle durch Gesellschafterrechte, 1997, S. 783 („kein Garant für eine gesetzes- und statutengetreue Geschäftsführung über die Rechnungslegung und Buchführung hinaus“). 22 Zu Einzelheiten der Anforderungen an die kritische Grundhaltung: Deckers/Hermann, DB 2013, 2315; Farr, WPg 2018, 397; Chekushina/Loth, NZG 2014, 8; Güßfeldt, in: Hense/ Ulrich, WPO Kommentar, 3. Aufl. 2018, § 43 Rn. 701 – 749. 23 Baumbach/Hopt/Merkt (Fn. 6), § 321 Rn. 6; MPF/Quick (Fn. 20), § 321 Rn. 196; HKMS/Burg (Fn. 6), § 321 Rn. 50. 24 IDW PS 201: Rechnungslegungs- und Prüfungsgrundsätze für die Abschlussprüfung (Stand: 5. 3. 2015), WPg Supp. 2/2015, 1 (Tz 11); vgl. ISA [DE] 240: International Standard on Auditing 240: Verantwortlichkeiten des Abschlussprüfers bei dolosen Handlungen (Stand: 26. 9. 2019), IDW Life 2019, 660. Siehe auch Schruff, WPg 2003, 901; Knabe/Mika/Müller/ Rätsch/Schruff, WPg 2004, 1057; monografisch Hauser, Jahresabschlussprüfung und Aufdeckung von Wirtschaftskriminalität, 2000. 25 Baumbach/Hopt/Merkt (Fn. 6), § 317 Rn. 6. 26 BeckBilKomm/Schmidt/Deicke (Fn. 7), § 321 Rn. 40; HKMS/Burg (Fn. 6), § 321 Rn. 50; näher MüKoHGB/Ebke (Fn. 2), § 321 Rn. 42 – 50. 20
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Stichprobe bei einer Einzelfall- oder Systemprüfung Fehler, so ist in dem betreffenden Prüffeld die Prüfung zu verstärken und erforderlichenfalls bis zur vollständigen Erfassung aller mit ihm im Zusammenhang stehenden Geschäftsvorfälle auszudehnen.27 II. Einsichtnahme-, Prüfungs- und Auskunftsrechte des Abschlussprüfers Damit die Ziele der gesetzlichen Jahresabschlussprüfung erreicht werden können, verpflichtet der – auf §§ 148, 165 Abs. 1 bis 4, 336 Abs. 3 AktG 1965 zurückgehende, durch das BilMoG vom 25. 5. 200928 um den Abs. 4 und durch das AReG vom 10. 5. 201629 um den Abs. 5 erweiterte, durch das CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetz vom 11. 4. 201730 in Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 an die nichtfinanziellen Berichtspflichten der CSR-Richtlinie angepasste und durch das ESEF-UG vom 12. 8. 202031 im Hinblick auf das einheitliche elektronische Format für Jahresfinanzberichte um Abs. 1 Satz 3 und Abs. 3 Satz 3 erweiterte – § 320 HGB die gesetzlichen Vertreter der prüfungspflichtigen Gesellschaft zur unverzüglichen Vorlage des Jahresabschlusses, des Lageberichts und des gesonderten nichtfinanziellen Berichts an den Abschlussprüfer (§ 320 Abs. 1 Satz 1 HGB). Die gesetzlichen Vertreter haben dem Abschlussprüfer außerdem zu gestatten, die Bücher und Schriften der Gesellschaft sowie die Vermögensgegenstände und Schulden, namentlich die Kasse und die Bestände an Wertpapieren und Waren, zu prüfen (§ 320 Abs. 1 Satz 2 HGB).32 Die gesetzlichen Vertreter einer Kapitalgesellschaft, die als Inlandsemittent (§ 2 Abs. 14 WpHG) Wertpapiere (§ 2 Abs. 1 WpHG) begibt und keine Kapitalgesellschaft i. S. d. § 327a HGB ist, haben dem Abschlussprüfer auch die für Zwecke der Offenlegung nach den Vorgaben des § 328 Abs. 1 HGB erstellte Wiedergabe des (Konzern-)Abschlusses und des (Konzern-)Lageberichts vorzulegen (§ 320 Abs. 1 Satz 3 und Abs. 3 Satz 3 HGB).33 Mit den Pflichten der gesetzlichen Vertreter 27
OLG Düsseldorf BB 1996, 2614 (2615); HKMS/Burg (Fn. 6), § 317 Rn. 68; MüKoHGB/Ebke (Fn. 2), § 317 Rn. 52; Ebke, Wirtschaftsprüfer und Dritthaftung, 1983, S. 23. 28 BGBl. I S. 1102. 29 BGBl. I S. 1142. 30 BGBl. I S. 802. Zu Einzelheiten siehe Althoff/Wirth, WPg 2018, 1138; Richter/Johne/ König, WPg 2017, 566; Rimmelspacher/Schäfer/Schönberger, KoR 2017, 225; Schäfer/ Schröder, WPg 2017, 1324. 31 BGBl. I S. 1874. Zu Einzelheiten des ESEF-UG siehe MüKoHGB/Böcking/Ebke/Hanke (Fn. 2), Nachtrag ESEF-UG. 32 Zu Einzelheiten siehe MüKoHGB/Ebke (Fn. 2), § 320 Rn. 6 – 13. 33 Durch die Erweiterung der Vorlagepflicht der gesetzlichen Vertreter der betroffenen Kapitalmarktunternehmen soll sichergestellt werden, dass der Abschlussprüfer auch in die Lage versetzt wird, im Rahmen der Abschlussprüfung eine Prüfung der für Zwecke der Offenlegung erstellten elektronischen Wiedergaben der (Konzern-)Abschlüsse und (Konzern-) Lageberichte vorzunehmen. Vgl. RegE ESEF-UG vom 22. 1. 2020, S. 21. Zu Einzelheiten des RegE ESEF-UG siehe Orth/Obst, WPg 2020, 422.
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korrespondiert auf Seiten des Abschlussprüfers ein Recht auf Vorlage, Einsichtnahme und Prüfung. Darüber hinaus stattet das Gesetz den Prüfer mit weitreichenden Auskunftsrechten aus: Der Abschlussprüfer kann von den gesetzlichen Vertretern „alle Aufklärungen und Nachweise“ verlangen, die für eine sorgfältige Prüfung notwendig sind (§ 320 Abs. 2 Satz 1 HGB).34 Die Rechte nach § 320 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 Satz 1 HGB stehen dem Abschlussprüfer auch schon vor Aufstellung des Jahresabschlusses zu, soweit es die Vorbereitung der Abschlussprüfung erfordert (§ 320 Abs. 2 Satz 2 HGB).35 Soweit es für eine sorgfältige Prüfung notwendig ist, hat der Abschlussprüfer die Rechte nach § 317 Abs. 2 Satz 1 und 2 HGB auch gegenüber Mutter- und Tochterunternehmen (§ 320 Abs. 2 Satz 3 HGB). § 320 Abs. 3 HGB erstreckt die Rechte und Pflichten der Beteiligten auf die Konzernabschlussprüfung. § 320 Abs. 4 Hs. 1 HGB räumt dem Abschlussprüfer darüber hinaus ein unmittelbares Recht auf Information gegenüber dem bisherigen Abschlussprüfer ein und verpflichtet den bisherigen Abschlussprüfer, seinen Nachfolger auf schriftliche Anfrage über das Ergebnis der bisherigen Prüfung zu berichten (dazu sogleich sub III.). Gemäß § 320 Abs. 5 Satz 1 HGB kann der Prüfer nach § 320 Abs. 2 HGB zur Verfügung gestellte Unterlagen an den Abschlussprüfer des Konzernabschlusses weitergeben, soweit diese für die Prüfung des Konzernabschlusses des Mutterunternehmens erforderlich sind, wenn die prüfungspflichtige Kapitalgesellschaft als Tochterunternehmen in den Konzernabschluss eines Mutterunternehmens einbezogen ist, das seinen Sitz nicht in einem Mitgliedstaat der EU oder einem anderen Vertragsstaat des EWR (Fürstentum Liechtenstein, Island, Norwegen) hat. Die Pflichten der gesetzlichen Vertreter der prüfungspflichtigen Gesellschaft gegenüber dem Abschlussprüfer (§ 320 Abs. 1 und 2 HGB) und die damit korrespondierenden Rechte des Abschlussprüfers sowie die Auskunftsrechte des Abschlussprüfers gegenüber den gesetzlichen Vertretern nach § 320 Abs. 2 Satz 1 HGB können weder im Prüfungsauftrag noch durch sonstige Vereinbarungen zwischen Prüfer und prüfungspflichtiger Gesellschaft aufgehoben oder eingeschränkt werden (§ 134 BGB); sie können auch im Gesellschaftsvertrag oder in der Satzung nicht zulasten des Prüfers verändert werden.36 Gleiches gilt für die Informationsrechte des Abschlussprüfers bei Wechsel des Abschlussprüfers (§ 320 Abs. 4 HGB).
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Zu dem sog. „letzten Auskunftsersuchen“ des Abschlussprüfers mittels Zuleitung eines Berichtsentwurfs (Vorweg- oder Leseexemplars) nach altem und neuem Recht siehe MüKoHGB/Ebke (Fn. 2), § 321 Rn. 93 – 95. 35 Das ist eine sinnvolle Regelung, die eine frühzeitige Fehlerkorrektur durch den Prüfer ermöglicht (so auch BGH AG 2006, 887; OLG Frankfurt a. M. NZG 2010, 389; LG Hagen Beschl. vom 30. 8. 2005 – 21 O 54/05, openJur 2011, 38942 m. w. N.) und aufgrund des gesetzten Termindrucks unabdingbar und gängige Praxis ist (ebenso Graumann [Fn. 5], S. 172). 36 Heidel/Schall/Schüppen (Fn. 8), § 320 Rn. 3; BeckBilKomm/Schmidt/Heinz (Fn. 7), § 320 Rn. 1; HKMS/Burg (Fn. 6), § 320 Rn. 19; MPF/Bruckner/Homfeldt (Fn. 20), § 320 Rn. 155.
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III. Informationsrechte bei Wechsel des Abschlussprüfers 1. Hintergrund § 320 Abs. 4 Hs. 1 HGB bestimmt, dass bei einem Prüferwechsel der bisherige Abschlussprüfer dem neuen Abschlussprüfer auf schriftliche Anfrage über das Ergebnis der bisherigen Prüfung zu berichten hat.37 Der Gesetzgeber eröffnet dem Abschlussprüfer damit seit 2009 eine zusätzliche Quelle für Informationen, die für eine sorgfältige Prüfung notwendig sind. Der Informationsfluss von dem bisherigen Abschlussprüfer zu seinem Nachfolger erfolgt nach Inhalt und Aufbau in der Form eines Prüfungsberichts i. S. v. § 321 HGB (§ 320 Abs. 4 Hs. 2 HGB). Die Vorschrift dient der Umsetzung von Art. 23 Abs. 3 der Abschlussprüferrichtlinie vom 17. 5. 2006.38 Art. 23 Abs. 3 APrRL bestimmt: „Wird ein Abschlussprüfer oder eine Prüfungsgesellschaft durch einen anderen Abschlussprüfer oder eine andere Prüfungsgesellschaft ersetzt, gewährt dieser Abschlussprüfer bzw. diese Prüfungsgesellschaft dem neuen Abschlussprüfer bzw. der neuen Prüfungsgesellschaft Zugang zu allen relevanten Informationen über das geprüfte Unternehmen“. § 320 Abs. 4 Hs. 1 HGB differenziert – ebenso wie Art. 23 Abs. 3 APrRL – nicht danach, aus welchem Grund der Abschlussprüfer nicht mehr als Abschlussprüfer für die prüfungspflichtige Gesellschaft tätig ist.39 Deshalb ist in der Literatur umstritten, ob § 320 Abs. 4 Hs. 1 HGB nur den vorzeitigen Prüferwechsel während einer laufenden Abschlussprüfung erfasst (z. B. aufgrund gerichtlicher Ersetzung nach § 318 Abs. 3 HGB40 oder aufgrund der Kündigung nach § 318 Abs. 6 Satz 1 HGB41) oder auch den regulären Prüferwechsel, wenn der Prüfer also erst für das nächste Geschäftsjahr ausgewechselt wird. Erörtert wird darüber hinaus, ob innerhalb der Fallgruppe des vorzeitigen Prüferwechsels weiter danach zu differenzieren ist, ob – wie bei der Kündigung aus wichtigem Grund (§ 318 Abs. 6 Satz 1 HGB) – eine gesetzliche Berichtspflicht des bisherigen Prüfers gegenüber der Gesellschaft besteht (§ 318 Abs. 6 Satz 4 Hs. 1 HGB) oder ob eine solche Berichtspflicht des bisherigen Abschlussprüfers – wie in den Fällen der gerichtlichen Ersetzung des Abschlussprüfers nach § 318 Abs. 3 HGB42 – nicht besteht.43 37 Der Informationstransfer setzt – auch bei vorgezogener Wahl des Abschlussprüfers – die wirksame Bestellung des neuen Abschlussprüfers voraus: Singhof, in: FS Marsch-Barner, 2020, S. 539 (543). Zu der Kostentragungspflicht in den Fällen des § 320 Abs. 4 HGB siehe Heidel/Schall/Schüppen (Fn. 8), § 320 Rn. 17. 38 ABl.EG L 157 vom 9. 6. 2006, S. 87. 39 Habersack/Schürnbrand, in: Staub, HGB, 5. Aufl. 2010, § 320 Rn. 24. 40 Ausführlich zu dem Ersetzungsverfahren: MüKoHGB/Ebke (Fn. 2), § 318 Rn. 67 – 122. 41 Zu Einzelheiten der Kündigung des Prüfungsvertrags: MüKoHGB/Ebke (Fn. 2), § 318 Rn. 135 – 151. 42 Bei einer gerichtlichen Ersetzung des Abschlussprüfers nach § 318 Abs. 3 besteht nach h. M. keine Berichtspflicht des bisherigen Abschlussprüfers gegenüber den Organen der prüfungspflichtigen Gesellschaft, auch nicht analog § 318 Abs. 6 Satz 4 HGB: BeckBilKomm/ Schmidt/Heinz (Fn. 7), § 320 Rn. 42; HKMS/Burg (Fn. 6), § 320 Rn. 41. 43 HKMS/Burg (Fn. 6) § 320 Rn. 40 – 41.
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Nach herrschender und überzeugender Ansicht löst sowohl der reguläre als auch der vorzeitige Prüferwechsel die Rechte des neuen Abschlussprüfers nach § 320 Abs. 4 Hs. 1 HGB aus.44 Diese Ansicht kann sich auf die Begründung des Regierungsentwurfs des BilMoG stützen45 und trägt der Tatsache Rechnung, dass der Gesetzgeber ungeachtet der Forderung nach Klarstellung46 im Gesetzgebungsverfahren an der jetzigen Fassung des § 320 Abs. 4 HGB festgehalten hat.47 Diese Auslegung ist auch europarechtskonform. Zwar verwendet Art. 23 Abs. 3 APrRL den Begriff „ersetzt“ („replaced“, „remplacé“, „sostituito“, „sustituido“), dieser – autonom auszulegende – Begriff deckt sich aber nicht mit dem gleichlautenden Begriff i. S. d. Ersetzungsverfahrens nach deutschem Recht (§ 318 Abs. 3 HGB). Die APrRL enthält keine Regelungen über eine Ersetzung des Abschlussprüfers wegen Besorgnis der Befangenheit oder Bestehens eines sonstigen Ausschlussgrundes. Deshalb verwendet Art. 23 Abs. 3 APrRL den Begriff auch nicht mit der spezifischen („technischen“) Bedeutung i. S. d. Verfahrens zur Ersetzung eines gesetzlichen Abschlussprüfers während einer laufenden Abschlussprüfung, sondern allgemein i. S. e. Prüferwechsels, ohne auf die Gründe für den Wechsel abzuheben.48 Folgt man der herrschenden Meinung, erfasst § 320 Abs. 4 Hs. 1 HGB die Fälle, in denen der Prüfer die laufende Prüfung abschließt, für das nachfolgende Geschäftsjahr aber nicht wiedergewählt worden ist. Erfasst sind ferner die Fälle, in denen der bestellte Prüfer während einer laufenden Abschlussprüfung seinen Prüfungsvertrag aus wichtigem Grund gekündigt hat (§ 318 Abs. 6 Satz 1 HGB) oder der Prüfungsauftrag durch Widerruf gemäß § 318 Abs. 1 Satz 5 HGB beendet wurde. Ebenfalls erfasst sind die Fälle, in denen ein bestellter Prüfer während einer laufenden Abschlussprüfung ersetzt wurde, weil dies aus einem in seiner Person liegenden Grund geboten erschien (insbesondere wegen Bestehens eines Ausschlussgrundes nach § 319 Abs. 2 bis 5 HGB oder nach den §§ 319a oder § 319b HGB oder wegen Verstoßes gegen Art. 5 Abs. 4 UAbs. 1 oder Abs. 5 UAbs. 2 Satz 2 EUAPrVO) oder weil die Vorschriften zur Bestellung des Prüfers nach Art. 16 EUAPrVO oder zur Laufzeit des Prüfungsmandats nach Art. 17 EU-APrVO nicht eingehalten worden sind (§ 318 Abs. 3 Satz 1 HGB) oder weil der gewählte Abschlussprüfer weggefallen oder an dem rechtzeitigen Abschluss der Prüfung verhindert war (§ 318 Abs. 4 Satz 2 HGB). Schließlich erfasst § 320 Abs. 4 Hs. 1 HGB wohl auch die Fälle, in denen bis zum Ablauf des Geschäftsjahres kein Abschlussprüfer gewählt 44
Staub/Habersack/Schürnbrand (Fn. 39), § 320 Rn. 24; Baumbach/Hopt/Merkt (Fn. 6), § 320 Rn. 4; BeckBilKomm/Schmidt/Heinz (Fn. 7), § 320 Rn. 40; HKMS/Burg (Fn. 6), § 320 Rn. 41; MPF/Bruckner/Homfeldt (Fn. 18), § 320 Rn. 172; Hense/Ulrich/Haarmann/Hennig (Fn. 22), § 43 Rn. 144. 45 BT-Drucks. 16/10067, S. 91. 46 So auf der Grundlage des RefE BilMoG Oser/Roß/Wader/Drögemüller, WPg 2008, 105 (111). 47 Staub/Habersack/Schürnbrand (Fn. 39), § 320 Rn. 24. 48 Staub/Habersack/Schürnbrand (Fn. 39), § 320 Rn. 24; HKMS/Burg (Fn. 6), § 320 Rn. 41.
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wurde (§ 318 Abs. 4 Satz 1 HGB) oder ein gewählter Abschlussprüfer die Annahme des Prüfungsauftrags abgelehnt hat (§ 318 Abs. 4 Satz 2 HGB), wobei sich der Berichtsanspruch des dann gerichtlich bestellten Prüfers gegen den Prüfer des vorausgegangenen Geschäftsjahres richtet.49 2. Berufsrecht Das Berufsrecht der Wirtschaftsprüfer in Deutschland trägt der Notwendigkeit einer möglichst breit angelegten Berichtspflicht des bisherigen Abschlussprüfers gegenüber seinem Nachfolger Rechnung, indem es bei Wechsel des Abschlussprüfers Vorlagepflichten statuiert (§ 42 Abs. 1 bis 2, 4 BS WP/vBP) und bei Prüferwechsel infolge Kündigung (§ 318 Abs. 6 Satz 1 HGB) oder Widerrufs (§ 318 Abs. 1 Satz 5 HGB) des Prüfungsauftrags den Mandatsvorgänger darüber hinaus verpflichtet, dem Mandatsnachfolger auf dessen schriftliche Anfrage hin die vorzulegenden Unterlagen zu erläutern (§ 42 Abs. 3 Satz 1 BS WP/vBP). Erfolgt die Erläuterung nicht, so hat der Mandatsnachfolger das Mandat abzulehnen; es sei denn, er hat sich auf andere Art und Weise davon überzeugt, dass gegen die Annahme des Mandats keine Bedenken bestehen (§ 42 Abs. 3 Satz 2, 53 Nr. 5 BS WP/vBP). 3. Handelsrechtliche Berichtspflicht Mit § 320 Abs. 4 Hs. 1 HGB wird dem nachfolgenden Abschlussprüfer gegenüber dem bisherigen Abschlussprüfer handelsrechtlich ein unmittelbar gegenüber dem bisherigen Abschlussprüfer wirkendes Recht auf einen Bericht über das Ergebnis der bisherigen Prüfung eingeräumt und umgekehrt der bisherige Abschlussprüfer verpflichtet, dem neuen Abschlussprüfer über das Ergebnis der bisherigen Abschlussprüfung zu berichten. Die Berichtspflicht des Vorgängers setzt – ebenso wie die berufsrechtliche Erläuterungspflicht nach § 42 Abs. 3 Satz 1 BS WP/vBP im Falle eines Prüferwechsels bei Kündigung oder Widerruf des Prüfungsauftrags – eine „schriftliche Anfrage“50 des nachfolgenden Abschlussprüfers voraus (§ 320 Abs. 4 Hs. 1 HGB).51 Der bisherige Abschlussprüfer ist demnach nicht verpflichtet, seinem Nachfolger unaufgefordert über das Ergebnis der bisherigen Prüfung zu berichten. Verlangt der nachfolgende Prüfer (wozu er nach deutschem Berufsrecht ver-
49 § 320 Abs. 4 Hs. 1 HGB gilt auch unmittelbar, wenn eine Prüfungsgesellschaft Abschlussprüfer ist (vgl. BT-Drucks. 16/10067, S. 91). Das ergibt sich aus § 319 Abs. 1 Satz 1 HGB, wonach sowohl Wirtschaftsprüfer als auch Wirtschaftsprüfungsgesellschaften „Abschlussprüfer“ sein können. 50 Das Schriftlichkeitserfordernis ist bei Einhaltung der Formen gemäß §§ 126, 126a BGB gewahrt. Aus Sicht der Praxis erscheinen Anfragen per E-Mail oder Telefax (nicht aber SMS oder WhatsApp) ausreichend, sofern die Identität des anfragenden neuen Abschlussprüfers außer Zweifel steht: BeckBilKomm/Schmidt/Heinz (Fn. 7), § 320 Rn. 41. 51 Zu den Gründen siehe BT-Drucks. 16/10067, S. 91.
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pflichtet ist: § 42 Abs. 2, 4 Satz 1 BS WP/vBP52) von seinem Vorgänger den Prüfungsbericht (§ 321 HGB) bzw. den Bericht über das Ergebnis der vorangegangenen Prüfung (§ 318 Abs. 6 Satz 4 HGB), muss dieser seiner Berichtspflicht „unverzüglich“, also ohne schuldhaftes Zögern (§ 121 Abs. 1 Satz 1 BGB) nachkommen.53 Ob und inwieweit der Abschlussprüfer die nach § 320 Abs. 4 Hs. 2 HGB i. V. m. § 321 HGB geforderten Feststellungen treffen kann, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab. Insbesondere die Berichterstattung nach § 321 Abs. 1 Satz 3 und Abs. 2 Satz 2 HGB54 wird nur in Ausnahmefällen vorgenommen werden können, etwa wenn der Prüferwechsel erst gegen Ende der Prüfung erfolgt.55 Die Berichtspflicht des bisherigen Prüfers gegenüber den Organen des geprüften Unternehmens nach §§ 318 Abs. 6 Satz 4 Hs. 1 HGB bleibt unberührt.56 4. Art und Weise der Berichterstattung Auf den Bericht des Vorgängers ist § 321 HGB entsprechend anzuwenden (§ 320 Abs. 4 Hs. 2 HGB).57 Das bedeutet zum einen, dass der Vorgänger „schriftlich und mit der gebotenen Klarheit“ (§ 321 Abs. 1 Satz 2 HGB entspr.) sowie bezüglich Inhalt, Form und Aufbau des Berichts entsprechend den Vorgaben des § 321 Abs. 1 Satz 2 Hs. 2 bis Abs. 5 Satz 1 HGB zu berichten und den Bericht zu unterzeichnen hat. Die Bestimmung des § 320 Abs. 4 Hs. 2 HGB bedeutet zum anderen, dass der Bericht nach § 320 Abs. 4 HGB „kein neues oder weitergehendes Berichtsinstrument“ darstellt.58 Demnach kommt der bisherige Abschlussprüfer bei einem regulären Prüferwechsel seiner Verpflichtung gegenüber seinem Nachfolger regelmäßig dadurch nach, dass er ihm ein Exemplar (z. B. in Kopie) seines schriftlich erstatteten und von ihm unterzeichneten, den Anforderungen des § 321 HGB genügenden Berichts über das Ergebnis der Prüfung (§ 321 HGB), der für die Organe der prüfungspflichtigen Gesellschaft zu erstatten ist, zur Verfügung stellt.59 Bei einem vorzeitigen Prüferwechsel (z. B. bei Kündigung des Prüfungsvertrags aus wichtigem Grund nach § 318 Abs. 6 Satz 1 HGB oder bei Widerruf des Prüfungsauftrags gemäß § 318 52 Siehe auch Heidel/Schall/Schüppen (Fn. 8), § 320 Rn. 16, der darauf hinweist, dass der neue Abschlussprüfer eine Pflichtverletzung begeht, wenn er die „Informationseinholung“ nach § 320 Abs. 4 Hs. 1 HGB unterlässt; ebenso Baumbach/Hopt/Merkt (Fn. 6), § 320 Rn. 4; Hense/Ulrich/Haarmann/Hennig (Fn. 22), § 43 Rn. 144. 53 Das steht zwar nicht in § 320 Abs. 4 HGB, ergibt sich aber aus allgemeinen Grundsätzen: Baumbach/Hopt/Merkt (Fn. 6) § 320 Rn. 4; ebenso BT-Drucks. 16/10067, S. 91. 54 Zu Einzelheiten: MüKoHGB/Ebke (Fn. 2), § 321 Rn. 46 – 50 und 53. 55 Vgl. IDW PS 450: Grundsätze ordnungsmäßiger Erstellung von Prüfungsberichten (Stand: 15. 9. 2017), IDW Life 2018, 145 (Tz. 152). 56 BT-Drucks. 16/10067, S. 91; BeckBilKomm/Schmidt/Heinz (Fn. 7), § 320 Rn. 42. 57 Zu der Frage, ob diese Bestimmung eine richtlinienkonforme Umsetzung von Art. 23 Abs. 3 APrRL darstellt, siehe Heidel/Schall/Schüppen (Fn. 8), § 320 Rn. 18 („fraglich“). 58 BT-Drucks. 16/10067, S. 91. 59 In diesem Sinne auch Baumbach/Hopt/Merkt (Fn. 6), § 320 Rn. 4; BeckBilKomm/ Schmidt/Heinz (Fn. 7), § 320 Rn. 42.
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Abs. 1 Satz 5 i. V. m. Abs. 3 HGB) hat der bisherige Abschlussprüfer dem neuen Abschlussprüfer zu berichten, und zwar nach Art und Inhalt entsprechend § 321 HGB (§ 320 Abs. 4 Hs. 2 HGB). Bei unterjähriger Kündigung des Prüfungsauftrags aus wichtigem Grund genügt es regelmäßig, wenn der Vorgänger seinem Nachfolger seinen Bericht an die Organe der prüfungspflichtigen Gesellschaft über das Ergebnis der bisherigen Prüfung (z. B. in Kopie) zur Verfügung stellt, da dieser Bericht ebenfalls den formalen und inhaltlichen Anforderungen des § 321 HGB genügen muss (§ 318 Abs. 6 Satz 4 Hs. 2 HGB).60 Davon geht auch § 42 Abs. 2 BS WP/vBP aus. Bei Widerruf des Prüfungsauftrags in den Fällen des § 318 Abs. 1 Satz 5 i. V. m. Abs. 3 HGB nach gerichtlicher Ersetzung besteht nach herrschender Meinung keine gesetzliche Pflicht des Prüfers (auch nicht in analoger Anwendung des § 318 Abs. 6 Satz 4 HGB), wenn er mit der Prüfung bereits begonnen hat, den Organen der geprüften Gesellschaft über das Ergebnis der bisherigen Prüfung zu berichten.61 Berichtet der Prüfer den Organen freiwillig,62 genügt die Vorlage dieses Berichts an den nachfolgenden Abschlussprüfer nach § 320 Abs. 4 Hs. 2 HGB nur, wenn der Bericht den Anforderungen des § 321 HGB entspricht. Entsprechendes gilt in den Sonderfällen des Widerrufs des Prüfungsauftrags nach gerichtlicher Bestellung bei Wegfall63 oder Verhinderung des bestellten Prüfers an dem rechtzeitigen Abschluss der Prüfung (§ 318 Abs. 4 Satz 2 HGB), denn in diesen Fällen besteht ebenfalls keine gesetzliche Pflicht (auch nicht in analoger Anwendung des § 318 Abs. 6 Satz 4 HGB) des bisherigen Prüfers gegenüber den Organen der geprüften Gesellschaft zur Berichterstattung über das Ergebnis der bisherigen Prüfung.64 Die Berichtspflicht des ersetzten Prüfers gegenüber dem nachfolgenden Prüfer richtet sich in diesen Fällen nach § 320 Abs. 4 HGB. In vielen Fällen gerichtlicher Ersetzung wird der Abschlussprüfer die nach § 321 HGB erforderlichen Feststellungen (z. B. § 321 Abs. 1 Satz 3 und Abs. 2 Satz 2 HGB) nur treffen können, wenn die Ersetzung erst gegen Ende der Prüfung erfolgt. Das spricht aber nicht generell gegen eine Anwendung des § 320 Abs. 4 HGB auch auf den Fall der gerichtlichen Ersetzung des Abschlussprüfers,65 denn es 60
Baumbach/Hopt/Merkt (Fn. 6), § 320 Rn. 4; Hense/Ulrich/Haarmann/Hennig (Fn. 22), § 43 Rn. 143. Zu dem Fall, dass der bisherige Abschlussprüfer z. B. aufgrund von Meinungsverschiedenheiten mit den gesetzlichen Vertretern der geprüften Gesellschaft seinen Bericht über das Ergebnis der (bisherigen) Prüfung zurückhält, siehe Heidel/Schall/Schüppen (Fn. 8), § 320 Rn. 15. 61 BeckBilKomm/Schmidt/Heinz (Fn. 7), § 320 Rn. 42; HKMS/Burg (Fn. 6), § 320 Rn. 41. 62 Das ist sicherlich zulässig: HKMS/Müller (Fn. 6), § 318 Rn. 55. 63 Bei Wegfall des verantwortlichen Prüfungspartners (vgl. § 319a Abs. 1 Satz 4 HGB) infolge Todes oder wegen Geschäftsunfähigkeit (§ 104 Nr. 2 BGB) richtet sich der Berichtsanspruch des neuen Abschlussprüfers nach § 320 Abs. 4 Hs. 1 HGB gegen den Wirtschaftsprüfer, der neben dem verantwortlichen Prüfungspartner als für die Durchführung der Abschlussprüfung verantwortlich bestimmt ist. 64 Vgl. IDW PS 450: Grundsätze ordnungsmäßiger Erstellung von Prüfungsberichten (Stand: 15. 9. 2017), IDW Life 2018, 145 (Tz. 150) 65 A. A. BeckBilKomm/Schmidt/Heinz (Fn. 7), § 320 Rn. 42 („Der Bericht wäre inhaltsleer“).
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gibt durchaus Fälle, in denen im Zeitpunkt der gerichtlichen Ersetzung durchaus schon berichtsfähige Prüfungsergebnisse vorliegen.66 Insofern unterscheidet sich der Fall gerichtlicher Ersetzung für Zwecke des § 320 Abs. 4 HGB nicht wesentlich von den Fällen der Kündigung des Prüfungsauftrags aus wichtigem Grund. Im Übrigen hat der bisherige Abschlussprüfer bei einem Prüferwechsel darauf hinzuweisen, wenn bestimmte Vorgänge bis zum Ende der Prüfungshandlungen noch nicht abschließend beurteilt werden konnten, die sich nach Einschätzung des Prüfers aber auf die Ordnungsmäßigkeit der Rechnungslegung auswirken können.67 Gleiches gilt in den Fällen der Nichtigkeit des Prüfungsauftrags (z. B. bei Inhabilität des Abschlussprüfers). Sind der Prüfungsauftrag und der schuldrechtliche Prüfungsvertrag wegen anfänglicher Besorgnis der Befangenheit nichtig,68 besteht, wenn der Prüfer bereits Prüfungshandlungen vorgenommen hat, keine gesetzliche Berichtspflicht des inhabilen Prüfers gegenüber den Organen der prüfungspflichtigen Gesellschaft. Die Berichtsansprüche des nachfolgenden Prüfers gegenüber dem Mandatsvorgänger richten sich nach § 320 Abs. 4 HGB.69 Ob und inwieweit der Prüfer in einem solchen Fall die danach geforderten Feststellungen treffen kann, beurteilt sich nach den Verhältnissen des Einzelfalls70 und wird maßgeblich davon abhängen, in welchem Stadium der Prüfung die anfängliche Besorgnis der Befangenheit „entdeckt“ wird. Bei nachträglicher Besorgnis der Befangenheit71 muss nach Ansicht der Rechtsprechung72 entweder das Ersetzungsverfahren nach § 318 Abs. 3 Satz 1 HGB eingeleitet werden oder der Prüfungsauftrag nach § 318 Abs. 6 Satz 1 HGB von dem Prüfer gekündigt werden.73 Für die Berichtspflicht des nachträglich inhabil gewordenen Prüfers gegenüber dem nachfolgenden Prüfer nach § 320 Abs. 4 HGB gilt das für den Widerruf nach gerichtlicher Ersetzung bzw. für die Kündigung des Prüfungsauftrags Gesagte.
66 IDW PS 450: Grundsätze ordnungsmäßiger Erstellung von Prüfungsberichten (Stand: 15. 9. 2017), IDW Life 2018, 145 (Tz. 150) geht jedenfalls in den Fällen des § 318 Abs. 1 Satz 5 i. V. m. Abs. 3 nach gerichtlicher Ersetzung von der Anwendbarkeit von § 320 Abs. 4 HGB aus. 67 Vgl. IDW PS 450: Grundsätze ordnungsmäßiger Erstellung von Prüfungsberichten (Stand: 15. 9. 2017), IDW Life 2018, 145 (Tz. 152). 68 Dazu MüKoHGB/Ebke (Fn. 2), § 319 Rn. 86 f. 69 Ob und inwieweit der nachfolgende Prüfer die Feststellungen des Prüfers in einem solchen Fall verwertet, entscheidet der Prüfer in eigener Verantwortung (§ 44 Abs. 1 WPO, § 11 Abs. 1 BS WP/vBP). 70 Vgl. IDW PS 450: Grundsätze ordnungsmäßiger Erstellung von Prüfungsberichten (Stand: 15. 9. 2017), IDW Life 2018, 145 (Tz. 152). 71 Dazu MüKoHGB/Ebke (Fn. 2), § 319 Rn. 88 – 92. 72 BGH ZIP 2010, 433 (434); OLG Düsseldorf GmbHR 1991, 159 (160). 73 Gelhausen/Heinz, WPg 2005, 693 (703) („Prüfer ist zur Kündigung verpflichtet“); zustimmend Staub/Habersack/Schürnbrand (Fn. 39), Rn. 81; a. A. MüKoHGB/Ebke (Fn. 2), § 319 Rn. 92.
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5. Grenzen der Berichtspflicht Fraglich ist, wo die Grenzen der Berichtspflicht des bisherigen Abschlussprüfers nach § 320 Abs. 4 HGB liegen. Die Berichtspflicht des bisherigen Abschlussprüfers nach § 320 Abs. 4 HGB dient – wie die Vorlage- und Auskunftspflichten der gesetzlichen Vertreter – dem Ziel einer sachgerechten Durchführung der Abschlussprüfung und Berichterstattung über das Ergebnis der Prüfung. Die Berichtspflicht reicht mithin nur so weit, wie die Informationen für eine sorgfältige Abschlussprüfung notwendig sind (vgl. § 320 Abs. 2 Satz 1 HGB). Andererseits erschöpft sich die Berichtspflicht des bisherigen Prüfers nicht ohne weiteres in den Angaben in seinem Prüfungsbericht (§ 321 HGB) bzw. seinem Bericht über das Ergebnis der bisherigen Prüfung (§ 318 Abs. 6 Satz 4 Hs. 1 HGB). Anders als etwa § 42 Abs. 2, Abs. 4 Satz 1 BS WP/vBP stellt § 320 Abs. 4 HGB nicht die Verpflichtung des bisherigen Abschlussprüfers zur Vorlage des Prüfungsberichts (§ 321 HGB) bzw. des Berichts über das Ergebnis der bisherigen Prüfung (§ 318 Abs. 6 Satz 4 HGB) auf; § 320 Abs. 4 Hs. 2 HGB besagt vielmehr nur, dass für die Berichterstattung § 321 HGB entsprechend gilt. Die Entscheidung, welche Aufklärungen und Nachweise für eine sorgfältige Abschlussprüfung notwendig sind, obliegt allein dem pflichtgemäßen Ermessen des nachfolgenden Abschlussprüfers.74 Das Berichtsverlangen des neuen Prüfers findet freilich seine Grenzen in dem die gesamte Zivilrechtsordnung durchziehenden Gebot von Treu und Glauben (§ 242 BGB), der Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Rechte, Rechtsgüter und die Interessen des bisherigen Prüfers (§ 241 Abs. 2 BGB), dem Willkürverbot sowie dem Schikaneverbot (§ 226 BGB).75 Entsprechend dem Sinn und Zweck des § 320 Abs. 4 HGB wird man jeden adäquat-kausalen Bezug des Auskunftsverlangens des neuen Prüfers zu den Gegenständen der Abschlussprüfung genügen lassen, aber auch verlangen müssen.76 Weigert sich der bisherige Abschlussprüfer, einem Berichtsverlangen des neuen Abschlussprüfers nachzukommen (etwa weil die begehrte Auskunft aus seiner Sicht unter keinem denkbaren Gesichtspunkt für eine sorgfältige Prüfung erforderlich sein könne), obliegt ihm dafür die Darlegungs- und Beweislast.77 Das allgemeine Recht auf Auskunftsverweigerung bei Gefahr der Selbstbelastung soll nach der Regierungsbegründung unberührt bleiben.78
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Staub/Habersack/Schürnbrand (Fn. 39), § 320 Rn. 26. Staub/Habersack/Schürnbrand (Fn. 39), § 320 Rn. 26; BeckBilKomm/Schmidt/Heinz (Fn. 7), § 320 Rn. 32. 76 Vgl. Staub/Habersack/Schürnbrand (Fn. 39), § 320 Rn. 26 („ein mittelbarer Zusammenhang genügt“). 77 Zu den damit einher gehenden Schwierigkeiten siehe Staub/Habersack/Schürnbrand (Fn. 39), § 320 Rn. 26. 78 BT-Drucks. 16/10067, S. 91. 75
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6. Arbeitspapiere Die amtliche Begründung betont außerdem, dass mit der Berichtspflicht des bisherigen Abschlussprüfers nach § 320 Abs. 4 HGB kein Recht des Nachfolgers auf „Einsichtnahme in die Arbeitspapiere des bisherigen Abschlussprüfers durch den neuen Abschlussprüfer oder gar deren Überlassung an den neuen Abschlussprüfer“ einhergeht.79 Diese Feststellung überzeugt; ihre Richtigkeit folgt aus der Tatsache, dass die Arbeitspapiere (work papers) nur für interne Zwecke des Abschlussprüfers angefertigt werden (§ 51b Abs. 4 WPO) und daher keinen privatrechtlichen Herausgabepflichten unterliegen.80 Arbeitspapiere müssen daher – ebenso wie bei Offenlegung des Prüfungsberichts in der Insolvenz des geprüften Unternehmens (§ 321a HGB)81 oder allgemein im Zivilprozess82 – auch im Rahmen der Berichterstattung nach § 320 Abs. 4 HGB weder vorgelegt noch herausgegeben werden.83 Eine freiwillige Einsichtsgewährung ist nicht ausgeschlossen, in der Praxis wegen allfälliger Haftungsrisiken aber wohl nur auf der Grundlage einer besonderen vertraglichen Vereinbarung zu empfehlen.84 IV. Art. 18 EU-APrVO („Übergabeakte“) Art. 18 EU-APrVO enthält eine dem § 320 Abs. 4 HGB inhaltlich vergleichbare Regelung für Unternehmen von öffentlichem Interesse (Public Interest Entities – PIE). PIE sind Unternehmen, die kapitalmarktorientiert i. S. d. § 264d HGB sind, CRR-Kreditinstitute i. S. d. § 1 Abs. 3d Satz 1 des KWG (mit Ausnahme der Deutschen Bundesbank und der Kreditanstalt für Wiederaufbau) sowie Versicherungsunternehmen i. S. d. Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 91/674/EWG.85
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BT-Drucks. 16/10067, S. 91. Ebenso LG Frankfurt a. M. ZIP 2007, 768 (769) (für das Enforcement-Verfahren der ersten Stufe) unter Hinweis auf Ebke, Die Arbeitspapiere des Wirtschaftsprüfers und Steuerberaters im Zivilprozess, 2003, S. 23 ff. Besonderheiten gelten in Enforcement-Verfahren der zweiten Stufe vor der BaFin (§ 107 Abs. 5 Satz 1 WpHG [ex-§ 37o Abs. 4 WpHG a. F.; dazu LG Frankfurt a. M. ZIP 2007, 768 [769] und Paal, BB 2007, 1775 [1777 ff.]), bei der Einbindung des Abschlussprüfers in die Prüfung des Abschlusses eines kapitalmarktorientierten Unternehmens durch die DPR (§ 342b Abs. 4 HGB) sowie in Aufsichts- und Beschwerdesachen vor der WPK (§ 62 Satz 2 WPO). 81 Ebke, in: FS Wellensiek, 2011, S. 429 (438). 82 Ebke, Arbeitspapiere (Fn. 80), S. 7 ff. und 23 ff. 83 In diesem Sinne auch HKMS/Burg (Fn. 6), § 320 Rn. 41; Baumbach/Hopt/Merkt (Fn. 6), § 320 Rn. 4; BeckBilKomm/Schmidt/Heinz (Fn. 7), § 320 Rn. 43; MPF/Bruckner/Homfeldt (Fn. 20), § 320 Rn. 174; Hense/Ulrich/Haarmann/Hennig (Fn. 22), § 43 Rn. 144; Staub/Habersack/Schürnbrand (Fn. 39), § 320 Rn. 25. 84 BeckBilKomm/Schmidt/Heinz (Fn. 7), § 320 Rn. 43; HKMS/Burg (Fn. 6), § 320 Rn. 41; MPF/Bruckner/Homfeldt (Fn. 20), § 320 Rn. 174. 85 MüKoHGB/Ebke Vorbem. zu §§ 316 – 324a Rn. 4. 80
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1. Prüferwechsel Art. 18 EU-APrVO geht als unmittelbar geltende Norm des europäischen Rechts bei der Prüfung eines Unternehmens von öffentlichem Interesse dem § 320 Abs. 4 HGB vor.86 Nach § 317 Abs. 3a HGB, der das Verhältnis der §§ 316 ff. HGB zu der EU-APrVO regelt, bleiben die Bestimmungen der §§ 316 ff. HGB (und damit auch die des für alle gesetzlichen Abschlussprüfungen geltenden § 320 Abs. 4 HGB) auf PIE im Grundsatz (kumulativ) anwendbar. Es ist daher Aufgabe des Rechtsanwenders, im Einzelfall festzustellen, inwieweit Art. 18 EU-APrVO eine Regelung enthält, die als abschließend anzusehen ist oder für ergänzende Regelungen des nationalen Rechts offen ist.87 Art. 18 Abs. 1 EU-APrVO verlangt die Erfüllung der Anforderungen des Art. 23 Abs. 3 APrRL, wenn ein Abschlussprüfer durch einen anderen Abschlussprüfer „ersetzt“ („replaced“, „remplacé“, „sostituito“, „sustituido“) wird.88 Der Begriff „ersetzt“ ist – wie bereits gesagt – autonom auszulegen und ist nicht gleichzusetzen mit der Ersetzung des Abschlussprüfers i. S. v. § 318 Abs. 3 HGB. Vielmehr gilt Art. 18 APrRL für alle Erscheinungsformen des Prüferwechsels, also den regulären Prüferwechsel zum neuen Geschäftsjahr (sei es aufgrund einer durch Art. 17 EU-APrVO gesetzlich vorgeschriebenen Rotation oder eines „freiwilligen“ Prüferwechsels) oder eine unterjährige Ersetzung des Abschlussprüfers.89 Nach Art. 18 UAbs. 1 EU-APrVO i. V. m. Art. 23 Abs. 3 APrRL ist der vormalige Abschlussprüfer (Mandatsvorgänger) verpflichtet, dem neuen Abschlussprüfer (Mandatsnachfolger) Zugang zu „allen relevanten Informationen über das geprüfte Unternehmen“ zu gewähren. Darüber hinaus hat der frühere Abschlussprüfer dem neuen Abschlussprüfer Zugang zu gewähren zu den in Art. 11 EU-APrVO genannten zusätzlichen Berichten an den Prüfungsausschuss hinsichtlich früherer Jahre (Art. 18 UAbs. 2 EU-APrVO) sowie zu „jeglichen Informationen“, die den zuständigen Behörden gemäß Art. 12 und 13 EU-APrVO (d. h. den Bericht an die für die Beaufsichtigung von Unternehmen von öffentlichem Interesse zuständigen Behörden sowie den Transparenzbericht) übermittelt wurden (Art. 18 UAbs. 2 EU-APrVO).90 Die Bereitstellung von Informationen hat auf Anforderung des neuen Abschlussprüfers zu erfolgen; eine Pflicht zum aktiven Tätigwerden des früheren Abschlussprüfers besteht also nicht.91 Es ist davon auszugehen, dass die Informationen schriftlich bereit86
Heidel/Schall/Schüppen (Fn. 8), Anh. zu § 320: Art. 18 EU-APrVO Rn. 1. Heidel/Schall/Schüppen (Fn. 8), § 317 Rn. 25. 88 Der Verweis auf Art. 23 Abs. 3 APrRL in Art. 18 UAbs. 1 EU-APrVO erhebt Art. 23 Abs. 3 APrRL für Abschlussprüfungen von PIE zu unmittelbar geltendem Unionsrecht. 89 HKMS/Burg (Fn. 6), § 320 Rn. 45; Heidel/Schall/Schüppen (Fn. 8), Anh. zu § 320: Art. 18 EU-APrVO Rn. 1; WBG/Böcking/Gros/Rabenhorst (Fn. 7), § 320 Rn. 15; BeckBilKomm/Schmidt/Heinz (Fn. 7), § 320 Rn. 60. 90 HKMS/Burg (Fn. 6), § 320 Rn. 45. Mit Recht kritisch zu der Einbeziehung des Transparenzberichts Heidel/Schall/Schüppen (Fn. 8), Anh. zu § 320: Art. 18 EU-APrVO Rn. 3; BeckBilKomm/Schmidt/Heinz (Fn. 7), § 320 Rn. 61. 91 WBG/Böcking/Gros/Rabenhorst (Fn. 7), § 320 Rn. 16. 87
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gestellt werden müssen.92 Der Abschlussprüfer des früheren Jahres- oder Konzernabschlusses muss in der Lage sein, der zuständigen Behörde gegenüber darzulegen, dass die zu übermittelnden Informationen dem neuen Abschlussprüfer zur Verfügung gestellt wurden (Art. 18 UAbs. 3 EU-APrVO).93 Die Ermöglichung des Nachweises der Pflichterfüllung setzt seitens des Abschlussprüfers eines Unternehmens von öffentlichem Interesse eine entsprechende Organisation und Dokumentation voraus.94 2. Relevante Informationen Was unter „allen relevanten Informationen über das geprüfte Unternehmen“ und über die zuletzt durchgeführte(n) Abschlussprüfung(en) zu verstehen ist, ist Auslegungsfrage. Die EU-APrVO enthält für die autonome Auslegung des Tatbestandsmerkmals „alle relevanten Informationen über das geprüfte Unternehmen“ (Art. 18 UAbs. 1 EU-APrVO i. V. m. Art. 23 Abs. 3 APrRL) keine konkreten Vorgaben oder Auslegungshilfen. Nach Sinn und Zweck des Übergabepakets und unter Berücksichtigung der berechtigten Interessen des früheren und des neuen Abschlussprüfers sowie des geprüften Unternehmens sind relevante Informationen i. S. d. Art. 18 UAbs. 1 EU-APrVO i. V. m. Art. 23 Abs. 3 APrRL im Wesentlichen solche Informationen, die – wie im Falle des § 320 Abs. 4 HGB – Aufschluss über das Ergebnis der zuletzt durchgeführte(n) Abschlussprüfung(en) geben. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass die Pflicht des früheren Abschlussprüfers nach Art. 18 UAbs. 1 EU-APrVO i. V. m. Art. 23 Abs. 3 APrRL zur Gewährung des Zugangs zu den einschlägigen Informationen weiter reichen soll als seine Berichtspflichten als aktiver Abschlussprüfer gegenüber dem geprüften Unternehmen und seinen Gremien im Rahmen der gesetzlichen Abschlussprüfung95 oder seine Berichtspflichten nach § 320 Abs. 4 HGB für alle gesetzlich vorgeschriebenen Abschlussprüfungen.96 Allerdings geht Art. 18 UAbs. 1 EU-APrVO i. V. m. Art. 23 Abs. 3 APrRL in zweierlei Hinsicht über § 320 Abs. 4 HGB hinaus: Während § 320 Abs. 4 HGB eine Berichtspflicht des bisherigen Abschlussprüfers lediglich über das Ergebnis „der bishe92
BeckBilKomm/Schmidt/Heinz (Fn. 7), § 320 Rn. 62. Heidel/Schall/Schüppen (Fn. 8), Anh. zu § 320: Art. 18 EU-APrVO Rn. 3; HKMS/Burg (Fn. 6), § 320 Rn. 45. 94 Heidel/Schall/Schüppen (Fn. 8), Anh. zu § 320: Art. 18 EU-APrVO Rn. 4. 95 Gleicher Ansicht IDW, EU-Regulierung der Abschlussprüfung: Positionspapier, 3. Aufl. 2017, S. 62: „Eine extensivere Auslegung in Bezug auf den Umfang von „relevanten Informationen“ ist sicher vorstellbar und mit der grundsätzlichen gesetzgeberischen Zielsetzung vereinbar, stößt jedoch an schutzwürdige Interessen des bisherigen Abschlussprüfers, insbesondere in Bezug auf Geheimhaltung und Haftung. Es ist jedenfalls nicht erkennbar, dass der bisherige Abschlussprüfer gegenüber dem neuen Abschlussprüfer eine weitergehende Informationspflicht hat, als er sie gegenüber dem zu prüfenden Unternehmen und seinen Gremien im Rahmen der Berichterstattung als aktiver Abschlussprüfer hätte.“ 96 Zutreffend HKMS/Burg (Fn. 6), § 320 Rn. 45; a. A. Heidel/Schall/Schüppen (Fn. 8), Anh. zu § 320: Art. 18 EU-APrVO Rn. 2; WBG/Böcking/Gros/Rabenhorst (Fn. 7), § 320 Rn. 15 („Über die Unterrichtung des Folgeprüfers auf der Grundlage von Abs. 4 bei allen gesetzlichen Abschlussprüfungen hinaus …“). 93
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rigen Prüfung“ verlangt, muss der frühere Abschlussprüfer eines PIE dem neuen Abschlussprüfer nach Art. 18 UAbs. 2 EU-APrVO die Prüfungsberichte hinsichtlich „früherer Jahre“ zugänglich machen; ferner solche Informationen, die der frühere Abschlussprüfer auf der Grundlage von Art. 12, 13 EU-APrVO übermittelt hat.97 Zu den relevanten Informationen i. S. v. Art. 18 UAbs. 1 EU-APrVO i. V. m. Art. 23 Abs. 3 APrRL gehören mindestens die Prüfungsberichte (vorbehaltlich der Aufbewahrungsfristen nach Art. 15 EU-APrVO) des früheren Abschlussprüfers zu den Jahres- und Konzernabschlüssen, nicht dagegen Berichte über eine etwaige Prüfung oder prüferische Durchsicht von unterjährig erstatteten Finanzberichten nach den §§ 114 ff. WpHG.98 In der Regel sollte es ausreichen, dem neuen Abschlussprüfer die Prüfungsberichte zu den Jahres- und Konzernabschlüssen der letzten drei Jahre bereitzustellen und ihm Prüfungsberichte zu Abschlüssen früherer Jahre lediglich auf ausdrückliche Anforderung zugänglich zu machen.99 Des Weiteren sollte die Vollständigkeitserklärung100 der gesetzlichen Vertreter des geprüften Unternehmens für die letzte durch den früheren Abschlussprüfer bei dem betreffenden Unternehmen durchgeführte Abschlussprüfung zur Verfügung gestellt werden;101 ferner eine (disaggregierte) Auflistung nicht korrigierter Prüfungsdifferenzen i. S. d. IDW PS 303.28102 und IDW PS 250.24103 sowie eine (disaggregierte) Zusammenstellung falscher Angaben i. S. d. IDW PS 250.19.104 Darüber hinaus sollte die Kommunikation des früheren Abschlussprüfers an den Prüfungsausschuss bzw. das Aufsichtsorgan, insbesondere im Rahmen der sog. Bilanzsitzung (§ 171 Abs. 1 Satz 2 AktG, ggf. analog) eingesetzte Präsentationen oder verteilte Schriftstücke bzw. Unterlagen für die letzte durch den früheren Abschlussprüfer bei dem betreffenden Unternehmen durchgeführte Abschlussprüfung.105 Zu den in der Übergabeakte bereitzustellenden
97 WBG/Böcking/Gros/Rabenhorst (Fn. 7), § 320 Rn. 16; HKMS/Burg (Fn. 6), § 320 Rn. 45; Hense/Ulrich/Haarmann/Hennig (Fn. 22), § 43 Rn. 147. 98 IDW, EU-Regulierung der Abschlussprüfung (Fn. 95), S. 61; WBG/Böcking/Gros/Rabenhorst (Fn. 7), § 320 Rn. 16. 99 IDW, EU-Regulierung der Abschlussprüfung (Fn. 95), S. 61; vgl. BeckBilKomm/ Schmidt/Heinz (Fn. 7), § 320 Rn. 62 („auch für zurückliegende Jahre“). 100 Vollständigkeitserklärungen sind „die Versicherung, daß alle verlangten Auskünfte und Nachweise erbracht wurden, und somit Teil des Nachweises der Prüfungshandlungen“: OLG Düsseldorf BB 1996, 2614 (2614). 101 WBG/Böcking/Gros/Rabenhorst (Fn. 7), § 320 Rn. 16; BeckBilKomm/Schmidt/Heinz (Fn. 7), § 320 Rn. 62; Hense/Ulrich/Haarmann/Hennig (Fn. 22), § 43 Rn. 147. 102 IDW PS 303: Erklärungen der gesetzlichen Vertreter gegenüber dem Abschlussprüfer (Stand: 9. 9. 2009), WPg Supp. 4/2009, 19 (Tz. 28). 103 IDW PS 250: Wesentlichkeit im Rahmen der Abschlussprüfung (Stand: 12. 12. 2012), WPg Supp. 1/2013, 1 (Tz. 24) 104 BeckBilKomm/Schmidt/Heinz (Fn. 7), § 320 Rn. 62; WBG/Böcking/Gros/Rabenhorst (Fn. 7), § 320 Rn. 16; Hense/Ulrich/Haarmann/Hennig (Fn. 22), § 43 Rn. 147. 105 IDW, EU-Regulierung der Abschlussprüfung (Fn. 95), S. 61; BeckBilKomm/Schmidt/ Heinz (Fn. 7), § 320 Rn. 62; Hense/Ulrich/Haarmann/Hennig (Fn. 22), § 43 Rn. 147.
Informationsrechte bei Wechsel des Abschlussprüfers
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Informationen gehören schließlich etwaige Management Letters106 für die letzte durch den bisherigen Abschlussprüfer bei dem betreffenden Unternehmen durchgeführte Abschlussprüfung.107 Zu den bereitzustellenden Informationen gehören dagegen nicht die nur für interne Zwecke (§ 51b Abs. 4 WPO) des bisherigen Abschlussprüfers angefertigten Arbeitspapiere (work papers).108 Endgültige Klärung bezüglich des Inhalts und des Umfangs des Übergabepakets kann nur die Rechtsprechung, am Ende also der EuGH bringen. V. Weitergabe von Unterlagen Der 2016 neu eingefügte § 320 Abs. 5 HGB geht auf Art. 23 Abs. 5 UAbs. 1 und 3 APrRL zurück. § 320 Abs. 5 Satz 1 HGB statuiert das Recht des Abschlussprüfers, nach § 320 Abs. 2 HGB zur Verfügung gestellte Unterlagen an den Abschlussprüfer des Konzernabschlusses weiterzugeben, wenn die geprüfte Kapitalgesellschaft als Tochterunternehmen in den Konzernabschluss eines Mutterunternehmens einbezogen ist, das seinen Sitz nicht in einem Mitgliedstaat der EU oder einem anderen Vertragsstaat des Abkommens über den EWR, sondern einem Drittstaat hat. Eine Pflicht zur Weitergabe der Unterlagen begründet § 320 Abs. 5 Satz 1 HGB nicht; vielmehr besteht ein Entscheidungsermessen („kann“), dem insbesondere bei geheimhaltungspflichtigen Informationen eine große Bedeutung zukommen wird.109 Der Abschlussprüfer wird in diesem Zusammenhang jedenfalls zu prüfen und auch zu dokumentieren haben, ob geheimhaltungspflichtige Informationen bei dem Empfänger und (in entsprechender Anwendung von § 66c Abs. 6 i. V. m. § 57 Abs. 9 Satz 2 WPO) den diesen beaufsichtigenden Drittlandbehörden einer hinreichenden Geheimhaltung unterliegen.110 Die Übermittlung personenbezogener Daten muss im Einklang mit den Vorgaben der EU Datenschutz-Grundverordnung vom 27. 4. 2016111 und den allgemeinen datenschutzrechtlichen Vorschriften112 stehen.
106
Management Letters enthalten ergänzende Informationen, mit denen der Abschlussprüfer getrennt von dem Prüfungsbericht (§ 321 HGB) organisatorische oder sonstige Hinweise anlässlich der Prüfung gibt: IDW PS 450: Grundsätze ordnungsmäßiger Erstellung von Prüfungsberichten (Stand: 15. 9. 2017), IDW Life 1/2018, 145 (Tz. 17). Sofern ein Management Letter an die gesetzlichen Vertreter (Unternehmensleitungsorgan) erstattet wurde, ist er in die Angaben nach Art. 11 Abs. 2 Buchst. d EU-APrVO (zusätzlicher Bericht an den Prüfungsausschuss) einzubeziehen (IDW PS 450.P60/3). 107 WBG/Böcking/Gros/Rabenhorst (Fn. 7), § 320 Rn. 16; BeckBilKomm/Schmidt/Heinz (Fn. 7), § 320 Rn. 62; Hense/Ulrich/Haarmann/Hennig (Fn. 22), § 43 Rn. 147. 108 IDW, EU-Regulierung der Abschlussprüfung (Fn. 95), S. 62; HKMS/Burg (Fn. 6), § 320 Rn. 45; BeckBilKomm/Schmidt/Heinz (Fn. 7), § 320 Rn. 62; WBG/Böcking/Gros/Rabenhorst (Fn. 7), § 320 Rn. 16; a. A. Heidel/Schall/Schüppen (Fn. 8), Anh. zu § 320: Art. 18 EU-APrVO Rn. 2. 109 HKMS/Burg (Fn. 6), § 320 Rn. 46; Baumbach/Hopt/Merkt (Fn. 6), § 320 Rn. 5. 110 Heidel/Schall/Schüppen (Fn. 8), § 320 Rn. 19. 111 ABl.EU L 119 vom 4. 5. 2016, S. 1.
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VI. Schluss Der vorstehende Beitrag zeigt, dass der gesetzliche Abschlussprüfer über weitreichende Rechte auf Vorlage, Einsichtnahme und Prüfung verfügt, um seine gesetzlichen und sonstigen Aufgaben im Rahmen der Prüfung von Einzel- bzw. Konzernabschlüssen erfüllen zu können. Der Abschlussprüfer kann darüber hinaus von den gesetzlichen Vertretern alle Aufklärungen und Nachweise verlangen, die für eine sorgfältige Prüfung notwendig sind, und zwar erforderlichenfalls auch schon vor Aufstellung des Jahresabschlusses. Vor dem gesetzlichen Abschlussprüfer gibt es im Rahmen der Prüfungszwecke keine Geheimnisse bezüglich der Gegenstände der gesetzlichen Abschlussprüfung. Das Gesetz hält ein differenziertes System von Sanktionen für den Fall vor, dass die gesetzlichen Vertreter ihren Verpflichtungen aus § 320 HGB nicht nachkommen.113 Eine sinnvolle und wichtige Stärkung erfahren die Informationsrechte des gesetzlichen Abschlussprüfers durch die Berichtspflichten des Mandatsvorgängers nach § 320 Abs. 4 HGB sowie die Übergabeakte nach Art. 18 EU-APrVO im Falle sowohl des regulären als auch des vorzeitigen Wechsels des Abschlussprüfers. Die Informationsrechte der Gesellschafter und Gläubiger hat der Gesetzgeber bereits in (dem durch das BilReG vom 4. 12. 2004114 in das Gesetz eingefügten) § 321a HGB durch die Pflicht zur Offenlegung des Prüfungsberichts gestärkt, wenn über das Vermögen der geprüften Gesellschaft ein Insolvenzverfahren eröffnet oder der Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens mangels Masse abgewiesen wird.115
112 Zu den sich daraus ergebenden Pflichten des übermittelnden Abschlussprüfers: HKMS/ Burg (Fn. 6), § 320 Rn. 49. Zu Einzelheiten der datenschutzrechtlichen Vorgaben siehe statt aller Paal/Pauly, Datenschutz-Grundverordnung – Bundesdatenschutzgesetz, 2. Aufl. 2018. 113 HKMS/Burg (Fn. 6), § 320 Rn. 50 – 57; MüKoHGB/Ebke (Fn. 2), § 320 Rn. 24 und 27. 114 BGBl. I S. 3166. 115 Siehe dazu Ebke (Fn. 81), S. 429; Ebke, in: FS Hopt, 2010, S. 559; Forster/Gelhausen/ Möller, WPg 2007, 191.
Verbandsregeln und europäisches Kartellrecht Eine Untersuchung am Beispiel des TPO-Verbots Von Sebastian Egger I. Einleitung Mit Wirkung vom 1. 5. 2015 implementierte die FIFA ein Totalverbot der Drittbeteiligungen an Transferrechten von Fußballspielern (sog. third-party ownerships – im Folgenden: TPOs) in Art. 18ter ihrer „Regulations on the Status and Transfer of Players“ (RSTP). Bereits zuvor hatten einige nationale Fußballverbände1 entsprechende Verbotsnormen in ihre Regularien aufgenommen. Diese Verbote sollten von TPOs ausgehende Gefahren für die Wettbewerbsintegrität und -stabilität verhindern sowie die Einflussnahme von Drittinvestoren auf das Transferverhalten von Fußballklubs unterbinden. Handlungsbedarf wurde primär aufgrund publik gewordener Einzelfälle der Einflussnahme durch Drittinvestoren identifiziert, beispielsweise im Zusammenhang mit dem Wechsel des Fußballspielers Carlos Teves von Corinthians Sao Paulo zu West Ham United im Jahr 2006.2 Das Verbot in Art. 18ter RSTP fand und findet indes keineswegs uneingeschränkt Zustimmung. So legten der portugiesische und der spanische Fußballverband – u. a. wegen einer postulierten Verletzung Europäischen Wettbewerbsrechts – Beschwerde zur Europäischen Kommission ein. Auf eine entsprechende Argumentation stützten auch Doyen Sports Investments und der belgische Fußballklub RFC Seraing ihr (schieds-)gerichtliches Vorgehen gegen Sanktionsmaßnahmen, die auf Grundlage des Art. 18ter RSTP verhängt worden waren. Weder die Europäische Kommission noch ein (Schieds-)Gericht konnten jedoch bis dato eine Unvereinbarkeit mit dem Europäischen Wettbewerbsrecht feststellen.3 Gleichwohl bieten diese Verfahren 1 So in England, Frankreich und Polen; eingehend Bahners/Konermann, KSzW 2013, 224 (225 f.). Demgegenüber waren TPOs z. B. in Argentinien, Brasilien, Kroatien, Portugal, Slowenien und Spanien weit verbreitet, vgl. Wackerbeck, SpuRt 2015, 56 (57). 2 Hierzu Egger, in: Vieweg (Hrsg.), Inspirationen des Sportrechts, 2016, S. 307 (308). 3 Der CAS bejahte in der Entscheidung v. 9. 3. 2017, TAS 2016/A/4490 die Vereinbarkeit mit EU-Wettbewerbsrecht; zust. Duval, RFC Seraing at the Court of Arbitration for Sport: How FIFA’s TPO ban Survived (Again) EU Law Scrutiny, 26. 4. 2017, abrufbar unter https://www. asser.nl/SportsLaw/Blog/post/rfc-seraing-at-the-court-of-arbitration-for-sport-how-fifa-s-tpoban-survived-again-eu-law-scrutiny#_ftn28. Auch das anschließend angerufene Schweizerische Bundesgericht verneinte in seiner Entscheidung v. 20. 2. 2018, 4 A 260/2017, 144 III 120 eine unzulässige Beschränkung der ökonomischen Freiheit der Fußballklubs. Ferner hat der Brussels Court of Appeal in seiner Entscheidung v. 19. 12. 2019, 2016/AR/2048 ausgeführt,
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abermals4 Anlass für eine kritische Würdigung des Art. 18ter RSTP aus kartellrechtlicher Perspektive. II. Rechtstatsächliche Betrachtung der TPO-Modelle Die einzelnen TPO-Gestaltungen wurden bereits an anderer Stelle dargestellt,5 sodass der Verweis auf die zentralen Unterschiede genügen soll: Im Rahmen der Finanzierungs-TPOs steht die allgemeine Finanzierung von Fußballklubs im Fokus, die ihre Transferrechte an Kreditgeber zur Sicherheit abtreten. Demgegenüber zielen Investment-TPOs auf die Realisierung von Spielertransfers, hinsichtlich derer der aufnehmende Fußballklub Investoren sucht, welche die Transfersumme (teilweise oder vollständig) aufbringen und sich im Gegenzug Beteiligungen an den Transferrechten einräumen lassen. Aus rechtlicher Perspektive ist tauglicher Gegenstand einer Drittbeteiligung allein das „Entschädigungsrecht“ (economic right) und nicht das „Freigaberecht“ (federative right)6: Das zuerst genannte „Recht“ resultiert aus der befristeten Ausgestaltung der Arbeitsverträge von Fußballspielern, sodass eine ordentliche Kündigung ausscheidet (z. B. § 15 Abs. 3 TzBfG). Eine vorzeitige Vertragsbeendigung bedarf somit stets der Zustimmung des abgebenden Klubs, der sie an die Zahlung einer Ablösesumme knüpfen kann. Dieser (zukünftige) Zahlungsanspruch kann auf einen Drittinvestor übertragen werden (§§ 398 ff. BGB).7 III. Die Verbotsnorm des Art. 18ter RSTP Art. 18ter Abs. 1 RSTP, der auf nationaler Ebene verbindlich und in die jeweiligen Verbandsreglements zu integrieren ist,8 lautet wie folgt: dass die Rechtsmittelführer keine überzeugenden Argumente gegen die legitime Zielsetzung des Art. 18ter vorgebracht hätten. Vgl. auch schon zuvor das Tribunal de première instance de Bruxelles, v. 27. 7. 2015, n 15/67/C: Es sei nicht im erforderlichen Maße wahrscheinlich, dass das Verbot als nicht erforderlich oder unverhältnismäßig zu bewerten ist; zustimmend Duval, EU Law is not enough: Why FIFA’s TPO ban survived its first challenge before the Brussels Court, 25. 08. 2015, abrufbar unter http://www.asser.nl/SportsLaw/Blog/post/eu-law-is-not-en ough-why-fifa-s-tpo-ban-survived-before-the-brussels-court1#continue. Zu sämtlichen Entscheidungen auch FIFA, Manual on „TPI“ and „TPO“ in football agreements, v. 9. 9. 2020, S. 25 ff., abrufbar unter https://img.fifa.com/image/upload/ypkyca98svbpfxu1nawu.pdf. 4 Zuvor schon Egger (Fn. 2), S. 307 (307 ff.). 5 Zu den verschiedenen Ausgestaltungsmöglichkeiten Bahners/Konermann, KSzW 2013, 224 (226 f.) und Del Fabro, CaS 2015, 219 (291 ff.). 6 Es handelt sich hierbei um den originären, nicht übertragbaren Teil des Transferrechts, aufgrund dessen der Transfer von einer Freigabeerklärung des abgebenden Klubs abhängt, hierzu Holzhäuser/Körner, CaS 2009, 193 (194). 7 Vgl. auch Bahners/Konermann, KSzW 2013, 224 (225); Menke, SpuRt 2013, 67 (68); ungenau hingegen Holzhäuser/Körner, CaS 2009, 193 (194). 8 Vgl. FIFA-Zirkular Nr. 1464 v. 22. 12. 2014.
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Dritteigentum an wirtschaftlichen Spielerrechten 1. Weder Vereine noch Spieler dürfen mit einer Drittpartei einen Vertrag abschließen, der einer Drittpartei einen gänzlichen oder partiellen Anspruch auf eine Entschädigung, die bei einem künftigen Transfer eines Spielers von einem Verein zu einem anderen fällig wird, oder beliebige Rechte im Zusammenhang mit einem künftigen Transfer oder einer Transferentschädigung gewährt.
Diese Verbotsnorm erfasst nicht nur die Gewährung prozentualer Beteiligungen an Transfererlösen oder festgeschriebener Summen, sondern auch Sicherungsabtretungen von Entschädigungsrechten an Drittparteien, sodass auch FinanzierungsTPOs verboten sind.9 Ausdrücklich ausgenommen vom Verbot ist allein eine Beteiligung des betreffenden Spielers an (künftigen) Erlösen aus seinem eigenen Transfer.10 IV. Beurteilung des Totalverbots aus kartellrechtlicher Sicht Am Ausgangspunkt der kartellrechtlichen Würdigung steht die Erkenntnis, dass sich auch Art. 18ter RSTP an den Vorgaben des Europäischen Wettbewerbsrechts, insbesondere an Art. 101 f. AEUV messen lassen muss.11 1. Verstoß gegen Art. 101 AEUV Ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV läge dann vor, wenn Art. 18ter RSTP als Vereinbarung zwischen Unternehmen, Beschluss einer Unternehmensvereinigungen und/oder aufeinander abgestimmte Verhaltensweise von Unternehmen und Unternehmensvereinigungen zu qualifizieren wäre, die den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beinträchtigen geeignet ist und eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarkts bezweckt oder bewirkt. a) Adressaten des Kartellverbots Nach dem relativen, funktionalen Unternehmensbegriff des europäischen Wettbewerbsrechts muss ein Unternehmen eine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben, also als Anbieter oder Nachfrager auf einem bestimmten Markt auftreten. Demzufolge ist die FIFA (zumindest) als Unternehmensvereinigung zweiten Grades12 zu qualifizieren: Ihre Mitglieder sind nationale Verbände, in denen Fußballklubs zusammengeschlossen sind, die ihrerseits Drittbeteiligungen an Transferrechten anbieten und Spieler 9
Hierzu im Einzelnen Egger (Fn. 2), S. 307 (311). Hierzu FIFA, RSTP 2019, S. 6, abrufbar unter https://resources.fifa.com/image/upload/re gulations-on-the-status-and-transfer-of-players-june-2019.pdf?cloudid=ao68trzk4bbaezlipx9u. 11 Vgl. Egger (Fn. 2), S. 307 (312). 12 EuG, Rs. T-193/02, Slg. 2005, II-209, Rz. 112 – Piau. 10
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mithilfe von Investoren anwerben, also als Unternehmen im vorgenannten Sinne agieren. b) Beschluss Das TPO-Verbot des Art. 18ter RSTP erfüllt ferner die Anforderungen an einen Beschluss: Die Regelung ist für nationale Verbände, die entsprechende Verbote erlassen müssen, sowie für Vereine, Spieler und Drittinvestoren verbindlich.13 Zudem kommt darin der Wille der FIFA zum Ausdruck, das Verhalten ihrer Mitglieder im Hinblick auf die Tätigkeit der Drittinvestoren zu koordinieren.14 c) Bezweckte oder bewirkte Wettbewerbsbeschränkung Das Vorliegen einer Wettbewerbsbeschränkung – als Oberbegriff der Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung15 – durch Art. 18ter RSTP ist unabhängig davon zu bejahen, welcher Anknüpfungspunkt gewählt wird: Stellt man allein auf die Beschränkung der Handlungsfreiheit der in der Unternehmensvereinigung zusammengeschlossenen Akteure ab,16 manifestiert sie sich darin, dass den Fußballklubs das Anbieten von Transferrechten verboten wird (Ausschluss des Anbieterwettbewerbs).17 Wird darüber hinaus (oder sogar allein18) eine Beeinträchtigung der Wahl- oder Betätigungsalternativen Dritter gefordert,19 ist sie ebenfalls zu bejahen, da (potentiellen) Drittinvestoren die Beteiligung an Transferrechten gänzlich untersagt wird (Verhinderung des Nachfragewettbewerbs). Zudem kann die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit von Fußballspielern tangiert sein, da den Fußballklubs eine Finanzierungsmöglichkeit zur Realisierung von Transfers entzogen und in der Folge ein Arbeitgeberwechsel erschwert wird.20 Dieser „Drittwettbewerb“ ist überdies in den Schutzbereich des Kartellverbots einbezogen.21 13
FIFA-Zirkular Nr. 1464 (Fn. 8). Vgl. EuG, Rs. T-193/02, Slg. 2005, II-209, Rz. 75 – Piau; allg. zu diesem Erfordernis Zimmer, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Wettbewerbsrecht Band 1. EU, 6. Aufl. 2019, Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 80. 15 Vgl. hierzu Zimmer (Fn. 14), Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 124. 16 Hierzu Zimmer (Fn. 14), Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 125 m. w. N. 17 Vgl. auch das Regelbeispiel des Art. 101 Abs. 1 lit. b) AEUV. 18 So EuG, Rs. T-193/02, Slg. 2005, II-209, Rz. 101 – Piau; zust. Horn, Die Anwendung des europäischen Kartellrechts auf den Sport, 2016, S. 201 ff. 19 Diesem Verständnis liegt die Annahme zugrunde, das Kartellrecht bezwecke auch den Schutz der Marktgegenseite. Vgl. nur Verse, CaS 2010, 28 (31); vgl. abermals Zimmer (Fn. 14), Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 125 m. w. N. 20 Vgl. KEA European Affairs/Centre de Droit et d’Economie du Sport (Université de Limoges), The Economic and Legal Aspects of Transfers of Players, 2013, S. 91, abrufbar unter http://ec.europa.eu/sport/library/documents/cons-study-transfers-final-rpt.pdf. 21 Vgl. Horn (Fn. 18), S. 203 f.; im Einzelnen auch Egger (Fn. 2), S. 307 (315). 14
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Die Wettbewerbsbeschränkung ist zudem bezweckt: Dem Beschluss wohnt eine objektiv wettbewerbsbeschränkende Tendenz inne, da eine Betätigung, nämlich das Anbieten und Nachfragen von Transfererlösbeteiligungen vollständig ausgeschlossen wird. Der subjektiven Willensrichtung der Beteiligten kommt demgegenüber nur eine ganz untergeordnete Bedeutung zu.22 Daneben ist das Bewirken einer Wettbewerbsbeschränkung in Bezug auf Spielertransfers in Betracht zu ziehen, da die Fußballklubs eine Finanzierungsoption verlieren. d) Spürbarkeit Das ungeschriebene Spürbarkeitskriterium entspricht einer De-minimis-Regel, mittels derer Bagatellfälle ausgeschieden werden sollen. Maßgeblich ist eine Gesamtbetrachtung der Marktverhältnisse, die sich insbesondere an den Marktanteilen orientiert.23 Diese erfordert eine sachliche und räumliche Abgrenzung der relevanten Märkte.24 aa) Sachlich und räumlich relevante Märkte Das Verbot richtet sich unmittelbar gegen Drittinvestitionen in Transferrechte an Fußballspielern. Auf diesem Markt agieren die in FIFA-Mitgliedsverbänden zusammengeschlossenen Fußballklubs als Anbieter und die Drittinvestoren als Nachfrager.25 Zu betrachten ist folglich der nach dem Bedarfsmarktkonzept abzugrenzende sachliche Angebotsmarkt. Hiernach sind alle Produkte und Dienstleistungen umfasst, die aus Sicht der Marktgegenseite in Anbetracht ihrer Eigenschaften, ihres Preises und ihres Verwendungszwecks austauschbar sind (sog. Substituierbarkeit).26 Nach diesem Maßstab ist der sachliche Angebotsmarkt auf Transferrechte an Fußballspielern begrenzt: Dieses Marktsegment ist nicht nur durch sehr hohe Gewinnmargen und erhebliche Verlustrisiken gekennzeichnet.27 Vielmehr setzt das Tätigwerden auf Nachfrageseite auch Fußballsachverstand voraus. Schon wegen dieser Spezialisierungserfordernisse auf Investorenseite sind Investments in Transferrechte an Fußballspielern aus deren Sicht nicht austauschbar.28
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Zimmer (Fn. 14), Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 129. Zimmer (Fn. 14), Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 138 ff. 24 Wenngleich die Feststellung der Spürbarkeit in Fällen der „bezweckten“ Wettbewerbsbeschränkung entbehrlich sein soll, vgl. Zimmer (Fn. 14), Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 138 ff. unter Verweis (u. a.) auf EuGH, Rs. C-226/11, Rz. 37 – Expedia. 25 Vgl. CAS 98/200, Rz 102 – AEK Athen und Slavia Prag/UEFA. 26 Hierzu auch Zimmer (Fn. 14), Art. 102 AEUV Rn. 48. 27 Der Fußballfonds „FRT 1“ – als Sonderfall einer TPO-Gestaltung – strebte innerhalb von vier Jahren einen Erlös i. H. v. 138 – 321 % des eingesetzten Kapitals an, Bahners/Konermann, KSzW 2013, 224 (227). 28 Vgl. auch die entsprechend enge Abgrenzung durch den CAS hinsichtlich der Investitionen in Fußballklubs (CAS 98/200, Rz. 102 – AEK Athen und Slavia Prag/UEFA): „because 23
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Auf dem ebenfalls tangierten Spieler(transfer)markt29 agieren Fußballspieler als Anbieter ihrer Arbeitskraft und die Fußballklubs als Nachfrager. Zu betrachten ist somit der sachliche Nachfragemarkt unter Heranziehung eines modifizierten Bedarfsmarktkonzepts. Hiernach ist maßgeblich, auf welche Nachfrager der Anbietende ohne Schwierigkeiten ausweichen kann.30 Als Nachfrager der Arbeitskraft von Fußballspielern kommen allein Fußballklubs in Betracht, mithin ist der sachlich relevante Nachfragemarkt entsprechend eng abzugrenzen. In räumlicher Hinsicht sind sowohl die Grenzen des Marktes der Beteiligung an Transferrechten als auch die des Spieler(transfer)marktes weltweit zu ziehen. bb) Marktmacht auf den relevanten Märkten Hinsichtlich der Marktmacht auf den relevanten Märkten überzeugt es, im Anwendungsbereich des Art. 101 Abs. 1 AEUVauf die in FIFA-Mitgliedsverbänden organisierten Fußballklubs und nicht die FIFA selbst abzustellen: Der Adressatenkreis des Kartellverbots wurde (nur) deshalb auf Unternehmensvereinigungen erstreckt, um Umgehungen durch Zusammenschlüsse oder ähnliche kollektive Organisationen zu unterbinden.31 Folglich ist die Unternehmensvereinigung – gedanklich – so zu behandeln, als hätten die Unternehmen selbst im Rahmen einer abgestimmten Verhaltensweise agiert.32 Die hiernach maßgeblichen Fußballklubs verfügen über einen (originären) Marktanteil von 100 % der weltweiten Transferrechte an Fußballspielern. Gleiches gilt für den Spieler(transfer)markt als Nachfragemarkt, da den Spielern keine Ausweichmöglichkeit auf nicht dem TPO-Verbot unterworfene Fußballklubs offen steht. e) Betroffenheit des zwischenstaatlichen Handels Wegen der länderübergreifenden Ausdehnung des Markts für Drittbeteiligungen an Transferrechten von Fußballspielern und des Spieler(transfer)marktes ist auch die Zwischenstaatlichkeit gegeben.33
of the peculiarities of the football sector, investment in football clubs does not appear to be interchangeable with investments in other businesses, or even in other leisure businesses“. 29 Zu diesem „Beschaffungsmarkt“ Heermann, WuW 2009, 491 (492 f.). 30 Vgl. Zimmer (Fn. 14), Art. 102 AEUV Rn. 71. 31 Vgl. Zimmer (Fn. 14), Art. 101 Abs. 1 AEUV Rn. 58 ff. 32 Soweit eine abgestimmte Verhaltensweise der Fußballklubs angenommen wird, ist dieses Ergebnis ohnehin evident. 33 Europäische Kommission, KOM(2007) 391 final „Weissbuch Sport“, Anhang I: Sport und EU-Wettbewerbsvorschriften, S. 76, Fn. 178.
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f) Ausnahmetatbestand des Art. 101 Abs. 3 AEUV Die Legalausnahme des Art. 101 Abs. 3 AEUV greift schon deshalb nicht durch, weil das TPO-Verbot mit einer vollständigen Ausschaltung des Wettbewerbs im Hinblick auf Drittinvestitionen in Transferrechte an Fußballspielern einhergeht. g) Legitimation des TPO-Verbots aufgrund des „Drei-Stufen-Tests“ Folglich kommt einzig eine Legitimation aufgrund des „Drei-Stufen-Tests“ in Betracht: In seiner Entscheidung „Meca-Medina“ hat der EuGH ausgeführt, dass nicht jeder die Handlungsfreiheit beschränkende Beschluss eines Verbands zwangsläufig unter das Verbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV falle. Bei der Anwendung der Vorschrift im Einzelfall seien vielmehr der Gesamtzusammenhang des Beschlusses und insbesondere seine Zielsetzung zu würdigen. Weiter müsse geprüft werden, ob die wettbewerbsbeschränkenden Wirkungen notwendig mit der Zielsetzung zusammenhingen und ob sie im Hinblick auf die Ziele verhältnismäßig seien.34 Dieser Drei-Stufen-Test ist als Übertragung der Dogmatik der Grundfreiheiten zu qualifizieren, sodass ein Anwendungsfall der Cassis-Formel vorliegt:35 Der EuGH verfolgte in der zitierten Entscheidung das Ziel, die Interessen des Sports bei der Anwendung des europäischen Kartellrechts zu berücksichtigen. Dies kann aufgrund des abschließenden Wortlauts des Art. 101 AEUV weder über eine Tatbestandsrestriktion des Abs. 1 noch über eine Ausdehnung der Freistellung nach Abs. 3 gelingen. Vielmehr sind im Wege der praktischen Konkordanz die kollidierenden Interessen (Verbandsfreiheit, Art. 12 GRCh und Art. 11 EMRK, sowie Schutz des Sports, Art. 165 AEUV, auf der einen und Wettbewerbsschutz auf der anderen Seite) zu berücksichtigen und auszugleichen.36 aa) Legitime Ziele des TPO-Verbots Die Befürworter eines TPO-Verbots sowie die FIFA in ihrer Handreichung vom 9. 9. 202037 führen verschiedene Zielsetzungen an, die im Folgenden in drei Obergruppen, namentlich die Sicherstellung der Wettbewerbsintegrität, die Unterbindung der Fremdbestimmung der Fußballklubs und die Sicherstellung der Wettbewerbsstabilität zusammengefasst werden.
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Vgl. EuGH, Rs. C-519/04 P, Slg. 2006, I-6991, Rz. 42 – Meca-Medina. So auch Breuer, Das EU-Kartellrecht im Kraftfeld der Unionsziele, 2013, S. 568. 36 Im Einzelnen Horn (Fn. 18), S. 94 ff. sowie Schaefer, Die Vereinbarkeit der „50+1“Regel mit dem Europarecht, in: Vieweg (Hrsg.), Impulse des Sportrechts, 2014, S. 135 (143 f.). 37 Hierzu Fn. 3. 35
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(1) Sicherstellung der Wettbewerbsintegrität Die Zielsetzung einer Sicherstellung der Wettbewerbsintegrität ist im Grundsatz legitim. Die Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit des Wettbewerbs sind essentielle Voraussetzungen für die Vermarktbarkeit von Sportereignissen und letztlich für den Bestand des Sports.38 Gefährdet sind diese Ziele durch manipulative Einflussnahmen Dritter auf den Ausgang des sportlichen Wettstreits, durch einen dahingehenden Verdacht in der Öffentlichkeit sowie bei Vorliegen undurchsichtiger Geldströme, denen stets der Schein der Illegalität anhaftet.39 (2) Unterbindung der Fremdbestimmung Auch die Zielsetzung einer Bewahrung der Freiheit und Unabhängigkeit von Fußballklubs ist ohne Weiteres als legitim anzuerkennen.40 Dies manifestiert sich nicht zuletzt in der vorgenannten unionsrechtlichen Anerkennung des Sports als schutzwürdiges Gut sowie in der Vereins- und Verbandsautonomie.41 Zu vermeiden sind daher Beteiligungsformen, die Drittinvestoren die Möglichkeit einer erheblichen Einflussnahme auf die Fußballklubs eröffnen, da das kommerziell geprägte Investoreninteresse häufig konträr zum sportlichen Interesse der Fußballklubs verläuft und so den nachhaltigen sportlichen Erfolg gefährdet.42 (3) Sicherstellung der Wettbewerbsstabilität Schließlich hat der EuGH in der Rechtssache „Bosman“ die Sicherstellung der Stabilität der Wettbewerbsverhältnisse in Gestalt der Schaffung bzw. Sicherung des finanziellen und sportlichen Gleichgewichts zwischen Fußballklubs als legitime Zielsetzung anerkannt.43 Dies verdient Zustimmung, da die Stabilität der Wettbewerbsverhältnisse Grundvoraussetzung für den Bestand des Sports an sich ist.44 Diese Wettbewerbsstabilität ist dann gefährdet, wenn dem Sportsektor insgesamt finanzielle Mittel entzogen und hierdurch bestehende wettbewerbliche Ungleichge-
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Hovemann/Wieschemann, SpuRt 2009, 187 (188); anerkannt auch durch Europäische Kommission COMP/37806, Rz. 32 – ENIC/UEFA; ebenso Schaefer (Fn. 36), S. 135 (146). 39 Vgl. Chaplin, Call for ban on third-party ownership of players’ economic rights, 11. 12. 2012, abrufbar unter www.uefa.org/about-uefa/executive-committee/news/newsid=1906435. html; Duve, Why FIFA’s TPO ban is justified, 30. 4. 2015, abrufbar unter http://www.asser.nl/ SportsLaw/Blog/post/blog-symposium-the-justification-of-fifa-s-tpo-ban-by-prof-dr-christianduve; Heermann, CaS 2013, 21 (22) sowie die KEA/CDES-Studie (Fn. 20), S. 66: „supporting irresponsible financial behaviours as money flow would be more difficult to track“. 40 In Bezug auf die „50+1“-Regel: Schaefer (Fn. 36), S. 135 (145) sowie Verse, CaS 2010, 28 (34); allg. zur Gefährdung der Autonomie des Sports durch private Geldgeber: Steiner, in: Tettinger/Vieweg (Hrsg.), Gegenwartsfragen des Sportrechts, 2004, S. 222 (248 ff.). 41 Vgl. Schaefer (Fn. 36), S. 135 (145). 42 Duve (Fn. 39). 43 EuGH, Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921, Rz. 105 – Bosman. 44 Vgl. Schaefer (Fn. 36), S. 135 (146).
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wichte zementiert oder vertieft werden.45 Auch führt die Einflussnahme ökonomisch orientierter Drittinvestoren auf die (Transfer-)Politik von Fußballklubs tendenziell zu einer erhöhten Transferfrequenz und damit zu einer Instabilität im Mannschaftsgefüge, die Diskrepanzen im Hinblick auf die sportliche Leistungsfähigkeit zwischen Fußballklubs befördern.46 Weiterhin ist eine Zunahme der Transfersummen der Wettbewerbsstabilität abträglich.47 Schließlich können Unterschiede in den jeweiligen nationalen Rechtsrahmen Vorteile für Fußballklubs auf dem Transfermarkt zeitigen, die hierauf zurückgreifen können. bb) Geeignetheit Für eine Geeignetheit des Totalverbots von TPO-Gestaltungen wäre Grundvoraussetzungen, dass es ein brauchbares Mittel zur Erreichung bzw. Förderung der als legitim identifizierten Ziele darstellt.48 Hierbei sprechen die besseren Gründe dagegen, der FIFA eine Einschätzungsprärogative in Form eines Ermessensspielraums zuzugestehen: Zum einen setzt eine Einschätzungsprärogative im Ausgangspunkt die staatliche Legitimation des Normgebers voraus. Zum anderen besteht kein Bedarf für eine entsprechende Restriktion des Prüfungsumfangs der Kartellbehörden und Gerichte: Die Verbände verfügen über einen weitreichenden Entscheidungsspielraum dahingehend, ob sie eine Thematik überhaupt regeln wollen sowie über ein Auswahlermessen zwischen gleich milden Mitteln. Entscheiden sie sich für eine Regelung, kann der unionsrechtlich verbürgten Verbandsautonomie und den Zielen des Sports i. R. d. Verhältnismäßigkeitsabwägung hinreichend Rechnung getragen werden.49 (1) Sicherstellung der Wettbewerbsintegrität Hinsichtlich der Unterbindung undurchsichtiger Geldströme ist die Geeignetheit des TPO-Verbots zu bejahen, da Investment-TPOs wegen ihrer grenzüberschreitenden Bezüge und der Intransparenz der Beteiligungsstrukturen der Verdacht der Illegalität anhaften kann und das Totalverbot diese Gefahr beseitigt. Hinsichtlich der postulierten gesteigerten Manipulationsgefahr durch TPOs ist die Eignung hingegen zu verneinen und somit (nur) insofern den Stimmen, die eine Geeignetheit zur Wahrung der Wettbewerbsintegrität generell verneinen,50 beizupflich45
Zur Befürchtung des Geldabflusses: Chaplin (Fn. 39). Vgl. Duve (Fn. 39); zur Anerkennung einer gewissen wirtschaftlichen und sportlichen Ausgewogenheit als legitime Zielsetzung: Heermann, CaS 2013, 21 (28). 47 KEA/CDES-Studie (Fn. 20), S. 66. 48 Schaefer (Fn. 36), S. 135 (147 Fn. 48). 49 Vgl. auch Horn (Fn. 18), S. 120, 135 f. 50 Vgl. Jens/Wessel, CaS 2015, 10 (13), die dem Art. 18ter RSTP insofern bereits deshalb die Eignung absprechen, weil die Befürworter eine Gefährdungslage auch nicht im Ansatz substantiiert dargelegt hätten; zust. Del Fabro, CaS 2015, 219 (225). 46
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ten:51 Aus rechtstatsächlicher Perspektive streitet gegen eine solche Gefahr, dass Drittinvestoren mit Spielern oftmals keine unmittelbaren Vertragsbeziehungen unterhalten. Es fehlt daher ein Anknüpfungspunkt für Manipulationsmöglichkeiten. Ferner ist zu beachten, dass Spieler, die infolge manipulativer Absprachen eine schlechte Performance abliefern, unmittelbar ihren Arbeitgeber schädigen und von dessen Seite sportliche und finanzielle „Sanktionen“ fürchten müssten. Die Möglichkeit der Einflussnahme auf Spieler ist für Drittinvestoren damit deutlich geringer als bei Mehrheitsbeteiligungen an aufeinandertreffenden Fußballklubs.52 (2) Unterbindung der Fremdbestimmung Auch die Eignung zur Unterbindung einer Fremdbestimmung von Fußballklubs ist zu bejahen: Drittinvestoren haben bei Investment-TPOs ein wirtschaftliches Interesse an Wechseln vor Ablauf der Vertragslaufzeit, sodass die Gefahr einer Einflussnahme auf die (Transfer-)Politik des betreffenden Fußballklubs besteht. Dieser Gefahr wird durch das Verbot wirksam begegnet. (3) Sicherstellung der Wettbewerbsstabilität Schließlich ist das TPO-Verbot für die Sicherstellung der Wettbewerbsstabilität ein geeignetes Mittel. So kann durch die Schaffung eines „level playing fields“ verhindert werden, dass auf dem Transfermarkt Vorteile für Fußballklubs entstehen, die auf TPO-Gestaltungen zurückgreifen können.53 Demgegenüber ist die Eignung zweifelhaft, soweit das TPO-Verbot auf eine Verhinderung des Geldabflusses aus dem Fußballsektor und der darauf fußenden Zunahme von Leistungsdivergenzen zwischen Vereinen abzielt. So fehlt es bereits an belastbaren Daten, inwieweit Investment-TPOs in der Summe zu einem Geldabfluss führen. Es ist im Gegenteil nicht ausgeschlossen, dass aufgrund der Möglichkeit von (Total-)Verlusten der Drittinvestoren dem Fußballsektor im Ergebnis ein finanzieller Überschuss verbleibt.54 Überdies bedingen Transferabwicklungen oftmals externe Geldzuflüsse, die in eine „gesamtbilanzielle“ Betrachtung einzustellen wären. Auch kann ein Kausalzusammenhang zwischen der Zunahme der Transferfrequenz und TPOs nicht ohne Weiteres hergestellt werden.55 Schließlich ist nicht ersichtlich, inwiefern TPOs ursächlich für das Anwachsen der Transfersummen sind. Dagegen 51
Krit. auch Heermann, CaS 2013, 21 (25). Vgl. Europäische Kommission COMP/37806, Rz. 35 – ENIC/UEFA. 53 Abl. Del Fabro, CaS 2015, 219 (225) mit dem wenig überzeugenden Argument, die Chancenungleichheit folge aus den nationalen Einschränkungen und nicht den TPO-Gestaltungen selbst. 54 So auch Del Fabro, CaS 2015, 219 (225). 55 So waren in der englischen Premier League zwischen der Saison 2006/2007 und 2009/ 2010 (Eingreifen des TPO-Verbots) durchschnittlich 227,5 Abgänge und 174,5 Zugänge, zwischen der Saison 2010/2011 und 2013/2014 durchschnittlich 230 Abgänge und 161 Zugänge zu verzeichnen – Zahlen abrufbar unter http://www.transfermarkt.de/premier-league/ transfers/wettbewerb/GB1/plus/?saison_id=2006&s_w=&leihe=0&intern=0. 52
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streitet bereits, dass Drittinvestoren i. R. d. Erwerbs eines Transferrechts aus Renditeinteresse nicht bereit sind, höhere als marktgerechte Summen zu investieren. Aber auch hinsichtlich des nachfolgenden Weitertransfers ist das Aufrufen überhöhter Preise nicht naheliegend, da anderenfalls die „Unverkäuflichkeit“ des Spielers, mithin ein Totalverlust droht.56 cc) Erforderlichkeit Das TPO-Verbot müsste ferner erforderlich sein, also die angestrebten Ziele nicht ebenso wirksam durch mildere Maßnahmen erreicht werden können.57 Auch insofern ist das Bestehen einer Einschätzungsprärogative umstritten, im Ergebnis aber abzulehnen.58 (1) Ausdehnung auf Sicherungsabtretungen Das TPO-Verbot ist schon deshalb nicht erforderlich, weil es auch Sicherungsabtretungen an Kreditinstitute im gewöhnlichen Geschäftsverkehr (und sonstige Finanzierungs-TPOs) erfasst.59 Insoweit drohen indes weder Integritätsgefährdungen noch eine Fremdbestimmung oder eine Gefährdung der Wettbewerbsstabilität.60 Als milderes und zugleich ebenso effektives Mittel kommt somit eine Beschränkung des Verbots auf Investment-TPOs in Betracht. (2) Sicherstellung der Wettbewerbsintegrität Im Hinblick auf die Zielsetzung des Schutzes der Wettbewerbsintegrität ist die Erforderlichkeit zumindest zweifelhaft. So können Manipulationen und nicht nachvollziehbare Geldströme ebenso effektiv mittels Implementierung von Transparenzvorschriften ausgeschlossen werden:61 Aufgrund solcher Vorschriften wäre es für Drittinvestoren nicht länger möglich, wie „Wettpaten“ im Dunkeln zu agieren, sodass auch dem Restrisiko einer manipulativen Einflussnahme wirksam begegnet werden könnte. Diese Transparenzregelungen stellen zudem gegenüber einem Totalverbot ein weniger einschneidendes Mittel dar. (3) Unterbindung der Fremdbestimmung Für die Unterbindung einer Fremdbestimmung ist das TPO-Verbot hingegen erforderlich. Zwar besteht mit Art. 18bis RSTP eine Regelung, die jegliche Einflussnahme von Drittinvestoren auf die (Transfer-)Politik von Fußballklubs untersagt. Al56
Vgl. Heermann, CaS 2013, 21 (25). EuGH, Rs. 261/81, Slg. 1982, 3961, Rz. 17 – Rau. 58 Zu diesem Problemkreis erneut IV.1.g)bb). 59 Vgl. erneut III. 60 Auch die Argumentationslinie der Verbotsbefürworter beschränkt sich auf die Gefährdungslage durch Investment-TPOs, ohne Finanzierungs-TPOs in den Blick zu nehmen, vgl. die KEA/CDES-Studie (Fn. 20), S. 64 ff., 91. 61 Dazu Jens/Wessel, CaS 2015, 10 (15). 57
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lerdings ist das Beeinflussungsverbot nicht als ebenso effektiv zu bewerten wie das Totalverbot: Art. 18bis RSTP vermag faktische Einflussnahmen nicht zuverlässig zu verhindern, da Investment-TPOs stets die Gefahr in sich bergen, dass die Fußballklubs im Rahmen eines „vorauseilenden Gehorsams“ Transfers durchführen, die ihren sportlichen Interessen entgegenlaufen, um sich das Wohlwollen der Drittinvestoren im Hinblick auf künftige Transfers zu sichern. Dieser ökonomisch-faktischen Einflussmöglichkeit kann auch durch die vorgeschlagenen Transparenzregeln sowie durch quantitative Beteiligungsbeschränkungen nicht ebenso wirksam begegnet werden. (4) Sicherstellung der Wettbewerbsstabilität Soweit das TPO-Verbot als geeignet zur Sicherstellung der Wettbewerbsstabilität eingestuft wurde, da es die Chancengleichheit der Vereine fördert, die nicht auf TPOs zurückgreifen können, ist auch kein milderes und ebenso effektives Mittel erkennbar, sodass die Erforderlichkeit zu bejahen ist. dd) Verhältnismäßigkeit/Angemessenheit Ob die mit dem TPO-Verbot zusammenhängenden wettbewerbsbeschränkenden Wirkungen im Hinblick auf die identifizierten legitimen Ziele verhältnismäßig sind, ist mittels Einzelfallabwägung zu entscheiden.62 In deren Rahmen kommt zwar der Verbandsautonomie sowie den anerkannten Zielen des Sports besonderes Gewicht zu.63 Dieses ist jedoch nicht mit einem allgemeinen Vorrang vor wettbewerblichen Prämissen gleichzusetzen. Vielmehr müssen diese Ziele im Einzelfall umso gewichtiger sein, je tiefgreifender der wettbewerbliche Eingriff ist. Das Gewicht der Vorteile, die das TPO-Verbot für den Sport zeitigt, ist unter Berücksichtigung der konkreten Gefährdungslage zu bestimmen. Als Vorteil wurde zum einen die Unterbindung einer Fremdbestimmung der Fußballklubs identifiziert, da Drittinvestoren versucht sein können, auf die (Transfer-) Politik der Fußballklubs Einfluss zu nehmen. Die dahingehende Gefährdungslage ist jedoch als gering einzustufen, da Art. 18bis RSTP ein umfassendes Beeinflussungsverbot vorsieht und Umgehungsgefahren durch Transparenzvorschriften effektiv begegnet werden kann. Somit beschränkt sich die Gefahr der Fremdbestimmung auf eine rein ökonomisch-faktische Zwangslage der Fußballklubs, die im Grundsatz jeder Form der Beteiligung kommerziell orientierter Drittinvestoren inhärent ist.64 Zum anderen wurde die Schaffung eines „level playing fields“ als Vorteil für den Sport identifiziert. Allerdings kann auch insofern den Investment-TPOs kein erhebliches Gefahrenpotential attestiert werden: Das Ungleichgewicht zwischen Fußball62 EuGH, Rs. 147/81, Slg. 1982, 1389, Rz. 12; Emmerich-Fritsche, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Direktive und Schranke der EG-Rechtsetzung, 2000, S. 213 ff. 63 Vgl. Heermann, WuW 2009, 394 (404) m. w. N. 64 Vgl. Heermann, CaS 2013, 21 (25).
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klubs verschiedener Verbände im Hinblick auf Transfermöglichkeiten ist primär auf Faktoren wie die mediale Liga-Vermarktung, ökonomische Rahmenbedingungen oder auch nationale Beschränkungen von Mehrheitsbeteiligungen an Fußballklubs zurückzuführen. Der Vorteil, auf Investment-TPOs zurückgreifen zu können, stellt sich demgegenüber als gering dar. Hinsichtlich der Nachteile, die das TPO-Verbot zeitigt, ist eine Differenzierung angezeigt: Soweit die Untersuchung allein die Auswirkungen auf den Spieler(transfer)markt in den Blick nimmt, streitet vieles für die Verhältnismäßigkeit des Art. 18ter RSTP: Die wettbewerbsbeschränkende Wirkung auf diesen Markt ist begrenzt, da das TPOVerbot nur ein Finanzierungsinstrument betrifft und nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden kann, dass die Transfermöglichkeiten – in Bezug auf kleinere Vereine – erheblich beschränkt werden.65 Insofern ist von einem Überwiegen der Vorteile für den Sport auszugehen. Anders ist die Verhältnismäßigkeit in Bezug auf die beschränkende Wirkung des TPO-Verbots hinsichtlich des Marktes der Drittinvestitionen in Transferrechte an Fußballspielern zu beurteilen:66 Insoweit wird ein gesamter wirtschaftlicher Tätigkeitsbereich ausgeschaltet, mithin liegt die schärfste Form der Wettbewerbsbeschränkung vor. Eine derart umfangreiche Beeinträchtigung kann nur dann gerechtfertigt sein, wenn den Vorteilen für den Sport erhebliches Gewicht zukommt. Dies ist aufgrund der geringen Gefährdungslage durch Investment-TPOs jedoch zu verneinen. Folglich überwiegen die Nachteile und Art. 18ter RSTP ist als unverhältnismäßig zu beurteilen. 2. Verstoß gegen Art. 102 AEUV Art. 102 AEUV verbietet die missbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung auf dem Binnenmarkt oder einem wesentlichen Teil desselben durch ein oder mehrere Unternehmen, die zu einer Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels führen kann. Es konnte an anderer Stelle gezeigt werden, dass im Rahmen dieses Verbotstatbestandes der FIFA die Handlungen der marktbeherrschenden Fußballklubs zugerechnet werden können bzw. ein Handeln durch diese Klubs bejaht werden kann. Ferner liegt ein missbräuchliches Ausnutzen dieser marktbeherrschenden Stellung vor, indem das TPO-Totalverbot zu einer Marktverschließung führt.67
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So auch Duve (Fn. 39). Dagegen spricht nicht zuletzt auch die Transferentwicklung in der englischen Premier League; erneut Fn. 55. 66 Diesen Markt lassen manche Befürworter gänzlich unberücksichtigt, vgl. statt vieler Duve (Fn. 39). 67 Hierzu Egger (Fn. 2), S. 307 (328 ff.).
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Zwar wird auch i. R. d. Art. 102 AEUV eine objektive Rechtfertigungsmöglichkeit anerkannt.68 Für den Sportsektor sind insbesondere die anerkannten Zielsetzungen und Besonderheiten des Sports als Rechtfertigungsgrundlage in den Blick zu nehmen. Allerdings muss aufgrund der fehlenden Erforderlichkeit und der Unverhältnismäßigkeit des TPO-Verbots auch i. R. d. Art. 102 AEUV eine Rechtfertigung ausscheiden, sodass ein missbräuchliches Ausnutzen vorliegt.69 Schließlich ist auch eine Betroffenheit des zwischenstaatlichen Handels zu bejahen.70 V. Fazit Das Totalverbot von TPO-Gestaltungen durch Art. 18ter RSTP ist nicht mit den Vorgaben des europäischen Wettbewerbsrechts vereinbar und verstößt sowohl gegen Art. 101 AEUV als auch gegen Art. 102 AEUV. Insbesondere scheidet eine Legitimation aufgrund des „Drei-Stufen-Tests“ aus: Das Verbot ist zwar zur Verfolgung einiger legitimer Ziele geeignet. Allerdings scheitert dessen Erforderlichkeit an der umfassenden Formulierung, die Finanzierungs-TPOs umfasst. Überdies stellt es sich i. R. d. Abwägung als unverhältnismäßig dar, da den Vorteilen für den Sport lediglich geringes, den Nachteilen hingegen erhebliches Gewicht zukommt. Eine abweichende Bewertung würde voraussetzen, dass die weiteren – bis dato lediglich behaupteten – Gefährdungen durch TPO-Gestaltungen mit überprüfbaren Daten unterlegt werden.
68 Vgl. die Nachweise aus der Rspr. bei Fuchs/Möschel, in: Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), EU-Wettbewerbsrecht, 5. Aufl. 2012, Art. 102 AEUV Rn. 152 ff. 69 Zur Ausstrahlungswirkung auf Art. 102 AEUV: Heermann, CaS 2013, 21 (29). 70 Siehe IV.1.e).
Die einkommensteuerrechtliche Behandlung von Veräußerungsverlusten aus Vollrisikozertifikaten im Privatvermögen Von Michael Fischer I. Einleitung Die Behandlung von privaten Verlusten aus Vollrisikozertifikaten ist für den Einkommensteuerpflichtigen ein seit mehr als 20 Jahren ungelöstes Problem. Das liegt nicht allein daran, dass sich die Rechtslage mehrfach geändert hat, sondern vor allem daran, dass es an einer für den Rechtsanwender klaren gesetzlichen Konzeption fehlt. Zertifikate werden zivilrechtlich als Kassageschäfte angesehen, bis heute hat sich die Rspr. des BFH aber nicht abschließend festlegen wollen, ob sie im Steuerrecht den Sondervorschriften für Termingeschäfte nach § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 EStG in der bis zum 31. 12. 2008 geltenden Fassung (a. F.) bzw. § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 EStG in der Fassung des UntStRefG 20081 unterliegen können.2 Ähnlich unklar ist die Behandlung von Optionsscheinen, die – obwohl als Wertpapiere an Wertpapierbörsen am Kassamarkt gehandelt – nach Meinung der Finanzverwaltung Termingeschäfte i. S. des § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 EStG sein sollen.3 Dabei spielt es keine Rolle, dass § 23 Abs. 1 Nr. 4 EStG a. F. zwischen Termingeschäften in Satz 1 und Optionsscheinen in Satz 2 ausdrücklich differenzierte und die Fiktion des Satzes 2 nicht in den Tatbestand des § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 EStG übernommen wurde. Ob Verluste aus Termingeschäften im Anwendungsbereich des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 EStG a. F. vom Optionsinhaber4 geltend gemacht werden können, wurde vom BFH zunächst unter Betonung des Wortlautes verneint,5 später aber mit aus dem Ver1
Unternehmenssteuerreformgesetz v. 14. 08. 2007, BGBl. I 2007, 1912. BFH v. 10. 11. 2015, IX R 20/14, BStBl. II 2016, 159 zu § 23 Abs. 1 Nr. 4 EStG a. F.; inzwischen überholt durch BFH v. 16. 06. 2020, VIII R 1/17, BFH/NV 2021, 58; BFH v. 20. 11. 2018, VIII R 37/15, BStBl. II 2019, 507 Rn. 13 ff. zu § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 EStG. 3 BMF v. 18. 01. 2016, BStBl. I 2016, 85, Rz. 9, 17. 4 § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 EStG a. F. betraf nach ständiger Rspr. des BFH lediglich Optionen, die der Berechtigte erwirbt, nicht aber solche, die er als sog. Stillhalter einräumt (vgl. z. B. BFH v. 11. 02. 2014, IX R 46/12, BFH/NV 2014, 1025, Rn. 19, 26). Die Verrechnung der nach § 22 Nr. 3 EStG zu versteuernden Optionsprämie mit einem vom Stillhalter geschuldeten Differenzausgleich als Werbungskosten scheiterte an der sog. Trennungstheorie (z. B. BFH v. 17. 04. 2007, IX R 40/06, BStBl. II 2007, 608). 5 BFH v. 19. 12. 2007, IX R 11/06, BStBl. II 2008, 519. Ebenso BMF v. 27. 11. 2001, 986, Tz. 18, 23. 2
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fassungsrecht abgeleiteten steuersystematischen Erwägungen bejaht.6 Auf sog. Knock-Out-Verluste bei Vollrisikozertifikaten sollte diese Rechtsprechungsänderung aber nicht übertragbar sein.7 Der automatische Wertverfall8 durch sog. Knock-Out sei ein steuerrechtlich beachtlicher Unterschied zur (theoretischen) Entscheidungsmöglichkeit des Optionsinhabers. Ende 2019 hat der Gesetzgeber9 in einer Nacht-und-Nebel-Aktion10 in § 20 Abs. 6 Satz 5 EStG eine neue durchgreifende Verlustausgleichsbeschränkung für den Verfall von Termingeschäften und die Veräußerung eingeführt.11 Der Bundesrat hat in einer Stellungnahme v. 9. 10. 2020 zum Entwurf des JStG 202012 die Empfehlung ausgesprochen, die gesetzlichen Regelungen wieder zu streichen. Das überrascht zwar nicht in der Sache, aber doch insofern, als er erst wenige Monate vorher dem Gesetz v. 21. 12. 2019 selbst noch zugestimmt hatte. Die Begründung zum Gesetz v. 21. 12. 2019 lässt erkennen, dass sich der Gesetzgeber über die Frage, ob Vollrisikozertifikate Termingeschäfte sein könnten, weiterhin keinerlei Gedanken macht.13 Der Rechtsanwender fragt sich deshalb, ob die neue Verlustausgleichsbeschränkung, die erstmals ab dem 1. 1. 2021 anzuwenden ist (vgl. § 52 Abs. 28 Satz 23 EStG), auch Vollrisikozertifikate betrifft. Gleiches gilt für Optionsscheine. Fakt ist jedenfalls, dass der Bundestag der Empfehlung des Bundesrates nicht entsprochen hat. Es ist lediglich der sofort verrechenbare Betrag verdoppelt worden.14 In der bisherigen steuerrechtlichen Diskussion haben zivilrechtliche Fragen, insbesondere der Umstand, dass Zertifikate anders als Termingeschäfte, Wertpapiere, d. h. in Urkunden verbriefte Rechte sind, und die Übertragung des Rechts an der 6 BFH v. 26. 09. 2012, IX R 50/09, BStBl. II 2013, 231: Das Gesetz erfasse „folgerichtig“ auch eine negative Differenz als Verlust (Rn. 16) und es besteuere den Steuerpflichtigen nach dem Grundsatz der Leistungsfähigkeit (Rn. 26). 7 BFH v. 10. 11. 2015, IX R 20/14, BFH/NV 2016, 318. Das weitere Verfahren IX R 39/15 (Vorinstanz FG Düsseldorf v. 25. 02. 2015, 15 K 4038/13 E, F) war zwar durch Beschluss v. 01. 06. 2016 bis zur Entscheidung in dem Verfahren 2 BvR 217/16 ausgesetzt. Die Verfassungsbeschwerde wurde mit Beschluss v. 05. 07. 2019 nicht zur Entscheidung angenommen. 8 Findet nach dem Knock-Out noch eine Abrechnung statt, wird der Tatbestand des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 a. F. beendet; vgl. BFH v. 16. 06. 2020, VIII R 1/17, BFH/NV 2021, 58. 9 „Gesetz zur Einführung einer Pflicht zur Mitteilung grenzüberschreitender Gestaltungen“ v. 21. 12. 2019, BGBl. I 2019, 2875. 10 Die im ursprünglichen Entwurf eines Gesetzes zur weiteren steuerlichen Förderung der Elektromobilität und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften („JStG 2019“) geplanten rechtsprechungsüberholenden Gesetzesverschärfungen in § 20 Abs. 2 EStG waren erst wenige Tage zuvor nach dem Widerstand des Bundesrats aus der vom Bundestag am 07. 11. 2019 verabschiedeten Fassung gestrichen worden (BR-Drucks. 356/19 v. 20. 09. 2019, S. 30). Dazu Dahm/Hoffmann, Die neue Beschränkung der Verlustverrechnung nach § 20 Abs. 6 S. 5 und 6 EStG – Schlimmer geht immer!, DStR 2020, 81. Weiss (EStG 2020, 64, 68) spricht von einem nahezu unbemerkten Gesetzesvorschlag „in letzter Minute“. 11 Zur möglichen Verfassungswidrigkeit näher Drüen, FR 2020, 663 ff. 12 BR-Drs. 503/20, S. 18, 21. 13 Vgl. Begründung des Finanzausschusses v. 11. 12. 2019, BT-Drucks. 19/15876, 61. 14 Änderung des § 20 Abs. 6 Satz 5 EStG durch das JStG 2020, BGBl. I 2020, 3096.
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des Papiers anknüpft, eine untergeordnete Rolle gespielt.15 Das ist bedauerlich, weil es – wie im Folgenden zu zeigen sein wird – gar nicht notwendig ist, Vollrisikozertifikate steuerrechtlich unter den Begriff der Termingeschäfte zu zwängen,16 um systematisch stimmig Gewinne und Verluste als steuerbar einzuordnen. II. Zivilrechtliche Einordnung und Abgrenzung zum Termingeschäft Der Begriff des Zertifikates, wie er nach heutiger Verkehrsanschauung verwendet wird,17 ist rechtlich nicht definiert.18 Im Schrifttum bezeichnet man als Zertifikate Finanzprodukte in Form von Schuldverschreibungen, durch die der Anleger an der Wertentwicklung eines Basiswertes teilhaben kann.19 Der Anleger überlässt dem Emittenten Kapital und erhält im Gegenzug einen verbrieften Zahlungsanspruch gegen den Emittenten. Dieser Zahlungsanspruch ist regelmäßig abhängig von der Marktentwicklung des dem Zertifikat zugrunde liegenden Basiswertes.20 Als Basiswerte kommen namentlich Aktien bzw. Aktienindizes, Währungen, Rohstoffe, Zinsen, Multi-Asset-Strukturen, aber auch Kreditereignisse, die an das Wetter, Klima oder den Sport anknüpfen, in Betracht.21 Für Privatanleger sind sie die mit Abstand bedeutendste Anlageform.22 Sie werden regelmäßig standardisiert als sog. Kassageschäfte über eine Wertpapierbörse gehandelt. Dem Privatanleger wird ein ganzer Strauß unterschiedlich strukturierter Zertifikate angeboten, deren Bedingungen sich u. a. bezüglich Laufzeit, Kapitalschutz, Hebelwirkung des Basiswertes und Differenzausgleich oder tatsächliche Lieferung des Basiswertes unterscheiden. Vollrisikozertifikate zeichnen sich dadurch aus, dass sie keinen Kapitalschutz gewähren. Der Anleger trägt also das Risiko, sein eingesetztes Kapital vollständig zu verlieren. Angeboten werden insbesondere sog. Hebelzertifikate, die oftmals auch als „Turbozertifikate“ bezeichnet werden, welche überproportional auf die Kursentwicklung des Basiswertes reagieren. Sie bieten dem Anleger einerseits die Möglichkeit, mit relativ geringem Einsatz überdurchschnittliche Gewinne zu erzielen. Andererseits werden sie regelmäßig mit einer sog. Knock-Out-Schwelle ausgestaltet. Beim Über-/Unterschreiten der Schwelle erlischt der Zahlungsanspruch vollständig oder – vorbehaltlich eines vom Emittenten garantierten minimalen Restrückkauf15 Vgl. z. B. Blümich/Ratschow, EStG (Mai 2020), § 20 Rn. 393a, der ohne Begründung meint, es fehle bei verfallenen Knock-Out-Produkten am „konstituierenden Handlungselement der Rückgabe der Urkunde“. 16 Vgl. FG Köln v. 26. 10. 2016, 7 K 3387/13, EFG 2017, 216. Dem folgend BFH v. 16. 06. 2020, VIII R 1/17, BFH/NV 2021, 58. 17 § 2 Nr. 33 WpHG definiert Zertifikate i. S. des WpHG, fällt aber völlig aus dem Rahmen der herkömmlichen Verwendung des Begriffs. Vgl. Hoops, WM 2017, 319, 320. 18 Eck, in: Zerey, Finanzderivate Rechtshandbuch, 2016, § 5 Rn. 1. 19 Danz/Kieninger/Patzner, in: Zerey (o. Fn. 18), § 41 Rn. 21. 20 Nikolova, Rechtsnatur der Zertifikate, 2013, S. 44. 21 Eck (o. Fn. 18), § 5 Rn. 10 ff. 22 Danz/Kieninger/Patzner (o. Fn. 19), § 41 Rn. 22.
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wertes – nahezu vollständig.23 Das gilt auch dann, wenn sich der Kurs des Basiswertes später erholt und die Knock-Out-Schwelle wieder überschreitet. Das Zertifikat bleibt wertlos bzw. nahezu wertlos. Bei Privatanlegern kann beim Erwerb eines Hebelproduktes, wie bei Hebelzertifikaten oder Termingeschäften, die auf Differenzausgleich gerichtet sind, der aleatorische Zweck des Geschäfts nicht pauschal ausgeschlossen werden.24 Bereits das Reichsgericht25 hatte festgestellt, dass die Geschäfte nach ihrem materiellen Gehalt Spielgeschäfte darstellen. Nichtsdestoweniger soll nach der heute h. M. dem Rechtsgeschäft der Spieleinwand nach § 762 BGB nicht entgegengehalten werden können. Zum Teil wird argumentiert, ein Spielgeschäft liege nicht vor, wenn die Parteien ernsthafte wirtschaftliche Interessen verfolgten. Selbst wenn sie aus der Sicht des Anlegers als Spekulationsgeschäft getätigt würden, d. h., „ernsthafte“ wirtschaftliche Interessen nicht vorlägen, solle der Spielcharakter des Vertrages zu verneinen sein, weil es jedenfalls auf Seiten des Emittenten an der Spekulationsabsicht fehle.26 Ein anderer Ansatz besteht darin, Hebelzertifikate, die auf einen Differenzausgleich gerichtet sind, bereits als derivative Geschäfte nach § 2 Abs. 3 WpHG27 bzw. als Derivate i. S. des § 2 Abs. 35 WpHG, die Wertpapiere i. S. des § 2 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. b WpHG einbeziehen, und damit als Finanztermingeschäfte i. S. des § 99 Satz 1, Satz 2 Alt. 1 WpHG einzustufen.28 Die methodologisch vorzugswürdige Alternative dazu besteht darin, sie zwar – wie „herkömmliche“ Zertifikate ohne spekulatives Hebelelement – als Inhaberpapiere i. S. des § 2 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. a WpHG anzusehen, die aber analog § 99 Satz 2 Alt. 2 WpHG ebenso wie vergleichbare Optionsscheine zum Kreis der Finanztermingeschäfte zählen. Auch wenn die Begründungen variieren, wird aus der Perspektive des WpHG der Begriff „Optionsscheine“ im Ergebnis sowohl für Wertpapiere, die ein Optionsrecht verbriefen, als auch für Vollrisikozertifikate verwendet.29 § 99 Satz 1 WpHG schließt als Rechtsfolge den Spieleinwand aus, soweit ein Finanztermingeschäft i. S. d. § 99 Satz 2 WpHG vorliegt, bei dem mindestens ein Vertragsteil ein mit Finanztermingeschäften befasstes Unternehmen ist. Diese Regelung hatte der Gesetzgeber30 für erforderlich gehalten, weil solche Finanztermingeschäfte bisweilen den äußeren Tatbestand des Spiels i. S. d. § 762 BGB erfüllen könnten. 23 Busch, Die einkommensteuerrechtliche Behandlung von Termingeschäften, 2019, S. 103. 24 Vgl. z. B. BGH v. 28. 04. 2015, XI ZR 378/13, NZG 2015, 875 Rn. 81. 25 RG v. 29. 12. 1894, I 310/94, RGZ 34, 82, 85 f.; RG v. 16. 04. 1912, II 524/11, RGZ 79, 234, 238. 26 Müller, in: Erman, BGB, 16. Aufl. 2020, § 762 Rn. 2; Salewski, BKR 2012, 100, 104. 27 Hoops, WM 2017, 319, 320. 28 Salewski, BKR 2012, 100, 103 m. w. N. Vgl. Zum früher verwandten Begriff des Börsentermingeschäfts BGH v. 13. 10. 1998, XI ZR 26/98, NJW 1999, 720 Rn. 19 f. 29 MünchKomm-HGB/Ekkenga, 4. Aufl. 2019, Bd. 6, Teil 2, Kap. P „Effektengeschäft“, Rn. 70. 30 BT-Drs. 10/8017, 96.
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Vollrisikozertifikate sind inhaltlich von Optionsscheinen zu unterscheiden. Beide sind zwar Wertpapiere und gehören zu den sog. Kassageschäften,31 Zertifikate verbriefen aber – vergleichbar einem Darlehen – eine Kapitalforderung des Anlegers gegen den Emittenten, während Optionsscheine (nur)32 ein Gestaltungsrecht verbriefen, das in Abhängigkeit von der Wertentwicklung eines Basiswertes ausgeübt werden kann.33 Obwohl Optionsscheine gerade keine Termingeschäfte sind, werden sie in § 99 Satz 2 WpHG als „Finanztermingeschäfte“ i. S. des Satzes 1 definiert. Die (analoge) Gleichstellung von Vollrisikozertifikaten mit Optionsscheinen im WpHG wird zum einen damit begründet, dass dem Anleger wegen der vergleichbaren Risikostruktur von Termingeschäft, (selbständigem) Optionsschein und Vollrisikozertifikat auch derselbe Anlegerschutz gewährt werden müsse.34 Zum anderen dient die Qualifizierung als Finanztermingeschäft aber auch der Marktöffnung für die Emittenten, weil die Einordnung als Finanztermingeschäft nach § 99 Satz 2 WpHG den Spieleinwand gesichert ausschließt. Das Anliegen des Gesetzgebers, durch den Ausschluss des Spieleinwands gegen Finanztermingeschäfte eine sichere Rechtssphäre zu schaffen,35 wird damit auf Vollrisikozertifikate erweitert. III. Steuerrechtliche Bestandsaufnahme Aus der Perspektive des Einkommensteuerrechts stellt sich die Frage, wie sich positive wie negative Vermögensmehrungen aus auf Differenzausgleich gerichteten Spielgeschäften im Allgemeinen und Vollrisikozertifikaten im Besonderen zum Steuergegenstand des EStG verhalten. Der Rechtszustand wird für Termingeschäfte als „Besteuerungsruine“36 beschrieben. Der Befund gilt erst recht für Vollrisikozertifikate, bei denen der BFH die Möglichkeit, sie seien Termingeschäfte i. S. des EStG, weiterhin in Betracht zieht. Die Unklarheiten sind für die frühere Rechtslage für die Veranlagungsräume von 1999 bis 200837 zu § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 EStG a. F. 31
Der Leistungsaustausch durch Übertragung der Schuldverschreibung mit der darin verbrieften Forderung Zug um Zug gegen Zahlung des Kaufpreises findet innerhalb der für Kassageschäfte üblichen Zwei-Tages-Frist (T+2) statt; vgl. Hoops, WM 2017, 319, 320. 32 Als „Optionsschein“ bezeichnete Wertpapiere, die einen laufenden Ertrag abwerfen, gehören zu den Zertifikaten; vgl. Dahm/Hamacher, Termingeschäfte im Steuerrecht, 2. Aufl. 2014, Kap. 2 Rn. 28 f. 33 BGH v. 25. 11. 1994, XI ZR 43/93, NJW 1995, 321 Rn. 5: „Inhaberschuldverschreibungen, in denen das Recht zum Bezug von Aktien“ (oder eines anderen bestimmten Basiswertes) „zu einem festgelegten Preis innerhalb eines bestimmten Zeitraums oder einem bestimmten Zeitpunkt wertpapiermäßig verbrieft ist“. 34 Vgl. Hoops, WM 2017, 319, 320: Knock-Out-Zertifikate zeichneten sich dadurch aus, dass die Laufzeit von einer Bedingung abhänge, bei deren Eintreten der Vertrag sofort verfällt. Diese Strukturierung sei mit einer zeitlichen Erfüllungsverzögerung „vergleichbar“. 35 BT-Drs. 14/8017, 96. 36 Dahm/Hamacher, DStR 2014, 455: „Termingeschäfte im EStG – eine Besteuerungsruine“. 37 BFH v. 16. 06. 2020, VIII R 1/17, BFH/NV 2021, 58.
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zumindest ergebnisorientiert ausgeräumt, betreffen aber auch die Rechtslage von 2009 bis 202038 zu § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 EStG und werden demzufolge mit großer Wahrscheinlichkeit gleichermaßen für die Rechtslage ab 2021 betreffend den Anwendungsbereich der neu eingefügten39 Verlustausgleichsbeschränkung des § 20 Abs. 6 Satz 5 EStG gelten. Die Finanzverwaltung orientiert sich an dem roten Faden, dass die entsprechenden Gewinne weitestgehend als steuerbar eingestuft werden, sie im Verlustfall aber die steuerrechtliche Anerkennung der Verluste verweigert.40 Je nach konkreter Fallgestaltung stützt die Finanzverwaltung ihre Argumentation auf den Begriff des Termingeschäfts,41 das Fehlen eines Veräußerungstatbestands42 oder auf das Vorliegen eines Gestaltungsmissbrauchs i. S. des § 42 AO.43 Nicht nur für den steuerlichen Laien löst es ein Störgefühl aus, wenn die Praxis Gewinne zwar als steuerpflichtig ansieht, die Finanzverwaltung44 und im Einzelfall sogar der BFH45 Verluste aber steuerrechtlich nicht berücksichtigen möchte. Inzwischen schwenkt auch der Gesetzgeber mit § 20 Abs. 6 S. 5 EStG auf diese Linie ein, auch wenn sich der Bundesrat46 wieder von seiner eigenen zustimmenden Gesetzgebung kurzzeitig distanziert hat. Man erwartet aus steuersystematischer Sicht eine Gleichbehandlung von Gewinn- und Verlustgeschäften, wie sie der BFH bereits zur früheren Rechtslage zumindest für Optionsgeschäfte47 praktiziert hat. Dieser Symmetriegedanke ist ein das Einkommensteuerrecht prägendes Grundprinzip, das sich nicht nur in dem aus dem Leistungsfähigkeitsprinzip abgeleiteten Nettoprinzip des § 2 Abs. 2 EStG widerspiegelt, sondern auch in dem Zusammenspiel von Steuerfreiheit nach § 3 EStG und Abzugsverbot nach § 3c EStG oder in der im Internationalen Steuerrecht praktizierten Symmetriethese zwischen der Steuerfreiheit 38
Vgl. BFH v. 20. 11. 2018, VIII R 37/15, BStBl. II 2019, 507 Rn. 13 ff. „Gesetz zur Einführung einer Pflicht zur Mitteilung grenzüberschreitender Gestaltungen“ v. 21. 12. 2019, BGBl. I 2019, 2875. 40 Für das Verfallenlassen einer Option BMF v. 27. 11. 2001, 986, Tz. 18, 23 betreffend § 23 Abs. 1 Nr. 4 EStG a. F.; BMF v. 27. 03. 2013, BStBl. I 2013, 403; v. 18. 01. 2016, BStBl. I 2016, 85 (Tz. 27, 32) zu § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 EStG, aufgehoben durch BMF-Schreiben v. 16. 06. 2016, BStBl. I 2016, 527. 41 BMF v. 18. 01. 2016, BStBl. I 2016, 85, Rz. 9, 17: Einordnung von als Kassageschäfte zu qualifizierenden Optionsscheinen als Termingeschäfte. 42 BMF v. 18. 01. 2016, BStBl. I 2016, 85, Rz. 59; a. A. BFH v. 12. 06. 2018, VIII R 32/16, BFHE 262, 74. 43 OFD Münster v. 13. 07. 2009, DStR 2009, 2188. 44 Vgl. z. B. BMF v. 27. 03. 2013, BStBl. I 2013, 403. 45 BFH v. 10. 11. 2015, IX R 20/14, BFH/NV 2016, 318 zum sog. Knock-Out-Eintritt. Vgl. auch zum Differenzausgleich des Stillhalters BFH v. 13. 02. 2008, IX R 68/07, BStBl. II 2008, 522 unter Abstellen auf die inzwischen aufgegebene sog. Trennungstheorie. 46 BR-Drs. 503/20, S. 18, 21. Im Ergebnis hat der Bundesrat dem JStG 2020 zugestimmt, obwohl der Bundestag seiner Empfehlung nicht gefolgt war; vgl. BR v. 18. 12. 2020, BRDrs. 746/20. 47 BFH v. 26. 09. 2012, IX R 50/09, BStBl. II 2013, 231: Das Gesetz erfasse „folgerichtig“ auch eine negative Differenz als Verlust und es besteuere den Steuerpflichtigen nach dem Grundsatz der Leistungsfähigkeit. 39
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von Auslandsgewinnen und der spiegelbildlichen Nichtberücksichtigung von Verlusten.48 Für das Steuerrecht ergeben sich daraus zwei Grundsatzfragen: zum einen das Rechtsanwendungsproblem bei der Auslegung der geltenden Gesetze nach dem Symmetrieprinzip, und zum anderen die verfassungsrechtliche Frage, inwieweit es mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar ist, wenn der Gesetzgeber Gewinne aus den einzelnen Geschäften zwar besteuert, die Verrechnung mit Verlustgeschäften aber einschränkt oder im Extremfall sogar gänzlich ausschließt.49 Der folgende Beitrag befasst sich im Schwerpunkt mit dem Rechtsanwendungsproblem. IV. Historische Entwicklung 1. Nichtsteuerbarkeit von auf Differenzausgleich gerichteten Geschäften bis 1998 Die Festlegung des Steuergegenstandes ist die Aufgabe des Steuergesetzgebers. Eine wirtschaftliche Vermögensmehrung, die nicht vom Steuergegenstand der Einkommensteuer, d. h. den sieben Einkunftsarten des § 2 Abs. 1 EStG erfasst wird, ist bezogen auf das EStG nicht steuerbar. Bei der Auslegung von Fiskalnormen muss berücksichtigt werden, dass Steuerrecht (überdies strafbewehrtes) Eingriffsrecht ist. Ohne gesetzliche Eingriffsgrundlage kann eine Steuerbarkeit nicht begründet werden. Namentlich verbietet sich eine teleologisch extensive Auslegung unter Bezugnahme auf den Fiskalzweck der Steuernorm. Das EStG unterscheidet traditionell zwischen einer betrieblichen Sphäre des Steuerpflichtigen, bei der Vermögensmehrungen und -minderungen regelmäßig im Realisationszeitpunkt steuerbar sind, und dessen Privatsphäre, in der Wertveränderungen des Vermögensstammes im Grundsatz nicht steuerbar gewesen sind. Neben § 17 EStG bildet § 23 EStG für private Veräußerungsgeschäfte50 eine zeitlich befristete Ausnahme zu diesem Grundsatz, setzt aber in seinen Grundtatbeständen nach § 23 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1 und 2 EStG eine Anschaffung und Veräußerung eines (nämlichen) Wirtschaftsguts voraus. Zu diesen Grundtatbeständen hat der BFH entschieden, dass für Termingeschäfte, die von vornherein nur auf einen Differenzausgleich, also nicht auf Lieferung eines Wirtschaftsgutes gerichtet sind, eine Steuerbarkeit generell ausscheide.51 Der mögliche Wortsinn der Vorschriften lasse keine Auslegung 48
BFH v. 17. 07. 2008, I R 84/04, BStBl. II 2009, 630. Vgl. dazu Bron, BB 2020, 535 ff.; Dahm/Hoffmann, DStR 2020, 81; Drüen, FR 2020, 663 ff.; Jachmann-Michel, jM 2020, 120 ff.; Wissenschaftliche Dienste-Deutscher Bundestag, Verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Beschränkungen der Verlustverrechnung bei Termingeschäften und Ausfällen von Kapitalforderungen, WD 4 – 3000 – 066/20 v. 26. 06. 2020. 50 Bis 1998 lautete die Überschrift des § 23 EStG „Spekulationsgeschäfte“. In der Begründung zur Änderung der Gesetzesüberschrift heißt es ausdrücklich, durch den Verzicht auf den Begriff „Spekulationsgeschäft“ solle zum Ausdruck gebracht werden, dass „nicht nur Geschäfte mit Spekulationsabsicht“ der Besteuerung unterlägen (BT-Drs. 14/443, 28). 51 BFH v. 8. 12. 1981, VIII R 125/79, BStBl. II 1982, 618; v. 25. 08. 1987, IX R 65/86, BStBl. II 1988, 248. So bereits Flume, DB 1978, 1097, 1099. 49
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dahingehend zu, dass auch eine Spekulation ohne Veräußerungsgeschäft steuerbar sein soll. Gegen das Vorliegen einer Gesetzeslücke spreche bereits, dass §§ 22 Nr. 2, 23 EStG Ausnahmecharakter hätten. Sollte eine planwidrige Lücke des Gesetzes vorliegen, so könnte sie nicht durch Rechtsfortbildung ausgefüllt werden. Dies wäre nur durch eine steuerbegründende Analogie möglich. Nach Meinung des VIII. Senats des BFH sei es im Einkommensteuerrecht unzulässig, einen den Steuerpflichtigen belastenden Besteuerungstatbestand im Wege der Gesetzes- oder der Rechtsanalogie zu schaffen. 2. Einfügung des § 23 Abs. 1 Nr. 4 EStG a. F. Der Gesetzgeber wertete die Nichtbesteuerung der auf einen Differenzausgleich gerichteten Termingeschäfte als „Besteuerungslücke“, weil es sich bei diesen Geschäften um eine typische Spekulation handele,52 und fügte durch das StEntlG 1999/2000/200253 die Vorschrift des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 EStG a. F. ein. Danach gelten als private Veräußerungsgeschäfte auch „Termingeschäfte, durch die der Steuerpflichtige einen Differenzausgleich oder einen durch den Wert einer veränderlichen Bezugsgröße bestimmten Geldbetrag oder Vorteil erlangt, sofern der Zeitraum zwischen Erwerb und Beendigung des Rechts auf einen Differenzausgleich, Geldbetrag oder Vorteil nicht mehr als ein Jahr beträgt. Zertifikate, die Aktien vertreten, und Optionsscheine gelten als Termingeschäfte im Sinne des Satzes 1.“ Die Gleichbehandlung von als Kassageschäfte einzuordnenden Optionsscheinen in Satz 2 mit Termingeschäften in Satz 1 dürfte wohl aus der parallelen Einbeziehung von selbständigen Optionsscheinen54 in den Anwendungsbereich von Börsentermingeschäften nach dem Börsengesetz55 bzw. von der Zuordnung der Optionsscheine zu den Finanztermingeschäften nach dem WpHG56 herrühren. Die Behandlung von Vollrisikozertifikaten bleibt allerdings im EStG ebenso unbeantwortet wie in § 99 WpHG bzw. der Vorgängernorm des § 37e WpHG a. F.57 Jedenfalls gehören die am Kassamarkt als 52
BT-Drs. 14/23, 180. Gesetz v. 24. 03. 1999, BGBl. I 1999, 402. 54 Als „selbständig“ wird ein Optionsschein bezeichnet, der von Anfang an ohne Anleihe emittiert wird; vgl. Bruns/Meyer-Bullerdiek, Professionelles Portfoliomanagement, 2013, S. 524. 55 BGH v. 25. 11. 1994, XI ZR 43/94, NJW 1995, 321 (Rn. 4 f.); vgl. BGH v. 16. 04. 1991, XI ZR 88/90, BGHZ 114, 177 zu abgetrennten Optionsscheinen (kein Börsentermingeschäft); BGH v. 13. 10. 1998, XI ZR 26/98, NJW 1999, 720. 56 Der Begriff des Börsentermingeschäfts nach dem Börsengeschäft wurde im „Gesetz zur weiteren Fortentwicklung des Finanzplatzes Deutschland v. 21. 06. 2002 (BGBl. I 2002, S. 2010) durch den des Finanztermingeschäfts in den §§ 37d bis 37g WpHG ersetzt. Zugleich wurde die Definition „Finanztermingeschäfte im Sinne dieses Gesetzes sind Derivate im Sinne des Absatzes 2 und Optionsscheine“ in § 2 Abs. 2a WpHG eingeführt, was laut Gesetzesbegründung notwendig war, weil Optionsscheine als Wertpapiere nach Abs. 1 Nr. 1 keine Derivate waren (vgl. BT-Drs. 14/8017, S. 85). 57 Durch Gesetz v. 23. 06. 2017 wurde der bisherige § 37e mit Wirkung v. 03. 01. 2018 zu § 99. 53
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Wertpapiere gehandelten Zertifikate nicht zu den derivativen Geschäften im Sinne des § 2 Abs. 3 WpHG bzw. den Derivaten im Sinne des § 2 Abs. 2 WpHG a. F. 3. Ersetzung des § 23 Abs. 1 Nr. 4 EStG a. F. durch § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 EStG Mit dem UntStRefG 200858 hat der Gesetzgeber den Anwendungsbereich der Einkünfte aus Kapitalvermögen über die Besteuerung der „Fruchtziehung“ im Sinne der traditionellen Quellentheorie hinaus auf die Besteuerung des Vermögensstammes erweitert. Zu den Einkünften aus Kapitalvermögen zählt seit dem 1. 1. 2009 nunmehr nach § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 EStG auch „der Gewinn a) bei Termingeschäften, durch die der Steuerpflichtige einen Differenzausgleich oder einen durch den Wert einer veränderlichen Bezugsgröße bestimmten Geldbetrag oder Vorteil erlangt; b) aus der Veräußerung eines als Termingeschäft ausgestalteten Finanzinstruments“. Optionsscheine werden vom Gesetzgeber den Termingeschäften nicht mehr gleichgestellt. Nichtsdestoweniger meint die Finanzverwaltung, dass Optionsscheine, die ein Optionsrecht in einem Wertpapier verbriefen, als Termingeschäfte nach § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 EStG zu erfassen seien.59 Die Finanzverwaltung hat wohl erkannt, dass § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 EStG keine geeignete Eingriffsgrundlage darstellt, weil der ungesicherte Optionsschein keine Kapitalforderung, sondern nur ein Gestaltungsrecht verbrieft,60 und möchte eine außerhalb des Anwendungsbereichs des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG gegebene Nichtbesteuerung durch Subsumtion des Optionsscheins als Kassageschäft unter das Termingeschäft vermeiden. Da es weder die Aufgabe der Rspr. noch erst recht der Finanzverwaltung ist, vermeintlich planwidrige Regelungslücken zu schließen, werden – wie unter VI. 2. näher ausgeführt wird – Optionsscheingeschäfte nach der geltenden Rechtslage von § 20 Abs. 2 EStG nicht erfasst.61 Vollrisikozertifikate sind infolge der Erweiterung des Anwendungsbereichs des § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG auf Kapitalforderungen, bei denen die Höhe der Rückzahlung oder des Entgelts von einem ungewissen Ereignis abhängig ist, steuerbar. Die Veräußerung der Wertpapiere fällt unter § 20 Abs. 2 Nr. 7 EStG. Überraschenderweise lässt es der BFH aber offen, ob Vollrisikozertifikate als „Termingeschäfte“ unter § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 EStG zu subsumieren sind.62 Er verweist darauf, dass die im Falle eines sog. Knock-Out realisierten Verluste steuerlich sowohl nach § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 EStG als auch nach § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 EStG geltend gemacht werden könnten. Deshalb brauche eine Festlegung nicht zu erfolgen. 58
Unternehmenssteuerreformgesetz v. 14. 08. 2007, BGBl. I 2007, 1912. BMF v. 18. 01. 2016, BStBl. I 2016, 85, Rz. 9, 17. 60 Busch (o. Fn. 23), S. 152 f. 61 Busch (o. Fn. 23), S. 151. 62 BFH v. 20. 11. 2018, VIII R 37/15, BStBl. II 2019, 507 Rn. 13 ff. zu § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 EStG. Bestätigt durch BFH v. 16. 06. 2020, VIII R1/17, BFH/NV 2021, 58, Rn. 21. 59
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V. Zertifikate als Gegenstand des Schuld- und Sachenrechts Zertifikate verbriefen vergleichbar mit einem Darlehen eine Kapitalforderung des Gläubigers gegenüber dem Aussteller als Schuldner und werden als Inhaberschuldverschreibung i. S. des § 793 BGB qualifiziert. Die Kapitalforderung entsteht mit Abschluss des Begebungsvertrags zwischen Aussteller und erstem Inhaber der Urkunde. Durch den Begebungsvertrag erlangt der erste Inhaber zugleich Eigentum an der Urkunde.63 Bei standardisierten, d. h. nach den Vorgaben der Wertpapierbörse strukturierten Produkten64 wird die Kapitalforderung in einer Sammelurkunde verbrieft (vgl. § 9a DepotG), die bei der Clearstream Banking AG als dem deutschem Zentralverwahrer sammelverwahrt wird. Der Aussteller verliert das Eigentum an der Urkunde65 mit Einlieferung in die Sammelverwahrung und wird ex lege Miteigentümer nach Bruchteilen (vgl. § 6 Abs. 1 DepotG). Der Aussteller emittiert entsprechend der Nachfrage über die Börse Bruchteilseigentum an der Urkunde „bis zu“ einer maximal festgelegten Stückzahl. Für jedes emittierte Zertifikat erwirbt der Anleger anteilig Bruchteilseigentum an der Globalurkunde. Der Eigentumserwerb über die Börse vollzieht sich nach h. M. nach den §§ 929 Satz 1, 930 BGB. Clearstream nimmt dabei den zumindest in tatsächlicher Hinsicht maßgeblichen Übertragungsakt in Form der Umbuchung vor.66 Der Emittent bleibt dauerhaft in den Umsatz der Zertifikate einbezogen. Denn er verpflichtet sich, als sog. Market-Maker an der Börse regulierte An- und Verkaufskurse (Geld-, Briefkurse) für eine bestimmte Mindeststückzahl zu stellen.67 Anleger sind damit nicht auf andere Marktteilnehmer angewiesen, um die Zertifikate zu handeln. Der Emittent kann zur Bedienung der nicht von Marktteilnehmern gedeckten Nachfrage entweder (bis zur in der Urkunde festgelegten Höchstzahl) neue Stücke emittieren oder in seiner Funktion als Market-Maker angekaufte Stücke wieder veräußern. In letzterem Fall soll mit dem Ankauf die verbriefte Forderung nicht erlöschen, sondern nur „ruhen“, so dass mit der erneuten Übertragung des Bruchteilseigentums keine neue Forderung begründet wird, sondern die bei der 63
MünchKomm-BGB/Habersack, 8. Aufl. 2020, Vor § 793 Rn. 26 m. w. N; vgl. auch BGH v. 19. 09. 2017, XI ZB 17/15, BGHZ 216, 37 Rn. 45, wo alternativ auf die Möglichkeit eines neben dem Begebungsvertrag geschlossenen Kaufvertrages verwiesen wird, der den Aussteller dazu verpflichtet, dem Ersterwerber das Eigentum an der Urkunde zu verschaffen. 64 Vgl. z. B. „Besondere Bestimmungen für den elektronischen Handel von verbrieften Derivaten im Handelssegment Euwax (Euwax Regelwerk)“ in den Geschäftsbedingungen für den Freiverkehr an der Baden-Württembergischen Wertpapierbörse v. 07. 01. 2019. 65 Wertpapiere bestehen aber vor Abschluss des Begebungsvertrages nur dann, wenn man – wie beim späteren Zwischenerwerb des Emittenten (vgl. u. Fn. 68) – den Kunstgriff der „ruhenden“ Forderung bemüht. 66 BGH v. 24. 09. 2015, IX ZR 272/13, BGHZ 207, 23 (Rn. 15); MünchKomm-HGB/Einsele, 4. Aufl. 2019, Bd. 6, Teil 2, Q „Depotgeschäft“, Rn. 113. 67 Vgl. §§ 30 Abs. 3, 33 Geschäftsbedingungen für den Freiverkehr an der Baden-Württembergischen Wertpapierbörse v. 07. 01. 2019. Möglich ist die Beauftragung eines Dritten als Market-Maker.
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(Erst-)Emission begründete Forderung wiederauflebt.68 Der Rückerwerb zum Briefkurs führt also nicht zum Erlöschen der Forderung. Beim Eintritt eines sog. Knock-Out, der eine auflösende Bedingung darstellt, erlischt die Kapitalforderung. Fraglich ist, was sachenrechtlich mit dem Bruchteilseigentum der Anleger passiert. Nach § 797 Satz 2 BGB erwirbt der Aussteller das Eigentum an der Urkunde kraft Gesetzes mit der Aushändigung. Die Aushändigung kann sich bei einer Dauerglobalurkunde nur auf den mittelbaren Besitz69 des Anlegers beziehen. Ein Teil des Schrifttums vertritt die Auffassung, aus dem Rechtsgedanken des § 952 BGB folge, dass das (Bruchteils-)Eigentum an der Urkunde schon mit dem Erlöschen der Forderung ipso iure an den Aussteller zurückfallen müsse.70 Die Gegenmeinung,71 der sich auch der Jubilar72 angeschlossen hat, vertritt demgegenüber die Ansicht, der Aussteller habe nur einen obligatorischen Anspruch auf die Rückgabe. Andernfalls wäre § 371 BGB überflüssig und § 797 Satz 2 BGB kaum erklärlich. Bei Eintritt einer auflösenden Bedingung statt der Tilgung müsse § 371 BGB entsprechend angewendet werden.73 Der Emittent muss, um die Urkunde nach dem Erlöschen der Forderung aus der Verwahrung beim Zentralverwahrer nehmen zu können, seine dingliche (Allein-)Berechtigung an der Urkunde nachweisen. Vor dem Hintergrund des soeben zitierten Meinungsstreites wird man nach hier vertretener Ansicht die Rechtsposition des Emittenten nach dem Emissionsbedingungen so verstehen müssen, dass er mit dem Eintritt des Knock-Outs auch auflösend bedingt das jeweilige Bruchteilseigentum der Anleger an der Urkunde wieder erwerben möchte. Das Ergebnis lässt sich im Zweifel im Wege der ergänzenden Auslegung nach §§ 133, 157 BGB begründen. Der Eigentumserwerb vollzieht sich nach den §§ 929 Satz 1, 930 BGB74 mittels Umbuchung bei Clearstream, wobei mit guten Gründen auch ein Eigentumserwerb nach § 929 Satz 2 BGB vertreten wird, wenn der Erwerber am Sammelbestand derselben Wertpapierart bereits beteiligt ist.75 Das ist beim Emittenten der Fall, weil er als Market-Maker Stücke zum Geldkurs anbieten muss. Im Falle eines Restwertes nimmt der Emittent die Zertifikate aus dem Börsenhandel, und zwar entweder durch eine automatische Depotgutschrift oder indem er dem 68
RG v. 01. 04. 1935, IV 179/34, RGZ 147, 233, 243; Staudinger/Marburger, 2015, § 797 BGB Rn. 9 m. w. N. 69 So die h. M., vgl. MünchKomm-HGB/Einsele, 4. Aufl. 2019, Bd. 6, Teil 2, Q „Depotgeschäft“, Rn. 110, 113. 70 MünchKomm-BGB/Habersack, 7. Aufl. 2017, § 797 Rn. 5 m. w. N. 71 OLG München v. 19. 11. 1997, 27 U 177/97, NJW-RR 1998, 992; Staudinger/Gursky/ Wiegand, 2017, § 952 BGB Rn. 18 m. w. N. 72 jurisPK-BGB/Vieweg/Lorz, 8. Aufl. 2017, § 952 BGB Rn. 25. 73 jurisPK-BGB/Vieweg/Lorz, 8. Aufl. 2017, § 952 BGB Rn. 25. 74 BGH v. 24. 09. 2015, IX ZR 272/13, BGHZ 207, 23 (Rn. 15); MünchKomm-HGB/Einsele, 4. Aufl. 2019, Bd. 6, Teil 2, Q „Depotgeschäft“, Rn. 113. 75 MünchKomm-HGB/Einsele, 4. Aufl. 2019, Bd. 6, Teil 2, Q „Depotgeschäft“, Rn. 112 m. w. N.
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Anleger ein zeitlich befristetes Andienungsrecht einräumt, das dieser ausübt. Bei der Depotgutschrift vollzieht sich der Eigentumserwerb nach den §§ 929, 930 BGB über die Börse mit Umbuchung durch Clearstream. Das Andienungsrecht wird unmittelbar gegenüber dem Emittenten ausgeübt, so dass auch die Übereignung unmittelbar an den Emittenten gem. den §§ 929 Satz 1, 931 BGB76 vollzogen wird. Im Einzelfall kann der Knock-Out-Schwelle auch eine sog. Stop-Loss-Schwelle vorgeschaltet sein.77 Das Überschreiten der Stop-Loss-Schwelle führt dazu, dass regelmäßig noch eine Veräußerung über Clearstream erfolgt und dem Anleger ein Restbetrag des eingesetzten Kapitals zurückbezahlt wird.78 Dieser bestimmt sich nach dem aktuellen Kurs des Basiswertes innerhalb eines kurzen Zeitraums nach Eintritt des Stop-Loss-Ereignisses.79 VI. Steuerrechtliche Behandlung von Vollrisikozertifikaten 1. Abwicklung als Veräußerung i. S. des EStG Wie soeben dargestellt findet bei Zertifikaten, die an der Börse gehandelt werden, eine „Aushändigung“ der Urkunde bei vollständiger Wertlosigkeit entweder kraft Gesetzes analog § 952 BGB oder durch rechtsgeschäftliche Übereignung statt. Hat das Zertifikat einen Restwert, erfolgt eine rechtsgeschäftliche Übereignung entweder über die Börse durch Depotgutschrift oder außerhalb des Börsenhandels durch fristgerechte Ausübung eines Andienungsrechts gegenüber dem Emittenten. Das Zertifikat ist ein Wertpapier und damit ein Wirtschaftsgut. Die Übertragung eines Wirtschaftsguts zu dessen Verkehrswert ist von der Praxis seit langem als Veräußerungsgeschäft anerkannt, und zwar auch dann, wenn das Wirtschaftsgut wertlos geworden ist.80 Die Finanzverwaltung hat zwar neuerdings versucht, die Entgeltlichkeit des Vorgangs auszuschließen, indem sie argumentierte, der Veräußerungserlös müsse zumindest die Transaktionskosten übersteigen,81 ist damit aber beim BFH82 nicht durchgedrungen. Gleichermaßen hat der BFH einen Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten überzeugend abgelehnt.83 Die im Entwurf des JStG 2019 angestrebte
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BGH v. 8. 06. 1967, II ZR 146/64, WM 1967, 902; v. 11. 03. 1974, II ZR 26/73, WM 1974; im Urteil v. 04. 02. 1999, III ZR 56 – 98, NJW 1999, 1393 offengelassen. 77 Vgl. FG Köln v. 26. 10. 2016, 7 K 3387/13, EFG 2017, 216. Revision beim BFH anhängig unter Az. VIII R 1/17. 78 Busch (o. Fn. 23), S. 218 ff. 79 Busch (o. Fn. 23), S. 104. 80 Ständige Rspr., z. B. BFH v. 12. 06. 2018, VIII R 32/16, BFHE 262, 74 m. w. N. 81 BMF v. 18. 01. 2016, BStBl. I 2016, 85, Rz. 59. 82 BFH v. 12. 06. 2018, VIII R 32/16, BFHE 262, 74. 83 Überholt ist damit auch die Anweisung der OFD Münster v. 13. 07. 2009, DStR 2009, 1757 für Altfälle. Vgl. näher Busch (o. Fn. 23), S. 160 f., 164 ff.
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einschränkende gesetzliche Neudefinition des Veräußerungsbegriffs im Sinne der Finanzverwaltung ist am Widerstand des Bundesrats gescheitert.84 Einer Veräußerung steht auch nicht entgegen, dass die Übertragung der Zertifikate an den Emittenten erfolgt. Zwar meint der BFH in einer die Rückgabe eines Investmentanteilsscheins nach § 11 KAGG betreffenden Entscheidung, die Kapitalanlagegesellschaft sei nicht „Dritter“, wenn ein Anteilsschein zurückgegeben wird.85 Diese Sichtweise lässt sich aber nicht auf Termingeschäfte und erst recht nicht auf den Handel mit Wertpapieren, die Derivate verbriefen, übertragen. Wer z. B. über die Terminbörse Eurex Frankfurt AG ein Optionsrecht erwirbt, schließt den Vertrag nicht mit dem Stillhalter ab, sondern mit der Eurex Clearing AG, einer Tochtergesellschaft der Eurex Frankfurt AG. Die dort gehandelten Optionen können nicht an andere Marktteilnehmer veräußert, sondern nur durch Gegengeschäfte „glattgestellt“ werden. Der Optionsberechtigte verkauft der Eurex Clearing AG eine Option der gleichen Serie, aus der er zuvor gekauft hat, und kennzeichnet das Geschäft als sog. Closinggeschäft. Dadurch werden die gegenseitigen Rechte und Pflichten durch eine Schuldaufhebungs- und Verrechnungsabrede zum Erlöschen gebracht.86 Obwohl das Optionsrecht von der Clearingstelle erworben und mit dieser auch wieder aufgehoben wird, ist der BFH in ständiger Rspr.87 von einem Anschaffungs- und Veräußerungsgeschäft des Optionsinhabers ausgegangen, das nach § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG besteuert wurde. Wenn das Optionsrecht als Wertpapier verbrieft von dem Emittenten erworben und später wieder an ihn veräußert wird, kann nichts anderes gelten. Wollte man den Emittenten von Zertifikaten nicht als Dritten ansehen, hätte man bis 31. 12. 2008 den gesamten Handel praktisch88 nicht besteuern dürfen. Denn der Emittent bringt die Wertpapiere nicht nur auf den Markt, sondern er ist regelmäßig als sog. Market-Maker in den Handel auch einbezogen und nimmt die Wertpapiere abschließend wieder vom Markt. Aus Sicht des Anlegers macht es für den Anschaffungsvorgang keinen Unterschied, ob er zum Briefkurs vom Emittenten aus dessen Handelsbestand oder durch Emittierung eines neuen Wertpapiers bedient wird oder von einem anderen Marktteilnehmer erwirbt. Insofern liegt in jeder Variante ein Anschaffungsgeschäft des Wertpapiers, auch bei Erwerb vom Emittenten als „Drittem“, vor. Das gilt erst recht, wenn man dogmatisch den die Forderung begründenden Begebungsvertrag von dem Kaufvertrag über das Wertpapier unterscheidet.89 Der Emittent ist aus Sicht des Anlegers auch „Dritter“, wenn er als Market-Maker Zertifikate zum Geldkurs aufkauft. Eine Differenzierung dahingehend, dass der Emittent im Veräußerungsfall nur dann „Dritter“ sei, wenn er als Market84
Dahm/Hoffmann, DStR 2020, 81. Vgl. auch o. Fn. 10. BFH v. 10. 11. 2015, IX R 3/15, BStBl. II 2016, 351. 86 Kirchhof/Bleschick, EStG, 19. Aufl., 2020, § 20 Rn. 116. 87 BFH v. 24. 06. 2003, IX R 2/02, BStBl. II 2003, 752; v. 14. 12. 2004, VIII R 81/03, BStBl. II 2005, 746; v. 11. 02. 2014, IX R 46/12, BFH/NV 2014, 1025, Rn. 16. 88 Das Finanzamt hätte bei § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG die Feststellungslast getragen, dass die Wertpapiere weder vom Emittenten angekauft noch an diesen veräußert worden sind. 89 Vgl. o. Fn. 63. 85
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Maker erwirbt, aber dann nicht als „Dritter“ gilt, wenn er das Wertpapier vom Markt nimmt, läuft auf eine gekünstelte Fiktion hinaus. Zwar mag man den Vorgang, das Wertpapier vom Markt zu nehmen, nach der geltenden Rechtslage begrifflich zugleich auch als „Einlösung“ der verbrieften Kapitalforderung nach § 20 Abs. 2 Satz 2 EStG i. V. mit § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 EStG bezeichnen. Das ändert aber nichts daran, dass es sich gleichermaßen um die Veräußerung des Wertpapiers an einen „Dritten“ handelt. Seit der Neufassung des § 20 Abs. 2 EStG wird der Tatbestand des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG infolge Subsidiarität verdrängt (vgl. § 23 Abs. 2 EStG). Die Entstehungsgeschichte bestätigt dies im Übrigen, sollten doch die in Satz 2 aufgeführten Fälle nur klarstellende Bedeutung haben,90 d. h. auch der Gesetzgeber ist anscheinend davon ausgegangen, dass wie im Aufheben eines unverbrieften Optionsrechts auch im Einlösen einer verbrieften Forderung zugleich eine Veräußerung des Wertpapiers zu sehen ist. Demzufolge stellen der Rückerwerb eines Zertifikates mit Restwert nach dem Knock-Out gegen Depotgutschrift oder nach Ausübung eines Andienungsrechts Veräußerungen nach § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG dar. Da der BFH zugleich festgestellt hat, dass § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG als speziellere Norm dem § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 EStG a. F. vorgeht,91 ist der Verlust steuerlich relevant. Für den Fall, dass das Zertifikat mit dem Knock-Out vollständig wertlos wird, sieht der BFH den Tatbestand des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 EStG a. F. in ständiger Rspr. als nicht verwirklicht an.92 Den spezielleren Tatbestand des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG bewertet er anscheinend als nicht einschlägig. Im Ergebnis ist das aus der Perspektive des Anlegers jedenfalls dann nicht überzeugend, wenn man – wie oben dargelegt – zivilrechtlich davon ausgeht, dass der Anleger in der juristischen Sekunde des Knock-Outs entweder analog § 952 BGB oder nach § 929 Satz 2 BGB das Bruchteilseigentum an dem Zertifikat ohne Umbuchung verliert. Es trifft zwar zu, dass sich mit dem Erlöschen der Kapitalforderung das Wertpapier ipso iure in „Papier“ wandelt, weswegen der Emittent nur „Papier“ erwirbt. Trotzdem ließe sich die Nämlichkeit93 zwischen angeschafftem und veräußertem Wirtschaftsgut damit begründen, dass aus der allein für die Besteuerung relevanten Perspektive des Anlegers der Verlust des Bruchteilseigentums in derselben juristischen Sekunde wie der Knock-Out eintritt. Dass der Emittent nur noch „Papier“-Eigentum erwirbt, spielt deshalb keine Rolle. Nach hier vertretener Ansicht ist diese Auslegung sogar verfassungsrechtlich geboten. Die zentrale verfassungsrechtliche Frage, welche das BVerfG in Rechtssache 2 BvR 217/16 bedauerlicherweise nicht zur Entscheidung angenommen hat, hätte lauten müssen, ob es gegen das Willkürverbot verstößt, dass der Verlust, der beim Optionsinhaber bei einer Glattstellung (sog. Closing) durch Vertragsaufhebung eintritt, nach der damaligen Rechtslage gem. § 23 90
BT-Drs. 16/4841, S. 56: „Satz 2 stellt klar, dass als Veräußerung (…) anzusehen ist“. BFH v. 11. 02. 2014, IX R 46/12, BFH/NV 2014, 1025, Rn. 15. 92 BFH v. 10. 11. 2015, IX R 20/14, BFH/NV 2016, 318. 93 Z. B. BFH v. 21. 01. 2014, IX R 11/13, BStBl. II 2014, 385 Rz. 17 m. w. N.
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Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG steuerrechtlich geltend gemacht werden konnte,94 aber der Verlust, den der Inhaber eines Vollrisikozertifikats durch den Eigentumsübergang des Wertpapiers bei einem Knock-Out erleidet, bei derselben Norm an dem Erfordernis der „Nämlichkeit“ scheitern soll. Die verfassungsrechtliche Problematik an der Auslegung des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 EStG a. F. festmachen zu wollen, überzeugt nicht. Zum einen ist § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG der speziellere Tatbestand, zum anderen ist es entgegen der Ansicht des BFH nicht überzeugend, dass das Vollrisikozertifikat ein Termingeschäft i. S. des § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 EStG darstellt.95 2. Begriff des Termingeschäfts Der Begriff des Termingeschäfts ist im EStG nicht definiert. Er wird in § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 EStG a. F., in § 15 Abs. 4 Satz 3 und § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 EStG verwendet. Der BFH vertritt die Ansicht eines einheitlichen Begriffsverständnisses innerhalb des EStG, das sich zunächst am Zivilrecht orientiert.96 Termingeschäfte sind demzufolge solche Festgeschäfte oder Optionsgeschäfte, die zeitlich verzögert zu erfüllen sind und deren Wert sich unmittelbar oder mittelbar vom Preis oder Maß eines Basiswerts ableitet. Kassageschäfte sind im Umkehrschluss keine Termingeschäfte, und zwar auch dann nicht, wenn sie wie der Optionsschein ein Optionsrecht in einem Wertpapier verbriefen. Dass der Gesetzgeber im WpHG bestimmte Kassageschäfte in den Schutzbereich des sog. Finanztermingeschäftes mit einbezieht, ändert daran nichts. Denn der Steuergesetzgeber stellt auf den Begriff des Termingeschäftes und nicht auf den inhaltlich nicht deckungsgleichen Begriff des Finanztermingeschäftes ab. Dass dem Steuergesetzgeber der Unterschied zwischen Termin- und Kassageschäft bekannt war, zeigt sich daran, dass in § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 Satz 2 EStG a. F. für bestimmte Zertifikate und Optionsscheine, also Kassageschäfte, ein (zutreffend) als Fiktion formulierter Verweis auf Satz 1 erfolgte. Mit Neueinfügung des § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 EStG97 hat der Steuergesetzgeber § 23 Abs. 1 Nr. 4 EStG a. F. aufgehoben und in Nr. 3 Buchstabe a) überführt. Ausweislich der Gesetzesbegründung98 sollten entsprechende Wertzuwächse „zukünftig unabhängig vom Zeitpunkt der Beendigung des Rechts“ steuerbar sein. In Buchstabe b) wird der Gewinn „aus der Veräußerung eines als Termingeschäft ausgestalteten Finanzinstruments“ geregelt. Das betrifft die Fälle des Glattstellungsgeschäfts durch den Optionsinhaber, die bislang über § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG erfasst wurden, und diejenigen des Stillhalters, die nach der früheren Rechtslage nach 94
BFH v. 24. 06. 2003, IX R 2/02, BStBl. II 2003, 752; v. 14. 12. 2004, VIII R 81/03, BStBl. II 2005, 746; v. 11. 02. 2014, IX R 46/12, BFH/NV 2014, 1025, Rn. 16. 95 So nunmehr BFH v. 16. 06. 2020, VIII R 1/17, BFH/NV 2021, 58. 96 BFH v. 20. 08. 2014, X R 13/12, BStBl. II 2015, 177; v. 06. 07. 2016, I R 25/14, BStBl. II 2018, 124, Rz. 17. 97 Unternehmenssteuerreformgesetz v. 14. 08. 2007, BGBl. I 2007, 1912. 98 BT-Drs. 16/4841, S. 54 f.
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§ 22 Nr. 3 EStG besteuert wurden. Als Termingeschäfte ausgestaltete Finanzinstrumente sind neben Optionen als bedingten Termingeschäfte auch unbedingte Termingeschäfte, sog. Festgeschäfte, z. B. Futures und Swaps.99 Das war offensichtlich auch die Sichtweise des Gesetzgebers.100 Demgegenüber sind Optionsscheine und Vollrisikozertifikate als Kassageschäfte ausgestaltete Finanzinstrumente. Wie die Gesetzesbegründung101 nahelegt, scheint der Steuergesetzgeber aber dahingehend falsch beraten worden zu sein, dass er meinte, anknüpfend an § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 Satz 2 EStG a. F. sei eine gesonderte Regelung für Optionsscheine entbehrlich, weil es „ohne Bedeutung“ sei, „ob das Termingeschäft in einem Wertpapier verbrieft“ sei.102 Damit hat er verkannt, dass ein Optionsschein gerade kein als Termingeschäft ausgestaltetes Finanzinstrument, sondern ein Kassageschäft ist. Folge dieses Irrtums kann aber methodologisch keine Neuinterpretation des Begriffs des Termingeschäftes sein, sondern allenfalls die Schließung der planwidrigen Lücke. Die entscheidungsrelevante Frage lautet, ob in analoger Anlehnung an § 23 Abs. 1 Nr. 4 Satz 2 EStG a. F. das in einem Wertpapier verbriefte Optionsrecht im Weg der Fiktion einem Termingeschäft gleichgestellt ist. Nach hier vertretener Auffassung verbietet sich aber beim (überdies strafbewehrten) Steuerrecht als Eingriffsrecht eine Analogie zulasten des Steuerpflichtigen. Ausgeschlossen erscheint, dass überdies Vollrisikozertifikate von § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Buchst. b EStG erfasst werden könnten. Denn dann müsste der Steuergesetzgeber ja dem weiteren Irrtum unterlegen sein, dass auch Vollrisikozertifikate zur Gruppe der als Options- oder Festgeschäft ausgestalteten Finanzinstrumente gehörten. Dies lässt die Gesetzesbegründung nicht erkennen. Insofern überrascht es, dass der BFH103 die Möglichkeit in Betracht zieht, Vollrisikozertifikate könnten in den Anwendungsbereich des § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 EStG fallen. Mit Blick auf die neu eingefügte Verlustausgleichsbeschränkung des § 20 Abs. 6 Satz 5 EStG mag es zwar sein, dass Hebelprodukte, wie spekulative Optionsscheine und Vollrisikozertifikate, eine vergleichbare Risikostruktur wie Optionen aufweisen. Da sie aber keine Termingeschäfte i. S. des § 20 Abs. 2 Nr. 3 EStG sind, werden sie von der Beschränkung auch nicht erfasst. Hier kann es erst recht nicht Aufgabe der Rspr. sein, eine systemwidrige, möglicherweise sogar verfassungswidrige Verlustausgleichsbeschränkung auf Fälle auszudehnen, die vom Anwendungsbereich der Norm nicht betroffen sind. Allerdings ist zu erwarten, dass die Finanzverwaltung Optionsscheine von der Verlustausgleichsbeschränkung erfasst sieht und die vom BFH 99
Busch (o. Fn. 23), S. 77 ff., S. 204 f. BT-Drs. 16/4841, S. 55: „Der Begriff des Termingeschäfts umfasst sämtliche als Options- oder Festgeschäft ausgestaltete Finanzinstrumente sowie Kombinationen zwischen Options- und Festgeschäften“ (Hervorhebungen vom Verf.). 101 BT-Drs. 16/4841, S. 54 f. 102 Busch (o. Fn. 23), S. 151. 103 BFH v. 20. 11. 2018, VIII R 37/15, BStBl. II 2019, 507 Rn. 13 ff; bestätigt in BFH v. 16. 06. 2020, VIII R 1/17, BFH/NV 2021, 58, Rn. 21. 100
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für Vollrisikozertifikate beibehaltene Unsicherheit als Einladung versteht, auch letztere der Beschränkung zu unterwerfen. 3. Verlustausgleichsbeschränkung des § 20 Abs. 6 Satz 5 EStG Nach der Neuregelung des § 20 Abs. 6 Nr. 5 EStG, die der Bundesrat104 vorübergehend abschaffen wollte, dürfen Verluste aus Kapitalvermögen im Sinne des § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 EStG nur in Höhe von nunmehr 20.000 Euro105 mit Gewinnen im Sinne des § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 EStG und mit Einkünften im Sinne des § 20 Abs. 1 Nr. 11 EStG ausgeglichen werden. § 20 Abs. 6 Sätze 2 und 3 EStG gelten sinngemäß mit der Maßgabe, dass nicht verrechnete Verluste je Folgejahr nur bis zur Höhe von 20.000 Euro mit entsprechenden Gewinnen verrechnet werden dürfen. § 20 Abs. 6 Satz 5 EStG ist anwendbar auf Verluste, die nach dem 31. 12. 2020 eintreten (§ 52 Abs. 28 S. 24 EStG). Die Beschränkung besteht zum einen betragsmäßig und zum anderen darin, dass die von § 20 Abs. 2 Nr. 3 EStG erfassten Verluste in einem geschlossenen Unterverrechnungskreis separiert werden, in den Gewinne aus § 20 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 EStG eingezogen werden. Die Regelung erfasst nicht nur die bisher umstrittenen und vom BFH gegen die Finanzverwaltung entschiedenen Fälle des Verfalls von Optionen beim Optionsinhaber,106 sondern auch die nach Auffassung des BFH107 ebenso vom Anwendungsbereich des § 20 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. a EStG108 erfassten Fälle eines vom Stillhalter geschuldeten Differenzausgleichs. Nicht einbezogen sind Verluste, die beim Stillhalter nach einem Glattstellungsgeschäft und Verrechnung mit der Stillhalterprämie entstehen. Denn ein Verlust aus § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 EStG kann nicht mit einem Verlust (i. S. von negativen Einkünften) aus § 20 Abs. 1 Nr. 11 EStG ausgeglichen werden. Deshalb hat vorrangig eine vollständige Verrechnung bei § 20 Abs. 1 Nr. 11 EStG zu erfolgen. Betroffen sind auch die Verluste aus Veräußerungsfällen des § 20 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. b EStG, wie etwa der Fall, dass der Optionsinhaber im Zusammenhang mit einem als Gegengeschäft abgeschlossenen Glattstellungsgeschäft seine Position schließt („closing“-Vermerk) 104
BR-Drs. 503/20, S. 18, 21. Vgl. aber BR v. 18. 12. 2020, BR-Drs. 746/20. Die durch Gesetz v. 21. 12. 2019, (BGBl. I 2019, 2875) eingeführte Grenze von 10.000 Euro ist durch das JStG 2020 (BGBl. I 2020, 3096) auf 20.000 Euro erhöht worden. 106 BFH v. 12. 01. 2016, IX R 48/14, BStBl. II 2016, 456; v. 12. 01. 2016, IX R 49/14, BStBl. II 2016, 459; v. 12. 01. 2016, IX R 50/14, BStBl. II 2016, 462 gegen BMF v. 18. 01. 2016, BStBl. I 2016, 85; zur Rechtslage bei § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 EStG a. F. BFH v. 26. 09. 2012, IX R 50/09, BStBl. II 2013, 231 gegen BMF v. 27. 11. 2001, BStBl. I 2001, 986. Näher zur Entwicklung Busch (o. Fn. 23), S. 180 ff.; 195 ff. 107 BFH v. 20. 10. 2016, VIII R 55/13, BStBl. II 2017, 264; a. A. FG Niedersachsen v. 28. 08. 2013, 2 K 35/13, EFG 2014, 514 als Vorinstanz. Näher Busch (o. Fn. 23), S. 117 ff., 132 ff. 108 § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 EStG a. F. betraf nach ständiger Rspr. des BFH lediglich Optionen, die Berechtigte erwirbt, nicht aber solche, die er als sog. Stillhalter einräumt (vgl. z. B. BFH v. 11. 02. 2014, IX R 46/12, BFH/NV 2014, 1025, Rn. 19, 26). 105
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und einen Barausgleich schuldet.109 § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG ist seit Einfügung des § 20 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. b EStG als subsidiär zu behandeln (vgl. § 23 Abs. 2 EStG).110 Weitere Verluste aus Veräußerungsfällen sind Ausgleichszahlungen auf Grund von Swap- und Future-Kontrakten, die zu den als Termingeschäft ausgestalteten Finanzinstrumenten gehören. Ein Verlustvortrag in die nachfolgenden Veranlagungszeiträume ist – ebenfalls sachlich und betragsmäßig begrenzt – möglich. Zwar wird die Nutzung der Verluste – anders als noch im Entwurf des „JStG 2019“111 – nicht mehr generell versagt, sondern lediglich zeitlich gestreckt, so dass es sich um eine demgegenüber abgeschwächte Lösung handelt. Das ändert aber an den im Schrifttum112 vorgebrachten verfassungsrechtlichen Zweifeln wenig. Die Gesetzesbegründung113 lässt erkennen, dass man offensichtlich erneut nicht bereit war, die Dinge gründlich zu durchdenken. Wenn der Gesetzgeber den spekulativ orientierten (Privat-)Anleger tatsächlich vor Verlustrisiken schützen möchte, dann wäre ein Verbot konsequent. Absehen davon, dass ein paternalistischer Ansatz, der alle Steuerpflichtigen unabhängig von ihren Einkommensverhältnissen als gleich schutzbedürftig ansieht, nicht sehr einleuchtend erscheint, erhöht sich ab 2021 das Verlustrisiko des spekulativen Privatanlegers gerade deshalb, weil er dann Verluste mit Gewinnen steuerlich wegen der betragsmäßigen Begrenzung nicht effektiv verrechnen kann. Insofern ist abzusehen, dass der steuerlich Beratene entweder seine Geschäftstätigkeit einstellen oder in den gewerblichen Bereich verlagern wird. Schließlich ist die Regelung insofern überschießend, weil sie auch denjenigen betrifft, bei dem die Termingeschäfte der Risikoabsicherung dienen. Es drängt sich deshalb der Verdacht auf, dass die Neuregelung vornehmlich dem fiskalischen Interesse an einer Optimierung des Steueraufkommens dient.114 Der Gesetzgeber wählt – je nach Geschäftsausgang – selektiv nur die positiven Geschäfte aus und lässt den Steuerpflichtigen mit den Verlusten ab einer Höhe von 20.000 Euro außen vor. Im Ergebnis beruht der konkrete Besteuerungstatbestand (anders als die Einkommensteuer als solches) erkennbar nicht auf dem staatlichen Teilhabegedanken, sondern schert rein staatsbegünstigend daraus aus.115 Nur unter Annahme letzteren Verständnisses gibt es auch ein Haushaltsrisiko. Ansonsten müsste der Gesetzgeber seine Befürchtungen präzisieren, steht doch im Normalfall dem Verlust des einen Spielers ein steuerpflichtiger Gewinn eines anderen Spielers gegenüber.
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BFH v. 24. 06. 2003, IX R 2/02, BStBl. II 2003, 752; v. 14. 12. 2004, VIII R 81/03, BStBl. II 2005, 746; v. 11. 02. 2014, IX R 46/12, BFH/NV 2014, 1025, Rn. 16. 110 Busch (o. Fn. 23), S. 155. 111 Dazu z. B. Weiss, EStB 2020, 64, 66 f. m. w. N. zur Kritik des Schrifttums. 112 Vgl. dazu Bron, BB 2020, 535 ff.; Dahm/Hoffmann, DStR 2020, 81; Drüen, FR 2020, 663 ff.; Jachmann-Michel, jM 2020, 120 ff. 113 BT-Drs. 19/15876, S. 61. 114 Bron (BB 2020, 535, 539) spricht von einer „etwas populistisch anmutende(n) Begründung“. 115 Drüen, FR 2020, 663, 665.
Die einkommensteuerrechtliche Behandlung von Veräußerungsverlusten
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VII. Schluss Die mit Vollrisikozertifikaten verbundenen Steuerfragen der letzten 20 Jahre sind ein Beispiel für die zunehmende Degeneration der Steuerkultur. Im Anschluss an die Zivilrechtsprechung zum Spielcharakter von Termingeschäften verneinte die ganz h. M. die Steuerbarkeit der Einkünfte. Eine Leistung i. S. des § 22 Nr. 3 EStG sei der Gewinn des Spiels nicht. Der Steuergesetzgeber sah es allerdings als geboten an, Spielgewinne unter den Einkommensbegriff des EStG zu fassen. Das bedeutet aber nach dem das EStG prägenden Nettoprinzip, dass auch Spielverluste steuerbar sein müssen. Eine dem Verfassungsrecht vorgelagerte Frage der Steuerkultur ist es, wenn der Gesetzgeber Gewinne besteuern, Verluste aber für die Bemessungsgrundlage „neutralisieren“ möchte. Eingriffe in das Leistungsfähigkeitsprinzip bis zu den Grenzen des Willkürverbotes auszuloten116 und möglicherweise sogar Verfassungsverstöße mit dolus eventualis in Kauf zu nehmen, stellen einem auf dem Fundament des Rechtsstaates errichteten Steuerstaat kein gutes Zeugnis aus. Gleiches gilt für die Finanzverwaltung, soweit sie sich in ihren Verwaltungsrichtlinien nicht auf die Auslegung des Gesetzes beschränkt, sondern praeter bzw. contra legem Aufgaben der Rechtsfortbildung übernimmt. Selbst wenn der BFH den Steuerpflichtigen später Recht gibt, bestand doch über Jahre ein rechtsstaatlich zumindest bedenklicher Zustand der Rechtsunsicherheit. Viele Steuerpflichtige werden den Konflikt mit dem Finanzamt gescheut haben. Vom BFH ist zum einen zu erhoffen, dass er auf der Grundlage einer dogmatisch fundierten zivilrechtlichen Analyse die Auslegungsspielräume, die das Gesetz eröffnet, klar im Lichte einer am Nettoprinzip orientierten systematischen Auslegung nutzt. Das ist dem BFH, wie der Beitrag aufzuzeigen versuchte, in der ein oder anderen Fallkonstellation leider nicht gelungen. Zum anderen möge der BFH der Erwartung der anderen Staatsgewalten widerstehen, die „Besteuerungsruine“ der Termingeschäfte mit Analogien zulasten des Steuerpflichtigen vor dem Einsturz zu bewahren. Die Verantwortung für eine grundlegende Sanierung liegt beim Gesetzgeber. Zur Regeneration der Steuerkultur wäre sicherlich auch eine klare Positionierung des BVerfG auf Seiten des Steuerpflichtigen förderlich.
116 Vgl. dazu z. B. Wissenschaftliche Dienste – Deutscher Bundestag, WD 4 – 3000 – 066/ 20, Verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Beschränkungen der Verlustverrechnung bei Termingeschäften und Ausfällen von Kapitalforderungen v. 26. 06. 2020, S. 5: „Ob das Gebot der Folgerichtigkeit noch aufrecht erhalten wird, kann in Zweifel gezogen werden“ (…) Es diene „vor allem der Disziplinierung des Gesetzgebers, indem es ihn zwinge, Durchbrechungen und Abweichungen vom bestehenden System zu begründen“.
Probleme bei der Einkommensbesteuerung von Sportlern Von Jutta Förster Die Erfüllung der steuerlichen Pflichten bereitet Sportlern, insbesondere Spitzensportlern nicht selten Probleme. Die Liste der Sportler, denen das nicht gelungen ist, ist lang.1 Folge waren und sind teilweise medienwirksame Steuer(straf-)prozesse. Aber auch unterhalb dieser Aufmerksamkeitsschwelle gibt es zahlreiche ertragsteuerliche Probleme bei der Besteuerung von Sportlern. Dieser Beitrag, der Klaus Vieweg in Erinnerung an unsere gemeinsame Assistentenzeit an der juristischen Fakultät der Westfälischen-Wilhelms-Universität Münster gewidmet ist, zeigt einige der interessantesten Fragen auf, die von der Finanzrechtsprechung zu beantworten waren. I. Steuerbarkeit der sportlichen Betätigung Zunächst ist zu klären, wer überhaupt als Sportler2 i. S. d. Steuerrechts anzusehen ist und wann der Sportler sich steuerlich relevant betätigt. 1. Sportler i. S. d. Steuerrechts Im Steuerrecht taucht der Begriff „Sport“ in der Abgabenordnung (AO) auf: In § 52 Abs. 2 Nr. 21 AO wird als gemeinnütziger Zweck auch die Förderung des Sports anerkannt, wobei Schach ausdrücklich als Sport gilt. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) umfasst der Sport Betätigungen, die die allgemeine Definition des Sports erfüllen und der körperlichen Ertüchtigung dienen. Vorauszusetzen ist daher eine körperliche, über das ansonsten übliche Maß hinausgehende Aktivität, die durch äußerlich zu beobachtende Anstrengungen oder durch die einem persönlichen Können zurechenbare Kunstbewegung gekennzeichnet ist.3 Die Ausführung
1
Vgl. nur die Strafprozesse um die Spitzentennisspieler Boris Becker und Steffi Graf, vgl. Focus Money 2002, Nr. 45; oder einige Fußballspieler der 1. Bundesliga, die versuchten, der unbeschränkten Steuerpflicht in Deutschland durch einen (nicht vollständig vollzogenen) Umzug in das belgische Eupen zu entgehen; vgl. Der Spiegel vom 19. 8. 1996. Jüngstes Beispiel ist die Verurteilung des Boxers Felix Sturm u. a. wegen Steuerhinterziehung, vgl. Süddeutsche Zeitung vom 2./3. 5. 2020, S. 33. 2 In diesem Beitrag wird aus Vereinfachungsgründen ausschließlich die männliche Form des Sportlers verwandt. Mit dieser Bezeichnung sind alle Sportler – unabhängig von ihrem Geschlecht – gemeint. 3 BFH, BStBl II 1998, 9.
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eines Spiels in Form von Wettkämpfen und unter einer besonderen Organisation allein macht es noch nicht zum Sport i. S. des § 52 Abs. 2 Nr. 2 AO.4 Schiedsrichter sind im Bereich des Sports wichtige, oft unverzichtbare Akteure. Teilweise genießen sie eine Popularität, die an die der Sportler heranreicht.5 Sie sind aber keine Sportler i. S. d. Steuerrechts, auch wenn sie sich, wie z. B. ein Fußballschiedsrichter, während des Wettkampfs körperlich betätigen. Sie überwachen lediglich die anwendbaren Regeln und sanktionieren deren Verstöße. Damit nehmen Schiedsrichter an den Sportveranstaltungen mit Wettkampfcharakter nicht als Wettkämpfer teil und treten als Sportler gegen andere Sportler an, sondern ermöglichen es lediglich anderen, einen sportlichen Wettkampf zu bestreiten.6 2. Einkommensteuerlich relevante Tätigkeiten eines Sportlers Eine rein sportliche Betätigung ist steuerlich zunächst unbeachtlich. Sport wird nämlich in weitaus überwiegendem Maße zum Selbstzweck, also mehr oder weniger zur Freizeitgestaltung und/oder zur Stärkung der allgemeinen Leistungsfähigkeit, mithin nicht um des Entgelts willen ausgeübt.7 Der Sport ist als gesundheitsfördernde Freizeittätigkeit sogar steuerlich privilegiert, da Spenden an gemeinnützige Sportvereine im Gegensatz zu den Mitgliedsbeiträgen steuerlich abziehbar sind.8 Erbringt ein Sportler lediglich sportliche Leistungen und erhält er dafür vereinzelt Gewinnpreise, so erzielt er damit im Regelfall keine steuerbaren Einkünfte.9 Ertragsteuerlich relevant wird die Tätigkeit eines Sportlers, wenn sie mit der Absicht betrieben wird, Einkünfte zu erzielen. Dies ist nach Auffassung des BFH noch nicht der Fall, wenn der Sportler für seine Betätigung lediglich einen Aufwendungsersatz erhält. Zahlungen, die nur den tatsächlichen Aufwand des Sportlers abdecken sollen, verwirklichen noch nicht den Tatbestand der Einkünfteerzielung, sondern bewegen sich noch im Bereich der Liebhaberei. Geringfügige Entschädigungen sind kein Entgelt für die entsprechende Leistungen.10 Anders verhält es sich aber, wenn ein Sportler im Zusammenhang mit seiner Betätigung Zahlungen erhält, die nicht nur ganz unwesentlich höher sind als die ihm hierbei entstandenen Aufwendungen. Dann ist nämlich der Schluss gerechtfertigt, 4
BFH, BFH/NV 1987, 705. Z. B. genießt der glatzköpfige Pierluigi Collina, der als einer der weltbesten Fußballschiedsrichter aller Zeiten gilt, Kultstatus. 6 BFHE 260, 169. 7 Vgl. BFH, BStBl II 1993, 303. 8 Vgl. § 10b EStG, insbesondere § 10b Abs. 1 Satz 8 Nr. 1 EStG. 9 So auch Musil, in Hermann/Heuer/Raupach, EStG, Kommentar Loseblatt, § 2 Anm. 80, Stichwort Sportpreis; Weber-Grellet, in: Schmidt, EStG, Kommentar, 39. Aufl. 2020, § 22 Rn. 150, Stichwort Preise. 10 Vgl. BFH, BStBl II 1993, 303. 5
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dass die Sportausübung nicht mehr reiner Selbstzweck, sondern auch Mittel zur Erzielung von Einkünften ist.11 II. Qualifizierung der Einkünfte Steht fest, dass die (sportlichen) Aktivitäten den Bereich der Liebhaberei verlassen haben, ist die Folgefrage zu beantworten, unter welche der sieben Einkunftsarten die Tätigkeit des Sportlers zu subsumieren ist. Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft, aus Kapitalvermögen oder Vermietung und Verpachtung scheiden offensichtlich aus; die Qualifizierung der Aktivitäten als gewerbliche, selbständige oder unselbständige Tätigkeit erscheint möglich, ebenso wie die Erzielung von sonstigen Einkünften. Dass eine steuerliche Einordnung der Einkünfte notwendig ist, beruht auf den unterschiedlichen Rechtfolgen, die mit der jeweiligen Einkunftsart verknüpft sind. Die Bejahung gewerblicher Einkünfte führt zur Gewerbesteuerpflicht. Die Belastung mit der Gewerbesteuer wird durch ihre pauschale Anrechnung auf die Einkommensteuer gemäß § 35 EStG zwar abgemildert, nicht aber beseitigt. Wichtigste Rechtsfolge bei der Annahme einer unselbständigen Tätigkeit ist die Verpflichtung des Arbeitgebers zum Lohnsteuerabzug gemäß §§ 38 ff. EStG und seine Haftung nach § 42d EStG. Sonstige Einkünfte gemäß § 22 Nr. 3 EStG liegen nur dann vor, wenn nicht eine andere Einkunftsart gegeben ist. Besonderheit der sonstigen Einkünfte nach § 22 Nr. 3 EStG ist die nur eingeschränkte Verlustberücksichtigung, vgl. § 22 Nr. 3 Sätze 3 und 4 EStG. Mögliche Einkünfte eines Sportlers können in diesem Zusammenhang Siegprämien, Antrittsgelder oder als „Aufwandsentschädigung“ bezeichnete Zahlungen der Veranstalter von Sportveranstaltungen, Fördergelder z. B. der Deutschen Sporthilfe, Sponsorengelder, Werbeeinnahmen, u. a. sein. Diese gilt es steuerlich einzuordnen. 1. Einnahmen aus Gewerbebetrieb § 15 Abs. 2 EStG definiert den Gewerbebetrieb als eine selbständige nachhaltige Betätigung, die in Gewinnerzielungsabsicht und unter Teilnahme am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr unternommen wird und sich weder als Ausübung von Land- und Forstwirtschaft noch als Ausübung eines freien Berufs oder als eine andere selbständige Arbeit darstellt. Darüber hinaus ist erforderlich, dass die Betätigung den Rahmen einer privaten Vermögensverwaltung überschreitet.12
11 12
Vgl. BFH, BStBl II 1993, 303. Ständige Rechtsprechung, vgl. BFH (Großer Senat), BStBl II 1984, 751.
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a) Siegprämien Ein Sportler wird nicht allein dadurch gewerblich tätig, dass er vereinzelt für besonders gelungene Darbietungen oder erfolgreiche Wettkämpfe Preisgelder und Siegprämien erhält. Es fehlt an einer Tätigkeit „am Markt“, die gegen Entgelt und äußerlich für Dritte erkennbar angeboten wird.13 Anders ist dies zu beurteilen, wenn die Teilnahme an einer sportlichen Veranstaltung gerade darauf abzielt, eine Siegprämie zu erhalten – wie z. B. bei einem Pferderennen. b) Antrittsgelder der Veranstalter Erhält der Sportler regelmäßig Antrittsgelder von den Veranstaltern von Sportveranstaltungen, bietet er seine Leistungen, sei es eine Teilnahme am Wettkampf oder sei es eine anderweitige sportliche Betätigung am Markt, gegen Entgelt an. Diese Tätigkeit ist nachhaltig, da sie auf eine Wiederholung ausgerichtet ist, sie wird zudem mit einer Gewinnerzielungsabsicht ausgeübt. Damit dürften diese Zahlungen bereits Einkünfte des gewerblichen Unternehmens des Sportlers sein. Dies gilt selbst dann, wenn sie als „Aufwandsentschädigung“ bezeichnet werden, sofern die dem Sportler tatsächlich entstandenen Kosten nicht unerheblich überschritten werden. Eine Qualifikation als selbständige Arbeit gemäß § 18 EStG scheidet aus, da die sportliche Tätigkeit weder zu den als freiberuflich in § 18 Abs. 1 EStG genannten Tätigkeiten gehört noch ihnen ähnlich sind. Dasselbe gilt für eine sonstige selbständige Tätigkeit i. S. d. § 18 Abs. 3 EStG.14 c) Sponsoring, Ausrüsterverträge, Werbemaßnahmen Mit steigendem Bekanntheitsgrad wird ein Sportler für Firmen als Werbeträger in jeglicher Form interessant. Dies gilt nicht nur für die Hersteller von Sportgeräten oder Sportkleidung. Vereinbart ein Sportler unmittelbar mit einem Unternehmen, sich gegen Entgelt für Werbemaßnahmen zur Verfügung zu stellen, erzielt er zweifelsfrei gewerbliche Einkünfte. Steuerlich interessanter ist die Frage, wie Werbeleistungen eines Sportlers zu beurteilen sind, die von seinem Sportverband eingeworben werden. Diese Frage war bislang Gegenstand von zwei Verfahren vor dem BFH. Der Kläger des Rechtsstreits aus dem Jahr 1985 erhielt als Spitzensportler vom bzw. über seinen Sportverband sog. Verdienstausfallentschädigungen und in einigen Jahren zusätzlich Prämien für besondere sportliche Erfolge (auch Leistungszulage, Platzgeld, Erfolgsprämie oder Platzprämie genannt). Die Gelder für diese Zahlungen 13 14
Vgl. BFH, BStBl II 1994, 201. BFH, BStBl II 2002, 271.
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stammten ausschließlich von den dem Ausrüsterkreis des Verbandes angehörenden Unternehmen. Es wurden von einigen dieser Unternehmen auch direkte Zahlungen an den Kläger geleistet. Die Ausrüsterfirmen erhielten für ihre Leistungen das Recht, sich öffentlich als Ausrüster der Sportler zu bezeichnen und mit den Erfolgen der Aktiven zu werben. An den Absprachen, welche Art von Leistungen in welcher Höhe die Ausrüsterfirmen an den Sportverband zu erbringen hatten, waren die Aktiven weder einzeln noch durch ihre Mannschaftssprecher beteiligt; sie erfolgten vielmehr zwischen den Firmen und dem Verband. Der BFH sah die Verknüpfung von laufenden Geldleistungen an den Sportler mit dessen Entscheidung, bei der Austragung von sportlichen Wettbewerben nur Artikel dieser Firmen zu verwenden, bereits als gewerbliche Betätigung an. Die wiederholte öffentlich deutlich sichtbare Benutzung von Sportgeräten durch Spitzensportler sei eine Werbeleistung, denn das entgeltliche Werben für bestimmte Erzeugnisse erfülle die Tatbestandsmerkmale des Gewerbebetriebs – unabhängig davon, ob einem solchen Verhalten verbindliche Verträge zwischen Sportler, Sportverband und/oder Hersteller zugrunde lägen oder ob dieses Verhalten aufgrund einer stillschweigend in Gang gekommenen allgemeinen Übung erfolge. Selbständigkeit, Nachhaltigkeit, Gewinnerzielungsabsicht sowie Beteiligung am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr seien auch bei dieser Gestaltung zu bejahen.15 An dieser Rechtsprechung hat der BFH 27 Jahre später noch festgehalten.16 Streitgegenständlich waren hier die Werbeeinnahmen, die ein Nationalspieler vom Deutschen Fußball-Bund (DFB) erhielt. Der Fußballspieler hatte eine Vereinbarung mit dem DFB über Berufungen in die Fußball-Nationalmannschaft unterzeichnet, in der er sich u. a. dazu verpflichtete, bei Spielen und Lehrgängen die durch den DFB gestellte Sportkleidung zu tragen und an Werbeterminen teilzunehmen, zu denen der DFB die Spieler der Nationalmannschaft aufgrund der mit seinen Werbepartnern geschlossenen Verträge mehrmals im Jahr abzustellen hatte. Ohne den Abschluss dieser Vereinbarung wäre der Kläger nicht in die Nationalmannschaft berufen worden. Die dem Nationalspieler unter Bezugnahme auf Verabredungen mit dem Mannschaftsrat errechneten anteiligen Beträge „für die Überlassung der Bild- und/oder Namensrechte“ zur Durchführung „anlassbezogener Promotion-Maßnahmen“ sah der BFH als gewerbliche Einnahmen an. Der Fußballspieler habe die für eine gewerbliche Tätigkeit notwendige Unternehmensinitiative und das Unternehmensrisiko getragen, daher habe er Einkünfte nicht als Arbeitnehmer, sondern als Gewerbetreibender erzielt.17
15
BFH, BStBl II 1986, 424. BFH, BStBl II 2012, 511. 17 BFH, BStBl II 2012, 511. 16
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d) Leistungen von Sportförderungen, z. B. der Fördergesellschaft der Stiftung „Deutsche Sporthilfe“ Spitzensportler, insbesondere als Olympiakader oder Paralympics-Kader eingestufte Athleten, können auch aus öffentlichen Programmen eine Förderung erhalten. Diese beträgt derzeit monatlich 800 E. Daneben existieren, wie man einer Mitteilung des Sportausschusses des Deutschen Bundestages entnehmen kann, Förderbausteine der Stiftung Deutsche Sporthilfe, wie etwa das Deutsche Bank Sport-Stipendium (400 E), die Mercedes-Benz Elite-Förderung (400 E) sowie die ElitePlus-Förderung (1.000 E) und die Nachwuchselite-Förderung (200 E).18 Erzielt ein Sportler bereits im Zusammenhang mit seinen sportlichen oder werbemäßigen Aktivitäten gewerbliche Einkünfte, gehören nach Auffassung zweier Finanzgerichte auch diese Fördergelder zu seinen gewerblichen Einnahmen. Bereits zur Jahrtausendwende bejahte das Hessische FG eine betriebliche Veranlassung der Fördergelder, da sie im wirtschaftlichen und sachlichen Zusammenhang mit der gewerblichen Tätigkeit des Sportlers ständen.19 Dem stimmte das FG Thüringen in einem noch nicht rechtskräftigen Urteil20 unter der Voraussetzung zu, dass der Sportler nicht unerhebliche gewerbliche Einkünfte erziele. Eine Betriebseinnahme müsse – sofern sie nur objektiv betrieblich veranlasst sei – nicht notwendig als Entgelt für eine konkrete Leistung bezogen werden. Ausreichend sei – so das FG Thüringen – der objektive betriebliche Anlass, sodass auch Zuschüsse und Geschenke Betriebseinnahmen darstellen könnten.21 e) Leistungen aus der Verwertung des Namens des Sportlers Ein Sportler kann seine Popularität zudem dadurch wirtschaftlich verwerten, dass er Dritten gegen Entgelt gestattet, seinen Namen in der Werbung einzusetzen. Auch hierdurch werden im Regelfall gewerbliche Einkünfte erzielt. Der kommerzialisierbare Teil des Namensrechts stellt steuerlich ein Wirtschaftsgut dar, das gem. § 4 Abs. 1 Satz 8 EStG in einen Gewerbebetrieb eingelegt werden kann. Erzielt der Sportler mit der kommerziellen Verwertung seines Namens erhebliche Betriebseinnahmen, dürfte das Namensrecht zu seinem notwendigen Betriebsvermögen gehören, denn es ist ein Wirtschaftsgut, das seinem Gewerbebetrieb dergestalt unmittelbar dient, dass es objektiv erkennbar zum unmittelbaren Einsatz im Betrieb selbst bestimmt ist.22 18
Vgl. die Mitteilung des Sportausschusses vom 15. 5. 2019, Heute im Bundestag, hib 570/ 2019. 19 So Hessisches FG, EFG 2001, 683. 20 Die Revision ist derzeit unter dem Aktenzeichen X R 19/19 anhängig. 21 FG Thüringen, EFG 2019, 1386, mit Anmerkungen von Lutter, EFG 2019, 1388 und Fischer, jurisPR-SteuerR 45/2019 Anm. 2. 22 BFH, BStBl II 2020, 3, unter II.2.
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2. Einnahmen aus unselbständiger Tätigkeit Die Antwort auf die Frage, ob ein Sportler Einkünfte als Arbeitnehmer erzielt, dürfte vor allem den potentiellen Arbeitgeber interessieren, da dieser mit erheblichen Mitwirkungspflichten sowie der Haftung als Arbeitgeber für die abzuführende Lohnsteuer gemäß § 42d EStG belastet ist. a) Der Sportler als Arbeitnehmer Treffen Sportverein und sporttreibendes Mitglied eine entsprechende Entgeltvereinbarung, schaffen sie einen selbständigen Rechtsgrund gegenseitiger Rechte und Pflichten, der als solcher neben das sich aus der Mitgliedschaft ergebende Rechtsverhältnis tritt.23 Für die Abgrenzung einer selbständigen von einer nichtselbständigen Betätigung ist das Vorliegen eines „Dienstverhältnisses“ entscheidend. Dieses ist gegeben, wenn der Angestellte dem Arbeitgeber seine Arbeitskraft schuldet, d. h., wenn die tätige Person in der Betätigung ihres geschäftlichen Willens unter der Leitung des Arbeitgebers steht oder im geschäftlichen Organismus des Arbeitgebers dessen Weisungen zu folgen verpflichtet ist (§ 1 Abs. 2 LStDV). Demgegenüber ist eine (natürliche) Person selbständig tätig, wenn sie auf eigene Rechnung und Gefahr tätig ist, d. h. wenn sie das Erfolgsrisiko der eigenen Betätigung (Unternehmerrisiko) trägt und Unternehmerinitiative entfalten kann.24 Die Frage, ob der Sportler mit der von ihm versprochenen Betätigung Arbeitnehmer i. S. d. § 1 LStDV ist, muss nach dem Gesamtbild der Verhältnisse beurteilt werden.25 Denn es handelt sich um einen offenen Typusbegriff, der nur durch eine größere und unbestimmte Zahl von Merkmalen beschrieben werden kann. Im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtwürdigung sind nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung insbesondere die folgenden Merkmale von Bedeutung, die für eine Arbeitnehmereigenschaft sprechen können:26 – persönliche Abhängigkeit, Weisungsgebundenheit hinsichtlich Ort, Zeit und Inhalt der Tätigkeit, feste Arbeitszeiten, Ausübung der Tätigkeit an einem bestimmten vorgegebenen Ort, – feste Bezüge, Urlaubsanspruch, Anspruch auf sonstige Sozialleistungen, Fortzahlung der Bezüge im Krankheitsfall, Überstundenvergütung, – zeitlicher Umfang der Dienstleistungen, – Unselbständigkeit in Organisation und Durchführung der Tätigkeit, – fehlendes Unternehmerrisiko, fehlende Unternehmerinitiative, 23
Vgl. BFH, BStBl II 1993, 303. Vgl. z. B. BFH, BStBl II 1980, 303; BStBl II 1991, 66. 25 Vgl. z. B. BFH, BStBl II 1985, 661. 26 Vgl. die Aufzählungen in BFH, BStBl II 2012, 511, Rn. 31, m. w. N. aus der BFHRechtsprechung. 24
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– kein Kapitaleinsatz, keine Pflicht zur Beschaffung von Arbeitsmitteln, – Notwendigkeit der engen ständigen Zusammenarbeit mit anderen Mitarbeitern, Eingliederung in den Betrieb, – Schulden der Arbeitskraft, nicht aber eines Arbeitserfolgs. Bei Mannschaftssportlern dürfte die Frage, ob sie als Arbeitnehmer Angestellte ihres Vereins sind, bei Zugrundelegung dieser Indizien im Regelfall zu bejahen sein, da gerade die Weisungsgebundenheit des Spielers hinsichtlich Ort, Zeit und Inhalt seiner Tätigkeit sowie die Notwendigkeit des engen ständigen Zusammenwirkens mit anderen Mitspielern und Trainern Grundlage für die erfolgreiche Ausübung eines Mannschaftssports sein dürfte. Bei Einzelsportlern sind diese Indizien hingegen nicht so stark ausgeprägt; hier ist die Qualifikation der Tätigkeit stärker von den Umständen des Einzelfalles abhängig. Berufsboxer27 und Berufsringer28 ebenso wie Berufsmotorsportler29, Berufsradrennfahrer30 und Gewichtheber31 werden von der höchstrichterlichen Rechtsprechung als Gewerbetreibende (und damit nicht als Arbeitnehmer) behandelt b) Lohnsteuerabzug durch den Verein Die Einkommensteuer wird gemäß § 38 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG durch Abzug vom Arbeitslohn erhoben, soweit der Arbeitslohn von einem inländischen Arbeitgeber gezahlt wird. Dies ist nicht weiter problematisch, soweit die unmittelbaren Leistungen des Vereins betroffen sind. Dem Lohnsteuerabzug unterliegt nach § 38 Abs. 1 Satz 3 EStG aber auch der im Rahmen des Dienstverhältnisses von einem Dritten gewährte Arbeitslohn, wenn der Arbeitgeber weiß oder erkennen kann, dass derartige Vergütungen erbracht werden. aa) Vergütung für die Teilnahme an den Aktivitäten der Nationalmannschaft Die Beurteilung, ob lohnsteuerpflichtiger Arbeitslohn gegeben ist, kann bei Zahlungen des nationalen Sportverbandes an den Sportler für dessen Teilnahme an Wettkämpfen und Länderspielen der Nationalmannschaft Probleme bereiten. Für die Einordnung, ob der Verein auch für die an seinen Sportler von der Nationalmannschaft gezahlten Gelder die Lohnsteuer einzubehalten und abzuführen hat, bedarf es einer präzisen Analyse der den Zahlungen zugrunde liegenden rechtlichen Vereinbarungen zwischen dem Verband, dem Verein und dem Spieler.
27
BFH, BStBl. III 1964, 207. BFH, BStBl II 1979, 182. 29 BFH, BStBl. II 1993, 810. 30 BFH, DB 1958, 1086. 31 BFH, BStBl II 2012, 511). 28
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Das zeigt das Urteil des FG Münster aus dem Jahr 2015, dem der folgende Sachverhalt zugrunde lag: Die Arbeitsverträge des Handballvereins mit seinen Profispielern enthielt keine Verpflichtung des Spielers, an den Spielen der Nationalmannschaft des Deutschen Handball-Bundes (DHB) teilzunehmen. Demgegenüber verpflichtete sich der Verein zur Abstellung des Spielers, wenn der DHB ihn zu Länderspielen, Vorbereitungslehrgängen und Trainingslagern berief. Die Einladung wurde jeweils direkt an den Spieler ausgesprochen. Dieser erhielt für seine Teilnahme ein Entgelt sowie Reisekostenersatz, wobei der DHB den Betrag unmittelbar auf ein vom Spieler benanntes Konto überwies. Die Höhe der Entgelte wurde zwischen dem Spielerrat und dem DHB ausgehandelt. Der Verein war weder in diese Verhandlungen und in den Zahlungsweg eingebunden noch gab es Vereinbarungen über die Zahlung von Abstellprämien oder einer Kostenerstattung zwischen dem Verein und dem DHB. Das FG Münster hob den gegen den Verein gerichteten Lohnsteuerhaftungsbescheid auf, da die Zahlungen an die Spieler keine Lohnzahlungen des DHB als Dritten darstellten.32 Die Zahlungen seien keine durch das Dienstverhältnis der Spieler zu ihrem Verein veranlassten Gegenleistungen, da es insbesondere an einer arbeitsvertraglichen Verpflichtung der Spieler zur Teilnahme an Maßnahmen des DHB fehle. Auch die weiteren Umstände – u. a. die Einladungspraxis, die Aushandlung der Vergütungen zwischen dem Spielerrat und dem DHB – sprächen für eine gesonderte, von dem Dienstverhältnis mit dem Verein getrennte Rechtsbeziehung zwischen den Spielern und dem DHB.33 Die Revision des FAwurde als unzulässig verworfen.34 Das bedeutet aber nicht, dass derartige Zahlungen an den Sportler steuerfrei sind, sondern nur, dass sie nicht dem Lohnabzug unterliegen. bb) Einnahmen aus der arbeitsvertraglichen Übertragung von Persönlichkeitsrechten Jedenfalls ab einem bestimmten Bekanntheitsgrad und der damit verbundenen Gehaltsklasse verpflichtet sich ein Sportler in dem Arbeitsvertrag mit seinem Verein nicht nur zum Training und zur Teilnahme an Veranstaltungen, Wettkämpfen und Werbeveranstaltungen, sondern erlaubt dem Verein auch die Nutzung seiner Persönlichkeitsrechte. Dem Tatbestand des BFH-Verfahrens X R 14/10 kann eine dementsprechende arbeitsrechtliche Klausel eines Fußballspielers mit seinem Bundesligaverein entnommen werden. Der Spieler überträgt danach dem Verein „die Verwertung seiner Persönlichkeitsrechte, soweit sein Arbeitsverhältnis als Lizenzspieler berührt wird und erklärt, diese keinem anderen übertragen zu haben. (…) Dies gilt insbesondere für die vom Verein veranlasste oder gestattete Verbreitung von Bildnissen des Spielers als 32
FG Münster, EFG 2015, 989. FG Münster, EFG 2015, 989. 34 BFH, BFH/NV 2017, 473. 33
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Mannschafts- oder Einzelaufnahmen in jeder Abbildungsform, besonders auch hinsichtlich der Verbreitung solcher Bildnisse in Form von Spielszenen und/oder ganzer Spiele der Lizenzligamannschaft, um somit durch öffentlich- und/oder privatrechtliche Fernsehanstalten und/oder andere audiovisuelle Medien die erforderlichen Nutzungen zu ermöglichen und sie dem DFB zur Erfüllung seiner vertraglichen Verpflichtungen einzuräumen“.35 Es dürfte kein Zweifel bestehen, dass die dadurch generierten Einnahmen lohnsteuerpflichtig sind. Oft wird die Werbetätigkeit eines Vereins aber auf eine rechtlich selbständige Vermarktungsgesellschaft übertragen, die für die gesamte Werbetätigkeit des Vereins und seiner Spieler zuständig ist. Diese Gesellschaft schließt dann mit den einzelnen Sportlern als Werbepartner einen Vertrag, in dem der Sportler sämtliche Vermarktungsrechte auf sie überträgt und sich zur Teilnahme an bestimmten Promotionsveranstaltungen verpflichtet. An dem steuerlichen Ergebnis ändert sich hierdurch aber nichts: Die von der Vermarktungsgesellschaft erhaltenen Einnahmen sind durch die unselbständige Sporttätigkeit des Sportlers veranlasst und ebenfalls lohnsteuerpflichtiger Arbeitslohn. Abführungspflichtig ist der Sportverein, da der Lohnsteuer auch der im Rahmen des Dienstverhältnisses von einem Dritten gewährte Arbeitslohn unterliegt, wenn der Arbeitgeber weiß oder erkennen kann, dass derartige Vergütungen erbracht werden. Dies ist bei Zahlungen der Vermarktungsgesellschaft regelmäßig der Fall.36 3. Sonstige Einkünfte gemäß § 22 Nr. 3 EStG Nach dieser Vorschrift sind Einkünfte aus Leistungen steuerpflichtig, soweit sie nicht einer anderen Einkunftsart oder den Einkünften i. S. von § 22 Nr. 1, 1a, 2 oder 4 EStG zuzurechnen sind und 256 E pro Jahr übersteigen. Eine (sonstige) Leistung i. S. von § 22 Nr. 3 EStG ist jedes Tun, Dulden oder Unterlassen, das Gegenstand eines entgeltlichen Vertrages sein kann und das um des Entgelts willen erbracht wird. Die Norm erfasst, ergänzend zu den übrigen Einkunftsarten, das Ergebnis einer Erwerbstätigkeit und setzt wie diese die allgemeinen Merkmale des Erzielens von Einkünften nach § 2 EStG voraus.37 Aufgrund der Subsidiarität dieser Vorschrift dürfte sie nur ausnahmsweise zur Steuerbarkeit führen, da im Regelfall bereits vorrangig Einkünfte aus Gewerbebetrieb38 oder aus unselbständiger Tätigkeit39 vorliegen dürften. Vorstellbar ist, dass Zahlungen aus der Sportförderung als sonstige Einkünfte gemäß § 22 Nr. 3 EStG zu versteuern sind, wenn der Sportler ansonsten keine nennenswerte Einkünfte 35
BFH, BStBl II 2012, 511. Ebenso Stache, in: Bordewin/Brandt, Einkommensteuergesetz, Kommentar, Loseblatt, § 19 EStG, Rn. 60 ff. 37 St. Rspr., vgl. BFH, BFH/NV 2013, 1085; BStBl II 2018, 335. 38 Siehe oben unter II.1. 39 Siehe oben unter II.2. 36
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aus seinem sportlichen Aktivitäten erzielt.40 Ebenso kann bei hohen Gewinnchancen und Wiederholungsabsicht der Wettkampf mit dem wiederholten Gewinn von Preisen als eine Leistung i. S. des § 22 Nr. 3 EStG anzusehen sein, so dass der Sportler sonstige Einkünfte erzielt.41 III. Betriebsausgaben, Werbungskosten, steuerfreie Einnahmen Haben die Aktivitäten des Sportlers die Schwelle zur Steuerbarkeit überschritten, sind grundsätzlich die Aufwendungen, die durch diese Tätigkeiten veranlasst sind, als Betriebsausgaben oder Werbungskosten steuerlich abziehbar. Die betriebliche Veranlassung ist aber bei den Kosten der privaten Lebensführung nicht gegeben. Diese Aufwendungen sind gemäß § 12 Satz 1 Nr. 1 Satz 2 EStG selbst dann nicht abziehbar, wenn sie zur Förderung des Berufs und der Tätigkeit des Steuerpflichtigen erfolgen. Abgrenzungsschwierigkeiten ergeben sich bei sog. gemischten Aufwendungen, die sowohl privat als auch beruflich veranlasst sind. Während früher ein striktes Aufteilungsverbot galt, hat der Große Senat des BFH im Jahr 2010 seine Rechtsprechung geändert. Besteht die Möglichkeit einer Aufteilung der verschiedenen Veranlassungsbeiträge anhand objektiver Kriterien, sind die Aufwendungen nunmehr entsprechend aufzuteilen. Dies gilt allerdings nicht für solche unverzichtbaren Aufwendungen für die Lebensführung, die durch die Vorschriften zur Berücksichtigung des steuerlichen Existenzminimums pauschal abgegolten oder als Sonderausgaben oder außergewöhnliche Belastungen abziehbar sind.42 1. Verpflegungsmehraufwand eines Kraftsportlers Besondere Beachtung verdient die Ernährung eines Sportlers, insbesondere eines Hochleistungssportlers. Steuerlich gilt es, zwischen privaten Ausgaben (auch Nichtsportler müssen sich ernähren) und berufsbedingten Aufwendungen zu unterscheiden. Ein illustratives Beispiel bietet das BFH-Verfahren X R 40/11. Der dortige Kläger war Gewichtheber und Mitglied der ersten Bundesligamannschaft. Von seinem Sportverein hatte er erhebliche Zahlungen erhalten, die das FA als Einnahmen aus Gewerbebetrieb ansah. Der Kläger machte in dem Rechtsstreit u. a. geltend, er habe wegen seines Sports einen erheblich höheren Kalorienverbrauch mit Mehrkosten für die Verpflegung von etwa 400 – 500 E monatlich. Diese seien als Betriebsausgaben zu berücksichtigen. 40
Ebenso wohl auch FG Thüringen, EFG 2019, 1386. So auch Weber-Grellet (Fn. 9), § 22, Rn. 150, Stichwort „Preise“. 42 BFH, BStBl II 2010, 672. 41
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Der BFH entschied, dass die dem Grunde nach unstreitigen Verpflegungsmehraufwendungen nicht als Betriebsausgaben nach § 4 Abs. 4 EStG bzw. Werbungskosten nach § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG abgezogen werden könnten, auch wenn sie auf einem aufgrund des Sports in Quantität und Qualität erhöhten Nahrungsbedarf beruhten. Der BFH konnte es dahinstehen lassen, inwieweit dieses Ergebnis bereits auf § 12 Nr. 1 Satz 1 EStG oder § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG beruhen könnte. Die Nichtabziehbarkeit folge jedenfalls aus § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 5 Satz 1 EStG, ggf. i. V. m. § 9 Abs. 5 EStG. Danach werde außerhalb der Pauschalen des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 5 Sätze 2 bis 6 EStG der Abzug von Verpflegungsmehraufwendungen, auch wenn es sich dem Grunde nach um Betriebsausgaben handeln sollte, ausdrücklich ausgeschlossen. Die Vorschrift eröffnet – so der BFH – insoweit keine Spielräume. Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung hatte der BFH nicht. Verpflegungsaufwendungen seien auch dann, wenn sie eine betriebliche oder berufliche Komponente enthielten, ausnahmslos gemischt veranlasst, da jede Nahrungsaufnahme für sich genommen jedenfalls zu einem gewissen Teil auch den – privaten – Grundbedarf des Menschen decke.43 2. Versicherungsbeiträge eines Profisportlers Manche Sportarten sind gefährlich. Viele Sportler versuchen, sich durch den Abschluss von Versicherungen vor den Konsequenzen eines frühzeitigen Karriereendes abzusichern. Ob Ansprüche und Verpflichtungen aus einem Versicherungsvertrag zum Betriebsvermögen des gewerblich tätigen Sportlers gehören, beurteilt sich grundsätzlich nach der Art des versicherten Risikos. Bezieht sich die Versicherung auf ein betriebliches Risiko, führt sie zu Betriebsausgaben und Betriebseinnahmen; ist dagegen ein außerbetriebliches Risiko versichert, können Ausgaben allenfalls als Sonderausgaben i. S. von § 10 Abs. 1 Nr. 3a EStG44 berücksichtigt werden, während die Einnahmen (die Versicherungsleistungen) nicht steuerbar sind. Danach stellen Gefahren, die in der Person des Betriebsinhabers begründet sind, wie etwa das allgemeine Lebensrisiko, zu erkranken oder Opfer eines Unfalls zu werden, grundsätzlich außerbetriebliche Risiken dar, während Gefahren, die betriebliche Risiken abdecken, dem betrieblichen Bereich zuzuordnen sind. Das Risiko krankheits- oder unfallbedingter Vermögenseinbußen ist bei wertender Betrachtung der privaten Lebensführung zuzurechnen. Dies gilt jedoch nicht, wenn durch die Ausübung des Berufs ein erhöhtes Risiko geschaffen wird und der Abschluss des Versicherungsvertrages entscheidend der Abwendung dieses Risikos dient. Daher sind Beiträge zu Versicherungen, die Schutz gegen spezielle berufs- oder betriebsspezifische Gefah-
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BFH, BStBl II 2012, 511. Dabei sind aber die Grenzen des § 10 Abs. 4 EStG zu beachten.
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ren gewähren, als Betriebsausgaben abziehbar.45 Bei Sportlern dürften dies vor allem Beiträge für eine Sportinvaliditätsversicherung sein. 3. Steuerfreie Sonntags-, Feiertags- und Nachtzuschläge eines Profisportlers Da die Veranstaltungen und Wettkämpfe eines Profisportlers oft am Wochenende stattfinden, stellt sich natürlich die Frage, ob er nicht auch von der Steuerbegünstigung der steuerfreien Sonntags-, Feiertags- und Nachtzuschläge gemäß § 3b Abs. 1 EStG profitieren könnte. Die Zuschläge für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit sind in Höhe der in § 3b Abs. 1 genannten Vomhundertsätze (25 %, 125 % oder 150 %) steuerfrei, angewandt auf den Grundlohn. Dies ist der laufende Arbeitslohn, der dem Arbeitnehmer bei der für ihn maßgebenden regelmäßigen Arbeitszeit für den jeweiligen Lohnzahlungszeitraum zusteht (§ 3b Abs. 2 Satz 1 EStG). Bis 2003 konnten Profisportler mit hohen Einkünften in erheblicher Weise von dieser Befreiungsvorschrift profitieren.46 Durch das Steueränderungsgesetz 2003 wurde die Steuerfreiheit jedoch auf einen maximal zugrundezulegenden Stundenlohn auf 50 E (d. h. circa 100.000 E Jahresarbeitslohn) begrenzt.47 In einem noch nicht rechtskräftigen Verfahren hatte das FG Düsseldorf48 Zahlungen zu beurteilen, die im Zusammenhang mit Hin- und Rückfahrten zu auswärts stattfindenden Terminen an Profisportler bzw. Betreuer geleistet wurden. Das FA meinte, für die Beförderungszeiten im Mannschaftsbus könnten keine steuerfreien Zuschläge geleistet werden. Der Verein war dagegen der Ansicht, dass seine Arbeitnehmer während der Reisezeiten tatsächliche Arbeit i. S. d. § 3b Abs. 1 1. Halbsatz EStG leisteten. Die Fahrtzeiten gehörten zu den arbeitsvertraglich geschuldeten Arbeitszeiten. Spieler sowie Betreuer seien zu der Teilnahme an Fahrten in dem vom Arbeitgeber bestimmten Transportmittel verpflichtet. Tatsächliche Arbeit liege bei den Fahrtzeiten unabhängig davon vor, ob während der Fahrten weitere Tätigkeiten, wie z. B. die Teilnahme an Videoanalysen, Spiel- und Taktikbesprechungen, Einzelanalysen etc. stattfänden. Das FG Düsseldorf gab dem Verein Recht. Fahrzeiten seien jedenfalls dann als vergütungsrechtliche Arbeitszeiten zu behandeln, wenn die Dienstreise vom Arbeitgeber angeordnet worden sei und der Arbeitnehmer aufgrund dessen über die auf die Dienstreise entfallenen Zeiten nicht selbst verfügen könne, er also weder eine Pause i. S. d. Arbeitszeitgesetzes noch Freizeit habe. Es seien auch keine Anhaltspunkte für vom Gesetzgeber gewollte Beschränkungen bezüglich der zu begünstigten Berufs45 Höchstrichterliche Rechtsprechung, vgl. BFH, BFH/NV 2012, 722; BStBl II 2010, 168; BFH/NV 2010, 192; vgl. dazu auch Nöcker, in: Bordewin/Brandt, Einkommensteuergesetz, Kommentar, § 4 Rn. 330, Stichwort Versicherungsverträge. 46 Vgl. BT-Drucks. 15/1945, S. 7 f. 47 Steueränderungsgesetz vom 15. 12. 2003, BGBl I 2003, 2645. 48 FG Düsseldorf, EFG 2019, 1662. Die Revision ist beim BFH unter dem Aktenzeichen VI R 28/19 anhängig.
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gruppen bzw. bezüglich der ausgeübten Tätigkeiten erkennbar, sodass auch Profisportler in den Genuss dieser Steuerbefreiung kommen könnten. Fazit Dieser kurze Beitrag zeigt, wie schnell bei einem Sportler ertragsteuerrechtliche Probleme auftreten können. Er sollte die steuerlichen Fragen nicht ignorieren, sondern ihnen ebenso wie dem täglichen Training ausreichend Zeit und Engagement widmen. Ansonsten könnten ihn die Versäumnisse später mit Steuernachzahlungen und Zinsen einholen. Dies gilt es zu vermeiden.
Über Haltung und Zivilcourage in bewegten Zeiten Ein philosophisches Plädoyer Von Maximilian Forschner 1. Zur Konjunktur des Wortes „Haltung“ Das Wort „Haltung“, ehedem eher selten und meist nur in ernsthaften Zusammenhängen verwendet, erlebt seit einiger Zeit eine etwas fragwürdige Konjunktur. Jüngst hat seinen erhöhten Verwendungswert gar die Modebranche entdeckt.1 Die Philosophie scheint noch auf der Suche nach einem prägnanten Profil seiner Bedeutung zu sein.2 Auf dem Markt parteipolitischer Werbung ebenso wie bei Demonstranten partikulärer politischer Interessen in ihrem Kampf um öffentliche Aufmerksamkeit, Zustimmung und Gefolgschaft ist es schon etwas länger in wenig gehemmtem Gebrauch.3 Das Wort konnotiert üblicherweise positive Assoziationen: Man schätzt es, wenn jemand in prekären Situationen Haltung beweist oder Haltung bewahrt. Wo für etwas geworben wird, hat der Werbende bei den Umworbenen offene oder latente Wünsche und Bedürfnisse im Auge. Wo für oder gegen etwas demonstriert wird, werden bedrohte oder vernachlässigte Anliegen eingeklagt und tatsächlich oder vermeintlich bestehende Missstände angeklagt. Sehen wir von der durchsichtig interessengeleiteten und mehr oder weniger deutlich manipulativen Sprache ökonomischer oder politischer Rhetorik und einer im Dienst politischer Correctness stehenden journalistischen Volkspädagogik einmal ab. Bereits die etwas schiefe, der öffentlichen Demonstrationspraxis und politischen Kampfsituation entlehnte Parole vom „Haltung zeigen“ nach dem Vorbild der Parole vom „Flagge zeigen“ mahnt uns zu erhöhter Vorsicht und Zurückhaltung. Eine Haltung, die jemand besitzt, so verstehen wir das traditionsreiche Wort hoffentlich alle noch, erweist sich doch selbstverständlich in allem, was man denkt, sagt und tut;4 sie 1 Vgl. Frankfurter Allgemeine Quarterly, Ausgabe 02/2020: Das modische Titelbild trägt die Unterschrift: „MEHR HALTUNG WAGEN! So setzen sich Sinnlichkeit, Phantasie, Qualität und Genie gegen Kommerz und Massenware durch: Neun Thesen, wie die Mode wieder Bedeutung und Glanz gewinnt.“ 2 Vgl. etwa Politycki/Sommer, „Haltung finden“. Weshalb wir sie brauchen und trotzdem nie haben werden, Berlin 2019. 3 Vgl, etwa Leutheusser-Schnarrenberger, Haltung ist Stärke: Was auf dem Spiele steht, München 2017. 4 In diesem Sinn sind meine Überlegungen Herrn Kollegen Vieweg in langjähriger freundschaftlicher Verbundenheit gewidmet.
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kann oder sollte gerade nicht etwas sein, was man aus bestimmten Anlässen zu Demonstrationszwecken zur Schau stellen und im Kampf der Meinungen vor sich hertragen muss. Die wachsende Häufigkeit der Verwendung des Wortes „Haltung“ in der Öffentlichkeit signalisiert indessen ein ernsthaftes Problem, nämlich ein zunehmendes und allmählich tiefgreifendes Unbehagen, ein Unbehagen darüber, dass zu vieles, was man für beständig, für haltbar und erhaltenswert hielt, im Fluss ist, porös wird, zerbricht, hinweggeschwemmt wird oder untergeht. Und es signalisiert ein Unbehagen darüber, dass zu viele Menschen in ihrem Denken und Verhalten keine markante Beständigkeit und Eigenständigkeit mehr aufweisen, sondern sich dem Fluss vorgegebener Meinungen überlassen und sich haltlos den jeweils ansprechendsten oder erregendsten Mächten des Zeitgeistes anheimgeben. Der Strom der Zeit und des in ihm schwimmenden, mit stetig wachsendem technisch-medialem Aufwand vermittelten Geistes schwillt an und scheint übermächtig zu werden. Er bricht offensichtlich zu viele Dämme; er reißt zu viel mit sich; er trifft auf keinen nennenswerten Widerstand mehr. Das Unbehagen bekundet einen offensichtlichen Mangel und eine latente Sehnsucht. Der beschleunigte Wandel, die Wahrnehmung vermehrter Vergänglichkeit, die wachsende Erosion von Selbstverständlichem, die sich steigernde Erfahrung von Unechtem, Scheinhaftem und Bodenlosem weckt den Wunsch nach solchem, was authentisch, beständig und tief verwurzelt ist, was „noch trägt und hält“. Diese Sehnsucht drückt sich aus in vermehrter öffentlicher Beschwörung beständiger, haltbarer, verbindlicher Werte und in vermehrter öffentlicher Werbung für menschliche Haltung, die an diese Werte gebunden ist, die im reißenden, zu vieles deformierenden, medial enthemmten Strom konkurrierender Meinungen die Form bewahrt, den Stand hält, ja, sich in all den Strömungen, Strudeln und Wirbeln des Zeitgeistes als beständig, haltbar und widerständig erweist. 2. Die Form der Tugend als ursprüngliche Bedeutung des Wortes Um zu verstehen, worum es in menschlichen Angelegenheiten wesentlich geht, hilft häufig ein Blick zurück in die Geschichte der Sprache und der Ideen. Das deutsche Wort „Haltung“ entspricht dem lateinischen Wort „habitus“ und dem griechischen Wort „6nir“. Es ist beheimatet in der philosophischen und theologischen Tradition der sogenannten Tugendlehre. Haltung, Habitus, þnir kennzeichnen der Form nach das, was Tugend ist: Nämlich eine feste seelische Verfasstheit, die zu einem bestimmten Denken, Fühlen und Verhalten disponiert. Dabei sollte man bei dem Wort „Tugend“ nicht an die keusche Jungfrau und die sittsame Gattin des 19. Jahrhunderts denken. Das wäre viel zu eng und schief gedacht. Das Wort „Tugend“ meint hier vielmehr dies, dass der Mensch nicht hinsichtlich irgend einer bestimmten Kunst und Fertigkeit, sondern dass der Mensch als Mensch etwas taugt, dass er über eine feste geistig-charakterliche Verfassung verfügt, die ihn dazu befähigt, in all den wechselnden Lebenslagen und Situationen das
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Richtige zu erkennen und zu tun, die ihn dazu befähigt, ein respektables, ein lobenswertes, ein bewundernswertes Leben im Ganzen zu führen.5 3. Das Tugendprojekt der Sophistik Unsere Gegenwart hat vieles mit der Epoche der antiken Sophistik gemein. Zu einem beherrschenden Thema öffentlicher Diskussion wurde Tugend (arete¯) durch die antike Sophistik des 5. und 4. vorchristlichen Jahrhunderts.6 Sie beanspruchte nicht nur, zu wissen, worin sie bestehe und wie man sie erlange, sondern auch, sie der heranwachsenden Polis-Jugend gegen gute Bezahlung so zu lehren, dass sie zu einer erfolgreichen Lebensführung disponiert. Die überzeugende Stärke der sophistischen Idee war, dass Tugend unabhängig von Abstammung und Herkunft ist, dass sie vielmehr durch Lehre und Übung erworben werden kann und muss. Die gefährliche Schwäche ihrer Idee war, die Tugend des Menschen ganz am „Tüchtigsein“ in bestimmten Fachkunden und Künsten und am sichtlichen Erfolg im Bemühen um gesellschaftliche Aufmerksamkeit, Anerkennung und Zustimmung auszurichten. Das sophistische Projekt war nachdrücklich leistungs-, anerkennungs- und karriereorientiert. Die verschiedenen ethischen Entwürfe der antiken Philosophie sind als kritische Auseinandersetzung und Antwort auf die ebenso anregende wie herausfordernde Botschaft und bildungspolitische Praxis der Sophistik zu verstehen. Die durchaus konkurrierenden Philosophen verbindet der Gedanke, dass Tugend, d. h. die Tüchtigkeit des Menschen als Menschen, eine feste seelische Habe und Haltung ist, die zwar auf natürlichen Voraussetzungen beruht, doch im Wesentlichen etwas ist, was man erwerben, was man ausbilden, worum man sich bemühen muss, und dass sie, wenn man sie besitzt, Anerkennung und Bewunderung verdient. Eine Schlüsselrolle im Erwerb, im Ausweis, in der Vermittlung (auch des bloßen Anscheins) von Tugend spielte für die Sophistik die Rhetorik, d. h. die Fähigkeit, mit Worten, insbesondere in gekonnter öffentlicher Rede Aufmerksamkeit zu erregen, die Menschen emotional anzusprechen, für sich einzunehmen, sie für die eigenen Interessen, Absichten und Vorhaben zu gewinnen und zu steuern. Ihre politische Betätigungssphäre war die radikale Demokratie, in der die Versammlung des Volkes, d. h. die Menge aller freien Bürger, unmittelbar über alle wesentlichen gesellschaftlichen und politischen Fragen entschied. Eine Schranke für den Einsatz dieser rhetorischen Fähigkeit sollte die jeweils bestehende, in Tradition, Gesetz und Sitte fixierte Sittlichkeit bilden. Nun löste sich nicht zuletzt eben durch die Bewegung der über alle lokalen und regionalen Polisschranken hinausgreifenden und diese relativierenden Sophistik der tragende Konsens in Fragen des rechtlich, moralisch und 5
Dass Tugend auch mit dem äußeren Habitus, mit der Art und Weise, wie man sich kleidet, wie man spricht und gestikuliert, wie man isst, wie man geht etc. zu tun hat, war in bestimmten Kreisen Roms eine Selbstverständlichkeit und wurde von Cicero in seiner Schrift De officiis unter dem Titel des decorum philosophisch eingehend behandelt. 6 Vgl. dazu Kerferd, The Sophistic Movement, Cambridge 1981; Guthrie, The Sophists, Cambridge 1971.
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religiös Richtigen auf. Dem rhetorischen Können ging so der begrenzende und stabilisierende sittliche Ordnungsrahmen verloren. Die sophistische Tugend erwies sich als ein erlernbares Können ohne sittlichen Halt. Sie erwies sich in ihrer psychologisch verfeinerten Rhetorik als kunstfertiges Geschick, ja als manipulative Gewandtheit, als Gerissenheit und Schläue im Umgang mit der großen, von Emotionen getriebenen Menge der Menschen. Und mit ihr verloren auch die kleinen und großen Fachkunden und Künste, die gut und schlecht gebraucht werden können, ihren normativ bindenden Rahmen und die strukturell bestimmte Schätzung ihres angestammten relativen Stellenwerts im Lebensganzen der politisch organisierten Gemeinschaft. 4. Der philosophische Begriff von Tugend Die Zielrichtung einer kritischen philosophischen Antwort auf das prekäre Tugendprojekt der Sophistik war damit klar; man kann sie in Platons Dialogen, aber auch in Aristoteles‘ ethischen Werken nachlesen: Ohne ein begründetes Wissen darum, was ein menschliches Leben zu einem guten Leben macht, ist die Tugend des Menschen als Menschen nicht zu haben. Der tugendhafte Mensch ist gekennzeichnet durch eine feste seelische Habe und Haltung, nämlich ein grundsätzliches Wissen um das, was wahrhaft gut (und was nur relativ gut) ist, und eine Fähigkeit und Tendenz, dieses Gute im Sinne des in der konkreten Situation Passenden zu erkennen und zu tun. Ein zentrales Thema der antiken Tugenddiskussion war, ob die Vielzahl der Tugenden eine unlösliche Einheit darstellt, oder ob sie getrennt vorkommen können, d. h. ob man etwa tapfer sein kann ohne gerecht zu sein. Die Sophistik vertrat die trennbare Vielheit, die Philosophie mehrheitlich ihre untrennbare Einheit. Die sokratische Tradition suchte den Schlüssel zur von ihr behaupteten Einheit über den Begriff des Wissens um das Gute. Die Vielheit ordnete sie seit Platon nach einem elementaren Schema, dem Schema der später so genannten Kardinaltugenden: Weisheit/Klugheit (sov_a/vq|mgsir) als grundsätzliches ebenso wie situationsbezogenes Wissen um das Gute, Tapferkeit (!mdqe_a) als Wissen und Können bezüglich dessen, was es an Gefährlichem und Schmerzhaftem zu bestehen gilt, Gerechtigkeit (dijaios}mg) als Wissen und Können bezüglich der zu verteilenden, zu teilenden und zu tauschenden Lebensgüter, Besonnenheit (syvqos}mg) als Wissen und Können darum, wie mit den eigenen sinnlichen Trieben und Bedürfnissen umzugehen ist.7 Das Schema umfasste bei Platon ursprünglich fünf Elementartugenden; die Frömmigkeit (eqs]beia/bsi|tgr) wird von ihm später (ab dem Dialog Euthyphron) der Tugend der Gerechtigkeit (im Sinne dessen, was man dem Gott bzw. den Göttern schuldet) zugeordnet.8 Dieses von Platon geprägte viergliedrige Schema
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Vgl. Platon, Politeia IV, 427 e 6 – 11; vgl. 433 b – c; Nomoi I, 631 b ff.; XII, 960 b ff. Vgl. dazu Platon, Euthyphron, Übersetzung und Kommentar von Maximilian Forschner, Göttingen 2013. 8
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der Kardinaltugenden bildete denn auch das kanonische Muster der Gliederung ethischer Abhandlungen bis ins Hochmittelalter und in die frühe Neuzeit hinein.9 Von einer Tugend spricht man, wenn der Geist und der Charakter eines Menschen in bestimmter Hinsicht einen Zustand der Vollkommenheit erlangt hat, wenn er unter allen Umständen „hält“, wenn er gefestigt ist. Tugend ist schwierig zu erreichen; Tugend ist etwas Seltenes. Ein einigermaßen sicheres „äußeres“ Zeichen des Besitzes von Tugend ist, wenn sie sich auch in kritischen Lebenssituationen bewährt. Wer nie in kritischen Lebenssituationen war, sei es in erlebter Todesgefahr oder Todesnähe, in drohendem oder tatsächlichem Verlust der Gesundheit, der nächsten Angehörigen, des Berufes, des Vermögens, des guten Rufes etc., der kann kaum wissen, wie es um den Stand seiner Tugend bestellt ist. Wir tun erfahrungsgemäß gut daran, uns selbst oder anderen nur mit äußerster Vorsicht und Zurückhaltung Tugenden und veritable Haltung zuzusprechen. Und wir tun realistischerweise ebenso gut daran, von uns selbst und von anderen allenfalls ein mehr oder weniger kontrollierbares tugendgemäßes Verhalten zu erwarten. Umso mehr verdient Tugend Lob und Anerkennung, wo sie sich in kritischen Situationen bewährt. Doch Tugend entsteht nicht ohne tugendhaftes Verhalten. Deshalb, aber nicht nur deshalb, verdient schon solches Verhalten Lob und Anerkennung. Das Christentum hat bezüglich dessen, wie man sich zu verhalten hat, was es in der Welt zu tun gilt, keine grundsätzlich neue Ethik entwickelt, sondern das Tugendschema der antiken Philosophie übernommen. Es hat „nur“ die Gesinnung religiöseschatologisch überformt. Und bezüglich der die natürliche Tugendhaltung überhöhenden Gesinnung entwickelt es ihrerseits ein Schema von drei übernatürlichen Kardinaltugenden: den genuin christlichen Tugenden des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe.10 Diese Gesinnungstugenden sind übernatürlich; d. h. sie haben die göttliche Gnade zu ihrer primären Quelle. Man kann sie nicht einfach erwerben noch gar erzwingen; man kann sich für sie nur vorbereiten und öffnen, man kann sie zu stützen und zu bewahren versuchen – mehr nicht. Deshalb verdient der, der in christlicher Einstellung und Haltung glaubt, hofft und tätig liebt, im Wesentlichen kein Lob; man kann und darf ihn vielmehr nur beglückwünschen. Die natürlichen, die genuin menschlichen Tugenden fallen dagegen, metaphorisch gesprochen, nicht vom Himmel. Die Menschen sind zu bestimmten Tugenden von Natur aus bzw. aufgrund ihres biologischen Erbes unterschiedlich veranlagt. Manchen ist eine Prädisposition zur Schreckhaftigkeit, zur Ängstlichkeit, zur Gefräßigkeit, zum Jähzorn, zum Phlegma, zur Selbstbezogenheit, zum Mitleid oder zur
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Vgl. dazu jetzt Korff/Vogt (Hrsg.), Gliederungssysteme angewandter Ethik, Freiburg u. a. 2016. 10 Vgl. dazu schulmäßig Thomas von Aquin, Summa theologiae, pars IIa-IIae: Er behandelt zunächst die christlichen Kardinaltugenden fides, spes und caritas in den Quaestionen 1 bis 46, und dann, in den Quaestionen 47 bis 170 die traditionellen Kardinaltugenden prudentia, iustitia, fortitudo und temperantia.
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Aggression in die Wiege gelegt. Mütter und Väter von kleinen Kindern wissen ein Lied davon zu singen. Aber Tugenden entstehen und wachsen bei allen Menschen im Wesentlichen nicht von Natur und schon gar nicht spielerisch, sondern durch Mühe und Anstrengung, durch langwierige Prozesse der Bildung und Selbstbildung. Nur wohlmeinende, aber in ihrer Naivität und ihrem gesellschaftlich-politischen Einfluss gefährliche Pädagogen konnten auf die Idee kommen, der „rohe“ Mensch, der Naturmensch könne zwang- und herrschaftslos, auf spielerische Weise zu einem zivilisierten, gebildeten, tugendhaften Menschen werden.11 Man unterscheidet (mit Aristoteles)12 sinnvollerweise Tugenden des Geistes (Wissen/Weisheit/Scharfsinn/Klugheit) und Tugenden des Charakters (Tapferkeit, Besonnenheit, Gerechtigkeit), die sich gegenseitig bedingen. Bei den Tugenden des Geistes spielt das sprachliche Lehren und Lernen die zentrale Rolle; bei den Tugenden des Charakters geht es nicht ohne zum Teil auch harte praktische Übung und Gewöhnung. Und es geht bei beiden nicht ohne den äußeren Halt und die Orientierung durch ein gutes Bildungssystem, durch gute Sitten, durch gute rechtliche Institutionen, durch gesellschaftlich vorgelebte und erinnerte großartige oder abschreckende Beispiele. Den Zug des Leichten und Selbstverständlichen nimmt tugendhaftes Handeln erst an, wenn man sich dem Zustand der Tugend genähert hat. Das ist hier ganz ähnlich wie bei den Künsten und Fachkunden, die jemand erlernt und ausübt: Die Lockerheit und das Vergnügen wachsen mit dem Können. 5. Zur Tugend der Tapferkeit Lassen Sie mich noch ein paar Worte zu einer Kardinaltugend sagen, die im Zusammenhang unseres Themas „Haltung“ eine besondere Rolle spielt, zur Tugend der Tapferkeit.13 Tapferkeit lässt sich als jene Einstellung und Verhaltensweise bestimmen, die einen Menschen die als richtig erkannten Ziele und Mittel auch dann verfolgen und ergreifen lässt, wenn dieses Verfolgen mit wirklichen oder erwartbar möglichen Gefahren und Beeinträchtigungen für seine Lebensgüter verbunden ist. Solche Güter mögen Ehre und soziale Anerkennung, Karriere, Macht und Besitz, ja Leib und Leben selbst sein.
11 Vgl. dazu Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Erstes Stück, Akad. Ausg. Bd. VI, 19 – 53. 12 Ich beziehe mich hier vor allem auf die entsprechenden Ausführungen in der Nikomachischen Ethik, Buch II und Buch VI. 13 Vgl. dazu v. a. Platon, Laches; Aristoteles Nikomachische Ethik III, 10 – 12; Thomas von Aquin, Summa theologiae IIa-IIae qu. 123 – 140.
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Tapferkeit ist eine Charaktertugend. Und Charaktertugenden halten, wie Aristoteles treffend diagnostiziert hat,14 strukturell jeweils die vernünftige Mitte zwischen schlechten Extremen. Tapferkeit ist die Tugend des Mutes, der um sittlicher Ziele willen die Empfindungen der Angst, der Furcht und des Schmerzes zu überwinden vermag; sie ist insofern der Feigheit entgegengesetzt. Sie ist als Tugend an vernünftige Überlegung und sittliche Einsicht gebunden und insofern von verblendeter oder dreister Kühnheit unterschieden. Tapfer kann nur sein, wer Sittlichkeit als Endziel anerkennt, wer verwundbar ist und wer um seine Verwundbarkeit weiß. Kinder und Dummköpfe können demnach nicht tapfer sein; auch nicht ideologisierte Fanatiker, die sich und andere ohne Rücksicht auf ihr Leben in die Luft sprengen. Da der Tod die größte Bedrohung des Lebens darstellt und uns aller erwartbaren Güter des Lebens beraubt, bewährt sich Tapferkeit beispielhaft im Angesicht des Todes. So gesehen wird es verständlich, wenn Tapferkeit als die militärische Tugend über lange Zeit primär mit Patriotismus verbunden und als Bereitschaft verstanden wurde, für den Bestand der eigenen politischen Gemeinschaft sein Leben einzusetzen und notfalls auch zu sterben. Doch diese Beschränkung war niemals rational begründbar; unser Verständnis von Tapferkeit hat sich längst und zurecht auf die Sphäre des Alltags ausgeweitet. Zudem wissen wir, dass Tapferkeit sich auch in einem und gegen einen im Einzelnen oder im Ganzen unsittlichen Staat wenden kann. Tapferkeit bewährt sich nach diesem Verständnis sowohl in geduldiger Hinnahme von Unabänderlichem als auch im aktiven, mit negativen Sanktionen rechnenden Einsatz für sittliche Ziele jeglicher Art. Dem „heroischen“ Todesmut, wenn es ihm denn um sittliche Ziele geht, sei nichts von seiner bewundernswerten Größe genommen. Wir tun gut daran, zu hoffen, niemals in eine Lage zu geraten, in der solcher Mut von uns gefordert ist. Und wir tun auch gut daran, im Nachhinein aus bequemer moralischer Lehnstuhlperspektive nicht jene zu verurteilen, die solchen Mut in solcher Lage nicht aufgebracht haben. 6. Über Zivilcourage heute Für unsere gesellschaftliche Alltagspraxis ungleich größere Bedeutung als heroischer Todesmut hat Tapferkeit heute in der Form der Zivilcourage. Zivilcourage kann sich in sehr verschiedenen Formen des Verhaltens bekunden, in Formen des mehr passiven, gar stillen Sich-Verweigerns oder des aktiven Tätigseins, in Formen des bloß verbalen Protestes oder der entschlossenen Tat. Doch ihr Kern ist stets ein und derselbe: Zivilcourage zeigt, wer das als richtig und für das menschliche Zusammenleben wichtig Erkannte gegen einen Strom des Gewohnten, gegen die Meinung der Menge, gegen den Druck der Öffentlichkeit, gegen das Diktat der Bekannten, der Mächtigen, der Einflussreichen und Vielgeehrten zu behaupten wagt und in seiner Person für alle sichtbar zu realisieren trachtet. 14 Vgl. dazu Wolf, Über den Sinn der aristotelischen Mesoteslehre, in: Ottfried Höffe (Hrsg.) Klassiker Auslegen: Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, Berlin 1995, S. 83 – 108.
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Wer Zivilcourage besitzt, bewegt sich nicht in den Bahnen des Üblichen; er zeigt Individualität und individuelle Stärke. Wer Zivilcourage an den Tag legt, nimmt das Risiko wirtschaftlicher oder gesellschaftlicher Nachteile für seine Person in Kauf. Denn die dominanten Instanzen, gegen die er sich mit seinem Verhalten wendet, verstehen sich in aller Regel darauf, unangepasstes Verhalten spürbar zu sanktionieren. Zivilcourage zu entwickeln und an den Tag zu legen wird besonders schwierig und ist besonders nötig, wo in einer politischen Gesellschaft die Verhältnisse so sich gestalten, dass im Rahmen einer mächtigen öffentlichen Meinung das Urteil und der Geschmack der großen Menge oder gut organisierter Gruppen die politischen Entscheidungen und die Moral gesellschaftlicher Wohlanständigkeit bestimmen. Diese Gefahr, der heute gerade eine über öffentliche Medien und die verschiedenen Organe und Kanäle des Internet so stark bestimmte repräsentative Massendemokratie wie die unsere ausgesetzt ist, betrifft vor allem die sogenannten Eliten in der Politik, der Wissenschaft und Kultur, und nicht zuletzt auch die der Kirchen. Die Gefahr ist freilich nicht völlig neu; sie ist mit einer repräsentativen Massendemokratie und den sie begleitenden Medien der sogenannten Öffentlichkeit strukturell verbunden. Ich erlaube mir, den großen englischen Logiker, Nationalökonomen und Philosophen John Stuart Mill (1806 – 1873) aus seiner ungemein aktuellen Schrift On Liberty (Über die Freiheit) von 1859 zu zitieren: „In der Antike, im Mittelalter, und in minderem Maße auch in der langen Übergangszeit von der Feudalität zur Neuzeit war das Individuum eine Macht in sich, und sogar eine erhebliche Macht, wenn großes Talent oder hohe gesellschaftliche Stellung sich damit verbanden. Heutzutage verliert sich der einzelne in der Menge. In der Politik ist es fast trivial zu äußern, dass die öffentliche Meinung heute die Welt beherrsche. Die einzige Macht, welche ihren Namen verdient, ist die von Massen und von Regierungen, solange sie sich zum Organ von Massentendenzen und -instinkten machen. Dies gilt ebenso von den moralischen und sozialen Beziehungen des Privatlebens wie von öffentlichen Unternehmungen. Das Publikum, das die öffentliche Meinung ausmacht, ist nicht überall von gleicher Art […]. Aber immer ist es Masse, d. h. gesammelte Mittelmäßigkeit […]. Ihr Denken wird ihnen geliefert von Leuten, die ihnen sehr gleichen, die das Wort an sie richten oder in ihrem Namen, unter dem Eindruck des Augenblicks, durch die Zeitungen sprechen“.15 Diese Sätze haben gegenwärtig wohl den Geruch des politisch Inkorrekten an sich; und sie sind gewiss etwas zu vereinfacht und plakativ formuliert. Sie sagt allerdings ein entschiedener Verfechter der repräsentativen Demokratie. Dies sagt jemand, der aufgrund einer platonischen, aber engen erotischen Beziehung mit einer verheirateten Frau, die die öffentliche Moral in England damals als Skandal empfand, den Bruch mit der Familie und einen langen Rückzug ins Privatleben in 15 Mill, Über die Freiheit, Stuttgart 1974 (Übers. Bruno Lemke), S. 91. Vgl. jetzt die englisch-deutsche, von Bernd Gräfrath besorgte Ausgabe bei Reclam: John Stuart Mill, On Liberty – Über die Freiheit, Ditzingen 2009.
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Kauf nimmt. Dies sagt jemand, der gegen die ökonomischen Interessen seiner Schicht vehement für die Abschaffung der Sklaverei in den Südstaaten der amerikanischen Union eintritt, und der am 17. Juli 1866 als Abgeordneter von Westminster erstmals in der Geschichte des Parlamentarismus eine Petition für die Einführung des Wahlrechts der Frauen einbringt. Mill wusste sehr genau, dass er den Großteil seiner Wähler mit diesem Antrag vor den beschränkten Kopf stößt. 1868 scheiterte denn auch seine zweite Kandidatur für das Unterhaus. Er nahm dies ganz bewusst in Kauf, nachdem er schon zuvor aufgrund seiner säkularen Einstellung auf ein Ministeramt verzichtet hatte. Von John Stuart Mill, seinem Naturell nach ein eher sanfter, aber hoch reflektierter und entschiedener Mensch, können wir lernen, sich nicht der Menge zu beugen und dem Massengeschmack anzudienen, sondern selbständig zu denken und Zivilcourage zu zeigen. Militärische Tapferkeit wird hoffentlich von uns Zivilisten in Deutschland und in Europa so schnell nicht wieder verlangt. Aber etwas mehr an Zivilcourage könnten wir, denke ich, in unserem Land zur Zeit ganz gut gebrauchen. Der Politikwissenschaftler Hans Maier sprach nach 16jähriger erfolgreicher Tätigkeit als bayerischer Minister für Unterricht, Wissenschaft und Kultus zum Abschied vor den Mitarbeitern seines Hauses von jenen Menschen, die heute einer politischen Partei ihren Lebensunterhalt verdanken und nur die Politik als ihren Beruf kennen. „Solche Menschen haben wenig Widerstandskraft in Krisenfällen. Sie werden immer geneigt sein, das Votum einer Partei vor die eigene Meinung zu setzen, sich von Stimmungen in der Öffentlichkeit beeindrucken zu lassen oder die Zornausbrüche eines Vorsitzenden für Dienstanweisungen zu halten.“16 Als Quereinsteiger in die Politik und gemischt-freiwilliger Aussteiger wusste er am Ende recht genau, wovon er sprach. Veritable menschliche Haltung ist etwas Seltenes, Schwieriges und Großartiges. Wir sollten sehr vorsichtig und zurückhaltend sein, sie uns selbst zu attestieren. Und wir sollten auf jeden Fall davon Abstand nehmen, ihren Wert als billige Münze im häufig banalen Geschäft politischer Werbung oder gesellschaftlicher Diskussion und Auseinandersetzung zu verwenden.
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Maier, Böse Jahre, gute Jahre. Ein Leben 1931 ff., 2. Aufl. München 2011, S. 303.
Digitalisierung Wegbereiter für technischen, wirtschaftlichen und sozialen Paradigmenwechsel Von Heinz Gerhäuser Bei der Konzeption eines Seminars zum Thema „Digitaler Rundfunk“ an der Technischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg wurde schnell klar, dass dieses Thema weit über den rein technischen Aspekt hinaus beleuchtet werden muss, um Antworten auf die dabei auftretenden Fragen geben zu können. Kolleginnen und Kollegen aus der Theater- und Medienwissenschaft, der Theologie, der Kommunikationswissenschaft, der Ethik und der Rechtswissenschaft konnten gewonnen werden, um ein interdisziplinäres Experiment zu wagen. Aus der Praxis beteiligten sich Experten des Bayerischen Rundfunks und der „ARD.ZDF.medienakademie“. Das Seminar wurde im Zeitraum 2003 bis 2018 kontinuierlich weiterentwickelt und schließlich auf den Themenbereich „Digitale Medien“ ausgedehnt. In diesem Kontext konnte ich Herrn Kollegen Vieweg kennen und schätzen lernen. Durch ihn wurden viele rechtliche Fragestellungen erkennbar, die zu sehr interessanten Diskussionen mit den Studierenden geführt haben. Es wurde klar, dass die juristischen Aspekte in die weitere Entwicklung bei der Digitalisierung möglichst frühzeitig einbezogen werden müssen. Das Seminar wurde von Studierenden aus fünf Fakultäten sehr positiv aufgenommen – Experiment geglückt! I. Einleitung – Digitalisierung Umgangssprachlich wird „Digitalisierung“ meist als unscharfer Sammelbegriff verwendet, der Veränderungen durch die Nutzung von informationstechnischen Technologien und Dienstleistungen ausdrücken soll. Mit dem Begriff wird auch ein Transformationsprozess aus dem „analogen Zeitalter“ in das „digitale Zeitalter“ verbunden. Das analoge Zeitalter adressiert dabei eine Vergangenheit, in der weder Digitaltechnik noch digitale Informationen eine Rolle gespielt haben. Aktuell befinden wir uns im digitalen Zeitalter, das weit in die Zukunft wirkt. Je nach Kontext hat der Begriff Digitalisierung eine sehr viel konkretere Bedeutung. In den folgenden Ausführungen liegt der Fokus auf dem technischen Paradigmenwechsel.
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II. Technische Aspekte der Digitalisierung 1. Die Erschließung analoger Informationen für die digitale Nutzung Wir leben in einer Umgebung, die durch analoge Informationsquellen bestimmt wird. Analoge Informationen sind z. B. die Temperatur, Abmessung oder Masse von Festkörpern, Beschleunigung, Luftdruck, Helligkeit, hörbare Luftschwankungen (Schall), Kräfte, magnetische oder elektrische Größen. Damit diese Informationen in der „digitalen Welt“ verarbeitet werden können, müssen sie durch Zahlen repräsentiert werden. Ist die analoge Information zeitlich konstant, dann spricht man von statischer Information (z B. Masse oder Abmessung eines Festkörpers). Diese kann durch eine einzelne Zahl ausgedrückt werden. Bei zeitlich veränderlichen analogen (dynamischen) Informationen (z. B. Temperatur, Luftdruck, Schall, etc.) müssen diese für die weitere digitale Verarbeitung durch eine Folge von Zahlenwerten ersetzt werden. Dieser Vorgang wird in der Informationstechnik als Analog-Digital-Umsetzung bezeichnet, die technische Einrichtung dafür ist ein Analog/Digital-Converter (ADC). Allen analogen Informationen ist gemein, dass sie innerhalb ihrer physikalischen Grenzen jeden beliebigen Wert annehmen können und dass eine zeitliche Veränderung kontinuierlich erfolgt. Beim analogen Thermometer wird dies durch die Länge eines Quecksilberfadens repräsentiert. Im Gegensatz dazu liefert das Digitalthermometer zum Ablesezeitpunkt die Temperatur als Zahlenwert mit endlicher Ziffernzahl (bzw. Nachkommastellen) und damit die Temperatur nur näherungsweise. Durch entsprechend viele Stellen kann dieser Quantisierungsfehler jedoch so klein gemacht werden, dass er für eine praktische Nutzung keine Rolle spielt. Am Beispiel des Temperaturverlaufs über einen 24-Stundentag soll der Vorgang der Digitalisierung näher erläutert werden. Damit die analoge Information der Temperatur, z. B. von einem Computer verarbeitet werden kann, muss der Temperaturverlauf durch eine Folge von Zahlenwerten ausgedrückt werden. Nehmen wir an, dass sich die Temperatur nur sehr langsam über den ganzen Tag in einem Bereich zwischen 15 oC und 25 oC. ändert. Für die Digitalisierung sind nun zwei Entscheidungen notwendig: Wie häufig muss der Verlauf durch „Stichproben“ repräsentiert werden und wie genau muss die Temperatur in Stellen hinter dem Komma dargestellt werden. Für das Beispiel sollte es ausreichen, wenn die Temperatur im Stundentakt auf eine Stelle hinter dem Komma erfasst wird, da die Temperaturänderung im Stundenrhythmus meistens nur Bruchteile eines Grades beträgt. Damit sind bereits die zwei wichtigsten Parameter bei der technischen Digitalisierung beschrieben. Die Diskretisierung (Abtastung) des analogen Signals mit einer ausreichend hohen Abtastfrequenz und die Darstellung mit einer ausreichenden Zahl von Ziffern.
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Die Informationstheorie beantwortet mit dem Nyquist-Shannon-Abtasttheorem1 die Frage, mit welcher Abtastfrequenz fT ein analoges Signal abgetastet werden muss, in dem als höchste Frequenz der Wert fmax vorkommt. f T > 2 f max Bei einem Audiosignal, das auf den Frequenzbereich von 0 Hz bis 20 kHz begrenzt ist, müsste also mit einer Abtastfrequenz von mehr als 40 kHz abgetastet werden. Auf einer Compact Disk z. B. wird das Audiosignal mit 44,1 kHz abgetastet. Im täglichen Leben verwenden wir Zahlen im Dezimalsystem mit den zehn Ziffern 0 bis 9. Im Beispiel der Raumtemperatur mit einer Nachkommastelle, beträgt der kleinste mögliche Abstand zwischen zwei Zahlenwerten 0,1 oC. Durch diese Quantisierung kann, je nach tatsächlichem Analogwert, ein maximaler Fehler von :0,05 oC auftreten. Mit jeder weiteren Nachkommastelle könnte man diesen Quantisierungsfehler um den Faktor 10 verkleinern. 2. Vorteile der digitalen Technik a) Einheitliche Verarbeitung unterschiedlichster Informationen In der Digitaltechnik verwendet man das binäre Zahlensystem mit den Ziffern 0 und 1. Die Reduktion auf nur zwei Zustände ermöglicht sehr einfache Schaltungskonzepte, mit denen logische und arithmetische Operationen realisiert werden können. Aus wenigen Grundschaltungen lassen sich baukastenartig alle erforderlichen Funktionen realisieren.2 Im Gegensatz zur Analogtechnik, bei der je nach Art der Information jeweils eine dedizierte Schaltungstechnik notwendig ist, können bei der Digitaltechnik alle Arten von Informationen mit der gleichen Schaltungstechnik verarbeitet werden. Weiterhin können bei der digitalen Verarbeitung programmierbare Mikrorechner (digitale Signalprozessoren) eingesetzt werden, die auch nachträglich durch Software den Funktionsumfang erweitern oder Anpassungen realisieren können. In der traditionellen Analogtechnik ist diese Flexibilität nicht möglich. b) Hohe Resilienz Ein weiterer Vorteil ist die sehr große Unempfindlichkeit digitaler Schaltungen gegenüber Störungen. Durch die deutlich unterscheidbaren Zustände (z. B. eingeschaltet/ausgeschaltet) ist sichergestellt, dass sich Störspannungen solange nicht 1
Shannon, Claude E., Communication in the Presence of Noise, in: Proceedings of the Institute of Radio Engineers. 37 (1), January 1949, 10 – 21; doi:10.1109/ jrproc.1949.232969. 2 Tietze, Ulrich/Schenk, Christoph/Gamm, Eberhard, Halbleiter-Schaltungstechnik, 16. Aufl. Berlin 2019, S. 619 – 738.
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auf das Ergebnis auswirken, solange sie unterhalb von festgelegten Schwellen bleiben. Aber auch wenn es zu einer Verfälschung der Binärinformation kommen sollte, kann man mit einer fehlerkorrigierenden Codierung die ursprüngliche Information fehlerfrei rekonstruieren. Dies ist ein großer Vorteil gegenüber analoger Technik, wo sich Störungen immer im Ergebnis niederschlagen und wo eine nachträgliche Störungsbeseitigung nicht oder nur mit sehr großem Aufwand möglich ist. Die bei analogen Schaltungen problematischen Einflüsse von Temperatur, Schwankung der Betriebsspannung, Toleranzen bei Bauelementen und Alterungsprozessen spielen bei digitalen Schaltungen praktisch keine Rolle. Während bei digitalen Informationen beliebig oft Kopien von Kopien ohne Verlust möglich sind, tritt beim Kopieren von analogen Informationen mit jeder KopieGeneration eine weiterer Qualitätsverlust ein. Auch eine Langzeitarchivierung von analogen Informationen (Audio, Video, Fotos, etc.) ist immer mit einer Qualitätseinbuße durch Umwelteinflüsse verbunden. Prinzipiell können digitale Informationen unbegrenzt und ohne Qualitätseinbußen archiviert werden, vorausgesetzt, die dazu notwendige technische Infrastruktur (Hardware und Software) folgt dem technischen Fortschritt und die digitale Information wird jeweils auf die aktuellen Systeme übertragen. c) Sehr gute Eignung für mikroelektronische Realisierung Der erste programmierbare digitale Computer Z33 wurde von Konrad Zuse 1941 noch in Relaistechnik erstellt. 1943 wurden im ENIAC4 in den USA arithmetische und logische Funktionen elektronisch mit Vakuumröhren realisiert. Die Transistortechnik fand in den 60er Jahren Eingang in kommerzielle Großrechner (IBM360).5 Aber erst durch die monolithische Integration auf Silizium konnte mit der TransistorTransistor-Logic (TTL)6 und später mit der CMOS-Technologie7 die für die weitere Entwicklung notwendige Miniaturisierung erreicht werden. Die hochgradige Standardisierung bei der digitalen Technik erlaubt eine sehr wirtschaftliche mikroelektronische Implementierung mit höchster Integrationsdichte auf Halbleiterchips. Hier hat die stürmische Entwicklung bei mikroelektronischen Schaltungen bezüglich der Dichte, der zunehmenden Schaltgeschwindigkeit, des ab3
S. nur Rojas, Raúl (Hrsg.), Die Rechenmaschinen von Konrad Zuse, Berlin 1998. Eckert Jr., J. P./Mauchly, J. W./Goldstine, H. H./Brainerd, J. G., Description of the ENIAC and Comments on Electronic Digital Computing Machines, Moore School of Electrical Engineering, University of Pennsylvania, 1945. 5 Davis, E. M./Harding, W. E./Schwartz, R. S./Corning, J. J., Solid Logic Technology: Versatile, High-Performance Microelectronics, IBM Journal, April 1964, S. 102 – 114. 6 Longo, T. A./Feinberg, I./Bohn, R., Universal high-level logic monolithic circuits, 1963 International Electron Devices Meeting, Vol. 9 (1963) S. 66. 7 Wanlass, F./Sah, C., Nanowatt logic using field-effect metal-oxide semiconductor triodes, in: 1963 IEEE International Solid-State Circuits Conference (February 20, 1963). Digest of Technical Papers, Vol. 6 (1963), p. 32 f. 4
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nehmenden Bedarfs elektrischer Leistung und der sinkenden Kosten pro Transistorfunktion ganz wesentlich zur Durchsetzung der digitalen Technik beigetragen
Diagramm 1: Exponentielles Wachstum der Transistorzahlen pro Chip8
Bereits 1965 hat Gordon E. Moore9 diese Entwicklung als exponentielles Wachstum erkannt und eine Verdopplung der Schaltkreiskomplexität alle zwei Jahre vorausgesagt. Später erkannte man eine noch höhere Wachstumsrate (Verdoppelung pro 18 Monate). In der Fachwelt wurde diese Abschätzung als „Moore‘s Law“ zur „self-fulfilling prophecy“. Obwohl das Ende dieser exponentiellen Entwicklung aus physikalischen Gründen schon mehrmals vorausgesagt wurde, gibt es Erwartungen, dass diese Entwicklung auch noch für die nächsten 10 Jahre gilt. Die Entwicklung der Transistordichte pro Chip für Speicher und Mikroprozessoren im Zeitraum 1971 bis 2019 ist in Diagramm 1 halblogarithmisch dargestellt. Aus den dort näherungsweisen linearen Verläufen ist das exponentielle Wachstum gut zu erkennen. Eine derartige Entwicklung über einen Zeitraum von fünf Jahrzehnten ist in der Technikgeschichte einzigartig. d) Neue Möglichkeiten durch digitale Signalverarbeitung Die Werkzeugpalette der Analogtechnik, für die Verarbeitung, Übertragung und Speicherung von analogen Informationen, ist sehr beschränkt und unterliegt den für die Analogtechnik typischen Beeinträchtigungen durch Störungen, Temperatureinflüsse, Toleranzen und Alterung. Bei hohen Anforderungen an die Genauigkeit steigen Aufwand und Kosten überproportional an. 8
Gerhäuser, Heinz, Datenauswahl aus: https://en.wikipedia.org/wiki/Transistor_count. Moore, Gordon E, Cramming more components onto integrated circuits, in: Electronics, Bd. 38, Nr. 8, 1965, S. 114 – 117. 9
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Sehr schnell wird eine Grenze erreicht, bei der durch analoge Technik die Anforderungen nicht mehr erfüllt werden können. Bei der digitalen Signalverarbeitung kann durch eine hohe Zahl von Binärstellen jede beliebige Genauigkeit bei der Berechnung von Algorithmen erzielt werden. Dadurch lassen sich z. B. digitale Filter mit einer Trennschärfe realisieren, die bei analogen Filtern unmöglich ist. Durch die numerische Transformation vom Zeit- in den Frequenzbereich sind weitere Verarbeitungsschritte möglich, die es in der Analogtechnik nicht gibt. Auch bei der Modulation eröffnet die digitale Verarbeitung neue Möglichkeiten. Die Speicherung von digitalen Informationen ist problemlos und aufgrund der hohen Speicherdichten auch für extrem große Datenmengen erschwinglich. e) Digitale Übertragung Ein weiterer wichtiger Baustein für den Siegeszug der Digitalisierung war die digitale Kommunikationstechnik. Erst durch sie wurden eine fehlerfreie Übertragung über große Entfernungen, eine effektivere Ausnutzung vorhandener leitungsgebundener und drahtloser Übertragungsstrecken und eine Reduzierung der dafür notwendigen elektrischen Leistung möglich. Das Internet, dessen Ursprung auf ein Datennetz „Advanced Research Projects Agency Network ARPANET“10 in den USA zurückgeht, mit dem sich 1969 amerikanische Universitäten im Rahmen von Forschungsprojekten vernetzten, begann seinen Siegeszug Anfang der 90er Jahre zur weltweiten Vernetzung. Im Vergleich zu den heute möglichen Übertragungsraten von 100 Mbit/s bis mehreren Gbit/s war der Anfang der digitalen Übertragung mit 300 bit/s auf analogen Telefonleitungen mit Hilfe von Akustikkopplern ein nervenaufreibendes Geduldspiel, das erst durch die Einführung von ISDN (Integrated Services Digital Network)11 praktikabel wurde und sich dann auch für größere Datenmengen eignete. Ab 1997 stand Euro-ISDN in Deutschland flächendeckend zur Verfügung, wurde aber bereits 2019 durch die Umstellung auf „All-IP“, einem internetbasierten Protokoll, abgelöst. Neben der leitungsgebundenen digitalen Übertragung gewann seit den 90er Jahren die drahtlose digitale Übertragung einen immer größeren Einfluss. Der Mobilfunk wurde in mehreren Technik-Generationen implementiert. Während die erste Generation (1G) noch mit analoger Sprachübertragung arbeitete, kam mit der zweiten Generation (2G) ein digitales Netz, mit dem auch Datenübertragung möglich war, zum Einsatz. 2G wurde unter der Bezeichnung GSM (Global System for Mobile
10
Hauben, Michael/Hauben, Ronda, Netizens: On the History and Impact of Usenet and the Internet, IEEE Computer Society Press, Los Alamitos, CA, 1997. 11 Kahl, Peter (Hrsg.), ISDN – Das neue Fernmeldenetz der Deutschen Bundespost Telekom, 4. Aufl. Heidelberg 1992.
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Communications)12 zum Türöffner der erschwinglichen Mobilkommunikation. Die Datenübertragungsgeschwindigkeit betrug am Anfang lediglich 9,6 kbit/s, was die Nutzung erheblich einschränkte. Es folgten mit UMTS (Universal Mobile Telecommunications System)13 die dritte (3G, 384 kbit/s) und mit LTE (Long Term Evolution)14 die vierte Generation (4G, 150 Mbit/s). Wichtigstes Merkmal dieser technischen Weiterentwicklungen war die effektivere Ausnützung der Funkfrequenzen und die Erhöhung der Übertragungsgeschwindigkeit für Daten. Zurzeit befindet sich die Generation G515 in der Einführung. Mit dieser revolutionären Generation werden neben der quantitativen Verbesserung der Übertragungsgeschwindigkeit (bis zu 10 Gbit/s) interessante qualitative Verbesserungen (Quality of Service [QoS]) realisiert. Besondere Bedeutung kommen dabei einer geringen Verzögerungszeit bei der Datenübertragung (Latenzzeiten < 1 ms) und der gleichzeitigen Erreichbarkeit von Milliarden von Endgeräten zu, wodurch eine große Zahl neuer Anwendungen möglich wird. Dazu zählt die problemlose Kommunikation zwischen Geräten, Maschinen und „Dingen“.16 Das Internet der Dinge (IoT) wirft seine Schatten voraus. Als wichtige Verbindung zwischen mobilen Endgeräten und lokalen Netzwerken haben sich „Wireless Local Area Networks“ (WLAN) 17 durchgesetzt. Durch die zunehmend flächendeckende Verfügbarkeit in Ballungsräumen ist damit ein ubiquitärer Zugang zum Internet möglich geworden. Auch beim Ton- und Fernsehrundfunk wird die analoge Übertragungstechnik systematisch durch die digitale Übertragungstechnik abgelöst. Eine störungsfreie Übertragung über große Entfernungen ist nur durch Digitaltechnik möglich. Weitere Vorteile der digitalen Übertragungsverfahren sind die wesentlich effektivere Ausnutzung der ressourcenbeschränkten Frequenzbänder und der deutlich geringere Aufwand elektrischer Energie für die Sender. f) Das World Wide Web In der bisherigen Beschreibung standen die „Transportwege“ des Internets im Vordergrund. Aber erst durch eine standardisierte Organisation des Transports der Daten 12 Eberspächer, Jörg/Vögel, Hans-Jörg/Bettstetter, Christian, GSM, Global System for Mobile Communication: Vermittlung, Dienste und Protokolle in digitalen Mobilfunknetzen, 3. Aufl. Stuttgart 2001. 13 Benkner, Thorsten/Stepping, Christoph, UMTS, Universal Mobile Telecommunications System, Weil der Stadt 2002. 14 Dahlman, Erik/Parkvall, Stefan/Sköld, Johan/Beming, Per, 3G Evolution – HSPA and LTE for Mobile Broadband, 2. Aufl. Amsterdam 2008. 15 https://www.etsi.org/technologies/5G. 16 Glanz, Axel/Jung, Oliver, Machine-to-Machine-Kommunikation, Frankfurt am Main/ New York 2010. 17 Rech, Jörg, Wireless LANs: 802.11-WLAN-Technologie und praktische Umsetzung im Detail, 4. Aufl. Hannover 2012.
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und ihrer Darstellung, dem „World Wide Web“ (WWW),18 hat das Internet seine heutige Bedeutung erlangen können. Bereits 1989 entwickelten Tim Berners-Lee und Robert Cailliau am CERN in Genf mit HTML (HyperText Markup Language), HTTP (HyperText Transfer Protocol), URL (Uniform Resource Locator) und einem Web-Anzeigeprogramm (ein Vorläufer heutiger Web-Browser) die Basis für das WWW. g) Sicherheitsaspekte Seit man mit Schriftzeichen kommuniziert, wurden auch Methoden erfunden, den Inhalt der Botschaften nur für den berechtigten Empfänger zugänglich zu machen. Aber erst mit mathematischen Methoden und digitalen Techniken hat die „Kryptographie“19 den heutigen Stellenwert erzielt. Dabei stehen neben der Geheimhaltung auch der Veränderungsschutz (Integrität), die Urhebererkennung (Authentizität) und die Verbindlichkeit, die das Abstreiten einer Absendung oder eines Empfangs einer Information verhindert. Mit Hilfe der digitalen Signatur ist es möglich, Informationen so zu verschlüsseln, dass der Urheber erkennbar ist und selbst kleinste Änderungen des Inhalts feststellbar sind. Die Kryptographie hat sowohl durch die automatische Auswertung der Datenströme im Internet als auch bei der vertraulichen Archivierung von extrem großen Datenbeständen, sowohl für die Wirtschaft als auch für Geheimdienste und das Militär, eine herausragende Bedeutung erlangt. Parallel zur Entwicklung der digitalen Kryptographie läuft die Entwicklung der Kryptoanalyse.20 Sie befasst sich mit Methoden zum Brechen von Verschlüsselungen. Aktuelle Methoden der Verschlüsselung sind mit entsprechend hohem Computer- und Zeitaufwand zu brechen. Ziel ist es, den Aufwand so groß und die dafür notwendige Zeit zur Entschlüsselung so lang zu machen, wie dies für die praktische Nutzung notwendig ist. Bei dem Wettrennen zwischen Kryptographie und Kryptoanalyse hat jeweils die Seite die besten Karten, die das spezielle Know-how und die technischen Infrastrukturen besitzt. III. Digitalisierung in der Wirtschaft Die in der Volkswirtschaftslehre verwendeten Produktionsfaktoren: Arbeit, Kapital, Boden, und Energie beziehen sich vor allem auf den traditionellen Industriesektor. Mit der zunehmenden Bedeutung des Dienstleistungssektors haben sich als weitere Produktionsfaktoren Wissen und Kommunikation etabliert. Bei der Kommunikation steht das Internet exemplarisch für die weltweite Vernetzung, die eine notwen18 Meinel, Christoph/Sack, Harald, WWW – Kommunikation, Internetworking, WebTechnologien, Berlin/Heidelberg/New York 2004. 19 Beutelspacher, Albrecht/Schwenk, Jörg/Wolfenstetter, Klaus-Dieter, Moderne Verfahren der Kryptographie, 8. Aufl. Wiesbaden 2015. 20 Stamp, Mark/Low, Richard M., Applied Cryptanalysis: Breaking Ciphers in the Real World, Hoboken, NJ, 2007.
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dige Voraussetzung für die Globalisierung war. Eine besonders anspruchsvolle Untermenge des Dienstleistungssektors ist der Informationssektor, der sich durch die Verwendung von informationstechnischer Hardware, Software und durch die Kommunikationsnetze auszeichnet. Wegen der zunehmenden Bedeutung wird der Informationssektor häufig auch als „Quartärer Sektor“ bezeichnet. Praktisch alle Dienstleistungen, die heute erbracht werden, sind mehr oder weniger vom Informationssektor abhängig und damit eng mit digitalen Technologien verknüpft. 1. Dienstleistungssektor 2019 hatte der Dienstleistungssektor in Deutschland einen Anteil von 69,3 % an der Bruttowertschöpfung.21 Durch die Digitalisierung hat sich vor allem im onlineHandel der e-Commerce auf drei Ebenen entwickelt. Auf elektronischen Marktplätzen treffen sich dabei Anbieter und Nachfrager. Im Firmengeschäft (Business-to-Business, B2B) hat sich die, häufig automatisierte, elektronische Beschaffung von Halbzeugen, Werkzeugen und Verbrauchsmaterial etabliert. Bei Geschäften mit dem Endkunden (Business-to-Consumer, B2C) dominiert der Internethandel von Waren und Dienstleistungen. Amazon und Apple führen dabei die Liste der Web-Shops an. Dabei spielen neue Herausforderungen für die Logistik eine wichtige Rolle. Der Kunde erwartet eine sehr schnelle Erfüllung seiner Wünsche. Unmittelbarer Zugriff auf Software bzw. Audio/Video-Content per „download“ funktionieren und „same-day-delivery“ von materiellen Gütern ist inzwischen Realität geworden. Lieferdienste können in Echtzeit ihre Fahrzeuge per Satellitennavigation verfolgen und damit permanent Routen optimieren. Auch Handelsbeziehungen zwischen Privatpersonen (Consumer-to-Consumer, C2C) haben durch die Internetplattformen (z. B. ebay) eine erhebliche Bedeutung gewonnen. Vor allem bei Textilien, Büchern oder Musik ist der online-Handel zur großen Bedrohung von Einzelhändlern geworden und für viele Geschäftsaufgaben verantwortlich. Im Finanzsektor waren die Banken und Börsen frühzeitig von der Digitalisierung betroffen. Das online-Banking wurde mit der Einführung von Bildschirmtext (Btx) auch für den Privatkunden möglich. Die Verbraucherbank (heute Norisbank) hat bereits 1980 in einem Feldversuch der Deutschen Bundespost erstmalig einen onlineBanking-Service angeboten. Inzwischen unterstützen auch zahlreiche bankenähnliche Dienstleister den e-Commerce. Börsengeschäfte, die heute über das Internet von Privatkunden ohne Bankbeteiligung getätigt werden, wären ohne die Digitalisierung undenkbar. Das gilt erst recht für den Hochfrequenzhandel, wo im Mikrosekundenbereich Transaktionen automatisch, durch Algorithmen gesteuert, erfolgen. Neben den staatlich regulierten Wäh-
21 Statistisches Bundesamt, Bruttowertschöpfung nach Wirtschaftsbereichen bis 2019, 2020.
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rungssystemen sind sogenannte Krypto-Währungen22 entstanden (z. B. Bitcoins), deren zukünftige Bedeutung noch nicht abgeschätzt werden kann. Sie beruhen auf der sogenannten Blockchain-Technologie,23 deren Anwendungsbereich viele weitere Geschäftsfälle tangiert. So sollen z. B. Rechtsgeschäfte, die heute einen Notar erfordern, zukünftig über Blockchain-basierte Dienste möglich werden. Viele weitere Dienstleistungen, wie z. B. für den Tourismus, in der Immobilienbranche oder im Gesundheitssektor, erlebten durch die Digitalisierung einschneidende Veränderungen. Planung von Geschäfts- und Urlaubsreisen, einschließlich der dazu notwendigen Buchungen, sind problemlos über das Internet möglich. Bereits von zuhause am Bildschirm kann das Reiseziel bezüglich der Lage, der Umgebung und der Hotelausstattung begutachtet werden. Gästebewertungen erlauben, soweit sie nicht gekauft wurden, nützliche Hinweise zur Qualität der Angebote. Online-Plattformen für den Kauf oder Verkauf von Immobilien verändern das Geschäftsmodell der Immobilienmakler. Versicherungen kann man online abschließen und damit auch ohne Versicherungsmakler kurzfristig einen Schutz erreichen. Im Gesundheitswesen weisen sich Patienten mit der elektronischen Gesundheitskarte eGK gegenüber dem Arzt aus, ab 2021 steht ihnen ihre elektronische Patientenakte ePA zur Verfügung. Ärzte nutzen durch Telemedizin die Kompetenz ihrer Kollegen an anderen Orten und bieten durch virtuelle Sprechstunden per Videokonferenz einen risikofreien Kontakt in Zeiten der Corona-Pandemie. 2. Produzierende Gewerbe Der Anteil dieses Sektors an der Bruttowertschöpfung betrug 2019 in Deutschland einschließlich des Bausektors 29,8 %. Die Digitalisierung in Industrie und Handwerk führte zu einer Qualitätssteigerung, zu einer Verkürzung der Produktionszeiten und zu einer höheren Wirtschaftlichkeit. Im globalen und lokalen Wettbewerb hat sich dies positiv durch entsprechende Marktanteile niedergeschlagen. Die Automatisierung von Produktionsprozessen, verbunden mit hochpräzisen digitalen Mess- und Prüfsystemen, hat den Einfluss menschlicher Fehler reduziert. Dabei führen die automatische Werkzeugüberwachung und andere digitale Diagnoseinstrumente zu einer Früherkennung von Verschleiß und drohendem Ausfall der Produktionsmittel, noch bevor ein Schaden entsteht oder Ausschuss produziert wird. Die Ferndiagnose von weit entfernten Anlagen erlaubt zudem eine rasche Eingrenzung von Problemfällen, die Disposition von Ersatzteilen und ihrer logistischen Bereitstellung. Der Einsatz von Robotern und Handhabungsautomaten in der Fertigung wäre ohne Digitalisierung unmöglich. Dort, wo Menschen und Roboter kooperieren, ist eine sensible digitale Sensorik erforderlich, damit Unfälle sicher vermieden werden. Mit Me22
König, Dominik/Beck, Benjamin, Bitcoin. Der Versuch einer vertragstypologischen Einordnung von kryptographischem Geld, JZ 2015, S. 130 – 138. 23 De Filippi, Primavera/Wright, Aaron, Blockchain and the Law: The Rule of Code, Harvard University Press, Cambridge, MA, 2018.
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thoden der künstlichen Intelligenz entstehen lernende Systeme, die menschliche Kreativität in idealer Weise ergänzen. 3. Der primäre Sektor Die Urproduktion der Land- und Forstwirtschaft und der Fischerei in Deutschland waren 2019 zusammen mit der Gewinnung von Bodenschätzen an der Bruttowertschöpfung nur noch mit 0,9 % beteiligt. Um in diesem Sektor noch Gewinne erlösen zu können, ist eine sehr hohe Produktivität notwendig. Hier spielt die Digitalisierung ebenfalls eine wichtige Rolle. Per Satellitennavigation ist die dezimetergenaue und bedarfsgerechte Düngung, sowie eine minimierte Ausbringung von Pflanzenschutzmitteln möglich. Unterstützt werden die landwirtschaftlichen Produktionsprozesse durch verlässliche digitale Wetterprognosen mit hoher örtlicher Auflösung. Bei der Tierhaltung sorgen Radiofrequenz-Identifikationschips (RF - ID), die zur Markierung der Tiere eingesetzt werden, zur lückenlosen Verfolgung und Dokumentation vom Stall bis zur Ladentheke. Fütterungs-, Melk- und Reinigungsroboter ermöglichen einen sehr hohen Automatisierungsgrad bei geringem Personaleinsatz. Die Direktvermarktung von regionalen Produkten über das Internet, verbunden mit touristischen Angeboten, ist bei kleineren Unternehmen eine interessante wirtschaftliche Ergänzung. Per Satellitenbeobachtung kann die regelkonforme Nutzung landwirtschaftlicher Flächen überwacht werden. IV. Sozialer Bereich, Gesellschaft und Politik 1. „Big Data“ – das neue Gold Die Nutzung der digitalen Dienstleistungen über das Internet, die Verwendung von „Smartphones“ mit zahlreichen Sensoren, die den Benutzern häufig nicht bewusst sind, „Fitness-Tracker“, die mit ihrer Umgebung kommunizieren und Anwendungsprogramme (Apps), deren Kommunikationsverhalten dem Benutzer verborgen bleibt, sorgen dafür, dass permanent große Mengen von Datenspuren entstehen und gesammelt werden. Aber auch in Computern, in PKWs oder Haushaltsgeräten entstehen Daten, die von den Datensammlern genutzt werden.
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Aggregiert man diese Daten, so entsteht ein extrem wertvoller Datenpool, der sehr gut vermarktet werden kann. Firma
Börsenwert
Apple
2.023 Mrd. US $
Saudi Aramco (Öl)
2.002 Mrd. US $
Amazon
1.652 Mrd. US $
Microsoft
1.624 Mrd. US $
Alphabet (Google)
1.075 Mrd. US $
Tabelle 1: Die fünf wertvollsten Firmen der Welt24
Firma
Börsenwert
SAP
170 Mrd. US $
Linde
112 Mrd. US $
Siemens
100 Mrd. US $
Allianz
75 Mrd. US $
Telekom
71 Mrd. US $
Tabelle 2: Die fünf wertvollsten deutschen Firmen
2. Neue Machtstrukturen Tabelle 1 lässt erahnen, wie lukrativ das Geschäft mit Daten ist. Das Geschäftsmodell besteht darin, den Nutzern ein möglichst attraktives und vordergründig nützliches Angebot zu machen, sodass diese bedenkenlos, oft unbewusst und freiwillig ihre Daten zur Verfügung stellen. Mit den daraus resultierenden Datenspuren können sehr umfassende Profile der Nutzer erstellt werden. Je genauer diese Profile den Nutzer beschreiben, um so besser kann das attraktive Angebot individuell und passgenau zugeschnitten werden. Der Nutzer wird auf dieses Angebot noch stärker eingehen und dadurch noch mehr Datenspuren liefern. Ein Kreislauf, der mit der Zeit zu einer immer besseren Profilbildung führt. Naheliegende Kunden für diese Profile stammen aus der Werbeindustrie. Die Werbung kann dadurch personalisiert und zum richtigen Zeitpunkt mit einer hohen Erfolgsquote platziert werden. Aber auch die Konsumgüterindustrie, Verlage, Medienhäuser, Versicherungen, Datenanalysten, Beratungsfirmen, Headhunter, Politiker, Regierungen, Geheimdienste und das Militär beschaffen sich diese Daten. Die Verwendung der Profile erfolgt ohne Kenntnis der Betroffenen. Wer diese riesigen Datensammlungen beherrscht und den Zugang kontrolliert, entwickelt sich zu einer sehr mächtigen Organisation.
24
Stand 26. 08. 2020, Quelle: https://de.statista.com/infografik/22707/.
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3. Vorteile der Digitalisierung für das Individuum Für viele Menschen hat die Digitalisierung mit E-Mail, WhatsApp & Co sehr einfache und bequeme, weltweite Kommunikationsmöglichkeiten geschaffen. Das World Wide Web liefert eine nahezu unbegrenzte Informationsmenge. Bei sorgfältiger Selektion stehen dem Nutzer ein unermesslich reicher Schatz an Wissen, ein einfacher Zugang zu Nachrichten, Musik, Videos, Kunst, historischen Dokumenten und anderen Kulturschätzen, scheinbar kostenlos oder zumindest erschwinglich, zur Verfügung. Mit Suchmaschinen kann dieses Informationsuniversum zielgerichtet erschlossen werden. Filterfunktionen, die persönliche Präferenzen berücksichtigen, erleichtern diese Auswahl. Internethandel und online-Bankgeschäfte sind auch außerhalb der sonst üblichen Geschäftszeiten möglich und manche Behördengänge werden durch e-Government-Dienste überflüssig. Die Archivierung von Informationen unterschiedlichster Art in der „Cloud“ ermöglicht den ubiquitären Zugang zu den Informationen auch mit mobilen Endgeräten. Mit Hilfe der Satellitennavigation und digitalen Karten wurde die Orientierung in fremder Umgebung zum Kinderspiel. Im Bildungsbereich können durch Simulationsprogramme auch sehr komplexe Probleme anschaulich visualisiert werden. Computerspiele, die primär für die Unterhaltung konzipiert wurden, finden Eingang in die Software für Schule und Studium und erleichtern das spielerische Lernen. Soziale Plattformen entwickeln sich zum Treffpunkt für virtuelle Begegnungen und zur Tauschbörse für Erlebnisse und Meinungen. In Pandemie-Zeiten hat die Videokonferenz am PC viele Präsenzmeetings ersetzt und damit zu einer Reduktion der Infektionsgefahr beigetragen. 4. Risiken für das Individuum Zu den Schattenseiten der Digitalisierung gehören die Überforderung der Nutzer durch eine unkontrollierte Informationsflut und der subjektiv erlebte Druck, sich der beschleunigenden Kommunikation nicht entziehen zu können. Dabei kann eine schnelle, unbedachte, heftige Reaktion auf eine unglücklich formulierte E-Mail leicht zu einer Eskalation führen. Die „schnelle Kommunikation“ über Twitter oder WhatsApp hat zu einer Verarmung der benutzten Sprache geführt, Höflichkeit, Stil oder Sorgfalt bezüglich der Rechtschreibung bleiben auf der Strecke. Der damit verbundene Werteverlust wird bagatellisiert. Die Angebote im Internet sind so optimiert, dass sie eine Sogwirkung auf die Nutzer ausüben sollen. Dies führt zu zeitlicher Bindung der Nutzer an den Bildschirm. Im Wettbewerb um die begrenzten Zeitressourcen bleiben dadurch andere Aktivitäten auf der Strecke. Nicht selten kann sich daraus ein Verhalten mit suchtähnlichen Symptomen entwickeln. Beobachtet man die Fixierung von Internetnutzern auf ihre mobilen Geräte, dann wächst die Sorge, dass zwischenmenschliche Beziehungen verkümmern. Neben den weiter oben erwähnten Vorteilen durch wertvolle Inhalte findet man im Word Wide Web auch höchst bedenkliche Inhalte. Gewaltverherrlichung, Rassismus,
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Pornographie, krude Ideologien, Verschwörungstheorien und kriminelle Inhalte können unkritischen Konsumenten erheblich schaden. Als besonders perfide erweist sich eine Entwicklung, wo absichtlich Lügen und Fehlinformationen (Fake News) verbreitet werden. Wenn dies geschickt verpackt präsentiert wird, dann fällt es schwer, den Wahrheitsgehalt einer solchen Nachricht zu verifizieren. Wird diese Information nur häufig genug von scheinbar unterschiedlichen Quellen wiederholt, dann steigt subjektiv der Wahrheitsgehalt. Dies ist das Einsatzgebiet von automatisierten Programmen (Bots), die Aussagen von unterschiedlichen Quellen vortäuschen. Damit ist auch die Manipulation von Meinungen im politischen Raum betroffen. Die amerikanische Präsidentschaftswahl im Jahr 2020 hat dies sehr anschaulich demonstriert. Im Gegensatz zu den hochwertigen traditionellen Medien, die sich um eine ausgewogene Berichterstattung bemühen, sind Suchmaschinen optimiert, den Nutzern bevorzugt das zu zeigen, was diese sehen wollen. Es entsteht dadurch bei den Betroffenen ein zunehmend eingeschränktes Weltbild (Filterblase). Dies erklärt auch die Polarisierung von Ansichten, Meinungen und Einstellungen und fördert die Verbreitung von Verschwörungstheorien. 5. Wachsende Abhängigkeit von digitaler Infrastruktur Die technischen Möglichkeiten durch die umfassende Digitalisierung aller Lebensbereiche hat zu einer sehr komplexen vernetzten Infrastruktur geführt, deren Verletzlichkeit gegen Angriffe gestiegen ist. Ein Ausfall des Internets z. B. hat weitreichende Folgen. Die Nutzer, die das World Wide Web als Ersatz für Ihr Gedächtnis verwenden, hätten ein großes Problem. Gleichzeitig würde seit der Umstellung des Festnetztelefons auf das Internetprotokoll auch dieses nicht mehr funktionieren. Der Ausfall der Satellitennavigation würde viele hilflose Autofahrer in die Irre führen. Elektrische Energieversorgung, Wasserversorgung, Abwassersysteme sind digital vernetzt und damit angreifbar. Obwohl in all diesen Systemen ein hohes Maß an Schutzmechanismen implementiert ist, sind durch die Komplexität der Systeme Sicherheitslücken nur schwer zu finden. Bei der Anwendung krimineller Energie bleibt immer ein Restrisiko. Die Cyberkriminalität im Internet beweist die Verletzlichkeit. Eine düstere Prognose ist, dass in zukünftigen kriegerischen Auseinandersetzungen die Entscheidung durch Cyberwar, unterstützt von ferngesteuerten Waffensystemen und autonomen kämpfenden Robotern, fällt. 6. Bedarf für neue Kompetenzen Was kann man aus den Erkenntnissen lernen? Das Stichwort lautet: Medienkompetenz. Dazu zählt ein Bewusstsein für die Mechanismen der „digitalen Welt“ und eine Sensibilisierung für die Zeit, die durch digitale Medien gebunden wird. Eine weitere notwendige Kompetenz ist die Fähigkeit, den Wahrheitsgehalt von Informationen zu beurteilen und seriöse Quellen zu finden. Bei der Auswahl von Inhalten
Digitalisierung
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muss eine Entscheidungskompetenz entwickelt werden: Was ist für mich förderlich und was ist destruktiv und damit abzulehnen? Durch verführerische und bequeme Angebote, die uns die Digitalisierung beschert, besteht die Gefahr, dass menschliche Fähigkeiten verkümmern. Beispiele sind die Navigationshilfen, Simulationen statt „Selbermachen“ und jederzeit Nachschlagen zu können statt Einprägen. Dies erfordert zukünftig die Kompetenz, diese Verluste zu erkennen und zu kompensieren. V. Zusammenfassung – Juristische Herausforderungen Die Digitalisierung hat in wenigen Jahrzehnten praktisch alle Lebensbereiche beeinflusst und eine extrem große Zahl von Innovationen hervorgebracht. Wie viele andere technische Entwicklungen sind auch diese ambivalent. Neben den offenkundigen Vorteilen und Chancen, können diese Innovationen auch missbraucht werden. Da die Entwickler meist nur die Vorteile im Blick haben, zeigen sich die Risiken und Probleme meistens erst bei der Anwendung und nach längerem Gebrauch. Hier könnte eventuell durch eine engere interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Ingenieuren und Juristen, in einer sehr frühen Phase der Entwicklung, das Missbrauchspotenzial analysiert und minimiert werden. Aktuell erfolgen die juristischen Auseinandersetzungen meist reaktiv. Die Entwicklungen im Rahmen der Digitalisierung haben viele rechtliche Fragen aufgeworfen. Erst relativ spät wurde z. B. klar, dass die Datenspuren, die von Nutzern der digitalen Dienstleistungen verursacht werden, werthaltig sind. Wer ist dann aber der Eigentümer dieser Daten? Wissen z. B. Autofahrer, dass ihre elektronischen Steuergeräte die Daten der zahlreich im Fahrzeug eingebauten Sensoren nicht nur verarbeiten, sondern auch speichern? Je nach Situation können diese Daten bei einem Unfall sehr wertvoll oder belastend für den Fahrer oder auch für den Hersteller sein.25 Smartphones sind weitere sehr effektive Datensammler mit vielen Sensoren. Der Umstand, dass den meisten Nutzern nicht bewusst ist, welche von ihm verwendeten Geräte oder auch Anwendungsprogramme Daten erheben und diese auch weitergeben, erschwert ein Einschreiten gegen den Missbrauch. Interessant wäre eine Art „Urheberrecht“ für die wertvollen Datenspuren, damit wenigstens auch die Urheber vom „neuen Gold“ profitieren. Die Entwicklungen durch Digitalisierung seit der Jahrhundertwende waren atemberaubend. Was in den nächsten zwanzig Jahren – in Verbindung mit künstlicher Intelligenz – möglich sein wird, übersteigt heute unsere Vorstellungskraft.
25 Vieweg, Klaus, Die Auswertung von Fahrzeugdaten bei der Unfallanalyse – Rechtliche Grundlagen und Grenzen, in: Deutsche Akademie für Verkehrswissenschaft e. V. (Hrsg.), 45. Deutscher Verkehrsgerichtstag 2007, Hamburg 2007, S. 292 – 307.
Normschöpfung und Europäisches Vertragsrecht Eine Vogelflugperspektive auf die Hauptentwicklungen Von Stefan Grundmann I. Einleitung Der Jubilar ist Künstler und Freund von Innovation. Das von ihm gegründete Institut für Technikrecht hat er zu einer Institution geformt, die selbst mehrfach durch Festschriften geehrt wurde.1 In manchem griff er Themen, die das folgende Jahrzehnt beherrschen sollten, schon am Beginn der Diskussion auf und prägte es, etwa das heute allgegenwärtige Thema der Daten.2 Dennoch erscheint mir noch grundlegender: Der Weg von den geistesgeschichtlichen Bezügen – auch etwa im Kontext des Technikrechts –3 führte ihn vor allem immer wieder zu einer Frage: derjenigen des Einflusses der Technik auf die Normsetzung, dem eigentlichen Ursprung von Technikrecht, denjenigen Entwicklungen, die im Fokus des Fortschritts stehen. Aufbauend auf seiner großen Habilitationsschrift4 blieb dies ein „Lebensthema“, zu den verschiedensten Aspekten, etwa dem Phänomen des „Nachhinkens“ des Rechts hinter der technischen Entwicklung (sog. „legal lag“).5
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Vgl. – beide erschienen bei C. Heymanns (Köln): Vieweg (Hrsg.), Spektrum des Technikrechts – Referate eines Symposiums aus Anlaß des 10jährigen Bestehens des Instituts für Recht und Technik in Erlangen, 2002; Vieweg (Hrsg.), Festgabe Institut für Recht und Technik – Erlanger Festveranstaltungen 2011 und 2016, 2017 (Jubiläen zum 20- und 25-jährigen Bestehen des Instituts), darin etwa Grundmann, Technische Innovation und Vertragsrecht – Eine Skizze, S. 19 – 38. 2 Vgl. Vieweg/Gerhäuser (Hrsg.), Digitale Daten in Geräten und Systemen, 2010. 3 Vgl. die Einladung an seinen Jenenser Namensvetter Vieweg, Zur Aktualität des philosophischen Begriffs des Rechts bei Hegel, in: Vieweg (Hrsg.), Festgabe Institut für Recht und Technik (o. Fn. 1), 2017, S. 203. Sicherlich fünf bis zehn Jahre früher erinnere ich ein Gespräch, in dem der eine Klaus Vieweg über das Werk des anderen Klaus Vieweg und Hegel mit Begeisterung erzählte. 4 Vieweg, Normsetzung und -anwendung deutscher und internationaler Verbände – eine rechtstatsächliche und rechtliche Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der Sportverbände, 1990. 5 Speziell hierzu – neben den Nachw. o. Fn. 1 – etwa Vieweg, Zur Einführung: Technik und Recht, JuS 1993, 894, bes. 896; ders., Reaktionen des Rechts auf Entwicklungen der Technik, in: Schulte (Hrsg.), Technische Innovation und Recht – Antrieb oder Hemmnis? 1997, S. 35; und breiter ders., Technik und Recht, FS Lukes 2000, S. 199; Vieweg (Hrsg.), Techniksteuerung und Recht, 2000.
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Der Jubilar ist zugleich Freund des Lebens, der Kunst und Internationalität. Als ehemaligem Kollegen an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, als Sportsfreund und als Gedankenreisendem durch die Welt des Europäischen Vertragsrechts6 seien ihm daher Überlegungen zu der Frage zugedacht, wie die Veränderungen in den Rahmenbedingungen in Technik, Gesellschaft und Welt, die sich über die 40 Jahre seines Wirkens vollzogen, zugleich auch die Idee von „Normen“ in Europa verändert haben.7 „Normschöpfung und Europäisches Vertragsrecht“ sei daher das Thema – dies, so die Vorgabe, in der sehr gedrängten Form einer Vogelflugperspektive auf die großen Trends. II. Recht zwischen Staat und Vertrag – Ältere und neuere Sichtweisen In einem Brennglas betrachtet, kann man die Entwicklung des letzten halben Jahrhunderts zusammenfassen als eine von einem „one-government“-Vertragsrecht (bis hinein in die 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts) zu einem Recht einer „complex governance“ gerade auch im Vertragsrecht – mit vielen Regelungsebenen, Regelsetzern und einem Geflecht maßgeblicher Akteure.8 Dabei handelt es sich zu einem Gutteil 6
In Diskussion und Anschauung war Klaus Vieweg „zugegen“ bei der Entstehung u. a. folgender Publikationen: Grundmann/Stuyck (Hrsg.), An Academic Green Paper on European Contract Law, 2002; Collins (Hrsg.), The Forthcoming EC Directive on Unfair and Commercial Practices – Contract, Consumer and Competition Law Implications, 2004; Grundmann/Mazeaud (Hrsg.), General Clauses and Standards in European Contract Law, 2006; Grundmann/Schauer (Hrsg.), The Architecture of European Codes and Contract Law, 2006; Grundmann (Hrsg.), Constitutional Values and European Contract Law, 2008; Grundmann/ Atamer (Hrsg.), Financial Services, Financial Crisis and General European Contract Law – Failure and Challenges of Contracting, 2011; Grundmann/Cafaggi/Vettori (Hrsg.), The Organizational Contract – From Exchange to Long-Term Network Cooperation in European Contract Law, 2013; Rutgers/Sirena (Hrsg.), Rules and Principles in European Contract Law, 2015; Grundmann (Hrsg.), European Contract Law in the Digital Age, 2017; Collins (Hrsg.), European Contract Law and the Charter of Fundamental Rights, 2018; Grundmann/Grochowski (Hrsg.), European Contract Law and the Creation of Norms, 2021; Grundmann/ Sirena (Hrsg.), European Banking Union and Contract Law, im Erscheinen – sowie vier Sonderhefte in der European Review of Contract Law zu stark tagesaktuellen Themen in der Society of European Contract Law (2007, 239 – 361 [CFR-Optionen]; 2008, 223 – 454 [DCFR]; 2011, 115 – 398 [Optional Code]; 2013, 287 – 454 [European Contract Law and Property Rights – Parallelveröffentlichung im European Property Law Journal]). 7 Mit dem vorliegenden Beitrag für Klaus Vieweg wird – dann in englischer Fassung – zugleich eingeleitet in die Veröffentlichung der Jahrestagung der Society of European Contract Law (SECOLA) in Warschau – vgl. o. Fn. 6. Dort unter dem Titel „The Creation of Norms – an Evolutionary View on European Contract Law“ und mit geändertem Zuschnitt (S. 3 – 43, mit Mateusz Grochowski), dort auch deutlich breiter das internationale Schrifttum. 8 Bahnbrechend Williamson, Transaction-Cost Economics: The Governance of Contractual Relations, 22 Journal of Law & Econ. 233 (1979); hierzu und den Kontexten sowie späteren Entwicklungen: Grundmann, in: Grundmann/Micklitz/Renner, New Private Law Theory – a Pluralist Approach, CUP 2021, Kap. 3 und 17; vgl. auch breite interdisziplinäre Zusammenstellung in: Grundmann/Möslein/Riesenhuber (Hrsg.), Contract Governance – Dimensions in Law and Interdisciplinary Research, OUP 2015.
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um eine globale Entwicklung, es lassen sich jedoch auch zentrale Entwicklungen hierbei ausmachen („Juwelen“), die die Europäische Entwicklung nochmals gesondert auszeichnen (Verfassungsrecht als Vertragsinhalt [unten III.], Optionales Regime [unten V.], auch der EuGH als Regelsetzer, hier freilich aus Platzgründen nur gestreift [unten VI.]). Im Folgenden wird all dies jedoch eher einer inhaltlichen Logik folgend vorgetragen als geordnet nach Jurisdiktionen oder Regionen. Natürlich ist die Entwicklung einer längerfristige, das berühmte – noch stärker auf die Kodifikation fixierte, jedoch auch auf das Primat des Gesetzgebers und damit zugleich auf die Gewaltenteilung verpflichtete – Bild des Richters, der nur als Sprachrohr des Gesetzgebers fungiert („la bouche qui prononce la loi“), aus den Jahren um die Französische Revolution prägt den Ausgangspunkt der modernen Entwicklung (ebenso wie die Kodifikationen dieser Ära). Die alte law merchant fristete allenfalls ein Schattendasein und wirkte – mit wahrer rechtstheoretischer Schlagkraft – frühestens wieder in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts und zwar auf der Grundlage von Privatautonomie und Internationalisierung, namentlich der Praxis: In den 1960er wurde wieder das – vorher bereits vorhandene – Phänomen einer lex mercatoria als wahrer Rechtsquelle prominent postuliert und konzeptionalisiert, namentlich durch die (französischen bzw. deutsch-britischen) Gelehrten-Praktiker Bertold Goldman und Clive Schmitthoff.9 Neben „freischwebenden“ Konzepten wie bei diesen beiden Autoren (allein fundiert in einer absolut genommenen, nicht aus staatlichem/positivem Recht legitimierten Privatautonomie und Praxis) gab es auch solche, die in Völkerrechtsquellenlehre oder EU-Grundfreiheiten-Dogmatik fußten.10 Parallel wurde diese Richtung auch dadurch unterstützt, dass Delegationen von staatlichgesetzgebender Kompetenz zunehmend offen zu finden waren, im Bereich Standardisierung, Selbstregulierung, die staatliche Regulierung jedenfalls de facto zurückdrängt, oder über die kollisionsrechtlichen Rechtswahlmöglichkeiten (unten V. und VI.). Auf der anderen Seite des Atlantiks legte praktisch zeitgleich der Diplomat und Gelehrte Philip Jessup mit dem Konzept eines transnationalen Rechts machtvoll Grund für eine Sicht, in der nicht allein Völkerrecht, sondern ein Konglomerat an Rechtsquellen und Regelwerken die Wirklichkeit von internationalem Handel und
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Goldman, Frontières du droit et lex mercatoria, Archives de philosophie du droit 1964, 177; Schmitthoff, International Business Law. A New Law Merchant, 2 Current Law and Social Problems 1961, 129; breiter Literaturüberblick bei Berger, Einheitliche Rechtsstrukturen durch außergesetzliche Rechtsvereinheitlichung, JZ 1999, 369; stärker konzeptionell: Mertens, Nichtlegislatorische Rechtsvereinheitlichung durch transnationales Wirtschaftsrecht und Rechtsbegriffe, RabelsZ 56 (1992), 215. 10 Auf der Grundlage von Art. 38 IGH-Statut: Grundmann, Lex mercatoria und Rechtsquellenlehre – insbesondere die Einheitlichen Richtlinien und Gebräuche für Dokumentenakkreditive, JJZ 1991, 43; und für den Binnenmarkt, gestützt auf die EU-Grundfreiheiten: ders., General Principles of Private Law and Ius Commune Modernum as Applicable Law? FS Buxbaum 2000, S. 213.
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Unternehmertum („multinational enterprise“ – und eben nicht jurisdiktionell aufgegliederter Konzern) zum Gegenstand hatte.11 Sowohl die Fokussierung auf diese (an sich schon damals nicht neuen) Phänomene als auch insbesondere die Prägung des Begriffs eines „transnationalen Rechts“ entfaltete dann über das letzte halbe Jahrhundert machtvoll Wirkung – etwa damit, dass dieser Raum zu „konstitutionalisieren“ sei, dass in ihm ein Wettbewerb der Regelgeber ausgelöst werden könne, jedoch auch, dass in diesem transnationalen Raum eine übergreifende Unternehmensverantwortung (Corporate Social Responsibility) herrschen müsse. Das wohl wichtigste Einzelelement für die Eröffnung dieser „transnationalen Regelsetzerfreiheit“ liegt m. E. in einer machtvoll ausgeweiteten kollisionsrechtlichen Rechtswahlfreiheit. Für die EU gilt sie – als sog. loi uniforme – global, in allen Transaktionen unbeschränkt (Art. 3 Rom-I-VO), soweit sie ohne Verbraucher durchgeführt werden und nicht die Grenzen der Regulierung im öffentlichen Interesse (sog. Eingriffsnormen) tangieren (vgl. Art. 6 und 9 Rom-I-VO) – letzere grds. immer eingreifend, wenn eine Transaktion den Markt betrifft, für den diese Eingriffsnorm erlassen wurde (Auswirkungsprinzip). De jure besteht hier eine Freiheit, jedes Recht zu wählen, auch ein gänzlich unberührtes, wenn der Fall signifikante grenzüberschreitende Elemente aufweist, also auch das liberalste Recht, etwa ohne AGB-Kontrolle etc., de jure auch jedes (nichtstaatliche) Regelwerk überhaupt, auch privat gesetzte, wenn nur eine Schiedsklausel gewählt wird (mit Adjudikation „ex aequo et bono“).12 Dies ist – rechtlich – der Urboden für eine weit eröffnete „transnationale Regelsetzerfreiheit“, beschränkt primär (nur) durch die genannte Anwendung von Regulierung im öffentlichen Interesse. Daneben tritt eine spezifisch soziologische oder sozialwissenschaftliche Komponente und Entwicklung, die vergleichbar diesen Boden bereitet hat, auf die noch zurückzukommen sein wird (unten III. a. E.). III. Verfassung und Verfassungswerte als Vertragsrechtsgehalte Der größeren Freiheit stehen verstärkte Schutzmechanismen, zunehmend konstitutionell gegründet, gegenüber – wieder im nationalen, heute jedoch auch im europäischen oder transnationalen Raum. Wäre etwa vor 50 Jahren denkbar gewesen, dass auf der Grundlage des kaufrechtlichen Mängelbegriffs Produkte, die im globalen Süden mit Kinderarbeit, unter menschenunwürdigen Bedingungen oder massiven Umweltschäden hergestellt wurden, für entsprechend orientierte Konsumentengrup11 Jessup, Transnational Law, 1956; zu Buch, Konzept und Fortentwicklung näher Renner, in: Grundmann/Micklitz/Renner, New Private Law Theory (o. Fn. 8), Kap. 25. Für weitere Einflussfaktoren – von einer stärker aktivitistischen Haltung der Richter bis hin zu den Internetplattformen als Regelsetzern, die einer Diversifikation bei den Regelsetzern Vorschub leisteten, Grundmann/Grochowski (o. Fn. 7). 12 Nachweise für all diese – im Kern unbestrittenen – Elemente und Aussagen bei Grundmann/Grochowski (o. Fn. 7). Dort auch dazu, wie selbst alte Kodifikationsländer (wie Deutschland und Frankreich) auf diese Regelsetzerfreiheit reagieren.
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pen als nichts vertragsmäßig eingestuft werden und so ein Rückgaberecht begründet sein könnte? Wäre es denkbar gewesen, dass fehlende Aufklärung beim Abschluss von Kreditverträgen (in Form „verantwortungsbewusster Kreditvergabe“) als Verfassungsverstoß qualifiziert wird, weil solch fehlende Aufklärung nicht ganz fernliegende Insolvenzgefahren begründet? Zwar ist ein Teil der hierbei eingesetzten Instrumente durchaus in staatlichem oder hoheitlich-supranationalem Recht verankert, die Bandbreite geht jedoch weit darüber hinaus, etwa bei transnational auf der Grundlage von Resolutionen u. ä. geformten Rechtsüberzeugungen, aber auch, wenn Menschenrechts- oder Umweltwertungen von Kunden Rechtsrelevanz zugesprochen wird. Und in jedem Falle treten für das Privatrecht „neue“ Regelsetzer – auch etwa der Verfassungsgesetzgeber – auf den Plan. Drei Hauptstränge stechen hervor. Der erste fußt im Konzept von „Fairness“ oder „Treu und Glauben“ – in den verschiedenen Rechtsordnungen sehr unterschiedlich weitgehend als überwölbendes allgemeines Prinzip verstanden –13 und damit formal durchaus im staatlichen Privatrecht. Dennoch ist auf der Grundlage dieses Prinzips – wieder verschieden stark in verschiedenen Rechtsordnungen, als Gesamttrend international jedoch überall machtvoll – eine Verdichtung der gegenseitigen Rücksichtnahmepflichten über das letzte halbe Jahrhundert zu beobachten, die zugleich einen fundamentalen Bruch in der Konzeption von Privatrechtssetzung bedeutet. Man denke nur an die Entwicklung des gesamten Bereichs der AGB-Kontrolle aus diesem Prinzip heraus oder auch an den Großkomplex der Aufklärungspflichten, entwickelt auf derselben Grundlage. Damit werden die jeweiligen Vertragspartner für die Vertragsgestaltung und -vorbereitung de facto in einem Maße in Anspruch genommen, das den durch bloße Zustimmung geschlossenen Vertrag (reine zustimmende Willenserklärung) nur noch zu einem Teil als Produkt des dispositiven Rechts, zu einem Großteil hingegen als Ausfluss von (zwingend notwendiger, unabdingbarer) privater Rechtsgestaltung erscheinen lässt. Nicht von ungefähr ist vieles, was das Bundesverfassungsgericht in das Vertragsrecht kraft Verfassungsrecht hineinlesen musste (weil der BGH es zivilrechtlich nicht für geboten hielt), in anderen Rechtsordnungen (etwa in Großbritannien oder in den Niederlanden) über Treu und Glauben in ein zuvor un-
13 Im britischen common law eher als ein Prinzip von beschränkter Tragweite gesehen: Teubner, Legal Irritants: Good Faith in British Law or How Unifying Law Ends Up in New Divergences, 61 The Modern Law Review 2003, 11; Piers, Good Faith in English Law – Could a Rule Become a Principle? 26 Tulane European & Civil Law Forum 2011, 123, bes. 130 – 138; Collins, Good Faith in European Contract Law, 14 Oxford Journal of Legal Studies 1994, 249, bes. 238 – 254. Im deutschen Recht als überwölbendes Prinzip für Vorvertrags-, Abschluss- und Durchführungsphase gesehen, vgl. nur MünchKommBGB/Schubert, § 242 Rn 24 – 29; Staudinger/Olzen § 242 Rn 79, der gar 10 % der gesamten höchstrichterlichen Rechtsprechung in Deutschland mit § 242 BGB in Bezug setzt. Dem folgt seit der jüngsten Reform des Code Civil (2016) grds. das vorher viel restriktivere französische Recht, vgl. nur Art. 1104 und 1112 Code Civil n. F. und dazu resümierend (und m. w. N.) Grundmann/Schäfer, The French and the German Reform Compared, 13 ERCL 2017, 459, 470 – 472.
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gleich weniger materiales Privatrecht eingebracht worden.14 Rücksichtnahmepflichten bedeuten hier eine massive Ausweitung der Verantwortung der Vertragsparteien als Normsetzer und -gestalter und wachsen noch stärker – zunehmend (auch) im Ausland – in die Rolle eines flächendeckenden Grund- und „Vertragsverfassungs“-prinzips hinein. Der zweite Strang ist ungleich prominenter und geht noch direkter und offensichtlicher über das staatliche Vertragsrecht hinaus. Hierbei handelt es sich um Verfassungsregeln und -prinzipien auch im formellen Sinne. In Deutschland ist seit dem bahnbrechenden Lüth-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, danach dessen Handelsverteter-, Bürgschafts- und in jüngster Zeit Stadionverbots-Urteil die Wirkung von Verfassungsregeln, namentlich Grundrechten, im Vertragsrecht im Grundsatz unbestritten.15 Italien stand dem schon früh nahe, in der vertragsrechtlichen Konzeptbildung schritt es sogar voran,16 und ein Land wie Brasilien sieht die Verfassungsprägung des Zivilrechts als unmittelbare und auch allgegenwärtiger als Deutschland.17 Offensichtlich ist jedoch auch die „zivil- oder vertragsrechtliche“ Prägung dieser Verfassungswirkung insofern, als Grundrechte seit dem ersten Urteil – und danach immer wieder – jedenfalls nicht nur auf einer Seite des Konflikts zum Tragen kommen (wie im Vertikalverhältnis), sondern auf beiden. Heute wird in Deutschland das Verhältnis mehrheitlich als eine Schutzpflicht des streitbefassten Gerichts (die Grundrechte zu schützen) verstanden, dies in Abwägung der auf beiden oder allen Seiten tangierten Grundrechte.18 Dieser Strang und Weg – einer Wirkung von hoheitlich gesetzten Verfassungsprinzipien, -rechten, insbesondere Grundrechten – ist für die gesamte EU prägend, seitdem er auch vom EuGH grds. eingeschlagen wurde19 14 Vgl. Cherednychenko, Fundamental Rights, Contract Law and the Protection of the Weaker Party – a Comparative Analysis of the Constitutionalisation of Contract Law, with Emphasis on Risky Financial Transactions, 2007; dies., EU Fundamental Rights, EC Fundamental Freedoms and Private Law, (2006) 14 ERPL 23. 15 BVerfGE 7, 198; 81, 242; 89, 214; 148, 267; breiter, rechtsvergleichender Überblick bei Brüggemeier/Colombi Ciacchi/Comandé (Hrsg.), Fundamental Rights and Private Law in the European Union, 2012; Grundmann (Hrsg.), Constitutional Values and European Contract Law, 2008; Mak, Fundamental Rights in European Contract Law. A Comparison of the Impact of Fundamental Rights on Contractual Relationships in Germany, the Netherlands, Italy and England, 2008, bes. S. 75 – 81 et passim. 16 Vgl. nur – bahnbrechend – Mengoni, Forma giuridica e materia economica, in: ders., Diritto e Valori, 1985, zuerst in zwei Artikeln 1963 und 1966; heute Comandé (Hrsg.), Diritto Privato Europeo e Diritti Fondamentali – Saggi e ricerche, 2004; Laghi, L’Incidenza dei Diritti Fondamentali Sull’Autonomia Negoziale, 2012; Macario, L’autonomia privata nella cornice costituzionale: per una giurisprudenza evolutiva e coraggiosa, Questione Giustizia 2016, 52. 17 Vgl. nur Suprêmo Tribunal Federal, RE (Recurso Extraordinário) 201.819-8 (2. Senat) (Berichterstatter Gilmar Mendes) v. 11. 10. 2005 (zu „due process“). 18 Bahnbrechend Canaris, Verfassungs- und europarechtliche Aspekte der Vertragsfreiheit in der Privatrechtsgesellschaft, FS Lerche 1993, S. 873; in nuce schon Mengoni (o. Fn. 16). 19 Vgl. EuGH Urt. v. 22. 11. 2005 – Rs C-144/04 – Mangold, Slg. 2005, I-9981; EuGH Urt. v. 19. 1. 2010 – Rs C-555/07 – Kücükdevici, Slg. 2010, I-365; EuGH Urt. v. 26. 2. 2013 – Rs C617/10 – Åkerberg Fransson, ECLI:EU:C:2013:105; EuGH Urt. v. 17. 4. 2018 – Rs C-414/
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und auch durch andere oberste Gerichte, die solch einem Denken eher fernstanden, beschritten wurde, etwa dem Supreme Court Großbritanniens (ehem. House of Lords).20 Ein Schritt hin zu Regelsetzervielfalt ist in dieser Entwicklung in drei Punkten zu erkennen: weil solchermaßen Rechtsquellen verschränkt wirken; weil der Richter ungleich mehr Regelsetzer wird, indem die Abwägungsaufgabe zwischen Betroffenenrechten und -interessen genuin ihm überantwortet wird; und weil mit dem Sprung auf die Europäische Ebene Mehrebenensystem und machtvoll rechtsvergleichende, gleichsam transnationale Wirkung in einer eher ungewöhnlichen Dichte zum Tragen kommen.21 Zugleich ist mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung, dem Recht an transferfähigen persönlichen Daten, geradezu ein neues „Grundrecht“ genuin für das digitale Vertragsrecht entstanden. Den transnationalen Raum selbst prägt der dritte Strang. Für ihn wurde einerseits vielfach darauf hingewiesen, wie hier in der Tat das Multnational Enterprise Normsetzer wird, „order without law“ entstehe – jedoch mit allen Charakteristika von Recht, bis hin zu staatlichen Durchsetzungshilfen.22 Im konkreten Kontext noch wichtiger ist andererseits, wie ein dritter Strang zu einer Verfassungsordnung entstand. Grundlage wurden soziologisch fundierte Theorien, die auf ein dahingehendes nahezu universales Verständnis in den demokratischen Rechtsstaaten und Marktwirtschaften verweisen: Recht werde hier in allen staatlichen Kontexten als eine Mischung von Freiheits- und von Struktur- und Schutzelementen gesehen, und daher wohne der Rechtsidee als solcher auch im transnationalen Raum, den so viel Freiheit prägt, die Konstutionalisierung inne – unabhängig davon, ob im Einzelfall ein positiver Regelkatalog als anwendbar gefunden werden könne.23 Namentlich der Sieges16 – Egenberger, ECLI:EU:C:2018:257; gute Überblicke etwa bei Heiderhoff/Lohsse/Schulze (Hrsg.), EU-Grundrechte und Privatrecht, 2016; Jarass, Die Bedeutung der Unionsgrundrechte unter Privaten, ZEuP 2017, 310; Knox, Horizontal Human Rights Law, 102 AJIL 2008, 1; Starke, EU-Grundrechte und Privatrecht, 2017. 20 Vgl. etwa Lee v Ashers Baking Company Ltd and others [2018] UKSC 49, breit Collins (Hrsg.), European Contract Law and the Charter (o. Fn. 6). 21 Deutlich ausführlicher zu alldem: Grundmann/Grochowski (o. Fn. 7). 22 Vgl. Bernstein, Opting Out of the Legal System: Extralegal Contractual Relations in the Diamond Industry, Journal of Legal Studies 21 (1992), 115; auch Ellickson, Order Without Law: How Neighbors Settle Disputes, 1991; Bernstein, Private Commercial Law in the Cotton Industry: Creating Cooperation Through Rules, Norms, and Institutions, 99 Michigan Law Review 1724, bes. 1728 – 1734 und 1739 – 1745 (2001); schöne Anwendung auf internationale Unternehmen bei Backer, Economic Globalization and the Rise of Efficient Systems of Global Private Law Making: Wal-Mart as Global Legislator, 39 Connecticut Law Review 1739 (2007). Zu globalen Wertschöpfungsketten aus dieser Perspektive zuletzt Eller, Rechtsverfassung globaler Produktion, 2020. 23 Vgl. Gaillard, Transnational Law: A Legal System or a Method of Decision Making? 17 Arbitration International 2001, 59, bes. 66 – 68; Calliess, Reflexive Transnational Law. The Privatisation of Civil Law and the Civilisation of Private Law, 23 Zeitschrift für Rechtssoziologie 2002, 185, bes. 194 f.; Teubner, ,Global Bukowina‘: Legal Pluralism in the World Society, in: ders. (Hrsg.), Global Law Without a State, 1997, S. 3; zu den Konzepten und ihrer Fortentwicklung schöner Überblick bei Renner, in: Grundmann/Micklitz/Renner, New Private Law Theory (o. Fn. 8), Kap. 25.
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zug der Menschenrechtskataloge auf übernationaler, teils globaler Ebene stütze diese Rechtsidee eines konstitutionalisierten transnationalen Rechtsraumes. Das Bild eines hoheitlichen Regelsetzers – mit Gesetzgebungs„monopol“ der hohen Hand – wird hier noch offensichtlicher verlassen als in den anderen beiden genannten Strängen einer Konstitutionalisierung des Privatrechts. IV. Die Europäische Union – Schöpfer von Vertragsrecht und Beförderer vertraglicher Gestaltung Die Europäische Union ist heute für Deutschland der wichtigste Vertragsrechtsgesetzgeber. Dies auszuführen – etwa für AGB-, Kauf-, Kredit-, Zahlungs- und Bankvertragsrecht sowie IT-Vertragsrecht –, würde den gesetzten Rahmen sprengen. Hinzuweisen ist darauf, dass zwar die Kompetenzgrundlagen (Art. 53 Abs. 1, vor allem Art. 114 AEUV) Ausräumung von Hindernissen für den Binnenmarkt/die Grenzüberschreitung verlangen, (i) der EuGH dies bisher jedoch nur in einem einzigen (offensichtlichen) Fall verneinte (offene Kompetenzgrundlage), dass (ii) zahlreiche Rechtsakte in den letzten drei Dekaden bereits in mehreren Generationen und zunehmend in kodifikatorischer Dichte erlassen wurden und dass sie (iii) in fast allen Fällen auch im reinen Inlandsfall gelten.24 Vertragsrecht in Deutschland ist also in weiten Teilen Vertragsrecht auf zwei Ebenen, mit allgegenwärtigen Mischungen, und zudem ist (iv) eine Anerkennungspflicht für ausländisches Vertragsrecht aufgrund der Grundfreiheitenrechtsprechung des EuGH – iVm der genannten Rechtswahlfreiheit – ebenfalls praktisch allgegenwärtig. Aufgrund von Art. 6 und 9 Rom-I – VO (Verbraucherrecht, Regulierung im öffentlichen Interesse), welche die flächendeckende Rechtswahlfreiheit punktuell durchbrechen, erklärt sich, dass in diesen Bereichen nationales Recht im internationalen Fall weiter zwingende Wirkung entfalten kann und daher eine Harmonisierung – zur Ausräumung von daraus resultierenden Hindernissen – in diesem Bereichen massiert zu finden ist und ganz auf sie kanalisiert ist.25 Daraus ergibt sich eine Aufgabenteilung einer EU-rechtlichen regulierenden Rahmensetzung – inhaltlich vorrangig, aber auch von der Normhierarchie her – und (auf nationaler Ebene) einem Wechselspiel von dispositivem Recht und Parteiinitiative bei der konkreten Gestaltung des Vertragsverhältnisses zwischen den Parteien.
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Umfangreiche Nachw. zu alldem und auch dem Folgenden bei Grundmann/Grochowski (o. Fn. 7). 25 Für diese Sicht bereits Grundmann, The Structure of European Contract Law, 9 ERPL 2001, 505; und (mit positiver Wertung) ders., Europäisches Handelsrecht – vom Handelsrecht des laissez faire im Kodex des 19. Jahrhunderts zum Handelsrecht der sozialen Verantwortung, ZHR 163 (1999), 635; ähnlich etwa Riesenhuber, EU-Vertragsrecht, 2013, S. 86 – 93.
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V. Privatautonomie und die Auswahl von Normen – Dispositives Recht und Optionales Regime Dispositives Recht trat seinen Siegeszug spätestens mit den Kodifikationen im Gefolge der französischen Revolution an – im Liberalismus. Im letzten halben Jahrhundert – zu verschiedenen Zeitpunkten – ist freilich dieses Bild und die klassische Trennung zwischen zwingend und dispositiv vielfach neu konzipiert und ungleich facettenreicher gefasst worden, mit ungleich mehr „rechtssetzenden“ Akteuren. Grundlegend neu ist zunächst die in den letzten zwei Dekaden entwickelte Sicht, dass die Verhandlungssituation in Bereichen klassischen dispositiven Rechts keine bilaterale sei, sondern ein Dreieck bilde – zwischen beiden Vertragsparteien und dem Gesetzgeber, weil dispositives Recht (psychologisch) nicht beliebig wegverhandelbar ist („stickiness“ und soziologische Parallelkonzepte), häufig auch eigene „Gerechtigkeitsgehalte“ hat.26 Älter, jedoch ebenfalls im letzten halben Jahrhundert angesiedelt ist der Siegeszug des halbzwingenden Rechts, bindend also nur zugunsten einer Vertragspartei, im Vertragsrecht idR des Verbrauchers, teils Kunden (etwa im Miet- oder Finanzrecht). Schließlich, drittens, fällt ebenfalls in diese Zeit das Konzept einer zulässigen Marge als Massenproblem, namentlich im AGB-Recht, wo der Gerechtigkeitsgehalt des dispositiven Rechts eine gewisse Abweichungsmarge vorgibt.27 Denkt man in dieser Gemengelage Intermediäre, Plattformen, regelsetzende Verbände und anderes hinzu, erkennt man wie zur inhaltlichen Abschichtung (halbzwingend, Margenbestimmung etc.) eine Vervielfältigung der Akteure und Regelsetzer tritt, mit einer Vervielfältigung der Normsetzungselemente und -anreize. Dies und die grundsätzliche Sicht des Verhandelns „im Schatten des dispositiven Rechts“ als Dreiecksverhältnis haben das universale Vertragsrechtsverständnis, das bis nach dem 2. Weltkrieg intakt blieb – als ein dispositives Regelangebot und eine (bipolare) Verhandlung zwischen den beiden Vertragsparteien – radikal verändert. Als ein komplexes Governancegeflecht, nicht mehr als ein „one-government“-Vertragsrecht. Noch radikaler verändert erschien die Rolle der Parteien im vertragsrechtlichen Normsetzungsprozess, als ihnen – statt der Rolle der Normunterworfenen – die Rolle der ultimativen Bewertungs- und Entscheidungsinstanz zugewiesen wurde. Global, vor allem in den USA, wurde diese Sicht mit dem Konzept des sog. Wettbe26 Breit zu diesen Fragen Möslein, Dispositives Recht: Zwecke, Strukturen und Methoden, 2011, bes. S. 40 ff., 118 ff. et passim; und aus den Gesellschaftswissenschaften bahnbrechend Ayres, Regulating opt-out: An economic Theory of Altering rules, 121 Yale Law Journal 2032 (2011 – 12); auch McDonnell, Sticky Defaults and Altering Rules in Corporate Law, 60 SMU Law Review 383 (2007); Pottow/Ben-Shahar, On the Stickiness of Default Rules, 33 Florida State University Law Review 651, bes. 660 – 670 (2006); Klass, Interpretation and Construction in Altering Rules, Georgetown Public Law and Legal Theory Research Paper No. 12 – 153 allgemeiner auch Sunstein, Switching the Default Rule, 77 New York University Law Review 106, bes. 111 – 115 (2002). 27 Im deutschen AGB-Recht unstr. aufgrund weitgehend expliziter Regelung in § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB; aus dem ausländischen Schrifttum breit etwa Hesselink, Non-Mandatory Rules in European Contract Law, 1 ERCL 2005, 44, bes. 58, 63, 83.
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werbs der Rechtsordnungen entwickelt.28 Normnutzer entscheiden über die Qualität der Normangebote, welche die Gesetzgeber unterbreiten („law as a product“), durch Wahl, etwa Hineinoptieren in ein Recht. Als Konzept ursprünglich entwickelt vor allem für das Gesellschaftsrecht, mögen im Vertragsrecht viele Fragen hierzu ungeklärt sein – namentlich die Anreize der Gesetzgeber, ihre Normsetzung in der Tat nach dem Kriterium „Nutzerpräferenzen“ auszurichten, und diejenigen der Vertragsparteien, danach tatsächlich ihr Vertragsrecht bewusst zu wählen.29 Für die EU jedoch ist das Vertragsrecht als Anwendungsbeispiel jedenfalls deswegen besonders hervorgehoben, weil in diesem Bereich der nächste Schritt angedacht wurde. Mit dem Vorschlag eines Optionalen Kodex wollte die EU nicht freien Wettbewerb der Vertragsrechte initiieren – das wäre bereits durch eine radikalere Fassung der Rom-I-VO und ein radikaleres Verständnis der Grundfreiheiten mit grds. umfassender Wahlfreiheit zwischen nationalen Rechten zu bewerkstelligen gewesen. Vielmehr schickte sie sich an, eine Wettbewerbsordnung zwischen Vertragsrechten in der EU – vertikal und horizontal – mit eigenem „Angebot“ eines materiellrechtlichen EU-Regimes zu installieren, idealerweise unter Abwägung der Vor- und Nachteile und Optimierung ihres Zusammenspiels.30 Der Vorschlag scheiterte zwar, das Konzept als solches fügt sich jedoch nahtlos ein in die beschriebenen allgemeineren Trends. VI. Privatautonomie und die Schaffung von Normen – eine exponentielle Kurve? Privatrechtssubjekte wurden über das letzte halbe Jahrhundert nicht nur bei ihrer Wahlentscheidung hinsichtlich (Vertragsrechts-)Normen neu gesehen (oben V.), sondern – wie für den transnationalen Raum bereits angesprochen – zunehmend selbst als Schöpfer von (Vertragsrechts-)Normen. Die genannten gesellschaftswissenschaftlichen Abhandlungen beschreiben die Konstellationen freilich auch im rein inländischen Kontext – zwischen Nachbarn, in relativ eng umgrenzten Industrien. Das Konzept der sog. privaten Ordnung („private ordering“) wurde als ein allgemeines 28
Bahnbrechend Romano, Law as a product – some pieces of the incorporation puzzle, 1 Journal of Law, Economics, and Organization 225 (1985); breiter zur Entwicklung – auch für das Folgende – Grundmann/Grochowski (o. Fn. 7). 29 Vgl. auch hierzu Nachw. vorige und folgende Fn.; sowie spezifisch breite Übersicht in den Beiträgen zu: Eidenmüller (Hrsg.), Regulatory Competition in Contract Law and Dispute Resolution, 2013. 30 Zu solch einer Kombination von Vor- und Nachteilen zentraler und dezentraler Regelsetzung Gomez/Ganuza, An Economic Analysis of Harmonization Regimes – Full Harmonization, Minimum Harmonization or Optional Instrument? 7 ERCL 2011, 275; Grundmann, Costs and Benefits of an Optional European Sales Law (CESL), 50 CMLR 2013, 225, bes. 234 – 237 (zum Optionalen Kodex); Kerber/Grundmann, An Optional European Contract Law Code – Advantages and Disadvantages, (2005) 21 European Journal of Law and Economics 215; Röpke/Heine, Vertikaler Regulierungswettbewerb und europäischer Binnenmarkt – die Europäische Aktiengesellschaft als supranationales Rechtsformangebot, ORDO 56 (2005) 157, bes. 173 – 174 (zum Optionalen Kodex).
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und nicht nur für kodifikations- oder normfreie Räume entwickelt.31 Die erste Generation, in der konkrete Fälle solch einer privaten Ordnung, zu erkennen sind, umfasst – neben der lex mercatoria (oben II.) – insbesondere die Phänomene der Standardisierung und der Selbstregulierung. Standardisierung greift dabei nicht nur in technisch geprägte Lebensbereiche aus und damit zugleich weit ein ins Haftungsrecht, sondern greift auch ein ins Unternehmensrecht (mit den IFRS als Königsbeispiel) und ins Bankrecht (mit den Basel-Standards als langjähriger Übung bis in die 3. Generation). Und Selbstregulierung hat über Jahrzehnte in manchen Mitgliedstaaten – vor allem Großbritannien – Regulierung im öffentlichen Interesse immer wieder ersetzt und – wie etwa beim City Code on Takeovers – gelebte Praxis geschaffen, die dann Europäisch kodifiziert wurde (mit der EG-Übernahme-Richtlinie von 2004).32 Die zweite Generation ist in der EU im angesprochenen Versuch zu sehen, einen Optionalen Kodex auszuarbeiten. Denn die Vorläuferarbeiten unternahmen sämtlich private Normsetzergruppen, überwiegend Wissenschaftlergruppen, die ihre Prinzipienkataloge auch sehr zentral damit legitimierten, dass sie eine privatautonome Wahl derselben voraussetzten.33 Schließlich hebt eine dritte Generation mit dem Internetrecht gerade erst an. Lawrence Lessigs berühmtes Dictum vom „Technischen Code als dem Gesetz“ ist ein Fanal, das sich durch Künstliche Intelligenz ebenso wie durch Internetplattformen zumindest teilweise zu realisieren scheint – mit einer Verdrängung klassischer gesetzlicher Vorgaben durch Algorithmen, deren Wirkweise häufig nicht transparent wird, und durch Plattformregelungen, die für die Parteien Gesetz dieses Marktes werden.34
31 Im deutschen Schrifttum herausragend Bachmann, Private Ordnung – Grundlagen ziviler Regelsetzung, 2006; sowie Nachw. o. Fn. 22. 32 Zu Standardisierung und Selbstregulierung als Regelsetzungsalternativen jüngst zusammenfassend: Micklitz, Contract Law under Regulatory Siege – Revival of Contract Law? – Standardization, Regulation and Consent bzw. Möslein, Ambiguities of Self-Regulation: Some Illustrative Examples of ,Good‘ Companies’ Certification, in: Grundmann/Grochowski (o. Fn. 6) Kap. 9 bzw. 8; sowie knapper Überblick in Grundmann/Grochowski, The Creation of Norms – an Evolutionary View on European Contract Law, in: Grundmann/Grochowski (o. Fn. 7), S. 3. 33 Besonders explizit Präambel der Unidroit, Principles of International Commercial Contracts, 1994 (Rom: Unidroit; Neuauflagen 2004, 2010, 2016); vgl. allgemeiner zu den denkbaren Inkorporationsmechanismen für solche privat gesetzten, jedoch breit öffentlich zirkulierten Prinzipienkataloge: Santos Silva, The Draft Common Frame of Reference as a „Toolbox“ for Domestic Courts. A Solution to the Pure Economic Loss Problem from a Comparative Perspective, 2017, S. 57 – 98; Grochowski, The practical potential of the DCFR Judgment of the Swedish Supreme Court (Högsta domstolen) of 3 November 2009, Case T 308, 9 ERCL 2013, 96; allgemeiner Hesselink, A Toolbox for European Judges, 17 ELJ 2011, 441. 34 Bahnbrechend Lessig, The Law of the Horse: What CyberLaw Might Teach, 113 Harvard Law Review 501 (1999); für eine Diskussion des Konzepts (Algorithmus als Kodex): Micklitz, in: Grundmann/Micklitz/Renner, New Private Law Theory (o. Fn. 8), Kap. 16; sowie auch hierfür breiter Grundmann/Grochowski (o. Fn. 7).
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VII. Zusammenfassung, Caveat und der EuGH Wenn den Ausgangspunkt die These bildete, die Entwicklung des letzten halben Jahrhunderts sei zusammenzufassen als eine von einem „one government“ Vertragsrecht (bis in die 1960er Jahre) zu einem Recht einer „complex governance“ gerade auch im Vertragsrecht, so scheinen viele angesprochene Entwicklungen ebendies zu belegen: die Zunahme von Regelungsebenen (europäisch, transnational, Verfassungsrecht und soft-law-Konstitutionalisierung) ebenso wie die Zunahme von Akteuren, die als Regelsetzer ernst genommen werden (lex mercatoria, Standardsetzung in Kernbereichen von Technik und Wirtschaft, Algorithmen, Plattformen, Verbände); desgleichen die Zunahme an Abschattierungen im Zusammenspiel zwischen hoheitlichem Regelsetzer und Privatrechtssubjekten, die unterschiedlich viel „Substanz“ für das Endprodukt Vertrag beigeben, auch auf ganz unterschiedliche Gestaltungsspielräume treffen; schließlich das Bild vom Privatrechtssubjekt als Schiedsrichter über die Qualität und den Erfolg von hoheitlichen Vertragsrechtsangeboten. Dabei musste ein weiteres „Juwel“ in der EU-Vertragsrechtsentwicklung sogar noch weitestgehend ausgeblendet bleiben: die ungleich aktivistischere Rolle, die den EuGH gegenüber seinem Gegenstück etwa in den USA im Vertragsrecht auszeichnet – gestützt auf die liberalisierende Wirkung der EU-Grundfreiheiten, auf die ungleich dichtere Regelung des Vertragsrechts auf EU-Ebene (als in den USA auf Bundesebene) und auf die ungleich stärkere Fortbildung anhand von großen Rechtsprinzipien, auch Grundrechten. Wenn Vieweg in Festschrift Lukes bereits zu Beginn des Jahrtausends für das Technikrecht im Hinblick auf die Normsetzung auf die „staatsentlastende Rezeption privaten, externen Sachverstandes“ als absolut zentral hinwies,35 so kann in seiner eigenen Festschrift die Entwicklung des letzten halben Jahrhunderts im (Europäischen) Vertragsrecht mit Fug und Recht als eine Tendenz zu immer stärkerer und immer facettenreicherer „staatsentlastende[r] Rezeption privaten, externen Sachverstandes“ charakterisiert werden. Mit anderen Worten: als Übergang von einem „one government“ Vertragsrecht zu einem Recht einer „complex governance“ speziell im Vertragsrecht.
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Vieweg (o. Fn. 5), S. 210.
Die Grenzen des sogenannten Abspaltungsverbots Von Barbara Grunewald I. Fragestellung Zu den althergebrachten Grundsätzen des Gesellschaftsrechts gehört das sogenannte Abspaltungsverbot. In der letzten Zeit ist allerdings die Frage aufgekommen, ob dieses Verbot noch Gültigkeit hat und welche Fallgestaltungen es ggf. erfasst. II. Der Inhalt des Abspaltungsverbotes Das sogenannte Abspaltungsverbot besagt, dass Mitgliedschaftsrechte von der Mitgliedschaft nicht abtrennbar sind, anders als Ansprüche, die aus der Mitgliedschaft erwachsen.1 In einer Entscheidung des BGH2 von 1951 ging es um die Frage, ob das Stimmrecht an einem Kommanditanteil übertragen worden war. Der BGH hielt dies für unzulässig. In dem Urteil heißt es:3 „Die Abspaltung einzelner Verwaltungsrechte von dem Gesellschafteranteil in der Weise, dass sie auf einen anderen übertragen werden, ist mit dem Wesen der Gesamthandsgemeinschaft nicht zu vereinbaren. Die Verwaltungsrechte sind vielmehr mit dem Gesellschafteranteil notwendig verbunden und können von ihm nicht losgelöst und selbständig übertragen werden. Es handelt sich hierbei nicht, wie bei dem Verbot einer Abtretung des Gesellschafteranteils (§ 717 BGB) um eine abdingbare Vorschrift im Interesse der übrigen Gesellschafter“. Diese Aussage fasst den Inhalt des Abspaltungsverbotes treffend zusammen. Lediglich der Bezug auf das Wesen der Gesamthand entspricht nicht mehr dem jetzigen Stand der Diskussion. Vielmehr geht man davon aus, dass das Abspaltungsverbot für alle Gesellschaftsformen gilt.4 Damit ist allerdings noch nicht gesagt, warum das Abspaltungsverbot überhaupt eingreifen sollte.
1 Grunewald, Gesellschaftsrecht, 11. Aufl. 2020, § 1 Rn. 75; Saenger, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2018, Rn. 125; Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, § 19 III 4; Windbichler, Gesellschaftsrecht, 24. Aufl. 2017, § 7 Rn. 9. 2 BGHZ 3, 354. 3 BGHZ 3, 354 (357). 4 Foerster, Die Zuordnung der Mitgliedschaft, 2018, S. 65; Habersack, Die Mitgliedschaft – subjektives und sonstiges Recht, 1996, S. 79; Schmidt (Fn. 1) § 19 III 4; Weber, Privatautonomie und Außeneinfluss im Gesellschaftsrecht, 2000, S. 62; Wiedemann, Die Übertragung und Vererbung von Gesellschaftsrechten bei Handelsgesellschaften, 1965, S. 276; Windbichler (Fn. 1) § 7 Rn. 9.
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III. Sinn und Zweck des Abspaltungsverbotes Nicht nur in der Judikatur des Bundesgerichtshofs, auch in der Literatur finden sich nur selten Gründe, die für das Abspaltungsverbot sprechen. Es gilt einfach als ein Grundsatz, der keiner weiteren Begründung mehr bedarf. Sofern doch Argumente genannt werden, wird betont, dass der durch das Abspaltungsverbot abgesicherte Gleichlauf von Mitgliedschaft und Mitgliedschaftsrechten dazu führe, dass die Rechte auch im Interesse der Gesellschaft und der Mitgesellschafter ausgeübt werden.5 Auch wird gesagt, dass das Abspaltungsverbot mittelbar auch den Gläubigern diene, da der Gesellschafter bei der Ausübung seiner Rechte schon im eigenen Interesse zu große Risiken vermeiden werde.6 Weniger deutlich wird darauf hingewiesen, dass das Verbot auch zur Rechtsklarheit beiträgt. Gesellschaft und Gesellschafter müssen nicht mühsam feststellen, wem welche Rechte zustehen, vielmehr steht fest, dass die entsprechenden Befugnisse bei den jeweiligen Gesellschaftern liegen.7 Hinzu treten weniger klare Hinweise auf die Natur der Mitgliedschaftsrechte.8 Des Weiteren wird angeführt, der Wortlaut von § 717 BGB stehe der Abspaltung von Gesellschafterrechten entgegen. Danach sind Ansprüche, die den Gesellschaftern aus dem Gesellschaftsverhältnis zustehen, nicht übertragbar. Doch geht es bei den Mitverwaltungsrechten gerade nicht um Ansprüche.9 Ähnliches gilt für den Hinweis auf § 8 Abs. 4 AktG. Dort wird festgelegt, dass Aktien unteilbar sind. Gemeint ist damit die Realteilung der Mitgliedschaft. Deshalb kann der Aktionär seine in der Aktie verbriefte Mitgliedschaft nicht in mehrere Mitgliedschaften – etwa mit je halbem Nennbetrag – aufspalten.10 Eine Neustückelung durch Satzungsänderung verbietet § 8 Abs. 5 AktG allerdings nicht.11 Das Abspaltungsverbot hat einen anderen Inhalt. Demgemäß wird auch im Aktienrecht meist auf § 717 S. 1 BGB verwiesen12 – eine Norm, die allerdings ebenfalls wie gezeigt eigentlich nicht passt. Auch § 38 S. 2 BGB postuliert kein Abspaltungsverbot. Zwar sagt die Bestimmung, dass die Ausübung der Mitgliedschaftsrechte einem anderem nicht überlassen werden kann. Aber diese Regelung ist gemäß § 40 S. 1 BGB dispositiv – was das Abspaltungsverbot ja gerade nicht ist.
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Nachweise bei Foerster (Fn. 4) S. 66; Schmidt (Fn. 1) § 19 III 4; Weber (Fn. 4) S. 64. Nachweise bei Weber (Fn. 4) S. 65 f. 7 Foerster (Fn. 4) S. 309 f.; Weber (Fn. 4) S. 64 m. w. N. 8 Schaefer, in: MüKoBGB, 7. Aufl. 2017, § 717 Rn. 7; Kritik an der Ableitung aus dem Wesen der Mitgliedschaft bereits bei Wiedemann (Fn. 4) S. 278 f. 9 Weber (Fn. 4) S. 62. 10 Heider, in: MüKoAktG, 4. Aufl. 2016, § 8 Rn. 88; Spindler/Stilz/Vatter, AktG, 4. Aufl., § 8 Rn. 49. 11 Spindler/Stilz/Vatter (Fn. 10) § 8 Rn. 49. 12 Spindler/Stilz/Vatter (Fn. 10) § 8 Rn. 50; lediglich auf § 8 Abs. 5 AktG stützt sich MüKoAktG/Haider (Fn. 10), § 8 Rn. 89. 6
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IV. Die Realität 1. Das Abspaltungsverbot zur Absicherung des Grundsatzes, dass Risiko und Einfluss in einer Hand liegen sollen Gesellschafter, die ihre Mitverwaltungsrechte selbst ausüben, haben zumindest in einem gewissen Umfang auch das Risiko in der Hand, das sie mit der Mitgliedschaft eingehen. Der Gesellschafter wird keine übermäßig riskanten Vorhaben unterstützen, was wiederum mittelbar auch dem Schutz der Gläubiger dient. Dies gilt auch für Aktionäre, obgleich diese so gut wie nie für die Schulden der Gesellschaft haften. Ihr wirtschaftliches Risiko liegt in der Entwertung der Aktien. Lediglich für Mitglieder eines Idealvereins gibt es wohl kaum ein entsprechendes Risiko. Allerdings können die mit der Mitgliedschaft verbundenen immateriellen Vorteile (z. B. Trainingsmöglichkeiten im Verein) unter Umständen verlorengehen. Allerdings gibt es vielfältige Möglichkeiten, die Gesellschafterstellung von dem mit ihr üblicherweise verbundenen Risiko zu trennen. Für Aktien kommen Wertpapierpensionsgeschäfte13, Leerverkäufe14 (beides Fälle des sogenannten Empty Voting) und Derivate15 in Frage. Dies hat zu der Aussage geführt, dass das Abspaltungsverbot durch die Entwicklung vielgestaltiger Finanzprodukte praktisch in das Belieben der Marktteilnehmer gestellt sei.16 Die genannten Vertragsgestaltungen mag man als Besonderheiten des Aktienrechts ansehen. Aber auch bei den anderen Gesellschaftsformen finden sich Absprachen, die das nach dem Gesetz mit der Mitgliedschaft verbundene Risiko von den Einflussmöglichkeiten des Gesellschafters auf das Geschehen in der Gesellschaft abspalten. Dies gilt insbesondere für Treuhandkonstruktionen, nach denen der Gesellschafter das mit der Mitgliedschaft verbundene Risiko durch die mit dem Treugeber getroffene Vereinbarung komplett an diesen weiterreicht. Einen Extremfall bilden die allgemein anerkannten Treuhandkonstruktionen, bei denen das wirtschaftliche Risiko bei dem Treugeber liegt, der Treuhänder aber die Gesellschafterrechte ausübt.17 Überhaupt hält die Rechtsordnung den Grundsatz, dass derjenige den Einfluss in der Gesellschaft ausüben soll, der das entsprechende Risiko trägt, nicht konsequent durch. Bekannt geworden ist der sogenannte Rektorfall.18 Schon der Leitsatz besagt, dass ein Kommanditist nicht schon dann unbeschränkt haftet, wenn er wirtschaftlich 13 Bachmann, ZHR 173 (2009) 596 (606); Kumpan/Mittermeier, ZIP 2009 404 (405); Seibt, ZGR 2010, 795 (799). 14 Seibt, ZGR 2010, 795 (800). 15 Fleischer, ZGR 2008, 185 (215); Kumpan/Mittermeier, ZIP 2009, 404 (405); Seibt, ZGR 2010, 795 (807 ff.). 16 Seibt, ZGR 2010, 795 (818 f.). 17 Oetker/Lieder, HGB, 6. Aufl. 2019, § 105 Rn. 50; Baumbach/Hopt/Roth, HGB, 39. Aufl. 2020, § 105 Rn. 31; Schmidt, in: MüKoHGB, 4. Aufl. 2019, Vor § 230 Rn. 58 ff. 18 BGHZ 45, 204.
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gesehen der alleinige Inhaber des Handelsgeschäftes und der persönlich haftende Gesellschafter mittellos ist. Diese Entscheidung ist allseits akzeptiert worden.19 Im Ergebnis zeigt sich, dass die Idee, Risiko und Einfluss müssten in derselben Hand liegen, zur Begründung des Abspaltungsverbotes nicht taugt.20 Demgemäß muss der auch auf diesem Wege angestrebte Gläubigerschutz auf andere Weise erreicht werden und wird es bekanntermaßen auch. Soweit es allerdings um den Schutz des Gesellschafters geht, hat das Abspaltungsverbot doch einen harten Kern: Unbeschränkt haftende natürliche Personen müssen zumindest einen gewissen Einfluss auf den Umfang des von ihnen übernommenen Risikos haben. Andernfalls führt die Selbstentrechtung zu einer nicht mehr akzeptablen Situation. Hier zeigt sich, dass das Abspaltungsverbot eine wichtige Funktion übernimmt. Es wird daher wohl kaum ein Zufall sein, dass dieser Grundsatz im Personengesellschaftsrecht seinen Anfang nahm. Allerdings werden die für die gesamte Rechtsordnung geltenden Schranken der Selbstentrechtung normalerweise bei § 138 BGB angesiedelt. Sie eignen sich nicht als Basis für den ganz allgemein gefassten Grundsatz des Abspaltungsverbots. Es geht schlicht um die „Wahrung der wirtschaftlichen Entscheidungsfreiheit“21 natürlicher Personen. 2. Das Abspaltungsverbot zur Absicherung der Mitgesellschafter vor dem Eintritt Dritter in die Gesellschaft Wie geschildert, werden auch die Mitgesellschafter als Personen genannt, die durch das Abspaltungsverbot geschützt werden sollen. Sie haben sich auf einen bestimmten Mitgesellschafter eingelassen und würden sich bei einer Aufspaltung der Mitgliedschaftsrechte nun einem Dritten gegenübersehen. Ob dieser Gedanke das Abspaltungsverbot trägt, ist aber mehr als zweifelhaft. Denn ganz abgesehen davon, dass die geschilderten Vertragsgestaltungen22 zur Folge haben, dass der Gesellschafter zwar formal Berechtigter bleibt, materiell aber ein Hintermann den entsprechenden Einfluss hat – was die Mitgesellschafter unter Umständen ebenfalls belastet –, kann dieser Aspekt kaum zu einer zwingenden Regelung führen. Denn wenn es um den Schutz der Mitgesellschafter geht, müssten diese auch darauf verzichten können,23 ganz so wie dies etwa bei der Vinkulierung von Geschäftsanteilen der Fall ist. Doch soll das Abspaltungsverbot ja gerade ein nicht dispositiver Grundsatz sein.
19
Statt aller Grunewald, in: MüKoHGB, 4 Aufl. 2019, § 161 Rn. 4; Baumbach/Hopt/Roth (Fn. 17), § 161 Rn. 11. 20 Weber (Fn. 1) S. 189 ff.; aus neuerer Zeit a. A. Foerster (Fn. 1) S. 245 f. 21 Siehe Armbrüster, in: MüKoBGB, 8. Aufl. 2019, § 138 Rn. 71; zur Stimmrechtsabtretung so auch Wiedemann (Fn. 4), S. 282. 22 Siehe oben IV.1. 23 Siehe Wiedemann (Fn. 4) S. 281 f.
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3. Das Abspaltungsverbot als Garant von Rechtsklarheit Damit konzentriert sich die Argumentation zur Absicherung des Abspaltungsverbots auf den Aspekt der Rechtsklarheit. Denn der Grundsatz stellt sicher, dass ein Gesellschafter auch Inhaber der damit verbundenen Rechte ist. Dies ist insbesondere für die Gesellschaft und die Mitgesellschafter von Bedeutung, da so eine rechtssichere Abwicklung der Gesellschafterversammlung sowie generell der gesellschaftsinternen Organisation – etwa auch bei der Ausübung der Informationsrechte außerhalb der Gesellschafterversammlung – möglich ist.24 Für die Gläubiger ist Rechtsklarheit demgegenüber in erster Linie für die Frage wichtig, wer in Anspruch genommen werden kann. Ob diese Person auch Inhaber der üblichen Mitgliedschaftsrechte ist, spielt für sie demgegenüber keine größere Rolle.25 Auf diesem Gedanken der Rechtsklarheit in Bezug auf die Person, die zur Ausübung der Mitgliedschaftsrechte befugt ist, bauen ersichtlich auch § 67 Abs. 2 AktG und § 16 Abs. 1 GmbHG auf. Wer in der Gesellschafterliste als Gesellschafter eingetragen/im Aktienbuch als Aktionär vermerkt ist, ist auch zur Ausübung der Mitgliedschaftsrechte berechtigt. Von extremen Fällen abgesehen bleibt es dabei, auch wenn die Gesellschaft weiß, dass ein Dritter der eigentliche Gesellschafter ist.26 Für Personengesellschaften fehlt es an einer entsprechenden Norm. § 15 HGB schützt Dritte, also die Gesellschaft und die Mitgesellschafter gerade nicht. Auch das passt zu dem Befund, dass das Abspaltungsverbot seinen Ursprung im Recht der Personengesellschaften hat. Bedeutung hat der Aspekt der Rechtsklarheit aber auch für die anderen Gesellschaftsformen und den Verein. Denn § 67 Abs. 2 AktG und § 16 Abs. 1 GmbHG fingieren die Gesellschafterstellung und setzen damit gerade voraus, dass der Gesellschafter auch Inhaber der entsprechenden Verwaltungsrechte ist. Ohne das Abspaltungsverbot würde das Regelungsziel der genannten Normen also gar nicht erreicht. Im Vereinsrecht fehlt es sogar völlig an einer irgendwie gearteten Absicherung des Vereins. Das Abspaltungsverbot stellt wenigstens sicher, dass ein Mitglied auch Inhaber der Mitgliedschaftsrechte ist. Das lässt die Frage aufkommen, ob das Abspaltungsverbot nicht dispositiv sein sollte. Denn wenn es um den Schutz von Gesellschaft und Gesellschafter geht, könnte man der Ansicht sein, dass die so Geschützten auf den Schutz auch sollten verzichten können. Dass dies nicht zu befürworten ist, zeigt zum einen ein Blick auf § 67 Abs. 2 AktG und § 16 Abs. 1 GmbHG. Diese Normen stehen nicht zur Disposition und das 24 Wiedemann (Fn. 4) S. 285 f. betont demgegenüber die Unsicherheiten, die Rechtsnachfolger treffen. Doch können diese sich bei ihren Rechtsvorgängern erkundigen. Gesamtrechtsnachfolger müssen die Rechtsposition so hinnehmen, wie sie dem Rechtsvorgänger zustand. 25 Allenfalls bei der Verwertung des Gesellschaftsanteils kann das bedeutsam sein, siehe Wiedemann (Fn. 4) S. 285. Aber ein Gläubiger hat auch sonst keine Sicherheit, dass sich beim Schuldner verwertbares Vermögen findet. 26 Statt aller Heidinger, in: MüKoGmbHG, 2. Aufl. 2015, § 16 Rn. 59; Spindler/Stilz/ Cahn, AktG, 4. Aufl. 2019, § 67 Rn. 40 ff.
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sollte auch in Bezug auf das Abspaltungsverbot gelten. Denn wenn der Grundsatz abdingbar wäre, könnte er auch in den Gesellschaften, in denen er nicht abbedungen ist, seine Funktion nicht mehr erfüllen. Denn es wüsste ja niemand, ob er in der entsprechenden Gesellschaft nun abbedungen ist oder nicht. Das gilt für alle Gesellschaften, verstärkt aber für Personengesellschaften, deren Gesellschaftsvertrag keiner Form unterliegt. Aber auch bei Vereinen würden Unklarheiten entstehen. Denn es wäre z. B. nicht geklärt, wie eine Satzung zu verstehen ist, die zu dieser Frage schlicht schweigt. V. Folgerungen 1. Empty Voting, Derivate Wie geschildert, werden Vertragsgestaltungen, die zur Folge haben, dass das wirtschaftliche Risiko einer Gesellschafterstellung auf einen Dritten verschoben wird, von der Rechtsordnung anerkannt. In der Tat sind diese unter dem Gesichtspunkt des Abspaltungsverbotes unproblematisch: Die Gesellschafterrechte stehen bei diesen Konstruktionen weiter demjenigen zu, der Gesellschafter ist. Natürlich können andere Aspekte gegen diese Vertragsgestaltung sprechen und die Rechtsordnung zu einem Eingreifen veranlassen. Das Abspaltungsverbot ist es jedenfalls nicht.27 2. Die Treuhand Für die Treuhand, bei der die Treugeber die Gesellschafterrechte als eigene Rechte ausüben wollen, wird ein Verstoß gegen das Abspaltungsverbots zuweilen zwar bejaht, aber wegen der Zusammenführung von wirtschaftlichen und rechtlichen Einflussmöglichkeiten für akzeptabel angesehen.28 Überzeugen kann das aber nicht. Da es nicht darum geht, Risiko und Einfluss in eine Hand zu legen, sondern um Rechtsklarheit, spricht nichts für diese Ausnahme. Treugeber können sich eine entsprechende Vollmacht geben lassen. Wem das zu wenig ist, dem bleibt die Möglichkeit, sich direkt an der Gesellschaft zu beteiligen. Für eine mehr oder weniger versteckte Beteiligung mit direkten Gesellschafterrechten besteht kein Bedürfnis. Von diesem Grundsatz weicht das KAGB für die geschlossenen Publikumsinvestmentkommanditgesellschaften, und nur für diese, ab. Gemäß § 152 Abs. 1 S. 3 KAGB hat der mittelbar beteiligte Anleger im Innenverhältnis der Gesellschaft und der Gesellschafter zueinander die gleiche Rechtsstellung wie ein Kommanditist. Welche Rechte damit gemeint sind, ist noch nicht geklärt.29 Insbesondere ist auch
27 Merkner/Sustmann, NZG 2010, 1170 (1173); Schneider/Brouwer, FS K. Schmidt, 2009, S. 1411 (1416). 28 Habersack/Casper/Löbbe/Raiser, GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 14 Rn. 49. 29 Dazu Oetker, HGB, 6. Aufl. 2019, § 161 Rn. 209.
Die Grenzen des sogenannten Abspaltungsverbots
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noch offen, ob das Stimmrecht erfasst ist.30 Jedenfalls ist diese Regel als Ausnahmevorschrift konzipiert, die für Gesellschaften, auf die diese Sondernorm nicht anwendbar ist, nichts aussagt. Lediglich für Publikumspersonengesellschaften, auf die § 152 Abs. 1 S. 3 KAGB nicht direkt anwendbar ist, käme eine Analogie in Frage.31 3. Die Legitimationszession Bei der sogenannten Legitimationszession übt der Legitimationszessionar fremde Rechte (die des Aktionärs) im eigenen Namen aus. Die Frage, ob eine solche Legitimationszession zulässig ist, stellt sich nicht. Das Gesetz ist insoweit eindeutig: § 129 Abs. 3 S. 1 AktG akzeptiert sie. Die damit verbundenen Probleme zeigen aber, dass dies eine Durchbrechung des Abspaltungsverbots beinhaltet. Genau die Probleme, die das Abspaltungsverbot aus dem Wege räumt (nämlich die Frage, wer darf die Gesellschafterrechte ausüben) treten bei der Legitimationszession verstärkt auf.32 Eine Übertragung dieser Rechtsfigur auf andere Gesellschaftsformen (etwa die GmbH) ist daher nicht zu befürworten.33 4. Der Nießbrauch Ein weiterer problematischer Fall ist die Bestellung des Nießbrauchs an einem Gesellschaftsanteil. Seit langem ist umstritten, wem die aus der Mitgliedschaft erwachsenden Verwaltungsrechte zustehen. Vertreten wird, dass sie beim Gesellschafter liegen, dass sie dem Gesellschafter und dem Nießbraucher gemeinsam zustehen oder nur dem Nießbraucher allein.34 Vom hier vertretenen Standpunkt aus ist die Sache klar, dem Gesellschafter stehen die entsprechenden Rechte zu.35 Wie wichtig eine entsprechende Klarheit ist, zeigt sich gerade im Bereich des Nießbrauchs. Woll30 Dafür Oetker (Fn. 29) § 161 Rn. 209.; Wertenbruch, NZG 2014, 81 (82); dagegen Grunewald/Brungs, in: MüKoHGB, 4. Aufl. 2019, Anh. § 161 Rn. 148; Stöber, Handbuch der Personengesellschaften I, Rn. 3170 m; Wiedemann, NZG 2013, 1041 (1045 f.). 31 Weitergehend Saenger (Fn. 1) Rn. 125; Wertenbruch, NZG 2017, 81 (84): auch bei Gesellschaften, die keine Publikumsgesellschaften sind; BGH, NZG 2013, 379 (380) entnimmt einer Regelung in einem Gesellschaftsvertrag einer Publikumsgesellschaft, nach der sich die Gesellschafter untereinander und der Gesellschafter zu den Treugebern wie unmittelbar beteiligte Gesellschafter behandeln, eine Bevollmächtigung des Treuhandgesellschafters; siehe auch BGH, NJW,RR 2003, 1392: Die Entscheidung betrifft keine Publikumsgesellschaft, der Inhalt des Gesellschaftsvertrages wird aber nicht wiedergegeben. 32 Grunewald, ZGR 2015, 347 (354); Spindler/Stilz/Rieckers, AktG, 4. Aufl. 2019, § 123 Rn. 40. 33 Ebenso zur GmbH Habersack/Casper/Löbbe/Raiser (Fn. 28) § 14 Rn. 48; Reichert/ Weller, in: MüKoGmbHG, 2. Aufl. 2015, § 14 Rn. 124; ebenso zum Verein Leuschner, in: MüKoBGBm 8. Aufl. 2019, § 32 Rn. 29. 34 Überblick bei MüKoHGB/Schmidt (s. o. Fn. 17), Vor § 230 Rn. 21; MüKoGmbHG/Reichert/Weller (Fn. 33), § 13 Rn. 335 ff. 35 So z. B. auch MüKoGmbHG/Reichert/Weller (Fn. 33), § 15 Rn. 226; Baumbach/Hueck/ Zöllner/Noack, GmbHG, 22. Aufl. 2019, § 47 Rn. 35.
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te man hier etwa das Informationsrecht nach Betroffenheit aufspalten,36 müssten die Gesellschaft und die Mitgesellschafter sich über die Frage, wer von der Regelung mehr betroffen ist, der Gesellschafter oder der Nießbraucher, Gedanken machen. Vielleicht hinge die Beantwortung dieser Frage sogar von der der Gesellschaft nicht bekannten Vertragsgestaltung zwischen Gesellschafter und Nießbraucher ab. Auch ist nicht gesagt, dass die Gesellschafter/die Gesellschaft überhaupt wissen, dass ein Nießbrauch bestellt ist. Zwar setzt eine solche Bestellung voraus, dass die Gesellschafter dies im Gesellschaftsvertrag zugelassen haben. Dies stellt aber keineswegs sicher, dass auch eine eventuell viel später erfolgte Begründung eines Nießbrauchs dann auch allseits bekannt ist.37 Vor all diesen Schwierigkeiten bewahrt das Abspaltungsverbot Gesellschaft und Gesellschafter. Wenn demgegenüber eingewandt wird, bei einem Nießbrauch handle es sich nicht um eine Abtretung einzelner Mitgliedschaftsrechte sondern um eine zulässige Belastung des Geschäftsanteils,38 trifft dies zwar zu, sagt aber nichts darüber aus, wem die Gesellschafterrechte zugeteilt werden dürfen. Der dem Abspaltungsverbot zu Grunde liegende Gedanke trifft eine klare Aussage: Es ist zur Erreichung von Rechtsklarheit der Gesellschafter und sonst keiner. Der Nießbraucher kann sich lediglich eine entsprechende Vollmacht unter den üblichen Voraussetzungen einräumen lassen. Damit sind seine Interessen gewahrt. VI. Zusammenfassung 1. Das Abspaltungsverbot dient der Rechtsklarheit, weil es sicherstellt, dass der Gesellschafter/das Mitglied eines Vereins Inhaber der Mitgliedschaftsrechte ist. Es ist nicht dispositiv. 2. Rechtskonstruktionen, die die Mitgliedschaftsrechte in der Hand des Gesellschafters lassen aber das mit der Mitgliedschaft verbundene wirtschaftliche Risiko auf Dritte verlagern, steht das Abspaltungsverbot nicht entgegen.
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Erwogen bei Schmidt (Fn. 1), § 61 II 3. Etwa wenn der Geschäftsanteil frei übertragbar ist. 38 Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt/Ebbing, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 15 Rn. 102; Habersack (Fn. 4) S. 110 ff.; Habersack/Casper/Löbbe/Raiser (Fn. 28) § 14 Rn. 49; MüKoGmbHG/Reichert/Weller (Fn. 33) § 14 Rn. 128. 37
Die Anerkennung der Staatshaftung für verfassungswidrige Gesetzgebung in Frankreich Ein Vorbild für das deutsche Staatshaftungsrecht Von Jörg Gundel I. Die Problematik der Staatshaftung für verfassungswidrige Gesetzgebung Die Haftung für verfassungswidrige Gesetzgebungsakte ist ein schwieriges Feld des Staatshaftungsrechts, in dem nicht nur in Deutschland traditionell restriktive, eine Haftung grundsätzlich ausschließende Lösungen vorherrschen.1 Formal läßt sich dies durch die besondere Autorität des demokratisch legitimierten parlamentarischen Gesetzgebers erklären; diese Autorität wird allerdings durch den Vorrang der Verfassung jedenfalls dann entscheidend eingeschränkt, wenn die jeweilige Rechtsordnung eine solche Normenhierarchie zwischen Gesetz und Verfassung und auch eine gerichtliche Kontrolle zu ihrer Durchsetzung vorsieht – sei es durch die Fachgerichte nach dem US-amerikanischen Modell der dezentralisierten Verfassungskontrolle oder durch ein besonderes Verfassungsgericht nach der österreichisch-kontinentaleuropäischen Konstruktion.2 Inhaltlich scheint der Haftungsausschluss allerdings auch durch die Furcht vor einer Überforderung des Staatshaushalts durch Haftungsforderungen in einer kaum abschätzbaren Zahl von Fällen bestimmt zu sein, nachdem gesetzliche Regelungen typischerweise allgemein gelten und damit im Fall ihrer Verfassungswidrigkeit auch Schäden mit weiter Streuung und entsprechendem Haftungsvolumen anrichten können. Dafür steht z. B. die Argumentation des deutschen BGH zur Verneinung einer Haftung nach den Grundsätzen des enteignungsgleichen Eingriffs, wonach die Normierung der Haftungsvoraussetzungen auf-
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Zur Frage der Haftung für Gesetzgebung in verschiedenen EU-Mitgliedstaaten s. die Beiträge von Roblot-Troizier/Verpeaux, RFDA 2019, 393 ff. (Frankreich); Díez-Picazo, RFDA 2019, 427 ff. (Spanien); Pardini, RFDA 2019, 434 ff. (Italien); Bell, RFDA 2019, 444 f. (Großbritannien); Schubert/Cossalter, RFDA 2019, 404 ff. (Deutschland); Delpérée, RFDA 2019, 421 ff. (Belgien); s. auch allgemein zu den Staatshaftungs-Systemen der Mitgliedstaaten die Beiträge in Dörr (Hrsg.), Staatshaftung in Europa, 2014. 2 Zu den verschiedenen Organisationsmodellen der Verfassungskontrolle s. z. B. die Beiträge in Starck/Weber (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa, 2. Aufl. 2007; Lange, Grundrechtsbindung des Gesetzgebers, 2010, S. 147 ff.
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grund ihrer Bedeutung für den Staatshaushalt dem Gesetzgeber vorbehalten sei und nicht durch Richterrecht erfolgen könne.3 Bisher bestand eine Gemeinsamkeit der – im übrigen stark voneinander abweichenden – Staatshaftungsregimes in Deutschland und Frankreich4 darin, daß eine Haftung für Gesetzgebungsakte grundsätzlich ausgeschlossen war.5 In Deutschland wurde dieses Ergebnis vor allem auf dem Weg über die Verneinung drittschützender Amtspflichten des Gesetzgebers im Sinne des § 839 BGB begründet.6 In Frankreich folgte es noch auf einer vorgelagerten verfahrensrechtlichen Ebene daraus, daß die in der Verfassung von 1958 erstmals vorgesehene und 1971 erweiterte Verfassungskontrolle der Gesetze durch den Conseil constitutionnel bis zum Jahr 20087 nur präventiv ausgestaltet war, also grundsätzlich8 nur noch nicht in Kraft gesetzte Gesetzentwürfe betraf. Diese Kontrolle wurde als abschließend angesehen und stand damit im Gegenschluß einer inzidenten Verfassungskontrolle bereits geltender Gesetze durch die mit der Gesetzesanwendung befaßten Fachgerichte entgegen;9 die Verfassungswidrigkeit eines geltenden Gesetzes konnte danach im Rahmen eines konkreten Rechtsstreits nicht festgestellt und damit auch nicht zur Grundlage von Haftungsansprüchen gemacht werden.10 Eine Haftung für durch Gesetzgebungsakte entstandene Schäden war danach von vornherein nur nach den Grundsätzen der Sonderopfer-Haftung für die Folgen rechtmäßiger Gesetzgebung (responsabilité sans faute) möglich, die der
3 S. etwa BGH, 12. 3. 1987 – III ZR 216/85, BGHZ 100, 136 (145: „kann für die Staatsfinanzen weitreichende Folgen haben“) = JZ 1987, 1024 m. Anm. Ossenbühl; ebenso BGH, 10. 12. 1987 – III ZR 220/86, BGHZ 102, 350 (362). 4 S. vergleichend C. Herrmann, Das französische Staatshaftungsrecht zwischen Tradition und Moderne, 2010; Jacquemet-Gauché, La responsabilité de la puissance publique en France et en Allemagne, 2013; zu Frankreich auch dies., DÖV 2020, 453 ff.; Marsch, in: Dörr (Fn. 1), S. 195 ff. Tatsächlich ist erstaunlich, daß der EWGV gerade für das EU-Staatshaftungsrecht im damaligen Art. 215 Abs. 2 EWGV (heute Art. 340 Abs. 2 AEUV) auf die den Mitgliedstaaten gemeinsamen allgemeinen Rechtsgrundsätze abgestellt hat, die in diesem Feld in besonders geringem Umfang bestehen – was allerdings zugleich dem EuGH besonders weite Spielräume bei der Definition der EU-Haftungsstandards eröffnet; s. bereits früh Heldrich, Die allgemeinen Rechtsgrundsätze der außervertraglichen Schadenshaftung im Bereich der EWG, 1961, insbes. S. 7 f. (er geht allerdings noch davon aus, dass der kleinste gemeinsame Nenner maßgeblich sei, s. S. 19 f.; hier ist die Entwicklung anders verlaufen). 5 S. vergleichend Scheuing, in: FS Bachof, 1984, S. 343 ff. 6 Dazu noch u. V. mit Fn. 55. 7 Zu der in diesem Jahr erfolgten Reform s. u. III. 2. 8 Eine Ausnahme hiervon hat die Rechtsprechung für die Kontrolle von Änderungsgesetzen entwickelt, bei deren Prüfung auch das bereits geltende Gesetz beanstandet werden kann (sog. Neukaledonien-Rechtsprechung, s. m. w. N. Gundel, Die Einordnung des Gemeinschaftsrechts in die französische Rechtsordnung, 1997, S. 215 ff.). 9 Dazu z. B. Gohin, RFDA 2000, 1175 ff.; ders., in: Mélanges Jean-François Flauss, 2014, S. 347 (354 ff.). Mouannes, RRJ 2003, 2151 ff. 10 Zu diesem älteren Stand s. z. B. Jacquemet-Gauché (Fn. 4), S. 276 ff.
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Conseil d’Etat schon im Jahr 1938 entwickelt hatte11 und die bis heute Anwendung finden.12 Entsprechend dem Sonderopfer-Gedanken (rupture de l’égalité devant les charges publiques) werden auf dieser Grundlage aber nur schwere und außergewöhnliche Schäden ersetzt, mit denen der Gesetzgeber nicht gerechnet hatte.13 II. Die unionsrechtliche Staatshaftung der EU-Mitgliedstaaten als „Eisbrecher“ für das nationale Staatshaftungsrecht Diese restriktiven nationalen Lösungen stehen jedenfalls in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union unter Rechtfertigungsdruck, seit der EuGH mit der bahnbrechenden Francovich-Entscheidung aus dem Jahr 199114 den Grundsatz der Haftung der EU-Mitgliedstaaten für Verstöße gegen Unionsrecht etabliert hat, der auch für Verstöße durch den nationalen Gesetzgeber gilt.15 Aus der Sicht des Unionsrechts war dieser Schritt konsequent, nachdem die Form des Verstoßes auf nationaler Ebene – durch Gesetz, Verordnung oder Einzelakt – aus unionsrechtlicher Sicht irrelevant ist und ein genereller Haftungsausschluß für Normsetzung den Haftungsanspruch gerade im Fall der fehlerhaften Umsetzung von EU-Richtlinien entwertet 11 CE, Ass., 14. 1. 1938 – SA des produits laitiers La Fleurette, Rec. Dalloz 1938, 3, 41 mit den Schlußanträgen von Regierungskommissar Roujou u. Anm. Rolland = Long/Weil/Braubant/Delvolvé/Genevois, Les grands arrêts de la jurisprudence administrative (GAJA), 21. Aufl. 2017, No 47, S. 289; zu dieser Leitentscheidung s. z. B. rückblickend Bon, in: Mélanges Morand-Deviller, 2007, S. 185 ff. 12 Für jüngere Anwendungsfälle s. CE, 30. 7. 2003 – Association pour le développement de l’aquaculture en région Centre, RFDA 2004, 150 mit den Schlußanträgen von Regierungskommissar Lamy S. 144 ff. u. Anm. Bon S. 151 ff. = Rec. Dalloz 2003, 2527 m. Anm. Guillard = JCP 2003 II No 10173 m. Anm. Jobart; CE, 2. 11. 2005 – Sté coopérative agricole Ax’ion, RFDA 2006, 354 mit den Schlußanträgen von Regierungskommissar Guyomar S. 349 ff. u. Anm. Guettier S. 355 ff. = AJDA 2006, 142 m. Anm. Landais/Lenica = RDP 2006, 1451 m. Anm. Broyelle S. 1427 ff.; CE, 1. 2. 2012 – M. Bizouerne, AJDA 2012, 1075 m. Anm. Belrhali-Bernard = RFDA 2012, 333 mit den Schlußanträgen von rapporteur public Roger-Lacan; CAA Bordeaux, 25. 10. 2018 – Somaf, AJDA 2019, 194 m. Anm. JoannardLardant; der Conseil d’Etat hat die Anwendung zudem auf Schäden durch die Anwendung völkerrechtlicher Verträge – s. z. B. CE, 11. 2. 2011 – Mlle Susilawati, AJDA 2011, 906 m. Anm. Belrhali-Bernard = RGDIP 2012, 196 m. Anm. Grange (vertragliche Immunität der UNESCO) – und von Regeln des Völkergewohnheitsrechts erweitert, s. CE, 14. 10. 2011 – Mme Saleh u. a., RFDA 2012, 58 mit den Schlußanträgen von rapporteur public Roger-Lacan S. 46 ff. = RGDIP 2012, 203 m. Anm. Grange (Staatenimmunität); dazu Salmon/Angelet, in: Liber Amicorum Marc Bossuyt, 2013, S. 559 ff.; P. Germelmann, ArchVR 54 (2016), 101 (123 ff.). 13 Dem entsprechen die Haftungsvoraussetzungen der La Fleurette-Rechtsprechung: Die Haftung darf durch den Gesetzgeber nicht ausgeschlossen worden sein, und es muß ein „préjudice grave et spécial“ vorliegen. 14 EuGH, 19. 11. 1991 – verb. Rs. C-6/90 u. C-9/90 (Francovich), Slg. 1991, I-5357. 15 So im Anschluß an die Francovich-Entscheidung (Fn. 14), die diesen Punkt nicht problematisiert hatte, auf ausdrückliche Nachfrage des BGH EuGH, 5. 3. 1996 – verb. Rs. C-46 u. C-48/93 (Brasserie du Pêcheur/Factortame III), Slg. 1996, I-1029, Tz. 24 ff.
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hätte, für den er besonders benötigt wurde.16 Bereits zuvor hatte der Gerichtshof für die Eigenhaftung der Union nach dem heutigen Art. 340 Abs. 2 AEUV die haftungsrechtliche Verantwortung auch für Akte des EU-Gesetzgebers anerkannt;17 ein Haftungsausschluß wäre – trotz der negativen Vorbilder aus den Mitgliedstaaten, mit denen sich eine solche restriktive Entscheidung hätte begründen lassen18 – auch schwer zu rechtfertigen gewesen, nachdem die Union überwiegend rechtssetzend tätig wird, während der Vollzug weitgehend den Mitgliedstaaten anvertraut ist;19 das grundsätzliche Haftungsversprechen des Art. 340 Abs. 2 AEUV wäre durch einen solchen Ausschluß also weiträumig entwertet worden. Eine schrankenlose Haftung wurde damit auch für die Union nicht begründet, weil die Haftung nach der von der EuGH-Rechtsprechung entwickelten Formel unter der Voraussetzung der Feststellung eines hinreichend qualifizierten Verstoßes20 gegen Bestimmungen steht, die dem Schutz des Geschädigten dienen. Der damit gegebene variable Maßstab räumt bei der abstrakten Rechtssetzungstätigkeit breitere Spielräume ein; das gilt auch für die Haftung der Mitgliedstaaten, nachdem der EuGH diese Voraussetzung auch auf diese Konstellation übertragen21 und damit einen Gleichlauf zwischen der EU-Eigenhaftung und den Haftungsvorgaben an die Mitgliedstaaten hergestellt hat.22 Diese Vorgabe für die Mitgliedstaaten gilt zwar nur für Verletzungen von Unionsrecht; sie wirft aber unausweichlich die vergleichende Frage nach der Legitima16
Zur besonderen Bedeutung der Staatshaftung als Schlußstein der EuGH-Dogmatik zur Richtlinienwirkung s. Gundel, in: Häde/Nowak/Pechstein (Hrsg.), Frankfurter Kommentar zu EUV/AEUV/GRC, 2017, Art. 288 AEUV Rn. 77 f. 17 Dazu m. w. N. Steiner, Die außervertragliche Haftung der EU nach Art. 340 Abs. 2 AEUV für rechtswidriges Verhalten, 2015, S. 93 ff.; Grossrieder Tissot, RTDE 2001, 91 ff.; Arnull, in: Heukels/McDonnell (eds.), The Action for Damages in Community Law, 1997, S. 129 ff.; s. zur Haftungszuordnung im Verhältnis zwischen EU und Mitgliedstaaten noch u. Fn. 45. 18 So hat der EuGH eine Haftung für rechtmäßiges Verhalten des EU-Gesetzgebers unter Verweis auf die großen Disparitäten zwischen den Mitgliedstaaten (s. o. Fn. 4) abgelehnt, s. EuGH, 9. 9. 2008 – verb. Rs. C-120/06 P u. 121/06 P (FIAMM u. a./Rat und Kommission), Slg. 2008, I-6513, Tz. 167 ff. = EuR 2009, 660 m. Anm. Haack = DVBl. 2009, 1051 (nur LS) m. Anm. Frenz/Götzkes; dazu Cortese, RIDPC 2010, 87 ff.; Coutron, RFDA 2009, 329 ff.; Danic, RevMC 2010, 128 ff.; Simon, Europe 11/2008, 22 ff.; Thies, 34 ELRev. (2009), 889 ff.; Verlage, EuZW 2009, 9 ff. 19 Zu dieser Kompetenzverteilung nach dem Modell des Exekutivföderalismus s. z. B. Gundel, in: Schulze/Janssen/Kadelbach (Hrsg.), Europarecht, 4. Aufl. 2020, § 3 Rn. 1 ff., 91 ff. 20 S. m. w. N. Steiner (Fn. 17), S. 167 ff. 21 Zur Übertragung dieser Anforderung EuGH, 5. 3. 1996 – verb. Rs. C-46/93 u. C-48/93 (Brasserie du Pêcheur), Slg 1996, I-1029, Tz. 40 ff. 22 Tatsächlich kann das Unionsrecht den Mitgliedstaaten unter dem Aspekt der Mindesteffektivität nicht Haftungsbedingungen abverlangen, die die Union für ihre eigene Haftung nicht akzeptiert, s. dazu Gundel, in: Schulze/Janssen/Kadelbach (Fn. 19), § 3 Rn. 179, 197; soweit das nationale Staatshaftungsrecht großzügigere Bedingungen vorsieht, müssen diese unter dem Gesichtspunkt des gleichwertigen Schutzes auch für Ansprüche wegen Verletzung von Unionsrecht gelten, s. noch u. Fn. 49.
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tion höherer Hürden für die haftungsrechtliche Geltendmachung von Verletzungen des nationalen Verfassungsrechts auf23. III. Die Entwicklung in Frankreich 1. Die rasche Anerkennung der Haftung für unions- oder völkervertragswidrige Gesetzgebung Die Staatshaftung für unionsrechtswidrige Gesetze wurde in Frankreich – anders als in Deutschland24 – im Anschluß an die Francovich-Entscheidung ohne großen Widerstand akzeptiert25 und von der Rechtsprechung auch auf gesetzliche Verstöße gegen andere völkerrechtliche Verträge übertragen,26 was auch deshalb nahelag, weil Art. 55 der französischen Verfassung generell den Vorrang völkerrechtlicher Verträge gegenüber den nationalen Gesetzen anordnet und die Durchsetzung dieses Vorrangs den Fachgerichten zukommt.27 Die Leichtigkeit dieses Schritts zur Anerkennung der Haftung für Vertragsverstöße kann auch damit zu erklären sein, daß der Vergleichsfall einer Haftung für verfassungswidrige Gesetze rein theoretisch blieb, weil eine solche Verfassungswidrigkeit bereits erlassener Gesetze weiterhin nicht verbindlich festgestellt werden konnte. Die unionsrechtliche Staatshaftung wurde allerdings zunächst als Haftung der Verwaltung für die fehlerhafte Anwendung von unionsrechtswidrigem – und damit aufgrund des Vorrangs des Unionsrechts unanwendbaren – Gesetzesrecht konstruiert, bis schließlich die Konstellation eines nicht vollzugsbedürftigen Gesetzes auftrat, in der sich die Rechtsprechung zu dem Ergebnis bekennen mußte, daß es sich tatsächlich um eine Haftung für Gesetzgebung han23 Die Konstellation ähnelt damit derjenigen der Inländerdiskriminierung, in der die vom Unionsrecht nicht erfaßten nationalen Lösungen für innerstaatliche Sachverhalte unter Rechtfertigungsdruck geraten; dort läßt sich eine Differenzierung allerdings durchaus begründen, s. z. B. Gundel, DVBl. 2007, 269 ff. 24 Zur Einordnung als Kompetenzüberschreitung in Teilen der deutschen Literatur und zur damit kontrastierenden Aufnahme in anderen Mitgliedsstaaten s. Tomuschat, in: FS Everling, 1995, Bd. 2, S. 1585 ff.; anders allerdings die Wahrnehmung bei Hartmann, Öffentliches Haftungsrecht, 2013, S. 220 f., der den Widerstand im Rückblick als eher marginal einstuft. 25 CE, Ass., 28. 2. 1992 – Sté Arizona Tobacco Products u. SA Philip Morris France, Rec. S. 78 mit den Schlußanträgen von Regierungskommissarin Laroque; dazu Gundel (Fn. 8), S. 386 ff.; Favret, Les influences réciproques du droit communautaire et du droit national dans le contentieux de la responsabilité publique extracontractuelle, 2000, S 291 ff.; Senkovic, L’évolution de la responsabilité de l‘Etat législateur sous l’influence du droit communautaire, 2000, S. 238 ff.; Broyelle, La responsabilité de l’État du fait des lois, 2003, S. 208 ff. 26 S. für die EMRK CE, Ass., 8. 2. 2007 – Gardedieu, RFDA 2007, 370 mit Schlußanträgen von Regierungskommissar Derepas S. 361 ff.; dazu Dieu, CDE 2007, 255 ff.; Clamour, Rec. Dalloz 2007, 1214 ff.; Lemaire, RTDH 2007, 909 ff.; Pouyard, RFDA 2007, 525 ff.; eine explizite Zuordnung zur responsabilité pour faute wurde allerdings nicht vorgenommen, obwohl die Haftungsvoraussetzungen sich nicht an den hohen Anforderungen der responsabilité sans faute (s. o. Fn. 12) ausrichteten. 27 S. Gundel (Fn. 8), insbes. S. 375 ff.
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delt.28 Es blieb allerdings zunächst dabei, daß zwar gesetzliche Verstöße gegen Unionsrecht von den Fachgerichten festgestellt und haftungsrechtlich sanktioniert werden konnten, dies bei Verfassungsverstößen aber ausgeschlossen blieb, weil ein Zugang zum insoweit allein zuständigen Conseil constitutionnel nicht eröffnet war.29 2. Die Einführung der Vorlage an den Conseil constitutionnel Diese Koordinaten haben sich mit der Verfassungsreform von 200830 grundsätzlich verändert: Mit ihr wurde eine Vorlage der Gerichte an den Conseil constitutionnel zur Klärung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen31 (sog. question prioritaire de constitutionnalité – QPC) eingeführt,32 die in den Grundzügen mit der Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG vergleichbar ist.33 Seitdem stellt sich die Frage, ob eine auf diesem Weg festgestellte Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes sich auch haftungsrechtlich niederschlägt, der festgestellte Verfassungsverstoß also staatshaftungsrechtlich in eine Verantwortung für fehlerhaftes Staatshandeln zu übersetzen ist.34 Nach der Kompetenzverteilung zwischen Conseil constitutionnel und Fachgerichten können diese über eine Haftung allerdings stets erst befinden, nachdem der 28
CE, Ass., 8. 2. 2007 – Gardedieu (o. Fn. 26); allerdings wurde auch dort die Einordnung als Haftung für fehlerhaftes Staatshandeln offengehalten, s. Alberton, AJDA 2006, 2155 ff.; Théron, RDP 2006, 1325 (1334 ff.); Cerda-Guzman, RFDA 2012, 38 ff.; Oum Oum, RFDA 2013, 627 ff. 29 S. bereits o. bei Fn. 7. 30 Art. 61-1 der Verfassung, eingefügt durch Loi constitutionnelle No 2008-724 v. 23. 7. 2008 „de modernisation des institutions de la Ve République“, J. O. R. F. 24. 7. 2008, 11890. 31 Dazu aus der französischen Literatur statt vieler die Beiträge in Cartier (Hrsg.), La QPC, le procès et ses juges, 2013; aus der deutschsprachigen Literatur z. B. Franzke, EuGRZ 2010, 414 ff.; Gundel, in: FS Spellenberg, 2010, S. 573 ff.; ders., EuR 2012, 213 ff.; M. Walter, Verfassungsprozessuale Umbrüche, 2015; Stelten, Gerichtlicher Grundrechtsschutz in Frankreich, 2018, S. 57 ff.; Marsch, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Marsch/Vilain/Wendel (Hrsg.), Französisches und deutsches Verfassungsrecht, 2015, S. 275 (308 ff.). 32 Zum Hintergrund dieser Reform gehört, daß sich insbesondere der Grundrechtsschutz gegen den Gesetzgeber aufgrund des Fehlens verfassungsgerichtlicher Prüfungsmöglichkeiten immer stärker auf die Anwendung der EMRK verlagert hatte, deren Vorrang gegenüber dem Gesetz die französischen Fachgerichte selbst durchsetzen können (s. o. Fn. 26 f.); dazu z. B. Gundel, EuR 2012, 213 (216 ff.). 33 Unterschiede liegen darin, daß nur die Frage der Verletzung von Grundrechten vorgelegt werden kann und die Vorlage stets durch die nationalen Höchstgerichte (Conseil d’Etat und Cour de cassation) erfolgt, an die die Instanzgerichte ihre Vorlagen zur Prüfung richten müssen; zudem verfügt der Conseil constitutionnel für seine Prüfung nur über die knappe Frist von drei Monaten. S. auch zur rechtsvergleichenden Einordnung des französischen Modells die Beiträge in Gay (Hrsg.), La question prioritaire de constitutionnalité – Approche de droit comparé, 2014. 34 S. zu diesem Zusammenhang die Schlußanträge von rapporteur public Doré zu TA Paris, 7. 2. 2017, AJDA 2017, 698 (699): „… la création de la procédure de QPC a rendu inévitable la reconnaissance d’une responsabilité de l’Etat du fait des lois reconnues contraires à la Constitution par le Conseil constitutionnel dans le cadre d’un contrôle a posteriori, après l’entrée en vigueur de la loi.“
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Conseil constitutionnel die Verfassungswidrigkeit ausgesprochen hat; wird eine Haftungsklage ohne eine vorangehende Entscheidung des Conseil constitutionnel anhängig gemacht, müßte die Verfassungswidrigkeit durch Vorlage in diesem Verfahren geklärt werden.35 Nachdem im Verfahren der QPC nur Grundrechtsverstöße gerügt werden und damit zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit führen können, scheiden z. B. Fehler im Gesetzgebungsverfahren grundsätzlich als Ausgangspunkt für Haftungsansprüche aus.36 3. Die neue Weichenstellung des Conseil d’Etat zur Haftung für verfassungswidrige Gesetzgebung Die Assemblée du contentieux als höchste Spruchformation des französischen Conseil d’Etat hat mit einer Entscheidung vom 24. 12. 201937 den entscheidenden Schritt getan und eine Haftung für verfassungswidrige Gesetzgebung anerkannt; im zugrundeliegenden Sachverhalt ging es um ein Gesetz zur Beteiligung der Beschäftigten öffentlicher Unternehmen an den Unternehmensergebnissen, das der Conseil constitutionnel im Jahr 2013 auf Vorlage des Conseil d’Etat für verfassungswidrig erklärt hatte.38 Der Conseil d’Etat stellt dabei zunächst die Haftung für verfassungswidrige Gesetzgebung und die bereits anerkannte Haftung für vertragswidrige Gesetzgebung gleichwertig nebeneinander, um im Anschluß allerdings zu Recht prozessual zu differenzieren: Während die Haftung für vertragswidrige Gesetzgebung vollständig in der Hand der Fachgerichte liegt, die die Vertragswidrigkeit eines Gesetzes selbständig feststellen und daraus haftungsrechtliche Konsequenzen ziehen können,39 setzt die Haftung für verfassungswidrige Gesetzgebung die vorherige Normverwerfung durch den Conseil constitutionnel voraus. Eine Haftung scheidet zudem aus, soweit der Conseil constitutionnel solche haftungsrechtlichen Konsequenzen in seiner Ent-
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So zu Recht Disant, RFDA 2011, 1180 (1191); s. auch CE, 6. 12. 2012 – Sté Air Algérie, RFDA 2013, 659 m. Anm. Cassia S. 653 ff. = RGDIP 2013, 375 m. Anm. Martucci. 36 So zu Recht Disant, RFDA 2011, 1180 (1192); Roblot-Troizier/Tusseau, RFDA 2018, 1141 (1143); zu denkbaren – begrenzten – Ausnahmen s. Malverti/Beaufils, AJDA 2020, 509 (514 f.). 37 CE, Ass., 24. 12. 2019 – Sté Paris Clichy, RFDA 2020, 145 mit den Schlußanträgen von rapporteur public Sirinelli S. 136 ff. u. Anm. Roblot-Troizier S. 149 ff.; dazu Malverti/Beaufils, AJDA 2020, 509 ff.; Roux, Rec. Dalloz 2020, 746 ff.; Vorinstanzen: TA Paris, 7. 2. 2017 – Sté Paris Clichy, AJDA 2017, 698 mit den Schlußanträgen von rapporteur public Doré; dazu Disant, AJDA 2017, 545; Ducharme, RDP 2017, 1227 ff.; CAA Paris, 5. 10. 2018 – Sté Paris Clichy, AJDA 2018, 2352 mit den Schlußanträgen von rapporteur public Delamarre; dazu Roblot-Troizier/Tusseau, RFDA 2018, 1141 ff. 38 CC, 1. 8. 2013 – No 2013-336 QPC – Sté Natixis Asset Management [Participation des salariés aux résultats de l’entreprise dans les entreprises publiques]. 39 S. o. bei Fn. 27.
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scheidung im Rahmen der ihm eingeräumten Rechtsfolgenausgestaltung40 ausgeschlossen hat;41 der Conseil constitutionnel hat diesen Vorbehalt wenig später bestätigt und damit zugleich die grundsätzliche Weichenstellung des Conseil d’Etat gebilligt.42 Weiter sind nur unmittelbar kausale Schäden zu ersetzen. Schließlich greift die – für Forderungen gegen den Staat generell geltende – vierjährige Verjährung ab Erkennbarkeit des Schadens, die ggf. erst später erfolgende Feststellung der Verfassungswidrigkeit durch den Conseil constitutionnel setzt keine neue Frist in Gang. Im Ergebnis führt diese letzte Voraussetzung zu einem – dem französischen Verwaltungsrecht eigentlich fremden43 – zumindest faktischen Vorrang des Primärrechtsschutzes, weil der Kläger binnen dieser Zeit die Verfassungswidrigkeitserklärung herbeiführen muß, wenn er sich nicht darauf verlassen will, daß dies auf anderem Wege geschieht. Im konkreten Fall verneint der Conseil d‘Etat eine Haftung allerdings im Ergebnis, weil kein direkter Kausalzusammenhang zwischen dem Verfassungsverstoß und dem geltendgemachten Schaden festgestellt werden konnte: Der Gesetzgeber hatte nach dem Urteil des Conseil constitutionnel nur seine Kompetenz unterschritten, indem er bestimmte Fragen der Regelung durch Verordnung überlassen hatte; materiell war die getroffene Regelung jedoch verfassungskonform, womit (nach deutschen Begriffen) der Schutzzweckzusammenhang fehlt. Das damit verneinte Erfor40 Gemäß Art. 62-1 der französischen Verfassung bewirkt die Verwerfung einer Gesetzesbestimmung im Rahmen der QPC grundsätzlich nur die Aufhebung der Bestimmung ab dem Zeitpunkt der Entscheidung; der Conseil constitutionnel kann aber abweichende Rechtsfolgen festsetzen, was regelmäßig zugunsten des Ausgangsklägers der QPC und parallel anhängiger Klagen erfolgt. Für Sachverhalte, die diese Voraussetzung nicht erfüllen, gilt die Regelung für die Vergangenheit weiter; zur haftungsrechtlichen Einschränkung dieses Grundsatzes s. noch Fn. 41. 41 Eine Beschränkung der Wirkung der Entscheidung des Conseil constitutionnel auf die Zukunft müßte dieselbe Wirkung haben, weil damit das Gesetz für den vorangehenen Zeitraum materiellrechtlich als verfassungskonform gilt, womit der Anknüpfungspunkt für eine Staatshaftung für rechtswidriges Handeln entfallen müßte. Der Conseil d’Etat hat mit seiner Entscheidung (Fn. 37) allerdings stattdessen Primär- und Sekundärrechtsschutz entkoppelt: Die Haftung kann danach auch durch Dritte und auch für die Vergangenheit geltendgemacht werden, obwohl Primärrechtsschutz für diesen Zeitraum erfolglos bliebe; kritisch dazu Ducharme, AJDA 2020, 1308 (1310 f.), allerdings mit dem Hinweis, daß diese Entkoppelung der Tradition des französischen Verwaltungsrechts entspricht, s. auch noch Fn. 43. 42 CC, 28. 2. 2020 – No 2019-828/829 QPC, AJDA 2020, 1307 m. Anm. Ducharme, Tz. 16: „… Ces mêmes dispositions [Art. 62-1 der Verf., s. o. Fn. 40] réservent également au Conseil constitutionnel le pouvoir de s’opposer à l’engagement de la responsabilité de l’Etat du fait des dispositions déclarées inconstitutionnelles ou d’en déterminer les conditions ou limites particulières.“ 43 Haftungsklagen sind nach französischem Staatshaftungsrecht auch in Bezug auf bestandskräftige Verwaltungsentscheidungen möglich, wenn sie nicht im Ergebnis auf die Beseitigung dieser Entscheidung abzielen, s. dazu C. Herrmann (Fn. 4), S. 126 ff.; Marsch, in: Dörr (Fn. 1), S. 195 (220); dieselbe Lösung gilt im Unionshaftungsrecht, s. z. B. EuG, 5. 5. 2019 – Rs. T-330/18 (Carvalho u. a./Parlament und Rat), Tz. 66 ff.; dazu Germelmann/Gundel, BayVBl. 2020, 613 (614).
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dernis der direkten Kausalität dürfte zum wichtigsten Steuerungselement dieser Haftungsanforderungen werden. Einen anderen Weg hatte kurz zuvor die französische Cour de cassation44 eingeschlagen, um auf Umwegen zu einer Haftung für den Vollzug verfassungswidriger Gesetze zu gelangen: Die in diesem Fall beklagte Kommune hatte die Zwangsunterbringung des Klägers auf der Grundlage eines später durch den Conseil constitutionnel für verfassungswidrig erklärten Gesetzes veranlaßt; die Cour de cassation hat nicht den Erlaß des Gesetzes, sondern seinen Vollzug als Anknüpfungspunkt der Haftung gewählt, was in dieser Konstellation auch im Ergebnis einen Unterschied begründet, weil es zur Passivlegitimation – und Kostenbelastung – der Kommune als Verwaltungsträger anstelle des Staates als Träger der Rechtssetzung führt. In welchem Verhältnis diese Konstruktionen zueinander stehen, wird die Rechtsprechung noch klären müssen – wobei festzuhalten ist, daß die Annahme eines fehlerhaften Verhaltens der Gesetzesanwender für die Zeit vor der Feststellung der Verfassungswidrigkeit des Gesetzes durch den Conseil constitutionnel nicht zu begründen sein wird, weil ihnen kein eigenes Verwerfungsrecht zukommt;45 insoweit ist die Lage anders als im Fall von Verstößen gegen Unionsrecht, in dem den mitgliedstaatlichen Behörden das Recht und die Pflicht zur Verwerfung, d. h. zur Nichtanwendung des unionsrechtswidrigen nationalen Gesetzesrechts zukommt46.
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Cass., 1re ch. civ., 26. 6. 2019, AJDA 2019, 2568 m. Anm. Ducharme. So zu Recht Disant, RFDA 2011, 1181 (1190); Ducharme, AJDA 2019, 2569 (2571). Die Lage entspricht derjenigen bei der Anwendung von erst später durch den EuGH für primärrechtswidrig erklärtem Unionsrecht: Auch in dieser Konstellation steht den nationalen Behörden aufgrund des Verwerfungsmonopols des Gerichtshofs kein Verwerfungsrecht zu, so daß ihnen die Anwendung auch nicht haftungsrechtlich zum Vorwurf gemacht werden kann, s. BGH, 27. 1. 1994 – III ZR 42/92, BGHZ 127, 37 = EuZW 1994, 219 m. Anm. H.-K. Ress = JZ 1994, 726 m. Anm. Herdegen zur Anwendung einer EU-Embargo-Verordnung durch die deutschen Behörden; auf die Gültigkeit der Verordnung kam es nicht an, weil sie zum Zeitpunkt der Anwendung nicht für ungültig erklärt worden war. S. auch BGH, 11. 3. 1993 – III ZR 44/92, EWS 1993, 222 = NJW 1993, 449 (Milchreferenzmengen); weiter z. B. CE, 12. 5. 2004 – Sté Gillot, Rec. Dalloz 2005, 261 m. Anm. Weisse-Marchal = RFDA 2004, 1027 mit Schlussanträgen von Regierungskommissar Séners S. 1021 ff. = AJDA 2004, 1487 m. Anm. Deguergue (keine nationale Haftung für Maßnahmen zur Bekämpfung von Tierseuchen, deren Durchführung von der Kommission angeordnet worden war). Die Haftung trifft in solchen Fällen allein die EU als Schöpfer des von den Mitgliedstaaten zu befolgenden Sekundärrechts, s. EuGH, 13. 2. 1979 – Rs. 101/78 (Granaria), Slg. 1979, 623, Tz. 4 ff.; EuGH, 19. 5. 1992 – verb. Rs. C-104/89 u. C-37/90 (Mulder u. a./Rat u. Kommission), Slg. 1992, I-3061, Tz. 9, 25. 46 Zur Nichtanwendungspflicht der nationalen Behörden s. grundlegend EuGH, 22. 6. 1989 – Rs. 103/88 (Fratelli Costanzo), Slg. 1989, 1839, Tz. 28 ff.; später ebenso z. B. EuGH (GK), 4. 12. 2018 – Rs. C-378/17 (Minister for Justice and Equality/Workplace Relations Commission), Tz. 38 ff.; dazu Drake, 57 CMLRev. (2020), 557 ff. 45
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IV. Parallele Entwicklungen in anderen EU-Mitgliedstaaten Die Weichenstellung des französischen Conseil d’Etat steht dabei nicht alleine, sondern läßt sich in einen europäischen Trend einordnen: So ist die Staatshaftung für legislatives Unrecht seit dem Jahr 2000 in der spanischen Rechtsordnung anerkannt,47 in Belgien gilt dies seit 2006.48 Die spanische Rechtslage hat auch schon den EuGH beschäftigt, der festgehalten hat, daß die Bedingungen für die haftungsrechtliche Geltendmachung eines gesetzlichen Verstoßes gegen Unionsrecht jedenfalls nicht anspruchsvoller sein dürfen als diejenigen für die Geltendmachung der Staatshaftung für Verfassungsverstöße (Grundsatz der Gleichwertigkeit);49 konkret folgte daraus, daß die vorherige Inanspruchnahme von Primärrechtsschutz bei der Geltendmachung von Verstößen gegen Unionsrecht nicht verlangt werden kann, wenn eine vergleichbare Voraussetzung für Schäden durch verfassungswidrige Gesetzgebung nicht besteht.50 Auch in diesen Rechtsordnungen wird die Staatshaftung als Konsequenz der verfassungsgerichtlichen Verwerfung eines Gesetzes verstanden, die durch Vorlagen der Fachgerichte angestoßen werden kann. Auf die Entwicklung des Unionsrechts wurde bei der Begründung dieser neuen Haftungssituationen nicht Bezug genommen; dennoch wird man annehmen können, daß der Bezugspunkt der unionsrechtlichen Staatshaftung zumindest atmosphärisch Einfluß genommen hat – zumal die bisherige Praxis des unionsrechtlichen Haftungsanspruchs gezeigt hat, daß zwar durchaus erhebliche Schadenssummen entstehen können,51 die Befürchtung einer ernsthaften
47 Erstmals Tribunal Supremo, 29. 2. 2000 – rec. 49/1998; dazu Picazo, RFDA 2019, 427 (428 ff.); Blandin, La responsabilité du fait des lois méconnaissant des normes de valeur supérieure, 2016, S. 93 ff. 48 Cass., 1re ch. (belg.), 28. 9. 2006 – Ferrara Jung, JT 2006, 594; dazu Alen, JT 2008, 97 ff.; van Compernolle/Verdussen, JT 2007, 433 ff.; van Drooghenbroeck, RCJB 2007, 367 ff.; s. weiter Cass., 1re ch., 10. 9. 2010 – C.G., JT 2011, 811; dazu Dubuisson/van Drooghenbroeck, JT 2011, 801 ff.; s. auch Verdussen, in: Renders (éd.), La responsabilité des pouvoirs publics, 2016, S. 395 ff.; van Drooghenbroeck, ebda., S. 332 ff.; Van Schoubroeck, in: Dörr (Fn. 1), S. 61 (70 ff.). 49 EuGH, 26. 1. 2010 – Rs. C-118/08 (Transportes Urbanos), Slg. 2010, I-635 = DCSI 2011, 45 m. Anm. Salvi; dazu Pérez de Nanclares, 47 CMLRev. (2010), 1847 ff.; Simon, Europe 3/2010, 15 f.; dort zu einer Regelung, nach der die Haftung für Verstöße gegen Unionsrecht nur von Geschädigten geltendgemacht werden konnte, die zuvor Primärrechtsschutz in Anspruch genommen hatten, während diese Voraussetzung für die Haftung für verfassungswidrige Gesetzgebung nicht galt. 50 Das vorlegende spanische Tribunal Supremo hatte geltendgemacht, daß der Primärrechtsschutz gegen verfassungswidrige Gesetzgebung aufwendiger sei, nämlich den Weg über das Verfassungsgericht gehen müsse, während bei Verstößen gegen Unionsrecht schon die Fachgerichte Abhilfe schaffen könnten; dem EuGH hat dies zur Rechtfertigung der unterschiedlichen Voraussetzungen nicht ausgereicht, s. Tz. 16 ff., 35 ff., 44 des Urteils. 51 S. zuletzt zur Anerkennung der Verantwortung Deutschlands für die unzureichende Umsetzung der Pauschalreiserichtlinie FAZ Nr. 289 v. 12. 12. 2019, S. 22: „Der Staat fängt Thomas-Cook-Urlauber auf“: Schaden von ca. 240 Millionen Euro.
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Gefahr für den Staatshaushalt aber doch übertrieben erscheint52 und zudem durch andere Stellschrauben – im Fall der unionsrechtlichen Staatshaftung vor allem durch das Erfordernis des hinreichend qualifizierten Verstoßes53 – begrenzt werden kann. Auch im Bereich der Staatshaftung zeigt sich damit ein indirekter Harmonisierungsimpuls des Unionsrechts über seinen eigenen Anwendungsbereich hinaus, indem überkommene restriktive Lösungen des nationalen Rechts unter Rechtfertigungsdruck geraten.54 V. Konsequenzen für die Lösungen im deutschen Staatshaftungsrecht? Die Rechtsprechung in den EU-Mitgliedstaaten zur Frage der Haftung für verfassungswidrige Gesetzgebung bietet damit zwar weiterhin kein einheitliches Bild; es läßt sich aber eine Tendenz zugunsten einer grundsätzlichen Zulassung der Staatshaftung für Gesetzgebung erkennen, nach der das für die Vergangenheit geltende Bild der einheitlichen Ablehnung einer solchen Haftung überholt erscheint. Damit wäre es auch für den BGH an der Zeit, seine restriktive Position zur Staatshaftung für verfassungswidrige Gesetzgebung zu überprüfen, und damit die Pattsituation in der deutschen Diskussion zu überwinden: Die Literatur lehnt den restriktiven Ansatz des BGH, wonach bei der Gesetzgebung keine drittgerichteten Amtspflichten bestehen,55 zwar überwiegend ab,56 soweit sie die Frage in der Sache diskutiert.57 Der BGH hat sich mit der verbreiteten Kritik, wonach jedenfalls die Verpflichtung des Gesetzgebers zur Beachtung der Grundrechte auch als individual52
Ähnlich Wróblewski, Die Staatshaftung für legislatives Unrecht in Deutschland, 2005, S. 63 f. 53 S. bereits o. Fn. 20 ff.; zur Auslegung des Merkmals s. Kirschnick, Der hinreichend qualifizierte Verstoß als Voraussetzung des unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs, 2015. 54 Sehr weitgehend Hartmann (Fn. 24), insbes. S. 247 ff., der die vollständige Übernahme des durch den EuGH entwickelten EU-Haftungssystems an der Stelle des überkommenen deutschen Staatshaftungsrechts vorschlägt; ebenso ders., in: Dörr (Fn. 1), S. 31 (58); zur dogmatischen Ausweichreaktion des BGH auf den Druck des europäischen Vorbilds s. u. bei Fn. 64 f. 55 St. Rspr., s. BGH, 29. 3. 1971 – III ZR 110/68, BGHZ 56, 40 (46); BGH, 24. 6. 1982 – III ZR 169/80, BGHZ 84, 292 (300); BGH, 30. 5. 1983 – III ZR 195/81, BGHZ 87, 321 (335); BGH, 10. 12. 1987 – III ZR 220/86, BGHZ 102, 350 (367 f.); BGH, 7. 6. 1988 – III ZR 198/87, NJW 1989, 101; BGH, 24. 10. 1996 – III ZR 127/91, BGHZ 130, 30 (32); in jüngerer Zeit BGH, 18. 10. 2012 – III ZR 196/11, EuZW 2013, 194 (199) m. Anm. Beyerbach. 56 S. die Nachw. in Fn. 58. 57 Vielfach und insbesondere in der zivilrechtlichen Kommentarliteratur zu § 839 BGB wird die BGH-Rechtsprechung allerdings ohne Auseinandersetzung übernommen, s. m. w. N. Schmitt/Werner, NVwZ 2017, 21 (25) mit der etwas zu weitgehenden Schlußfolgerung, daß „sich weite Teile des Schrifttums“ dem BGH angeschlossen hätten; ähnlich aber auch Maurer/ Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, 19. Aufl. 2017, § 26 Rn. 53; entgegengesetzt die Einschätzung des Meinungsstands bei Wróblewski (Fn. 52), S. 74 f.
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schützend bzw. drittgerichtet im Sinne des § 839 BGB gelten muß,58 aber nie substantiell auseinandergesetzt;59 stattdessen wird parallel eine weitere Begründungslinie angeführt, wonach die Drittgerichtetheit der Amtspflicht eine individualisierte Beziehung zwischen Amtspflicht und Geschädigtem erfordern soll.60 Eine solche Voraussetzung würde eine Haftung für normatives Unrecht tatsächlich ausschließen; sie ist aber letztlich eine reine Setzung, die sich weder aus dem Wortlaut von § 839 BGB und Art. 34 GG61 noch aus der Funktion eines (modernen62) Staatshaftungsrechts ergibt, sondern wohl auch eher auf das Streben nach einer Begrenzung des Haftungsrisikos zurückgehen dürfte. Eine substantielle Diskussion zwischen den Lagern findet allerdings seit längerem nicht mehr statt, und auch die in der Literatur teils erhoffte Intervention des Gesetzgebers zur Statuierung der Haftung unter Festlegung ihrer Voraussetzungen63 ist nicht absehbar. Auch der Impuls der unionsrechtlichen Staatshaftung hat diese Position bisher formal unberührt gelassen – was wohl auch darauf zurückzuführen ist, daß der BGH durch die Einordnung der unionsrechtlichen Haftung als eigenständigen Haftungsanspruch aus Art. 4 Abs. 3 EUV64 den optisch größtmöglichen Abstand zwi58
S. bereits Scheuing, in: FS Bachof, 1984, S. 343 (357); weiter z. B. Detterbeck/Windthorst/Sproll, Staatshaftungsrecht, 2000, § 9 Rn. 156 ff.; Dörr, in: ders. (Fn. 1), S. 121 (133 f.); Fetzer, Die Haftung des Staates für legislatives Unrecht, 1994, S. 88 ff.; Gurlit, in: v. Münch/ Kunig (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2012, Art. 34 Rn. 27; Hartmann (Fn. 24), S. 173 f.; Maurer/ Waldhoff (Fn. 57), § 26 Rn. 53; Papier, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG (54. EL 2009), Art. 34 Rn. 195; Rüfner, in: Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar zum GG (21. EL 2007), Art. 34 Rn. 60; Wieland, in: Dreier (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2015, Art. 34 GG Rn. 49 f.; Wróblewski (Fn. 52), S. 74 ff.; Wunderlich, Die Rechtsprechung des BVerfG zur Eigentumsgarantie und ihre Auswirkungen auf die Staatshaftung für legislatives Unrecht, 1994, S. 154 f. 59 S. nur im Ansatz BGH, 7. 6. 1988 – III ZR 198/87, NJW 1989, 101 f., wonach durch eine Einbeziehung der Grundrechte die einschränkende Wirkung der Voraussetzung verlorenginge; dazu treffend Detterbeck/Windthorst/Sproll (Fn. 58), § 9 Rn. 160, wonach für eine Funktion des Merkmals „Dritter“ als besondere Haftungsbegrenzung zugunsten der Legislative kein Ansatzpunkt im Wortlaut erkennbar ist. 60 S. z. B. BGH, 24. 6. 1982 – III ZR 169/80, BGHZ 84, 292 (299: nötig sei eine „besondere Beziehung“); BGH, 6. 7. 1989 – III ZR 251/87, BGHZ 108, 224 (227); BGH, 13. 10. 2011 – III ZR 126/10, NVwZ-RR 2012, 54 (55); zustimmend Detterbeck, in: Sachs (Hrsg.), GG, 8. Aufl. 2018, Art. 34 Rn. 43; Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, 6. Aufl. 2013, S. 106; v. Danwitz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, 7. Aufl. 2018, Art. 34 Rn. 112 ff.; Pfab, Staatshaftung in Deutschland, 1997, S. 82 f. 61 S. z. B. Hartmann/Jansen, DVBl. 2015, 752 (757); Detterbeck/Windthorst/Sproll (Fn. 58), § 9 Rn. 160. 62 Zutreffend ist natürlich, daß § 839 BGB ursprünglich auf Fehler bei der Rechtsanwendung und nicht auf die Rechtssetzung zugeschnitten war, s. z. B. Maurer/Waldhoff (Fn. 57), § 26 Rn. 53 f.; Ossenbühl/Cornils (Fn. 60), S. 106. 63 S. z.B Wieland, in: Dreier (Fn. 58), Art. 34 GG Rn. 50; wohl auch Maurer/Waldhoff (Fn. 57), § 26 Rn. 54. 64 Dieser eigenständige Anspruch soll neben den unverändert bleibenden nationalrechtlichen Staatshaftungsrechts-Ansprüchen stehen, s. grundsätzlich BGH, 24. 10. 1996 – III ZR 127/91, BGHZ 134, 30 = EuR 1997, 291 m. Anm. Hatje; zur Handhabung in anderen Mit-
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schen die unionsrechtlichen Anforderungen an die Mitgliedstaaten und das deutsche Staatshaftungsrecht gelegt hat;65 auch diese Konstruktion hat die deutsche Diskussion inzwischen trotz der damit verbundenen Umwege und Brüche66 überwiegend hingenommen. Dennoch erscheint es weiterhin schwer nachvollziehbar, daß eine Verletzung des Unionsrechts durch den Gesetzgeber Haftungsansprüche begründet, während eine Verletzung des Verfassungsrechts haftungsrechtlich sanktionslos bleiben soll67. Ebenso wie in Frankreich nach der neuen Rechtslage müßte aufgrund des Verwerfungsmonopols des Art. 100 Abs. 1 GG allerdings gelten, daß die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes nicht ohne entsprechende Feststellung des BVerfG zum Ausgangspunkt der Haftung werden kann.68 VI. Ergebnisse Soweit eine Rechtsordnung die Kontrolle der Gesetzgebung am Maßstab der Verfassung vorsieht, ist eine Umsetzung der Ergebnisse dieser Kontrolle in staatshaftungsrechtliche Konsequenzen zwar nicht logisch zwingend, aber doch sehr naheliegend.69 Damit wird kein Automatismus begründet, der von der Feststellung der Verfassungswidrigkeit unmittelbar zur Haftung führen müßte; vielmehr kann das Staatshaftungsrecht durchaus weitergehende Voraussetzungen und Einschränkungen vorsehen, wie sie sich z. B. aus dem Erfordernis der drittgerichteten Amtspflicht gemäß § 839 BGB auch dann ergeben, wenn dieses Merkmal nicht pauschal zum gliedstaaten, die die unionsrechtlich gebotene Haftung überwiegend auf der Grundlage ihres „regulären“ Staatshaftungsrechts verwirklichen, s. Hartmann, in: Dörr (Fn. 1), S. 31 (53 ff.). 65 Zu diesem naheliegenden, vom BGH aber nicht angesprochenen Hintergrund s. z. B. Gurlit, in: v. Münch/Kunig (Fn. 58), Art. 34 Rn. 41; Hartmann, in: Dörr (Fn. 1), S. 31 (54); dem BGH zustimmend Ossenbühl/Cornils (Fn. 60), S. 629: Das nationale Recht bleibe so „vor unnötigen Eingriffen und Verbiegungen verschont.“ 66 Nachdem die EuGH-Rechtsprechung tatsächlich nur Mindestanforderungen formuliert und im übrigen auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist – s. insbes. zur Bestimmung des Anspruchsgegners EuGH, 1. 6. 1999 – Rs. C-302/97 (Konle), Slg. 1999, I-3099 = EuZW 1999, 635, Tz. 61 ff. und dazu Gundel, DVBl. 2001, 95 ff.; Weber, NVwZ 2001, 287 ff.; Anagnostaras, 26 ELRev. (2001), 139 ff. –, muß der BGH die durch seine Lösung entstehenden Regelungslücken durch Analogien zum deutschen Staatshaftungsrecht schließen, das nach seiner Lösung eigentlich nicht anwendbar ist: So zur Passivlegitimation BGH, 2. 12. 2004 – III ZR 358/03, BGHZ 161, 224 = DVBl. 2005, 371; zum Vorrang des Primärrechtsschutzes gemäß § 839 Abs. 3 BGB BGH, 9. 10. 2003 – III ZR 342/02, BGHZ 156, 294 (297 f.); BGH, 4. 6. 2009 – III ZR 144/05, BGHZ 181, 199 (211 ff.). 67 S. v. Danwitz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Fn. 60), Art. 34 Rn. 115; ebenso zur französischen Rechtslage vor der Anerkennung der Haftung für verfassungswidrige Gesetzgebung Ducharme, RDP 2017, 1227 (1232). 68 S. schon Scheuing, in: FS Bachof, 1984, S. 343 (356); anders Baumeister/Ruthig, JZ 1999, 117 ff., die schon vor dieser Feststellung eine haftungssanktionierte Verpflichtung der Behörden zur Aussetzung von Verfahren annehmen, die auf der Grundlage möglicherweise verfassungswidriger Gesetze zu entscheiden wären. 69 S. das (weitergehende) Zitat in Fn. 34; wie hier Malverti/Beaufils, AJDA 2020, 509 (511 f.).
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Ausschluß der Rechtssetzung aus dem Geltungsbereich der Amtshaftung genutzt wird70. Die Neuorientierung der französischen Rechtsprechung könnte und sollte jedenfalls auch die deutsche Rechtsprechung zur kritischen Überprüfung ihrer Lösungen inspirieren: Sie zeigt, daß auch ein Abschied von über lange Zeit als unverrückbar geltenden Grundsätzen möglich wird, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Auch für den Ausschluß der Haftung für normatives Unrecht in der deutschen Rechtsordnung könnte dieser Zeitpunkt nun erreicht sein.
70 S. für Frankreich o. im Text vor Fn. 44: Keine Haftung für nur kompetenzwidrige, materiell aber nicht grundrechtswidrige Regelungen; ebenso für die Eigenhaftung der Union EuG, 3. 5. 2017 – Rs. T-531/14 (Sotiropoulou u. a./Rat), Tz. 70 ff.; EuGH, 13. 3. 1992 – Rs. C282/90 (Vreugdenhil), Slg. 1992, I-1937, Tz. 20.
Befristung von Arbeitsverhältnissen mit Fußballspielern Ruhe nach oder vor dem Sturm? Von Martin Gutzeit I. Sedativum für die Fußballwelt: BAG vom 16. 1. 2018, 7 AZR 312/16 Nach der Verkündung der Entscheidung des 7. Senats des BAG am 16. 1. 20181 über die „regelmäßige Zulässigkeit“ von Befristungen der Arbeitsverträge mit Lizenzspielern in der 1. Fußball-Bundesliga war das erleichterte Aufatmen in der Fußballwelt nicht zu überhören. Der Vizepräsident des Deutschen Fußball-Bundes (DFB), Dr. Rainer Koch, beeilte sich, das BAG für seine fußballfreundliche Rechtsauffassung zu loben: „Jeder, der Fußball spielt, aber auch jeder Mann und jede Frau jenseits der 40 weiß, dass man als Fußballer nicht mit 67 in Rente gehen kann, sondern schon weit früher seine aktive Karriere auf Grund nachlassender körperlicher Leistungsfähigkeit beenden muss. Diese Umstände rechtfertigen sachlich eine Befristung der Verträge, was das BAG jetzt unmissverständlich und letztinstanzlich klargestellt hat“.2 Auch weitere bedeutende Akteure des deutschen Fußballs (sämtlich jenseits der von Vizepräsident Koch proklamierten erkenntniskritischen Altersgrenze) gaben sich erleichtert. „Das Urteil besitzt für Mainz 05 und den gesamten Fußball grundlegende Bedeutung“, sagte der Sportvorstand der Mainzer Rouven Schröder. Und Jürgen Paepke, Direktor für Recht bei der Deutschen Fußball Liga (DFL), freute sich darüber, „dass jetzt Rechtsklarheit herrscht“.3 „Rechtsklarheit in Befristungsfragen“ wäre dem Fußball (und auch anderen Sportarten) gewiss zu wünschen. Doch bleiben die befristungsrechtlichen Fragezeichen auch nach der Entscheidung des BAG deutlich größer, als es die eiligen Stellungnahmen der Fußballfunktionäre vermuten lassen. Das liegt zunächst daran, dass mit Blick auf die Entscheidungsgründe des BAG durchaus praxisrelevante Konstellationen verbleiben, die sich über die vom 7. Senat bemühten Argumentationsstränge schwerlich rechtfertigen lassen (dazu unter III.). Zumindest besteht für sol1 BAG vom 16. 1. 2018, 7 AZR 312/16, AP Nr. 166 zu § 14 TzBfG = EzA § 14 TzBfG Eigenart der Arbeitsleistung Nr. 5 = NZA 2018, 703. 2 Abrufbar unter https://www.dfb.de/news/detail/dfb-vizepraesident-koch-begruesst-urteildes-bundesarbeitsgerichtes-180596/ (zuletzt abgerufen am 13. 8. 2020). 3 Beide zitiert nach SID, Befristete Verträge für Profis rechtens, Frankfurter Rundschau vom 5. 1. 2019 (abrufbar unter: https://www.fr.de/sport/fsv-mainz-05/befristete-vertraege-pro fis-rechtens-10981342.html – zuletzt abgerufen am 13. 8. 2020).
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che Fälle schon einfachrechtlich noch ein erheblicher argumentativer Ergänzungsbedarf. Vor allem aber sind die europarechtlichen Fragen einer Befristung von Arbeitsverhältnissen mit Fußballprofis noch nicht hinreichend abgesichert (hierzu unter IV.). An die Entscheidung des BAG vom 16. 1. 2018 sei – soweit im befristungsrechtlichen Kontext von Interesse – kurz erinnert: Der Torwart Heinz Müller war bei dem 1. FSV Mainz 05 seit dem 1. 7. 2009 als Lizenzspieler beschäftigt. Der Vertrag war zunächst bis zum 30. 6. 2012 befristet. Am 7. 5. 2012 wurde ein weiterer Arbeitsvertrag mit einer Befristung bis zum 30. 6. 2014 geschlossen. Das BAG hatte die Befristung des Arbeitsvertrags bis zum 30. 6. 2014 akzeptiert. Sie sei aufgrund der Eigenart der Arbeitsleistung nach § 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 TzBfG gerechtfertigt. Zwar sei in § 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 TzBfG nicht näher bestimmt, welche „Eigenarten der Arbeitsleistung“ die Befristung eines Arbeitsvertrags rechtfertigen könnten. Das Gericht verwies zunächst darauf, dass nach den Gesetzesmaterialien mit § 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 TzBfG jedenfalls Befristungskonstellationen angesprochen sein sollen, bei denen verfassungsrechtlichen Besonderheiten, die sich aus der Rundfunkfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) oder der Freiheit der Kunst (Art. 5 Abs. 3 GG) ergeben, Rechnung getragen werden muss – gedacht war insbesondere an die Befristung von Arbeitsverträgen mit programmgestaltenden Mitarbeitern bei Rundfunkanstalten oder mit Bühnenkünstlern.4 Damit sei die praktische Bedeutung des Sachgrundes jedoch noch nicht erschöpft. Der 7. Senat verwies auf frühere Entscheidungen, in denen er bereits den Anwendungsbereich dieses Sachgrundes über die in der Entwurfsbegründung ausdrücklich angesprochenen Fälle hinaus erstreckt hatte.5 Für die Interpretation des Befristungsgrundes der „Eigenart der Arbeitsleistung“ konstatierte das BAG ganz grundlegend: Auch wenn nach der gesetzlichen Wertung der befristete Arbeitsvertrag die Ausnahme ist, so kann die Eigenart der Arbeitsleistung die Befristung eines Arbeitsvertrags dann rechtfertigen, wenn die Arbeitsleistung Besonderheiten aufweist, aus denen sich ein „berechtigtes Interesse“ der Parteien (insbesondere des Arbeitgebers) ergibt, statt eines unbefristeten nur einen befristeten Arbeitsvertrag abzuschließen. Diese besonderen Umstände müssten das Inter-
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So die Begründung des Entwurfs eines Gesetzes über Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge und zur Änderung und Aufhebung arbeitsrechtlicher Bestimmungen – BTDrs. 14/4374, S. 19. 5 Für einen Schauspieler in einer Krimiserie: BAG vom 30. 8. 2017, 7 AZR 864/15, AP Nr. 162 zu § 14 TzBfG = EzA § 14 TzBfG Eigenart der Arbeitsleistung Nr. 2 = NZA 2018, 229; für Arbeitsverträge mit wissenschaftlichem Personal an wissenschaftlichen Einrichtungen grundsätzlich auch: BAG vom 18. 5. 2016, 7 AZR 533/14, AP Nr. 6 zu § 2 WissZeitVG = EzA § 620 BGB 2002 Hochschulen Nr. 20 = NZA 2016, 1276; vgl. außerdem aus der Zeit vor Geltung des TzBfG zur Befristung der Arbeitsverhältnisse von wissenschaftlichen Mitarbeitern einer Parlamentsfraktion BAG vom 26. 8. 1998, 7 AZR 450/97, AP Nr. 202 zu § 620 BGB Befristeter Arbeitsvertrag = EzA § 620 BGB Nr. 153 = NZA 1999, 149.
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esse des Arbeitnehmers an der Begründung eines Dauerarbeitsverhältnisses überwiegen. Solch besondere Umstände identifizierte der 7. Senat in seiner Entscheidung nunmehr grundsätzlich und regelmäßig bei Arbeitsvertragsbeziehungen zwischen einem Fußballverein der 1. Bundesliga und einem Lizenzspieler. Er ließ sich dabei von folgenden Erwägungen leiten: - Der Lizenzspieler schulde (im kommerzialisierten und öffentlichkeitsgeprägten Spitzenfußball) sportliche Höchstleistungen. Sportliche Höchstleistungen könne ein Lizenzspieler aber naturgemäß nur für eine von vornherein begrenzte Zeit erbringen und nicht dauerhaft bis zum Rentenalter. Auf der Möglichkeit der Leistungserbringung bis zum Rentenalter fuße aber das dem Gesetz zugrundeliegende Modell eines unbefristeten Dauerarbeitsverhältnisses. Da diese Grundvoraussetzung im Leistungssport nicht greife, resultiere daraus ein berechtigtes Interesse der Vertragsparteien (insbesondere des Arbeitgebers), lediglich ein befristetes Arbeitsverhältnis zu begründen. - Die Befristungsmöglichkeit im Profisport (die sich dort zu einer praktisch durchgängigen Befristungspraxis verdichtet hat) diene ferner zugleich den Interessen der Spieler selbst, da auch diese von dem durch die Befristungspraxis beförderten sportlichen Erfolg einer Mannschaft profitierten (insbesondere auch hinsichtlich der Höhe der Vergütung). So könne der Trainer über die Befristung leistungsschwächere Spieler oder solche Spieler, die nicht mehr ins mannschaftliche Gefüge passten, leichter austauschen. Außerdem seien über eine Befristung auch die Spieler selbst an den Verein gebunden (vgl. § 15 Abs. 3 TzBfG), weshalb der Trainer mit den vorhandenen (und gebundenen) Spielern die Mannschaft über einen längeren Zeitraum entwickeln und formen könne. Beides befördere die Qualität der Mannschaft. - Schließlich führe die Befristungspraxis zu mehr Fluktuation, was leistungsstärkeren Lizenzspielern sowie talentierten Nachwuchsspielern zu Gute komme. Deren Wechselchancen würden auf diese Weise erhöht. Selbst auf das (internationale) Transfersystem – und damit auf (untergesetzliche!) verbandsautonome Regelungen6 – verwies das BAG. - Das Transfersystem, das Vereinswechsel aus Wettbewerbsgründen nur innerhalb gewisser Transferfenster gestattet, verlange gewissermaßen eine durch Rechtssicherheit in Bestandsfragen vermittelte Planungssicherheit. Diese Sicherheit würde über befristete Arbeitsverträge erreicht. Die Mannschaft könne dann bei entsprechender Befristungsdauer der einzelnen Spielerarbeitsverträge innerhalb der Transferfenster neu zusammengestellt und formiert werden. 6 Es sollte freilich klar sein, dass über untergesetzliche (verbandsautonome) Regelungen der arbeitsrechtliche Bestandsschutz nicht per se abgesenkt werden kann; fernliegend A. Koch, RdA 2019, 54 (59 f.), der dafür auf Art. 9 Abs. 1 GG verweist; problematisch auch Katzer/ Frodl, NZA 2015, 657 (661); gegen solche Thesen richtig Morgenroth, ZStV 2019, 63 (63 f.).
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- Umgekehrt ließen sich über lange Vertragslaufzeiten Ablösesummen generieren, sofern andere Vereine Interesse an längerfristig gebundenen Spielern hätten. Durch einen „Verkauf“ selbst ausgebildeter Spieler würden die Investitionen der Vereine in die Ausbildung dieser Spieler kompensiert.
II. (Kurze) Einordnung der Entscheidung in das Befristungsrecht Der Sachgrund der Befristung wegen der „Eigenart der Arbeitsleistung“ ist ein reichlich schillernder und wenig greifbarer Befristungsgrund. Die in der Entwurfsbegründung eines Gesetzes über Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge angesprochenen Befristungskonstellationen mit besonderen verfassungsrechtlichen Implikationen (Rundfunk- und Kunstfreiheit) sind – darin ist dem BAG zu folgen – nicht abschließend gedacht. Die Entwurfsbegründung spricht selbst davon, dass diese Fälle dem Sachgrund der „Eigenart der Arbeitsleistung“ nur „insbesondere“ unterfallen.7 Der in § 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 TzBfG verwandte Begriff der „Eigenart der Arbeitsleistung“ verlangt nicht einmal nach einer besonderen verfassungsrechtlichen Relevanz der Eigenart.8 Hierfür fehlt schon jeder Anhaltspunkt im Normtext. Es ist deshalb im Ausgangspunkt überzeugend, wenn das BAG meint, die „Eigenart der Arbeitsleistung“ könne die Befristung eines Arbeitsvertrags dann rechtfertigen, wenn die Arbeitsleistung Besonderheiten aufweise, aus denen sich ein berechtigtes Interesse der Vertragsparteien (insbesondere des Arbeitgebers) ergebe, statt eines unbefristeten nur einen befristeten Arbeitsvertrag abzuschließen.9 Allerdings kann hierbei mit Blick auf das Bestandsschutzanliegen nicht jedwedes Interesse an einer Befristung in Ansatz gebracht werden;10 es muss sich um ein besonderes Interesse handeln. Das BAG betont selbst richtig, dass sich ein solch besonderes Befristungsinteresse gerade aus den „Besonderheiten der Arbeitsleistung“ ergeben müsse.11 Bei seiner nachfolgenden Analyse der unterschiedlichen Interessen vernachlässigt der Senat dann aber sogleich seine eigene (und richtige) Grundthese. Er berücksichtigt zur Rechtfertigung der Befristung unvermittelt (und losgelöst von den „Besonderheiten der Arbeitsleistung“) eben doch jedwedes Interesse, das für eine Befristung streitet.12 Es werden vom BAG also auch solche Interessen an einer Befristung in Ansatz gebracht, die weitgehend unterschiedslos bei sämtlichen 7 BT-Drs. 14/4374, S. 19; vgl. auch Boemke/Jäger, RdA 2017, 20 (21); Walker, NZA 2016, 657 (658 f.). 8 Backhaus, in: Ascheid/Preis/Schmidt, 6. Aufl. 2021, § 14 TzBfG Rn. 132; Boecken, in: Boecken/Joussen, TzBfG, 6. Aufl. 2019, § 14 TzBfG Rn. 82, 88; Boemke/Jäger, RdA 2017, 20 (22); a. M. Morgenroth, ZStV 2019, 63 (63 f.). 9 BAG vom 16. 1. 2018 (Fn. 1); so auch Boecken (Fn. 8), § 14 TzBfG Rn. 82. 10 Backhaus (Fn. 8), § 14 TzBfG Rn. 132 verlangt etwa „außergewöhnliche Umstände“, die ein Interesse des Arbeitgebers an der Befristung begründen. 11 In diesem Sinne auch Schütz, HzA, Gruppe 1, Teilbereich 2 (Stand 8/2020) Rn. 429. 12 Zust. allerdings Walker, SpuRt 2018, 172.
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(befristeten) Arbeitsverhältnissen vorgetragen werden könnten. Das ist mit dem im Gesetz angelegten Grundsatz einer nur ausnahmsweisen Zulässigkeit befristeter Arbeitsverträge nicht vereinbar.13 Im Übrigen ist es auch eine nicht ganz „ungefährliche“ Argumentation. Über sie öffnet das BAG durchaus eine Hintertür, den befristungsrechtlichen Bestandsschutz mit Blick auf dessen unerwünschte Folgen auch in „gewöhnlichen“ Arbeitsverhältnissen abzusenken. Es ist deshalb nicht überzeugend, wenn das BAG für eine Befristung nach § 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 TzBfG auf eine stärkere Fluktuation der Spieler verweist, wodurch einzelnen Spielern möglicherweise Vorteile bei der Vereins- bzw. Arbeitgebersuche entstünden. Auch für Arbeitsmärkte anderer Branchen hätte eine Rücknahme des Bestandsschutzes entsprechende Effekte. Als eine „Besonderheit der Arbeitsleistung im Fußball“ lassen sich solch allgemeine Arbeitsmarkteffekte jedenfalls nicht begreifen.14 Gleiches gilt für weitere (allgemeine) wirtschaftliche Erwägungen, die aus einer Rücknahme des Bestandsschutzes resultieren sollen und die der 7. Senat zur Rechtfertigung einer Befristung mit Lizenzspielern ins Feld führt. Angesprochen sind etwa die Ablösesummen, die sich bei langfristig gebundenen Spielern durch deren „Verkauf“ während der Vertragslaufzeit generieren lassen. Ungeachtet dessen, dass sich ein entsprechender Effekt auch bei unbefristeten Arbeitsverhältnissen durch lange (gewillkürte) Kündigungsfristen15 oder durch einen Ausschluss der ordentlichen Kündbarkeit in den ersten Jahren16 erreichen ließe, bedeuten bloße monetäre Effekte schon im Ansatz keine Eigenart der Arbeitsleistung.17 Jeder arbeitsrechtliche Bestandsschutz und jede längerfristige vertragliche Bindung zeitigt ökonomische Konsequenzen, die sich entsprechend ausweisen lassen. Auch das ist keine Besonderheit der Arbeitsleistung im Fußball. Nicht überzeugend ist es deshalb ferner, wenn der 7. Senat sogar ein „besonderes“ Interesse (auch) der Spieler an den Befristungen wegen einer höheren Vergütungserwartung behauptet.18 Die betriebswirtschaftliche Optimierung bestimmter Einhei13 Staudinger/Preis (2019) § 620 BGB Rn. 123a betont richtig, dass der Regel-AusnahmeCharakter von Dauerstellen und Befristungen auch im Sport zur Geltung kommen müsse. 14 Gegen derartige Erwägungen auch Fischinger/Reiter, NZA 2016, 661 (662: „absurde Argumentation“); Fischinger, NJW 2018, 1996; ferner Strake, RdA 2018, 46 (48); zust. indes M. Fröhlich, EuZA 2019, 111 (115 – dort allerdings unter Hinweis auf § 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 6 TzBfG). 15 Unter Anknüpfung an § 624 BGB und § 15 Abs. 4 TzBfG werden gewillkürte Kündigungsfristen bis zu fünf Jahren und sechs Monaten als grundsätzlich zulässig angesehen – dazu BeckOGK/Klumpp, Stand: 1. 8. 2020, § 622 BGB Rn. 78 ff.; ErfK/Müller-Glöge, 20. Aufl. 2020, § 622 BGB Rn. 42 f.; MüKoBGB/Hesse, 8. Aufl. 2020, § 622 BGB Rn. 95 f. 16 Bepler, jM 2016, 105 (108); allgemein zu einem Kündigungsausschluss durch einzelvertragliche Vereinbarung BeckOGK/Sutschet, Stand: 1. 9. 2020, § 620 BGB Rn. 80 ff. 17 In diesem Sinne allerdings auch Walker, NZA 2016, 657 (660). 18 Eine höhere Vergütungserwartung bezweifelt in rechtstatsächlicher Hinsicht A. Koch, RdA 2019, 54 (59).
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ten durch die Herausnahme leistungsschwächerer Arbeitnehmer scheitert aus gutem Grund (!) vielfach und branchenübergreifend an Bestandsschutzregelungen. Es ist eine nachgerade gefährliche Argumentation, wenn man mit dem BAG gegen den befristungsrechtlichen Bestandsschutz ernstlich das Vergütungsinteresse der leistungsstarken Arbeitnehmer in Stellung bringt.19 Dass allgemeine (rein) wirtschaftliche Erwägungen im Rahmen der Prüfung eines Sachgrunds für eine Befristung grundsätzlich nicht in Ansatz gebracht werden können, hat das BAG in früheren Entscheidungen noch klar gesehen und ausgesprochen. So hat das BAG etwa in einer Entscheidung vom 2. 7. 2003,20 in der es um die Wirksamkeit einer auflösenden Bedingung des Arbeitsvertrags mit einer Schauspielerin für eine Fernsehserie ging, noch gemeint, die auflösende Bedingung sei sachlich gerechtfertigt, weil sie maßgeblich auf künstlerischen Erwägungen beruhe. In Rede stünde „in erster Linie die künstlerische Gestaltungsfreiheit“ der Produktionsanstalt. Es ginge demgegenüber – so der 7. Senat seinerzeit – „nicht nur (um) das wirtschaftliche Interesse“ an der Beendigung des Arbeitsverhältnisses.21 Überzeugend ist freilich der Hinweis des BAG auf den intensiven sportlichen Wettbewerb im Profifußball, der sportliche Höchstleistungen einfordert. Es liegt auf der Hand, dass diese sportlichen Höchstleistungen von den Akteuren nur für einen begrenzten Zeitraum erbracht werden können.22 Eben hier liegt in der Tat eine „Besonderheit (Eigenart) der Arbeitsleistung im Fußball“, die eine Befristung grundsätzlich rechtfertigen kann.23 Die Vereine in ihrer Rolle als Sportarbeitgeber müssen sich von einem Spieler am („physischen“) Ende seiner Profispielerkarriere lösen können.24 Auf eine personenbedingte Kündigung in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis (als Alternativmodell) können die Vereine nicht verwiesen werden. Die damit ausgelöste Kündigungslast bedeutete für die Vereine selbst dann eine
19 Zu Recht ablehnend auch Backhaus, jM 2018, 324 (327); für eine Berücksichtigung von Vergütungsinteressen jedoch Walker, NZA 2016, 657 (661). 20 BAG vom 2. 7. 2003, 7 AZR 612/02, AP Nr. 29 zu § 620 BGB Bedingung = EzA § 620 BGB 2002 Bedingung Nr. 2 = NZA 2004, 311. 21 Dazu auch Boecken (Fn. 8), § 14 TzBfG Rn. 85; entgegen Boemke/Jäger, RdA 2017, 20 (22), hat das BAG auch nicht in seiner Entscheidung vom 16. 4. 2008 (7 AZR 85/07, AP Nr. 44 zu § 14 TzBfG = NJW 2009, 795) über die Befristung eines Arbeitsvertrags mit einem Fremdsprachenlektor auf wirtschaftliche Gründe zurückgegriffen. 22 Zu typischen „Spielerkarrieren“ vgl. instruktiv Katzer/Frodl, NZA 2015, 657 (658 f.); zu Besonderheiten der Arbeitsleistung ebd. (659). 23 Richtig Boemke/Jäger, RdA 2017, 20 (24 f.); M. Fröhlich, EuZA 2019, 111; Stopper/ Dressel, NZA 2018, 1046 (1048); Walker, SpuRt 2018, 172; kritisch hingegen Backhaus (Fn. 8), § 14 TzBfG Rn. 421; Bepler, jM 2016, 105 (108 f.); A. Koch, RdA 2019, 54 (58). 24 An diesen Befund knüpfen sich (alters)diskriminierungsrechtliche Fragen an, denen hier aber nicht nachgegangen werden kann – dazu Gutzeit, Auswirkungen des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes auf das Sportrecht, in: Klaus Vieweg (Hrsg.), Facetten des Sportrechts, 2009, S. 55 (68 f.); Walker, NZA 2016, 657 (659); sehr restriktiv ArbG Mainz vom 19. 3. 2015, 3 Ca 1197/14, NZA 2015, 684.
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kaum zu bewältigende rechtliche Hürde,25 wenn ein führender Spitzenspieler zum früheren Spitzenspieler mutiert. Die enormen rechtlichen Unwägbarkeiten einer (personenbedingten) Kündigung legitimieren durchaus eine Befristung. Vor einer „Endlosbindung“ an ehemaliges Spitzenpersonal müssen die Vereine bewahrt werden.26 Die Frage ist freilich, ob diese Besonderheit (Eigenart) die gegenwärtig im Profisport zu beobachtende „Befristungsbeliebigkeit“ trägt. III. Weiterhin unklare Fallkonstellationen Im argumentativen Fokus für eine Rechtfertigung der Befristung von Arbeitsverträgen mit Lizenzspielern – daran sei noch einmal erinnert – steht der sportliche Höchstleistungen einfordernde intensive Wettbewerb, mit dem sich eine rentennahe Beschäftigung von Fußballspielern nicht verträgt. So sehr es auf der Hand liegt, dass sportliche Höchstleistungen wegen des altersbedingten Leistungsabfalls nicht bis in ein höheres Alter („Rentenalter“) erbracht werden können, so sehr ließe sich darüber nachdenken, ob die vom BAG in Bezug genommenen „sportlichen Höchstleistungen“ unterschiedslos auch für Befristungssachverhalte bei Mannschaften in niederklassigeren Ligen ins Feld geführt werden können. Möglicherweise können Spieler in unteren Ligen auch noch in einem höheren Alter sportlich bestehen. Diese Frage ist bereits Gegenstand instanzgerichtlicher Entscheidungen und im Ergebnis umstritten.27 Und jenseits des Rasens behaupten erste Stimmen sogar eine Adaption der Grundsätze der Heinz-Müller-Entscheidung des BAG auch für die digitale Welt des E-Sports.28 Über solche Fragen ließe sich trefflich streiten. Der Blick soll vorliegend allerdings auf die Bundesliga beschränkt bleiben. Auch das BAG spricht in seiner Entscheidung ausdrücklich nur von Vereinen mit Mannschaften im Wettbewerb der 1. Bundesliga. Doch auch dort – also im Bereich der 1. Bundesliga – lassen sich zumindest zwei praxishäufige Befristungsszenarien identifizieren, die sich schwerlich über die Erwägungen des BAG in der Heinz-Müller-Entscheidung rechtfertigen lassen.
25 Zu den Unwägbarkeiten einer personenbedingten Kündigung im Sport Bepler, jM 2016, 105 (110); Fischinger/Reiter, NZA 2016, 661 (663); Walker, NZA 2016, 657 (659); relativierend (aber ohne konkreten Lösungsvorschlag) Boemke/Jäger, RdA 2017, 20 (25 f.). 26 Hierzu Fischinger/Reiter, NZA 2016, 661 (663 f.). 27 Die Grundsätze auf Befristungen von Verträgen mit Vertragsspielern der Fußball-Regionalliga (4. Spielklasse) übertragend LAG Köln vom 15. 8. 2018, 11 Sa 991/17, SpuRt 2019, 182; a. M. Pfaffenberger, npoR 2018, 250; die Entscheidung des LAG Köln distanziert referierend das Mitglied des 7. Senats des BAG Rennpferdt, in: Henssler/Willemsen/Kalb, Arbeitsrecht Kommentar, 9. Aufl. 2020, § 14 TzBfG Rn. 90. 28 So etwa Türk, SpuRt 2020, 119 (121).
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1. Befristungen von Arbeitsverträgen mit jungen Lizenzspielern Auch wenn man mit dem BAG die Befristung von Arbeitsverträgen mit Lizenzspielern ob der Eigenart der Arbeitsleistung (§ 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 TzBfG) grundsätzlich akzeptieren möchte, so stellt sich doch die Frage, ob befristete Verträge gerade mit (sehr) jungen Spielern, die ihre fußballerische Karriere noch vor sich haben bzw. an deren Anfang stehen, über einen Hinweis auf einen (deutlich) späteren altersbedingten Leistungsabfall akzeptiert werden können. Womöglich lassen sich die ersten Befristungen mit jungen Spielern als sachgrundlose Befristungen (§ 14 Abs. 2 TzBfG) bzw. ob der Unschärfen hinsichtlich der weiteren sportlichen Entwicklung29 als Erprobungsbefristungen (§ 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 5 TzBfG) begreifen. Aber was gilt für weitere befristete Folgeverträge (mit meist jeweils kurzen Laufzeiten)? Wolf-Dietrich Walker konstatiert völlig zu Recht, dass insoweit „das letzte Wort noch nicht gesprochen“ sei.30 Das gilt umso mehr, als in jüngerer Zeit unter dem Eindruck pandemiebedingter Einschränkungen Verträge – auch in der 1. Bundesliga – vielfach mit nur sehr kurzen Laufzeiten (Einjahresverträge) geschlossen wurden. Die kurzen Laufzeiten fußten dabei nicht auf sportlichen Erwägungen, sondern schlicht auf der Verunsicherung der Vereine hinsichtlich der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung des Profifußballs. Die Meinungslandschaft hierzu ist schillernd. Boemke/Jäger wollen Befristungen von Arbeitsverträgen mit jüngeren Spielern über wenige Jahre grundsätzlich nicht akzeptieren. Befristungsgrund und Befristungsdauer müssten vielmehr auf Grundlage einer objektiv nachprüfbaren Prognose des Arbeitgebers miteinander in Einklang stehen.31 Umgekehrt hält Backhaus solche Vereinbarungen insbesondere mit Hinweis auf typische Formschwankungen „in relativ kurzen Zeiträumen“ für zulässig.32 Gewissermaßen zwischen diesen Positionen rangiert die schneidige These Beplers, nach der die Befristung eines Arbeitsvertrags im Lizenzspielerbereich für einen Zeitraum von mindestens zwei Jahren vereinbart werden und von einer „ganz außergewöhnlich hohen Vergütung“ begleitet sein müsse.33 Das BAG greift in seiner Entscheidung vom 16. 1. 2018 diese Problematik nicht auf. Es verbleibt der richtige, aber wenig erhellende Befund, dass „für diese Verträge … noch andere Argumente ins Feld geführt werden“34 müssen, um eine Befristung zu tragen.
29 Zu den typischen Phasen einer Spielerkarriere von „19 bis Mitte 30“ vgl. anschaulich Katzer/Frodl, NZA 2015, 657 (658 f.). 30 Walker, NZA 2016, 657 (661). 31 Boemke/Jäger, RdA 2017, 20 (25). 32 Backhaus (Fn. 8), § 14 TzBfG Rn. 421. 33 Bepler, jM 2016, 105 (111). 34 So A. Koch, RdA 2019, 54 (58).
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2. Befristung von Arbeitsverträgen bei einer „Spielerleihe“ In der Fußballbundesliga (und auch im internationalen Kontext) sind „Spielerleihen“35 vielfach praktisch (hierzu DFL-Statuten in § 5 Nr. 2 Lizenzordnung Spieler [LOS]; für internationale Spielerleihen vgl. Art 10 FIFA-RSTS). Im Unterschied zu den „klassischen Transfers“ soll der Spieler bei einer Spielerleihe nur vorübergehend zu einem anderen Verein wechseln. Die Gründe für solch temporäre Transfers sind vielfältig: Der Spieler erhofft sich mehr Spieleinsätze beim entleihenden Verein und dadurch insgesamt eine bessere sportliche Entwicklung. Der entleihende Verein verspricht sich Verstärkung im sportlichen Bereich – und zwar zu günstigeren Konditionen als bei einem endgültigen Transfer. Für den verleihenden Verein steht schließlich eine Kostenersparnis im Fokus; außerdem erhofft sich der verleihende Verein die Rückkehr eines spielstärkeren Spielers.36 In der rechtlichen Konstruktion wird bei einer solchen „Spielerleihe“ das Arbeitsverhältnis zu dem verleihenden Verein zunächst vollständig gelöst.37 Nach den Statuten der DFL darf nämlich bei der erstmaligen Registrierung eines Spielers keine anderweitige rechtliche Bindung des Spielers zu einem Club bestehen (DFL-Statuten § 4 Nr. 5 Lizenzordnung Spieler [LOS]; vgl. auch und § 5 Nr. 9 ebd.). Ferner verpflichtet sich der verleihende Verein, den Spieler nach Ablauf der Leihzeit (meist zu unveränderten Konditionen) wiedereinzustellen. Schließlich geht der Spieler mit dem entleihenden Verein für die Zeit der Spielerleihe ein befristetes Arbeitsverhältnis ein.38 Für die Befristung des Arbeitsvertrags mit dem entleihenden Verein verfängt die Erwägung des BAG nach einem dem sportlichen Wettbewerb geschuldeten Ausscheiden des Spielers vor dem Rentenalter gleichfalls nicht. Der Spieler bleibt – und das steht bereits bei Abschluss der Befristungsvereinbarung fest – im Anschluss an den befristeten Arbeitsvertrag weiterhin als Fußballspieler aktiv. Er verbleibt also im sportlichen Wettbewerb. Für eine Rechtfertigung der Befristung müssen folglich auch hier „andere Argumente ins Feld geführt werden“.39 35
Monographisch: Berkemeyer, Leihgabe von Berufssportlern (2011); Brömmekamp, Spielerleihe (1988); in der Stroth, Die Spielerüberlassung – Rechtsfragen der gegenwärtigen Praxis der Spielerleihe (im Erscheinen). 36 Zu den Interessen der Beteiligten näher Walker, Atypische Vertragsgrundlagen beim Transfer und bei der Verleihung von Lizenzfußballspielern, Festschrift für Martinek (2020), S. 827 (836). 37 Bei internationalen Leihgeschäften soll es genügen, wenn das Arbeitsverhältnis mit dem verleihenden Verein lediglich ruht – hierzu näher in der Stroth (Fn. 35), Kapitel 4 A.; Breuker/ Wüterich, in: Stopper/Lenze, Handbuch Fußball-Recht, 2. Aufl. 2018, S. 360, sprechen zu Unrecht stets von einem Ruhen des Arbeitsverhältnisses. 38 Zur rechtlichen Konstruktion und weiteren flankierenden Vereinbarungen vgl. näher Walker (Fn. 36), S. 827 (838). 39 § 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 6 TzBfG legitimiert die Befristung m. E. gleichfalls nicht, weil sich für den Spieler die Rückkehr zu dem verleihenden Verein auch in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis über eine Kündigung oder über einen Aufhebungsvertrag, zu dessen Abschluss
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IV. Sollbruchstelle: Europarechtliche Vorgaben? 1. Ausgangsbefund: Befristungswildwuchs Rechtstatsächlich werden gegenwärtig im Fußball die Arbeitsverträge mit Lizenzspielern weitgehend nach Gutdünken befristet. Eine Überprüfung solcher Befristungen vor deutschen Arbeitsgerichten findet – sieht man einmal von seltenen Einzelfällen ab – praktisch nicht statt. Dem staatlichen Arbeitsrecht fehlt es insoweit an der regulierenden Schlagkraft – schon weil es für den Sport seine eigenen Befristungsregeln nicht klar formulieren kann. (Mäßig) Regulierend wirkt das Verbandsrecht, das dem Profisport immerhin bestimmte Befristungsmodalitäten vorgibt. So muss etwa die Laufzeit eines Vertrages mit einem Lizenzspieler grundsätzlich am 30. Juni eines Jahres enden; ferner soll(!) die Laufzeit befristeter Verträge insgesamt nicht mehr als 5 Jahre betragen (vgl. die DFL-Statuten in § 5 Nr. 1 Lizenzordnung Spieler [LOS]). Der 7. Senat des BAG hat in seiner Entscheidung vom 16. 1. 2018 nunmehr sogar das staatliche Arbeitsrecht solchen Verbandsregularien material nachgeschaltet und gemeint, dass aus der Warte des staatlichen Rechts eine Befristung der Arbeitsverträge mit Lizenzspielern „allenfalls in Ausnahmefällen“ dann nicht zu akzeptieren sei, wenn die vereinbarte Vertragslaufzeit zu einem Zeitpunkt ende, zu dem der Lizenzspieler nach den Transferbestimmungen nicht zu einem anderen Verein wechseln könne. Einen substantiellen Befristungsschutz vermittelt all das nicht. 2. Befristungswildwuchs und europarechtliche Vorgaben Das Europarecht formuliert seine materialen Vorgaben für Befristungsvereinbarung vor allem in der Richtlinie 1999/70/EG des Rates vom 28. 6. 1999 zu der EGBUNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge. Nach Maßgabe des § 5 der Rahmenvereinbarung von EGB, UNICE und CEEP vom 18. 3. 1999, die nach Maßgabe des Art. 1 der RL 1999/70/EG durchgeführt werden soll, ergreifen die Mitgliedstaaten unter Berücksichtigung der Anforderungen bestimmter Branchen und/oder Arbeitnehmerkategorien eine oder mehrere der folgenden Maßnahmen, um einen Missbrauch durch aufeinanderfolgende befristete Arbeitsverträge zu vermeiden. Danach braucht es für einen Befristungsschutz (zumindest alternativ): - Sachliche Gründe, die die Verlängerung solcher Verträge rechtfertigen. - Eine Regelung über die maximal zulässige Dauer aufeinanderfolgender Arbeitsverträge. - Eine Regelung über die zulässige Zahl der Verlängerungen solcher Verträge.
der entleihende Verein wohl verpflichtet wäre, erreichen ließe. In einigen Fällen (aber eben nicht bei allen) wird ein Rückgriff auf § 14 Abs. 2 TzBfG möglich sein.
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Der EuGH hat schon verschiedentlich ausgesprochen, dass § 5 Nr. 1 dieser Bestimmung die Mitgliedstaaten zum „effektiven und verbindlichen Erlass mindestens einer der dort aufgeführten Maßnahmen“ verpflichtet, um einen Missbrauch durch aufeinanderfolgende befristete Arbeitsverträge zu vermeiden.40 Den Mitgliedstaaten sei mit dieser Bestimmung ein allgemeines Ziel (Verhinderung solcher Missbräuche) vorgegeben. Damit sei ihnen zwar zugleich die Wahl der Mittel zur Zielerreichung belassen. Dies gölte aber nur, solange nicht das Ziel oder die praktische Wirksamkeit der Rahmenvereinbarung in Frage gestellt würde.41 Zu Recht wird deshalb in der Literatur darauf hingewiesen, dass sowohl das von einem Mitgliedstaat konkret gewählte Schutzmodell, als auch die Sanktion bei rechtswidriger Befristung die „praktische Wirksamkeit“ der Richtlinienvorgaben gewährleisten müsse. Das Recht der Mitgliedstaaten müsse im Ergebnis sicherstellen, dass Kettenbefristungen nicht dauerhaft möglich sind.42 Diesen Vorgaben trägt das BAG in seiner Entscheidung vom 16. 1. 2018 schwerlich Rechnung. Zur maximal zulässigen Dauer aufeinanderfolgender Arbeitsverträge als auch zur zulässigen Zahl der Verlängerungen sagt das Gericht nichts. Die vom BAG in seinem Urteil behauptete „regelmäßige Zulässigkeit“ der Befristung von Arbeitsverträgen im Bereich der 1. Fußball-Bundesliga fußt zwar unter Anknüpfung an § 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 TzBfG auf Sachgrunderwägungen. Doch es fehlt jede materiale Konturierung dieses Sachgrundes.43 Der Sache nach handelt es sich um eine befristungsrechtliche Bereichsausnahme für die im Profibereich beschäftigten Fußballspieler, mithin um einen „selbstgerechten Sachgrund“, der frei von befristungsrechtlichen Restriktionen dazu dient, die Verlängerung eines befristeten Arbeitsverhältnisses zuzulassen.44 Das BAG sieht das selbst freilich anders.45 Es beruft sich u. a. auf Nr. 8 und Nr. 10 der Allgemeinen Erwägungen der Rahmenvereinbarung von EGB, UNICE und CEEP vom 18. 3. 1999, nach denen befristete Arbeitsverhältnisse für die Beschäftigung in bestimmten Branchen oder bestimmten Berufen und Tätigkeiten charakte40 So etwa EuGH vom 8. 3. 2012, C-251/11, AP Nr. 10 zu Richtlinie 99/70/EG = EzA Richtlinie 99/70 EG-Vertrag 1999 Nr. 5 = NZA 2012, 441. 41 EuGH vom 7. 3. 2018, C-494/16, AP Nr. 16 zu Richtlinie 99/70/EG = EzA Richtlinie 99/ 70 EG-Vertrag 1999 Nr. 17 = NZA 2018, 503; vom 19. 3. 2020, C-103/18 und C-429/18, EzA Richtlinie 99/70 EG-Vertrag 1999 Nr. 19. 42 Krebber, in: Franzen/Gallner/Oetker, Kommentar zum europäischen Arbeitsrecht, 3. Aufl. 2020, § 5 RL 1999/70/EG Rn. 15. 43 Fischinger/Reiter, NZA 2016, 661 (663), sprechen in Ansehung der befristungsrechtlichen Diskussion von einer „Carte blanche“ für die Beteiligten. 44 Zu selbstgerechten Sachgründen Krebber (Fn. 42), § 5 RL 1999/70/EG Rn. 18 m. w. N.; Zweifel an der Vereinbarkeit der Rechtsprechung des BAG mit den Richtlinienvorgaben äußern Ittner/Schlaich, NJOZ 2019, 497 (501); Krebber, Anm. zu BAG AP Nr. 171 zu § 14 TzBfG; Stopper/Dressel, NZA 2018, 1046 (1047). 45 Dem BAG zustimmend Fröhlich, EuZA 2019, 111 (115 f.); Walker, NZA 2016, 657 (661); ders., SpuRt 2018, 172 (173).
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ristisch sein können. Doch auch das legitimiert keine weitgehende Preisgabe des Befristungsschutzes für einen bestimmten Sektor. Der EuGH46 hat klar ausgesprochen, dass ein Mitgliedstaat zwar berechtigt sei, bei der Umsetzung von § 5 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung die besonderen Anforderungen einer speziellen Branche zu berücksichtigen. Doch könne dieses Recht nicht dahin verstanden werden, dass es dem Mitgliedstaat erlaubt sei, hinsichtlich dieser Branche seiner Pflicht nicht nachzukommen, eine Maßnahme zu ergreifen, die geeignet ist, Missbrauch durch aufeinanderfolgende befristete Arbeitsverträge zu verhindern und gegebenenfalls zu ahnden. Mit andern Worten: Es braucht auch branchenbezogen irgendeinen „Rumpf-Befristungsschutz“.47 Befristungsbeliebigkeit verträgt sich mit den europarechtlichen Vorgaben grundsätzlich nicht. Nach vorzugswürdiger Ansicht hätte das BAG die Befristungsfrage dem EuGH gem. § 267 AEUV zur Vorabentscheidung vorlegen müssen.48 Gewiss ist es nicht ausgeschlossen, dass der EuGH die Befristungsrechtsprechung des BAG akzeptiert hätte. Mit Abbo Junker ist vielmehr zu konstatieren, dass die Spruchpraxis des Gerichts eine Wundertüte ist.49 Jedoch hat der EuGH50 bereits in seiner Bosman-Entscheidung betont, dass allein gravierende Folgen eines Urteils für die „Organisation des Fußballs“ nicht dazu führen können, dass „die Objektivität des Rechts gebeugt und seine Anwendung beeinträchtigt wird“. Auf die Beurteilung der Problematik durch den EuGH darf man also gespannt sein. 3. Rechtsmissbrauchskontrolle Kurz erinnert sei an das befristungsrechtliche Institut der Rechtsmissbrauchskontrolle, das das BAG infolge der Kücük-Entscheidung des EuGH51 installiert hatte. In der Kücük-Entscheidung hatte der EuGH für Kettenbefristungen gemeint, dass bei der Prüfung eines sachlichen Grundes „alle Umstände des Falles einschließlich der Zahl und der Gesamtdauer der in der Vergangenheit mit demselben Arbeitgeber geschlossenen befristeten Arbeitsverträge“ berücksichtigt werden müssten. Der EuGH erblickt nämlich in einem „wiederholten Rückgriff“ auf befristete Arbeitsverträge „eine Quelle potenziellen Missbrauchs zulasten der Arbeitnehmer“. Insofern
46 EuGH vom 26. 2. 2015, C-238/14, EzA Richtlinie 99/70 EG-Vertrag 1999 Nr. 12 = NZA 2015, 424. 47 Vgl. auch Backhaus (Fn. 8), § 14 TzBfG Rn. 415; Stopper/Dressel, NZA 2018, 1046 (1047). 48 So überzeugend Junker, EuZA 2015, 279 (280). 49 Junker, EuZA 2015, 279 (280). 50 EuGH vom 15. 12. 1995, C-415/93, AP Nr. 10 zu § 611 BGB Berufssport = EzA § 611 BGB Berufssport Nr. 8 = NZA 1996, 191. 51 EuGH vom 26. 1. 2012, C-586/10, AP Nr. 9 zu Richtlinie 99/70/EG = EzA § 14 TzBfG Nr. 80 = NZA 2012, 135.
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brauche es „eine Reihe von Mindestschutzbestimmungen“, um die Prekarisierung der Lage der Beschäftigten“ zu verhindern.52 Das BAG hat veranlasst durch die Kücük-Entscheidung die Befristungskontrolle bei Kettenbefristungen fortentwickelt.53 Zur eigentlichen Sachgrundkontrolle soll eine vertragsbezogene Missbrauchskontrolle hinzutreten. Bei dieser vertragsbezogenen (institutionellen) Rechtsmissbrauchskontrolle sind sämtliche Umstände des Einzelfalls zu würdigen, wobei die Gesamtdauer der befristeten Verträge sowie die Anzahl der Vertragsverlängerungen von besonderer Bedeutung sind. Über Gesamtdauer der befristeten Verträge und die Anzahl der Vertragsverlängerungen hat das BAG zu einer Befristungsarithmetik gefunden, die ob ihrer drei Stufen an eine „Befristungsampel“ erinnert.54 Aus Sicht des 7. Senats besteht regelmäßig kein gesteigerter Anlass zur Missbrauchskontrolle, wenn die in § 14 Abs. 2 S. 1 TzBfG für die sachgrundlose Befristung bezeichneten Grenzen nicht um ein Mehrfaches überschritten sind. Eine umfassende Missbrauchskontrolle ist indes geboten, wenn einer der in § 14 Abs. 2 S. 1 TzBfG bestimmten Werte entweder das Vierfache (mithin 8 Jahre Befristungsdauer oder 12 Verlängerungen) oder kumulativ beide Werte das Dreifache (mithin 6 Jahre Befristungsdauer und 9 Verlängerungen) überschritten worden sind; weitergehend ist eine missbräuchliche Ausnutzung indiziert, wenn einer der in § 14 Abs. 2 S. 1 TzBfG bestimmten Werte entweder das Fünffache (also 10 Jahre Befristungsdauer oder 15 Verlängerungen) oder kumulativ beide Werte um das Vierfache (also 8 Jahre Befristungsdauer und 12 Verlängerungen) überschritten worden sind. Auch diese der Sachgrundkontrolle nachgeschaltete Rechtsmissbrauchskontrolle kann im Profifußball relevant werden. Der Spieler Thomas Müller beispielsweise gehört der Profimannschaft des FC Bayern München seit dem 1. 7. 2009 an. Sein Vertrag endet am 30. 6. 2023. Bei Vertragsende steht Thomas Müller mithin 14 Jahre im Dienste der Profimannschaft des FC Bayern (und auch bereits unmittelbar zuvor in der 2. Mannschaft). Nach der Ampellogik des 7. Senats wäre deshalb im Fall Thomas Müller die missbräuchliche Ausnutzung einer an sich eröffneten Möglichkeit zur Sachgrundbefristung indiziert. Die Erfolgsaussichten des Thomas Müller in einem Verfahren vor dem BAG um die Wirksamkeit der Befristungsvereinbarung wären gleichwohl begrenzt. Soweit es um den Sachgrund der Eigenart der Arbeitsleistung nach § 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 52
So zuletzt EuGH vom 19. 3. 2020, C-103/18 und C-429/18, EzA Richtlinie 99/70 EGVertrag 1999 Nr. 19. 53 Vgl. BAG vom 18. 7. 2012, 7 AZR 443/09, AP Nr. 99 zu § 14 TzBfG = EzA § 14 TzBfG Nr. 86 = NZA 2012, 1351; vom 18. 7. 2012, 7 AZR 783/10, AP Nr. 100 zu § 14 TzBfG = NZA 2012, 1359; vom 19. 2. 2014, 7 AZR 260/12, AP Nr. 116 zu § 14 TzBfG = EzA § 14 TzBfG Nr. 103 = NZA-RR 2014, 408; vom 21. 2. 2018, 7 AZR 765/16, AP Nr. 167 zu § 14 TzBfG = EzA § 14 TzBfG Rechtsmissbrauch Nr. 3 = NZA 2018, 858; vom 23. 1. 2019, 7 AZR 212/17, AP Nr. 174 zu § 14 TzBfG. 54 Vgl. zum Folgenden nur BAG vom 21. 2. 2018, 7 AZR 765/16, AP Nr. 167 zu § 14 TzBfG = EzA § 14 TzBfG Rechtsmissbrauch Nr. 3 = NZA 2018, 858.
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TzBfG geht, hat das BAG nämlich gemeint, eine (institutionelle) Missbrauchsprüfung sei bezogen auf diesen Sachgrund nicht veranlasst, weil bereits die Sachgrundprüfung selbst eine umfassende Interessenabwägung verlange.55 Diese Positionierung des BAG ist gewiss von dem (berechtigten) Unbehagen des Senats gegenüber der europarechtlich aufoktroyierten Rechtsmissbrauchskontrolle getragen und dem Versuch geschuldet, diese problematische Figur sachgerecht einzugrenzen. Inhaltlich überzeugend ist die Aussage des BAG gleichwohl nicht, weil die zentralen Parameter einer institutionellen Rechtsmissbrauchskontrolle – also die Befristungsdauer und die Anzahl der Verlängerungen – bei der eigentlichen Sachgrundprüfung keine (oder allenfalls eine ganz untergeordnete) Rolle spielen. In seiner Interessenabwägung im Rahmen der Heinz-Müller-Entscheidung ist das BAG auf diese Parameter überhaupt nicht eingegangen. Da die institutionelle Rechtsmissbrauchskontrolle europarechtlichen Vorgaben geschuldet ist, bleibt deshalb auch insoweit die Befassung des EuGH mit dieser Problematik abzuwarten. V. Ausblick Die vorstehenden Überlegungen sollten verdeutlichen, dass die ausgerufene „Rechtsklarheit und Rechtssicherheit in Befristungsfragen“ nicht besteht. Wie bei jedem Sedativum wird die beruhigende Wirkung auch der Entscheidung des 7. Senats des BAG vom 16. 1. 2018 irgendwann nachlassen. Zu offensichtlich sind die höchstrichterlich noch unbewältigten Befristungsfragen (unter III.), zu unwägbar ist das Ergebnis eines Verfahrens vor dem EuGH (unter IV.). Der Sport ist deshalb dringend gehalten, seine berechtigten Anliegen in den politischen Diskurs einzuspeisen und auf Unterstützung durch den nationalen und europäischen Gesetzgeber zu hoffen.56
55 BAG vom 30. 8. 2017, 7 AZR 864/15, AP Nr. 162 zu § 14 TzBfG = EzA § 14 TzBfG Eigenart der Arbeitsleistung Nr. 2 = NZA 2018, 229; zust. Backhaus (Fn. 8), § 14 TzBfG Rn. 98; Pallasch, RdA 2019, 61 (65 f.); Rennpferdt (Fn. 27), § 14 TzBfG Rn. 80. 56 Auf eine gesetzgeberische Bewältigung verweisen auch M. Fröhlich, EuZA 2019, 111 (117 f. – mit Verweis auf die spanische Rechtslage); Morgenroth, ZStV 2019, 63 (64).
Die Beweislastverteilung im Arzthaftungsrecht Zum voll beherrschbaren Bereich Von Johannes Hager I. Die Fragestellung Eine der kompliziertesten, auch durch das Patientenrechtegesetz der §§ 630 a ff. BGB nur partiell kodifizierten und gelösten Problematiken betrifft die Verteilung der Beweislast. Ausgangspunkt der Rechtsprechung ist der Satz, dass der Patient die Behauptungs- und Beweislast für das fehlerhafte Verhalten des Arztes, die Körper- bzw. Gesundheitsverletzung und die Kausalität trägt.1 Nach § 630 h Abs. 1 BGB wird im voll beherrschbaren Bereich ein Fehler des Behandelnden vermutet, wenn sich ein Behandlungsrisiko verwirklicht hat, das für den Behandelnden voll beherrschbar war. Unter voll beherrschbaren Risiken versteht man diejenigen, die vom Klinikoder Praxisbetrieb gesetzt und durch ordnungsgemäße Gestaltung – wie sachgerechte Organisation und Koordination des Behandlungsgeschehens – objektiv voll ausgeschlossen werden können und müssen. Sie sind abzugrenzen von den Gefahren, die aus den Unwägbarkeiten des menschlichen Organismus bzw. den Besonderheiten des Eingriffs in diesen Organismus erwachsen und deshalb der Patientensphäre zuzurechnen sind.2 Die Beispiele sind zahlreich; sie reichen von dem ordnungsgemäßen Zustand eines verwendeten Tubus über die Funktionstüchtigkeit eines eingesetzten Narkosegeräts, die Reinheit des verwendeten Desinfektionsmittels, die Sterilität der verabreichten Infusionsflüssigkeit bis hin zur unbemerkten Entkopplung eines Infusionssystems, dem Zurückbleiben eines Tupfers im Operationsgebiet, der vermeidbaren Übertragung von Keimen durch die an der Operation beteiligten Personen und der unsachgemäßen Lagerung des Patienten auf dem Operationstisch.3 Auch die Verletzung während eines Transports gehört hierher.4 Der Terminus des voll beherrschbaren Bereichs wird allerdings zunächst nicht verwendet, taucht – soweit ersichtlich – erstmals 1984 auf.5 Die weitere Voraussetzung der Norm, es müsse zu 1
Nachw. bei Staudinger/J. Hager, BGB, Stand 2009, § 823 BGB Rn. I 44; ferner BGHZ 188, 29 Rn. 13; BGH NJW 2011, 1672, 1673 Rn. 19. 2 BGH NJW 1991, 1540, 1541; NJW-RR 2016, 1380 Rn. 6; 2019, 17, 19 Rn. 31. 3 Vgl. die Zusammenstellung bei BGH NJW-RR 2019, 17, 19 f. Rn. 32. 4 OLG Hamm VersR 2007, 1525; weitere Kasuistik bei Erman/Rehborn/Gescher, BGB, 16. Aufl. 2020, § 630 h Rn. 16. 5 BGHZ 89, 263, 269.
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einer Verletzung des Lebens, des Körpers oder der Gesundheit des Patienten geführt haben, ist überflüssig; ohne eine solche Verletzung gibt es ohnehin keine Haftung. Seltsam diffus wird allerdings die Rechtsfolge beschrieben. Im Anschluss an eine etwas unklare Entscheidung des BGH6 gehen die Begründung des Gesetzes7 und die wohl hM8 davon aus, es werde nur der ärztliche Fehler, nicht aber die Kausalität zwischen diesem und dem Erfolg vermutet. Sieht man näher hin, ist das Bild ohnehin etwas anders. Bisweilen zieht der BGH den schweren Behandlungsfehler und die daraus resultierende Beweislastumkehr9 oder die sekundäre Darlegungslast heran.10 Andere Entscheidungen vermuten das Verschulden11 und bejahen einen Verstoß gegen die objektive Sorgfaltspflicht.12 Wiederum andere Entscheidungen sprechen von einer Entlastung analog § 282 a. F. BGB.13 Die Rechtslage ist also wenig klar. In Wirklichkeit geht es um unterschiedliche Konstellationen. Zum einen kann die objektive Pflichtverletzung betroffen sein; ein Beispiel ist die fehlerhafte Lagerung.14 Oft zeigt sich aber, dass es in aller Regel weniger zweifelhaft ist, dass ein Fehler passiert ist; dass sich ein Infusionssystem bei einem Säugling nicht lösen darf, dürfte sich wohl von selbst verstehen. Zweifelhaft kann regelmäßig die Kausalität sein. Ob der Embryo in der Zeit, als ein mit einem Heftpflaster nur notdürftig repariertes CTG ausfiel bzw. unvollständige Befunde lieferte,15 durch unzureichende Versorgung mit Sauerstoff geschädigt wurde, ist nicht stets evident. II. Die Genese der Rechtsprechung – § 282 a. F. BGB § 282 a. F. BGB lautete: „Ist streitig, ob die Unmöglichkeit der Leistung die Folge eines vom Schuldner zu vertretenden Umstandes ist, so trifft die Beweislast den Schuldner.“ Das hatte mehrere Konsequenzen.
6
BGH NJW 1994, 1594, 1595. BT-Drucks. 17/10488 S. 28; Geiß/Greiner, Arzthaftungsrecht, 7. Aufl. 2014, Rn. B 240. 8 Palandt/Weidenkaff, BGB, 80. Aufl. 2021, § 630h Rn. 3: BeckOK/Förster, Stand 1. 8. 2020, § 823 Rn. 929; Spickhoff/Greiner, Medizinrecht, 3. Aufl. 2018, § 823 Rn. 163; Spickhoff, VersR 2013, 279. 9 BGH VersR 2019, 32 Rn. 17. 10 BGH NJW-RR 2020, 720, 721 Rn. 10 f. 11 BGHZ 171, 358, 360 f. Rn. 9; BGH NJW 1978, 584, 585; 1991, 2960, 2961.; VersR 2007, 1416 Rn. 5 (im konkreten Fall verneint). 12 BGHZ 89, 263, 269 ff.; BGH NJW-RR 2018, 205, 206 Rn. 7 ff.; 2019, 17, 19 Rn. 31 ff. (im konkreten Fall verneint); wohl auch BGH NJW 2012, 684, 685 Rn. 20. 13 BGHZ 140, 339, 313 ff.; BGH NJW 1978, 584 f.; 1984, 1403, 1404; 1991, 1541, 1542; 1995, 1618. 14 BGH NJW-RR 2018, 205, 206 Rn. 9 f. 15 BGH VersR 2019, 32, 34 Rn. 17. 7
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Zum einen traf den Schuldner auch die Darlegungslast hinsichtlich dieses Umstands. Er musste sich also auch dazu erklären, wie es zur Unmöglichkeit kam. Diese Regeln wurden vor der Schuldrechtsreform auch auf sonstige Pflichtverletzungen erstreckt – differenzierend nach Gefahrenbereichen.16 Das galt zum einen für das Verschulden,17 wurde aber auch auf die objektive Pflichtverletzung erstreckt, wenn der Gläubiger im Herrschafts- und Organisationsbereich des Schuldners zu Schaden gekommen ist und die den Schuldner treffende Vertragspflicht gerade dahin ging, den Gläubiger vor einem solchen Schaden zu bewahren.18 Die Kausalität war in solchen Fällen in aller Regel kein Problem. Dass etwa Reisemängel den Urlaub beeinträchtigt hatten, stand fest; es ging nur um die Frage des Vertretenmüssens. So lag es etwa auch, wenn bei einem Brand das Gepäck der Reisenden zerstört wurde.19 Das war und ist im Arztrecht von vornherein anders, was die Akzentsetzung der Probleme angeht. Zwar gibt es auch hier Fälle, in denen die objektive Pflichtverletzung zu verneinen ist – etwa bei einer Infektion, deren Ursache unklar bleibt.20 Im Vordergrund steht jedoch in vielen Fällen die Kausalität. Hier wendet die Rechtsprechung im Regelfall die Beweislastumkehr des § 282 a. F. BGB nicht an. Auch dabei ist allerdings die Begründung durchaus unterschiedlich. Z. T. wird das Verschulden verneint,21 z. T. aber auch und gerade die Kausalität.22 Die Schuldrechtsreform hat in der Sache nichts ändern wollen,23 die Formulierung ist aber nun weniger präzise. Die Unmöglichkeit bzw. die Schlechterfüllung als Folge eines vom Schuldner zu vertretenden Umstands ist durch die Vermutung des Vertretenmüssens ersetzt worden. Das macht die Interpretation etwas diffiziler. III. Die Kausalität im voll beherrschbaren Bereich Mehrere Lösungen sind vorstellbar. Zunächst könnte man an eine Umkehr der Beweislast wie beim groben Behandlungsfehler denken. In dieser Hinsicht ist der voll beherrschbare Bereich als Argumentation überflüssig. Liegt ein grober Behandlungsfehler vor, etwa die Verwendung eines notdürftig geflickten CTG, dann bedarf
16 BGH NJW 1980, 2186, 2187; 1991, 1540, 1541; Palandt/Heinrichs, BGB, 61. Aufl. 2002, § 282 Rn. 8. 17 BGHZ 23, 288, 290 f.; 28, 251, 254; BGH NJW 1991, 1540, 1541. 18 BGHZ 3, 162, 174; 8, 239, 241 f.; 27, 236, 238 ff.; 67, 383, 387; BGH NJW 1973, 1602, 1603; 1991, 1540, 1541. 19 BGHZ 100, 185 = BGH NJW 1987, 1938, 1939. 20 Vgl. z. B. BGH NJW 1991, 1541, 1542. 21 BGH VersR 1991, 310. 22 BGH NJW 2016, 1360, 1362 Rn. 14. 23 BT-Drucks. 14/6040 S. 136.
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es der Feststellung nicht mehr, dieser Fehler sei im voll beherrschbaren Bereich geschehen. Die vom Gesetzgeber erwogene Bedeutungslosigkeit, was die Kausalität angeht, beraubt den voll beherrschbaren Bereich indes völlig seiner Funktion. Denn der Fehler steht in praktisch allen diesen Fällen fest. Für den Nachweis, dass es ein Fehler ist, einen Patienten auf dem Operationstisch unter Strom zu setzen oder die Stromzufuhr eines CTG mit einem Heftpflaster zu sichern, bedarf es der Vermutung des § 630 h Abs. 1 BGB nicht; das ist evident. Damit erübrigt sich die Argumentation mit dem voll beherrschbaren Bereich. In einer Entscheidung aus dem Jahr 2016 hat der BGH die Regeln des voll beherrschbaren Bereichs mit der sekundären Behauptungslast kombiniert. Mit der sekundären Behauptungslast werden diejenigen Fälle gelöst, in denen der Darlegungspflichtige selbst außerhalb des Geschehens steht und von sich aus den Sachverhalt nicht ermitteln kann, während die andere Seite die erforderlichen Informationen hat oder sich leicht beschaffen kann; diese Seite darf sich dann nicht mit einfachem Bestreiten begnügen, sie muss vielmehr im Einzelnen darlegen, dass die von ihr bestrittene Behauptung unwahr ist, so dass die beweisbelastete Partei den Beweis für ihre Richtigkeit antreten kann.24 Im konkreten Fall ging es um eine Infektion; der geschädigte Patient hatte Anhaltspunkte für einen Hygieneverstoß vorgetragen. Der genaue Hergang entziehe sich indes – so der BGH – jedoch der Kenntnis des Patienten.25 Doch ist zu fragen, welche Erleichterung sich daraus für den Patienten ergibt. Die sekundäre Behauptungslast modifiziert die Beweislast nicht.26 Somit kann der Gegner – also der Arzt – sich auf die Behauptung der fehlenden Kausalität zurückziehen. Im Fall des defekten CTG würde die Behauptung genügen, die fehlende Ermittlung der kindlichen Herzfrequenz sei nicht ursächlich für den eingetretenen Gehirnschaden. Mit dieser Argumentation ist dem Patienten oft nicht geholfen. Die nächste Möglichkeit ist der Anscheinsbeweis. Er setzt einen für die zu beweisende Tatsache nach der Erfahrung typischen Geschehensablauf voraus.27 Jedoch ist auch dieser in seinem Anwendungsbereich sehr beschränkt. Gerade wegen der Eigenart des menschlichen Körpers gibt es zum einen kaum Erfahrungssätze, wie die Entwicklung ohne den Fehler im voll beherrschbaren Bereich gewesen wäre. Das zeigt wiederum der CTG-Fall. Es lässt sich auf keinen typischen Ablauf als Normalfall zurückgreifen. 24
BGH NJW 2016, 1823, 1825 Rn. 22; 2017, 886, 887 Rn. 19; NJW-RR 2019, 1360 Rn. 12; Thomas/Putzo/Reichold, ZPO, 41. Aufl. 2020, Vorbem. v. § 284 ZPO Rn. 18. 25 BGH NJW-RR 2016, 1360, 1362 Rn. 14 unter Hinweis auf Stöhr, GesR 2015, 261 und Schultze-Zeu/Riehn, VersR 2012, 1212. 26 MünchKomm-ZPO/Fritsche, Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, 6. Aufl. 2020, § 286 Rn. 25; der Sache nach auch BeckOK ZPO/v.Selle, Stand: 1. 9. 2020, § 138 Rn. 19. 27 BGHZ 100, 31, 33; 160, 308, 313; BGH NJW 2006, 2262, 2263 Rn. 10; Staudinger/ Hager, § 823 Rn. I 49.
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IV. Die Umkehr der Beweislast Natürlich ist es kühn, sich gegen eine Entscheidung zu stellen, die der Gesetzgeber ausweislich der Begründung bewusst getroffen hat. Andererseits ersetzt die Begründung nicht eine dogmatisch überzeugende Einordnung. Angedeutet hat der BGH die richtige Lösung in der Entscheidung, in der es um die Frage ging, ob die EE-Zeit – das ist die Zeit von der Entscheidung zur Sectio bis zur Zeit der Entwicklung des Kindes – korrekt eingehalten wurde. Im konkreten Fall hat er dies – ohne angesichts einer Dauer von 32 Minuten zu überzeugen – bejaht.28 Man nehme den umgekehrten Fall, dass die Ärzte zu lange gebraucht haben. Dann würde die bloße Feststellung, dass die Zeit zu lange war und deshalb ein Behandlungsfehler vorlag, dem Patienten wenig nützen, wenn die Kausalität strittig bliebe. Das ist allerdings regelmäßig der entscheidende Punkt. Im Rahmen der im konkreten Fall zunächst unzureichenden und daher zu einer Verzögerung des Eingriffs führenden Aufklärung stellt der BGH allerdings fest, dass die Verzögerung und damit die Schadensursächlichkeit – also die Kausalität – der Sphäre des Arztes zuzurechnen sei.29 Das kann bei der Frage des voll beherrschbaren Bereichs nicht anders sein. § 630 h Abs. 4 BGB stellt eine Kausalitätsvermutung auf. Mangelnde Befähigung des Arztes führt dazu, dass sich die Seite des Behandelnden entlasten muss. Zu Recht betont man die Nähe zum voll beherrschbaren Bereich.30 Dann allerdings stellt sich die Frage nach der Vereinbarkeit beider gesetzlichen Anordnungen. Man kann schwerlich den Nachweis der Kausalität bei § 630 h Abs. 1 BGB dem Patienten auferlegen, im Fall des § 630 h Abs. 4 BGB die umgekehrte Regelung treffen. Die These, es gehe bei § 630 h Abs. 4 BGB um ein Übernahmeverschulden, nicht um den voll beherrschbaren Bereich,31 vermengt zwei Problemkreise. Für das Krankenhaus geht es beim Einsatz eines nicht hinreichend qualifizierten Arztes um ein Versagen bei der sachgerechten Organisation, also um den voll beherrschbaren Bereich. Übernahmeverschulden trifft den nicht hinreichend qualifizierten Arzt, der die Operation nicht ablehnt.32 Angesichts der wenig plausiblen Entscheidung bei § 630 h Abs. 1 BGB, die zu den geschilderten Auswegen auffordert, die ihrerseits allerdings wenig überzeugen,33 liegt die Lösung nahe, die Regelung des § 630 h Abs. 4 BGB zu übertragen. Der Wortlaut steht nicht entgegen, weil er zur Kausalität keine Aussage trifft.
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BGH NJW-RR 2019, 17, 20 Rn. 33; dazu J. Hager, JA 2019, 304. BGH NJW-RR 2019, 17, 20 Rn. 29. 30 BGH NJW 1984, 655, 657; 1993, 2989, 2991; Erman/Rehborn/Gescher, § 650 h Rn. 28; MünchKomm/Oetker, Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 8. Aufl. 2019, § 249 Rn. 489. 31 Geiß/Greiner, Rn. B 240. 32 BGH NJW 1984, 655, 656; 1994, 3008 f. 33 Vgl. III. 29
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V. „Versteinerung“ der Beweislastverteilung? Etwas Anderes könnte allerdings dann gelten, wenn die Kodifizierung der Beweislastverteilung diese gesetzlich festgeschrieben und damit gewissermaßen „versteinert“ hätte. Dann könnte sich eine korrigierende, die Kausalität des Verhaltens mit umfassende Interpretation des § 630 h Abs. 1 BGB verbieten. Eine derartige abschließende Deutung des § 630 h BGB wird in der Tat in der Literatur mit Hinweis auf das Enumerationsprinzip statt einer beispielhaften Aufzählung vertreten.34 Der Ausweg wird z. T. in einer Weiterentwicklung des Deliktsrechts gesehen.35 Der BGH hat die Frage ausdrücklich offengelassen.36 Allerdings ist die Prämisse wenig überzeugend. Die Idee, eine Kodifikation könne in dem Sinn abschließend sein, dass sie neuere Entwicklungen ausschließe, hat schon mit der Schwierigkeit zu kämpfen, dass man solche neuen Entwicklungen nicht voraussehen kann. Und die Erfahrung lehrt, dass es keine abschließenden Kodifikationen gibt. Das Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen hat gerade durch die gesetzliche Regelung Auftrieb bekommen und Dynamik entfaltet. Die Parallele zu § 30 Abs. 1 S. 3 GmbHG, einer Norm, mit der der Gesetzgeber die bisherigen Rechtsprechungsregeln aufgegeben hat,37 ist nicht überzeugend. Die Norm verbietet einen Analogieschluss.38 Zudem ist die Regelung in die InsO verlagert.39 Damit ist die Regelung des § 630 h BGB nicht vergleichbar. Dass Neukodifikationen nicht generell Sperrwirkung gegenüber etablierten Instituten entfalten, lässt sich auch an anderer Stelle zeigen. Ein Beispiel ist das Verhältnis zwischen der deliktischen Produkthaftung und der Haftung nach dem Produkthaftungsgesetz. Dass beide Regelungen parallel gelten, ergibt sich schon aus § 15 Abs. 2 ProdHaftG. Dennoch hat man z. B. aus § 1 Abs. 1 S. 2 ProdHaftG das Ende des weiterfressenden Mangels abgeleitet.40 Das ist aus einer Reihe von Gründen nicht überzeugend.41 Hier interessiert vor allem ein Aspekt. Selbst wenn in einem Spezialgesetz eine Entscheidung getroffen wird, heißt das nicht, dass diese Spezialregelung die allgemeine Regelung überformt. Das gilt auch für § 630 h BGB. Er schließt jedenfalls eine Weiterentwicklung der Arzthaftung im Rahmen des § 823 Abs. 1 BGB nicht aus. 34 Spickhoff/Spickhoff, Medizinrecht, 3. Aufl. 2018, § 630 h Rn. 4 (allerdings eher als Befürchtung geäußert); BeckOK BGB/Katzenmeier, Stand: 1. 8. 2020, § 630 h Rn. 6; MünchKomm/Wagner § 630 h Rn. 6; Wagner, VersR 2012, 801; Katzenmeier, NJW 2013, 823; Spickhoff VersR 2013, 278. 35 MünchKomm/Wagner, § 630 h Rn. 6. 36 BGH NJW 2020, 1211, 1214 Rn 31. 37 Wagner, VersR 2012, 801. 38 MünchKomm-GmbHG/Ekkenga, Münchener Kommentar zum GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 30 Rn. 260. 39 BeckOK GmbHG/Schmolke, Stand: 1. 8. 2020, § 30 Rn. 195. 40 Staudinger/Matusche-Beckmann, BGB, 2013, § 437 Rn. 68. 41 Staudinger/Hager, BGB, 2017, § 823 Rn. B 117.
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VI. Zusammenfassung Im voll beherrschbaren Bereich wird nicht nur der Fehler, sondern auch die Kausalität vermutet. Die Beweisgrundsätze des § 630 h BGB sind nicht abschließend; sie lassen Raum für weitere Rechtsfortbildung.
Neuere Entwicklungen wettbewerblicher Unterlassungsansprüche gegen Krankenkassen Von Ernst Hauck I. Das Problem Das „Gesetz für einen fairen Kassenwettbewerb in der gesetzlichen Krankenversicherung“ (Fairer-Kassenwettbewerb-Gesetz – GKV-FKG)1 hat mit Wirkung vom 1. April 20202 einen Teilausschnitt wettbewerblicher Unterlassungsansprüche gegen Krankenkassen geregelt3: Die wettbewerblichen Unterlassungsansprüche von Krankenkassen – und mittelbar damit zugleich von ihren Verbänden4 – gegen andere Krankenkassen. Bei dieser Neuregelung interessiert, inwieweit das Gesetz damit bisher durch Rechtsprechung Geformtes kodifiziert, gegenüber dem bisherigen Rechtszustand Neuerungen regelt und wo es ungeregelte Felder der weiteren Entwicklung durch Praxis, Rechtsprechung und Lehre überlässt (dazu II.). Kein unmittelbarer Regelungsgegenstand des GKV-FKG sind wettbewerbliche Unterlassungsansprüche von Unternehmen der privaten Krankenversicherung (PKV) gegen Krankenkassen (dazu III.). Wettbewerbliche Unterlassungsansprüche gegen Krankenkassen sind Teil des – umfassend verstandenen – Wirtschaftsrechts, dessen vielfältigen Facetten sich der Jubilar immer wieder gewidmet hat5. Die Ansprüche verdienen besonderes Augenmerk, sind sie doch Teil einer Querschnittsmaterie in einem Bereich der Schnittstellen zwischen öffentlichem und privatem Wirtschaftsrecht, die sich aufgrund der permanenten Herausforderungen an das Recht der gesetzlichen 1
Vom 22. März 2020, BGBl. I S. 604. Vgl. Art. 11 GKV-FKG. 3 Vgl. § 4a SGB V i. d. F. durch Art. 5 Nr. 2 GKV-FKG. 4 Vgl. BSG, Urteil vom 30. 7. 2019 – B 1 KR 16/18 R – BSGE 128, 300 = SozR 4-2500 § 4 Nr. 3, Leitsatz 1: Ein Krankenkassenverband kann in gewillkürter Prozessstandschaft wettbewerbsrechtliche Ansprüche seiner Mitglieder einklagen, wenn seine Satzung ihn hierzu ermächtigt. 5 Vgl. z. B. Klaus Vieweg, Atomrecht und technische Normung, Berlin 1982; Klaus Vieweg, Normsetzung und -anwendung deutscher und internationaler Verbände, Berlin 1990; Klaus Vieweg, Legal Problems of Mega Events – Ideas for a Curriculum of a Summer School in Sport Law, in: Russian International Olympic University/ International Association of Sports Law (Hrsg.), Mega Events in Sport: Legal Environment, Sochi (Russia) 2017, S. 41 – 47;Vieweg/Fischer, Wirtschaftsrecht, Baden-Baden 2019; Klaus Vieweg, „Smart Contracts“ im Kontext der Entwicklungen von Technik, Wirtschaft und Recht, in: S. Omlor (Hrsg.), Festschrift für Michael Martinek zum 70. Geburtstag, München 2020, S. 793 – 804. 2
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Krankenversicherung aufgrund ihrer Aufgaben einer gleichmäßigen flächendeckenden Versorgung zum Facharztstandard des größten Teils der in Deutschland Lebenden6, aufgrund der Dynamik des medizinischen Fortschritts und seiner Folgen, aufgrund der notwendigen Begrenzung der verfügbaren Mittel und aufgrund der Zielsetzung einer angemessenen Vergütung der Leistungserbringer stetem regulatorischem Wandel ausgesetzt sieht7, ganz abgesehen von jüngeren Entwicklungen wie der Bewältigung der Folgen der Corona-Pandemie. Die Gesamtschau erlaubt ein Fazit (dazu IV). II. Wettbewerbliche Unterlassungsansprüche von Krankenkassen gegen Krankenkassen 1. Rechtsgrundlage Nach der Regelung des § 4a Abs. 7 Satz 1 SGB V8 können Krankenkassen von anderen Krankenkassen die Unterlassung unzulässiger Maßnahmen verlangen, die geeignet sind, ihre Interessen im Wettbewerb zu beeinträchtigen. Wirkt eine von einer anderen Krankenkasse ergriffene unzulässige Maßnahme fort, kann zudem die Beseitigung verlangt werden. 2. Vergleich mit bisherigem Recht a) Bisher geltendes Recht aa) Unterlassung unzulässiger Werbemaßnahmen Die neue Gesetzesregelung geht über das bisher kodifizierte Recht hinaus. Nach dem zuvor geltenden § 4 Abs. 3 Satz 2 SGB V9 konnten Krankenkassen lediglich die Unterlassung unzulässiger Werbemaßnahmen von anderen Krankenkassen verlangen; § 12 Abs. 1 bis 3 UWG galt entsprechend. Diese zuvor geltenden Rechtsnormen regelten den bereits richterrechtlich aus der gesetzlichen Pflicht zur sachbezogenen Information und zur Rücksichtnahme auf die Belange der anderen Krankenversicherungsträger aus den §§ 13 bis 15 SGB I und § 86 SGB X abgeleiteten Unterlassungsanspruch einer Krankenkasse gegen unzulässige Werbemaßnahmen einer anderen 6 Gut 71,9 Millionen Versicherte der gesetzlichen Krankenversicherung, vgl. Informationen des Bundesgesundheitsministeriums, Mitglieder und Versicherte der GKV Januar bis September 2020 (Ergebnisse der GKV-Statistik KM1, Stand: 30. September 2020, abgerufen am 31. 10. 2020). 7 Vgl. näher z. B. Ernst Hauck, in: Grundlagen und Herausforderungen des Sozialstaats – Denkschrift 60 Jahre Bundessozialgericht, Berlin 2015, S. 299 – 324; Ernst Hauck, Entwicklungsperspektiven der gesetzlichen Krankenversicherung, SGb 2007, S. 203 – 209. 8 In der Fassung durch Art. 5 Nr. 2 GKV-FKG. 9 In der Fassung durch Art. 3 Nr. 1 Achtes Gesetz zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen vom 26. 6. 2013, BGBl I 1738, 1747.
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Krankenkasse10. Aus der Verpflichtung zur Zusammenarbeit, der gemeinsamen Verantwortung für die Durchführung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und auch aus der Stellung als öffentlich-rechtliche Körperschaften folgt ein die Krankenkassen treffendes Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme. Die Rechtsprechung hat es in Bezug auf die Mitgliederwerbung dahingehend konkretisiert, dass um Mitglieder nur sachbezogen geworben werden darf11. Die Krankenkassen sind gegenseitig verpflichtet, sich bei der Mitgliederwerbung auf solche Leistungen oder Umstände zu beschränken, die sich innerhalb des ihnen gesetzlich überantworteten Aufgabenspektrums bewegen. Eine Werbung war danach ohne Bezug zu den gesetzlichen Aufgaben der Krankenkassen und damit unsachlich, wenn und soweit sie nicht die Leistungen zum Gegenstand hatte, für die die GKV eingerichtet worden ist. In solchen Fällen hatten die anderen Krankenkassen das Recht, Unterlassung von der Krankenkasse zu verlangen, welche die Grenzen des Erlaubten überschritten hat12. bb) Allgemeiner öffentlich-rechtlicher Unterlassungsanspruch Neben diesem ausdrücklich im Gesetz normierten Anspruch auf Unterlassung unzulässiger Werbemaßnahmen kam nach allgemeinen Grundsätzen des bisher geltenden Rechts ggf. der öffentlich-rechtliche Unterlassungsanspruch in Betracht13. Materiell-rechtlich beruht der öffentlich-rechtliche Unterlassungsanspruch auf einem allgemeinen, in Rechtsprechung und Lehre anerkannten Rechtsgrundsatz. Danach kann der Inhaber eines Rechts, wenn ein Eingriff in ein absolutes Recht oder ein ansonsten geschütztes Rechtsgut droht, die Unterlassung des Eingriffs verlangen, sofern er nicht zu dessen Duldung verpflichtet ist14. Der allgemeine öffentlich-rechtliche Unterlassungsanspruch setzt voraus, dass eine hoheitliche Maßnahme des Unterlassungspflichtigen in Gestalt eines schlicht-hoheitlichen Verwaltungshandelns rechtswidrig ein subjektives Recht des Unterlassung begehrenden Rechtsinhabers beeinträchtigt und diese Verletzung andauert oder die Gefahr der Wiederholung mit der begründeten Besorgnis besteht, der Unterlassungspflichtige werde auch künftig durch sein hoheitliches Handeln rechtswidrig in die geschützte Rechts- und Freiheitssphäre des Rechtsinhabers eingreifen15.
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Vgl. BT-Drucks. 17/9852 S. 36. Vgl. z. B. BSG, Urteil vom 2. 2. 1984 – 8 RK 41/82 – BSGE 56, 140 = SozR 1500 § 51 Nr. 34 = SozR 2200 § 516 Nr. 1 = Juris Rz. 27; BSG, Urteil vom 31. 3. 1998 – B 1 KR 9/95 R – BSGE 82, 78 = SozR 3-2500 § 4 Nr. 1 = Juris Rz. 12. 12 Vgl. zusammenfassend BSG, Urteil vom 30. 7. 2019 – B 1 KR 16/18 R – BSGE 128, 300 = SozR 4-2500 § 4 Nr. 3, Rz. 18. 13 Vgl. zutreffend Entwurf eines GKV-FKG der Bundesregierung, BT-Drucks. 19/15662, S. 70. 14 Vgl. zum Ganzen: Hans-Werner Laubinger, VerwArch 80 (1989), 261, 292. 15 Vgl. BSG, Urteil vom 30. 7. 2019 – B 1 KR 34/18 R – BSGE 129, 10 = SozR 4-2500 § 53 Nr. 3, Rz. 14. 11
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Jedes subjektive Recht kann Schutzgegenstand des allgemeinen öffentlich-rechtlichen Unterlassungsanspruchs sein16, sei es grundrechtlich17 oder einfachrechtlich ausgestaltet18. Um ein einfachrechtliches subjektives Recht zu begründen, muss die verletzte Norm zumindest auch dem Schutz desjenigen dienen, der den öffentlich-rechtlichen Unterlassungsanspruch geltend macht19. Nach der Schutznormtheorie vermitteln nur solche Rechtsvorschriften subjektive Rechte, die nicht ausschließlich der Durchsetzung von Interessen der Allgemeinheit, sondern zumindest auch dem Schutz individueller Rechte dienen. Das gilt für Normen, die das geschützte Recht sowie einen bestimmten und abgrenzbaren Kreis der hierdurch Berechtigten erkennen lassen. Ob eine Norm drittschützend in diesem Sinne ist oder allein im öffentlichen Interesse besteht, muss durch Auslegung ermittelt werden20. b) Rechtslage nach GKV-FKG Gegenüber dieser Rechtslage vor Inkrafttreten des GKV-FKG ist der nun gesetzlich normierte Unterlassungs- und ggf. Beseitigungsanspruch klarer konturiert. Es genügt, dass eine andere Krankenkasse eine unzulässige Maßnahme ergriffen hat oder zu ergreifen droht, die geeignet ist, die Interessen der betroffenen Krankenkasse im Kassenwettbewerb zu beeinträchtigen. Die Unzulässigkeit der Maßnahme kann sich prinzipiell aus Verstößen gegen sämtliche für Krankenkassen geltende Vorschriften ergeben, beispielsweise aus der Verletzung von Regelungen des Fünften, Ersten, Vierten und Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches. aa) Unzulässige Maßnahme Zu den Vorgaben, die die Krankenkassen im Kassenwettbewerb zu beachten haben, gehören die neuen in das SGB Vaufgenommenen ausdrücklichen Wettbewerbsregelun-
16 Vgl. BVerwG, Urteil vom 26. 8. 1993 – 4 C 24/91 – juris Rz. 24 = BVerwGE 94, 100, 104, dort zum Folgenbeseitigungsanspruch. 17 Das kommt für Körperschaften des öffentlichen Rechts im Ergebnis nicht in Betracht. 18 Vgl. z. B. BSG, Urteil vom 30. 7. 2019 – B 1 KR 34/18 R – BSGE 129, 10 = SozR 42500 § 53 Nr. 3, Rz. 15; BGH, Beschluss vom 28. 6. 2018 – AnwZ 5/18 – juris Rz. 4 = NJW 2018, 2645; BVerwG, Urteil vom 22. 10. 2014 – 6 C 7/13 – juris Rz. 20 = Buchholz 402.41 Allgemeines Polizeirecht Nr. 104; BVerwG, Urteil vom 21. 5. 2008 – 6 C 13/ 07 – BVerwGE 131, 171, Rz. 13. 19 Vgl. allgemein zum Erfordernis des Schutzes individueller rechtlicher Interessen BSG, Urteil vom 12. 3. 2013 – B 1 A 1/12 R – BSGE 113, 107 = SozR 4-1500 § 54 Nr. 32, Rz. 12 mwN; BSG, Urteil vom 12. 3. 2013 – B 1 A 2/12 R – BSGE 113, 114 = SozR 4-1500 § 54 Nr. 33, Rz. 16 m. w. N. 20 Vgl. BSG, Urteil vom 30. 7. 2019 – B 1 KR 34/18 R – BSGE 129, 10 = SozR 4-2500 § 53 Nr. 3, Rz. 15; BSG, Urteil vom 12. 3. 2013 – B 1 A 1/12 R – BSGE 113, 107 = SozR 41500 § 54 Nr. 32, Rz. 14 f.; BSG, Urteil vom 12. 3. 2013 – B 1 A 2/12 R – BSGE 113, 114 = SozR 4 – 1500 § 54 Nr. 33, Rz. 16 m. w. N.; BVerwG, Urteil vom 28. 3. 2019 – 5 CN 1/18 – juris Rz. 19; BVerwG, Urteil vom 11. 10. 2016 – 2 C 11/15 – BVerwGE 156, 180, Rz. 27.
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gen und ggf. die auf dieser Grundlage erlassene Rechtsverordnung21. So sind Maßnahmen unzulässig, die nicht dem gesetzlich vorgegebenen Ziel des Wettbewerbs der Krankenkassen dienen, das Leistungsangebot und die Qualität der Leistungen zu verbessern sowie die Wirtschaftlichkeit der Versorgung zu erhöhen22. Die Aufwendungen für den Wettbewerb, insbesondere Werbung, müssen unter Berücksichtigung der Finanzierung der Krankenkassen durch Beiträge und des sozialen Auftrags der Krankenkassen angemessen sein23. Unzulässig sind unverändert alle Maßnahmen, die der Risikoselektion dienen oder diese unmittelbar oder mittelbar fördern24. Auch unlautere geschäftliche Handlungen der Krankenkassen sind unzulässig. Krankenkassen sind angesichts ihres öffentlichen Auftrags, der teils mit hoheitlichen Befugnissen erfüllt wird, und ihrer besonderen gesetzlichen Bindungen mit privaten Unternehmen nur eingeschränkt vergleichbar, so dass das SGB V bislang nicht von einer unmittelbaren Anwendbarkeit der Vorschriften des UWG ausgegangen ist25. Die Regelung des § 4a Abs. 2 SGB V, wonach unlautere geschäftliche Handlungen der Krankenkassen unzulässig sind, zieht das nicht in Zweifel. Gerade weil die Rechtsnormen des UWG nicht unmittelbar anwendbar sind, es aber als sachgerecht erscheint, geschäftliche Handlungen der Krankenkassen im Sinne eines Mindeststandards auch an den dort aufgestellten Verhaltensregeln zu messen, ordnet das Gesetz die Unzulässigkeit unlauterer geschäftlicher Handlungen der Krankenkassen an. Die besonderen öffentlich-rechtlichen Bindungen der Krankenkassen bleiben hiervon unberührt und können die Verbote des UWG überlagern oder verdrängen26. Bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit von Maßnahmen einer Krankenkasse ist es dementsprechend zweckmäßig27, entsprechend üblicher juristischer Methodik zunächst 21
Vgl. zur Ermächtigung, das Nähere über die Zulässigkeit von Werbemaßnahmen der Krankenkassen mittels Rechtsverordnung zu regeln, § 4a Abs. 4 SGB V. 22 Vgl. § 4a Abs. 1 Satz 1 SGB V und hierzu Martin Krasney, in: Schlegel/Voelzke (Hrsg.), jurisPK-SGB V, 4. Aufl. (Stand: 15. 6. 2020), § 4a SGB V, Rz. 16 f., mit beispielhaftem Hinweis auf BSG, Urteil vom 30. 7. 2019 – B 1 KR 16/18 R – BSGE 128, 300 = SozR 4-2500 § 4 Nr. 3, Rz. 22 f. 23 Vgl. § 4a Abs. 1 Satz 2 SGB V und hierzu z. B. die bisher intern geregelten Wettbewerbsgrundsätze der Versicherungsaufsicht, Gegenstand des Revisionsverfahrens B 1 A 1/20 R gegen LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 27. 9. 2018 – L 1 KR 318/17 KL – juris Rz. 65; möglicher Regelungsgegenstand der Rechtsverordnung nach § 4a Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 SGB V „Höchstgrenzen für Werbeausgaben einschließlich der Aufwandsentschädigungen für externe Dienstleister, die zu Werbezwecken beauftragt werden“. 24 Vgl. § 4a Abs. 1 Satz 3 SGB V; das gilt nicht nur für kostenteure Fälle, sondern umfassend in jeder Hinsicht, auch z. B. für Fälle, die durch den Risikostrukturausgleich überbewertet sind. 25 Vgl. Begründung zu § 4 Abs. 3 Satz 2 SGB V im Gesetzentwurf der Bundesregierung eines Achten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen, BTDrucks. 17/9852, S. 36 f. 26 Vgl. Entwurf eines GKV-FKG der Bundesregierung, BT-Drucks. 19/15662, S. 68. 27 Vgl. zur grundsätzlichen Freiheit der Gerichte hinsichtlich der Prüfungsreihenfolge z. B. BSG, Urteil vom 17. 9. 2013 – B 1 KR 51/12 R – BSGE 114, 209 = SozR 4-2500 § 115a Nr. 2, Rz. 9 m. w. N.
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mit den speziellsten Anforderungen des öffentlichen Rechts anzufangen und nur dann, wenn die Maßnahme diesen Anforderungen genügt, auch noch die Vereinbarkeit mit den ergänzenden Regeln des Lauterkeitsrechts zu überprüfen. Die Neuregelung im SGB Verfasst detailliert Werbemaßnahmen der Krankenkassen um Mitglieder und für ihre Leistungen, die als deren Aufgabe ausdrücklich anerkannt wird28. Bei Erfüllung dieser öffentlich-rechtlichen Befugnis muss die sachbezogene Information im Vordergrund stehen, auch wenn die Gefühlsebene der Werbeadressaten angesprochen werden darf. Eine reine Marken- oder Imagewerbung ohne jegliche Informationen über Versorgungs- oder Serviceleistungen ist nicht zulässig29. Das entspricht ebenso wie das weitere Erfordernis im Kern den bisherigen Anforderungen, nämlich dass die Werbung in einer Form zu erfolgen hat, die mit der Eigenschaft der Krankenkassen als Körperschaften des öffentlichen Rechts unter Berücksichtigung ihrer Aufgaben vereinbar ist30. Das steht geschmacklosen, unwürdigen, etwa Persönlichkeitsrechte missachtenden Formen der Werbung entgegen. Soweit sich Krankenkassen bei Wettbewerbsmaßnahmen Dritter bedienen, müssen sie unverändert, nun aber ausdrücklich geregelt, sicherstellen, dass die für die Krankenkassen geltenden Wettbewerbsregeln beachtet und nicht umgangen werden31. Die zulässige Einschaltung Dritter32 in die Erfüllung von Aufgaben der Krankenkassen lässt deren Pflichten unberührt und begründet eigenständige Pflichten der Krankenkassen, die Beachtung dieser Pflichten sicher zu stellen. bb) Bezug zum Kassenwettbewerb Die Maßnahme muss zudem einen Bezug zum Wettbewerb der Krankenkassen untereinander aufweisen. Die Regelung will vermeiden, dass sich einzelne Krankenkassen im Wettbewerb einen Vorsprung durch Rechtsbruch verschaffen. Deshalb ist der Begriff des Wettbewerbsbezugs weit zu verstehen, die Anforderungen an ihn sind gering: Erfasst ist jedes Verhalten einer Krankenkasse, wenn es unmittelbar oder mittelbar darauf ausgerichtet ist, ihr einen Vorteil gegenüber einer anderen Krankenkasse zu verschaffen, mit der sie im Wettbewerb steht. Einen hinreichenden Wettbewerbsbezug weisen beispielhaft33 diejenigen gesetzlichen Regeln auf, die spezifisch den Krankenkassenwettbewerb organisieren34, die Ermächtigungen zu Ge-
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Vgl. § 4a Abs. 3 Satz 1 SGB V. Vgl. Begründung zum Entwurf eines GKV-FKG der Bundesregierung, BT-Drucks. 19/ 15662, S. 69. 30 Vgl. § 4a Abs. 3 Satz 3 SGB V. 31 Vgl. § 4a Abs. 5 SGB V. 32 Vgl. § 197b SGB V. 33 Vgl. Entwurf eines GKV-FKG der Bundesregierung, BT-Drucks. 19/15662, S. 70 f. 34 Vgl. z. B. § 4a Abs. 1 bis Abs. 5 SGB V; die Vorgaben zur Ausübung des Wahlrechts nach § 175 SGB V. 29
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staltungsleistungen kraft Satzung35, die Regelungen zur Erhebung des Zusatzbeitrags und zur Durchführung des Risikostrukturausgleichs36 oder beispielsweise die haushalts- und vermögensrechtliche Vorschriften etwa über die unzulässige Anlage von Rücklagemitteln in Aktien37 oder die verbotene Aufnahme von Darlehen38. Der Wettbewerbsbezug fehlt etwa bei Verstößen gegen Vorgaben, die allein die interne Organisation der Krankenkasse berühren. cc) Eignung zur Interessenbeeinträchtigung Die unzulässige Maßnahme mit Wettbewerbsbezug muss zusätzlich geeignet sein, die Interessen der anderen Krankenkassen im Wettbewerb zu beeinträchtigen. Ein Schaden muss weder entstanden sein noch muss konkret drohen, dass ein solcher entsteht. An der Eignung zur Beeinträchtigung des Wettbewerbs fehlt es, wenn die Krankenkassen von vornherein nicht im Wettbewerb zueinanderstehen, etwa, weil sich die Kreise der zur Mitgliedschaft berechtigten Personen nicht überschneiden. dd) Verfahrenserleichterung im einstweiligen Rechtsschutz Die neue Regelung des § 4a Abs. 7 Satz 4 SGB V dehnt für den einstweiligen Rechtsschutz die Verfahrenserleichterung entsprechend jener des § 12 Abs. 2 UWG auf alle wettbewerblichen Unterlassungsansprüche einer Krankenkasse gegen eine andere aus. Das bisherige Recht sah Entsprechendes lediglich für den Anspruch auf Unterlassung unzulässiger Werbemaßnahmen vor39. Danach können zur Sicherung des Unterlassungsanspruches nach § 4a Abs. 7 Satz 1 SGB V wegen eines Wettbewerbsverstoßes einstweilige Anordnungen nach § 86b Abs. 2 SGG erlassen werden, ohne dass dafür die Krankenkasse das Vorliegen eines Anordnungsgrundes darlegen und glaubhaft machen muss. Der Gesetzgeber wollte damit eine widerlegbare Vermutung begründen, dass ein Anordnungsgrund besteht40. Die auf Unterlassung in Anspruch genommene Krankenkasse kann weitgehend parallel zu der Rechtsprechung zu § 12 Abs. 2 UWG die Vermutung widerlegen. So kann sie darlegen, dass die Antragstellerin in Kenntnis der maßgeblichen Umstände und der ihr fortdauernd drohenden Nachteile ohne überzeugenden Grund längere Zeit untätig geblieben ist, dadurch die Durchsetzung des Unterlassungsanspruchs verzögert und damit zu
35 Vgl. z. B. § 11 Abs. 6, § 14 Abs. 1, § 20i Abs. 2, § 23 Abs. 2 Satz 2, § 27b Abs. 6, § 38 Abs. 2, § 47 Abs. 3, § 53, § 65a Abs. 1 und 2, § 68 Satz 2, § 73b Abs. 3 Satz 8, § 140a Abs. 4 Satz 6 sowie § 194 Abs. 1a SGB V. 36 Vgl. §§ 266 ff. SGB V nebst den Regelungen der RSAV. 37 Vgl. § 83 SGB IV und BSG, Urteil vom 18. 7. 2006 – B 1 A 2/05 R – SozR 4-2400 § 80 Nr. 1. 38 Vgl. § 220 Abs. 1 Satz 2 SGB V und BSG, Urteil vom 3. 3. 2009 – B 1 A 1/08 R – BSGE 102, 281 = SozR 4-2500 § 222 Nr. 1. 39 Vgl. § 4 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 2 SGB V in der bis zum 31. 3. 2020 geltenden Fassung. 40 Vgl. Entwurf eines GKV-FKG der Bundesregierung, BT-Drucks. 19/15662, S. 71.
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erkennen gegeben hat, dass die Sache für sie nicht so eilig ist. Dann lässt sich die Dringlichkeit nicht mehr vermuten41. ee) Konkurrenz mit dem Aufsichtsrecht Der Gesetzgeber hat wettbewerbliche Unterlassungsansprüche von Krankenkassen bewusst als unabhängige Kontrollschiene neben möglichen Maßnahmen der Aufsichtsbehörden konzipiert. Der Unterlassungsanspruch ist von der Einschätzung und dem Vorgehen der Aufsichtsbehörden unabhängig. Entsprechend der bis zum 31. 3. 2020 geltenden Rechtslage schließt der Unterlassungsanspruch eine parallele Anrufung der zuständigen staatlichen Aufsichtsbehörde zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit der streitigen Maßnahme nicht aus. Krankenkassen können wettbewerbliche Unterlassungsansprüche gegen andere Krankenkassen gerichtlich überprüfen lassen, auch wenn die hierfür zuständige Aufsichtsbehörde keinen Rechtsverstoß annimmt oder aus Opportunitätsgründen von einem Einschreiten absieht. Beanstandet aber eine Aufsichtsbehörde eine Maßnahme der Krankenkasse und bleiben deren Rechtsmittel dagegen ohne Erfolg, spricht dies auch ohne formelle Bindung für die Rechtswidrigkeit der beanstandeten Maßnahme. Es ist einer Aufsichtsbehörde nur verwehrt, ihre Rechtsauffassung an die Stelle derjenigen der beaufsichtigten Körperschaft zu setzen, sofern Rechtsfragen zum Anlass einer Beanstandung genommen werden, die (bislang) weder das Gesetz noch die Rechtsprechung in eindeutiger Weise beantwortet hat42. Im Rahmen der reinen Rechtsaufsicht43 gebieten es der auch im Aufsichtsrecht geltende Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der Grundsatz maßvoller Ausübung der Rechtsaufsicht der Aufsichtsbehörde, dem beaufsichtigten Versicherungsträger bei seiner Verwaltungstätigkeit insoweit einen gewissen Bewertungsspielraum zu belassen, als dafür auch entsprechende Gestaltungsspielräume eröffnet sind44. Der Erlass einer Aufsichtsanordnung verletzt im Ansatz aber nicht das Gebot einer maßvollen Ausübung der Rechtsaufsicht, wenn das beanstandete Verhalten sich nicht mehr im Rahmen des Vertretbaren hält45. Der Bewertungsspielraum des beaufsichtigten Sozialversicherungsträgers endet, wenn er gegen 41
Vgl. z. B. OLG Frankfurt, Urteil vom 28. 4. 2016 – 6 U 214/15 – WRP 2016, 902; OLG Stuttgart, Urteil vom 27. 1. 2016 – 4 U 167/15 – juris Rz. 80; weiter Nachweise z. B. bei Gangolf Hess, in: Ullmann, jurisPK-UWG, 4. Aufl. (Stand: 09. 04. 2018), § 12 UWG Rz. 122 ff. 42 Vgl. BSG, Urteil vom 22. 3. 2005 – B 1 A 1/03 R – BSGE 94, 221 = SozR 4-2400 § 89 Nr. 3, Rz. 23. 43 Vgl. § 89 Abs 1 SGB IV. 44 Vgl. etwa zum Gebot der Wirtschaftlichkeit sowie der Sparsamkeit im Haushaltswesen BSG, Urteil vom 18. 7. 2006 – B 1 A 2/05 R – SozR 4-2400 § 80 Nr. 1 S. 6; BSG, Urteil vom 20. 3. 2018 – B 1 A 1/17 R – BSGE 125, 207 = SozR 4-2400 § 35a Nr. 5, Rz. 16 m. w. N.; BSG Urteil vom 30. 7. 2019 – B 1 A 2/18 R – SozR 4-2400 § 35a Nr. 6 Rz. 20. 45 Vgl. z. B. BSG, Urteil vom 18. 7. 2006 – B 1 A 2/05 R – SozR 4-2400 § 80 Nr. 1 Rz. 23; BSG, Urteil vom 8. 10. 2019 – B 1 A 3/19 R – für BSGE vorgesehen, SozR 4-2500 § 11 Nr. 6, Rz. 16; BSG, Urteil vom 8. 10. 2019 – B 1 A 1/19 R – für BSGE vorgesehen, SozR 4-2400 § 89 Nr. 9, Rz. 25.
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allgemein anerkannte Maßstäbe verstoßen hat, die diesen Spielraum einengen oder ausschließen; eine solche Grenzüberschreitung stellt regelmäßig eine grundsätzlich der aufsichtsrechtlichen Beanstandung unterliegende Rechtsverletzung iS von § 89 SGB IV dar46. Im Ergebnis kann sich aber nach der Neuregelung eine Krankenkasse nicht mehr mit Erfolg darauf berufen, sie sei mangels hinreichender Aktivität der Aufsichtsbehörde unlauterem Wettbewerb einer anderen Krankenkasse ausgesetzt. Denn sie kann unabhängig von den Prüfungen, Ergebnissen und Ansichten einer Aufsichtsbehörde einen Unterlassungsanspruch geltend machen und so auch eine gerichtliche Klärung des Sachverhaltes herbeiführen. Dies kann helfen, Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden, die daraus erwachsen, dass es zwischen den Aufsichtsbehörden zu unterschiedlichen Auffassungen hinsichtlich der Frage kommt, ob sich bestimmte Verhaltensweisen von Krankenkassen noch im Bereich des „rechtlich Vertretbaren“ bewegen. ff) Gerichtszuständigkeit Die Streitigkeiten der Krankenkassen untereinander, die einen wettbewerblichen Streitgegenstand haben, fallen wie bisher in die Rechtswegzuständigkeit der Sozialgerichtsbarkeit. Es handelt sich um öffentlich-rechtliche Streitigkeiten in Angelegenheiten der GKV im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 2 SGG47. Hierfür sind im Interesse eines Gleichklangs zu aufsichtsrechtlichen Streitigkeiten grundsätzlich die Landessozialgerichte erstinstanzlich zuständig (vgl. § 29 Abs. 2 Nr. 5 SGG48). Es ist weise, dass das LSG Nordrhein-Westfalen im ersten Rechtszug u. a. entscheidet über Streitigkeiten zwischen gesetzlichen Krankenkassen untereinander betreffend den Risikostrukturausgleich (RSA) sowie zwischen gesetzlichen Krankenkassen oder ihren Verbänden und dem Bundesamt für Soziale Sicherung betreffend den RSA, die Anerkennung von strukturierten Behandlungsprogrammen und die Verwaltung des Gesundheitsfonds (vgl. § 29 Abs. 3 Nr. 1 SGG)49. Diese besondere Zuständigkeitskonzentration im Bereich des RSA, die sich bisher nur auf Streitigkeiten zwischen Krankenkassen oder ihren Verbänden und dem Bundesversicherungsamt bezog, hat der Gesetzgeber auf entsprechende Streitigkeiten der Krankenkassen untereinander nach dem neuen § 4a Absatz 7 SGB V erweitert. Der Durchführung des RSA kommt aufgrund seiner Finanzwirkung eine hohe Wettbewerbsrelevanz zu. Die besondere Komplexität der Materie und das Bedürfnis nach Einheitlichkeit der Rechtsprechung rechtfertigen die ausschließliche Zuständigkeit des hierauf spezialisierten LSG Nordrhein-Westfalen50. 46
Vgl. BSG, Urteil vom 18. 7. 2006 – B 1 A 2/05 R – SozR 4-2400 § 80 Nr. 1 Rz. 23; Vgl. Pablo Coseriu, in: Zeihe/Hauck, SGG, Stand 1. 5. 2020, § 51 SGG; Begründung des Entwurfs eines GKV-FKG der Bundesregierung, BT-Drucks. 19/15662, S. 64. 48 Eingefügt durch Art. 1 Nr. 1 Buchst. b GKV-FKG mit Wirkung vom 1. 4. 2020. 49 Geändert durch Eingefügt durch Art. 1 Nr. 2 GKV-FKG mit Wirkung vom 1. 4. 2020. 50 Vgl. Begründung des Entwurfs eines GKV-FKG der Bundesregierung, BT-Drucks. 19/ 15662, S. 64. 47
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Wie bereits schon nach bisherigem Recht bei Ansprüchen auf Unterlassung unzulässiger Werbung entsprechend § 12 Abs. 1 Satz 1 und 2 UWG51 soll die zur Geltendmachung des Anspruchs berechtigte Krankenkasse die Schuldnerin vor der Einleitung eines gerichtlichen Verfahrens abmahnen und ihr Gelegenheit geben, den Streit durch Abgabe einer mit einer angemessenen Vertragsstrafe bewehrten Unterlassungsverpflichtung beizulegen. Unterlässt die Gläubigerin des Unterlassungsanspruchs die Abmahnung, läuft sie lediglich Gefahr, trotz Begründetheit der Klage bei sofortigem Anerkenntnis mit den Kosten belastet zu werden52. Soweit die Abmahnung berechtigt ist, kann die Abmahnende von der Abgemahnten Ersatz der erforderlichen Aufwendungen verlangen53. gg) Umsetzung stattgebender Gerichtsentscheidungen Wie bereits schon nach bisherigem Recht bei Ansprüchen auf Unterlassung unzulässiger Werbung54 kann entsprechend § 12 Abs. 3 UWG bei einer erfolgreichen Klage auf Unterlassung das Gericht dem obsiegenden Beteiligten die Befugnis zusprechen, das Urteil auf Kosten des unterliegenden Beteiligten öffentlich bekannt zu machen, wenn er ein berechtigtes Interesse dartut55. Art und Umfang der Bekanntmachung werden im Urteil bestimmt. Die Befugnis erlischt, wenn von ihr nicht innerhalb von drei Monaten nach Eintritt der Rechtskraft Gebrauch gemacht worden ist. Der Ausspruch der Befugnis, das Urteil auf Kosten des unterliegenden Beteiligten öffentlich bekannt zu machen, ist nicht vorläufig vollstreckbar56. Hat ein Unterlassungs- oder Beseitigungsanspruch etwa von der Krankenkasse (mit) gesetzte Rechtsnormen wie etwa Satzungsbestimmungen oder Normativverträge zum Gegenstand, lässt eine stattgebende Gerichtsentscheidung die Rechtswirksamkeit solcher Normen unberührt. Die zur Beseitigung verpflichtete Krankenkasse muss hierzu die einschlägigen gesetzlichen Verfahrensregeln einhalten, also zum Beispiel eine unzulässige Satzungsregelung förmlich durch Beschluss des Verwaltungsrats und Genehmigung der Aufsichtsbehörde ändern. Die Beseitigung unzulässiger Vereinbarungen in Gesamt- oder Selektivverträgen erfolgt mittels Änderung oder Kündigung des betroffenen Vertrags. Die Beseitigung von Fehlern mit Auswirkungen auf den RSA hat dementsprechend nach den Verfahrensregeln des RSA zu erfolgen. 51
Vgl. § 4 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 2 SGB V in der bis 31. 3. 2020 geltenden Fassung. Vgl. entsprechend z. B. OLG Koblenz, Beschluss vom 23. 10. 2017 – 9 U 895/17 – WRP 2017, 1522, 1523; weiter Nachweise z. B. bei Gangolf Hess, in: Ullmann, jurisPK-UWG, 4. Aufl. (Stand: 09. 04. 2018), § 12 UWG Rz. 4 ff. 53 Vgl. § 4a Abs. 7 Satz 2 und 3 SGB V. 54 Vgl. § 4 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 2 SGB V in der bis 31. 3. 2020 geltenden Fassung. 55 Vgl. § 4a Abs. 7 Satz 5 SGB V; das SGG spricht – abweichend von dieser Rechtsnorm – von Beteiligten. Die Beteiligten sind sinngemäß mit der Bezeichnung „Parteien“ in § 4a Abs. 7 Satz 5 SGB V gemeint. 56 Vgl. § 4a Abs. 7 Satz 6 bis 8 SGB V; § 4a Abs. 7 Satz 8 SGB V durchbricht den Grundsatz des SGG, dass gerichtliche Entscheidungen vollstreckbar sind, soweit nach den Vorschriften des SGG kein Aufschub eintritt (vgl. § 198 Abs. 2 und § 199 Abs. 1 Nr. 1 SGG). 52
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III. Wettbewerbliche Unterlassungsansprüche von Unternehmen der PKV gegen Krankenkassen 1. Öffentlich-rechtlicher Unterlassungsanspruch Auch Unternehmen der PKV können gegen Krankenkassen einen öffentlich-rechtlichen Unterlassungsanspruch gegen wettbewerbswidrige Maßnahmen haben. Wie oben dargelegt57 setzt der Anspruch voraus, dass der Anspruchsinhaber eine durch öffentlich-rechtliche Vorschriften begründete und im Verhältnis zu anderen Rechtsträgern geschützte Rechtsposition hat und dass ein Eingriff in diese Position droht58. Als Abwehranspruch teilt er die Rechtsnatur des Handelns, gegen das er sich richtet59. a) Werbung Nach der ausdrücklichen gesetzlichen Regelung sind z. B. Krankenkassen berechtigt, um Mitglieder und für ihre Leistungen zu werben60. Sie handeln bei der Werbung in der Regel schlicht-hoheitlich61. Das gilt auch, wenn zugleich von der Werbung als Wettbewerber nicht nur andere Krankenkassen, sondern auch Unternehmen der PKV betroffen sind. Die Erweiterung des Kreises der Wettbewerber ändert nicht die Rechtsnatur der Werbemaßnahme einer Krankenkasse. Entscheidend für die Frage der Eröffnung des Rechtsweges zu den Sozialgerichten ist auch insoweit ausschließlich, ob eine Angelegenheit der GKV Gegenstand der Streitigkeit ist. Hiervon ist auszugehen, wenn Maßnahmen betroffen sind, die unmittelbar der Erfüllung der den Krankenkassen nach dem Fünften Buch des Sozialgesetzbuchs obliegenden öffentlich-rechtlichen Aufgaben dienen62. Die Rechtsprechung des BGH hat die Zuständigkeitsgrundsätze allerdings dahingehend modifiziert, dass es sich bei wettbewerbsrechtlichen Ansprüchen, die sich nicht auf einen Verstoß gegen Vorschriften des SGB V stützen, sondern ausschließlich auf wettbewerbsrechtliche Normen, deren Beachtung auch jedem privaten Mitbewerber obliegt, nicht um eine Angelegenheit der gesetzlichen Krankenversicherung i.S. von § 51 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Satz 1 SGG handele63. Insoweit versteht es sich von 57
Vgl. oben, Fn. 13 ff. Vgl. z. B. BSG, Urteil vom 15. 11. 1995 – 6 RKa 17/95 – juris Rz. 17 = USK 95139; BSG, Urteil vom 13.12. 2011 – B 1 KR 9/11 R – SozR 4-2500 § 133 Nr. 6 Rz. 39; BSG, Urteil vom 30. 7. 2019 – B 1 KR 34/18 R – BSGE 129, 10 – 20, SozR 4-2500 § 53 Nr 3, Rz. 14. 59 Vgl. BVerwG, Urteil vom 2. 11.1973 – BVerwG 4 C 36.72 – NJW 1974, 817. 60 Vgl. § 4a Abs. 3 Satz 1 SGB V. 61 Zu Ausnahmen vgl. unten, unter III. 2. 62 Vgl. BGH, Beschluss vom 19. 12. 2002 – I ZB 24/02 – GRUR 2003, 549 – Arzneimittelversandhandel. 63 Vgl. BGH, Beschluss vom 26. 11. 2002 – VI ZB 41/02, NJW 2003, 1192 für einen Unterlassungsanspruch gegen ehrverletzende Äußerungen nach § 823 Abs. 1, §§ 824, 1004 BGB; BGH, Beschluss vom 9. 11. 2006 – I ZB 28/06 – juris Rz. 13 m. w. N.; kritisch Ulrich Knispel, 58
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selbst, dass damit nicht die Pflicht der Krankenkassen zur Aufklärung, Beratung und Information der Versicherten nach §§ 13 bis 15 SGB I erfasst ist, aus der sich Beschränkungen von Maßnahmen der Mitgliederwerbung ergeben können64. Bleibt der BGH konsequent bei dieser Rechtsprechung, kommt künftig für die Beanstandung von Werbung der Krankenkassen keine Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte mehr in Betracht, sondern lediglich eine solche der Sozialgerichtsbarkeit. Denn § 4a Abs. 2 und Abs. 3 SGB V trifft hierfür umfassende Regelungen. Diese sind zwar in einen Regelungskontext eingebettet, der auf das Wettbewerbsverhältnis zwischen Krankenkassen zielt. Die Normen enthalten aber zugleich nach ihrem Wortlaut und Zweck darüber hinaus geltende allgemeine Maßstäbe für Werbung der Krankenkassen, die auch im Wettbewerb mit Unternehmen der PKV gelten. So sind für Krankenkassen als Körperschaften des öffentlichen Rechts in jedem Kontext, nicht nur gegenüber anderen Krankenkassen, unlautere geschäftliche Handlungen unzulässig65. Spiegelbild ist die – an die Wahrung der Rechtspflichten des Staates anknüpfende – Amtspflicht zu rechtmäßigem Verhalten66, als deren Unterfall das Unterlassen unlauterer geschäftlicher Handlungen anzusehen ist. b) Gestaltungsleistungen Drittschützende Rechtsnormen, auf die sich Unternehmen der PKV stützen können, sind auch beispielsweise die Regelungen über Gestaltungsleistungen für Krankenkassen. Die Gestaltungsleistungen unterscheiden sich in ihrer Struktur: In den Regelungen des SGB V, die den Krankenkassen ermöglichen, kraft Satzung den GKV-Leistungskatalog ergänzendes Leistungsrecht zu schaffen, gibt der Gesetzgeber regelmäßig konkret den sachlichen Leistungsrahmen vor, innerhalb dessen Krankenkassen ihren Versicherten zusätzliche Leistungsansprüche einräumen dürfen67. Soweit das SGB V hingegen zu Satzungsregelungen ohne einen konkreten Bezug zu einzelnen Leistungsbereichen ermächtigt, handelt es sich gerade um explizit quantitative Regelungen, die den Krankenkassen keine Befugnis zur Schaffung neuer, den GKV-Leistungskatalog inhaltlich erweiternder Satzungsleistungen
Doppelter Rechtsweg für Klagen gegen die Mitgliederwerbung einer Krankenkasse? NZS 2008, 129 – 131. 64 Vgl. BSG, Urteil vom 12. 3. 2013 – B 1 A 2/12 R – BSGE 113, 114 = SozR 4-1500 § 54 Nr. 33, Rz. 23; zu den Beschränkungen vgl. z. B. BSG, Urteil vom 23. 3. 1998 – B 1 KR 9/95 R – BSGE 82, 78, 80 = SozR 3-2500 § 4 Nr. 1 S. 4. 65 Vgl. ausdrücklich § 4a Abs. 2 SGB V. 66 Vgl. z. B. BGH, Urteil vom 10. 1. 1955 – III ZR 153/53 – juris Rz. 9 – BGHZ 16, 111; BGH, Urteil vom 7. 2. 1980 – III ZR 153/78 – juris Rz. 10 – LM Nr. 64 zu Art. 14 (Ce) GG; BGH, Urteil vom 22. 5. 1984 – III ZR 18/83 – BGHZ 91, 243. 67 Vgl. z. B. § 11 Abs. 6, § 20i Abs. 2, § 23 Abs. 2 Satz 2, § 27b Abs. 6, § 38 Abs. 2, § 47 Abs. 3, § 53 Abs. 3, 5 und 6, § 65a Abs. 1 und 2, § 68 Satz 2, § 73b Abs. 3 Satz 8, § 140a Abs. 4 Satz 6 sowie § 194 Abs. 1a SGB V.
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geben68. Beide Arten der Ermächtigung zu Gestaltungsleistungen vermitteln Unternehmen der PKV Drittschutz. Indem der Gesetzgeber selektiv und abschließend den Krankenkassen ermöglicht, zusätzliche Gestaltungsleistungen in ihren Satzungen vorzusehen, schützt er zugleich die Unternehmen der PKV vor anderen, von ihm nicht autorisierten Tätigkeitsfeldern der Krankenkassen kraft Selbstermächtigung durch Satzung. Anders als bei Überschreitungen der Grenzen des GKV-Leistungskatalogs durch Krankenkassen im Einzelfall geht es um generelle Grenzen der Tätigkeit von Trägern der GKV, die diese auch im Interesse der Unternehmen der PKV zu achten haben. Die gesetzlichen Satzungsermächtigungen (ua § 11 Abs 6, § 37 Abs 2 Satz 4 und § 53 Abs 4 SGB V) haben den Zweck, die Kompetenzen der Krankenkassen generell festzulegen, zusätzliche Leistungsansprüche mittels Satzungsrechts über den für alle Versicherten aller Krankenkassen geltenden GKV-Leistungskatalog hinaus zu begründen, diese aber zugleich auch im Interesse der Unternehmen der PKV zu begrenzen69. Der bestimmte und abgrenzbare Kreis der hierdurch Berechtigten sind solche Unternehmen der PKV, die entsprechende Leistungen anbieten können70. Soweit Unternehmen der PKV Zusatzversicherungen anbieten können, müssen sie es dementsprechend nicht hinnehmen, dass sich Krankenkassen ihnen verschlossene Tätigkeitsfelder unter Verstoß gegen gesetzliche Vorgaben für Wahlleistungen im Wege selbst gesetzten Satzungsrechts eröffnen. c) Systemabgrenzung Dagegen vermitteln die Regelungen über die Systemabgrenzung mittels Zuweisung von Versicherten zum System der GKV verbunden mit Wahlmöglichkeiten, sich für eine die Versicherung in der GKV substituierende private Krankenversicherung zu entscheiden, keinen Drittschutz zugunsten von Unternehmen der PKV. Die Zuweisung der Versicherten zur GKVerfolgt allein im öffentlichen Interesse durch die Regelungen der §§ 5 ff SGB V. Gleiches gilt für die den Einzelfall betreffenden unmittelbaren gesetzlichen Grenzen des GKV-Leistungskatalogs, die ihren Niederschlag in den öffentlichrechtlichen Leistungsentscheidungen der Krankenkassen finden71. Dies beantwortet die in der Literatur72 aufgeworfene Frage, inwieweit Unternehmen der privaten Kran-
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Vgl. z. B. § 14 Abs. 1, § 53 Abs. 1, 2, 4 und 7 SGB V. Grundsätzlich zustimmend, aber die Möglichkeit doppelter Zwecksetzung eines Gesetzes verkennend Dana Schneider, GesR 2020, 435 – 440. 70 Vgl. BSG, Urteil vom 30. 7. 2019 – B 1 KR 34/18 R – BSGE 129, 10 = SozR 4-2500 § 53 Nr. 3, Rz. 16. 71 Vgl. BSG, Urteil vom 30. 7. 2019 – B 1 KR 34/18 R – BSGE 129, 10 = SozR 4-2500 § 53 Nr. 3, Rz. 18. 72 Vgl. Wolfgang Dreher, in: Schlegel/Voelzke (Hrsg.), jurisPK-SGB V, 4. Aufl. (Stand: 15. 06. 2020), § 53 SGB V, Rz. 13; Mathias Ulmer, Wahltarif Kostenerstattung einer gesetzlichen Krankenkasse, jurisPR-SozR 3/2020 Anm. 3. 69
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kenversicherung Unterlassungsansprüche gegen Leistungsbewilligungen von Krankenkassen gegenüber Versicherten haben: Dies ist nicht der Fall. 2. Anspruch auf Einschreiten der Aufsicht Die Unternehmen der PKV können nicht erfolgreich die Aufsichtsbehörden über Krankenkassen auf ein Einschreiten verklagen, das im Ergebnis dem Erfolg einer Unterlassungsklage unmittelbar gegen die Krankenkasse entspräche. Die Ausübung der Staatsaufsicht über Sozialversicherungsträger erschöpft sich in der Wahrung der Gleichgewichtslage zwischen Staat und Selbstverwaltungskörperschaft73. Dagegen ist das Aufsichtsrecht nicht dazu bestimmt, dem Individualinteresse Einzelner zu dienen74. Die Grundrechte der Berufsfreiheit des Art. 12 Abs. 1 GG und des Gleichbehandlungsgebots gemäß Art. 3 Abs. 1 GG, das Gebot effektiven Rechtsschutzes gemäß Art 19 Abs 4 GG und das europäische Beihilfeverbot vermitteln hierzu keinen weitergehenden Rechtsschutz75. Die Regelungen des GKV-FKG haben hieran nichts geändert. 3. Zivilrechtliche Unterlassungsansprüche Unberührt lassen die Regelungen des GKV-FKG wettbewerbliche Unterlassungsansprüche, soweit es um ein Handeln der Krankenkasse auf rein privatrechtlicher Ebene handelt. Das ist etwa für die reine Vermittlung privater Zusatzversicherungen durch Krankenkassen anzunehmen76. Soweit sich Krankenkassen hierbei wettbewerbswidrig verhalten, greifen die wettbewerbsrechtlichen Unterlassungsansprüche des Zivilrechts. Geht es ausschließlich um solche Ansprüche, sind diese Streitigkeiten vor den Gerichten der ordentlichen Gerichtsbarkeit durchzusetzen77. IV. Fazit Die Strukturierungen wettbewerblicher Unterlassungsansprüche durch die Regelungen des GKV-FKG verbessern Rechtsklarheit und Rechtssicherheit, ohne wesentliche Umbrüche hervorzurufen.
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Vgl. z. B. BSG, Urteil vom 14. 2. 2007 – B 1 A 3/06 R – BSGE 98, 129 = SozR 4-2400 § 35a Nr 1, Rz. 13 m. w. N.; BSG, Urteil vom 12. 3. 2013 – B 1 A 1/12 R – BSGE 113, 107 = SozR 4-1500 § 54 Nr. 32, Rz. 17. 74 Vgl. z. B. BSG, Urteil vom 12. 3. 2013 – B 1 A 1/12 R – BSGE 113, 107 = SozR 4-1500 § 54 Nr. 32, Rz. 17 m. w. N. 75 Vgl. BSG, Urteil vom 12. 3. 2013 – B 1 A 2/12 R – BSGE 113, 114 = SozR 4-1500 § 54 Nr. 33, Rz. 22 ff. m. w. N. 76 Vgl. BGH, Urteil vom 18. 9. 2013 – I ZR 183/12 – juris Rz. 16; Klaus Engelmann, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl. (Stand: 15. 06. 2020), § 69 SGB V Rz. 26. 77 Vgl. § 13 GVG.
Der CAS und das europäische Sportkartellrecht – noch deutlich entfernt von der juristischen „Normalform“! Von Peter W. Heermann I. Einleitung Nachfolgend werden einige Schiedssprüche des Court of Arbitration for Sport (CAS), in denen die europäischen Grundfreiheiten und insbesondere das europäische Kartellrecht zur Anwendung kamen, im Hinblick auf die damit verbundenen Rechtsfragen dargestellt und analysiert. Hinsichtlich der Schiedssprüche mit Bezug zu den europäischen Grundfreiheiten wird nur ein Fall aus der jüngeren Vergangenheit exemplarisch aufgegriffen. Demgegenüber sind die dargestellten Schiedssprüche, die sich vorrangig mit dem europäischen Kartellrecht auseinandersetzen, wegen ihrer insgesamt bis heute sehr überschaubaren Anzahl doch durchaus repräsentativ. Auffällig ist, dass – so viel sei vorab angemerkt – die an den Verfahren beteiligten Schiedsrichter einerseits zwar die prinzipielle Anwendbarkeit der europarechtlichen Regelungen nicht in Zweifel zogen, andererseits aber fast durchweg eine „schnelle“ Lösung suchten, jeweils bestimmte Tatbestandsvoraussetzungen mit nur selten überzeugender Begründung als nicht erfüllt ansahen und auf diese Weise jeweils eine Verletzung europäischen Rechts ablehnten.1 II. Anwendung der Grundfreiheiten Das mit Bezug zu den Grundfreiheiten zu untersuchende Beispiel betrifft die vor dem CAS verhandelte Rechtssache SV Wilhelmshaven/Club Atlético Excursionistas.2 Etwas überraschend hielt es der CAS in diesem Verfahren für unerheblich, dass es seinerzeit in den FIFA-Statuten an einer Rechtsgrundlage für den von der FIFA verfügten Zwangsabstieg gemangelt hatte. Dazu hatte die FIFA-Disziplinarkommission Folgendes ausgeführt:3 „The club is pronounced guilty of failing to comply with a decision of a FIFA body in accordance with art. 64 of the FIFA Disciplinary Code (FDC). The first team of the club is relegated to the next lower divison.“ 1
S. auch Weatherill, Principles and Practice in EU Sports Law, Oxford 2017, S. 15: „There is a degree of inconsistency in the attitude of CAS Panels to the application of relevant provisions of EU law.“ 2 CAS 24. 10. 2013 – 2012/A/3032 – SV Wilhelmshaven/Club Atlético Excursionistas. 3 S. hierzu BGHZ 212, 70 Rn. 5 = NJW 2017, 402 – SV Wilhelmshaven.
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Nach dem im konkreten Fall noch einschlägigen Art. 64 FIFA-Disziplinarreglement a. F. hatte die FIFA die Kompetenz besessen, den Verein mit einer Geldstrafe zu belegen sowie Sanktionen wie Punktabzug oder Zwangsabstieg anzudrohen. Gemäß Art. 64 Abs. 2 FIFA-Disziplinarreglement a. F. sollte, sofern der Club eine letzte Frist ungenutzt verstreichen ließ, der entsprechende Verband aufgefordert werden, die angedrohten Sanktionen in die Tat umzusetzen.4 Obwohl sich die FIFA unter Missachtung der eigenen Statuten nicht an dieses Verfahren gehalten, sondern mehrere eigene Strafentscheidungen getroffen hatte,5 ging der CAS auf diese Verfahrensmängel nicht ein.6 Es soll hier nicht spekuliert werden, weshalb das Panel in dieser Weise handelte – jede denkbare Erklärung ist zumindest kein Aushängeschild für die juristische Arbeitsweise am CAS. Aber auch die Grundsätze der Arbeitnehmerfreizügigkeit i. S. d. Art. 45 AEUV wendete das zuständige Panel am CAS ungenau an. Zunächst sah sich der CAS an seinen seinerzeit rund vier Jahre alten Schiedsspruch gebunden, der der Entscheidung der FIFA zugrunde lag und einen Rechtsstreit des SV Wilhelmshaven mit zwei argentinischen Vereinen in Bezug auf die Zahlung einer Ausbildungsentschädigung betraf.7 Diesbezüglich hatte der CAS hinsichtlich einer etwaigen Unvereinbarkeit des Entschädigungssystems der FIFA mit Art. 45 AEUV im Jahr 2009 Folgendes festgestellt:8 „According to the CAS case law, arguments as to the freedom of movement of football players across the EU can only be raised by the football player himself and no by the football clubs.“
Dass der EuGH in der Zwischenzeit im Jahr 2010 in der Rechtssache Olympique Lyonnais/Bernard & Newcastle UFC die genau entgegengesetzte Rechtsauffassung vertreten hatte,9 hatte sich offensichtlich nicht bis zum CAS in Lausanne oder – ge4 Die FIFA hat erst nachträglich eine passende Rechtsgrundlage geschaffen. Nach Art. 15 FIFA-Disziplinarreglement 2019 werden nicht nur CAS-Entscheide in Berufungsverfahren, sondern auch in ordentlichen Verfahren nunmehr intern vollstreckt. Das für die Vollstreckung zuständiges Organ ist der jeweilige Verband, der den Schiedsspruch „verfügt“ hat. 5 Vgl. zu den Folgen, die sich hieraus im konkreten Verfahren ergaben, Orth, SpuRt 2017, 9 (12). 6 CAS 24. 10. 2013 – 2012/A/3032, Rn. 63 ff. – SV Wilhelmshaven/Club Atlético Excursionistas beurteilte lediglich die Bestimmtheit und Verhältnismäßigkeit des Art. 64 Abs. 1 lit. c) FDC. 7 CAS 24. 10. 2013 – 2012/A/3032, Rn. 70 – SV Wilhelmshaven/Club Atlético Excursionistas: „In other words, what is now at stake is only the question whether the Appellant respected and fulfilled that decision, but no longer its content“. 8 CAS 5. 10. 2009 – 2009/A/1810 & 1811, 4. Leitsatz (im Folgenden ebenso Rn. 42) – SV Wilhelmshaven/Club Atlético Excursionistas & Club Atlético River Plate unter Bezugnahme auf CAS [Datum in der CAS-Datenbank nicht ermittelbar] – 2004/A/794 – [Parteien in der CAS-Datenbank nicht ermittelbar] und CAS 13. 7. 2006 – 2006/A/1027, Rn. 41 – Blackpool F. C. v. Club Topp Oss. 9 EuGH Slg. 2010, I-2177 Rn. 21, 27 ff. = NJW 2010, 1733 – Olympique Lyonnais/Bernard & Newcastle UFC.
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nauer – bis zu dem Einzelschiedsrichter, der für beide Verfahren zuständig gewesen war, herumgesprochen. Hoffentlich kann man hieraus nicht den Rückschluss ziehen, dass sich der CAS an die tatsächlich noch relativ wenigen Entscheidungen des EuGH zu Rechtsfragen im Sportsektor nur gebunden fühlt, wenn sie nicht im Widerspruch zu rechtlichen Einschätzungen in früheren Schiedssprüchen des internationalen Sportschiedsgerichts stehen … III. Anwendung des Kartellrechts Zunächst ist festzuhalten, dass ein Panel am CAS unter dem Vorsitz eines Italieners und mit zwei deutschen Beisitzern bereits im Jahr 1999 im Verfahren AEK Athens and Slavia Prague/UEFA unter Bezugnahme auf Art. 19 schwzIPRG festgestellt hatte, dass der Sportgerichtshof europäisches Kartellrecht zu berücksichtigen habe.10 Dieser Umstand ist bemerkenswert, weil seinerzeit noch verbreitet die Anwendbarkeit des europäischen Kartellrechts auf den Sportsektor generell bestritten wurde und das insoweit bahnbrechende Urteil des EuGH in der Rechtssache Meca-Medina und Majcen11 erst rund sieben Jahre später ergehen sollte. Insoweit war der Weg für die Anwendung des Kartellrechts auf sportbezogene Sachverhalte schon frühzeitig bereitet worden, er ist in den nachfolgenden Jahren vom CAS allerdings nur relativ selten beschritten worden. Soweit ersichtlich, hat der CAS bislang noch in keinem Verfahren die Unvereinbarkeit einer Verbandsnorm oder deren Anwendungspraxis mit europäischem Wettbewerbsrecht angenommen. In der Rechtssache UEFA v. FC Sion/Olympique des Alpes SA setzte sich der CAS im Jahr 2012 in folgender Weise mit dem Kartellrecht der Schweiz, welches im konkreten Fall einschlägig war, auseinander:12 „120. The Swiss Competition authorities usually assess the question whether there is an abuse of a dominant market position by following a two step approach: First, they assess whether the behaviour of an undertaking having a dominant market position leads to a restraint of competition. Second, if there is a restraint of competition, they investigate whether there are legitimate business reasons justifying the restraint of competition. 121. In sports matters, the term ,legitimate business reasons’ cannot be limited to economic reasons. The message of the Federal Council of 23 November 1994 to the Swiss Parliament regarding the CA [= Swiss Cartel Act] refers to commercial principles which may constitute legitimate business reasons and keeps the range open for a wider interpretation of the term, without explicitly taking into consideration the specificity of sport. In sports matters, the behaviour of sports associations must be legitimated by reasons that are necessary for the proper functioning of the sport in order to qualify as ,legitimate business reasons‘.“ 10 CAS 20. 8. 1999 – 98/200, Rn. 10 f. – AEK Athens & SK Slavia Prague/UEFA; so zuletzt nochmals ausdrücklich CAS 3. 10. 2016 – 2016/A/4492, 1. Leitsatz und Rn. 41 ff. – Galatasaray/UEFA. 11 EuGH Slg. 2006, I-6991 = SpuRt 2006, 195 – Meca-Medina und Majcen. 12 CAS 31. 1. 2012 – 2011/O/2574, Rn. 120 f. – UEFA v. FC Sion/Olympique des Alpes SA.
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Dieser Ansatz ist nicht außergewöhnlich, wenngleich die Auseinandersetzung mit den legitimate business reasons recht oberflächlich ausgefallen ist. In dem Verfahren Fulham FC (1987) Ltd/FIFA wendete der CAS im Jahr 2006 europäisches Kartellrecht an und fand einen argumentativen Ansatz, der einen schnellen Abbruch der kartellrechtlichen Prüfung erlaubte:13 „The mere fact that an IF [= International Federation] is in a monopoly situation does not mean that it has abused that position: in order to find an abuse of dominant position, it would have to be shown that the IF has indeed sought to restrict competition and overcome rival competitors through its dominant market power. This is however not the case if the IF is acting, not as a competitor on the market with financial stake in the outcome, but as a mere private association exerting regulatory authority. Sanctions issued in application of regulations drawn up by the IF are necessary to safeguard the correct application of the regulations. They do not constitute an abuse of dominant position, but the justified exercise of an IF’s power to draw up and apply the rules for the sport for which it is responsible.“
Dieser Ansatz beruht auf der Annahme, dass die FIFA bei der Verabschiedung von Verbandsregelungen nicht als Wettbewerber mit eigenen wirtschaftlichen Interessen auf dem Markt auftrete und damit gar nicht unternehmerisch tätig sei. Das ist keine neue und außergewöhnliche, indes in dieser Allgemeinheit im Ergebnis nicht überzeugende Argumentation.14 Sie hätte freilich den von Sportverbänden sicherlich gerne in Kauf genommenen Nebeneffekt, dass ihre in der Durchsetzung der Verbandsstatuten bestehenden Aktivitäten, die den Ausgangspunkt zahlreicher Sportschiedsverfahren bilden, kartellrechtlich nicht erfasst werden könnten. Der Haken an der Sache ist jedoch, dass weder der EuGH noch die EU-Kommission oder das BKartA diesen Ansatz bislang übernommen haben (und vermutlich auch künftig nicht übernehmen werden). Im Übrigen deutete der CAS an, dass der klagende Fußballclub zum Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung unzureichend vorgetragen hatte („would have to be shown that“). Dies kann bei einer nicht selten zu beobachtenden unzureichenden Sensibilisierung der Schiedskläger für die kartellrechtliche Brisanz eines Sachverhalts nicht überraschen. Im Verfahren Danubio FC/FIFA & Internazionale Milano S. p. A. sah der CAS im Jahr 2007 bei der kartellrechtlichen Prüfung des FIFA-Solidaritätsmechanismus15 zunächst die Voraussetzungen des sog. Meca-Medina-Tests16 als erfüllt an.17 Sodann 13
CAS 9. 5. 2006 – 2005/A/1001, 4. Leitsatz – Fulham FC (1987) Ltd/FIFA. Ausführlich hierzu Heermann, CaS 2015, 384 (386 ff.) m. w. N. 15 Vgl. Karlin, in: Stopper/Lentze (Hrsg.): Handbuch Fußball-Recht: Rechte – Vermarktung – Organisation, 2. Aufl., Berlin 2018, Kap. 16 Rn. 58 ff. 16 EuGH Slg. 2006, I-6991 Rn. 42 = SpuRt 2006, 195 – Meca-Medina und Majcen: „Außerdem kann die Vereinbarkeit eines Regelwerks mit den gemeinschaftlichen Wettbewerbsregeln nicht abstrakt beurteilt werden (…). Nicht jede Vereinbarung zwischen Unternehmen oder jeder Beschluss einer Unternehmensvereinigung, durch die die Handlungsfreiheit der Parteien oder einer der Parteien beschränkt wird, fällt zwangsläufig unter das Verbot des Artikels 81 Absatz 1 EG [Anm.: jetzt Art. 101 Abs. 1 AEUV]. Bei der Anwendung dieser Vorschrift im Einzelfall sind nämlich der Gesamtzusammenhang, in dem der fragliche Be14
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traf er eine aus Sicht des Verfassers zutreffende Feststellung, die allerdings bis heute im Kreis von Sportfunktionären und -juristen noch verbreitet auf Skepsis oder gar Widerspruch stößt (Hervorhebungen durch Verfasser):18 „The Panel notes in this regard that the principles incorporated in the FIFA Regulations with respect to the transfer of players were approved by the EC authorities after a long process of negotiation. (…) It is now accepted that EU and national law applies to football, and it is also now understood that EU law is able to take into account the specificity of sport, and in particular to recognise that sport performs a very important social, integrating and cultural function. Football now has the legal stability it needs to go forward“ (see the official press release IP/02/824 – Brussels, 5 June 2002, announcing that the European Commission had closed its investigation into the rules governing international transfers of football players).“
Im Jahr 2009 wendete der CAS in der Rechtssache UMMC Ekaterinburg/FIBA Europe e. V. erneut den sog. Meca-Medina-Test an, konnte aber wiederum keinen Kartellrechtsverstoß feststellen:19 „Art. 82 EC Treaty [Anm.: jetzt Art. 102 AEUV] requires the abuse of a monopolistic position. Whether an abuse can be held in the case in question, must not be decided, because again, a possible abuse can be justified by objective reasons including the particularities of sports to the extent the measure taken is adequate, required and proportionate (HEERMANN P.W., Anwendung des europa¨ ischen Kartellrechts im Bereich des Sports, WuW 2009, 489, 497).“
In den Entscheidungsgründen fand sodann eine vertiefte Auseinandersetzung mit der kartellrechtlichen Problematik statt. Über die Überzeugungskraft der Argumentation wird man streiten können. Dabei ist aber stets zu bedenken, dass der Schiedsspruch drei Jahre nach dem bahnbrechenden Meca-Medina und Majcen-Urteil des EuGH veröffentlicht wurde und zu dieser Zeit die wissenschaftliche Diskussion zum Spannungsfeld von Sport und europäischem Kartellrecht erst allmählich Fahrt aufnahm. Im Jahr 2011 schilderte der CAS in dem Verfahren UCI/T. & Olympic Committee of Slovenia (OCS) zunächst sachlich zutreffend den sog. Meca-Medina-Test, konnte
schluss zustande gekommen ist oder seine Wirkungen entfaltet, und insbesondere seine Zielsetzung zu würdigen. Weiter ist dann zu prüfen, ob die mit dem Beschluss verbundenen wettbewerbsbeschränkenden Wirkungen notwendig mit der Verfolgung der genannten Ziele zusammenhängen (…) und ob sie im Hinblick auf diese Ziele verhältnismäßig sind.“ Ausführlich hierzu Heermann, WRP 2015, 1172 Rn. 6 ff.; Heermann ZWeR 2017, 24 (42 ff.). 17 CAS 28. 11. 2007 – 2007/A/1287, Rn. 35 f. – Danubio FC/FIFA & Internazionale Milano S.p.A. 18 CAS 28. 11. 2007 – 2007/A/1287, Rn. 37 – Danubio FC/FIFA & Internazionale Milano S.p.A. 19 CAS 29. 10. 2009 – 2009/A/1788, Rn. 44 ff. i. V. m. Rn. 28 ff. – UMMC Ekaterinburg/ FIBA Europe e. V.
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in der Folge aber mangels hinreichenden Sachvortrags von einer detaillierten Prüfung absehen:20 „In addition, the Panel is satisfied that the EU Court of Justice clearly stated in Meca-Medina that anti-doping rules and sanctions ,are justified by a legitimate objective‘ and that any related limitation to the athletes’ economic freedom ,is inherent in the organisation and proper conduct of competitive sport and its very purpose is to ensure healthy rivalry between athletes‘ (Case C519/04P Meca-Medina and Majcen v Commission, [2006] 5 C. M. L. R. 18, para. 45). While it is true that restrictions imposed by anti-doping rules and sanctions ,must be limited to what is necessary to ensure the proper conduct of competitive sport‘ (ditto, para. 47) and, thus, they must be proportionate, the Athlete has equally adduced no evidence to establish that the anti-doping rules and sanctions at issue are disproportionate and, as a consequence, has not established a violation of article 101 TFEU. As to article 102 TFEU, the Athlete has offered no market analysis to define the relevant market and submitted no evidence to prove the existence of a dominant position, let alone the perpetration of abuses, by UCI. Accordingly, this submission on behalf of the Athlete also fails.“
Diese Entscheidung belegt eindrucksvoll, dass in sportrechtlichen Verfahren vor Sportschiedsgerichten oder auch staatlichen Gerichten das Schwingen der „kartellrechtlichen Keule“ allein regelmäßig nicht zum rechtlich gewünschten Erfolg führen wird. Vielmehr bedarf es insoweit eines substantiierten Vortrags zu den einzelnen Tatbestandsvoraussetzungen, was sich gerade bei der Abgrenzung des relevanten Marktes oder der Bestimmung einer marktbeherrschenden Stellung als schwierig erweisen kann. Verschiedene kartellrechtliche Aspekte, die schon in den bereits erwähnten Schiedssprüchen des CAS thematisiert worden waren, spielten auch im Schiedsspruch zur Rechtssache Azpeleta aus dem Jahr 2015 eine Rolle.21 Eine spanische Mittelstreckenläuferin, der ein Dopingverstoß vorgeworfen worden war, war vom spanischen Leichtathletikverband freigesprochen worden. Hiergegen hatten die IAAF sowie die WADA vor dem CAS geklagt. Dort bestritt die Athletin die Zuständigkeit des internationalen Sportschiedsgerichts und behauptete einen Verstoß des CAS gegen die Garantien aus Art. 6 EMRK.22 Sie trug weiter vor, das Verhalten der IAAF stelle einen Verstoß gegen das Kartellrecht dar, soweit vom Verband die Unterzeichnung einer Schiedsvereinbarung zum CAS zur Bedingung für die Teilnahme an Sportwettkämpfen erklärt worden sei.23 Die Betroffenheit des verfassungsrechtlich geschützten Justizgewährungsanspruchs begründe einen Missbrauch im Sinne des europäischen Kartellrechts.24 Die Unterzeichnung der Schiedsvereinbarung sei nicht freiwillig erfolgt, obwohl dies nach der Rechtsprechung des EGMR erforder20 CAS 21. 4. 2011 – 2010/A/2235, Rn. 52 – UCI/T. & Olympic Committee of Slovenia (OCS). 21 CAS 19. 11. 2015 – 2014/A/3561 & 3614 – Azpeleta. 22 CAS 19. 11. 2015 – 2014/A/3561 & 3614, Rn. 146 – Azpeleta. 23 CAS 19. 11. 2015 – 2014/A/3561 & 3614, Rn. 148 ff. – Azpeleta. 24 CAS 19. 11. 2015 – 2014/A/3561 & 3614, Rn. 154 – Azpeleta.
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lich gewesen sei.25 Das zuständige Panel schloss sich diesen Ausführungen aus verschiedenen Gründen nicht an:26 Gegen die von der Leichtathletin vorgetragene Rechtsauffassung spreche bereits der Umstand, dass es sich bei der IAAF um kein Unternehmen handele. Denn der Verband werde nicht unternehmerisch tätig, wenn er zwecks Erleichterung der Dopingbekämpfung Bestimmungen über die Streitbeilegung treffe:27 „In turn, the Panel finds that the First Appellant (and sports federations more generally) do not engage in an economic activity, and thus do not constitute undertakings for the purposes of EU competition law, when determining a dispute resolution forum, with a view to facilitating the independent, impartial, specialized, and expeditious resolution of sports disputes, especially in connection with the global fight against doping in sport.“
Auffällig ist, dass sich der CAS nicht mit dem Meinungsstand zu dieser Rechtsfrage in der Rechtsprechung der Unionsgerichte sowie im wissenschaftlichen Schrifttum auseinandersetzte. Dort hatte sich seinerzeit noch keine klar vorherrschende Meinung herausgebildet. Aber aus der ISU-Entscheidung der EU-Kommission28 ließ sich – allerdings erst zwei Jahre später – ableiten, dass grundsätzlich nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann, dass ein Sportverband bei der Implementierung von Streitbeilegungsregelungen in Verträge oder in die eigene Satzung unternehmerisch tätig wird.29 Indes hatte bereits im Jahr 2007 die EU-Kommission in ihrem Commission Staff Working Dokument darauf hingewiesen, dass in Sportarten, in welchen die Teilnehmer ihren Lebensunterhalt mit der Sportausübung bestreiten können, diese Annahme sogar naheliegend sei.30 Sodann prüfte der CAS noch hilfsweise den von der Athletin behaupteten kartellrechtlichen Missbrauch, ohne dabei jedoch auf eine etwaige Beeinträchtigung des Wettbewerbs näher einzugehen. Nach Ansicht des Panels könne der Vorwurf des Missbrauchs nicht erfolgreich auf die fehlende Freiwilligkeit der Unterwerfung unter die Schiedsgerichtsbarkeit des CAS oder die Organisation des CAS gestützt werden.31 25
CAS 19. 11. 2015 – 2014/A/3561 & 3614, Rn. 157 – Azpeleta. CAS 19. 11. 2015 – 2014/A/3561 & 3614, Rn. 162 ff. – Azpeleta. 27 CAS 19. 11. 2015 – 2014/A/3561 & 3614, Rn. 175 – Azpeleta. 28 Vgl. EU-Komm. 8. 12. 2017 – C(2017) 8240 final, Rn. 152 f. – ISU’s Eligibility Rules unter Bezugnahme auf EuG Slg. 2005, II-209 Rn. 69 ff. = SpuRt 2005, 102 – Piau. 29 Ähnlich schon Heermann, CaS 2015, 384 (386 f.); enger hingegen Mestmäcker/ Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, 3. Aufl., München 2014, § 9 Rn. 39; Herrmann, in: MüKo-Europäisches Wettbewerbsrecht, 2. Aufl., München 2015, Einl. Rn. 969. 30 Commission Staff Working Document – The EU and Sport: Background and Context – Accompanying document to the White Paper on Sport, COM(2007) 391 final, abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/HTML/?uri=CELEX:52007SC0935&from= EN, Abschn. 3.4.b): „In this respect, the question will become relevant to what extent the sport in which the members (usually clubs/teams or athletes) are active can be considered an economic activity and to what extent the members exercise economic activity.“ 31 CAS 19. 11. 2015 – 2014/A/3561 & 3614, Rn. 177 ff. – Azpeleta. 26
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Besondere Aufmerksamkeit verdient die Argumentationstechnik zu einem letzten Punkt. Das Panel nahm zunächst auf die Eco-Swiss-Entscheidung des EuGH Bezug,32 wonach die Gerichte der Mitgliedstaaten der EU, zu denen die Schweiz bekanntermaßen nicht gehört, das Kartellrecht im Rahmen einer ordre-public-Kontrolle von Amts wegen zu beachten haben. Zudem führte das Gericht aus, dass der CAS das europäische Kartellrecht stets zu berücksichtigen habe und sich hieran auch das schweizerische Rechtssystem zunehmend orientiere. Zudem sei der Schweiz eine ordre-public-Kontrolle im Beschwerdeverfahren bekannt.33 Die unmittelbar nachfolgende Passage sei im Wortlaut wiedergegeben (Hervorhebung durch Verfasser):34 „190. Finally, the Swiss Federal Tribunal has, on numerous occasions, held that the CAS presents ,sufficient guarantees of independence and impartiality‘. In addition, the Swiss Federal Tribunal has, in a judgment concerning an action for annulment based, inter alia, on a supposed lack of independency and impartiality of the CAS from international sports associations in general and the IOC in particular, stated that it considers the CAS as constituting a real arbitration tribunal and that it is sufficiently independent from sports associations, including, the IOC, that even in cases where these are parties to the dispute, its awards have to be considered as judgments having the same value as judgments from an ordinary state court. Given that in the same judgment, the Swiss Federal Tribunal applied Article 190 para. 2 PILA [= IPRG], the Panel concludes that the Swiss Federal Tribunal does implicitly consider that neither the composition of the CAS nor the procedural rules followed by the CAS are the result of an abuse of a dominant position by the international sports associations. 191. In the light of the foregoing, the Panel considers that the arguments brought forward by the First Respondent with regards to the supposed abuse of a dominant position concerning the composition of the CAS and the arbitral procedure before the CAS lack any merit and have, thus, to be rejected.“
Die Argumentationsschritte sind also folgendermaßen aufgebaut: Das SchweizBG habe in der Rechtssache Pechstein35 im Berufungsverfahren, welches in Deutschland einem Aufhebungsverfahren entspricht, im Rahmen der ordre-public-Kontrolle implizit die Kartellrechtskonformität faktisch aufgezwungener Schiedsvereinbarungen zum CAS festgestellt, indem es insoweit eine kartellrechtliche Überprüfung unterlassen habe. Hier scheint der Wunsch der Vater des Gedankens gewesen zu sein. Zum einen sind Urteile des EuGH für das SchweizBG nicht verbindlich. Zum anderen gehört das Kartellrecht in der Schweiz nicht zum ordre public.36 Ein insoweit rechtskundiger Betrachter hätte also – im Gegensatz zum CAS im Verfahren Azpeleta – in den fehlenden Erwägungen des SchweizBG im Berufungsverfahren zu einer etwaigen Kartellrechtswidrigkeit der Schiedsvereinbarung geradezu eine Selbstver32
EuGH Slg. 1999 I-3055 Rn. 37 = EuZW 1999, 565 – Eco Swiss. CAS 19. 11. 2015 – 2014/A/3561 & 3614, Rn. 189 – Azpeleta. 34 CAS 19. 11. 2015 – 2014/A/3561 & 3614, Rn. 190 f. – Azpeleta. 35 SchweizBG CaS 2010, 185. 36 St. Rspr. seit SchweizBG, BGE 132 III 389 (395 ff.); Pfisterer, in: Honsell/Vogt/Schnyder/Berti (Hrsg.), Basler Kommentar-IPRG, 3. Aufl., Basel 2013, Art. 190 Rn. 86. 33
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ständlichkeit gesehen und wäre nicht auf die Idee gekommen, hieraus ebenso weitreichende wie rechtlich unhaltbare Rückschlüsse zu ziehen.37 Die bisherige Analyse zum Umgang des CAS mit den Regelungen des europäischen Kartellrechts ist – zurückhaltend formuliert – ernüchternd gewesen. Zum Abschluss muss jedoch hervorgehoben werden, dass der Schiedsspruch in dem Verfahren Galatasaray/UEFA aus dem Jahr 201638 belegt, dass sich in diesem Fall ein Panel am CAS durchaus bemüht hat, Art. 101, 102 AEUV unter Berücksichtigung der hierzu ergangenen Judikatur auf einen konkreten Fall anzuwenden. In dem Rechtsstreit ging es insbesondere um die – im Ergebnis letztlich bejahte – Vereinbarkeit der sog. break-even-Regel der UEFA Club Licencing and Financial Fair Play Regulations mit dem europäischen Kartellrecht sowie den europäischen Grundfreiheiten. Eingangs stellte das Panel klar, dass die genannten Regelungen in Verfahren vor dem CAS als zwingende Bestimmungen i. S. d. Art. 19 IPRG Anwendung finden.39 Die ausführliche Prüfung am Maßstab des Art. 101 Abs. 1 AEUV40 überzeugt allenfalls im Ergebnis, wenngleich die zahlreichen Gegner der genannten UEFA-Regelungen dies letztlich anders beurteilen werden. Zutreffend wurde die UEFA als Unternehmensvereinigung eingestuft.41 Das Vorliegen einer von der break-even-Regel ausgehenden Wettbewerbsbeschränkung lehnte das Panel ab, wobei die insoweit vom türkischen Fußballclub vorgelegten Beweise als unzureichend eingestuft wurden.42 Das überrascht, weil insoweit potentiell wettbewerbsbeschränkende Auswirkungen nachvollziehbar vorgetragen worden waren und auch im Schrifttum angenommen werden.43 Man hätte durchaus erwarten können, dass der CAS als letztinstanzliches Gericht sich bei dieser sehr umstrittenen Rechtsfrage nicht so schnell unter Berufung auf die Beweislast aus der Affäre zieht, zumal Art. 57 i. V. m. 44 CAS-Code Möglichkeiten zu einer intensiveren Nachforschung eröffnet hätten. Der gegen den Fußballclub gerichtete Vorwurf widersprüchlichen Verhaltens, weil er nicht schon in einem früheren, von der UEFA eingeleiteten und mit einem Vergleich beendeten Verfahren die Kartellrechtswidrigkeit geltend gemacht hatte,44 liegt völlig neben der Sache. Denn das Vorliegen eines Kartellrechtsverstoßes kann nicht von einem solchen Verhalten einer Partei abhängig gemacht werden. Der Umstand, dass das Panel sodann noch ergänzend („In addition …“) die Voraussetzungen des Meca-Medina-Tests
37 Opfermann, Schiedsvereinbarungen zum CAS – Eine Untersuchung aus der Perspektive des Kartellrechts, 2021 (im Erscheinen), Teil 4 C. I. 4. S. 203. 38 CAS 3. 10. 2016 – 2016/A/4492 – Galatasaray/UEFA. 39 CAS 3. 10. 2016 – 2016/A/4492, 1. Leitsatz und Rn. 41 – 45 – Galatasaray/UEFA. 40 CAS 3. 10. 2016 – 2016/A/4492, Rn. 55 – 80 – Galatasaray/UEFA. 41 CAS 3. 10. 2016 – 2016/A/4492, Rn. 60 – Galatasaray/UEFA. 42 CAS 3. 10. 2016 – 2016/A/4492, Rn. 64, 67, 72, 74 f. – Galatasaray/UEFA. 43 Heermann, CaS 2013, 263 (264 f.); Stopper, SpuRt 2013, 2 (6. f.); s. auch Weatherill (Fn. 1), S. 273 Fn. 109 m. w. N. zum Meinungsstand im englischsprachigen Schrifttum. 44 CAS 3. 10. 2016 – 2016/A/4492, Rn. 71 – Galatasaray/UEFA.
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prüfte,45 belegt eindrucksvoll, dass den Schiedsrichtern die Funktion dieses Tests als Reduktion des Tatbestandsmerkmals der Wettbewerbsbeschränkung oder als tatbestandsimmanenter Rechtfertigungsgrund unbekannt war. Die Unzulänglichkeiten der rechtlichen Prüfung von Art. 101 AEUV strahlten sodann auf die deutlich knappere Auseinandersetzung mit dem etwaigen Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung nach Art. 102 AEUV aus.46 Auch die Prüfung der behaupteten Beschränkung der Kapitelverkehrsfreiheit47 geriet sehr oberflächlich. IV. Keine Vorlageberechtigung des CAS an den EuGH Wenn es um die Anwendung und Auslegung der Vorschriften des AEUV geht, liegt der Gedanke nicht fern, den EuGH gem. Art. 267 AEUV über die Auslegung der Verträge im Wege der Vorabentscheidung entscheiden zu lassen. Unabhängig davon, ob diese Vorschrift im Nichtmitgliedstaat Schweiz überhaupt Anwendung finden kann, entspricht es jedoch ständiger Rechtsprechung, dass für echte Schiedsgerichte und damit auch für den CAS keine Vorlagebefugnis zum EuGH besteht.48 Für Schiedsgerichte mit Sitz in den Mitgliedstaaten – also nicht für den CAS – könnte analog Art. 15 VO 1/2003 in Betracht kommen, die EU-Kommission oder eine nationale Wettbewerbsbehörde als amicus curiae um Stellungnahmen zu Fragen zu bitten, die die Anwendung der Wettbewerbsregeln der Gemeinschaft betreffen.49 In jedem Fall verbleibt den Schiedsparteien bei Verfahren vor dem CAS mit Bezug zum europäischen oder auch nationalen Kartellecht aber noch eine andere Möglichkeit: Zunächst muss in derartigen Konstellationen regelmäßig die gegen einen internationalen Sportverband klagende Schiedspartei die Relevanz kartell45 CAS 3. 10. 2016 – 2016/A/4492, Rn. 77 – 79 – Galatasaray/UEFA; unzutreffend geht der CAS insoweit vom Wouters-Urteil des EuGH (EuGH Slg. 2002, I-1577 Rn. 97 = NJW 2002, 877 – Wouters) aus, das aber gar nicht Sportverbände betrifft. Vielmehr wurde der WoutersTest erst später vom Gerichtshof in EuGH Slg. 2006, I-6991 Rn. 42 =SpuRt 2006, 195 – Meca-Medina und Majcen auf den Sportsektor übertragen. 46 CAS 3. 10. 2016 – 2016/A/4492, Rn. 81 – 84 – Galatasaray/UEFA. 47 CAS 3. 10. 2016 – 2016/A/4492, Rn. 85 – 87 – Galatasaray/UEFA. 48 EuGH Slg. 1982, 1095 Rn. 8 ff. = NJW 1982, 1207 (1208) – Nordsee; EuGH Slg. 1999, I-3055 Rn. 34 = EuZW 1999, 565 – Eco Swiss; EuGH Slg. 2005, I-923 Rn. 13 = EuZW 2005, 319 – Denuit und Cordenier; ebenso Hail, Spitzensport im Licht des Europäischen Kartellrechts – Eine Untersuchung der Berücksichtigungsfähigkeit spitzensportlicher Besonderheiten in der kartellrechtlichen Prüfung, Baden-Baden 2014, S. 253 f. Zuletzt hat Rösch, Intraeuropäisches Investitionsrecht, Frankfurt am Main 2017, S. 151 ff. eine Vorlagebefugnis für Investitionsschiedsgerichte angenommen, weil es sich insoweit nicht um Schiedsgerichte handele, die auf privatrechtlichen Verträgen beruhen. Für Deutschland wird eine Vorlagebefugnis zum BGH diskutiert, welcher sodann Fragen zur Auslegung des Unionsrechts wiederum gem. Art. 267 AEUV dem EuGH vorlegen könnte; vgl. Wernicke, NJW 2017, 3038 (3042). 49 Dreher, in: Dreher/Kulka, Wettbewerbs- und Kartellrecht, 10. Aufl., Heidelberg 2018, Rn. 1835; vgl. auch Zuber, in: Loewenheim/Meessen/Riesenkampff/Kersting/Meyer-Lindemann, Kartellrecht, 4. Aufl., München 2020, Art. 15 VO 1/2003 Rn. 5 bei Fn. 13.
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rechtlicher Regelungen für ihr Verfahren erkannt haben, was erfahrungsgemäß insbesondere auch von den rechtlichen Spezialkenntnissen des Prozessvertreters abhängt (1. Hürde). Sodann muss zu diesen Rechtsfragen substantiierter Vortrag erfolgen, was eventuell die Einholung eines – regelmäßig nicht billigen – ökonometrischen Gutachtens erfordern kann (2. Hürde und 3. Hürde). Darüber hinaus können Schiedsparteien zu den sodann umstrittenen zentralen kartellrechtlichen Fragen auch noch privat von Experten anzufertigende Rechtsgutachten in Auftrag geben und dadurch ihren Rechtsvortrag untermauern (4. Hürde). Das alles kostet indes Zeit und natürlich auch Geld. Von dieser Möglichkeit wird jedoch in Verfahren vor dem CAS durchaus Gebrach gemacht. Damit ist der Hürdenlauf aber noch nicht beendet. Denn nunmehr sollte das Panel auch selbst noch über den erforderlichen kartellrechtlichen Sachverstand verfügen (5. Hürde), damit gewährleistet ist, dass – wie mitunter in der Vergangenheit – die kartellrechtliche Problematik nicht mit zweifelhaften, teils unvertretbaren Begründungen vom Tisch gewischt wird. Dabei sollte man sich vergegenwärtigen, dass für Schiedsgerichte gerade am Schiedsort Schweiz nur geringe – wenn überhaupt – Anreize bestehen, einen eigenen Beitrag zur Harmonisierung des Unionsrechts zu leisten.50
V. Würdigung Es gibt zahlreiche nachvollziehbare Gründe, gerade in der Schweiz mit dem CAS ein faktisch konkurrenzloses, sportartübergreifendes Weltsportschiedsgericht zu unterhalten und vorrangig dort Rechtsstreitigkeiten unter Beteiligung internationaler Sportverbände auszutragen.51 Dies ist insbesondere aus der Perspektive des Kartellrechts, dessen Bedeutung in sportrechtlichen Auseinandersetzungen in den letzten Jahren permanent zugenommen hat, brisant.52 Festzuhalten bleibt, dass – der CAS nationales, aber insbesondere auch europäisches Kartellrecht anzuwenden hat, – die Behandlung gerade kartellrechtlicher Fragen durch den CAS wiederholt nicht zu überzeugen vermochte, – eine Vorlagebefugnis des CAS zum EuGH nicht besteht, – der CAS bislang noch in keinem Verfahren einen Kartellrechtsverstoß angenommen hat und 50 Tyrolt, Sportschiedsgerichtsbarkeit und zwingendes staatliches Recht, Baden-Baden 2007, S. 13 nimmt aber immerhin eine mittelbare Bindung an die Vorgaben zwingenden EURechts an. 51 Siehe stellvertretend Adolphsen, in Adolphsen/Nolte/Lehner/Gerlinger, Sportrecht in der Praxis, Stuttgart 2011, Rn. 1030 ff.; Oschütz, Sportschiedsgerichtsbarkeit – Die Schiedsverfahren des Tribunal Arbitral du Sport vor dem Hintergrund des schweizerischen und deutschen Schiedsverfahrensrechts, Berlin 2005, S. 33 ff.; Schleiter, Globalisierung im Sport, Realisierungswege einer harmonisierten internationalen Sportrechtsordnung, Stuttgart 2009, S. 108 ff. 52 Siehe hierzu M.-E. Orth, ZWeR 2018, 382 ff.
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– eine effektive Kontrolle kartellrechtlicher Ausführungen in Berufungsverfahren vor dem SchweizBG nicht erfolgt, weil das Kartellrecht nicht zum schweizerischen ordre public zählt. Auf eine Nachkontrolle der CAS-Schiedssprüche im Vollstreckungsverfahren vor staatlichen Gerichten in Ländern außerhalb der Schweiz, wo der anwendbare nationale ordre public das Kartellrecht umfasst (wie z. B. in Deutschland), sollte man im Zweifel nicht setzen. Denn Schiedssprüche des CAS werden bevorzugt53 innerhalb der Verbandspyramide umgesetzt,54 so dass staatliche Gerichte zum Zwecke der Vollstreckung regelmäßig nicht angerufen werden. Wenn man nun auch noch berücksichtigt, dass Athleten und Vereine, die sich den Statuten eines (inter)nationalen Sportverbandes unterworfen haben, sich regelmäßig aufgrund faktischen Zwangs auf die Sportschiedsgerichtsbarkeit und damit auch den CAS einlassen, kann man im Hinblick auf Schiedsverfahren vor dem CAS – zumindest in erheblichem Umfang – von einer „faktischen Bereichsausnahme des (EU-)Kartellrechts für den Sport“ sprechen.55 Dies widerspricht freilich der Intention, die der EuGH mit der grundlegenden Entscheidung Meca-Medina und Majcen verfolgt und die darauf gerichtet ist, keine derartigen Ausnahmebereiche im Sportsektor zuzulassen.56 Allerdings gibt es in jüngerer Zeit Anzeichen dafür, dass am CAS in einzelnen Verfahren mit Bezügen zum europäischen Kartellrecht trotz der insoweit begrenzten Kontrollen durch staatliche Gerichte durchaus Prüfungen am Maßstab der Art. 101, 102 AEUV stattfinden.57 Die Schiedsrichtern am CAS üblicherweise zugesprochene überlegene Sach- und Fachkunde in sportrechtlichen Fragen hat man insbesondere in bisherigen sportkartellrechtlichen Verfahren indes vergeblich gesucht – eher im Gegenteil. Das ist eines Weltsportschiedsgerichts, das in kartellrechtlichen Fragen faktisch abschließend entscheidet, unwürdig.
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Siehe exemplarisch BGHZ 212, 70 = NJW 2017, 402 – SV Wilhelmshaven. Siehe stellvertretend Weatherill (Fn. 1), S. 19 f. 55 So Opfermann (Fn. 37), Teil 1 Einleitung S. 5, Teil 2 B. S. 13. 56 EuGH Slg. 2006, I-6991 Rn. 37 – 39 = SpuRt 2006, 195 – Meca-Medina und Majcen. 57 CAS 3. 10. 2016 – 2016/A/4492 – Galatasaray/UEFA.
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Sport in der Verfassung Von Sven Hölscheidt* Das Sportrecht bildet einen wesentlichen Teil im breiten wissenschaftlichen Werk von Klaus Vieweg. Weil ich mich viel mit Verfassungsrecht beschäftige, ist es naheliegend, Sport und Verfassung in einem Thema zu vereinen und dadurch an die gemeinsame Zeit von Klaus Vieweg und mir in Münster anzuknüpfen. I. Sport in 15 deutschen Landesverfassungen Sucht man Sport in deutschen Verfassungen, wird man fast überall fündig, außer im Grundgesetz und in der Hamburger Landesverfassung.1 Vorreiter bei der Aufnahme von Staatszielbestimmungen in das Verfassungsrecht waren Anfang der 1990er Jahre die damals sog. neuen Länder. Dabei mag eine Rolle gespielt haben, dass es in Art. 39 Satz 2 des Einigungsvertrags aus dem Jahr 19902 heißt: „Die öffentlichen Hände fördern den Sport ideell und materiell nach der Zuständigkeitsverteilung des Grundgesetzes.“3 Der Sport hatte seine verfassungsrechtliche Hochzeit von 1992 bis 2000. Als erstes Bundesland überhaupt hat Sachsen den Sport als Staatsziel in seiner Verfassung verankert (Art. 11 Abs. 1 SächsVerf).4 Von den alten Bundesländern hat zuerst Nordrhein-Westfalen5 1992 das Sportziel erreicht (Art. 18 Abs. 3 NWVerf)6 ; letztes Bundesland war Hessen7 im Jahr 2002 (Art. 62a HessVerf).8 * Der Beitrag gibt die persönliche Auffassung des Verfassers wieder. Nolte, in: Adolphsen/Nolte/Lehner/Gerlinger (Hrsg.), Sportrecht in der Praxis, Stuttgart 2012, Rn. 57 ff.; Humberg, Die Förderung des Hochleistungssports durch den Bund, Hamburg 2006, S. 80 ff. 2 BGBl. II 1990 S. 885, 889. 3 Siehe auch die Regelung für den Übergang von Einrichtungen des Sports in Art. 13 Abs. 3 Nr. 1 EV. 4 Verfassung des Freistaats Sachsen vom 27. 5. 1992 (SächsGVBl. S. 243). 5 Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen vom 28. 6. 1950 (GV. NW S. 127). 6 GV NW 1992 S. 448. Ausführlich Stern, Verfassungsrechtliche und verfassungspolitische Grundfragen zur Aufnahme des Sports in die Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen, in: Becker u. a. (Hrsg.), Festschrift für Werner Thieme zum 70. Geburtstag, Köln u. a. 1993, S. 269 ff.; Zimmermann, Förderung des Sports als Vorgabe des Landesverfassungsrechts zu Art. 18 Abs. 3 Verf.NW, Bochum 2000. 7 Verfassung des Landes Hessen vom 1. 12. 1946 (GVBl. S. 229 berichtigt GVBl. 1947 S. 106 u. GVBl. 1948 S. 68). 8 GVBl. I S. 626. 1
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Sven Hölscheidt
1. Analyse der „Sportartikel“ Die meisten Landesverfassungen formulieren wortreicher, aber inhaltlich sehr ähnlich wie Bremen in Art. 36a9 seiner Verfassung:10 „Der Staat pflegt und fördert den Sport“. Das gilt für die Verfassungen von Baden-Württemberg11 (Art. 3c Abs. 1)12, Bayern13 (Art. 140 Abs. 3),14 Hessen (Art. 62a), Mecklenburg-Vorpommern (Art. 16),15 Niedersachsen16 (Art. 6),17 Nordrhein-Westfalen (Art. 18 Abs. 3), Rheinland-Pfalz18 (Art. 40 Abs. 4),19 des Saarlands20 (Art. 34a),21 von Schleswig-Holstein (Art. 9 Abs. 3)22 und Thüringen (Art. 30 Abs. 3).23 Andere Landesverfassungen weisen zum Teil originelle Besonderheiten auf. Gemäß der Berliner Verfassung24 (Art. 32) ist Sport „ein förderungs- und schützenswerter Teil des Lebens“ (Satz 1). Das ist sicher eine richtige Feststellung, die aber nicht in einen Verfassungstext gehört. Aussagekraft gewinnt die Norm nur, wenn man eine Förder- und Schutzverpflichtung des Staates für den Sport hineininterpretiert. Diesen Umweg hätte der Verfassunggeber vermeiden sollen, indem er die Verpflichtung unmittelbar normiert, so wie es in anderen Verfassungen geschehen ist. Im zweiten Satz des Artikels wird ausgesprochen, dass die Teilnahme am Sport „den Angehörigen aller Bevölkerungsgruppen zu ermöglichen“ ist. Es fällt auf, dass der in Verfassungstexten ungebräuchliche Begriff „Bevölkerungsgruppen“ verwendet wird, obwohl doch offenbar das „gesamte Volk“ (s. Art. 11 Abs. 2 Satz 1 SächsVerf) bzw. „jedermann“ gemeint ist. Wenn man diesen Satz als spezielles Gleichbehandlungsgebot versteht, hat er gegenüber dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 10
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Brem. GBl. 1997 S. 353 berichtigt 1998 S. 93. Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen vom 21. 10. 1947 (Brem. GBl. S. 251). 11 Verfassung des Landes Baden-Württemberg vom 11. 11. 1953 (GBl. S. 173). 12 GBl. 2000 S. 449. 13 Verfassung des Freistaates Bayern in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. 12. 1998 (GBl. S. 991). 14 GVBl. 1998 S. 38. 15 Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern vom 23. 5. 1993 (GVOBl. M-V 1993 S. 372). 16 Niedersächsische Verfassung vom 19. 5. 1993 (Nds. GVBl. S. 107). 17 Nds GVBl. 1997 S. 480. 18 Verfassung für Rheinland-Pfalz vom 18. 5. 1947 (VOBl. S. 209). 19 GVBl. 2000, S. 65. 20 Verfassung des Saarlandes vom 15. 12. 1947 (Amtsbl. S. 1077). 21 ABl. 1999 S. 1318. 22 Verfassung des Landes Schleswig-Holstein in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. 5. 2008 (GVOBl. S. 223). 23 Verfassung des Freistaats Thüringen vom 25. 10. 1993 (GVBl. S. 625). 24 Verfassung von Berlin vom 23. 11. 1995 (GVBl. S. 779). 10
Sport in der Verfassung
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Abs. 1 BerlVerf) keine eigenständige Bedeutung. Ein subjektives Recht (etwa eine bestimmte Sportstätte zu betreten) enthält Art. 32 Satz 2 BerlVerf jedenfalls nicht.25 Die Verfassung Brandenburgs26 enthält den längsten, aber sicher nicht den besten „Sportartikel“ aller Landesverfassungen. Sie bezeichnet Sport zunächst als „förderungswürdigen Teil des Lebens“ (Art. 35 Satz 1 BrandbgVerf). Im Anschluss daran heißt es weiter, dass die Sportförderung des Landes auf ein ausgewogenes und bedarfsgerechtes Verhältnis von Breitensport und Spitzensport gerichtet ist (Art. 35 Satz 2 BrandbgVerf) und die besonderen Bedürfnisse von Schülern, Studenten, Senioren und Menschen mit Behinderung berücksichtigen soll (Art. 35 Satz 3 BrandbgVerf). Der Norm ist immerhin zu entnehmen, dass es in Brandenburg eine Sportförderung gibt. Darüber hinaus unternehmen Art. 35 Satz 2 und 3 BrandbgVerf den Versuch, die Sportförderpolitik des Landes zu determinieren. Das ist verfassungsrechtlich zwar zulässig, verfassungspolitisch aber abzulehnen. Es sollte Aufgabe des einfachen Gesetzgebers sein, das Verhältnis von Breiten- und Spitzensport auszutarieren oder sich beispielsweise gegen ein ausgewogenes Verhältnis und für eine einseitige Förderung des Breitensportes zu entscheiden bzw. umgekehrt. Die Sollvorschrift des Art. 35 Satz 3 BrandbgVerf zeigt die Tücken solch wortreicher Regelungen. Es stellt sich zum Beispiel die Frage, warum die Berufstätigen mit ihrem eingeschränkten Zeitkontingent für die Teilnahme am Sport nicht erwähnt sind.27 Sachsen fördert gemäß Art. 11 Abs. 1 seiner Verfassung nicht nur das kulturelle, künstlerische und wissenschaftliche Schaffen und die sportliche Betätigung, sondern ausdrücklich auch „den Austausch auf diesen Gebieten.“ Ein Mehrwert gegenüber der schlichten Formulierung: „Das Land fördert den Sport“ ist nicht erkennbar. Im Dunkeln bleibt, was damit gemeint sein soll, dass das Land den Austausch auf den Gebieten des kulturellen, künstlerischen und wissenschaftlichen Schaffens sowie der sportlichen Betätigung fördert. Gesprächskreise etwa von Theaterregisseuren und Weitspringern dürften wohl nicht gemeint sein. Die Teilnahme an der Kultur und am Sport ist dem gesamten Volk zu ermöglichen (Art. 11 Abs. 2 Satz 1 SächsVerf). Zu diesem Zweck werden u. a. Sportstätten unterhalten (Art. 11 Abs. 2 Satz 2 SächsVerf). Normiert ist damit eine objektive Pflicht des Staates, kein subjektiv-öffentliches Recht.28 Die Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt29 formuliert in Art. 36 Abs. 1 recht klar: „Kunst, Kultur und Sport sind durch das Land und die Kommunen zu schützen und zu fördern.“ Leider belässt sie es nicht dabei. Denn gemäß Art. 36 Abs. 3 SachsAnhVerf fördern das Land und die Kommunen „im Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten die kulturelle Betätigung aller Bürger insbesondere dadurch, dass sie öffentlich zugängliche Museen, Büchereien, Gedenkstätten, Theater, Sportstätten und 25
Nolte (Fn. 1), Rn. 61. Verfassung des Landes Brandenburg vom 20. 8. 1992 (GVBl. I S. 298). 27 Nolte (Fn. 1), Rn. 62. 28 Nolte (Fn. 1), Rn. 69. 29 Vom 16. 7. 1992 (GVBl. LSA S. 600). 26
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weitere Einrichtungen unterhalten.“ Dieser Absatz ist in bemerkenswerter Weise misslungen. Sinnvoll mag es noch sein, die Förderverpflichtung durch den (allerdings deklaratorischen) Hinweis auf die finanziellen Möglichkeiten einzugrenzen. Wie aber die kulturelle (übrigens nicht die künstlerische) Betätigung aller Bürger dadurch gefördert werden kann, dass Sportstätten unterhalten werden, ist unerfindlich. Die sportliche Betätigung wird ja auch nicht dadurch gefördert, dass das Land Theater unterhält. 2. Rechtliche Qualifizierung der „Sportartikel“ a) Staatszielbestimmungen Alle Artikel sind Staatszielbestimmungen, also weder unverbindliche Programmsätze noch subjektiv-öffentliche Rechte.30 Die normative Wirkung solcher Bestimmungen ergibt sich ausdrücklich aus den Landesverfassungen von Sachsen (Art. 13), Sachsen-Anhalt (Art. 3 Abs. 3) und Thüringen (Art. 43). Fast wortgleich legen sie fest, dass das Land verpflichtet ist, nach seinen Kräften die Staatsziele anzustreben und sein Handeln danach auszurichten. Staatszielbestimmungen sind für die gesamte Staatsgewalt verbindlich.31 Dadurch unterscheiden sie sich von Gesetzgebungsaufträgen, die ausschließlich an die gesetzgebende Gewalt adressiert sind.32 Allerdings sind auch Staatszielbestimmungen in der Regel darauf angelegt, durch den Gesetzgeber konkretisiert zu werden.33 Gegenüber der vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalt entfalten Staatszielbestimmungen vor allem als Ermessens- und Interpretationskriterien normative Wirkung.34 Sie verschieben Macht von den Parlamenten zu den Gerichten.35 Der Verfassungsgesetzgeber sollte dem einfachen Gesetzgeber einen weiten Einschätzungsspielraum belassen. Dem widersprechen kleinteilige Vorgaben in Verfassungen, die das Verhältnis vom Breiten- und Spitzensport (Art. 35 Satz 2 BrandbgVerf) oder die Erwachsenenbildung, das Büchereiwesen und die Volkshochschulen (Art. 9 Abs. 3 SchlHVerf) in Bezug nehmen. b) Sport ist das Ziel Das Ziel der Bestimmungen, nämlich der Sport, ist nicht legal definiert. Damit befindet er sich in der guten Gesellschaft der Kultur, mit der er häufig zusammen nor30
Ausführlich Beaucamp, NordÖR 2009, 492 ff. Ausführlich Steiner, in: Burmeister (Hrsg.), Festschrift für Klaus Stern zum 65. Geburtstag, München 1997, S. 509, 517 ff. 32 Sommermann, in: Heun/Honecker/Morlok/Wieland (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, Stuttgart 2006, Sp. 2353 ff. 33 Näher Nolte (Fn. 1), Rn. 74. 34 Näher Nolte (Fn. 1), Rn. 75 f. 35 Beaucamp, NordÖR 2009, 492 (495). 31
Sport in der Verfassung
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miert ist. Jeder hat zwar eine Vorstellung davon, was unter Sport zu verstehen ist (viele denken dabei wahrscheinlich beispielhaft an den vom Staat gehätschelten Profifußball).36 Eine Orientierungshilfe leistet die Umschreibung von Peter Häberle. Danach ist Sport im Alltagsverständnis eine „körperliche Betätigung mit dem Ziel der Förderung von Gelenkigkeit, Geschicklichkeit, Konstitution und Ausdauer sowie der Förderung von Kommunikation, Fairplay und Teamgeist als Gruppensport.“37 Der Bundesfinanzhof versteht unter Sport im Sinne der Abgabenordnung „eine körperliche, über das ansonsten übliche Maß hinausgehende Aktivität, die durch äußerlich zu beobachtende Anstrengungen oder durch die einem persönlichen Können zurechenbare Kunstbewegung gekennzeichnet ist.“38 c) Staat als Adressat Die meisten Landesverfassungen nehmen für ihre Staatszielbestimmung „Sport“ außer dem Staat bzw. dem Land auch die Gemeinden, Gemeindeverbände, Kreise, Kommunen oder Gebietskörperschaften in die Pflicht.39 Bremen (Art. 36a BremVerf) und Sachsen (Art. 11 Abs. 1 SächsVerf) adressieren die Staatszielbestimmung ausdrücklich an den Staat bzw. das Land. Unterschieden wird in Schleswig-Holstein: Gemäß Art. 9 Abs. 1 SchlHVerf schützt und fördert das Land Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre; gemäß Absatz 3 der Vorschrift ist die Förderung der Kultur einschließlich des Sports Aufgabe des Landes, der Gemeinden und Gemeindeverbände. Etwas eigenartig wird hier der Sport von der Kultur vereinnahmt und auf eine Stufe mit der Erwachsenenbildung, dem Büchereiwesen und den Volkshochschulen gestellt. Die unterschiedliche Adressierung dürfte in der Praxis keine große Rolle spielen. Denn die Kommunen sind Teile der Länder40 und folglich mitumfasst, wenn eine Landesverfassung das Land anspricht. Wegen der Bedeutung der kommunalen Sportförderung hat Baden-Württemberg die Kommunen in Art. 3c Abs. 1 seiner Verfassung aufgenommen.41 Jedenfalls sind in den Ländern, in denen die Verfassung die
36 Ausführlich Bauer, Kultur und Sport im Bundesverfassungsrecht, Frankfurt a. M. 1999, S. 243 ff.; E-Sport ist jedenfalls keine anerkannte Sportart, BT-Drs. 19/19402, S. 4. 37 Häberle, in: Bernd Becker u. a. (Hrsg.), Festschrift für Werner Thieme zum 70. Geburtstag, Köln u. a. 1993, S. 25, 27; Zimmermann (Fn. 6), S. 164; Bauer (Fn. 36), S. 252. 38 BFHE 184, 226, BStBl. II 1998, 9 Rn. 9 f. Siehe im Übrigen den Beitrag von Jutta Förster in dieser Festschrift. 39 Art. 3c BadWürttVerf; Art. 140 BayVerf; Art. 35 Satz 2 BrandbgVerf; Art. 62a HessVerf; Art. 16 Abs. 1 MecklVoVerf; Art. 6 NdsVerf; Art. 18 Abs. 1, 3 NWVerf; Art. 40 Abs. 1, Abs. 4 RhPfVerf; Art. 34a SaarlVerf; Art. 36 Abs. 1, Abs. 4 SachsAnhVerf; Art. 30 Abs. 1, Abs. 3 ThürVerf. 40 BVerfGE 39, S. 96, 109; 86, S. 148, 215. 41 Strohs, in: Haug (Hrsg.), Verfassung des Landes Baden-Württemberg, Baden-Baden 2018, Art. 3c Rn. 3 f.
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Sportförderung ausdrücklich nur dem Land zuweist, die Kommunen von dieser Aufgabe nicht ausgeschlossen. d) Pflege, Schutz, Förderung Die Verfassungsbestimmungen sagen zum Teil, der Sport werde gepflegt, wie in Bremen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz; zum Teil, er werde geschützt, wie in Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen und Thüringen. Gemäß der hessischen Verfassung genießt der Sport sowohl den Schutz als auch die Pflege des Staates. Dass der Sport gefördert wird, ist in den Verfassungen von Baden-Württemberg, Bayern, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, des Saarlands, von Schleswig-Holstein und Thüringen vorgesehen. Die hessische Verfassung normiert keine Förderpflicht. Der Staat pflegt, schützt bzw. fördert den Sport. Wie – das kann er weitgehend selbst bestimmen. Allerdings darf er nicht gänzlich untätig bleiben und darf das Ziel nicht völlig verfehlen. „Pflegen“ bedeutet so viel wie „betreuen“ oder „instand halten“. Der Begriff meint somit im Wesentlichen, dass der Status quo zu erhalten ist.42 Ist der Staat hingegen zum Schutz verpflichtet, muss er Maßnahmen ergreifen, um Beeinträchtigungen des Sports abzuwehren. Aufgrund seiner Schutzverpflichtung muss der Staat aktiv werden, allerdings reaktiv. Schutz hat eine Abwehrdimension. Muss der Staat den Sport fördern, ist er verpflichtet, aktiv Maßnahmen zugunsten des Sports in personeller, finanzieller und sachlicher Hinsicht zu ergreifen, ohne dass diesem eine Beeinträchtigung droht. Die Förderpflicht hat eine Leistungsdimension.43 In der Theorie macht es also einen nicht unerheblichen Unterschied, ob der Staat den Sport nur pflegt, darüber hinaus schützt oder sogar fördert.44 Inwieweit sich das in der Praxis auswirkt, ist eine interessante Frage. II. Sport in neun Verfassungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union Die Verfassungen von neun Mitgliedstaaten der EU enthalten Regelungen, die nach deutschem Verständnis als Staatszielbestimmungen zu qualifizieren sind. Eine ausschließlich textbasierte Übersicht ergibt folgendes Bild: Bulgarien schützt gemäß Art. 52 Abs. 3 seiner Verfassung die Gesundheit der Bürger und fördert die Entwicklung des Sports. Im selben Satz wird weiter noch die Entwicklung des Tourismus genannt. Das ist reichlich unpassend, weil sich Art. 52 der Verfassung insge42 Ähnlich Magiera, in: Grimm/Caesar (Hrsg.), Verfassung für Rheinland-Pfalz, BadenBaden 2001, Art. 40 Rn. 8: „Pflege“ meint „Bewahrung“, „Förderung“ meint „Weiterentwicklung“. 43 Ähnlich Strohs (Fn. 41), BadWürttVerf Art. 3c Rn. 15. 44 A. A. Reich, Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt, 2. Auflage, Bad Honnef 2004, Art. 36 Rn. 1, der „Pflege“ als Zusammenfassung von „Schutz“ und „Förderung“ versteht.
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samt auf Gesundheit bezieht. Laut griechischer Verfassung (Art. 16 Abs. 9) steht der Sport nicht nur unter dem Schutz, sondern auch unter der obersten Aufsicht des Staates. Alle Verbände von Sportvereinen werden vom Staat nach Maßgabe der Gesetze subventioniert (was sie sicherlich erfreuen dürfte), aber auch kontrolliert (was sie möglicherweise nicht so gern sehen). Portugal gewährt ein Jedermannrecht auf Sport und ist verpflichtet, den Sport zu fördern und die Gewalt im Sport zu verhindern (Art. 79 portugiesische Verfassung). Die Republik Kroatien fördert und unterstützt die Pflege des Sports gemäß Art. 69 ihrer Verfassung. Ähnlich macht es Litauen, das den Sport gemäß Art. 53 seiner Verfassung unterstützt. Auch in Spanien wird der Sport schlicht von der öffentlichen Gewalt gefördert (Art. 43 Abs. 3 der spanischen Verfassung). Die öffentliche Gewalt Polens unterstützt die Entwicklung der sportlichen Betätigung, insbesondere die von Kindern und Jugendlichen (Art. 68 Abs. 5 der polnischen Verfassung). Die rumänische Verfassung (Art. 45 Abs. 5) konzentriert sich ausschließlich auf die Jugendlichen, indem sie den öffentlichen Behörden die Pflicht auferlegt, zur Sicherstellung der Bedingungen für die freie Teilnahme von Jugendlichen am sportlichen Leben des Landes beizutragen. In Ungarn hat jede Person das Recht auf körperliche und seelische Gesundheit. Der Staat fördert die Durchsetzung dieses Rechts u. a. durch die Förderung von Sporttreibenden (Art. XX der ungarischen Verfassung). Sport spielt also in den Verfassungen der Mitgliedstaaten der EU keine große Rolle. Lediglich ein Drittel von ihnen widmet dem Sport eine Staatszielbestimmung, meist in Gestalt einer Schutz- oder Förderpflicht. III. Kein Sport im Grundgesetz Das Grundgesetz nennt den Begriff „Sport“ nicht. 1. Gesetzgebungskompetenz Allerdings stellt das Grundgesetz dem Bund zahlreiche Gesetzgebungskompetenzen für sportrechtliche Regelungen zur Verfügung.45 Die meisten sind der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz zu entnehmen. Dabei dürfte Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG die größte Rolle spielen. Er umfasst u. a. das bürgerliche Recht und das Strafrecht. Der Bund macht von den Kompetenzen eifrig Gebrauch (Art. 72 GG), sodass es eine Fülle sportrechtlicher Regelungen des Bundes gibt. Soweit das Grundgesetz dem Bund keine Gesetzgebungskompetenz für den Sport zuweist, haben die Länder dafür das Recht der Gesetzgebung (Art. 70 Abs. 1 GG). Das Grundgesetz regelt also die Gesetzgebungskompetenz für den Sport umfassend. Erstaunlich ist, dass es im Bundestag einen Sportausschuss nach wie vor gibt. In der 19. Wahlperiode hat er immerhin 18 Mitglieder. Zum ersten Mal wurde ein 45 Ausführlich 14. Sportbericht der Bundesregierung, BT-Drs. 19/9150 vom 4. 4. 2019, S. 18 f.; Nolte (Fn. 1), Rn. 79.
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Sportausschuss 1971 eingerichtet. In der 6. Wahlperiode gab es den „Sonderausschuss für Sport und Olympische Spiele“ gemäß § 54 Abs. 1 Satz 2 GO-BT. Seitdem gehört ein Sportausschuss in jeder Wahlperiode zu den ständigen Ausschüssen (§ 54 Abs. 1 Satz 1 GO-BT).46 Auf der Seite der Exekutive steht ihm traditionell das Innenministerium (BMI) gegenüber, zu dessen Geschäftsbereich der Sport auf Bundesebene gehört.47 Aus seinem Sportförderhaushalt stammt der weitaus größte Anteil der Bundesmittel für den Sport. Sie betrugen für den Zeitraum von 2014 bis 2017 knapp 1,2 Mrd. Euro, allein für 2020 sind 0,6 Mrd. Euro ausgewiesen.48 Die meisten sportrechtlichen Regelungen des Bundes sind im BMI angesiedelt. Auf der Seite der Legislative hat daher regelmäßig der Innenausschuss die Federführung in sportrechtlichen Gesetzgebungsverfahren. Dem Sportausschuss bleibt nur die Mitberatung (§§ 63, 66 GO-BT). Deshalb wäre es wohl eigentlich sinnvoll, den Sportausschuss als Unterausschuss des Innenausschusses einzusetzen (§ 55 GO-BT). 2. Grundrechtsschutz So wie es keine ausdrückliche Gesetzgebungskompetenz für den Sport im Grundgesetz gibt, gibt es auch kein ausdrückliches Grundrecht, Sport zu treiben. Dies gehört aber zur allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG). Berufssportler und inländische juristische Personen und Personenvereinigungen des Privatrechts (Art. 19 Abs. 3 GG), die sich dem Sport widmen, werden zudem durch die Berufsfreiheit des Art. 12 Abs. 1 GG geschützt. Auf die Vereinigungsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 GG) können sich sowohl Sportvereinsmitglieder als auch Sportvereine selbst berufen.49 Auch insoweit hat das Grundgesetz also Vorsorge getroffen. 3. Verwaltungskompetenz und Ausgabenverantwortung Sowohl die Verwaltungskompetenz (Art. 83 ff. GG) als auch die Ausgabenverantwortung für den Sport liegen nach der Grundregel des Art. 30 GG bei den Ländern.50 Die Körperschaft, die die Verwaltungskompetenz innehat, trägt gemäß Art. 104a Abs. 1 GG auch die Ausgaben. Diese Ausgabenverantwortung betrifft sowohl die Frage, ob eine Aufgabe vom Bund oder den Ländern finanziert werden muss (Finanzierungslast), als auch die Frage, ob sie finanziert werden darf (Finanzierungsbefugnis). Die wohl wichtigste Kompetenz des Bundes für den Sport folgt aus Art. 32 Abs. 1 GG.51 Demgemäß ist die Pflege der Beziehungen zu auswärtigen Staaten 46 Schindler, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949 bis 1999, Band II, Baden-Baden 1999, S. 2059. 47 14. Sportbericht (Fn. 45), S. 20. 48 14. Sportbericht (Fn. 45), S. 22; BT-Drs. 19/19452, S. 7. 49 Ausführlich Bauer (Fn. 36), S. 262 ff.; Singbartl/Dziwis, JA 2014, 407 (408). 50 Ausführlich Nolte (Fn. 1), Rn. 80. 51 Ausführlich Nolte (Fn. 1), Rn. 81; Bauer (Fn. 36), S. 332 f.
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Sache des Bundes. Dazu zählt z. B. auch, Sportbeziehungen zu anderen Staaten und internationalen Organisationen aufzunehmen und zu unterhalten. 4. Vorschlag zur Aufnahme Sport sollte nach dem Willen der SPD-Bundestagsfraktion in der 17. Wahlperiode in das Grundgesetz als Staatsziel aufgenommen werden. Der „Entwurf eines Gesetzes zur Aufnahme von Kultur und Sport in das Grundgesetz“52 sah vor, Art. 20a GG um den Satz zu ergänzen: „Er [der Staat] schützt und fördert ebenso die Kultur und den Sport.“53 Systematische Stellung und Formulierung sind gelungen. Die sehr knappe halbseitige Begründung für den Sportartikel ist allerdings wenig überzeugend. U. a. heißt es dort, die Bedeutung des Sports werde in 15 Landesverfassungen, in Art. 165 AEUVund in anderen europäischen Verfassungen gewürdigt. Das Grundgesetz kenne „keine vergleichbare Wertschätzung.“54 Es ist zwar richtig, dass sich andere Verfassungen (wie in diesem Beitrag gezeigt wird) mit dem Sport beschäftigen. Es ist aber nicht Aufgabe des Grundgesetzes als rechtlicher Grundordnung Deutschlands, „Wertschätzung“ für einen bestimmten Lebensbereich zum Ausdruck zu bringen. So knapp wie die Begründung war auch die Behandlung des Gesetzentwurfs im Bundestag: Ohne Beratung ist er der Diskontinuität anheimgefallen. IV. Sport im europäischen Primärrecht 1. Unterstützungskompetenz der Union in Art. 165 AEUV Durch den Vertrag von Lissabon ist Sport in das europäische Primärrecht aufgenommen worden. Art. 165 AEUV widmet sich zwar wortreich aber wenig präzise auch der Sportförderung.55 Gemäß Art. 165 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV trägt die Union „zur Förderung der europäischen Dimension des Sports bei und berücksichtigt dabei dessen besondere Merkmale, dessen auf freiwilligem Engagement basierende Strukturen sowie dessen soziale und pädagogische Funktion.“ Als Ziel der Tätigkeit der Union wird sodann in Art. 165 Abs. 2 AEUV die „Entwicklung der europäischen Dimension des Sports durch Förderung der Fairness und der Offenheit von Sportwettkämpfen und der Zusammenarbeit zwischen den für den Sport verantwortlichen Organisationen sowie durch den Schutz der körperlichen und seelischen Unversehrtheit der Sportler, insbesondere der jüngeren Sportler“ genannt Als Beitrag zur Verwirklichung dieses Ziels „erlassen das Europäische Parlament und der Rat gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren […] Fördermaßnahmen unter Aus52
BT-Drs. 17/10644 vom 11. 9. 2012. BT-Drs. 17/10644 vom 11. 9. 2012, S. 2. 54 BT-Drs. 17/10644 vom 11. 9. 2012, S. 3. 55 Ausführlich z. B. 14. Sportbericht (Fn. 45), S. 25 f.; Blanke, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), EUV/AEUV, EL 70, München Mai 2020, Art. 165 AEUV Rn. 123; Ruffert, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 5. Auflage, München 2016, Art. 165 AEUV, Rn. 16 ff. 53
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schluss jeglicher Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten;“ der Rat erlässt auf Vorschlag der Kommission Empfehlungen (Art. 165 Abs. 4 AEUV). Systematisch unpassend ist zwischen die zusammengehörenden Absätze 2 und 4 des Art. 165 AEUV ein dritter Absatz platziert. Er nimmt auch die Mitgliedstaaten in die Pflicht. Sie und die Union fördern die Zusammenarbeit mit dritten Ländern und den für den Sport zuständigen internationalen Organisationen, insbesondere dem Europarat. Der Vertragsgeber verwendet (auch abgesehen von der Unsystematik) eine originelle Regelungstechnik: Zu fördern bzw. entwickeln durch die Union ist die sehr weit gefasste „europäische Dimension des Sports“; im weiteren Verlauf der Norm wird das jedoch sehr detailverliebt konkretisiert und mit einem Harmonisierungsverbot belegt. Damit sind Zuständigkeitskonflikte zwischen der Union und den Mitgliedstaaten programmiert. Wenn die Union vertragsgemäß dazu beiträgt, die europäische Dimension des Sports zu fördern, wird das zwangsläufig einen Harmonisierungsdruck auf die Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten ausüben. Ausgeschlossen sind lediglich direkte Vorgaben für die Harmonisierung. Am Ende von Art. 165 Abs. 2 AEUV wird sogar noch der Schutz der „jüngeren Sportler“ genannt. Glücklicherweise geschieht das nur beispielhaft („insbesondere“). Das ist aus der Sicht von Klaus Vieweg und mir zu begrüßen, weil wir als über 65-Jährige56 zu den älteren Sportlern gehören. 2. Ältere sportliche Menschen als Subjekte in Art. 25 GRC Das Recht älterer Menschen auf Teilnahme am sportlichen Leben wird auf Unionsebene zumindest nicht ausdrücklich geschützt. Die Union anerkennt allerdings in Art. 25 GRC „das Recht älterer Menschen auf ein würdiges und unabhängiges Leben und auf Teilnahme am sozialen und kulturellen Leben.“ Der Vertragsgeber hätte die zu wortreiche Formulierung der Norm besser darauf konzentriert, dass das Recht älterer Menschen auf ein würdiges Leben von der Union zu achten ist.57 Im Ergebnis wird jedenfalls auch die Teilnahme älterer Menschen am sportlichen Leben von Art. 25 GRC umfasst. Allerdings beinhaltet Art. 25 GRC keinen grundrechtlichen Individualanspruch.58 Es handelt sich lediglich um einen Grundsatz im Sinn von Art. 52 Abs. 5 GRC.59 Er stellt eine objektiv-rechtliche Verpflichtung dar,60 die von der Union und den Mitgliedstaaten gemäß Art. 52 Abs. 5 GRC umgesetzt werden kann. Dabei bezieht sich „kann“ auf die zahlreichen Umsetzungsmöglichkeiten; die Umsetzungsbedürftigkeit steht außer Frage. Der Gewährleistungsgehalt der Grundsatznorm muss umgesetzt, d. h. konkretisiert werden.61 56 Zu dieser Altersgrenze Hölscheidt, in: Meyer/Hölscheidt (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 5. Auflage, Baden-Baden 2019, Art. 25 Rn. 15. 57 Hölscheidt (Fn. 56), Art. 25 Rn. 16. 58 Hölscheidt (Fn. 56), Art. 25 Rn. 13. 59 Schwerdtfeger, in: Meyer/Hölscheidt (Fn. 56), Art. 52 Rn. 71 ff., 83. 60 Schwerdtfeger (Fn. 59), Art. 52 Rn. 73. 61 Schwerdtfeger (Fn. 59), Art. 52 Rn. 75.
Sport in der Verfassung
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V. Fazit Wer den Sport in der Verfassung haben will, kann ganz zufrieden sein. Sportartikel gibt es in 15 von 16 Landesverfassungen: Das ist sicher ein guter Wert. Die Formulierungen sind von unterschiedlicher Qualität. Am besten hieße es schlicht: „Das Land schützt und fördert den Sport.“ In das Grundgesetz sollte eine solche Bestimmung nicht aufgenommen werden.62 Generell sollte der Verfassunggeber dem Gesetzgeber, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung nur sehr zurückhaltend Vorgaben durch Staatszielbestimmungen machen. Jede Staatszielbestimmung engt deren Spielraum ein – das ist ja ihr Sinn.63 Besonders für den Gesetzgeber kann die langfristige Festlegung von Zielen in der Verfassung möglicherweise einen sog. Politikwechsel erschweren, vor allem, wenn das Ziel detailliert ausgestaltet ist. Zudem weckt jedes in der Verfassung verankerte Staatsziel neue Begehrlichkeiten: So gesellte sich zu dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen in Art. 20a GG64 der Tierschutz65; später sollte nicht nur Sport sondern auch Kultur folgen.66 Diskutiert wurde auch, die Generationengerechtigkeit67, den Klimaschutz68 und die deutsche Sprache69 im Grundgesetz zu verankern. Konkret ist zu sagen: Sport ist in erster Linie Ländersache und deshalb in den Landesverfassungen gut aufgehoben, sofern man überhaupt zusätzlichen Staatszielbestimmungen positiv gegenübersteht. Ich tue das nicht. Und was sagt Klaus Vieweg dazu?
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Beaucamp, NordÖR 2009, 492 (496). Steiner, SpuRt 2012, 238 (239). 64 BGBl. I 1994 S. 3146. 65 BGBl. I 2000 S. 2862. 66 Oben III; außerdem BT-Drs. 16/387 vom 18. 1. 2006. 67 BT-Drs. 16/3399 vom 9. 11. 2006. 68 BT-Drs. 19/4522 vom 25. 9. 2018. 69 BT-Drs. 19/951 vom 27. 2. 2018. 63
Anerkennung einer iranischen Ehescheidung in Deutschland Von Niloufar Hoevels I. Einführung Im Jahre 2018 wurden in Deutschland 148.066 Scheidungen ausgesprochen1 bei 416.000 Eheschließungen, was einer Quote von 35,59 % entspricht, Tendenz steigend. In den Jahren 2015 – 2018 kamen viele Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan, Iran und dem Irak nach Deutschland.2 Unter ihnen befinden sich auch Familien, für die im Falle einer Trennung und Scheidung rechtlich zu klären wäre, welches Recht auf eine Scheidung anzuwenden ist und wie es sich mit der Anerkennung einer eventuell privaten Scheidung in Form einer einseitigen Verstoßung seitens des Ehemannes oder durch einen Scheidungsvertrag verhält. Das Familienrecht etwa in Syrien, Afghanistan und Iran ist kodifiziert, basiert jedoch zum Teil auf religiösen Vorschriften, der sog. Scharia.3 Hiernach stehen den Ehemännern mehr Möglichkeiten zu, eine Scheidung auszusprechen; insbesondere kann der Mann grundlos einseitig und ohne gerichtliche Einbindung die Ehe beenden.4 Solche Privatscheidungen sind innerhalb Europas nicht vorgesehen. In der Praxis treten demnach Fragen im Zusammenhang mit der Anerkennung einer ausländischen Ehescheidung häufiger auf. II. Anerkennung ausländischer Ehescheidungen Die zentrale Frage hier ist, ob die ausländische Ehescheidung in Deutschland anerkannt wird. Denn von der Anerkennung der Scheidung hängt etwa auch der Personenstand der jeweiligen Person ab, falls diese nochmals heiraten möchte. Die Beurteilung erfolgt im Inland nach dem deutschen Kollisionsrecht. Nach Art. 3 Nr. 1 d EGBGB ist vorrangig die Rom III-VO heranzuziehen.
1 Vgl. https://www-genesis.destatis.de/genesis/online?sequenz=tabelleErgebnis&selection name=12631-0001, abgerufen am 08. 04. 2020. 2 Vgl. https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Statistik/Asylgeschaeftsstatistik/hklantrags-entscheidungs-bestandsstatistik-januar-2020.pdf?__blob=publicationFile&v=3, abgerufen am 08. 04. 2020. 3 Vgl. hierzu näher Mathias Rohe, Das Islamische Recht, 3. Aufl., München 2011, S. 9 ff. 4 Vgl. Rohe (Fn. 3), S. 91 ff.
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1. Anerkennung nach der Rom III-VO a) Räumlicher und zeitlicher Anwendungsbereich Die Verordnung findet nach Art. 21 Rom III-VO in den Mitgliedstaaten der EU Anwendung, wobei die Mitgliedstaaten in Art. 3 Rom III-VO näher definiert werden. Nur 17 Mitgliedstaaten nehmen nämlich an der Verordnung teil. Bei den Mitgliedstaaten, die nicht an der Verordnung teilnehmen, richtet sich die Anerkennung nach dem jeweiligen nationalen Kollisionsrecht. Nach Art. 4 Rom III-VO gilt die Verordnung als loi uniforme unabhängig davon, ob das berufene Recht dasjenige eines an der Verordnung teilnehmenden Mitgliedstaates, dasjenige eines anderen Mitgliedstaates oder dasjenige eines Drittstaates ist.5 Obgleich eine vollständige Vereinheitlichung des Scheidungsrechts innerhalb Europa hierdurch nicht erreicht werden konnte, bildet die Verordnung dennoch einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung. Für alle Scheidungsverfahren ab dem 21. 06. 2012 gilt die Verordnung unmittelbar in den teilnehmenden Mitgliedstaaten, Art. 21 Abs. 2 Rom III-VO, mit der Folge, dass sich das auf die Ehescheidung anwendbare Recht nicht mehr nach Art. 14 EGBGB richtet, sondern ausschließlich nach der Rom III-VO. Somit hat Art. 14 EGBGB einschließlich der vorgesehenen Rechtswahlmöglichkeiten keine Bedeutung mehr für die Frage nach dem anwendbaren Scheidungsstatut. Das bisher in Art. 17 Abs. 1 EGBGB geregelte Scheidungskollisionsrecht ist in seiner alten Fassung außer Kraft getreten. Nach dieser Regelung war die Staatsangehörigkeit der Ehegatten für die Bestimmung des anwendbaren Rechts maßgeblich, nun gilt entweder das Recht des Aufenthaltsortes oder dasjenige Recht, das die Ehegatten durch Rechtswahl bestimmt haben. In Art. 18 Rom III-VO sind Übergangsvorschriften für gerichtliche Verfahren und für den Fall einer Rechtswahl nach Art. 5 Rom III-VO vorgesehen. Demzufolge gilt die Verordnung nur für gerichtliche Verfahren der Ehescheidung oder Trennung ohne Auflösung des Ehebandes, die ab dem 21. 06. 2012 eingeleitet wurden. Die Eheleute haben nach der Verordnung die Möglichkeit, das auf die Scheidung anwendbare Recht durch eine Rechtswahl selbst zu bestimmen. In einigen Ländern war schon vor Inkrafttreten der Verordnung möglich, eine Rechtswahl zu treffen. Diese Vereinbarungen bleiben wirksam, sofern sie den Voraussetzungen der Art. 6 und 7 Rom III-VO entsprechen. Das ist nur dann der Fall, wenn die Rechtswahl nach dem gewählten nationalen Recht materiell und formell wirksam geschlossen worden ist.6
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Vgl. Palandt/Thorn, BGB, 79. Aufl., München 2020, Art. 4 Rom III Rn. 1. Vgl. auch OLG Hamm, Beschluss vom 07. 05. 2013 – II-3 UF 267/12, IPRax 2014, 349.
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b) Sachlicher Anwendungsbereich Dieser richtet sich nach Art. 1 Rom III-VO. In Abs. 1 wird positiv definiert, dass die Verordnung auf Ehescheidung und Trennung ohne Auflösung des Ehebandes7 Anwendung findet. In Abs. 2 hingegen wird klargestellt, welche Bereiche nicht unter die Verordnung fallen und daher auch vom sachlichen Anwendungsbereich der Verordnung ausgeschlossen sind. Die Verordnung selbst definiert jedoch nicht, was unter Ehescheidung oder Trennung ohne Auflösung des Ehebandes zu verstehen ist. Die Auslegung richtet sich mangels einer Legaldefinition in der Verordnung unter Berücksichtigung des Scheidungsrechts der teilnehmenden und nichtteilnehmenden Mitgliedstaaten unter Beachtung der jeweiligen Besonderheiten und Eigenarten. Bei Trennung ohne Auflösung des Ehebandes erfolgt ein formalisiertes Trennungsverfahren unter gerichtlicher oder behördlicher Mitwirkung, die ein Weniger gegenüber der Ehescheidung darstellt, wie z. B. die Trennung von Tisch und Bett nach italienischem Recht. Mit der Ehescheidung ist „die Auflösung der zivilrechtlichen Ehe dem Bande nach mit Wirkung ex nunc aufgrund von Mängeln, die in der Führung der ehelichen Lebensgemeinschaft begründet sind“, gemeint.8 Von der Verordnung wird demnach die Ungültigerklärung, Aufhebung oder Annullierung der Ehe nicht erfasst, ebensowenig nach wohl h. M. die Scheidung gleichgeschlechtlicher Ehen.9 Die Beendigung der Ehe muss durch staatliches Handeln erfolgen. Bei einer Privatscheidung hingegen endet die Ehe entweder durch eine einseitige Erklärung eines Ehegatten oder durch eine rechtsgeschäftliche Vereinbarung zwischen den Ehegatten, selbst wenn Behörden10 bzw. Gerichte11 als Träger hoheitlicher Gewalt beteiligt sind. Deren Beteiligung ist lediglich deklaratorisch und hat keine konstitutive Wirkung. Bis zur Entscheidung des EuGH vom 20. 12. 201712 wurde in Deutschland die Anerkennung einer Privatscheidung trotzdem nach den Vorschriften der Rom III-VO beurteilt. Dem widersprach jedoch der EuGH mit der Folge, dass eine Privatscheidung nicht vom Anwendungsbereich der Verordnung umfasst ist. Die Kollisionsregelung für Ehescheidungen des Art. 17 Abs. 1 EGBGB a. F. entfiel deshalb. Der Europäische Gerichtshof stellt fest, dass der Begriff der „Ehescheidung“ in der Rom III-VO nur „Ehescheidungen erfasst, die entweder von einem staatlichen Gericht oder von einer öffentlichen Behörde bzw. unter deren Kontrolle ausgesprochen werden.“ Des Weiteren wird festgehalten, dass „eine durch einseitige Erklärung 7
Vgl. Palandt/Thorn (Fn. 5), Art. 1 Rom III Rn. 2. Vgl. Palandt/Thorn (Fn. 5), Art. 1 Rom III Rn. 2. 9 Vgl. Palandt/Thorn (Fn. 5), Art. 1 Rom III Rn. 4. 10 Vgl. Rohe (Fn. 3), S. 216 ff. 11 Vgl. Peter Winkler von Mohrenfels, ZEuP 2013, Die Rom III-VO, 699, 703. 12 Vgl. EuGH, Urteil vom 20. 12. 2017 – C-372/16 Sahyouni/Mamisch, Tz. 37. 8
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eines Ehegatten vor einem geistlichen Gericht bewirkte Ehescheidung (…) nicht in den sachlichen Anwendungsbereich dieser Verordnung fällt“.13 Weitere Voraussetzung für die Anwendung ist die Verbindung zu verschiedenen Staaten, was in der Verordnung selbst nicht näher definiert wird. Diese liegt etwa bei unterschiedlichen Staatsangehörigkeiten der Ehegatten vor. Haben die Ehegatten ihren gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Staat als ihrem Herkunftsland oder bestehen unterschiedliche gewöhnliche Aufenthalte der Ehegatten, käme ebenfalls die Verordnung zur Anwendung. c) Verfahren Scheidungsentscheidungen, die in einem Mitgliedstaat der EU ergangen und rechtskräftig geworden sind, werden nach Art. 21 Abs. 1 Rom III-VO in allen Mitgliedstaaten in der Regel ohne weitere Nachprüfung anerkannt. Ein förmliches Verfahren nach § 107 FamFG ist entbehrlich, da die in den Anwendungsbereich des Art. 21 Abs. 1 Rom III-VO fallenden Entscheidungen automatisch anzuerkennen sind. Zuständig für die Anerkennung der Ehescheidung ist die jeweilige Landesjustizverwaltung. Bei einer Ehescheidung aus einem Mitgliedstaat ist demnach eine Entscheidung der Landesjustizverwaltung für die Anerkennung nicht erforderlich und darf auch von Behörden im Inland, insbesondere von den jeweiligen Standesämtern, nicht verlangt werden. Zur Klarstellung ist jedoch gemäß Art. 21 Abs. 3 VO (EG) Nr. 2201/2003, §§ 10, 12, 32 IntFamRVG eine gerichtliche Anerkennung durch das zuständige Familiengericht zulässig. Hierbei ist das Familiengericht im Bezirk des Oberlandesgerichts zuständig, in dessen Zuständigkeitsbereich zum Zeitpunkt der Antragstellung die Person, gegen die sich der Antrag richtet, oder das Kind, auf das sich die Entscheidung bezieht, sich gewöhnlich aufhält. Andernfalls wäre das Gericht zuständig, in dessen Bezirk das Interesse an der Feststellung hervortritt oder das Bedürfnis der Fürsorge besteht, sonst das im Bezirk des Kammergerichts zur Entscheidung berufene Gericht. d) Ermittlung des anwendbaren Rechts Hierbei ist zuerst eine getroffene Rechtswahl der Ehegatten nach Art. 5 Rom IIIVO zu beachten. Dies ist im Gegensatz zur bisherigen Regelung des Art. 17 EGBGB a. F. ein Novum, obgleich der Kreis der wählbaren Rechte eingeschränkt ist, um zwischen dem gewählten Recht und der Ehe einen Bezug herzustellen. Für die Formgültigkeit ist insoweit Art. 7 Rom III-VO zu beachten. Grundsätzlich wären Schriftform, die Datierung sowie die Unterzeichnung durch beide Ehegatten erforderlich. Eine weitere Möglichkeit ist die elektronische Übermittlung, die eine dauerhafte Aufzeichnung der Vereinbarung ermöglicht. Strengere Formvorschriften sind dann zu 13
Vgl. EuGH, Urteil vom 20. 12. 2017 – C-372/16 Sahyouni/Mamisch, Tz. 49.
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beachten, wenn dies das Recht des teilnehmenden Mitgliedstaates vorsieht, in dem beide Ehegatten zum Zeitpunkt der Rechtswahl ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatten. In Deutschland bedarf eine Rechtswahl allerdings nach Art. 7 Abs. 2 Rom III-VO i. V. m. Art. 46 d Abs. 1 EGBGB der notariellen Beurkundung. Die Rechtswahl kann jederzeit, jedoch spätestens zum Zeitpunkt der Anrufung des Gerichts getroffen werden, wobei nach Art. 5 Abs. 3 Rom III-VO auch während des Scheidungsverfahrens eine solche Möglichkeit für die Ehegatten besteht. Ob die Rechtswahl auch tatsächlich wirksam zustandegekommen ist, beurteilt sich gemäß Art. 6 Abs. 1 Rom III-VO nach dem Recht, das die Parteien wählen wollten. Bei Fehlen einer bzw. unwirksamer Rechtswahl wäre das anzuwendende Recht nach Art. 8 Rom III-VO anhand objektiver stufenweiser Anknüpfung zu ermitteln. Zuerst ist an das Recht des Staates anzuknüpfen, in dem die Ehegatten ihren gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt bei Anrufung des Gerichts hatten. Der letzte gemeinsame gewöhnliche Aufenthalt ist auf der 2. Stufe heranzuziehen, sofern einer der Ehegatten diesen Aufenthalt beibehalten hat; zugleich ist eine zeitliche Grenze von einem Jahr vor Anrufung des Gerichts zu beachten. Sofern das Gericht demnach mehr als ein Jahr nach Beendigung des gemeinsamen Aufenthalts angerufen wird, ist dieser unbeachtlich.14 Fehlt es hieran, so ist an das gemeinsame Heimatrecht der Ehegatten abzustellen, dessen Staatsangehörigkeit beide Ehegatten zum Zeitpunkt der Anrufung des Gerichts besitzen. Auf letzter Stufe gilt das Recht des angerufenen Gerichts. 2. Anerkennung von Entscheidungen aus Drittstaaten a) Verfahren Für diese Entscheidungen findet Art. 21 Rom III-VO keine Anwendung. Vielmehr richtet sich das Verfahren nach § 107 FamFG. Nach Art. 19 Rom III-VO ist jedoch vorab zu prüfen, ob Staatsverträge zwischen Mitgliedstaaten und Drittstaaten bestehen. Deren Anwendung bleibt von der Verordnung unberührt. Zuständig für die Anerkennung ist nach § 107 FamFG die Landesjustizverwaltung, d. h. das Justizministerium des jeweiligen Landes, am gewöhnlichen Aufenthalt eines Ehegatten, hilfsweise die Justizverwaltung des Landes Berlin. Nach § 107 Abs. 3 FamFG ist es möglich, die Zuständigkeit vom Ministerium auf einen OLGPräsidenten zu übertragen; in Baden-Württemberg, Bayern (OLG-Präsident München), Brandenburg, Bremen, Hessen (OLG-Präsident Frankfurt), Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen (OLG-Präsident Düsseldorf), Saarland, Sachsen (OLG-Präsident Dresden), Sachsen-Anhalt (OLG-Präsident Naumburg) und in Thüringen (OLG-Präsident Jena) sind die OLG-Präsidenten als Teil der Justizverwaltung zu14
Vgl. OLG Zweibrücken, NJW-RR 2015, 1157.
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ständig, in den anderen Ländern (Berlin, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein) die Landesjustizministerien.15 Für alle inländischen Gerichte stellt die Landesjustizverwaltung die Frage der Anerkennung einer ausländischen Entscheidung bindend fest. Sollte bereits ein Verfahren vor dem Familiengericht etwa über den nachehelichen Unterhalt anhängig sein, müsste das Verfahren nach § 113 Abs. 2 S. 2 FamFG i. V. m. § 148 ZPO ausgesetzt werden, bis die Landesjustizverwaltung über die Anerkennung der Ehescheidung rechtskräftig entschieden hat. Ausnahmsweise hängt die Anerkennung nach § 107 Abs. 1 S. 2 FamFG nicht von der Feststellung der Landesjustizverwaltung ab, wenn beide Ehegatten nur Angehörige des Staates waren, dessen Gericht die Scheidung ausgesprochen hat, sog. Heimatstaatscheidungen. Dessen ungeachtet ist ein freiwilliges Anerkennungsverfahren gemäß § 107 Abs. 8 FamFG nach der Rechtsprechung zulässig, wenn ein Rechtsschutzbedürfnis hierfür besteht.16 Bei der Anerkennung ist zwischen behördlichen/gerichtlichen Entscheidungen und sog. Privatscheidungen zu unterscheiden. In Deutschland erfolgt eine Scheidung durch Gerichte, nicht durch Kirchen und nicht durch Vereinbarung der Eheleute. In einigen islamischen Ländern ist die Scheidung durch einseitige Erklärung des Ehemannes (= talaq) möglich. Es stellt sich die Frage, ob überhaupt hier eine Entscheidung im Sinne des § 107 FamFG vorliegt, die anerkannt werden soll. Sofern eine ausländische Behörde an der Ehescheidung mitgewirkt hat, findet trotzdem § 107 FamFG Anwendung. Ist jedoch die Scheidung ohne jede behördliche Mitwirkung vollzogen worden, wird deren Wirksamkeit inzident ohne förmliches Anerkennungsverfahren beurteilt.17 b) Materielle Voraussetzungen Die materielle Anerkennung einer Privatscheidung richtet sich nicht nach § 109 FamFG, weil keine behördliche Entscheidung vorliegt.18 Nach der Entscheidung des EuGH vom 20. 12. 2017 (Az. C-372/16 – Sahyouni/Mamisch) richtet sich die Anerkennung einer Privatscheidung nicht nach der Rom III-VO, sondern nach dem nationalen Kollisionsrecht. Trotz anderslautender Stimmen in der Literatur19 hat der deutsche Gesetzgeber in Art. 17 Abs. 2 EGBGB eine analoge Anwendung der Rom IIIVO mit Einschränkungen vorgesehen. Zwar hat das deutsche Gericht grundsätzlich nur sein eigenes Verfahrensrecht anzuwenden, aber der deutsche Richter hat die für die Entscheidung maßgebliche aus15
Vgl. MüKoFamFG/Rauscher, 3. Aufl., München 2019, § 107 Rn. 39. Vgl. BGHZ 112, 127; BayObLG, FamRZ 2002, 1637. 17 Vgl. BGH Beschluss vom 28. 11. 2018 – XII ZB 217/17. 18 Vgl. Palandt/Thorn (Fn. 5), Art. 2 Rom III Rn. 8. 19 Vgl. Jennifer Antomo, Privatscheidungen und der neue Art. 17 Abs. 2 EGBGB: Rom IIIVO à la berlinoise, StAZ 2019, 33. 16
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ländische Rechtsvorschrift von Amts wegen festzustellen,20 insoweit besteht auch keine Beweisführungslast.21 Der Richter muss daher den wirklichen Rechtszustand unter Heranziehung von Rechtsprechung und Rechtslehre ermitteln. Das Gericht darf hierbei übereinstimmenden Parteivortrag zum Inhalt des ausländischen Rechts als richtig zu Grunde legen. In der Praxis wird aber meist die Einholung von Rechtsgutachten durch wissenschaftliche Institute bevorzugt. Daneben besteht die Möglichkeit, fremdes Recht nach dem Europäischen Übereinkommen betreffend Auskünfte über ausländisches Recht zu ermitteln. Auskunftsersuchen sind mit Sachverhaltsdarstellung und Übersetzung in die Amtssprache des ersuchten Staates der deutschen Übermittlungsstelle vorzulegen, die das Ersuchen unmittelbar der ausländischen Empfangsstelle zuleitet. Deutsche Übermittlungsstellen sind für die Gerichte des Bundes das Bundesministerium der Justiz, für die Gerichte der Länder die von den Landesregierungen bestimmten Stellen.22 Für das einseitige Ehescheidungsrecht des Ehemannes (talaq) gilt bei Fällen mit Inlandsbezug, dass der talaq dann als wirksam anerkannt wird, wenn auch nach deutschem Recht im konkreten Fall die Voraussetzungen für eine Scheidung, also Zerrüttung i. S. d. §§ 1565 ff. BGB gegeben wären,23 bzw. wenn die Ehefrau damit einverstanden ist.24 Nach diesen Ausführungen ist es sinnvoll, zwei Fälle aus der Praxis näher zu erläutern: III. Anerkennung einer iranischen Privatscheidung In Bayern ist der Präsident des OLG München anstelle des Justizministeriums25 für die Anerkennung ausländischer Entscheidungen in Ehesachen zuständig. 1. Privatscheidung von Ehegatten mit ausschließlich iranischer Staatsangehörigkeit Die zuständige Rechtspflegerin teilte auf den Antrag einer Iranerin auf Anerkennung ihrer Privatscheidung vom 17. 08. 2016 in Teheran mit, dass es sich nicht um eine gerichtliche oder behördliche Scheidung, sondern um eine sog. Privatscheidung handeln würde. Das auf diese Privatscheidung aus der Sicht des deutschen interna20
Vgl. BGHZ 118, 151, 162. BGH, NJW-RR 2005, 1071. 22 Vgl. Palandt/Thorn (Fn. 5), Einl. vor Art. 3 EGBGB Rn. 35. 23 Vgl. BayObLG, NJW-RR 1998, 1538; OLG Düsseldorf, FamRZ 1998, 1113; OLG Köln, FamRZ 2002, 166; OLG Zweibrücken, NJW-RR 2002, 581; OLG Rostock, FamRZ 2006, 947. 24 Vgl. BGH, FamRZ 2004, 1952. 25 Vgl. MüKoFamFG/Rauscher (Fn. 15), § 107 Rn. 39. 21
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tionalen Privatrechts anzuwendende Recht bestimme sich nach der Europäischen Verordnung (EU) Nr. 1259/2010 vom 20. 12. 2010. Nach dieser gemäß Art. 17 Abs. 2 EGBGB auch für Deutschland maßgebenden EU-Verordnung können die Ehegatten für eine Scheidung das Recht des Staates wählen, dessen Staatsangehörigkeit einer der Ehegatten besitzt. Der gemeinsame Wunsch, sich in einem bestimmten Land scheiden zu lassen, könne aber nicht als konkludente Rechtswahl gesehen werden, da diese grundsätzlich nicht zulässig sei. Eine Rechtswahl müsse ausdrücklich vertraglich und formgerecht erfolgen. Eine solche Rechtswahl wäre hier durch notarielle Beurkundung möglich. Denn nach Art. 7 Abs. 2 Rom III-VO i. V. m. Art. 46d Abs. 1 EGBGB bedarf einer Rechtswahl in Deutschland der notariellen Beurkundung, obgleich nach Art. 7 Abs. 1 Rom III-VO Schriftform im Sinne des § 126a BGB ausreichend wäre. Wenn eine Rechtswahl nicht vorliege, sei insoweit nach Ansicht der Landesjustizverwaltung Art. 8 Rom III-VO heranzuziehen. Hiernach unterliege die Ehescheidung in erster Linie dem Recht des Staates, in dem beide Ehegatten zum Zeitpunkt der Scheidung ihren gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt haben. Da beide Ehegatten zur Zeit der Scheidung ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland hatten, käme hiernach deutsches Recht zur Anwendung. Demnach sei eine Anerkennung der nach iranischem Recht durchgeführten Privatscheidung nicht möglich. Die genannte Verordnung schreibe für die Scheidung nach den in diesem Fall gegebenen Konstellationen deutsches Recht vor. Das deutsche Recht sehe aber keine Privatscheidungen vor, sondern kenne nur die Scheidung durch richterliche Entscheidung (§ 1564 S. 1 BGB). Hieran ändere auch die Tatsache nichts, dass die Antragstellerin mit der Scheidung einverstanden war. Deswegen empfahl die Rechtspflegerin, die Antragstellerin möge die Scheidung vor dem deutschen Familiengericht wiederholen. Eine Wiederholung der Scheidung kam jedoch für die Antragstellerin nicht in Betracht, da hiermit unnötige Kosten verbunden wären und zudem der Aufenthaltsort des geschiedenen Ehemanns nicht bekannt war. Durch die dann erforderliche öffentliche Zustellung der Entscheidung hätte sich die Scheidung unnötiger Weise in die Länge gezogen. Die Auffassung der Rechtspflegerin war in diesem Fall unzutreffend. Denn beide Ehegatten waren zum Zeitpunkt der Scheidung ausschließlich iranische Staatsangehörige und die Ehescheidung wurde durch ein Notariat in Teheran beurkundet. Entgegen der Ansicht der Landesjustizverwaltung war hier nicht deutsches Recht anwendbar, weil hierbei übersehen wurde, dass vorrangig das deutsch-iranische Niederlassungsabkommen vom 17. 02. 1929 zu berücksichtigen wäre. Nach Art. 19 Rom III-VO bleiben nämlich völkerrechtliche Verträge von der Verordnung unberührt. Nach Art. 8 Abs. 3 des deutsch-iranischen Niederlassungsabkommens findet für die in Deutschland lebenden iranischen Staatsangehörigen in Angelegenheiten des Familienrechts iranisches Recht Anwendung. Die Parteien,
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die beide ein und demselben Vertragsstaat des Abkommens angehören, bleiben in Familiensachen ihrem jeweiligen Heimatrecht unterworfen.26 Anzuwenden war somit das iranische Recht. Beide Ehegatten besaßen sowohl im Zeitpunkt der Eheschließung als auch im Zeitpunkt der Scheidung ausschließlich die iranische Staatsangehörigkeit. Die Ehegatten lebten seit 2014 voneinander getrennt und die Scheidung wurde einvernehmlich am 17. 08. 2016 erklärt. Nach deutschem Recht wäre die Scheidung aufgrund der Zerrüttung der Ehe möglich gewesen. Ein Verstoß gegen den Grundsatz des ordre public gemäß Art. 12 Rom III-VO lag nicht vor. Die Ehefrau war diejenige, die die Ehescheidung wollte. Aufgrund dieser Ausführungen hat die Landesjustizverwaltung umgehend festgestellt, dass die Voraussetzungen für die am 17. 08. 2016 ausgesprochene und am selben Tag bei dem Scheidungsnotariat in Teheran eingetragene Scheidung vorlagen. Die Scheidung wurde anerkannt. 2. Privatscheidung von Ehegatten mit iranischer und deutscher Staatsangehörigkeit In einem anderen Fall mit der Privatscheidung in Teheran hat das OLG München jedoch die Anerkennung der Scheidung abgelehnt, weil der Antragsteller, der im Zeitpunkt der Scheidung sowohl die deutsche als auch die iranische Staatsangehörigkeit besaß, seinen gewöhnlichen Aufenthalt zum Zeitpunkt der Scheidung in Deutschland hatte. Er wurde nämlich am 14. 07. 2013 eingebürgert. Die Scheidung erfolgte am 08. 08. 2009. Art. 8 Abs. 3 des deutsch-iranischen Niederlassungsabkommens sei nur dann anzuwenden, wenn beide Ehegatten ausschließlich iranische Staatsangehörige wären. Der Ehemann besaß beide Staatsangehörigkeiten, die Ehefrau ausschließlich die iranische. Bemängelt wurde die Durchführung der Scheidung mithilfe der Vollmacht der Ehefrau. Eine mit konstitutivem Akt in Deutschland durchgeführte Ehescheidung sei nach Auffassung des OLG München auch dann nicht anerkennungsfähig, wenn eine staatliche Behörde die Ehescheidung beurkundet und/oder diese später im Standesregister des Heimatstaates registriert wird. Der Registrierung der Ehescheidung im Heimatstaat sei hierbei keine Gestaltungswirkung beizumessen. Auch eine vor einer ausländischen Botschaft oder einem ausländischen Konsulat in Deutschland durchgeführte Privatscheidung sei nicht anerkennungsfähig. Bei einer in Deutschland vor einer ausländischen Stelle vorgenommenen Ehescheidung handele es sich nicht um eine Ehescheidung „… im Ausland“ im Sinne des § 107 FamFG. Der Scheidungsakt erfolge in diesen Fällen auf deutschem Staatsgebiet, denn die Grundsätze der Exterritorialität führen nicht dazu, diplomatische und konsularische Vertretungen als Ausland anzusehen.
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Vgl. BGH, FamRZ 1986, 345, 346; BGH, FamRZ 2004, 1952.
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Nachdem sowohl der Ehemann als auch die Ehefrau ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Zeitpunkt der Privatscheidung am 08. 08. 2009 in Deutschland hatten, hätte die Scheidung in Deutschland ausschließlich vor einem deutschen Gericht vorgenommen werden können. Infolgedessen könne eine Privatscheidung nach iranischem Recht in keiner Weise anerkennungsfähig sein, da das deutsche Recht ausschließlich die richterliche Scheidung kenne und nicht die Scheidung durch Ausspruch des Ehemanns. Deswegen mussten die Ehegatten nach Ablauf von fast 10 Jahren ihre Scheidung hier in Deutschland vor dem zuständigen Familiengericht durchführen. Hätten die ausländischen Ehegatten, deren Heimatstaat eine Privatscheidung zulässt, hingegen die Privatscheidung in Deutschland vorgenommen, wäre dies unzulässig. Nach Art. 17 Abs. 3 EGBGB und nach § 1564 BGB kann eine Ehe im Inland nur durch ein Gericht geschieden werden. Wenn ein Ehegatte die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, wäre das deutsche Scheidungsstatut maßgeblich mit der Folge, dass eine Privatscheidung im Ausland hier nicht anerkannt wird. Dies gilt auch dann, wenn beide Ehegatten gleichzeitig neben der deutschen Staatsangehörigkeit zusätzlich die ausländische besitzen. Nach Art. 5 Abs. 1 EGBGB wäre insoweit nämlich die deutsche Staatsangehörigkeit maßgeblich. Eine im Ausland vorgenommene Scheidung könnte somit nicht anerkannt werden und die Eheleute wären gezwungen, das Scheidungsverfahren vor dem zuständigen Familiengericht zu wiederholen. 3. Wirksame Ehe als Grundvoraussetzung für die Anerkennung der Scheidung Damit eine Scheidung anerkannt werden kann, ist die Vorfrage nach einer wirksamen Ehe vorab zu klären.27 Trotz vielfach gemeinsamer Wurzeln im klassischen islamischen Recht bestehen unterschiedliche Regelungen in den einzelnen Staaten. Daher müssten zunächst die konkreten Regelungen der jeweiligen Staaten oder ihrer Teilrechtsordnungen herausgefunden werden. Mit Ausnahme Saudi-Arabiens haben alle islamischen Länder heute familienrechtliche Kodifikationen, die allerdings nicht einheitlich sind.28 Bei der Frage der Wirksamkeit im Ausland geschlossenen Ehen ist vorab anzumerken, dass die Wirksamkeit der Eheschließung nach klassischem islamischem Recht nicht von irgendeiner Form der Registrierung abhängig ist. Soweit eine solche vorausgesetzt wird, ist sie meistens deklaratorisch.29 Im Iran muss die Ehe registriert werden, dies kann jedoch auch nach Abschluss einer religiösen Ehe zur Registrierung 27
Vgl. OLG Zweibrücken, NJW-RR 1997, 1227. Vgl. hierzu näher Najma Yassari, FamRZ 2011, Das Eheverständnis im Islam und ausgewählten islamischen Ländern, S. 1 – 3, 2. 29 Vgl. Mathias Rohe, Eheschließung in islamischen Staaten – Prüfung der Wirksamkeit durch deutsche Behörden, StAZ 2006, S. 93 – 102, 94; Yassari (Fn. 28), 2 f. 28
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derselben geschehen.30 In Tunesien kann hingegen eine Ehe wirksam nur vor zwei Notaren oder von einem Beamten der Personenstandsbehörde geschlossen werden.31 Hierbei sind folgende Problemfälle zu unterscheiden: a) Minderjährigenehen Das Heiratsmindestalter liegt in vielen islamischen Staaten unter dem von § 1303 S. 2 BGB vorausgesetzten Mindestalter von 16 Jahren. Trotz Bestrebungen in vielen islamischen Länder, die Minderjährigenehen zurückzudrängen bzw. das Mindestalter anzuheben – so wurde etwa in Algerien das Mindestalter von 19 Jahren festgelegt32 – ist dieses Phänomen kein Einzelfall. Die Eheschließung im Alter von 12 Jahren verstößt gegen den ordre public.33 I. d. R. ist die Ehefrau betroffen. Hat sie inzwischen das Mindestalter nach § 1303 S. 2 BGB erreicht, so stellt sich die Frage, ob dadurch eine Heilung der unwirksamen Eheschließung eintritt, oder ob es generell einer erneuten Eheschließung bedarf. Sind bereits aus der Ehe Kinder hervorgegangen, hätte allerdings eine Unwirksamkeit der Ehe nur Nachteile zulasten der schutzbedürftigen Ehefrau. Erklärt sie freiwillig und ernsthaft, weiterhin an der Ehe festhalten zu wollen, ist eine 2. Eheschließung nicht erforderlich. Handelt es sich allerdings um eine Zwangssituation, die auch über das Erreichen eines akzeptablen Mindestalters hinaus andauert, muss es bei der Unwirksamkeit der Ehe verbleiben.34 b) Handschuhehen und Stellvertretung bei der Eheschließung Entgegen der in § 1311 BGB vorgesehenen Regelung, wonach die Eheschließenden ihren Eheschließungswillen persönlich und bei gleichzeitiger Anwesenheit abgeben müssen, kann bei der Handschuhehe die Einverständniserklärung bei der Eheschließung durch eine von einem oder beiden Eheschließungswilligen eingeschaltete dritte Person abgegeben werden. Es geht insoweit nicht um eine eigene Willensentscheidung des unmittelbar handelnden Dritten, sondern nur um die Übermittlung der bereits vorgefassten Entscheidung. Es handelt sich somit um eine Variante der bloßen Botenschaft bei Abgabe der relevanten Willenserklärung. Dies betrifft die Frage der Eheschließungsform, für welche Art. 11 EGBGB bzw. Art. 13 Abs. 3 EGBGB Anwendung finden.35 Ein Verstoß gegen den ordre public liegt hierbei nicht ohne weiteres vor.36 30
Art. 1 S. 1 des Gesetzes über die Eheschließung vom 15. 08. 1931. Art. 31 tun. PStG, Gesetz Nr. 57 – 3 vom 01. 08. 1957. 32 Art. 7 Abs. 1 S. 1 alger. Familiengesetzbuch i. d. F. vom 27. 02. 2005. 33 Vgl. OLG Köln, NJWE-FER 1997, 55 (zum vormaligen iranischen Recht). 34 So auch Rohe, StAZ 2006, 93, 95. 35 Vgl. Palandt/Thorn (Fn. 5), Art. 13 EGBGB Rn. 12.
31
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Niloufar Hoevels
Dies darf allerdings nicht dazu führen, dass die Formvorschrift des Art. 13 Abs. 3 S. 1 EGBGB umgangen wird, wenn etwa der in Deutschland befindliche Heiratswillige dauerhaft hier verbleiben will und der künftige Ehepartner ebenfalls sofort nach Eheschließung nach Deutschland kommen soll oder gar wenn beide Ehewilligen sich bereits im Inland aufhalten. In solchen Fällen ist Art. 11 Abs. 3 EGBGB nach seinem Sinn und Zweck nicht einschlägig, da die Wirkung der Einschaltung des Dritten letztlich nur nach Deutschland zielt. Anders verhält es sich bei der echten Stellvertretung im Willen. Diese unterliegt der Regelung des Art. 13 Abs. 1 EGBGB. Wenn der Vertreter eine eigenständige Entscheidung der Auswahl des künftigen Ehegatten treffen kann, so liegt hierin ein schwerer Verstoß gegen die verfassungsrechtlichen Grundrechte der Menschenwürde und auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. Eine solche Eheschließung würde nichts anderes als „eine Art von Handel mit Menschen bedeuten“.37 Ein Verstoß gegen den ordre public liegt ebenfalls vor, wenn für volljährige geschäftsfähige Frauen eine Vormundschaft bei der Eheschließung durch männliche Angehörige vorgesehen ist.38 c) Mehrehe Der Schutz der Ehe im Art. 6 Abs. 1 GG betrifft nach allgemeiner Meinung die Einehe. Eine ausdrückliche Regelung findet sich in § 1306 BGB, wonach ein zweiseitiges Ehehindernis im Falle einer bereits vorhandenen Ehe besteht.39 Die Mehrehe verstößt auch dann gegen den ordre public, wenn die Heimatrechte aller Beteiligten solche Eheschließungen zulassen. Ob eine Vorehe bereits besteht, ist als Vorfrage selbstständig anzuknüpfen, also nach dem Heimatrecht des betroffenen Eheschließungswilligen zu beurteilen.40 Grundsätzlich ist allerdings die rechtliche Anerkennung nach ausländischem Recht wirksam geschlossener Mehrehe möglich.41 Diese Anerkennung soll nicht eine mittelbare Billigung der Polygamie bedeuten, die nach § 172 StGB im Inland strafbar ist. Hierbei geht es lediglich darum, den Beteiligten diejenigen Rechtspositionen, auf deren Entstehen und Fortbestand sie vertraut haben, nicht alleine deshalb wieder zu entziehen, weil sie einen neuen Aufenthaltsort gewählt haben. Dieser Gedanke schlägt sich auch im sozialrechtlichen Bereich in § 34 Abs. 2 SGB I nieder, der eine Pro-Kopf-Verteilung von Rentenansprüchen unter Witwen aus einer polygamen Ehe vorsieht. 36
Vgl. BayObLG, StAZ 2001, 66 f. So zutreffend AG Gießen, StAZ 2001, 39. 38 Vgl. AG Wildungen und LG Kassel, StAZ 1990, 169, 170. 39 Vgl. etwa OLG Hamburg, StAZ 1988, 132 f.; Palandt/Brudermüller, 79. Aufl., München 2020, Einf. vor § 1353 Rn. 1, 3. 40 Vgl. BGH, FamRZ 1997, 542, 543. 41 Vgl. LG Frankfurt, FamRZ 1976, 217; LG Osnabrück, NJW-RR 1998, 582. 37
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Wenn die Voraussetzungen nach dem Personalstatut der Ehegatten vorliegen und auch die Form der Eheschließung im Heimatland beachtet wurde, ist die im Ausland geschlossene Ehe als wirksam anzusehen. Erst danach kann geprüft werden, ob eine Scheidung im Inland anerkannt werden kann oder nicht. IV. Fazit Eine schematische Betrachtung von privaten Scheidungen im Ausland verbietet sich, auch wenn die Vorschriften der Rom III-VO nach der Entscheidung des EuGH auf Privatscheidungen keine Anwendung finden. Das Ziel der Verordnung, das Scheidungsrecht innerhalb Europas zu vereinheitlichen, wird dadurch nicht gänzlich erreicht, weil nur eine Teilvereinheitlichung des Scheidungsrechts erfolgt, obgleich der deutsche Gesetzgeber durch das Abstellen auf das durch die Verordnung ermittelte Statut das Problem zufriedenstellend gelöst hat. Durch die Rom III-VO ist ungeachtet dessen ein großer Schritt in Richtung der Vereinheitlichung des Scheidungsrechts getan worden, selbst wenn einige Probleme noch nicht gänzlich gelöst worden sind. Begrüßenswert ist vor allem die Stärkung der Privatautonomie durch die Möglichkeit einer Rechtswahl, die im bisher geltenden Kollisionsrecht so nicht vorhanden war.
Amateursport und Kartellrecht Von Jochen Hoffmann I. Problemstellung Während die Anwendung des Kartellrechts auf den Profisport spätestens seit der EuGH-Entscheidung Meca-Medina1 im Mittelpunkt des Interesses steht und Hintergrund einer Vielzahl rechtlicher Auseinandersetzungen gewesen ist, werden Anwendungsfragen in Bezug auf den Amateursport bislang kaum diskutiert. Dies erscheint auf den ersten Blick als nachvollziehbar, da der Sportler bei Ausübung des Amateursports nicht aus wirtschaftlichen Interessen, sondern im Rahmen der Freizeitgestaltung tätig wird. Auch wenn in diesem Rahmen eine Teilnahme an Wettkämpfen erfolgt und ein (nur kostendeckender) Aufwendungsersatz seitens eines Vereins oder Veranstalters gezahlt wird, liegt grundsätzlich keine wirtschaftliche Tätigkeit vor. Gleichwohl ist auch der Amateursport nicht immun gegen die Anwendung des Kartellrechts, da das Fehlen einer wirtschaftlichen Tätigkeit zunächst einmal nur die Sportler betrifft. Die den Amateursport tragenden Organisationsformen, insbesondere Vereine und Verbände, sind dagegen häufig wirtschaftlich tätig. Vor allem die Vereine erbringen für die Sportler kostenpflichtige Leistungen, die nur regelmäßig durch den Mitgliederbeitrag als Vereinsmitglied finanziert werden. Am wirtschaftlichen Charakter der Leistungserbringung ändert sich durch eine derart mitgliedschaftliche Ausgestaltung der Leistungsbeziehung grundsätzlich nichts. Ähnliches gilt für die Verbände, soweit sie Organisationsleistungen für den Wettkampfbetrieb erbringen und von den Amateursportlern entweder indirekt durch Beiträge der Mitgliedsvereine oder direkt durch Startgebühren finanziert werden. Insoweit können Vereine und Verbände daher auch im Rahmen des Amateursports als Unternehmen anzusehen sein und somit dem Kartellrecht unterliegen. II. Kartellrechtlicher Unternehmensbegriff und Amateursport 1. Überblick Für die Frage der Anwendbarkeit des Kartellrechts kommt es zunächst auf den kartellrechtlichen Unternehmensbegriff an. Nach der berühmten Macrotron-Formel des EuGH ist Unternehmen „jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende
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EuGH EuZW 2006, 593 – Meca-Medina.
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Einheit, unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung.“2 Entscheidend ist mithin lediglich der wirtschaftliche Charakter, worunter der EuGH „jede Tätigkeit, die darin besteht, Güter oder Dienstleistungen auf einem bestimmten Markt anzubieten“ versteht.3 Dabei ist zwischen verschiedenen Tätigkeiten derselben Einheit zu differenzieren, die Unternehmenseigenschaft also für die jeweils betroffene Tätigkeit festzustellen (sog. Relativität des Unternehmensbegriffs).4 Eine Gewinnerzielungsabsicht ist jedenfalls nicht erforderlich,5 so dass auch Idealvereine oder gemeinnützige Organisationen für die wirtschaftlichen Tätigkeitsbereiche als Unternehmen anzusehen sind. Für das deutsche Recht gelten im Wesentlichen dieselben Grundsätze.6 2. Amateursportler Vor diesem Hintergrund ist in Bezug auf den einzelnen Amateursportler zu fragen, ob seine Tätigkeit als eine wirtschaftliche anzusehen ist. Die Beantwortung dieser Frage hängt wesentlich davon ab, wie man den Begriff des Amateursports abgrenzt. Insoweit wird in den Sportverbänden teilweise ein weiter Amateurbegriff verwendet, der auch bei der Generierung erheblicher Einnahmen durch die Sportler noch gegeben sein kann. Der EuGH hat im Kontext der Reichweite der Grundfreiheiten festgestellt, dass „die bloße Tatsache, dass eine Sportvereinigung oder ein Sportverband die Sportler, die ihre Mitglieder sind, einseitig als Amateure qualifiziert, für sich allein nicht aus(schließt), dass die Tätigkeit dieser Sportler zum Wirtschaftsleben“7 gehört. Relevant ist vielmehr, ob der Sportler eine „entgeltliche Arbeits- oder Dienstleistung“ erbringt und es sich dabei um „tatsächliche und echte Tätigkeiten handelt, die keinen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen.“8 Irrelevant ist dabei, ob die Entgelte von den Personen bezahlt werden, denen die Leistungen zugute kommen, so dass die Bezahlung durch Sponsoren den wirtschaftlichen Charakter etwa einer Wettkampfteilnahme ohne Gegenleistung des Veranstalters nicht in Frage stellt.9 Nach diesem Maßstab ist mithin zu fragen, ob die wirtschaftliche Zwecksetzung ganz untergeordnet ist und die erzielten Einkünfte unwesentlich sind. Auch wenn diese Rechtsprechung sich auf die Anwendbarkeit der Grundfreiheiten bezieht, wird man die Abgrenzung für den Unternehmensbegriff nicht anders vornehmen können – Tätigkeiten, die dem Wirtschaftsleben zuzurechnen sind, wird 2
EuGH NJW 1991, 2891 (Tz. 21) – Macrotron/Höfner und Elser. EuGH EuZW 2006, 306 (Tz. 108) – Sparkasse Florenz. 4 Statt vieler: Hoffmann, in: Dauses/Ludwigs, HdB des EU-Wirtschaftsrechts, H. I. § 1 Rn. 61. 5 Ständige Rspr., zB EuGH EuZW 2006, 306 (Tz. 119 ff.) – Sparkasse Florenz. 6 Näher: Zimmer, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, 6. Aufl. 2020, Bd. 2 – GWB, § 1 Rn. 19 ff. 7 EuGH NJW 2000, 2011 (Tz. 46) – Deliege. 8 EuGH NJW 2000, 2011 (Tz. 53 f.) – Deliege. 9 EuGH NJW 2000, 2011 (Tz. 54, 56 f.) – Deliege. 3
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man auch als wirtschaftliche Tätigkeiten anzusehen haben. Als unwesentlich in diesem Sinn wird man die Einkünfte des Sportlers ansehen können, wenn wirtschaftliche Vorteile aus der Ausübung nur in einem Umfang zu erwarten sind, der nicht wesentlich über die Kosten der Sportausübung hinausgeht. Geht es nur um die Erzielung von Deckungsbeiträgen für die Kosten des Sports, ist der Erwerbszweck als völlig untergeordnet anzusehen. In solchen Fällen fehlt mithin dem Sportler die Unternehmenseigenschaft, seine Sportausübung ist der privaten Lebensführung, insbesondere der Einkauf von sportbezogenen Leistungen dem privaten Konsum zuzurechnen. In der Konsequenz kommt ein solcher echter Amateursportler etwa nicht als Beteiligter an einer Kartellvereinbarung i. S. v. Art. 101 AEUV, § 1 GWB in Betracht, kann aber natürlich auch als Verbraucher den Schutz des Kartellrechts genießen. Ist die wirtschaftliche Zwecksetzung dagegen nicht derart untergeordnet und werden nicht nur unerhebliche Einkünfte generiert, ist der Unternehmensbegriff ebenso erfüllt wie bei einem selbständigen Profisportler, so dass auf solche Personen die in diesem Kontext anerkannten Grundsätze übertragen werden können. Hier soll im Folgenden nur der echte Amateursport betrachtet werden, der nach den soeben dargestellten Grundsätzen nicht dem Wirtschaftsleben zuzurechnen ist. Auch wenn der Sportler selbst keine Unternehmenseigenschaft besitzt, kann das Kartellrecht hier erhebliche Bedeutung haben, soweit die Leistungserbringer für den Amateursport, also private Sporteinrichtungen, Vereine und Verbände, die auch im Amateurbereich Wettkämpfe veranstalten, die Unternehmenseigenschaft besitzen. Amateursport in diesem Sinn ist auch nicht stets mit Breitensport gleichzustellen, da je nach den Umständen des jeweiligen Sports auch Spitzensportler als echte Amateure tätig werden können. In Randsportarten und höheren Altersklassen können selbst die Athleten der Weltspitze durchaus als Amateure anzusehen sein.10 3. Privatwirtschaftliche Sporteinrichtungen Unproblematisch ist die Unternehmenseigenschaft zunächst für Sporteinrichtungen, die in privatwirtschaftlicher Form Leistungen für Amateursportler anbieten. Derartige Leistungen haben erhebliche wirtschaftliche Bedeutung und können sowohl die Nutzung der Sportanlage als auch Trainerleistungen umfassen. In Betracht kommen daher nicht nur private Sportschulen, die in der Regel beide Aspekte zusammen verkaufen, sondern auch Fitnessstudios, Kletterhallen, Tennisanlagen oder Fußballhallen, sowie professionelle Trainer. Da alle derartigen Leistungen entgeltlich am Markt angeboten werden, sind die privaten Anbieter natürlich auch kartellrechtlich als Unternehmen anzusehen.
10 So etwa im Sachverhalt der Entscheidung OLG Düsseldorf NZKart 2018, 99 (wo es um die Disqualifikation und Aberkennung des Weltmeistertitels der Senioren-WM bei „AmateurBridgespielern“ ging).
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4. Sportvereine Die als Idealvereine organisierten Sportvereine bieten grundsätzlich vergleichbare Leistungen wie die privatwirtschaftlichen Einrichtungen an, mit denen sie häufig auch in einem Wettbewerbsverhältnis stehen. Unterschiede bestehen allerdings insoweit, als die Vereine regelmäßig keine Gewinnerzielungsabsicht haben, sondern das Idealziel der Förderung der Sportausübung verfolgen, die Leistungen grundsätzlich nur aufgrund eines Mitgliedschaftsverhältnisses in Anspruch genommen werden können und die Finanzierung der Leistungen überwiegend nicht durch leistungsbezogene Entgelte, sondern durch Mitgliedsbeiträge erfolgt. Für den Unternehmensbegriff sind diese Unterschiede indes als irrelevant anzusehen. Wie bereits angesprochen setzt die Unternehmenseigenschaft zunächst keine Gewinnerzielungsabsicht voraus11, sondern nur eine wirtschaftliche Tätigkeit – auch wenn diese letztlich nur der Verfolgung von Idealzwecken dient. Nach der Macrotron-Formel ist ferner der Unternehmensbegriff unabhängig von der „Art der Finanzierung“ der Leistungen,12 so dass eine Finanzierung durch Mitgliederbeiträge anstelle von Austauschverträgen nicht gegen die Unternehmenseigenschaft spricht. In Betracht käme lediglich, im Rahmen des relativen Unternehmensbegriffs zwischen Leistungen, die am Markt für jedermann angeboten werden, und der Leistungserbringung aufgrund der Mitgliedschaft zu differenzieren. Denkbar wäre es, im letztgenannten Kontext eine nicht-wirtschaftliche, da nicht marktbezogene Tätigkeit anzunehmen, ist doch einerseits der Empfängerkreis geschlossen und sind andererseits die Leistungen in der Mitgliedschaft enthalten und für sich betrachtet mithin nicht (gesondert) entgeltlich. Daher ist die Kommission in einem beihilferechtlichen Kontext, wo im Rahmen des Art. 107 AEUV grundsätzlich derselbe funktionale Unternehmensbegriff wie im Kartellrecht gilt,13 davon ausgegangen, dass „die Ausübung von Amateursport in einem gemeinnützigen Verein“ keine wirtschaftliche Tätigkeit sei und daher auch der Betrieb eines nur hierfür sowie für Zwecke der schulischen Bildung genutzten Sportcamps keinen solchen Charakter habe.14 Indes ist diese Sichtweise auch in der beihilferechtlichen Praxis nicht gefestigt. Die von der Kommission zitierte eigene Beihilfeentscheidung Hungarian Tax
11
EuGH EuZW 2006, 306 (Tz. 119 ff.) – Sparkasse Florenz. EuGH NJW 1991, 2891 (Tz. 21) – Macrotron/Höfner und Elser. 13 EuGH ECLI:EU:C:2006:197 = BeckRS 2006, 70228 (Tz. 28) – Enirisorse/Sotacarbo (wo im beihilferechtlichen Kontext auf die „Macrotron“-Formel verwiesen wird); Mestmäcker/Schweitzer, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, Bd. 3, 5. Aufl. 2016, Art. 107 AEUV Rn. 11. 14 Kommission, Entscheidung v. 9. 8. 2016, SA.43983 (Tz. 24) – BLSV Sportcamp Nordbayern; dazu: Fischer, npor 2017, 140. 12
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Scheme trifft schon gar keine Aussage zum Ausschluss des Amateursports.15 Die Entscheidung zu den Kletterzentren des Deutschen Alpenvereins ist zwar durchaus einschlägig und differenziert zwischen der Leistungserbringung nur für Mitglieder und für die „allgemeine Öffentlichkeit“, wobei die Kommission die Leistungserbringung nur für Mitglieder nicht als wirtschaftliche Tätigkeit ansehen will. 16 Da das Maß der Nutzung durch Nicht-Mitglieder indes nicht bewiesen war, hat die Kommission die Unternehmenseigenschaft hier unterstellt, so dass die Frage nicht entscheidungserheblich war. Auch das EuG hat in dem Sachverhalt anschließend die Unternehmenseigenschaft der DAV-Kletterzentren nicht problematisiert.17 In der Sache ist eine solche Einschränkung des Unternehmensbegriffs nicht angezeigt. Im beihilferechtlichen Kontext verengt sich der Blick auf die konkret subventionierte Maßnahme, also die bezuschusste Einrichtung, die den Mitgliedern im Anschluss zur Verfügung stehen soll, ohne aber den Markt für die Mitgliedschaft in den Blick zu nehmen. Auch wenn die Leistungserbringung für die Mitglieder nicht über den Markt erfolgt, lässt sie sich doch nicht von der Mitgliedschaft selbst trennen. Diese stellt letztlich ein nur zivilrechtlich anders gestaltetes Austauschverhältnis dar, durch das jedes Mitglied ein Leistungsbündel erwirbt (Nutzung von Einrichtungen, Teilnahme am Trainingsbetrieb, Zugang zu Wettkämpfen und darauf bezogene Organisationsleistungen, Repräsentation in Verbandsgremien). Wirtschaftlich entspricht die Mitgliedschaft daher den vertraglichen Dauerschuldverhältnissen, die in der Regel Grundlage der Kundenbeziehung zu privaten Sporteinrichtungen sind (und dort auch häufig untechnisch als „Mitgliedschaft“ bezeichnet werden). Insoweit lässt sich auch der Marktbezug nicht bestreiten, ist doch der Sportverein als Anbieter auf dem Markt für derartige sportbezogenen Leistungsbündel tätig und steht dabei im Wettbewerb nicht nur mit den privaten Anbietern, sondern auch (und vor allem) mit anderen Sportvereinen. Diese Sichtweise mag dem hergebrachten Verständnis der Idealvereine als außerhalb des Wirtschaftslebens stehenden, dem sozialen Miteinander verpflichteten Einrichtungen widersprechen.18 Sie spiegelt indes die Realität eines zunehmend profes15 Vgl. Kommission, Entscheidung v. 9. 11. 2011, SA.3122 (Tz. 74) – Hungarian Tax Scheme („sport clubs shall be considered undertakings to the extent they carry out economic activities“). 16 Kommission, Entscheidung v. 5. 12. 2012, SA.33952 (Tz. 47) – Kletterzentrum des DAV; ebenso in Kommission, Entscheidung v. 11. 6. 2014, SA.33575 (Tz. 41 ff.) – Tschechische Republik. 17 EuG SpuRt 2016, 202; dazu Streinz, SpuRt 2018, 45; Vedder, SpuRt 2016, 204. 18 Summerer, in: Fritzweiler/Pfister/Summerer, Praxishandbuch Sportrecht, 4. Aufl. 2020, Kap. 1 Rn. 244, sieht dagegen eine wettbewerbsrechtliche „Sonderstellung des organisierten nicht-kommerziellen Sports“, da Art. 165 AEUV „die Arbeit gemeinnütziger Sportvereine als Teil der Daseinsvorsorge“ anerkenne. Diese Auffassung kann indes nicht zur Verengung des Unternehmensbegriffs führen, da auch die Leistungen der Daseinsvorsorge gerade von Unternehmen erbracht werden und Durchbrechungen der Wettbewerbsregeln nur unter den engen
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sionalisierten Breitensportmarktes wider, auf dem die Sportvereine auf vielen Gebieten zunehmend in Konkurrenz zu kommerziellen Anbietern stehen und nicht nur ihre (zunehmend professionalisierten) Strukturen, sondern auch ihr Leistungsspektrum an dieser Konkurrenzsituation ausrichten. Vereinssport ist nicht mehr nur auf Mannschaftstraining oder zumindest die Bildung stabiler sozialer Gruppen ausgerichtet, sondern umfasst immer mehr Angebote für Individualsport oder zeitlich begrenzte Kursangebote. Ein Blick in die Sportstrukturen der Stadt Erlangen belegt dies: Vereine wie der TV 1848 Erlangen mit ca. 7500 Mitgliedern, einem eigenen Fitnessstudio und einem umfangreichen Kursangebot für Gesundheitssport, oder die Sektion Erlangen des Deutschen Alpenvereins mit 10.000 Mitgliedern, umfangreichen Boulder- und Kletteranlagen im Innen- wie im Außenbereich und entsprechendem Kursangebot, erfordern nicht nur eine professionelle Verwaltung, sondern stehen auch in Bezug auf ihre Angebote in einem direkten Wettbewerb zu den privatwirtschaftlichen Fitnessstudios, Boulder- und Kletterhallen. Sie durch eine enge Auslegung des Unternehmensbegriffs gleichwohl von der Anwendung des Kartellrechts auszunehmen, soweit sie ihre Leistungen nur für ihre Mitglieder anbieten, würde der wirtschaftlichen Situation nicht gerecht. Auch für mitgliederbezogene Amateursportangebote sind die Idealvereine mithin als Unternehmen im Sinne des Kartellrechts anzusehen. 5. Verbände Auch in Bezug auf die Sportverbände ist zwischen verschiedenen Tätigkeiten zu differenzieren, also eine unternehmerische von einer nicht-unternehmerischen Sphäre abzugrenzen. Neben den hier nicht zu betrachtenden Aktivitäten im Bereich des Profisports sind als unternehmerisch jedenfalls die Tätigkeiten als wirtschaftlich anzusehen, die der gemeinsamen Verwertung von Amateursportwettkämpfen dienen.19 Soweit es dagegen um die reine Interessenvertretung der Amateursportler im sportpolitischen Bereich geht, liegt ebenso eindeutig keine wirtschaftliche Tätigkeit vor. Im Amateursport ist die Funktion der Sportfachverbände (im Gegensatz zu den allgemeinen Sportverbänden wie dem DSB, deren Mitglieder selbst die Sportfachverbände sind) regelmäßig die Veranstaltung und Organisation des Wettkampfbetriebs für die Angehörigen der Mitgliedsvereine. Insoweit stellt sich ebenfalls die Frage, ob es sich um eine wirtschaftliche Tätigkeit handelt. Die Finanzierung derartiger Leistungen erfolgt aus den Mitgliedsbeiträgen der Mitgliedsvereine, sowie aus den von den Sportlern erhobenen Teilnahmegebühren. Es handelt sich also um eine organisatorische Dienstleistung, für die direkt (durch eine Teilnahmegebühr) oder indirekt (durch den Anteil der Mitgliederbeiträge im verbandsangehörigen Verein, Voraussetzungen des Art. 106 Abs. 2 AEUV zulässig sind, vgl. hierzu näher: Emmerich/ Hoffmann, in: Dauses/Ludwigs, HdB des EU-Wirtschaftsrechts, H II. Rn. 137 ff. 19 Wie etwa die gemeinsame Verwertung der Bildrechte an Amateurfußballspielen, die den Hintergrund der lauterkeitsrechtlichen Entscheidung BGH NJW 2011, 1811 – hartplatzhelden.de, bildete.
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der an den Verband abgeführt wird) ein Entgelt erhoben wird. Sie unterscheidet sich von einer privatwirtschaftlich organisierten Wettkampfveranstaltung durch die fehlende Gewinnerzielungsabsicht des nur Idealzwecken dienenden Verbandes, sowie durch das indirekte Mitgliedschaftsverhältnis der Wettkampfteilnehmer, die regelmäßig nur bei Mitgliedschaft in einem verbandsangehörigen Verein teilnahmeberechtigt sind. Insoweit ist die Situation nicht anders als in Bezug auf die Vereine selbst, wurde doch in diesem Kontext gezeigt, dass weder die fehlende Gewinnerzielungsabsicht noch die Leistungserbringung nur für Mitglieder der Unternehmenseigenschaft entgegensteht. Für die hier interessierenden Wettkämpfe, die für mittelbare Mitglieder (Mitglieder von verbandsangehörigen Vereinen) organisiert werden, kann nichts anderes gelten. Zwar könnte man argumentieren, dass hier – anders als auf der Vereinsebene – kein Marktbezug vorliegt, da der Amateursport typischerweise in einheitlichen Verbänden organisiert ist („Ein-Platz-Prinzip“20), der durch die Aufnahme immer nur eines regionalen Verbandes in den Verband der nächsthöheren Organisationsebene sowie die Dachverbände abgesichert wird. Man könnte also meinen, die Teilnahme an den Wettkämpfen höherer Ebene setze die Mitgliedschaft im Monopolverband voraus, so dass die Leistungen nicht im Wettbewerb erbracht würden und mithin auch keinen Marktbezug hätten. Indes würde diese Argumentation bedeuten, dass die künstliche, private Monopolisierung eines Wirtschaftsbereichs zum Wegfall der kartellrechtlichen Bindungen durch Verengung des Unternehmensbegriffs führen würde. Es ist evident, dass das nicht zutrifft, und auch für den Profisport (wo grundsätzlich dieselbe Monopolstruktur besteht) ist die Unternehmenseigenschaft der Verbände allgemein anerkannt.21 Entscheidend ist für den wirtschaftlichen Charakter einer Tätigkeit, wie spätestens seit der Macrotron-Entscheidung des EuGH22 klar ist, dass sie auch im Wettbewerb erbracht werden könnte, was bei sportlichen Wettkämpfen zweifelsfrei der Fall ist. Neben der eigenen Unternehmenseigenschaft der Verbände ist daran zu erinnern, dass – wie gezeigt (oben II.4.) – auch die in ihnen organisierten Vereine für ihre Tätigkeit im Amateursport als Unternehmen anzusehen sind. Hieraus folgt, dass die Verbände zugleich als Unternehmensvereinigungen anzusehen sind. Die Verbände sind daher nicht nur selbst Normadressaten, sondern auch Instrumente der Verhaltensabstimmung der in ihnen organisierten Vereine, soweit in den Gremien Beschlüsse mit wettbewerbsbeschränkendem Charakter gefasst werden.
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Hierzu näher: Pfister/Fritzweiler, in: Fritzweiler/Pfister/Summerer, Praxishandbuch Sportrecht (o. Fn. 18), Einf Rn. 15 ff.; Korff, Sportrecht, 2014, S. 12 f. 21 Summerer, in: Fritzweiler/Pfister/Summerer, Praxishandbuch Sportrecht (o. Fn. 18), Kap. 1 Rn. 190. 22 EuGH NJW 1991, 2891 – Macrotron/Höfner und Elser.
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III. Konsequenzen und beispielhafte Fallkonstellationen 1. Überblick Konsequenz der Unternehmenseigenschaft von Vereinen und Sportfachverbänden ist die grundsätzliche Anwendbarkeit des Kartellrechts auch für Tätigkeiten im Bereich des Amateursports. Die möglichen Anwendungsfelder können hier nicht umfassend erörtert werden, vielmehr soll lediglich beispielhaft gezeigt werden, dass auch im Amateursport ein Anwendungsbereich für die Verbotstatbestände besteht. Damit ist indes noch nicht gesagt, dass diese Verhaltensweisen tatsächlich gegen das Kartellrecht verstoßen, bedarf es doch zusätzlich auch im Bereich des Amateursports der Prüfung, ob nach den Meca-Medina-Grundsätzen23 hierdurch legitime Zwecke verfolgt werden (dazu sogleich IV.). Zu unterscheiden ist zwar grundsätzlich zwischen dem Missbrauchsverbot (Art. 102 AEUV, §§ 19 ff. GWB) und dem Kartellverbot (Art. 101 AEUV, § 1 GWB). Die hier betroffenen Verhaltensweisen stehen indes häufig an der Schnittstelle beider Normbereiche und können im Einzelfall an beiden Verboten zu messen sein. Denn im Fokus stehen – ebenso wie im Profisport – die auf Verbandsebene getroffenen Regelungen. Diese sind einerseits dem aufgrund des „Ein-Platz-Prinzips“ regelmäßig marktbeherrschenden Sportfachverband mit eigener Unternehmenseigenschaft als einseitige Maßnahme zuzurechnen und unterliegen daher dem Missbrauchsverbot. Andererseits beruhen sie aber auf einer Beschlussfassung in den Verbandsgremien, die von den in dem Verband organisierten Vereinen ausgeht. Als Beschlüsse einer Unternehmensvereinigung dienen sie auch der Verhaltensabstimmung und unterliegen mithin zugleich dem Kartellverbot. 2. Bewahrung des „amateurism“ Als problematisch können sich vor diesem Hintergrund vor allem Regelungen darstellen, die das Wettbewerbsverhalten auf dem Markt für Amateursportleistungen abstimmen, oder solche, die eine Behinderung privatwirtschaftlicher Wettbewerber bewirken. Die Abstimmung von Wettbewerbsparametern kann sich auf die Höhe der von den Sportlern zu zahlenden Mitgliedsbeiträge beziehen, aber auch auf die Vergütung von Leistungen. So wären etwa Verbandsbeschlüsse (sei es als verbindliche Regelung oder als Empfehlung) über die Vergütungshöhe freiberuflicher Trainerleistungen ebenso als Preiskartelle anzusehen wie die Harmonisierung und Begrenzung der zulässigen Zahlungen an Amateursportler. Letzteres kann vor allem Regelungen zur Bewahrung des Amateurstatus betreffen, indem die Startberechtigung bei Wettkämpfen davon abhängig gemacht wird, dass der Sportler keine seinem Amateurstatus widersprechende Zahlungen erhält. Derartige Beschränkungen haben im US-amerikanischen College-Sport eine lange Tradition, um den dort verankerten „amateurism“ zu bewahren, ohne den das Publikum an23
EuGH EuZW 2006, 593 – Meca-Medina.
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geblich das Interesse an den Wettkämpfen verlieren soll. Konsequenz ist, dass die Vergütung der Sportler durch Verbandsregelung auf ein Ausbildungsstipendium begrenzt wird, obwohl durch die Vermarktung der Wettkämpfe (insbesondere im Football und Basketball) Umsätze generiert werden, die mit denen in Profiligen vergleichbar sind. Die grundsätzliche Nähe zum Profisport zeigt auch die Tatsache, dass die Vergütung der von den Amateurisierungsregeln nicht betroffenen Trainer die in den Profiligen übliche Größenordnung erreicht.24 Diese Verbandsregelungen des College-Verbandes NCAA sind auch nach US-amerikanischem Antitrustrecht nicht unproblematisch.25 Obwohl der Supreme Court in der Entscheidung NCAA v. Board of Regents of the Univ. of Oklahoma26 bereits 1984 grundsätzlich die Zulässigkeit von Absprachen zum Schutz des besonderen Charakters des Collegesports anerkannt hatte,27 war und ist die zulässige Reichweite der Vergütungsbegrenzungen Gegenstand verschiedener Verfahren28 unter dem Sherman Act. Dabei sind insbesondere die Begrenzung ausbildungsorientierter Leistungen der Colleges (mit der Folge der Zulässigkeit von Stipendien, die die gesamten Ausbildungskosten decken,29 sowie weiterer „education-related benefits“ und innerhalb gewisser Grenzen „academic or graduation awards or incentives“, also an den Ausbildungserfolg geknüpfter Prämienzahlungen30) sowie die unentgeltliche Nutzung der Persönlichkeitsrechte (Bild- und Namensrechte) durch die NCAA31 als kartellrechtswidrig („unreasonable restraint of trade“) angesehen worden. Eine endgültige Klärung durch den U.S. Supreme Court steht noch aus.32 Bemerkenswert ist aber, dass 24 Die bestbezahlten Head Coaches in NCAA Division I Football (Nick Saban, University of Alabama) und Basketball (John Calipari, University of Kentucky) verdienen erfolgsabhängig bis zu 9 Mio. US-$ jährlich. 25 Aus dem jüngeren Schrifttum vgl. etwa Baker/Brison, 26 Marquette Sports L. Rev. 331 (2016); Schwarz/Volante, 26 Marquette Sports L. Rev. 391 (2016); O’Toole, 123 Penn State L. Rev. 247 (2018); Boninger, 65 UCLA L.Rev. 754 (2018). 26 468 U.S. 85 (1984). 27 Insbesondere 468 U.S. 101 f.: „Moreover, the NCAA seeks to market a particular brand of football – college football. The identification of this „product“ with an academic tradition differentiates college football from and makes it more popular than professional sports to which it might otherwise be comparable (…). In order to preserve the character and quality of the ,product‘ athletes must not be paid, must be required to attend class, and the like. (…) Thus, the NCAA plays a vital role in enabling college football to preserve its character (..). In performing this role, its actions widen consumer choice (…) and hence can be viewed as procompetitive.“ 28 O’Bannon v. NCAA (O’Bannon II), 802 F.3d 1049 (9th Cir. 2015); In Re NCAA Athletic Grant – in – Aid Cap Antitrust Litigation, C.App. 9th Cir. No. 19 – 15566 (2020); Vorinstanz: 375 F.Supp. 3d 1058 (N.D.Cal. 2019). 29 O’Bannon v. NCAA (O’Bannon II), 802 F.3d 1049 (9th Cir. 2015). 30 In Re NCAA Athletic Grant – in – Aid Cap Antitrust Litigation, C.App. 9th Cir. No. 19 – 15566 (2020). 31 O’Bannon v. NCAA (O’Bannon II), 802 F.3d 1049 (9th Cir. 2015). 32 Den Fall O’Bannon II hatte der Supreme Court 2016 nicht zur Entscheidung angenommen (certiorari denied), der Fall In Re NCAA Athletic Grant – in – Aid Cap Antitrust Litigation
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das grundsätzliche Vergütungsverbot (also der Zahlung nicht ausbildungsorientierter Geldleistungen) von den Gerichten bislang im Rahmen der „rule of reason“ als zulässig angesehen wurde. Dieses habe insoweit wettbewerbsfördernde Effekte, als die Bewahrung des Amateurstatus die Wahlmöglichkeiten der Verbraucher durch die Aufrechterhaltung der Unterscheidung zwischen College- und Profisport vergrößere.33 Diese Sicht bewirkt, dass es in den gerichtlichen Auseinandersetzungen nur um den Umfang von im Rahmen des Amateurstatus zulässigen Vergütungen geht, nicht um die Zulässigkeit des „amateurism“ insgesamt. Unter dem deutschen und europäischen Recht wären derartige Vergütungsgrenzen und -verbote unzweifelhaft als wettbewerbsbeschränkende Beschlüsse anzusehen, die grundsätzlich den Tatbestand der Art. 101 AEUV, § 1 GWB erfüllen. Die mit der „rule of reason“ verbundene Abwägung ist dem europäischen und deutschen Recht in dieser Form bekanntlich fremd. Erwägungen wie ein besonderes Publikumsinteresse an Amateursportveranstaltungen können aber im Rahmen der Prüfung legitimer Zwecke unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Sports und ggf. im Rahmen von Art. 101 Abs. 3 AEUV, § 2 GWB berücksichtigt werden (dazu unten IV.). Unbedenklich sind dagegen Regelungen, die bei wirtschaftlicher Betrachtung Vergütungen nicht begrenzen oder verbieten, sondern lediglich die zutreffende Ausgestaltung des Status des Sportlers verlangen. So definiert § 8 der Spielordnung des DFB, dass eine Teilnahme am Spielbetrieb als Amateurspieler (der nur Aufwendungsersatz bis max. 250 E monatlich erhält), als Vertragsspieler oder als Lizenzspieler möglich ist und verbietet in § 24 weitergehende Zahlungen an Amateurspieler als unsportliches Verhalten. Letztere Regelung bedeutet aber nur, dass bei beabsichtigten Zahlungen zunächst der Status des Vertragsspielers zu erwerben ist und das dazu vorgesehene Verfahren einzuhalten ist, was insbesondere den Abschluss eines schriftlichen Arbeitsvertrags voraussetzt und der Kontrolle der Einhaltung steuer-, sozialversicherungs- und aufenthaltsrechtlicher Pflichten dient (§ 8 Nr. 2, § 10 2.6, § 25 der Spielordnung des DFB). Als Vertragsspieler wird der Sportler in keiner Form vom Spielbetrieb ausgeschlossen, sondern kann auf jeder Ebene ebenso wie ein Amateur teilnehmen. Die Regelung sichert also nicht den Amateurstatus ab, um den Betroffenen eine mögliche höhere Vergütung vorzuenthalten, sondern dient nur der verbandsrechtlichen Absicherung der mit der Arbeitnehmereigenschaft verbundenen Pflichten. Beschränkungen der Spielberechtigung im Amateurbereich sieht die Spielordnung dagegen nur für die Lizenzspieler des Profi-Spielbetriebs der DFL vor, um Wettbewerbsverzerrungen in den Ligen der 2. Mannschaften der Profivereine zu vermeiden. Insoweit dürfte schon keine Wettbewerbsbeschränkung vorliegen, da Vergütungsfragen hiervon nicht betroffen werden – und auch wenn man dies anders sehen wollte, wäre der legitime Zweck (dazu unten IV.) der Verhinderung von wurde am 16. Dezember 2020 vom Supreme Court zur Entscheidung angenommen (certiorari granted). 33 So ausdrücklich In Re NCAA Athletic Grant – in – Aid Cap Antitrust Litigation, C.App. 9th Cir. No. 19 – 15566 (2020).
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Wettbewerbsverzerrungen im niederklassigen Spielbetrieb kaum zu bezweifeln. Anders als bei den „amateurism“-Regeln der NCAA geht es hier also nicht um das Verbot von Zahlungen an die Sportler und den damit verbundenen Ausschluss aller Nicht-Amateure vom Spielbetrieb des Verbands. 3. Genehmigungsregelungen bezüglich der Teilnahme an konkurrierenden Veranstaltungen Der Anwendungsbereich des Kartell- und Missbrauchsverbots kann ferner in Bezug auf Beschlüsse und Maßnahmen eröffnet sein, die das Wettbewerbsverhältnis zu nicht verbandsangehörigen, insbesondere privatwirtschaftlichen Sporteinrichtungen betreffen. In Betracht kommen insoweit vor allem die Behinderung privater Sportwettkampfveranstaltungen sowie der Ausschluss von Kunden der privatwirtschaftlichen Sporteinrichtungen von Verbandswettkämpfen. Die Problematik der Behinderung privater Sportwettkämpfe ist bislang häufig im Bereich des Profisports aufgetreten, wo die in Verbandsregelwerken verbreiteten Genehmigungsklauseln im Fokus stehen. Danach bedarf es einer Genehmigung konkurrierender Wettkämpfe durch den Verband, wobei den (als mittelbaren Mitgliedern) verbandsangehörigen Sportlern die Teilnahme an nicht genehmigten Veranstaltungen verboten ist und bei Zuwiderhandlung Strafen wie eine Sperre für die Verbandswettkämpfe zu befürchten sind. Kartellrechtlich liegt insoweit eine Würdigung anhand der Art. 102 AEUV, § 19 GWB nahe, wenn das Genehmigungserfordernis durch den marktbeherrschenden Verband zur Behinderung konkurrierender Anbieter missbraucht wird. Die Kommission hatte im Jahr 2017 dagegen die Genehmigungsregelung und ihre diskretionäre Anwendung am Kartellverbot (Art. 101 AEUV) gemessen, sie also als wettbewerbsbeschränkenden Beschluss einer Unternehmensvereinigung angesehen. Der gegenständliche Genehmigungsvorbehalt der Internationalen Eislauf-Union (ISU) wurde dabei mangels Festlegung der Kriterien für die Verweigerung der Genehmigung als kartellrechtswidrig bewertet. Nach dieser Entscheidung sind Genehmigungsklauseln nur zulässig, wenn für die Erteilung der Genehmigung „klare, objektive, transparente und diskriminierungsfreie Kriterien“ gelten.34 Verbandsrechtliche Genehmigungsklauseln haben auch im Bereich des Amateursports große Bedeutung. Beispielsweise sieht § 33 Abs. 2 der Spielordnung des DFB vor, dass alle Mitglieder von DFB-angehörigen Vereinen für die Mitwirkung an Spielen oder „fußballsportähnlichen Wettbewerben“ der Genehmigung bedürfen, die zu versagen ist, wenn die Veranstaltung nicht den (sehr umfangreichen) Durchführungsbestimmungen zur Spielordnung entspricht. Da auch die Veranstaltung amateursportlicher Wettkämpfe als wirtschaftliche Betätigung anzusehen ist, können die 34 Kommission, Beschluss v. 8. 12. 2017, Sache AT.40208 – ISU, Zusammenfassung in Abl.EU 2018, C 148/9 (Tz. 21); dazu näher Heermann, WuW 2018, 550; insoweit bestätigt durch EuG NZKart 2021, 111.
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von der Kommission im ISU-Fall anerkannten Anforderungen insoweit übertragen werden. Zwar wird bezüglich des Zugangs zu Veranstaltungen des Amateursports regelmäßig die Zwischenstaatlichkeit fehlen,35 so dass insoweit nur das GWB anzuwenden ist. Da das Kartellverbot des deutschen und europäischen Rechts indes einheitlich ausgelegt wird, können die unter Art. 101 AEUV anerkannten Grundsätze gleichwohl übertragen werden. Soweit mithin die betroffenen Verbandsregelwerke die Kriterien für die Erteilung der Genehmigung nicht regeln, verstoßen sie schon unabhängig von der tatsächlichen Anwendungspraxis gegen das Kartellverbot und sind damit als nichtig (§ 134 BGB i. V. m. § 1 GWB) anzusehen, andernfalls kommt es darauf an, ob legitime Zwecke verfolgt werden (unten IV.). Für die Frage, ob zugleich ein Missbrauch durch den marktbeherrschenden Verband i. S. v. § 19 GWB vorliegt, wird man hingegen auf die konkrete Ausübung der Genehmigungspraxis abzustellen haben, da eine Behinderungswirkung nur bei Verweigerung besteht. 4. Mitgliedschaftserfordernis für die Teilnahme am Wettkampfbetrieb Eine Behinderung von Wettbewerbern, insbesondere nicht verbandsangehöriger privatwirtschaftlicher Sporteinrichtungen, kann ferner von dem Erfordernis ausgehen, für die Teilnahme an Verbandswettkämpfen Mitglied eines verbandsangehörigen Vereins zu sein. Derartige Regelungen sind im Amateursport weit verbreitet und finden sich etwa in § 10 der Spielordnung des DFB, in 3.4.1 lit. a der Wettkampfordnung des Deutschen Judo-Bundes, in §§ 24, 25 der Sportordnung des Deutschen Fechter-Bundes,36 in 2.11 lit. b des Nationalen Regelwerks Klettern des Deutschen Alpenvereins oder § 4 der Spielordnung des Deutschen BadmintonVerbandes. Für privatwirtschaftliche Wettbewerber der verbandsangehörigen Vereine, etwa Sportschulen, bedeutet dies, dass sie ihren Kunden die Teilnahme nicht ermöglichen können. Die Kunden müssen daher zum Erwerb der Startberechtigung parallel Mitglieder in einem verbandsangehörigen Verein werden und somit Mitgliedsbeiträge bezahlen, also den Sportbetrieb eines Konkurrenten des privaten Anbieters mitfinanzieren. Es ist evident, dass hier die Marktmacht des Verbandes eingesetzt wird, um in das Wettbewerbsverhältnis zwischen Vereinen und privatwirtschaftlichen Anbietern einzugreifen und letztere in Bezug auf ihre Marktchancen zu behindern – da der wettkampforientierte Amateursportler in jedem Fall den Vereinsbeitrag bezahlen muss, kann er sich nur für die Leistungen des privaten Anbieters entscheiden, wenn er bereit ist, zwei Beiträge für vergleichbare Leistungen zu bezahlen. Diese Behinderung der Wettbewerbschancen der Drittanbieter zugunsten der eigenen Mitgliedsvereine kann einerseits als missbräuchlich im 35 Zu den Anforderungen der Zwischenstaatlichkeitsklausel statt vieler: Hoffmann, in: Dauses/Ludwigs, HdB des EU-Wirtschaftsrechts, H. I. § 1 Rn. 34 ff. 36 Zwar ermöglicht § 20 der Sportordnung die Ablegung der Turnierreifeprüfung für Nichtmitglieder, nicht aber auch die Teilnahme an fechtsportlichen Veranstaltungen des DFechtB.
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Sinne des § 19 GWB zu bewerten sein, und beruht andererseits auf einem Beschluss des Verbandes als Unternehmensvereinigung, so dass man derartige Regelungen (ebenso wie das Genehmigungserfordernis, dazu soeben III.3.) als Wettbewerbsbeschränkungen zugleich am Kartellverbot zu messen hat. Damit ist indes noch nicht gesagt, dass die Regelungen tatsächlich kartellrechtswidrig sind, vielmehr ist zusätzlich zu prüfen, ob sie durch legitime Zwecke unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Sports gedeckt sind. IV. Legitime Zwecke im Amateursport 1. Überblick Seit der Meca-Medina-Entscheidung des EuGH37 ist anerkannt, dass sportverbandsrechtliche Regelungen, die grundsätzlich wettbewerbsbeschränkenden Charakter haben, nicht gegen das Kartellverbot verstoßen, wenn sie in ihrem Gesamtzusammenhang der Verfolgung legitimer Zwecke dienen, die wettbewerbsbeschränkenden Wirkungen notwendig mit der Verfolgung dieser Ziele zusammenhängen und im Hinblick auf diese Ziele verhältnismäßig sind.38 Zwar hat der EuGH dies nur für Art. 101 AEUV anerkannt, im Rahmen von Art. 102 AEUV können derartige legitime Zweck aber bereits im Rahmen der Missbrauchsprüfung berücksichtigt werden: Grundsätzlich handelt nicht missbräuchlich, wer legitime Zwecke verfolgt und sich im Rahmen der Verhältnismäßigkeit bewegt. Da sich die hier interessierenden Verbandsregelungen an der Schnittstelle von Kartell- und Missbrauchsverbot bewegen, sollten insoweit auch keine unterschiedlichen Maßstäbe angelegt werden. In Bezug auf die anzuerkennenden legitimen Zwecke ist Art. 165 Abs. 2 AEUV zu beachten, der bei der Anwendung des Unionsrechts die Berücksichtigung der besonderen Merkmale des Sports, insbesondere seiner sozialen Funktion, verlangt. Die Anerkennung der Legitimität eines verfolgten Zwecks enthält eine Abwägung, in deren Rahmen gerade beim Amateursport die Integration in die Gesellschaft (insbesondere nach unionsinterner Migration) als soziale Funktion einzustellen ist.39 Verbandsmaßnahmen, die zu Integrationshindernissen führen, werden daher in ihrem Gesamtzusammenhang regelmäßig nicht als legitimen Zwecken dienend anzusehen sein. Gleichwohl anzuerkennen sind Zwecke wie der Gesundheitsschutz der Sportler sowie die Bewahrung der Integrität des Sports, so dass insbesondere die Verhängung von Dopingstrafen im Rahmen der Verhältnismäßigkeit kartellrechtskonform möglich ist.40 Eindeutig nicht als legitimer Zweck anzuer37
EuGH EuZW 2006, 593 – Meca-Medina. Grundlegend EuGH EuZW 2006, 593 (Tz. 42) – Meca-Medina. 39 In diesem Sinne EuGH SpuRt 2019, 169 (Tz. 33 f.) – Biffi (im Zusammenhang mit den Grundfreiheiten). 40 EuGH EuZW 2006, 593 – Meca-Medina. 38
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kennen ist dagegen die Verfolgung der ökonomischen Eigeninteressen des Verbandes und seiner Mitgliedsvereine.41 Soweit eine Maßnahme also wirtschaftlich motiviert ist, scheidet eine Anwendung der Meca-Medina-Grundsätze aus. 2. Bewahrung des „amateurism“ Vor diesem Hintergrund kann diskutiert werden, in welchen Grenzen die verschiedenen, unter III. dargestellten Beschränkungen im Amateursport zulässig sein können. Für Regelungen zum Schutz des „amateurism“ nach dem Vorbild des US-amerikanischen Collegesports ist das Fehlen einer in diesem Sinn legitimen Zwecksetzung leicht erkennbar. Denn der Hauptzweck dieser Regelungen – neben der besseren Integration der Sportler in das Campusleben – ist die Aufrechterhaltung des Zuschauerinteresses an den Collegewettbewerben. Da dieses Interesse die Voraussetzung der ökonomischen Verwertung der Veranstaltungen ist, verfolgen die Regelungen mithin den Hauptzweck des Schutzes der wirtschaftlichen Eigeninteressen der NCAA und ihrer Mitgliedscolleges. Dieser Zweck kann mithin keinesfalls den Meca-Medina-Kriterien genügen, ohne dass man auch nur die Erforderlichkeit der starken Begrenzung der Leistungen prüfen müsste. Derartige wirtschaftliche Erwägungen könnten allenfalls im Rahmen des Art. 101 Abs. 3 AEUV (bzw. § 2 GWB) zur Rechtfertigung herangezogen werden. Auch dessen Voraussetzungen dürften indes nicht vorliegen, da die Reichweite der Leistungsbegrenzung der NCAA kaum als unerlässlich anzusehen sein kann und außerdem als marktumspannende Regelung zu einem praktischen Wettbewerbsausschluss führt. Die Meca-Medina-Grundsätze können indes auf Regelungen anwendbar sein, die lediglich der Abgrenzung von Amateur- und Profisport dienen. Als ein legitimer Zweck ist unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Sports jedenfalls der Schutz der Integrität des Sports anzusehen, wozu auch die Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen dient. Soweit in einem Verband sowohl Profi- als auch Amateurstrukturen bestehen, erscheint es als legitim, Profis von bestimmten Amateurwettkämpfen auszuschließen. Bereits angesprochen (oben III.2.) wurde das für die Beschränkung des Einsatzes von Lizenzspielern in den niederklassigen Mannschaftswettbewerben der zweiten Mannschaften der Profivereine. Aber auch darüber hinaus erscheint es als legitim, den Amateurstatus verbandsrechtlich zu definieren und zu bestimmten Wettkämpfen nur Amateure zuzulassen, sofern diese neben den Profiwettbewerben stehen und somit der Verlust des Amateurstatus nicht zum Verlust der Ausübungsmöglichkeit in dem Verband führt. Die Leistungsfähigkeit von Profi- und Amateursportlern unterscheidet sich notwendigerweise, so dass ein Wettkampfbetrieb mit gleichen Chancen nur möglich ist, wenn man Profis von bestimmten Amateurveranstaltungen ausschließt. Solche Regelungen 41 Kommission, Beschluss v. 8. 12. 2017, Sache AT.40208 – ISU, Zusammenfassung in Abl.EU 2018, C 148/9 (Tz. 21).
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erscheinen gerade vor dem Hintergrund der besonderen Merkmale des Sports und seiner sozialen Funktion als legitim, wird doch durch die Trennung der Gruppen der Wettkampfbetrieb als soziales Ereignis gestärkt und ein fairer Ablauf unterstützt, indem ein „level playing field“ unter den zugelassenen Teilnehmern geschaffen wird. Gegen diesen Zweck ist auch aus kartellrechtlicher Perspektive nichts zu sagen, solange es neben dem Amateurbetrieb einen hinreichenden Profibetrieb gibt.42 3. Genehmigungsregelungen bezüglich der Teilnahme an konkurrierenden Veranstaltungen Bezüglich der Genehmigungsregelungen für verbandsfremde Veranstaltungen wurde bereits angesprochen, dass es (wie die Kommission für den Profibereich festgestellt hat) zunächst einmal erforderlich ist, dass für die Erteilung der Genehmigung „klare, objektive, transparente und diskriminierungsfreie Kriterien“ gelten.43 Danach können die Meca-Medina-Grundsätze also nur angewendet werden, wenn der Verband ex ante offenlegt, anhand welcher Kriterien die Genehmigung versagt werden kann. Diese Kriterien müssen darüber hinaus inhaltlich der Verfolgung legitimer Zwecke dienen – auch eine diskriminierungsfreie Behinderung aller privaten Konkurrenten zum Schutz der wirtschaftlichen Eigeninteressen des Verbandes ist zweifelsfrei kartellrechtswidrig. Verlangt man also für die Genehmigung die Einhaltung einer Vielzahl von Regelungen, wie es insbesondere beim Verweis auf umfassende Regelungswerke für eigene Veranstaltungen der Fall ist, müssten alle darin enthaltenen Vorgaben legitimen Zwecken dienen. Schon diese Überlegungen zeigen, dass die bisherige Praxis, die von diskretionären Genehmigungsvorbehalten und der Bindung an komplexe Regelwerke (wie etwa die Gesamtheit der Durchführungsbestimmungen zur DFB-Spielordnung, dazu oben III.3.) geprägt ist, auch in Bezug auf Amateursportveranstaltungen grundsätzlich nicht als kartellrechtskonform anzusehen ist. Schon im Bereich des Profisports sind über den Schutz der Gesundheit und Sicherheit der Sportler hinaus nur wenige legitime Zwecke anzuerkennen, die es rechtfertigen könnten, die Teilnahme der verbandsangehörigen Sportler an fremden Veranstaltungen zu untersagen.44 Denn letztlich geht es bei derartigen Genehmigungsregelungen vor allem um den Schutz der wirtschaftlichen Eigeninteressen des Verbandes. Im Amateurbereich wird man inso42 Zwar steht auch der US-Collegesport neben professionellen Sportstrukturen. Diese werden allerdings von Dritten getragen, so dass verbandsintern keine Wahlmöglichkeit besteht. Ferner besteht keine Wahlfreiheit für die Sportler, die aufgrund der Zugangsregelungen zu den professionellen Sportligen zumindest für einen bestimmten Zeitraum nach dem Schulabschluss Leistungssport faktisch nur im Collegesystem ausüben können. 43 Kommission, Beschluss v. 8. 12. 2017, Sache AT.40208 – ISU, Zusammenfassung in Abl.EU 2018, C 148/9 (Tz. 21); dazu näher Heermann, WuW 2018, 550. 44 Hierzu ausführlich Heermann, WuW 2018, 241; ders., WuW 2018, 550; ders., ZWeR 2017, 24.
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weit noch strenger sein müssen: So spielt der Schutz der Integrität des Sports, der im Profibereich mit Blick auf die reale Gefahr der Manipulation aufgrund von Sportwetten grundsätzlich anzuerkennen ist,45 bei Amateurveranstaltungen geringer Sichtbarkeit regelmäßig keine Rolle. Auch der Zweck einer Quersubventionierung des Amateursports durch die im Profisport generierten Gewinne kann (unabhängig von der ohnehin zu bezweifelnden Legitimität dieses Zwecks46) in Bezug auf Amateurveranstaltungen nicht relevant werden. Zuletzt ist auch die Durchsetzung einheitlicher Regeln für den Sport nur dann als legitimer Zweck anzusehen, wenn die Ergebnisse der privaten Sportveranstaltungen im Rahmen der Verbandswettbewerbe berücksichtigt werden sollen, etwa durch Ranglistenpunkte oder zur Erfüllung von Qualifikationsnormen.47 Hieran wird es insbesondere bei Amateurwettkämpfen in der Regel fehlen. Hinzu kommt, dass gerade bei breitensportlichen Veranstaltungen die soziale Funktion des Sports betroffen ist, für die es nicht darauf ankommt, ob der Wettbewerb von einem Monopolverband oder privatwirtschaftlich organisiert wurde. Insgesamt ist daher davon auszugehen, dass in Bezug auf amateursportliche Veranstaltungen nur wenig Raum verbleibt, um klare, objektive, transparente und diskriminierungsfreie Kriterien zu formulieren, die eine Verweigerung der Genehmigung eines konkurrierenden Wettbewerbs als legitim erscheinen ließen. Lediglich zum Schutz von Gesundheit und Sicherheit der Sportler wird man dies im Rahmen der Verhältnismäßigkeit anerkennen können. 4. Mitgliedschaftserfordernis für die Teilnahme am Wettkampfbetrieb Das Erfordernis der Mitgliedschaft in einem Mitgliedsverein für die Teilnahme an den Verbandswettbewerben scheint auf den ersten Blick von zwei legitimen Zwecken gedeckt zu sein. Einerseits ist es erforderlich, dass alle Wettkampfteilnehmer an die Verbandsregelwerke gebunden sind, was in der Regel durch die Mitgliedschaft gewährleistet wird. Denn durch die Verweisungen im Satzungsrecht der Vereine und Verbände wird üblicherweise gewährleistet, dass die Mitglieder auch an die Regelungen der übergeordneten Verbandsstrukturen gebunden werden.48 Soweit die Kosten der Organisation des Wettbewerbes vom Verband getragen und somit aus den Beiträgen der Mitglieder finanziert werden, würde andererseits die Vermeidung eines „free rider“-Effekts das Mitgliedschaftserfordernis legitimieren. Ferner wird man es als legitim anzusehen haben, einen hinreichenden Unfall- und Haftpflichtversicherungsschutz für alle Wettkampfteilnehmer sicherzustellen, was ebenfalls über das Mitgliedschaftserfordernis erfolgen kann, wenn etwa der Verband eine Gruppenversicherung für die verbandsangehörigen mittelbaren Mitglieder abgeschlossen hat. 45
Vgl. Heermann, WuW 2018, 241, 243 f. (mit Verweis auf die ISU-Entscheidung der Kommission). 46 Vgl. Heermann, WuW 2018, 241, 246, der hier mit Recht ein wirtschaftliches Eigeninteresse des Verbands annimmt. 47 Vgl. Heermann, WuW 2018, 241, 244. 48 Dazu näher: Walker, NZG 2017, 1241; Heermann, NZG 1999, 325.
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Indes genügt das Vorliegen eines solchen legitimen Zwecks nicht für sich, vielmehr muss die wettbewerbsbeschränkende Regelung für diesen Zweck auch „notwendig“ sein, also erforderlich in dem Sinn, dass keine weniger wettbewerbsschädliche Alternative zur Verfügung steht. Tatsächlich besteht eine solche Alternative indes derart, dass die erforderliche Rechtsbeziehung auch mit dem einzelnen Wettkampfteilnehmer auf vertragsrechtlicher Grundlage begründet werden kann.49 Derartige rechtsgeschäftliche Bindungen werden im Profisport regelmäßig neben einer ggf. bestehenden mittelbaren Mitgliedschaft begründet, etwa um Schiedsklauseln zu vereinbaren.50 Auch im Amateurbereich wäre es daher möglich, bei Verzicht auf das Mitgliedschaftserfordernis die erforderlichen Bindungen durch einen Teilnahmevertrag herbeizuführen. Darin könnte auch das Startgeld geregelt werden, das so zu bemessen wäre, dass die aus den Beiträgen finanzierten Organisationsleistungen des Verbandes angemessen mitgetragen werden. Im Vergleich zur Zahlung der vollen Mitgliedsbeiträge eines verbandsangehörigen Vereins und der damit verbundenen Mitfinanzierung von dessen Sportbetrieb wäre dies sicher das mildere, da das Wettbewerbsverhältnis zur privaten Sporteinrichtung unberührt lassende Mittel. Zuletzt kann auch ein hinreichender Versicherungsschutz ohne Mitgliedschaftsverhältnis sichergestellt werden, entweder durch eine entgeltliche Einbeziehung in die Gruppenversicherung, oder durch die Vorgabe, bei der Meldung der Teilnahme einen bestimmten Versicherungsschutz nachzuweisen. Mangels Erforderlichkeit des wesentlich wettbewerbsschädlicheren Mitgliedschaftserfordernisses wird man letzteres – trotz seiner Verbreitung im Amateursport – grundsätzlich als kartellrechtswidrig anzusehen haben. V. Fazit Auch wenn Amateure den Sport im Rahmen der privaten Lebensführung und nicht aus wirtschaftlichen Gründen ausüben, bedeutet dies nicht, dass das Kartellrecht für den Amateursport keine Rolle spielen würde. Vielmehr sind die Sportler Nachfrager auf den Märkten für verschiedene Sportdienstleistungen, insbesondere in den Bereichen Trainerleistungen, Einrichtungsnutzung und Wettkampforganisation. Auf diesen Märkten konkurrieren auf der Anbieterseite privatwirtschaftliche Sporteinrichtungen mit den Sportvereinen und deren Verbänden, die kartellrechtlich als Unternehmen anzusehen sind. Ein kartellrechtlicher Ausnahmebereich besteht zugunsten der Vereine in diesem Bereich nicht, auch nicht für die Leistungserbringung aufgrund des Mitgliedschaftsverhältnisses. Das Kartellrecht ist mithin uneingeschränkt auf die Verhaltensweisen auf den Amateursportmärkten anzuwenden. Verbandsregelungen, die in das Wettbewerbsverhältnis zu privaten Sporteinrichtungen (sei es als Veranstalter von Wettbewer49 Dazu grundlegend BGH NJW 1995, 583 – Reiterliche Vereinigung; ferner BGH NZG 2015, 1282 – Friedek; BGH NJW 2016, 2266 – Pechstein. 50 Dazu BGH NJW 2016, 2266 – Pechstein.
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ben oder als Anbieter von Trainingsleistungen) eingreifen oder künstlich den Übergang zum Profisport verhindern und dadurch Verdienstmöglichkeiten der Sportler begrenzen, stehen an der Schnittstelle von Kartell- und Missbrauchsverbot, da der Verband sowohl als Unternehmensvereinigung der darin organisierten Vereine als auch als marktbeherrschendes Unternehmen handelt. Wettbewerbsbeschränkungen können indes nach der Meca-Medina-Entscheidung des EuGH51 legitimen Zwecken dienen, was bei Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit zugleich einen Missbrauch ausschließt. Im Amateursport bleibt hierfür vor allem ein Anwendungsbereich zum Schutz von Gesundheit und Sicherheit der Sportler. Im Bereich der hier beispielhaft analysierten Genehmigungsklauseln für privatwirtschaftliche Wettbewerbe, dem „amateurism“ des US-Collegesports und des Mitgliedschaftserfordernisses für die Teilnahme an Verbandswettkämpfen zeigt sich indes, dass es eher um den Schutz der wirtschaftlichen Eigeninteressen des Verbandes geht. Soweit legitime Zwecke anzuerkennen sind, lassen sich diese teilweise auf weniger wettbewerbsbeschränkende Weise erreichen, so dass die Erforderlichkeit fehlt. Dies zeigt, dass das Kartellrecht auch im Amateursport das Potential hat, hergebrachte wettbewerbsfeindliche Strukturen aufzubrechen und einer Intensivierung des Wettbewerbs zwischen privatwirtschaftlichen Sporteinrichtungen und den traditionellen Idealvereinsstrukturen Vorschub zu leisten.
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EuGH EuZW 2006, 593 – Meca-Medina.
Vertrauliche Andeutungen eines Mitschuldigen an einer „Gesetzesanwendung, die die Gesetzesumgehung nur mühsam kaschiert“, oder: Sind wir nicht alle Primaten in Grimms Entscheidungsbäumchen? Ein Feuilleton aus stets aktuellem Anlass Von Matthias Jahn I. Grimm Ich bin ihm nie begegnet. Das heißt doch, eigentlich schon, aber nur irgendwie am Rande und auch nur einmal, und zudem in einem Zusammenhang, der das Adjektiv „juristisch“ nur wegen des mitwirkenden Personals verdient, wenn überhaupt. Es war beim 56. Bundespresseball 2007, auf den er die damalige Bundesjustizministerin begleitet hatte.1 Ich habe ihn durch gefühlte 2.500 Gäste hindurch aus der Ferne auf dem Parkett gesehen. Angesprochen habe ich ihn nicht. Was hätte ich auch sagen sollen? Ein einfaches „Hallo, ihr Entscheidungsbäumchen ist auch für meine Anwendungspraxis der Äußerungsdelikte wirkmächtig geworden“, in voller Abendgarderobe, mit einem Glas Orangensaft in der Hand, wäre einer Einladung, man muss doch fast sagen: Nötigung, zu irritierter Rückfrage gleichgekommen. Ich hätte ähnlichen Schrecken verbreitet wie kurz zuvor bei einer Begegnung mit einem weiteren Berliner Staatsrechtsordinarius im Dämmerlicht. Jenem hatte ich im noch nebelverhangenen Tiergarten während seines Spaziergangs mit einem im bekopfhörerten Vorbeijoggen ungewollt überlaut herausgehauenen „Hallo, Herr Meyer“ seinen frühmorgendlichen Stalkingmoment2 beschert. Ich hatte ihn als ehemaliger Frankfurter Vorlesungsteilnehmer sofort erkannt, er mich aber nicht, angesichts von 600 Hörerinnen und Hörern im alten Bockenheimer Saal VI damals und des winterlichen Sportoutfits jetzt nicht so verwunderlich. Auch das war so eine Art Äußerungsdelikt, aber ein fahrlässig begangenes und damit straflos. Also verzichtete ich jetzt auf dem Presseball auf eine Ansprache des Hans Meyer’schen Humboldtkollegen. Ich dachte, nur so für mich: „Der ist für meine Anwendungspraxis der Äußerungsdelikte wirkmächtig geworden“. 1 Dies sogar gerichtsfest ausweislich der offiziellen, huldvoll im Tagesspiegel abgedruckten und noch heute abrufbaren Gästeliste. „Das Netz“ vergisst bekanntlich nichts: https:// www.tagesspiegel.de/gesellschaft/panorama/56-bundespresseball-die-gaeste-2007/1103626. html (zuletzt abgerufen, wie alle nachfolgenden URLs, am 14. 9. 2020). 2 Untechnisch; e contrario § 238 Abs. 1 Nr. 1 StGB.
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Das war’s. Eigentlich hatte ich auch den ganzen Abend schon vergessen, übrigens auch die Erinnerung daran, dass ausgerechnet Dietmar Bartsch bei der traditionellen Presseballtombola eine Luxusreise nach New Orleans gewonnen hatte. Aber dafür habe ich im allwissenden Internet keine verlässliche Bestätigung mehr gefunden, so dass es sich möglicherweise um üble Nachrede3 handelt. Wer weiß das schon genau? II. Das Entscheidungsbäumchen, oder: Äußerungsdelikte sind nur äußerst selten Delikte Und wo kommt Klaus Vieweg in der Erzählung vom Bundespresseball vor? Die Wahrheit ist: gar nicht. Er war nicht da und ich bin fast sicher, wenig läge ihm trotz notorischer Sportlichkeit ferner, als den Bundespresseball zu besuchen, um mit der Justizministerin das Tanzbein zu schwingen. Das ist auch gut so. Aber Klaus, Sie, die Leserinnen und Leser dieses Beitrags und ich, der Mitschuldige, wir alle tanzen trotzdem nach Grimms Pfeife, soweit wir uns im Medium sozialer Kommunikation dies- und jenseits der strafrechtlichen Äußerungsdelikte bewegen. Dann gelten Regeln und Routinen, die Dieter Grimm – natürlich nicht allein, aber doch bis heute maßgeblich – in seinen zwölf Jahren als für Fragen der Meinungsfreiheit zuständiger Berichterstatter im Ersten Senat des BVerfG nach Ritterspach und Hesse und vor Hoffmann-Riem und Masing formuliert hat.4 Von ihm stammt jedenfalls das Prüfungsschema, fast möchte ich betonen: das Schema. Es hat das gesammelte verfassungsrechtliche Wissen aus der monolithischen Reihe der grauen Bände zu einem einzigen Entscheidungsbäumchen verdichtet und damit für den einfachen Rechtsanwender so operationabel gemacht hat, dass seiner grafischen Darstellung die Neue Juristische Wochenschrift im Jahrgang 1995 eine ganze Druckseite einzuräumen willens war. Da ist dann alles ganz einfach. Grimms Beitrag mit dem raumgreifenden Titel „Die Meinungsfreiheit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts“ liefert das Ergebnis für den eiligen Leser erstmal gleich im ersten Satz vorweg – „Die Rechtsprechung des BVerfG zur Meinungsfreiheit bewegt sich bis heute in den Bahnen, die 1958 vom Lüth-Urteil vorgezeichnet worden sind“5 – und schließt acht Seiten später mit für Praktikerinnen und Praktiker verlockenden grafischen Wenn-dann-Operatoren. Heute kennt jeder deutsche Jurist, einerlei, ob Straf-, Zivil oder Öffentlich-Rechtler, Studienanfänger oder Festschriftempfänger, den Inhalt der binären Kon- und Disjunktionen: Bei ehrenrühriger Äußerung, die Tatsa3 Technisch, aber wegen der Frage der Eignung der Tatsache, den Betroffenen verächtlich zu machen oder in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen (§ 186 Hs. 1 StGB), fraglich. 4 Vgl. Kommers/Miller, The Constitutional Jurisprudence of the Federal Republic of Germany, 3. Aufl. 2012, S. 714 (dort fehlerhaft: Rittersprach). Schlüsseltext: Grimm, Offenheit als Leitmotiv im Verfassungsverständnis von Konrad Hesse, AöR 144 (2019), 457 (465 f.). 5 Grimm, NJW 1995, 1697.
Vertrauliche Andeutungen eines Mitschuldigen
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Ehrenrührige Äußerung Tatsachenbehauptung unwahr bewußt o. erwiesen
Meinungsäußerung wahr
nicht bewußt o. erwiesen
nicht geschützt Sorgfaltspflicht nicht erfüllt
Sorgfaltspflicht beachtet
Intimsphäre betroffen
Sozialsphäre betroffen
Menschenwürdeverstoß/Formalbeleidigung/ Schmähkritik
schlicht herabsetzend
Ehrenschutz geht vor Abwägung Ehrenschutz geht vor Abwägung Ehrenschutz geht vor Abwägung
Diagramm 1: Das Grimm’sche Bäumchen in der NJW 1995, 1705
chenbehauptung darstellt, Vorrang des Ehrschutzes dann, wenn Tatsache wahr, jedenfalls soweit Intimsphäre betroffen usw. usf:6 Es ist wie beim Schach: Stimmt die Eröffnung, dann muss man den Fall nur noch lege artis durchspielen und landet am Ende einen sicheren Sieg für die Meinungsfreiheit. Und nun hat man auch verstanden, warum Lüth7 damals so tief in die Kiste griff und im Scheitelpunkt des Urteils den alten Judge Cardozo herausholte, „the matrix, the indispensable condition of nearly every other form of freedom“8. Um zu prüfen, ob nicht jedem Sieg auch die Niederlage innewohnt, möchte ich nun einen Fall erzählen. Ich reinige meinen Bericht aber rigoros von Zeit und Raum;9 interessant ist ohnehin nur das Allgemeine. 6
Vgl. Grimm, NJW 1995, 1697 (1705). BVerfGE 7, 198 (208). 8 Übrigens ohne jeglichen Textnachweis für das prominent platzierte Zitat des US-Oberrichters. Das wäre heute nicht mehr vorstellbar, die Plagiatssoftware würde anschlagen, aber seinerzeit, Klaus war wohl in der Nona, sah man das noch nicht so eng. Das gilt auch für den sportlichen Umgang mit Kommaregeln. Berichterstatter Ritterspach (zu ihm, wer denn sonst?, Grimm, NJW 1999, 3100, 3101) hat das Satzzeichen aus der Entscheidung des Supreme Court von 1937 nicht mit übernommen, denn in Palko v. Connecticut, 302 U.S. 319 (327), steht: „Of that freedom one may say that it is the matrix, the indispensable condition, of nearly every other form of freedom“. Es gab keinen Punktabzug. 9 Vgl. OLG Köln, NJW 2005, 1000 f. und Staats, DRiG, 2012, § 43 Rn. 11 (Hervorh. d. Verf.): „Die Verletzung des Beratungsgeheimnisses ist die Verletzung eines Dienstgeheimnisses i. S. v. § 353b Abs. 1 StGB und damit strafbar, wenn wichtige öffentliche Interessen gefährdet werden“. A. A. OLG Düsseldorf, NStZ 1981, 25; Einsiedler, NJ 2014, 6 (13): 7
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III. Wer schreibt, der bleibt. Wer mehr schreibt, bleibt rechtskräftig Es war in etwa so: Herr A verbüßte sein Urteil wegen eines eher unsympathischen Tötungsdelikts in einer auf den Langstrafenvollzug spezialisierten JVA. Das für jenen Sprengel zuständige Amtsgericht hatte A wegen Beleidigung in mehreren tateinheitlichen Fällen unter Einbeziehung eines weiteren Urteils – man ahnt: A hat im Vollzug nicht viele Sympathiepunkte sammeln können – zu einer Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt. Das Landgericht hatte auf die auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Berufung der Staatsanwaltschaft die Strafe sogar noch mehr als verdoppelt. Die Segel waren gesetzt, die Flagge gehisst, die Signale klar. Was war geschehen? In zwei Schreiben an die Leitung der JVA hatte A die Justizangestellte B als „kranke“ Juristin bzw. „krankes“ Hirn bezeichnet. Und das war’s auch schon. Dies hatte das LG als „ohne jeden Zweifel“ beleidigend ansehen wollen, da, so die Begründung, der beleidigende Inhalt dieser Äußerungen schon aus dem allgemeinen Sprachgebrauch heraus nachvollziehbar und verständlich sei. Nähere Darlegungen zu diesem – angeblich – allgemeinen Sprachgebrauch fehlten in dem, zurückhaltend gesprochen, übersichtlichen Urteil. Sie dürften sich auch kaum von selbst verstehen, weil A den Begriff „krank“ ersichtlich nicht im Wortsinne eines vom Normalen nachteilig abweichenden somatologischen Zustandes hatte gebrauchen wollen. Zudem hatten die Vorderrichter etwas in den Hintergrund treten lassen, dass aufgrund der Grimm’schen Ausstrahlungswirkungen des Art. 5 Abs. 1 GG auf den strafrechtlichen Rechtfertigungsgrund des § 193 StGB10 näherer Darlegung zu den Motiven und Zielen des A bedurft hätte. Mit den vorgenannten Bezeichnungen, die Frau B ganz sicher unangenehm ins Ohr geklungen haben dürften11 – weshalb die JVA aktenkundigst auf unnachgiebiger Verfolgung bestand –, hatte A nämlich möglicherweise auch aus Sorge um die Beeinträchtigung von Rechtsgütern einer seiner Familienangehörigen durch das dienstliche Verhalten der im Justizdienst angestellten B seine Feder gespitzt. Also: Ein klarer Fall für Grimm, denn der Kontext entscheidet den Fall, eine eindeutig geschmeidig durchlaufende Sachrüge,12 Aufhebung – Zurückverweisung – Neustart mit nächstem Akt. Das Berufungsurteil war, so dachte der Berichterstatter siegesgewiss, die beiden Unterschriften vor seinem geistigen Auge unter dem EntStraflos nach § 353b Abs. 1 Nr. 1 StGB, strafbar jedoch nach § 203 Abs. 2 Nr. 1 StGB. Zur gesamten Problematik OLG Naumburg, NJW 2008, 3585 m. Anm. Jahn, JuS 2009, 79 (80) – Görgülü. 10 Oben II. 11 Zu jener hübschen, von Strafgerichten wie dem BayObLG, NStZ 2005, 215 (216) gerne rezipierten Metapher aus der älteren reichsgerichtlichen Zivilpraxis (RGZ 140, 392 [398]) bereits Jahn, in: Festschrift für Thomas Fischer, 2018, S. 1015 (1016). 12 Und sei es auch nur nach dem durch judicial self-restraint glänzenden Begründungsmuster von BayObLG, NJW 2005, 1291 – Polizeibeamte als „Wegelagerer“: „Zwar vermag der Senat die massive Kritik, die in der Literatur an dieser Rechtsprechung geübt wurde …, zumindest in Teilen nachzuvollziehen, sieht sich aber gehalten, die Auffassung des BVerfG zu respektieren und auch im vorliegenden Fall zu Grunde zu legen“.
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wurf schon blassblau aufscheinen sehend, anhand feststehender Maßstäbe zu überprüfen, die die obergerichtliche Rechtsprechung13 aus den verbindlichen Vorgaben der verfassungsgerichtlichen Judikatur entwickelt hat. Dann stieg er hinauf auf Grimms Bäumchen und hangelte sich Ast um Ast hinab: Das Recht des Bürgers, Maßnahmen der öffentlichen Gewalt ohne Furcht vor staatlichen Sanktionen zu kritisieren, gehört zum Kernbereich des Grundrechts auf freie Meinungsäußerung. Es ist nicht nur bei einem Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung zu beachten, sondern auch bei Äußerungen, die im Rahmen einer Auseinandersetzung fallen. Dies gilt umso mehr, wenn sich das Werturteil auf staatliche Einrichtungen, deren Bedienstete und deren Vorgehensweise bezieht.14 Hier fallen auch scharfe und übersteigerte Äußerungen in den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG. Doch schon dies hatte der Tatrichter nicht in der richtigen Prüfungstiefe erörtert, denn – da sah man Grimm wieder fröhlich durch den Blätterwald schmunzeln – zwar ist nach der spezifisches-Verfassungsrecht-Bibelstelle im 18. Band15 die Feststellung des Sachverhalts einschließlich des Wortlauts der Äußerung eines Angeklagten grundsätzlich Sache des Tatrichters. Aber, ja, dann kommt das große „Aber“: Grundlage ist zwar der Wortlaut der Äußerung. Dieser legt ihren Sinn aber nicht abschließend fest. Ist eine Äußerung nicht eindeutig, muss ihr wahrer Erklärungsinhalt aus dem Zusammenhang und ihrem Zweck erforscht werden. Dabei sind alle Begleitumstände zu berücksichtigen. Will sich ein Strafgericht danach unter mehreren möglichen Deutungen einer Äußerung für die zur Bestrafung führende entscheiden, muss es dafür besondere Gründe angeben.16 Und es muss sich mit allen in Frage kommenden, insbesondere den sich aufdrängenden Deutungsmöglichkeiten auseinandersetzen und in rechtsfehlerfreier Weise diejenigen ausscheiden, die nicht zur Bestrafung führen.17 Es griff also zugunsten des A die alte verfassungsgerichtliche Regel: Wer schreibt, der bleibt. Wer mehr schreibt, bleibt rechtskräftig. Jede Fachrichterin, jeder Fachrichter, der ordentlich ausgebildet ist, kann sich bekanntlich eine verfassungsrechtlich tragfähige Begründung mit etwas gutem Willen und etwas mehr Zeit zusammenzimmern. Er muss angesichts der Prüfungstiefe der BVerfG-Kammern bei den Äußerungsdelikten – altes Kritikerstichwort: „Höchstes Amtsgericht der Nation“ – halt 13 Zusammengefasst bei Jahn, JuS 2016, 751 (752) (Anm. zu BVerfG [3. Kammer des Ersten Senats], BayVBl. 2016, 807 – Beleidigung von Polizeibeamten durch Aufdruck „ACAB“ auf Gesäßtasche); Jahn, JuS 2016, 468 (469 f.) (Anm. zu EGMR, Urt. v. 30. 6. 2015 – 39294/09, BeckRS 2015, 81139 – Justizkritik in Peruzzi ./. Italien) und Jahn, JuS 2008, 743 (744) (Anm. zu OLG Oldenburg, NStZ-RR 2008, 201 – Beleidigung eines Staatsanwalts in einer Beschwerdeschrift als „Super-Ermittler“). 14 Das hatte, ohne Distanzierungsvermerk (o. Fn. 12), auch BayObLG, NJW 2005, 1291 (1292) so ausgebracht. 15 Zur Anwendung der Heck’schen Formel aus BVerfGE 18, 85 (92 ff.) im Strafrecht – m. zahlr. Nachw. – Jahn, in: Jahn/Krehl/Löffelmann/Güntge, Die Verfassungsbeschwerde in Strafsachen, 2. Aufl. 2017, Rn. 34 unter Hinweis auf v. Löbbecke, in: Gedächtnisschrift für Nagelmann, 1984, S. 395 (398): „Mutter aller Abgrenzungen“. 16 BVerfGE 82, 43 (50 f.). 17 Vgl. nochmals BayObLG, NJW 2005, 1291 a. E.
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mehr schreiben.18 Das ist keine rocket science, dachte sich unser Berichterstatter, das wissen ja selbst seine Studentinnen und Studenten. Ganz zu Anfang, als er das Beispiel aus Harro Ottos legendärer Anmerkung19 zur „Soldaten sind Mörder“-Entscheidung des BVerfG in den universitären Veranstaltungen und im Repetitorium gebracht hatte, waren sie noch gleichermaßen abgestoßen wie fasziniert. Denn der Anmerkungsverfasser war nicht nur mit dem Beschluss aus Karlsruhe nicht einverstanden, er kritisierte mit scharfen und sinnfälligen Worten die ganze Richtung, „eine Gesetzesanwendung, die die Gesetzesumgehung nur mühsam kaschiert“. Denn, wie ein Kenner – und früherer Erlanger Kollege – nobel formuliert, auf „wohl keinem anderen Feld seiner Judikatur sieht das Bundesverfassungsgericht sich derart vehementer und derart fortgesetzter Kritik ausgesetzt wie auf dem Felde der Meinungsfreiheit“20. Man erinnert sich vielleicht noch an das diese Kritik illustrierende Beispiel. O-Ton Otto: „So wird z. B. die Bezeichnung einer männlichen Person als ,elende Sau‘ objektiv als ehrverletzende Behauptung zu bewerten sein … Nach der Auslegungsmethode der Senatsmehrheit ist hier jedoch zu erkennen, daß der Betroffene als spezielle Person mit dem Ausdruck Sau gar nicht gemeint sein kann, weil er männlichen Geschlechts ist, als Sau aber ein weibliches Schwein bezeichnet wird. Im übrigen aber gilt: Schweine sind in hohem Maße für die menschliche Ernährung und
18 Dazu – m. w. N. – Jahn, in: Jahn/Krehl/Löffelmann/Güntge (Fn. 15), Rn. 160. Zum Vorwurf selbst (natürlich) einerseits Grimm, ZRP 2000, 72 (74) und – in gewohnter Deutlichkeit – andererseits Diederichsen, AcP 198 (1998), 171 (226) sowie Th. Fischer, Beleidigung! Rechtsstaat? Hasskultur? SPON v. 21. 9. 2019, https://www.spiegel.de/panorama/justiz/ das-urteil-im-fall-renate-kuenast-gegen-facebook-kolumne-a-1287973.html: „Und wenn das unvergleichliche Bundesverfassungsgericht in jedem belanglosen Beschluss zur Beleidigung 17 Seiten lang sich selbst zitieren und ausführen muss, dass die Meinungsfreiheit für die Demokratie ,schlechthin konstituierend‘ sei, jedoch ihre Schranken finde in den allgemeinen Gesetzen und (!) im Recht der Persönlichen Ehre, dann ist zwar Letzteres richtig, die aufgeblähte Bedeutsamkeit aber nicht. Es führt aber dazu, dass jedes Gericht im Lande, das mit einem der zahllosen konkreten Fälle befasst ist, mit einer gewissen Berechtigung darauf hoffen kann, durch schlichte Wiederholung des ganzen unzusammenhängenden Textkörpers den Blick auf die Leere des Gedankens zu verstellen und stattdessen einen Eindruck von Gelehrsamkeit zu erzeugen, der zumindest bis zur nächsten Instanz reicht“. 19 Otto, NStZ 1996, 127 (128) zu BVerfGE 93, 266 (289 ff.) – „Soldaten sind Mörder“. Diese Traditionslinie der Kritik am Gericht schreibt in jüngerer Zeit besonders energisch Windhöfel, in: Festschrift für Tröndle, 2019, S. 999 (1024) fort: „Dass von Seiten der Rechtslehre den (mit „ACAB“ – d. Verf.) beschimpften Polizisten auch noch zugerufen wird, dies zu ertragen sei als Zeugnis einer reifen Persönlichkeit zu verstehen, könnten die Betroffen leicht als Zynismus missverstehen … Aber … der Staat (muss) die jungen Männer und Frauen, die in Uniform im wahrsten Sinne des Wortes Kopf und Kragen für die freiheitliche Verfassungsordnung dieses Landes riskieren, vor dem Unflat des Gesindels schützen; muss er demonstrierende Studenten vor den Vernichtungsphantasien einer Nazihorde schützen. Sonst kann es uns passieren, dass wir unsere Republik eines Tages nicht wiedererkennen“. 20 Jestaedt, in: Rill (Hrsg.), Grundrechte – Grundpflichten, 2001, S. 67. Zusf. zur Debatte ders., in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR IV/1, 2011, § 102 Rn. 4 ff.
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damit volkswirtschaftlich gesehen nützlich, es sind überaus intelligente und saubere Tiere, was lediglich verkannt wird …“. Bringt er den Auszug aus der NStZ-Anmerkung heute, ein halbes Hundert graue Bände später, sind die Studierenden nur noch abgestoßen, weil sie der Spuk, gestählt durch die Grundrechtsvorlesung, das zivilrechtliche Rahmenrecht und Kommunikation im öffentlichen Raum durch Donald und die Trolle nicht mehr zu schrecken vermag. Soll sich also, so dachte sich unser Berichterstatter weiter, jetzt halt die nächste Strafkammer mit der Frage herumschlagen, ob A’s Äußerungen die Grenze zur Schmähkritik überschritten hatten. Denn, so stand’s ja schon bei Grimm in der NJW und überall,21 aber sein Nach-Nachfolger Masing hat es als eine seiner letzten Amtshandlungen mit den vier Beschlüssen vom 19. 5. 2020 als Online-Repetitorium für vergessliche Tatrichter nochmals zusammengefasst,22 eine herabsetzende Äußerung nimmt erst dann den Charakter einer Schmähung an, wenn in ihr nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht. Dies bedurfte im nächsten Rechtsgang der Aufklärung, und wenn nicht: Abwägung – praktische Konkordanz nach der Omo- (nicht: Otto-)Formel – „Optimale Waschkraft, aber schonend zum Gewebe“ –, heißt: die Ehrverletzung ist gegen das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung abzuwägen und mit diesem zum bestmöglichen Ausgleich bei optimaler Wirksamkeit zu bringen. Spiel, Satz und Sieg: Artikel 5. Nächster Fall. IV. Desaster Es war ein Desaster.23 Grimm kam nicht zur Sprache, noch weniger Cardozo. Die Rede war hingegen, wohl sehr ausführlich, vom Arbeitsverhältnis zum LG,24 vom 21
OLG Düsseldorf, NStZ-RR 2003, 295 (297); BayObLG, NJW 2005, 1291 (1292); zusf. Pohlreich, JA 2020, 744 (746). 22 Speziell zur Beleidigung von Justizpersonen BVerfG (2. Kammer des Ersten Senats), NJW 2020, 2622 (2623 Tz. 15 ff.). Die Pressemitteilung Nr. 49/2020 v. 19. 5. 2020 hatte dies, wenige Wochen vor seinem (verzögerten) Ausscheiden, auch so kommuniziert: „Die Kammer hat diese Verfahren zum Anlass genommen, um die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Spannungsverhältnis von Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht bei ehrverletzenden Äußerungen klarstellend zusammenzufassen“. Genau hier setzt logischerweise auch die Kritik aus der (amtsrichterlichen) Instanz an, zuletzt bei T. Lange, DRiZ 2020, 252 (253), dort auch gleich mit dem Hinweis auf das Workaround des listigen Praktikers: „Die Empfehlung … für Gerichte, am besten gleich von einer Schmähkritik abzusehen (rechtssicherer sei es, auch bei drastischen Äußerungen von einer schlichten Herabsetzung auszugehen – und gleich unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht abzuwägen), kann nur als unzureichender Plan B verstanden werden“. 23 Etymologie: Unstern (astrum). Zusatzfrage: Wie viele leuchtende Karrieresterne in der Fachgerichtsbarkeit mögen schon durch ähnlich verunglückte Manöver vorzeitig verglüht sein? Fragen des Beleidigungsstrafrechts sind regelmäßig hoch emotional, zumal dann, wenn Justizpersonal betroffen ist. Man braucht im Kollegialgericht einen sicheren Kompass. 24 Immer einschlägige Topoi: „Viel aufgehoben in letzter Zeit“; „nicht der richtige Fall“.
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Arbeitsverhältnis zur JVA,25 vom Verhältnis zum Rest der Welt26 und von manchem mehr, dessen sachlicher Zusammenhang mit dem Entscheidungsbäumchen aus der NJW vielleicht nicht sofort erkennbar war. Der wiederholte Hinweis des Berichterstatters, die Verfassungsbeschwerde des ausweislich der Akten mittlerweile mit belastbaren juristischen Kenntnissen und noch mehr Zeit ausgestatteten präsumtiven Karlsruher Beschwerdeführers A werde durch die Schloßplatz-Kammer durchgehen wie ein rotglühendes Messer durch vorgewärmte Butter, und falls wider Erwarten nicht, zumindest innert eines Viertelmenschenlebens beim EGMR obsiegen, verfing nicht. Die Abwägung, von Grimm so eher nicht gemeint, war eher: lieber ein Rüffel aus Karlsruhe als Ärger vor Ort. V. Erholungsurlaub Man mag sich fragen, wie es weiterging. Ich weiß es nicht. Es brach eine Jahreszeit an, in der viele Berufstätige Urlaub zu nehmen pflegen. Ein Vertreter unterschrieb vermutlich klaglos glaublich einen OUVerwerfungsbeschluss (§ 349 Abs. 2 StPO). Die Sache A ward nie wieder gesehen, auch nicht in Karlsruher Montagspost oder (Stand: heute) auf der Straßburger Homepage. Merke: Der Erholungsurlaub ist in der kollegialen Fachgerichtsbarkeit das, was das Warten auf das Ablaufen der maximal zwölfjährigen Amtszeit des unwilligen Kammermitglieds am Schlossplatz ist. Irgendwann ist die Zeit reif. VI. Epilog: The Dark Side of the Moon Vor einiger Zeit rief mich ein Journalist an. Ich schätze ihn wegen seiner unaufgeregten Sachkunde in juristischen Fragen. Die Kölner Polizei hatte ihre Neujahrwünsche für das Jahr 2018 auch auf Arabisch getwittert. Eine volljuristisch ausgebildete Bundestagsabgeordnete hatte daraufhin folgendes, wie sich die Jugend heute auszudrücken pflegt, retweetet: „Was zur Hölle ist in diesem Land los? Wieso twittert eine offizielle Polizeiseite aus NRW auf Arabisch. Meinen Sie, die barbarischen, muslimischen, gruppenvergewaltigenden Männerhorden so zu besänftigen?“ Kaum vom Journalisten J befragt, ob ich das für Volksverhetzung hielte, war ich auch schon wieder auf’s Bäumchen geklettert:27 „Nimmt man die Äußerung wörtlich, … wäre [sie] in der Tat höchstwahrscheinlich volksverhetzend. Doch nach einer jahrzehntelangen Kette von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts dürfen Strafjuristen nicht am Wortlaut kleben, sondern müssen andere Deutungsalternativen in Betracht ziehen – vor allem sol25
Hier einschlägige Topoi: „Geschäftsplanmäßige Strafvollzugszuständigkeit“, „haben es auch nicht leicht“. 26 Durchschlagender Topos: „In letzter Zeit genug schlechte Presse gehabt“. 27 Janisch, Juraprofessor: …-Tweet „kein Fall für das Strafrecht“, Süddeutsche Zeitung v. 4. 1. 2018, S. 6.
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che, die gerade noch erlaubt wären. Deshalb müssen wir immer danach forschen, was der historische Anlass dieser Äußerung ist und was ihr Beitrag zum politischen Meinungskampf sein könnte – sei er auch noch so klein“. J daraufhin, mit gespielter Entrüstung: „Das heißt, wir ahnen, dass Frau … niederträchtig gegen Muslime hetzen will, aber wir suchen im Dienste der Meinungsfreiheit nach einer Interpretation, die erlaubt wäre?“. Antwort: „Ja … Indem wir Öffentlichkeit herstellen, springen wir über das Stöckchen, das … hinhält“. Es kamen, diesmal, keine Hass-Mails. Innerhalb von zwei Tagen verhielten sich 278 Tweets – überwiegend zustimmend – zu dem Interview sowie die Epoch Times. Sie wird von seriösen Branchendiensten als Teil eines rechten Paralleluniversums angesehen, in dem unter der Flagge der Meinungs- und Pressefreiheit Wutbürger, Rassisten und Verschwörungsideologen im Internet eine Heimatstatt haben. Epoch lobte besonders die keine Wünsche offenlassende Klarheit meiner Stellungnahme. Sie lässt sich in dem repetitortauglichen Ergebnissatz, Äußerungsdelikte sind nur äußerst selten Delikte, zusammenfassen. Willkommen, liebe Äffinnen und Affen, auf der dunklen Seite des Mondes.
Die Anfechtung der Entscheidungen der Schiedsgerichte nach dem griechischen Zivilprozessrecht* (Ein kurzer Überblick mit Hinweisen auch auf ausgewählte Rechtsprechung des Areopags) Von Nikolaos K. Klamaris I. Einleitende Bemerkungen über die Rechtsgrundlagen der Schiedsgerichtsbarkeit in Griechenland Im Umfeld der europäischen Prozessrechtsvergleichung und insbesondere auf der Ebene des Schiedsverfahrensrechts wird im letzten Jahrzehnt speziell die Anfechtung/Aufhebung der Entscheidungen der Schiedsgerichte aus verschiedenartigen As-
* Dieser Beitrag wird mit wissenschaftlicher Ehre und mit menschlicher Freude Herrn Kollegen K. Vieweg gewidmet. Unsere Nationale und Kapodistria Universität Athen und unsere Juristische Fakultät pflegen seit Jahrzehnten enge wissenschaftliche Beziehungen mit der Universität Erlangen-Nürnberg sowie mit ihrer Juristischen Fakultät. Grundsteine dieser wissenschaftlichen Beziehung – die auch zu exzellenten persönlichen Kontakten geführt haben – waren die großen Persönlichkeiten der unvergesslichen Professoren Georg Rammos (Athen), Karl Heinz Schwab (Erlangen-Nürnberg) und Georg Mitsopoulos (Athen). Dem Beispiel von Karl Heinz Schwab folgten auch die Erlanger Professoren M. Vollkommer und R. Zippelius, sowie die Schüler Schwabs, die Professoren P. Gottwald, H. Prütting und R. Greger. Ich hatte die Ehre, aus verschiedenen Anlässen öfters Gast bei der Familie Schwab in der Atzelsberger Steige 16 in der Vergangenheit zu sein, sowie Gast an der Juristischen Fakultät Erlangen-Nürnberg. Einer der besten Schüler und danach Professor – leider sehr früh verstorben – unserer Athener Fakultät, Stylianos Koussoulis, hatte bei Karl Heinz Schwab und M. Vollkommer vor etwa 35 Jahren glänzend promoviert. Mit Herrn Kollegen R. Greger und mit Herrn Kollegen J. Stamm haben wir gemeinsame Seminare veranstaltet. Wegen meiner wissenschaftlichen Verbundenheit mit Herrn Kollegen K. Vieweg und wegen meiner langjährigen engen Zusammenarbeit mit der Juristischen Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg nehme ich mit besonderer Ehre an der Festschrift für Herrn Kollegen Vieweg teil. Allerdings haben meine wissenschaftlichen Interessen – auch auf Grund meiner wissenschaftlichen Forschungsbeschäftigung als Professor für Zivilprozessrecht an der Juristischen Fakultät der Nationalen und Kapodistria Universität Athen – zugleich mit dem Sportverfahrensrecht uns wissenschaftlich und menschlich näher gebracht. Mit diesem Anlass – auch auf der Basis meiner früheren (von 1994 bis 1999) parallelen (zur Haupttätigkeit als Professor der Juristischen Fakultät) Tätigkeit (nach Beschluß des Großen Senats der Universität Athen) als kommissarischer Vizepräsident der Fakultät für Sportwissenschaften der Universität Athen – möchte ich darauf hinweisen, dass das Sportrecht als Rechtsfach/Rechtsmaterie zu den Juristischen Fakultäten und nicht den Fakultäten für Sportwissenschaften gehört.
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pekten immer wieder diskutiert. Repräsentativ sei auf Peter Schlosser,1 Walter Rechberger2 und Michael Nueber3 hingewiesen, die sich mit verschiedenen Problemen – de lege lata oder de lege ferenda und/oder aus der Sicht der Rechtsdogmatik, der Rechtspolitik, der Rechtsvergleichung, der Rechtsqualifikation – befasst haben, welche bei der Anfechtung/Aufhebung der Schiedssprüche auftauchen bzw. auftauchen können.4 Der Erweiterung und der Vertiefung des entsprechenden rechtsvergleichenden Überblicks im Rahmen der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union dient die vorliegende Studie über die Anfechtung/Aufhebung der Entscheidungen der Schiedsgerichte nach dem griechischen Zivilprozess. Die zwei hauptsächlichen gesetzlichen Rechtsgrundlagen der Schiedsgerichtsbarkeit in Griechenland sind die griechische ZPO [Siebtes Buch, Schiedsgerichtsbarkeit, Art. 867 – 903 (928 – 964)] und das Gesetz 2735/1999 über die „internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit“.5 Darüber hinaus ist auf der Grundlage des Art. 902 (963) grZPO gestattet, dass in manchen Institutionen (z. B. Juristische Personen des öffentlichen Rechts usw.) und unter den im Art. 902 (963) grZPO vorgesehenen Voraussetzungen institutionelle Schiedsstellen gegründet werden dürfen. Art. 902 grZPO lautet wie folgt: 1 P. Schlosser, Die Wiederaufnahme im Recht der Schiedsgerichtsbarkeit, in: Dogmatik im Dienst von Gerechtigkeit, Rechtssicherheit und Rechtsentwicklung, FS H. Prütting, 2018, S. 879 – 888. 2 W. Rechberger, Zur Rechtsnatur der Anfechtung von Schiedssprüchen, in: Recht ohne Grenzen, FS A. Kaissis, 2012, S. 801 – 818. 3 M. Nueber, OGH als einzige Instanz in Verfahren zur Aufhebung von Schiedssprüchen (rechts-)politisch möglich? Ein Reformappell aus wirtschaftlicher und rechtsvergleichender Sicht, ZfRV 2013, S. 73 – 78. 4 Aus rechtsvergleichender Sicht ist repräsentativ auch auf die folgenden Aufsätze aus der Gedächtnisschrift für G. Tarzia hinzuweisen: L’arbitrage et le juge étatique, Études de droit comparé à la memoire de Giuseppe Tarzia, sous la direction d’Achille Saletti, J. v. Compernolle et J.-F. v. Drooghenbroeck, Bruxelles 2014. a) Aus der Sicht des belgischen Rechts: J. v. Compernolle, L’annulation de la sentence arbitrale pour défaut de motivation en droit belge, S. 367 – 374; M. Dal, Les recours contre les sentences arbitrales en droit belge, S. 345 – 366; J.-F. v. Drooghenbroeck, L’annulation de la sentence arbitrale pour violation des droits de la défense, S. 375 – 385. b) Aus der Sicht des italienischen Rechts: A. Saletti, Les voies de recours en matière arbitrale en droit italien, S. 389 – 413; M. Giorgetti/F. Locatelli, Analyse de quelques motifs de recours contre une sentence arbitrale, S. 415 – 430. c) Aus der Sicht des französischen Rechts: J. B. Racine, Propos sur l’efficacité des sentences arbitrales en droit français après la réforme du 13 janvier 2011, S. 433 – 445; S. Menétrey, Conflicts d’intérêts et contrôle de l’impartialité de l’arbitre, S. 447 – 463. S. auch M. Huys/G. Keutgen, L’arbitrage en Droit belge et international, Bruxelles 1981, S. 348 ff.; Th. Clay, Le fabuleux régime du recours en révision contre les sentences arbitrales, in: Mélanges en l’honneur de S. Guinhard, Paris 2019, S. 651 – 670. 5 Über die Regelungsunterschiede zwischen der grZPO und dem Gesetz 2735/1999 s. N. K. Klamaris, Hauptunterschiede zwischen der Regelung der Schiedsgerichtsbarkeit in der griechischen ZPO (Art. 867 – 903) und der Regelung der Internationalen Handelsschiedsgerichtsbarkeit im griechischen Gesetz 2735/1999 [ein innerstaatlicher Überblick und Vergleich], in: Festschrift für P. Schlosser, Tübingen 2005, S. 383 – 398.
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1. Bei den Handelskammern, den Effekten – und Warenbörsen und den Gewerbevereinigungen, welche juristische Personen des öffentlichen Rechts sind, können nach vorherigem Gutachten ihres Vorstandes durch Dekrete, die auf Vorschlag des Justizministers und des Ministers, der die Aufsicht über die Handelskammer, Börse oder Vereinigung hat, erlassen werden, ständige Schiedsgerichte eingerichtet werden. 2. Die in § 1 genannten Dekrete bestimmen die Rechtsstreitigkeiten, für welche das Schiedsgericht jeder einzelnen Kammer, Börse oder Vereinigung vereinbart werden kann, und regeln die Einzelheiten der Organisation des Schiedsgerichts. Auf diese Schiedsgerichte werden die Bestimmungen der Art. 867 bis 900 angewandt. Abweichend hiervon kann durch die gleichen Dekrete bestimmt werden: a) dass in den Fällen der Art. 878, 880 § 2 und 884 statt des Einzelgerichts erster Instanz der Präsident, der Vorstand oder eine aus Vorstandmitgliedern der Kammer, der Börse oder der Vereinigung gebildete Kommission zu entscheiden habe, b) die Pflicht zur Wahl der Schiedsrichter und des Obmanns aus einer Schiedsrichterliste, welche in gewissen Zeitabständen von der Kammer, Börse oder Vereinigung aufzustellen ist, c) das schiedsrichterliche Verfahren gemäß der Bestimmung des Art. 886 § 2, d) das von dem Obmann und den Schiedsrichtern anzuwendende materielle Recht, e) die Angaben, welche der Schiedsspruch enthalten muss, unter Beachtung aber der Bestimmungen des Art. 892 § 2. Auf der Grundlage des obigen Art. 902 grZPO sind viele institutionelle Schiedsstellen von den entsprechenden Institutionen gegründet worden. Solche institutionelle Schiedsstellen sind von der Technischen Kammer von Griechenland, von der Seehandelskammer, von der Berufskammer, von der Rechtsanwaltskammer Athen, von der Rechtsanwaltskammer Piräus, von der Rechtsanwaltskammer von Larissa, von der Rechtsanwaltskammer von Thessaloniki, von der Rechtsanwaltskammer von Patras, von der Rechtsanwaltskammer von Serres eingerichtet worden.6
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Aus den Studien griechischer Autoren in deutscher/englischer/französischer Sprache sei vor allem auf die Folgenden verwiesen: C. Calavros, Das UNCITRAL – Modellgesetz über die internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit, Bielefeld 1988; A. Foustoucos, L’arbitrage – interne et international – en droit privé hellénique, Paris 1976, sowie mehrere Beiträge von K. Kerameus, Probleme des griechischen Schiedsverfahrensrechts aus rechtsvergleichender Sicht, ZZP 92 (1979), S. 413 – 431; La fonction juridictionnelle de l’arbitre dans la jurisprudence hellénique récente, in: Mélanges Jodlowski, 1989, S. 337 – 345 = Studia Juridica III, 1995, S. 268 ff.; The Examination of an Arbitration Agreement by State Courts While Arbitration Is Pending, Revue hellénique de droit international, 42 – 43 (1989 – 1990), S. 217 ff. = Studia Juridica III, 1995, S. 278 ff.; Einschränkungen der Klage auf Aufhebung von Schiedssprüchen, in: Festschrift für H. Fasching, 1988, S. 257 – 268 = Studia Juridica III, 1995, S. 295 ff.; A. Kaissis, Die Schiedsordnung der Griechischen Energieregulierungsbehörde (R. A. E.), in: FS für R. Stürner, Teilbd. II, 2013, S. 1555 – 1570; ders., Zum Begriff des ordre public bei der Aufhebung von Schiedssprüchen in Griechenland, in: FS für P. Schlosser, Tübingen 2005, S. 321 – 328.
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II. Die systematische und rechtliche Qualifikation der Anfechtung der Schiedsentscheidungen in der Rechtsordnung von Griechenland Die wortwörtliche Übersetzung des in der griechischen ZPO (beim Angriff einer Schiedsentscheidung) verwendeten terminus technicus („ajuq~my“) würde dazu führen, dass bei der deutschen Übersetzung der terminus technicus „anfechten“ – als Verb – bzw. „Anfechtung“ – als Substantiv – (beim Angriff einer Schiedsentscheidung) verwendet werden sollte. Allerdings ist der funktionsähnliche Fachausdruck (beim Angriff einer Schiedsentscheidung) in der deutschen, sowie in der österreichischen, ZPO das Verb „aufheben“ bzw. das Substantiv „Aufhebung“. Bei der deutschen Übersetzung der griechischen ZPO – in ihrer anfänglichen Fassung von 1968 – von den Professoren Gottfried Baumgärtel (Köln) und Georg Rammos (Athen) wurde der verbale Ausdruck „aufheben“ bzw. substantiviert „Aufhebung“ gewählt. Der Grund dieser Wahl ist anscheinend darauf zurückzuführen, dass zum Zwecke eines beiderseitigen Verständnisses bei der deutschen Übersetzung der griechischen ZPO ein mit der deutschen ZPO aus der Sicht der Funktionsähnlichkeit kompatibler Fachausdruck gewählt wurde. Früher habe ich auch den Fachausdruck „aufheben“ bzw. „Aufhebung“ gewählt,7 bin aber schließlich zu der Meinung gelangt, dass man zum besseren Verständnis beide Fachausdrücke zugleich benutzen muss. Daher werden hier beide Fachausdrücke nebeneinander benutzt. Auch der entsprechende französische Fachausdruck „annulation“ ist eher kompatibel mit dem Ausdruck „Anfechtung“. Die Grundnorm in Bezug auf die Anfechtung von Schiedssprüchen bildet der Art. 895 (956) grZPO.8 Die Vorschrift des § 1 des Art. 895 (956) grZPO führt als Regel die folgende Vorschrift ein: „Die Schiedsentscheidung wird mit Rechtsmitteln nicht angefochten.“ Wie im Rahmen der staatlichen Gerichtsbarkeit in Griechenland spricht die grZPO und das Gesetz 2735/1999 auch in Bezug auf die Schiedsgerichtsbarkeit allgemein von „Entscheidungen“ („apov\seir“) ohne Unterteilung in Urteile und Beschlüsse. Die Entscheidungen unterscheiden sich nach dem Gesetz einerseits in rechtskräftige Entscheidungen und andererseits in definitive Entscheidungen und in nicht definitive Entscheidungen. Eine Entsprechung mit den deutschen und österreichischen Urteilen und Beschlüssen sollte vermieden werden. Die Entscheidungen, die nach dem Gesetz mit keinem Rechtsmittel angegriffen werden können, sind nach der grZPO „unanfechtbar“ („alet\jkgtoi“). Allerdings sieht § 2 des Art. 895 (956) grZPO vor, dass in dem Schiedsvertrag doch die Anfechtung einer Schiedsentscheidung vor anderen Schiedsrichtern vorgesehen werden kann.9 In einem solchen Fall müssen gleichzeitig die Voraussetzungen, 7
S. N. K. Klamaris (o. Fn. 5). Die Zahlen (der Artikel) in Klammern beziehen sich auf die anfängliche Nummerierung der griechischen ZPO (1968). Auf diese Nummerierung bezieht sich auch die deutschsprachige Übersetzung der Professoren Baumgärtel/Rammos. 9 N. K. Klamaris (o. Fn. 5), S. 393: „Nach der Regelung des Schiedsverfahrens in der ZPO ist das Schiedsurteil mit Rechtsmitteln unanfechtbar. Allerdings sieht die Vorschrift des Abs. 2 8
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die Anfechtungsfrist sowie das Verfahren für die Einlegung des entsprechenden Antrags vereinbart werden.10 Rechtsmittel gegen Schiedsentscheidungen vor staatlichen Gerichten sind also generell nicht statthaft. Die grZPO sieht aber die Zulässigkeit von Rechtsbehelfen gegen Schiedsentscheidungen vor staatlichen Gerichten vor.11 In diesem Sinn kennt die grZPO einerseits die Anfechtungsklage und andererseits die Klage auf die Anerkennung der Inexistenz einer Schiedsentscheidung. Nach absolut herrschender Meinung sind sowohl die Anfechtungsklage als auch die Feststellungsklage zur Anerkennung der Inexistenz einer Schiedsentscheidung aus der Sicht ihrer Rechtsnatur keine Rechtsmittel im eigentlichen Sinne.12 III. Die Anfechtungsgründe nach Art. 897 (958) grZPO Nach der Vorschrift des Art. 897 (958) grZPO kann der Schiedsspruch ganz oder zum Teil nur durch eine gerichtliche Entscheidung und nur dann abgehoben werden, wenn: 1) der Schiedsvertrag ungültig ist, 2) der Schiedsspruch nach Außerkraftsetzung des Schiedsvertrages erlassen wurde, 3) diejenigen, die ihn erließen, unter Verletzung der Vertragsbestimmungen oder der gesetzlichen Vorschriften ernannt worden oder wenn sie von den Parteien abberufen worden sind oder entschieden haben, obwohl einem gegen sie gerichteten Ablehnungsantrag stattgegeben worden ist, 4) diedes Art. 895 vor, dass mit dem Schiedsvertrag doch gestattet werden kann, dass sich die Schiedsparteien gegen das Schiedsurteil vor einem anderen Schiedsgericht wenden.“ 10 N. K. Klamaris (o. Fn. 5), S. 393: „In einem solchen Fall müssen aber die Voraussetzungen, die Frist und das Verfahren der Anfechtung des Schiedsurteils im Schiedsvertrag festgesetzt werden.“ 11 N. K. Klamaris (o. Fn. 5), S. 393: „Die Unstatthaftigkeit der Anfechtung des Schiedsurteils mit Rechtsmitteln wird aber mit der Statthaftigkeit der Anfechtung des Schiedsurteils mit (einer) Klage – bzw. mit einem Rekurs – ersetzt. Die ZPO (Art. 897, 898, 899, 900 und 901) sieht zwei Arten von Klagen vor: a) Die Anfechtungsklage und b) die Nichtigkeitsklage.“ 12 Aus den in der griechischen Sprache verfassten Werken von griechischen Autoren sei repräsentativ auf die Folgenden hingewiesen: G. Oikonomopoulos, Die Schiedsgerichtsbarkeit nach dem in Griechenland geltenden Recht, Bd. A, Athen 1937; G. Rammos, Lehrbuch des Zivilprozessrechts, Bd. 4, Athen 1985; G. Rammos/N. K. Klamaris, Grundriss des Zivilprozessrechts, 3. Aufl., II. Teilband, Athen, 2005, S. 70 ff.; K. Beys, Zivilprozessordnung (Kommentar), Bd. 20 (Schiedsgerichtsbarkeit), Athen 1994, S. 423; C. Calavros, Die Beurteilungsmacht der Schiedsrichter – Grundsätzliche Themen des Schiedsverfahrensrechts, Athen 1988; ders., Internationale Handelsgerichtsbarkeit, Bd. I, Gesetz 2735/1999, Athen 2019; A. Kaissis, Die Anfechtung der Schiedsurteile, Thessaloniki 1989; Internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit, Thessaloniki, 1995; S. Koussoulis, Grundsätzliche Probleme der Schiedsgerichtsbarkeit, Bände A und B, Athen 1996; ders., Die internationale Schiedsgerichtsbarkeit in Griechenland – im Vergleich mit dem Modell-Gesetz UNCITRAL, Athen 1996; ders., Die Schiedsgerichtsbarkeit (Kommentar), Athen 2004; G. Verveniotis, Internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit, Das Abkommen von New York, Bilaterale Verträge, Athen 1990.
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jenigen, die den Schiedsspruch erlassen haben, die ihnen durch Schiedsvertrag oder Gesetz gewährten Befugnisse überschritten haben, 5) die Bestimmungen der Art. 886 § 2 (947 § 2), 891 (952), 892 (953), verletzt worden sind, 6) der Schiedsspruch gegen den ordre public oder die guten Sitten verstößt, 7) der Schiedsspruch unverständlich ist oder widersprüchliche Bestimmungen enthält, 8) ein Grund zur Wiederaufnahme des Verfahrens nach Art. 544 (562) vorliegt. Nach der Rechtsprechung des Areopags ist die Vorschrift des Art. 897 (958) Ziff. 1 grZPO eine Vorschrift des materiellen Rechts.13 Daher stellt – nach derselben Rechtsprechung – die Verletzung dieser Vorschrift eine materiellrechtliche Rechtsverletzung dar, die dem Kassationsgrund des Art. 559 Ziff. 1 grZPO („Verletzung des materiellen Rechts“) unterliegt.14 Nach der Rechtsprechung des Areopags taucht der Anfechtungs-/Aufhebungsgrund des Art. 897 (958) Ziff. 2 grZPO dann auf, wenn die entsprechende Schiedsentscheidung nach dem Ablauf der von den Schiedsvertragsteilen vereinbarten Frist erlassen wurde.15 Nach der Rechtsprechung des Areopags wirken die Richter, die als Schiedsrichter bestellt/nominiert sind, nicht als Träger von staatlicher Gewalt, weil ihre Gewalt auf dem Schiedsvertrag beruht.16. Nach der Rechtsprechung des Areopags liegt der Anfechtungs-/Aufhebungsgrund des Art. 897 (958) Ziff. 4 grZPO dann vor, wenn die Schiedsrichter über einen Gegenstand entschieden haben, der ihnen durch den Schiedsvertrag nicht devolviert worden war. Im Gegenteil liegt der vorliegende Anfechtungs-/Aufhebungsgrund nicht vor, wenn das Schiedsgericht sich auf Tatsachen gestützt hat, die, obwohl sie von den Schiedsparteien mit ihren Tatbehauptungen nicht vorgebracht wurden, trotzdem im Rahmen des Beweisverfahrens bewiesen wurden.17 Nach der Rechtsprechung des Areopags liegt der Anfechtungs-/Aufhebungsgrund des Art. 897 (958) Ziff. 5 grZPO dann vor, wenn einer Schiedspartei im Vergleich mit anderen Schiedsparteien mehr Rechte oder Möglichkeiten eingeräumt werden, oder wenn eine Partei von Lasten oder Pflichten befreit wird, während im Gegenteil diese Lasten usw. den anderen Schiedsparteien auferlegt werden. Aus der obigen Vorschrift folgt, dass allen Schiedsparteien dieselben Möglichkeiten zur Teilnahme an den Verhandlungen und zur Geltendmachung ihrer Behauptungen eingeräumt wer-
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Entscheidungen des Areopags: 1634/2001, 1314/2008, 472/2016. In Bezug auf das Rechtsmittel der Kassation nach der grZPO s. N. K. Klamaris, Das außerordentliche Rechtsmittel der Kassation nach der griechischen Zivilprozessordnung, in: Dogmatik im Dienst von Gerechtigkeit, Rechtssicherheit und Rechtsentwicklung, FS für H. Prütting, Köln 2018, S. 377 – 390. 15 Entscheidung des Areopags 1975/2009. 16 Entscheidung des Areopags 445/2002. 17 Entscheidung des Areopags 13/1995 (Plenarentscheidung). 14
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den müssen.18 Auf der Basis dieser Rechtsprechung urteilte der Areopag, dass eine Verletzung des Gleichheitssatzes dann vorliegt, wenn die Entscheidung des Schiedsgerichts auf einer Zeugenvernehmung beruht, die aber außerhalb des Beweisverfahrens – ohne Ladung und Anwesenheit der Schiedsparteien – stattfand. Nach der Rechtsprechung des Areopags liegt der Anfechtungs- und Aufhebungsgrund des Art. 897 (958) Ziff. 6 grZPO dann vor, wenn Rechtsvorschriften der öffentlichen Ordnung verletzt wurden. Solche Rechtsvorschriften sind nach dem Areopag sowohl für die interne/nationale Schiedsgerichtsbarkeit als auch für die internationale Schiedsgerichtsbarkeit diejenigen Rechtsvorschriften, welche aus der Sicht ihrer Rechtsnatur als Rechtssätze zwingenden Rechts zum Schutze des öffentlichen Interesses betrachtet werden und sich mit staatlichen, kulturellen, gesellschaftlichen oder ökonomischen Grundlagen der internen Rechtsordnung verbinden und die öffentliche Ordnung im Sinne des Art. 33 grBGB inkorporieren/bilden.19 Nach derselben Rechtsprechung stellt die Verletzung der zwingenden Rechtssätze, die bloß private Interessen schützen, nicht den obigen Anfechtungs-/Aufhebungsgrund dar.20 Ebenfalls, immer nach derselben Rechtsprechung, wird die öffentliche Ordnung im obigen Sinne nicht verletzt, wenn die Schiedsentscheidung das Gesetz falsch ausgelegt oder angewandt hat, oder wenn sie eine ungenügende Begründung hat,21 es sei denn, dass die Vollstreckung dieser Schiedsentscheidung im Widerspruch zu den Grundauffassungen der hellenischen Rechtsordnung stehen würde.22 IV. Die Feststellung der Inexistenz einer Schiedsentscheidung Die Vorschrift des Art. 901 (962) § 1 grZPO führt folgende Regelung ein: 1. Durch Klage oder im Wege der Einrede kann die Feststellung der Ungültigkeit eines Schiedsspruchs nur beantragt werden, wenn: a) ein Schiedsvertrag nicht geschlossen worden ist, b) der Schiedsspruch über einen Streitgegenstand ergangen ist, für den das schiedsrichterliche Verfahren nicht vereinbart werden kann, c) der Schiedsspruch in einem Prozess ergangen ist, der gegen eine nichtexistente natürliche oder juristische Person geführt worden ist.23 18 Entscheidung des Areopags 13/1955 (Plenarentscheidung, in ähnlicher Richtung die Entscheidungen 1668/2005, 511/2007, 40/2010, 1807/2014, 821/2017). 19 Entscheidung des Areopags 14/2015 (Plenarentscheidung). 20 Entscheidung des Areopags 14/2015 (Plenarentscheidung). 21 Entscheidung des Areopags 14/2015 (Plenarentscheidung). 22 Entscheidung des Areopags 14/2015 (Plenarentscheidung). 23 Eine ähnliche Regelung enthält auch Art. 313 (329) grZPO in Bezug auf die Feststellung der Inexistenz von Entscheidungen der griechischen staatlichen Gerichte: „1. Die Feststellung des Nichtbestehens einer gerichtlichen Entscheidung kann nur in folgenden Fällen im Wege der Klage oder Einrede begehrt werden: wenn a) sie von Personen erlassen ist, welche nicht die Richterfähigkeit besitzen, b) ein Zivilgericht über einen Gegenstand entschieden hat, für den die Zivilgerichtsbarkeit nicht zuständig ist, c) die Entscheidung nicht verkündet ist, d) sie in einem Prozess ergangen ist, der gegen eine nicht existente natürliche oder juristische Person
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Nach der Rechtsprechung des Areopags gilt dann die Schiedsentscheidung, als inexistent/ungültig, wenn kein entsprechender Schiedsvertrag abgeschlossen worden war. Wenn also die Schiedsrichter ihre Entscheidungsmacht, bzw. Entscheidungszuständigkeit, auf einen inexistenten – d. h. nicht vereinbarten/abgeschlossenen – Vertrag stützen, dann ist ihre Schiedsentscheidung ebenfalls inexistent/ungültig. Wenn aber die Schiedsrichter ihre Entscheidungsmacht auf einen existenten Schiedsvertrag stützen, dessen Gegenstandsgrenzen sie übersteigen und ihre Entscheidungszuständigkeit auf Rechtsstreitigkeiten derselben (oder nicht) Schiedsparteien erstreckt haben, auf die sich der entsprechende Schiedsvertrag aber nicht bezieht, dann ist ihre Schiedsentscheidung nicht inexistent/ungültig [nach Art. 901 (962) § 1 grZPO], sondern bloß anfechtbar (wegen Vorliegens des Anfechtungs-/ Aufhebungsgrundes des Art. 897 (958) Ziff. 4 grZPO).24 V. Die Anfechtung von Schiedsentscheidungen nach dem Gesetz 2735/1999 (Internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit) Im Jahre 1999 wurde das Gesetz 2735 erlassen, welches die Uncitral-Regelung – bzw. das Uncitral-Modell-Gesetz – grundsätzlich übernahm und die internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit im Rahmen der Rechtsordnung Griechenlands ausführlich regelte. Zwischen der entsprechenden Regelung der griechischen ZPO und des griechischen Gesetzes 2735/1999 gibt es interessante Unterschiede in Bezug auf die Regelung der Anfechtung/Aufhebung der nach diesem Gesetz ergehenden Schiedsentscheidungen. Die Vorschrift des Art. 34 (Gesetz 2735/1999) sieht ebenfalls die Möglichkeit der Anfechtung einer Schiedsentscheidung durch die Einlegung einer entsprechenden Klage (Anfechtungs-/Aufhebungsklage) vor. Das Gesetz 2735/1999 sieht allerdings nur die Möglichkeit der Einlegung einer Anfechtungsklage gegen eine Schiedsentscheidung vor, die nach den Vorschriften des Gesetzes 2735/1999 erlassen worden ist. Im Gegenteil sieht das Gesetz 2735/1999 keine Feststellungsklage zur Feststellung der Inexistenz einer Schiedsentscheidung vor. Art. 34 des Gesetzes 2735/1999 sieht im Einzelnen folgende Anfechtungsgründe vor: Wenn der Anfechtungskläger geltend macht und beweist: 1. dass der Vertragsteil des Schiedsvertrags nicht rechtfähig nach seinem Rechtstatut gewesen war, oder der Schiedsvertrag nach dem von den Vertragsteilen vereinbarten Recht nicht gültig ist, oder, falls einer von diesen Fällen nicht vorliegt, nach dem griechischen Recht nicht gültig ist, oder
geführt worden ist, e) sie gegen eine Person ergangen ist, welche das Recht der Exterritorialität genießt. 2. Die Klage nach § 1 ist unzulässig, wenn gegen die Entscheidung ein Rechtsmittel eingelegt ist. 3. Die Klage nach § 1 ist vor dem nach dem allgemeinen Gerichtsstand des Beklagten zuständigen Kollegialgericht zu erheben.“ 24 Entscheidung des Areopags 2292/2009.
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2. dass er (der Anfechtungskläger) nicht nach der geeigneten Art über die Bestimmung des Schiedsrichters oder über das Schiedsverfahren informiert wurde, oder dass er aus einem anderen Grund in eine schuldlose Unmöglichkeit geraten ist, seine Behauptungen vorzutragen, oder 3. dass die Schiedsentscheidung eine Rechtsstreitigkeit betrifft, die im Schiedsvertrag nicht beinhaltet wird, oder sie Anordnungen enthält, welche die Grenzen des Schiedsvertrages überschreiten. Wenn aber in einem solchen Fall die Entscheidungsanordnungen, die vom Schiedsvertrag gedeckt werden, von denjenigen Entscheidungsanordnungen, die vom Schiedsvertrag nicht gedeckt werden, sich trennen lassen, dann kann nur gegen diese letzten Entscheidungsanordnungen eine Anfechtungsklage gerichtet werden, oder 4. dass die Besetzung des Schiedsgerichts, oder das Schiedsverfahren nicht konform mit der Vereinbarung der Schiedsvertragsteile war, oder, wenn eine entsprechende Vereinbarung nicht existiert, die Besetzung des Schiedsgerichts, oder das Schiedsverfahren mit dem Gesetz 2735/1999 nicht konform war. Unabhängig von den obigen Anfechtungsgründen, die von den Schiedsparteien geltend gemacht werden müssen, ist das staatliche Gericht auch selbst ermächtigt, falls eine Anfechtungsklage eingelegt wurde, von Amts wegen die bereits angefochtene Schiedsentscheidung mit Hinblick auf folgende Mängel zu überprüfen: 1. ob der Gegenstand der Rechtsstreitigkeit nach dem griechischen Recht nicht schiedsfähig ist, bzw. nicht Gegenstand eines Schiedsverfahrens sein darf; 2. ob die Schiedsentscheidung gegen den ordre public – wie dieser nach Art. 33 des griechischen BGB verstanden wird – verstößt. Dieselbe Regelung kennt bekanntlich auch § 1059 der deutschen ZPO bei der Regelung der statthaften Rechtsbehelfe gegen den Schiedsspruch. Diese Regelungsähnlichkeit in Bezug auf die obige betreffende Regelung der Schiedsgerichtsbarkeit zwischen der deutschen ZPO und dem griechischen Gesetz 2735/1999 ist darauf zurückzuführen, dass sowohl die deutsche ZPO in Bezug auf die gesamte Regelung der Schiedsgerichtsbarkeit im Allgemeinen, als auch das griechische Gesetz 2735/ 1999 in Bezug auf die Regelung speziell der internationalen Handelsschiedsgerichtsbarkeit dasselbe Regelungsmuster übernahmen (nämlich das „Uncitral-Modellgesetz über die internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit“): § 1059. Aufhebungsantrag. (1) Gegen einen Schiedsspruch kann nur der Antrag auf gerichtliche Aufhebung nach den Absätzen 2 und 3 gestellt werden. (2) Ein Schiedsspruch kann nur aufgehoben werden, 1. wenn der Antragsteller begründet geltend macht, dass a) eine der Parteien, die eine Schiedsvereinbarung nach den §§ 1029, 1031 geschlossen haben, nach dem Recht, das für sie persönlich maßgebend ist, hierzu nicht fähig war, oder dass die Schiedsvereinbarung nach dem Recht, dem die Parteien sie unterstellt haben oder, falls die Parteien hierüber nichts bestimmt haben, nach deutschem Recht ungültig ist oder b) er von der Bestellung eines Schiedsrichters oder von dem schiedsrichterlichen Verfahren nicht gehörig in Kennt-
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nis gesetzt worden ist oder dass er aus einem anderen Grund seine Angriffs- oder Verteidigungsmittel nicht hat geltend machen können oder c) der Schiedsspruch eine Streitigkeit betrifft, die in der Schiedsabrede nicht erwähnt ist oder nicht unter die Bestimmungen der Schiedsklausel fällt, oder dass er Entscheidungen enthält, welche die Grenzen der Schiedsvereinbarung überschreiten; kann jedoch der Teil des Schiedsspruchs, der sich auf Streitpunkte bezieht, die dem schiedsrichterlichen Verfahren unterworfen waren, von dem Teil, der Streitpunkte betrifft, die ihm nicht unterworfen waren, getrennt werden, so kann nur der letztgenannte Teil des Schiedsspruchs aufgehoben werden; oder d) die Bildung des Schiedsgerichts oder das schiedsrichterliche Verfahren einer Bestimmung dieses Buches oder einer zulässigen Vereinbarung der Parteien nicht entsprochen hat und anzunehmen ist, dass sich dies auf den Schiedsspruch ausgewirkt hat; oder 2. wenn das Gericht feststellt, dass a) der Gegenstand des Streites nach deutschem Recht nicht schiedsfähig ist oder b) die Anerkennung oder Vollstreckung des Schiedsspruchs zu einem Ergebnis führt, das der öffentlichen Ordnung (ordre public) widerspricht. VI. Anfechtungsgericht Im Falle der Anfechtungsklage des Art. 897 (958) grZPO zuständiges Gericht für die Beurteilung der Anfechtungsklage ist das Berufungsgericht (zweitinstanzliches Gericht), in dessen Bezirk die Schiedsentscheidung erlassen wurde [Art. 898 § 1 (959) grZPO]. Im Falle der Feststellungsklage des Art. 901 (962) grZPO zur Feststellung (Anerkennung) der Inexistenz einer Schiedsentscheidung zuständiges Gericht für die Beurteilung dieser Feststellungsklage ist ebenfalls das Berufungsgericht, in dessen Bezirk die Schiedsentscheidung erlassen wurde [Art. 901 (962) § 2 grZPO]. Im Falle der Anfechtungsklage des Art. 34 des Gesetzes 2735/1999 zuständiges Gericht für die Beurteilung der Anfechtungsklage ist ebenfalls das Berufungsgericht, in dessen Bezirk die Schiedsentscheidung erlassen wurde [Art. 34 § 2 i. V. m. Art. 6 § 2 des Gesetzes 2735/1999]. Das Berufungsgericht entscheidet allerdings in den obigen Fällen nicht als Rechtsmittelgericht, sondern als erstinstanzliches Gericht. VII. Anfechtungsfrist Die Anfechtungsklage des Art. 897 (958) grZPO, mit der die Anfechtungsgründe der Ziffern 1 bis einschließlich 7 desselben Artikels geltend gemacht werden, muss innerhalb einer Notfrist (Ausschlußfrist) nach ihrer Mitteilung eingelegt werden, andernfalls ist sie nach derselben Gesetzesvorschrift unzulässig [Art. 899 (960) § 2 grZPO].
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Die Feststellungsklage zur Feststellung der Inexistenz einer Schiedsentscheidung unterliegt keiner Frist. Anders als bei der Anfechtungsklage des Art. 897 (958) grZPO sieht die grZPO keine entsprechende Frist für die Einlegung der obigen Feststellungsklage vor. Daher ist diese Feststellungsklage fristlos. Die Anfechtungsklage des Art. 34 des Gesetzes 2735/1999 muss innerhalb einer Notfrist (Ausschlussfrist) von drei Monaten eingelegt werden. Diese Frist beginnt mit der Mitteilung der Schiedsentscheidung an denjenigen Teil, der die Anfechtungsklage einlegt. Wenn ein Antrag zur Berichtigung bzw. zur Auslegung einer Schiedsentscheidung nach Art. 34 des Gesetzes 2735/1999 gestellt wurde, dann beginnt die Frist zur Einlegung einer Anfechtungsklage mit der Mitteilung der entsprechenden berichtigenden Schiedsentscheidung an diesen Teil. VIII. Verfahren vor dem Anfechtungsgericht Das Berufungsgericht (zweitinstanzliches Gericht) verhandelt und entscheidet über die Anfechtungsklage gegen eine Schiedsentscheidung oder über die Feststellungsklage zur Feststellung der Inexistenz einer Schiedsentscheidung nach den Vorschriften der besonderen Verfahrensart der vermögensrechtlichen Rechtsstreitigkeiten (früher der sog. Rechtsstreitigkeiten zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern), weil Art. 898 (959) und Art. 901 (962) § 2 grZPO in Bezug auf die Verhandlung vor diesem Gericht auf die Art. 614 ff. grZPO direkt verweisen. Dasselbe Verfahren gilt auch dann, wenn das Berufungsgericht über eine gemäß Art. 34 des Gesetzes 2735/ 1999 eingelegte Anfechtungsklage gegen eine Schiedsentscheidung verhandelt und entscheidet. IX. Aktiv- und Passivlegitimation Aktivlegitimiert zur Einlegung der Anfechtungsklage gegen eine Schiedsentscheidung sind diejenigen, welche den Schiedsvertrag abgeschlossen haben, sowie jeder, der ein rechtliches Interesse daran hat [Art. 899 (960) § 1 S. 1 grZPO]. Es ist selbstverständlich, dass die Personen, die den Schiedsvertrag abgeschlossen haben, nur dann aktivlegitimiert sind, die Anfechtungsklage gegen die entsprechende Schiedsentscheidung einzulegen, wenn sie durch diese Entscheidung unterlegen bzw. beschwert sind. Dasselbe gilt für die Einlegung der Feststellungsklage zur Anerkennung (Feststellung) der Inexistenz einer Schiedsentscheidung [Art. 901 (962) grZPO]. Nach dem Gesetz 2735/1999 aktiv legitimiert (Art. 34) sind nur die Schiedsvertragsteile (Schiedsparteien), die durch die entsprechende Schiedsentscheidung unterlegen/beschwert sind. Passivlegitimiert sind nach der Vorschrift des Art. 899 (960) § 1 S. 2 grZPO alle Personen, die den Schiedsvertrag vereinbart haben. Nach der obigen Vorschrift wird die „Klage gegen alle, die den Schiedsvertrag vereinbart haben,“ gerichtet. Wenn diese Vorschrift nicht eingehalten wird, dann ist die entsprechende Anfechtungs-/
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Aufhebungsklage als unzulässig zu verwerfen. In diesem Fall stellt diese vom Gesetz vorgesehene obligatorische Einlegung der Anfechtungs-/Aufhebungsklage gegen alle Personen, die den Schiedsvertrag abgeschlossen haben, gemäß der Vorschrift des Art. 74 grZPO einen Fall der notwendigen Streitgenossenschaft dar.25 X. Die Wiederaufnahmegründe als Anfechtungs-/Aufhebungsgründe der Entscheidungen der Schiedsgerichte Eine charakteristische Besonderheit der griechischen Regelung in Bezug auf die Anfechtungs-/Aufhebungsklage gegen Schiedsentscheidungen liegt darin, dass die Vorschrift des Art. 897 (958) grZPO – in der Form einer direkten Verweisung auf Art. 544 (562) grZPO – als Anfechtungs-/Aufhebungsgründe für Schiedsentscheidungen auch die Wiederaufnahmegründe nach Art. 544 (562) grZPO nennt.26 Diese Regelung gibt der griechischen Anfechtungs-/Aufhebungsklage gegen Schiedsentscheidungen eine breitere und erweiterte Kontroll- bzw. Überprüfungsfunktion und Kontrollrolle (im Vergleich wenigstens mit den Aufhebungsklagen gegen Schiedssprüche in manchen anderen ausländischen Rechtsordnungen). Nach dem griechischem Zivilprozessrecht ist das Rechtsmittel der Wiederaufnahme des Verfahrens ein außerordentliches Rechtsmittel. Daher ist es zulässig nur gegen bestimmte Entscheidungen und nur für bestimmte Gründe. Nach der in Griechenland herrschenden Meinung werden im Art. 544 (562) grZPO die Wiederaufnahmegründe abschließend und restriktiv geregelt, sodass sie keine analoge Anwendung – d. h. auch keine Ausdehnung durch Analogie – erlauben.27 Ein Wiederaufnahmegrund liegt nach der obigen ZPO-Vorschrift in den folgenden Fällen vor: a) Wenn in derselben Sache zwischen denselben Parteien, die in derselben Eigenschaft den Prozess geführt haben, und von demselben oder von verschiedenen Gerichten einander widersprechende Entscheidungen erlassen worden sind [Art. 544 (562) Ziff. 1]. b) Wenn eine Partei nicht rechtmäßig vertreten worden ist, soweit die Prozessführung nicht nachträglich ausdrücklich oder stillschweigend genehmigt wurde [Art. 544 (562) Ziff. 2]. c) Wenn dieselbe Person im Prozess als Partei im eigenen Namen erschienen ist oder sie mehrere Parteien unter mehreren Eigenschaften mit entgegenstehenden Interessen im Prozess vertreten hat [Art. 544 (562) Ziff. 3]. d) Wenn jemand, ohne eine Vollmacht zu besitzen, als Be25
G. Rammos/N. K. Klamaris, Grundriss des Zivilprozessrechts, Bd. II (in griechischer Sprache), Athen 2009, S. 84. 26 Aus der griechischen Literatur in Bezug auf das Rechtsmittel der Wiederaufnahme des Verfahrens ist repräsentativ auf die Doktorarbeit des Athener Professors K. Beys, Die Wiederaufnahmegründe und ihre Ausdehnung durch Auslegung, 1996, sowie auf die Monographie des Vizepräsidenten a. D. des Areopags A. Papatheodorou, Zusätzliche Wiederaufnahmegründe nach der (griechischen) ZPO, 2018 (beide in griechischer Sprache) hinzuweisen. 27 So K. D. Kerameus, Rechtsmittel, 4. Aufl. (in griechischer Sprache) Athen 2007, S. 92. Die gegenteilige Ansicht für die Ausdehnung bzw. Erweiterung der Wiederaufnahmegründe durch Analogie hat vor allem K. Beys (o. Fn. 26), S. 165 vertreten.
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vollmächtigter für eine Partei im Prozess aufgetreten ist, soweit die Prozessführung nicht nachträglich genehmigt worden ist [Art. 544 (562) Ziff. 4]. e) Wenn die angefochtene Entscheidung gefälscht, bzw. unecht, ist, entweder weil sie fälschlich angibt, dass das Gericht mit der vom Gesetz bestimmten Zahl von Richtern besetzt war, oder weil die Entscheidung, wie es sich aus dem Beratungsprotokoll ergibt, nicht mit der nach dem Gesetz erforderlichen Mehrheit erlassen worden oder von den im Gesetz bestimmten Personen unterschrieben ist und die Unterzeichnung durch diese nicht möglich gewesen war [Art. 544 (562) Ziff. 5]. f) Wenn die angefochtene Entscheidung auf der unwahren Aussage eines Zeugen oder einer Partei oder auf einem unwahren Gutachten oder einer unwahren Aussage eines Sachverständigen, auf einem unwahren Parteieid oder einer von der Partei abgegebenen unwahren eidesstattlichen Versicherung oder auf gefälschten Urkunden beruht, falls die Unwahrheit oder die Fälschung durch eine unabänderliche Entscheidung eines Strafgerichts, im Falle einer unwahren Aussage der Partei auch durch ein gerichtliches Geständnis der Partei festgestellt worden ist.28 Wenn die Einlegung der Strafklage oder die Fortführung des Strafverfahrens unmöglich ist, dann wird die Feststellung mit einer Entscheidung erfolgen, die auf eine Hauptklage erlassen wird. Diese Hauptklage muss innerhalb von sechs Monaten nach Erlass der angefochtenen Entscheidung eingelegt werden und, wenn die Unmöglichkeit später eingetreten ist, sechs Monate von diesem Zeitpunkt an29 [Art. 544 (562) Ziff. 6]. g) Wenn die Partei, welche die Wiederaufnahme des Verfahrens beantragt, nach Erlass der angefochtenen Entscheidung eine neue wichtige Urkunde30 aufgefunden oder in Besitz genommen hat, die sie infolge höherer Gewalt nicht rechtzeitig vorlegen konnte oder die der Gegner oder in seinem Einverständnis ein Dritter vorenthalten hat und deren Vorhandensein, sowie der Besitz des Gegners oder des Dritten, der obigen Partei – nämlich dem Wiederaufnahmekläger – während des ersten Prozesses unbekannt war [Art. 544 (562) Ziff. 7]. Das Oberste Gericht der Zivil- und Strafgerichtsbarkeit (Areopag/Areios Pagos) hat in Bezug darauf geurteilt (Entscheidung 905/2005), dass im Falle der gerichtlichen positiven Feststellung der Vaterschaft in Bezug auf ein außerehelich empfangenes Kind doch durch Analogie der Wiederaufnahmegrund 28
Aus der griechischen Bibliographie s. vor allem in Bezug auf diesen Wiederaufnahmegrund die Monographie (in griechischer Sprache) von S. Pantazopoulos, Wiederaufnahme des Verfahrens gegen eine Entscheidung auf Grund von unwahren Beweismitteln (Art. 544 Ziff. 6 grZPO), Athen 2009. 29 Die Vorschrift des Art. 544 (562) § 6 grZPO, in der der betreffende Wiederaufnahmegrund geregelt wird, wurde mit dem Gesetz 4335/2015 (Art. drei des Art. 1 [sic!] des Gesetzes 4335/2015) modifiziert. 30 Aus der griechischen Bibliographie s. vor allem in Bezug auf diesen Wiederaufnahmegrund die Monographie (in griechischer Sprache) von S. Pantazopoulos, Wiederaufnahme des Verfahrens gegen eine Entscheidung wegen der Auffindung einer neuen Urkunde, Athen, 2005; G. Orfanidis, Der Begriff der höheren Gewalt bei der Auffindung einer neuen Urkunde als Wiederaufnahmegrund (Art. 544 Ziff. 7) (in griechischer Sprache), Griechische Justiz 43 (2002), S. 959 f.; ders., Neue Tatsachen und der Wiederaufnahmegrund der Auffindung einer Urkunde (Art. 544 Ziff. 7 ZPO), in: Festschrift für K. Beys, Bd. V, Athen 2003, S. 4447 – 4495.
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des Art. 544 (562) Ziff. 7 grZPO gilt, wenn die Partei, welche die Wiederaufnahme beantragt, einen DNA-Test vorlegt, der erst später genau wegen der inzwischen entsprechenden wissenschaftlichen Entwicklung und dem inzwischen erreichten wissenschaftlichen Niveau der Forschung durchgeführt und vorgelegt werden konnte und der früher (wegen des damaligen wissenschaftlichen Niveaus) nicht durchgeführt und vorgelegt werden konnte.31 h) Wenn die angefochtene Entscheidung auf eine Entscheidung eines Zivil-, Straf- oder Verwaltungsgerichts gegründet ist, die nach der letzten mündlichen Verhandlung, auf der die angefochtene Entscheidung beruht, durch eine unabänderliche Entscheidung aufgehoben worden ist [Art. 544 (562) Ziff. 8]. i) Wenn eine Partei im Prozess ihren Prozessgegner als Person mit unbekanntem Aufenthalt geladen hat, obwohl sie seinen Aufenthalt kannte [Art. 544 (562) Ziff. 9]. j) Wenn der Inhalt der angefochtenen Entscheidung von einer passiven Bestechung oder von einer anderen vorsätzlichen Pflichtverletzung des im Erlass der Entscheidung mitwirkenden Richters wesentlich beeinflusst wurde, falls die passive Bestechung oder die Pflichtverletzung mit einer unabänderlichen Entscheidung eines Strafgerichts bewiesen werden. Wenn die Einlegung der Strafklage oder die Fortführung des Strafverfahrens unmöglich ist, dann muss die passive Bestechung oder die Pflichtverletzung mit einer Entscheidung bewiesen werden, die in Bezug auf eine entsprechende Hauptklage erlassen wird. Diese Hauptklage muss innerhalb von sechs Monaten vom Erlass der angefochtenen Entscheidung an eingelegt werden und, wenn die Unmöglichkeit später eingetreten ist, sechs Monate von diesem Zeitpunkt an32 [Art. 544 (562) Ziff. 10]. Wegen dieser Regelung der griechischen ZPO (die Bestimmung der Wiederaufnahmegründe zugleich als Anfechtungs-/Aufhebungsgründe gegen Schiedsentscheidungen) stellt sich im Rahmen des griechischen ZPO-Schiedsverfahrensrechts nicht die Frage, ob im griechischen ZPO-Schiedsverfahrensrecht zusätzlich/parallel/ neben der traditionellen Anfechtungs-/Aufhebungsklage auch das Rechtsmittel der Wiederaufnahme (im Rahmen eines Wiederaufnahmeverfahrens) gegen die Entscheidungen der Schiedsgerichte eingeführt werden sollte.33 Es ist allerdings zu erwähnen, dass nur Art. 897 (958) grZPO durch die oben genannte direkte Verweisung auf den Art. 544 (562) grZPO – und dementsprechend auch auf die dort vorgesehenen Wiederaufnahmegründe – als Anfechtungs-/Aufhebungsgründe gegen Schiedsentscheidungen zugleich die Wiederaufnahmegründe 31
Aus der griechischen Literatur in Bezug auf diese Problematik s. G. Lekkas, Die Wiederaufnahme nach genetischer Kontrolle der biologischen Verwandtschaft in den Streitigkeiten von den Verhältnissen Eltern und Kindern und ihr Einfluss auf die Notfristen des Art. 1483 Abs. 1 grBGB, in: ius-iustitia-iurisprudentia, FS für N. K. Klamaris, 2016, S. 435 – 450 (in griechischer Sprache). 32 Dieser Wiederaufnahmegrund wurde in die grZPO mit dem Gesetz 3994/2011 (Art. 45 § 2) eingeführt. 33 In Bezug auf diese Problematik s. aus Sicht der deutschsprachigen zivilprozessualen Bibliographie vor allem die o. Fn. 1 – 3 zitierten Aufsätze von P. Schlosser, W. Rechberger und M. Nueber.
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bestimmt. Im Gegenteil verweist Art. 34 des Gesetzes 2735/1999, der die Anfechtung/Aufhebung der im Rahmen der von diesem Gesetz geregelten internationalen Handelsschiedsgerichtsbarkeit erlassenen Schiedsentscheidungen regelt, auf die Wiederaufnahmegründe des Art. 544 (562) grZPO nicht. Daraus folgt, dass im Rahmen der hellenischen Rechtsordnung die Schiedsentscheidungen, die nach der ZPORegelung erlassen worden sind, auch beim Vorliegen eines Wiederaufnahmegrundes angefochten werden können, während für diejenigen Schiedsentscheidungen, die nach der Regelung des Gesetzes 2735/1999 über die internationale Handelsschiedsgerichtsbarkeit erlassen worden sind, die Wiederaufnahmegründe keine Anfechtungs-/Aufhebungsgründe für diese Schiedsentscheidungen sind. XI. Die Anfechtung der Entscheidung des Berufungsgerichts in Bezug auf die Anfechtungs-/Aufhebungsklage gegen eine Schiedsentscheidung Gegen die Entscheidung des Berufungsgerichts über die Anfechtungs-/ Aufhebungsklage gegen eine Schiedsentscheidung ist die Einlegung des Rechtsmittels der Kassation statthaft.34 Für diese Kassation – und für das entsprechende Kassationsverfahren – gelten die allgemeinen ZPO-Vorschriften [Art. 552 (570) – 582 (600)] über die Kassation, die Kassationsgründe usw.35 Der einzige Unterschied liegt darin, dass nach Art. 898 S. 3 die Entscheidung des Areopags über die Kassation in diesem Fall innerhalb von drei Monaten erlassen werden soll.
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In Bezug auf das Rechtsmittel der Kassation nach der grZPO s. N. K. Klamaris (o. Fn. 14); S. Tsantinis, Kassation, Rechtsstaat und Rechtsmittelstaat, in: ius-iustitia-iurisprudentia, Festschrift für N. K. Klamaris, Athen 2016, Bd. II, S. 833 – 855; D. Tsikrikas, Kassation und Revision im europäischen Vergleich – eine rechtsvergleichende und rechtshistorische Skizze, ZZPInt 4/1999, S. 171 – 204. 35 S. N. K. Klamaris (o. Fn. 14).
Auf dem Weg zu einem Beschäftigtendatenschutzgesetz? Von Rüdiger Krause I. Einführung Die seit mehr als einem halben Jahrhundert andauernden rasanten Fortschritte bei der automatisierten Datenverarbeitung haben Politik, Wirtschaft und Gesellschaft weltweit grundlegend verändert und tun dies in hohem Tempo auch weiterhin. Dabei hat die massive Ausweitung der technischen Möglichkeiten zur Erhebung, Speicherung und Auswertung von Informationen einen ambivalenten Charakter. Auf der einen Seite vermehren sich hierdurch die Handlungsoptionen für begrüßenswerte ökonomische, soziale und ökologische Entwicklungen. Auf der anderen Seite kann die Herrschaft über personenbezogene Daten frei nach dem Wort von Francis Bacon „Knowledge is power“ Machtungleichgewichte im Verhältnis zwischen Staat und Bürger, aber auch im Verhältnis zwischen Privaten untereinander hervorrufen bzw. verstärken. Dementsprechend hat sich schon frühzeitig die Erkenntnis durchgesetzt, dass der „Datenmacht“ Grenzen gesetzt werden müssen und es insoweit nicht nur technischer und organisatorischer Vorkehrungen bedarf, sondern auch normative Vorgaben für den Umgang mit personenbezogenen Daten aufgestellt werden müssen.1 Dass sich hierfür – nicht nur in Deutschland – der Begriff des „Datenschutzes“ durchgesetzt hat, erscheint zwar nicht ganz glücklich, weil es nicht um den Schutz von Daten um ihrer selbst willen, sondern um den Persönlichkeitsschutz der Betroffenen geht,2 hat dem enormen Wachstum dieser Rechtsmaterie indes keinen Abbruch getan. Einen wichtigen Teilaspekt dieser Entwicklung stellt der Beschäftigtendatenschutz dar, der mit dem allgemeinen Datenschutz als einer Querschnittsmaterie3 verschränkt ist, dem aber doch eigenständige Bedeutung zukommt. Einerseits sind die allgemeinen deutschen und europäischen Regelungen zum Datenschutz im Rahmen ihres jeweiligen Anwendungsbereichs seit jeher auch auf arbeitsrechtliche Beziehungen anwendbar.4 Andererseits zählen Arbeitsverhältnisse zwar schon seit langem zu
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Vgl. Simitis, NJW 1971, 673 (676). Siehe nur Grimm, JZ 2013, 585 (585); ferner bereits Garstka, DVBl 1988, 981 (981). 3 So schon BT-Drs. 7/1027, S. 16. 4 Statt aller Simitis, AuR 1977, 97 (98), zum BDSG 1977; Krimphove, NZA 1996, 1121 (1121), zur DSRL 95/46/EG. 2
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den wichtigsten Datensammelstellen,5 lassen sich aufgrund der Eingliederung der Beschäftigten in die betriebliche Sphäre des Arbeitgebers zur Ausübung weisungsgebundener Dienste aber nicht einfach mit anderen privatrechtlichen Beziehungen vergleichen, in denen es zur Verarbeitung von personenbezogenen Daten kommt, wie etwa bei Versicherungsverträgen oder im Onlinehandel. Auch sonst ist das Verhältnis von Arbeitsrecht und Datenschutzrecht nicht spannungsfrei. So haben die Regelungstechnik und der Sprachstil des deutschen Datenschutzrechts, die beide stark den Geist des allgemeinen Verwaltungsrechts atmen,6 nicht gerade dazu beigetragen, dieses Rechtsgebiet als einen integralen Bestandteil des Arbeitsrechts zu begreifen, obgleich der Schutz der Persönlichkeit der Beschäftigten zu den traditionellen Anliegen des Arbeitsrechts zählt.7 In diesem Sinne hat die Rechtsprechung, um nur zwei Beispiele zu nennen, noch Jahre nach Inkrafttreten der einschlägigen Regelungen des BDSG das sog. „Fragerecht“ (treffender: Informationserhebungsrecht)8 des Arbeitgebers sowie das Recht des Arbeitnehmers auf Entfernung unzutreffender bzw. nicht mehr relevanter Abmahnungen aus der Personalakte ausschließlich auf allgemeine arbeitsrechtliche Grundsätze gestützt,9 nicht aber die eigentlich zumindest vorrangigen Spezialvorschriften10 herangezogen.11 Zu einem anfänglichen „Fremdeln“ dürften auch die unterschiedlichen Schutzkonzeptionen von allgemeinem Arbeitsrecht und besonderem Datenschutzrecht beigetragen haben. Während das Arbeitsrecht von einer allgemeinen Datenverarbeitungsfreiheit des Arbeitgebers ausgeht und erst bei nachweislichen Eingriffen in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers Grenzen zieht („harmbased approach“), erklärt das Datenschutzrecht innerhalb seines Anwendungsbereichs gerade umgekehrt jede Verarbeitung personenbezogener Daten im Ausgangspunkt für unzulässig und verlangt für ihre Rechtmäßigkeit eine hinreichende Rechtsgrundlage (generelles Verbot mit Erlaubnisvorbehalt, „rights-based approach“).12 Da der Arbeitgeber selbst bei der schlichten Überweisung der Arbeitsvergütung zwangsläufig Daten der Beschäftigten verarbeiten muss, was in allen größeren Unternehmen schon seit langem nur noch automatisiert vorstellbar ist, gelangt man aus daten5 So bereits Ehmann, NZA 1985, Beilage 1, S. 2 (3); ebenso Teske, CR 1988, 670 (672); prägnant Simitis, Schutz von Arbeitnehmerdaten. Regelungsdefizite – Lösungsvorschläge, 1980, S. 3 ff. 6 Siehe auch Franzen, RdA 2010, 257 (258): „Polizeirecht“. 7 Grdl. Wiese, ZfA 1971, 273 ff. 8 Riesenhuber, NZA 2012, 771 (771). 9 Vgl. BAG 20. 3. 2014 – 2 AZR 1071/12, NZA 2014, 1131 Rn. 29 (Fragerecht); 19. 7. 2012 – 2 AZR 782/11, NZA 2013, 91 Rn. 13 (Entfernungsanspruch). 10 Nämlich §§ 4 Abs. 1, 32 Abs. 1 S. 1 BDSG a. F. (Fragerecht = Datenerhebung); § 32 Abs. 2 BDSG a. F. (Entfernungsanspruch = Löschung). 11 Siehe nunmehr aber LAG Sachsen-Anhalt 23. 11. 2018 – 5 Sa 7/17, NZA-RR 2019, 355 Rn. 46: Löschungsanspruch („Recht auf Vergessenwerden“) aus Art. 17 DSGVO. 12 Plastische Gegenüberstellung beider Ansätze bei Sproll, ZIP 1984, 23 (23); dazu auch Herschel, BB 1982, 2128 (2128 f.).
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schutzrechtlicher Sicht somit zu der aus der arbeitsrechtlichen Perspektive ungewöhnlichen Vorstellung, dass es dem Arbeitgeber zugespitzt formuliert grundsätzlich verboten und nur ausnahmsweise erlaubt ist, dem Arbeitnehmer das ihm zustehende Entgelt (zumindest auf diese Weise) zukommen zu lassen. Hieran werden zugleich die grundsätzlichen Friktionen deutlich, die sich aus der konzeptionellen Gleichsetzung von staatlichem und privatem Handeln im Datenschutzrecht ergeben, obwohl die Grundrechte als verfassungsrechtliche Basis des Datenschutzes nur gegenüber staatlichen Eingriffen als Abwehrrechte mobilisiert werden können, während es bei privaten Aktivitäten um den Ausgleich prinzipiell gleichgeordneter Freiheitssphären aufgrund der Schutzpflichtdimension der Grundrechte13 geht.14 Darüber hinaus ist bei alledem die Grundfrage, ob das Datenschutzrecht den Persönlichkeitsschutz durch eine Einbeziehung abstrakter Gefährdungen vorverlagert oder ob es zu einer Neuvermessung des Persönlichkeitsschutzes in dem Sinne gekommen ist, dass jede automatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten als solche bereits einen Eingriff in das Persönlichkeitsrecht darstellt, trotz einer heftigen Diskussion in den Anfangsjahren15 letztlich nie abschließend geklärt worden,16 was in das Datenschutzrecht von vornherein eine konzeptionelle Unschärfe hineinträgt.17 Klaus Vieweg hat sich schon mehrfach mit dem facettenreichen Verhältnis von Recht und Technik beschäftigt.18 Vor diesem Hintergrund darf ein Beitrag auf das 13 (Zu) starke Zurücknahme des in Arbeitsverhältnissen gebotenen Schutzes durch Nettesheim, VVDStRL 70 (2011), 7 (40). 14 Hierzu näher Grimm, JZ 2013, 585 (587 ff.); Krönke, Der Staat 55 (2016), 316 (343 ff.); Masing, NJW 2012, 2305 (2306 ff.); ferner bereits Zöllner, RDV 1985, 3 ff.; für einen gleich effektiven Datenschutz gegenüber staatlichen und privaten Gefährdern dagegen HoffmannRiem, AöR 123 (1998), 513 (524 ff.); weiterführend Bäcker, Der Staat 51 (2012), 91 (96 ff.); von vornherein keine Problematisierung bei Geminn/Roßnagel, JZ 2015, 703 (706 ff.). 15 Dazu etwa Bull, NJW 1979, 1177 (1180); Ehmann, NZA 1985, Beilage 1, S. 2 (5); Meister, BB 1976, 1584 (1587 f.); Sproll, ZIP 1984, 23 (23 f.); Zöllner, Daten- und Informationsschutz im Arbeitsverhältnis, 1982, S. 4 ff., 13 ff.; ferner Ehmann, AcP 188 (1988), 230 (298 ff.). 16 Neuere Diskussionen bei Albers, Informationelle Selbstbestimmung, 2005; B. Buchner, Informationelle Selbstbestimmung im Privatrecht, 2006; Bull, Sinn und Unsinn des Datenschutzes, 2015; von Lewinski, Die Matrix des Datenschutzes, 2014; siehe insoweit auch Hermstrüwer, Informationelle Selbstgefährdung, 2016, S. 21 ff.; Solove, Understanding Privacy, 2008, S. 171 ff.; grds. Kritik und Vorschläge für eine Neukonzeption bei Veil, NVwZ 2018, 686 (691 ff.); siehe ferner bereits Ladeur, DÖV 2009, 45 ff. 17 Exemplarisch spürbar etwa bei Grimm, JZ 2013, 585 (586), der einerseits von einem weiten Schutzbereich des Datenschutzes als Unterfall des Persönlichkeitsschutzes spricht, den Datenschutz andererseits aber als Schutz im Vorfeld der eigentlichen Gefahr bezeichnet. Siehe auch BVerfG 13. 6. 2007 – 1 BvR 1550/03 u. a., BVerfGE 118, 168 (184): Recht auf informationelle Selbstbestimmung lässt den Schutz schon auf der Stufe der Persönlichkeitsgefährdung beginnen; BVerfG 24. 4. 2013 – 1 BvR 1215/07, BVerfGE 133, 277 (317): (Jede) Speicherung und Verwendung personenbezogener Daten berührt den Schutzbereich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung. 18 Vieweg, Atomrecht und technische Normung, 1982; ders., Zur Einführung – Technik und Recht, JuS 1993, 894 ff.
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Interesse des geschätzten Jubilars hoffen, der sich angesichts aktueller Entwicklungen auf der rechtspolitischen Ebene mit dem durch den technischen Fortschritt immer drängender werdenden Problem des Beschäftigtendatenschutzes auseinandersetzt und der dabei vor allem fragt, welche Spielräume die DSGVO dem deutschen Gesetzgeber bei der rechtlichen Regelung dieses Themas belässt und vor welchen besonderen Herausforderungen er hierbei steht. II. Bisherige Entwicklung Dass der Beschäftigtendatenschutz überhaupt auf der rechtspolitischen Agenda steht und es sich nicht um ein Gebiet handelt, bei dem es „nur“ um das Ausbuchstabieren eines existierenden Gesetzeswerkes durch Rechtsprechung und Rechtswissenschaft geht, beruht auf dem allseits bekannten Fehlen einer Kodifikation dieser Materie. Dabei hat es in den letzten Jahrzehnten sowohl auf der deutschen als auch auf der europäischen und internationalen Ebene nicht an entsprechenden Forderungen und Ansätzen gefehlt. 1. Deutsche Ebene Nachdem Hessen im Jahr 1970 das weltweit erste Datenschutzgesetz überhaupt erlassen hat19 und im Jahr 1978 das Bundesdatenschutzgesetz in Kraft trat,20 das innerhalb seines – zunächst allerdings nur recht beschränkten – Anwendungsbereichs von Anfang an die automatisierte Datenverarbeitung auch durch „nicht-öffentliche Stellen“ und damit auch durch private Arbeitgeber erfasste,21 wurde bereits Anfang der 1980er Jahre die Schaffung eigenständiger gesetzlicher Regelungen für den Arbeitnehmerdatenschutz gefordert.22 Seither ist die Diskussion nicht mehr zur Ruhe gekommen. So hatte etwa wiederum Hessen schon frühzeitig eine spezielle Vorschrift über den Arbeitnehmerdatenschutz in das Landesdatenschutzgesetz aufgenommen.23 Daneben gab es seit den 1980er Jahren immer wieder entsprechende Vorstöße der Opposition,24 wiederholte Mahnungen des Bundesdatenschutzbeauftragten,25 mehrere dahingehende Bundestagsbeschlüsse26 und sogar eine Ankündigung der Bundesregierung,27 alles indes ohne greifbaren Erfolg, sodass Simitis bereits An19
GVBl. I 1970, S. 625. BGBl. I 1977, S. 201. 21 Frühe Gesamtüberblicke bei Däubler, Gläserne Belegschaften? Datenschutz für Arbeiter, Angestellte und Beamte, 1987; Kroll, Datenschutz im Arbeitsverhältnis, 1981; Wohlgemuth, Datenschutz für Arbeitnehmer, 1983. 22 Simitis (o. Fn. 5). 23 Vgl. § 34 HessDSG, GVBl. I 1986, S. 309. 24 BT-Drs. 10/1180; BT-Drs. 17/69. 25 BT-Drs. 15/888, S. 121; BT-Drs. 15/5252, S. 25; BT-Drs. 16/4950, S. 21. 26 BT-Plenarprotokoll 12/138, S. 11986; BT-Plenarprotokoll 15/157, S. 14733. 27 Vgl. BT-Drs. 14/4239, S. 38. 20
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fang der 2000er Jahre in Überlegungen zum Arbeitnehmerdatenschutz nur noch einen Beitrag zum Epilog einer zwar langen, aber eindeutig ergebnislosen Diskussion erkennen konnte.28 Zur überhaupt ersten, den Arbeitnehmerdatenschutz im BDSG unmittelbar ansprechenden Norm kam es erst im Jahr 2009, als gegen Ende der 16. Legislaturperiode nach dem Bekanntwerden verschiedener Datenschutzskandale die Vorschrift des § 32 BDSG eingefügt wurde,29 die immerhin das Kriterium der Erforderlichkeit ausdrücklich festschrieb, das in der Rechtsprechung freilich bereits seit den 1980er Jahren anerkannt war.30 In der darauffolgenden 17. Legislaturperiode brachte die Bundesregierung sogar einen regelrechten Gesetzesentwurf ein,31 der aber verbreitet auf massive Widerstände stieß und deshalb trotz mehrfacher Nachbesserungen letztlich nicht weiterverfolgt wurde.32 2. Europäische und internationale Ebene Ähnlich ernüchternd fällt der bisherige Befund auf der europäischen Ebene aus. Die europäische Kommission hatte im Zuge der Arbeiten an der ursprünglichen Datenschutzrichtlinie 95/46/EG Anfang der 1990er Jahre zunächst auch eine bereichsspezifische Regelung für das Arbeitsrecht ins Auge gefasst33 und nach einer vorübergehenden Aufgabe dieses Vorhabens Anfang der 2000er Jahre eine neuerliche Initiative angekündigt,34 die aber ebenfalls versandete.35 Keinen Widerhall haben ferner die Empfehlung Nr. R (89) 2 des Ministerkomitees des Europarates zum Schutz personenbezogener Daten für Beschäftigungszwecke aus dem Jahr 198936 sowie der Code of Practice für den Schutz von Beschäftigtendaten der International Labour Organisation aus dem Jahr 199737 gefunden. III. Aktueller unionsrechtlicher Rahmen Mit der nach einem langjährigen Diskussionsprozess entstandenen und seit dem 25. 5. 2018 geltenden DSGVO (EU) 2016/679 ist im europäischen Datenschutzrecht ein umfassend neues Kapitel aufgeschlagen worden. Schon die Umsteuerung von einer Richtlinie auf eine Verordnung lässt das eindeutige Ziel erkennen, eine „soli28
Simitis, RdA 2003, Sonderbeilage 5, S. 43 (43). Zur gesetzgeberischen Motivation siehe BT-Drs. 16/13657, S. 20. 30 Vgl. BAG 22. 10. 1986 – 5 AZR 606/85, NZA 1987, 415 (416 f.). 31 BT-Drs. 17/4230. 32 Zur wechselvollen Entwicklung in der 17. Legislaturperiode siehe WHWS/Düwell, Daten- und Persönlichkeitsschutz im Arbeitsverhältnis, 2. Aufl. 2019, A I Rn. 25 ff. 33 Vgl. Erwägungsgrund 68 RL 95/46/EG. 34 Siehe KOM(2003) 312 endg., S. 18. 35 Dazu Simitis, AuR 2001, 429 (431); ders., RdA 2003, Sonderbeilage 5, S. 43 (44 ff.). 36 Abgedruckt in CR 1990, 302. 37 Dazu Simitis, FS Dieterich, 1999, 601 ff. 29
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den, kohärenteren und klar durchsetzbaren“ Rechtsrahmen für den Datenschutz in der Europäischen Union zu schaffen38 und den „Datenschutz-Flickenteppich“ aus unterschiedlichen mitgliedstaatlichen Regelung im Grundansatz hinter sich zu lassen. Dabei strebt die DSGVO ausweislich ihres Art. 1 den Schutz von Grundrechten und Grundfreiheiten natürlicher Personen im Hinblick auf personenbezogene Daten (Abs. 1 und 2),39zugleich aber auch den freien Verkehr dieser Daten innerhalb der Union (Abs. 1 und 3) an. 1. Verhältnis von DSGVO und Beschäftigtendatenschutz Die DSGVO verhält sich zum Thema des Schutzes von Beschäftigtendaten mehrdimensional. So enthält sie zunächst wie schon zuvor die DSRL einerseits keine Bereichsausnahme für den Beschäftigtendatenschutz. Vielmehr lässt die DSGVO an einer Reihe von Stellen klar erkennen, dass sie auch auf Verarbeitungssituationen in arbeitsrechtlichen Zusammenhängen anwendbar ist.40 Andererseits gibt es keine Vorschriften, die umfassend Verarbeitungssituationen im Beschäftigungskontext regeln. Damit sind auf arbeitsrechtliche Gestaltungen im Ausgangspunkt lediglich die allgemeinen Grundsätze der DSGVO anwendbar. Dies gilt namentlich für die zentrale Norm des grundsätzlichen Verbots der automatisierten bzw. dateibezogenen Verarbeitung personenbezogener Daten mit Erlaubnisvorbehalt (Art. 6 Abs. 1 DSGVO) sowie für die bei der Verarbeitung generell zu beachtenden Prinzipien, etwa den Transparenzgrundsatz (Art. 5 lit. a DSGVO) und den Zweckbindungsgrundsatz (Art. 5 lit. b DSGVO). Eine Besonderheit ist das ausdrückliche Zugeständnis an mitgliedstaatliche Regelungsbefugnisse durch die Öffnungsklausel des Art. 88 DSGVO, die es den Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Verarbeitung personenbezogener Daten im Beschäftigungskontext erlaubt, durch Rechtsvorschriften oder Kollektivvereinbarungen „spezifischere Vorschriften“ zu schaffen. Konsequenz dieser auch an zahlreichen anderen Stellen verwendeten Regelungstechnik, die der eigentlich angestrebten Einheitlichkeit zuwiderläuft („Handlungsformenhybrid“),41 ist für den Fall der Nutzung der Öffnungsklausel ein compositum mixtum der Rechtsanwendung: Als Verordnung entfaltet die DSGVO gemäß Art. 288 Abs. 2 S. 2 AEUV zunächst unmittelbare Geltung. Darüber hinaus sind ihre zentralen Bestimmungen hinreichend genau und unbedingt formuliert, sodass diese auch unmittelbar anwendbar sind.42 Soweit die Öffnungsklausel reicht, treten die Vorschriften der DSGVO aber gegenüber dem ausfüllenden mitgliedstaatlichen Recht zurück, wobei die Vorgaben der DSGVO in dem 38
Vgl. Erwägungsgrund 7 DSGVO. Die unterbliebene Konkretisierung bemängelnd Veil, NVwZ 2018, 686 (691). 40 Siehe Art. 4 Abs. 4, 9 Abs. 2 lit. b u. h, Erwägungsgründe 48, 52, 71 u. 75 DSGVO. 41 So Kühling/Martini, EuZW 2016, 448 (449). 42 Zur unmittelbaren Anwendbarkeit als eine von der unmittelbaren Geltung zu unterscheidende Kategorie siehe nur Streinz/W. Schroeder, EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 288 AEUV Rn. 45 f. 39
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Augenblick wieder aktiviert werden, in dem mitgliedstaatliche Rechtsvorschriften oder Kollektivverträge den durch die Öffnungsklausel geschaffenen Freiraum verlassen. Weitere Öffnungsklauseln, die auch im Bereich der Beschäftigung Relevanz erlangen können, finden sich in Art. 9 Abs. 4 DSGVO sowie in Art. 23 Abs. 1 DSGVO, wobei grundsätzlich jede Klausel eigenständig daraufhin abgeklopft werden muss, welchen Spielraum sie den Mitgliedstaaten einräumt. 2. Personelle und sachliche Reichweite der Öffnungsklausel Die „spezifischere(n) Vorschriften“ der Mitgliedstaaten zum Beschäftigtendatenschutz im Sinne von Art. 88 DSGVO müssen sich – selbstverständlich – im Rahmen der Öffnungsklausel halten. Dabei werfen schon die personelle und die sachliche Reichweite verschiedene Fragen auf. So betrifft die Öffnungsklausel zunächst nur die Verarbeitung von Beschäftigtendaten. Allerdings findet sich weder in Art. 88 DSGVO noch in den Erwägungsgründen eine nähere Konkretisierung des Beschäftigtenbegriffs. Da keine Anhaltspunkte für eine Verweisung auf das jeweilige mitgliedstaatliche Recht vorliegen, ist nach den allgemeinen Grundsätzen eine autonome Begriffsbildung vorzunehmen.43 Auch wenn es an einem für sämtliche europäischen Rechtsakte einheitlichen Beschäftigtenbegriff fehlt, hat sich – ausgehend von der Arbeitnehmerfreizügigkeit gemäß (heute) Art. 45 AEUV – als dessen fester Kern das Vorliegen einer Rechtsbeziehung herausgebildet, bei dem eine Person Dienste in einem rechtlichen Abhängigkeitsverhältnis erbringt und hierfür eine Vergütung erhält („Lawrie-Blum-Formel“).44 Es spricht daher alles dafür, diese Definition, die sich mit dem deutschen Begriff des Arbeitsvertrags deckt, wie er seit 2017 in § 611a BGB in schlichter Übernahme der bisherigen Rechtsprechung kodifiziert ist, auch für die personelle Reichweite der Öffnungsklausel zugrunde zu legen.45 Ohne weiteres einzubeziehen sind Bewerber sowie ehemalige Arbeitnehmer,46 was praktisch von herausragender Bedeutung ist, weil die Datenerhebungen in der Bewerbungsphase in den Zeiten von Background Checks („Pre-Employment Due Diligence“)47 und Robot Recruiting48 43 Kühling/Buchner/Maschmann, DS-GVO/BDSG, 3. Aufl. 2020, Art. 88 DS-GVO Rn. 8 ff., 11; BeckOK DatenschutzR/Riesenhuber, 33. Ed. 1. 5. 2020, DS-GVO Art. 88 Rn. 29; HK-DS-GVO/BDSG/Thüsing/Traut, 2. Aufl. 2020, Art. 88 Rn. 14. 44 Dazu generell Junker, EuZA 2016, 184 (188 f.); Sagan, ZESAR 2020, 3 (4). 45 Franzen, EuZA 2017, 313 (349); Körner, NZA 2016, 1383 (1384); Kühling/Buchner/ Maschmann (o. Fn. 43), Art. 88 DS-GVO Rn. 12; HK-DS-GVO/BDSG/Thüsing/Traut (o. Fn. 43), Art. 88 Rn. 14. 46 Kühling/Buchner/Maschmann (o. Fn. 43), Art. 88 DS-GVO Rn. 14; Simitis/Hornung/ Spiecker/Seifert, Datenschutzrecht, 2019, Art. 88 DS-GVO Rn. 18; HK-DS-GVO/BDSG/ Thüsing/Traut (o. Fn. 43), Art. 88 Rn. 14. 47 Vgl. Hohenstatt/Stamer/Hinrichs, NZA 2006, 1065 ff.; dazu aktuell auch LAG BadenWürttemberg 21. 2. 2019 – 3 Sa 65/17, ZD 2020, 50 (allerdings im Rahmen eines Anfechtungsfalls). 48 Vgl. Freyler, NZA 2020, 284 ff.
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zu den brisantesten Bereichen des Arbeitnehmerdatenschutzes gehört. Darüber hinaus sind die sog. arbeitnehmerähnlichen Personen, die definitionsgemäß zwar wirtschaftlich unselbständig, aber nicht rechtlich abhängig sind, ebenfalls hierher zu rechnen, weil sie noch unmittelbar dem Arbeitsleben zugeordnet werden können.49 Schwieriger ist die Sachlage dagegen im Hinblick auf die seit einiger Zeit stärker in den Fokus geratene Gruppe der Solo-Selbstständigen, von denen die ökonomisch abhängigen arbeitnehmerähnlichen Personen nur eine Teilgruppe bilden. Auch wenn es nicht wenige Solo-Selbständige gibt, die sich in wirtschaftlich prekären Verhältnissen befinden, lässt es die Beschränkung von Art. 88 DSGVO auf Beschäftigte nicht zu, diesen Personenkreis ebenfalls pauschal einzubeziehen.50 Dies bedeutet im Ergebnis freilich nur, dass die allgemeinen Vorschriften der DSGVO „pur“ anwendbar sind. Anders als sonst vielfach im Arbeitsrecht endet mit dem personellen Anwendungsbereich der arbeitsrechtlichen Regelungen also keineswegs jeglicher Schutz. In sachlicher Hinsicht verlangt der „Beschäftigungskontext“ nur irgendeinen funktionalen Zusammenhang zwischen der Datenverarbeitung und dem Beschäftigungsverhältnis. Auch diesen Begriff wird man vergleichsweise weit auszulegen haben, sodass eine Grenze erst erreicht ist, wenn ein Beschäftigter dem Arbeitgeber wie ein beliebiger Dritter gegenübersteht. Einbezogen wäre also etwa noch die Verarbeitung von Beschäftigtendaten im Zusammenhang mit verbilligten Arbeitnehmerdarlehen oder einem günstigeren Personaleinkauf, ebenso die Datenverarbeitung innerhalb von Konzernen. Dagegen unterfällt die Videoüberwachung von öffentlichen Verkaufsräumen im Hinblick auf Beschäftigte, die sich in ihrer Freizeit in ein dem Arbeitgeber gehörendes Kaufhaus begeben, dem allgemeinen Datenschutzrecht. Ein Grenzfall ist die Übermittlung von Beschäftigtendaten zur Vorbereitung einer Unternehmenstransaktion („Due Diligence“),51 die man um des inneren Zusammenhangs willen aber noch der Öffnungsklausel zuschlagen sollte.52 Die Einbeziehung von solchen Formen der Verarbeitung von Beschäftigtendaten, die weder automatisiert sind noch unter Bezug auf ein Dateisystem erfolgen, wie etwa individuelle Fragen des Arbeitgebers in einem Bewerbungsgespräch oder Tor-, Taschen- und Schrankkontrollen, in ein mitgliedstaatliches Gesetz, wie dies schon jetzt durch § 26 Abs. 7 BDSG geschieht, erscheint im Ergebnis unproblematisch. Da diese Art der Datenverarbeitung außerhalb des sachlichen Anwendungsbereichs der DSGVO liegt, gibt es von vornherein keinen Anwendungsvorrang des europäischen Rechts, 49 DWWS/Däubler, EU-DSGVO und BDSG, 2. Aufl. 2020, Art. 88 DS-GVO Rn. 7; Kühling/Buchner/Maschmann (o. Fn. 43), Art. 88 DS-GVO Rn. 14; HK-DS-GVO/BDSG/ Thüsing/Traut (o. Fn. 43), Art. 88 Rn. 15; a. A. Simitis/Hornung/Spiecker/Seifert (o. Fn. 46), Art. 88 DS-GVO Rn. 19; Ehmann/Selmayr/Selk, DS-GVO, 2. Aufl. 2018, Art. 88 Rn. 45. 50 Kühling/Buchner/Maschmann (o. Fn. 43), Art. 88 Rn. 13; HK-DS-GVO/BDSG/Thüsing/Traut (o. Fn. 43), Art. 88 Rn. 15. 51 Dazu Göpfert/Meyer, NZA 2011, 486 ff.; Sander/Schumacher/Kühne, ZD 2017, 105 ff. 52 Ebenso Ehmann/Selmayr/Selk (o. Fn. 49), DS-GVO Art. 88 Rn. 51; a. A. Kühling/ Buchner/Maschmann (o. Fn. 43), Art. 88 DS-GVO Rn. 21; HK-DS-GVO/BDSG/Thüsing/ Traut (o. Fn. 43), Art. 88 Rn. 17.
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der durch eine Öffnungsklausel wieder partiell zurückgenommen werden müsste.53 Erst recht bleibt der gerade im deutschen Recht wichtige Bereich der betriebsverfassungsrechtlichen Beteiligungsrechte mit seinem zentralen Mitbestimmungstatbestand gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG bei technischen Überwachungseinrichtungen54 von den Regelungen der DSGVO a priori unberührt. Eine nach den Vorschriften der DSGVO zulässige Verarbeitung von Beschäftigtendaten kann also immer noch an den Schranken des BetrVG scheitern. Insbesondere kann aus Art. 1 Abs. 3 DSGVO, nach dem der freie Verkehr personenbezogener Daten in der Union aus Gründen des Schutzes natürlicher Personen bei der Verarbeitung ihrer Daten nicht eingeschränkt werden darf, keine Zurückdrängung etwaiger Beteiligungsrechte des Betriebsrats abgeleitet werden, weil diese Vorschrift ersichtlich nicht die mitgliedstaatliche Arbeitnehmermitwirkung vor Augen hat. Ebenso außerhalb von Art. 88 DSGVO dürfte der Sonderkündigungsschutz von internen betrieblichen Datenschutzbeauftragten gemäß § 38 Abs. 2 i. V. m. § 6 Abs. 4 S. 2 BDSG stehen, der über den durch Art. 38 Abs. 3 S. 2 DSGVO gewährten Abberufungsschutz hinausgeht, was aktuell zum ersten Vorlageverfahren des BAG an den EuGH mit Bezug zur DSGVO geführt hat,55 wobei einiges dafür spricht, hierin eine genuin arbeitsrechtliche Regelung zu sehen, die durch die DSGVO von vornherein nicht gesperrt wird.56 3. Inhaltliche Reichweite der Öffnungsklausel Die meisten Auseinandersetzungen betreffen die Frage nach der inhaltlichen Reichweite der Öffnungsklausel. Noch weitgehend unbestritten ist es allerdings, dass der Schutzstandard der DSGVO durch mitgliedstaatliche Regelungen nicht abgesenkt werden darf.57 Die ältere Rechtsprechung des BAG, nach der Kollektivvereinbarungen nicht an die Vorgaben des (früheren) BDSG gebunden sein sollten,58 findet auf der europäischen Ebene also von vornherein kein Pendant. Lediglich vereinzelte Stimmen sprechen sich dafür aus, dass durch sektorspezifische Datenschutzregelungen auch großzügigere Verarbeitungsvorgänge zugelassen werden dürfen.59 Dagegen ist höchst streitig, ob durch mitgliedstaatliche Vorschriften eine Erhöhung des Schutzstandards vorgenommen werden kann. Schlagwortartig geht es um die 53 Kort, ZD 2017, 319 (323); Kühling/Buchner/Maschmann (o. Fn. 43), Art. 88 DS-GVO Rn. 66; Wybitul, NZA 2017, 413 (418). 54 Dazu Krause, FS 100 Jahre Betriebsverfassungsrecht, 2020, S. 353 ff. 55 BAG 30. 7. 2020 – 2 AZR 225/20 (A), NZA 2020, 1468. 56 EuArbRK/Franzen, 3. Aufl. 2020, VO 2016/679/EU Art. 38 Rn. 1; Jaspers/Reif, RDV 2016, 61 (64). 57 Siehe nur DWWS/Däubler (o. Fn. 49), Art. 88 DSGVO Rn. 14 m. w. N. 58 BAG 27. 5. 1986 – 1 ABR 48/84, NZA 1986, 643. 59 Klösel/Mahnhold, NZA 2017, 1428 (1431); BeckOK DatenschutzR/Riesenhuber (o. Fn. 43), Art. 88 Rn. 67; HK-DS-GVO/BDSG/Thüsing/Traut (o. Fn. 43), Art. 88 Rn. 38; im Grundansatz auch Jerchel/Schubert, DuD 2016, 782 (783).
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Frage, ob die DSGVO im Hinblick auf den Beschäftigtendatenschutz nur eine Mindestharmonisierung enthält oder letztlich eine Vollharmonisierung vorschreibt. Ein scheinbar eleganter Weg, diesen Streit zugunsten der These der Mindestharmonisierung zu entscheiden, wird mit dem Rekurs auf die Kompetenzfrage beschritten. Die DSGVO selbst nennt Art. 16 Abs. 2 AEUVals Kompetenzgrundlage.60 Dies wird im Hinblick auf den Beschäftigtendatenschutz indes in Zweifel gezogen, weil es sich insoweit um die Regelung von Arbeitsbedingungen handele und Art. 153 Abs. 1 lit. b, Abs. 2 UAbs. 2 lit. b AEUV i. V. m. Art. 114 Abs. 2 AEUV von vornherein lediglich eine Mindestharmonisierung erlaube.61 Dieser Lösungsansatz wirkt auf den ersten Blick charmant, kann aber letztlich nicht überzeugen. So richtet sich die Kompetenzgrundlage entsprechend den allgemeinen Grundsätzen nach dem Ziel und dem Inhalt des jeweiligen Rechtsaktes. Insoweit kann zunächst nicht bezweifelt werden, dass es sich beim Datenschutz um eine Querschnittsmaterie handelt, die in zahlreiche andere Rechtsgebiete hineinreicht. Als allgemeine Kompetenzgrundlage für den Datenschutz kommt daher nur Art. 16 Abs. 2 AEUV infrage, der als solcher eine Vollharmonisierung erlaubt.62 Zweifelhaft kann daher lediglich sein, ob sich diese Kompetenzgrundlage gegenüber Art. 153 AEUV durchsetzt, sie also in der Lage ist, die Entscheidung, nach der auf dem Gebiet der Arbeitsbedingungen nur eine Mindestharmonisierung möglich sein soll, für den besonderen Bereich des Beschäftigtendatenschutzes zu überlagern. Auch wenn dieses Problem bislang soweit ersichtlich weder in der bisherigen Judikatur des EuGH noch im genuin europarechtlichen Schrifttum thematisiert worden ist, lassen sich aus der Rechtslage zur früheren DSRL doch gewisse Schlüsse ziehen. So ist die DSRL seinerzeit auf die Binnenmarktkompetenz (damals Art. 100a EWGV) gestützt worden. Weiter hat der EuGH wiederholt entschieden, dass die DSRL vollharmonisierend gewesen ist, es den Mitgliedstaaten im Interesse des Binnenmarkts also verwehrt war, auf nationaler Ebene einen strengeren Datenschutz vorzuschreiben.63 Schließlich erfasste die DSRL unstreitig auch Beschäftigtendaten.64 Führt man diese Einzelaussagen zusammen, spricht mehr dafür, dass es der Sekundärrechtsgeber in der Hand hat, für den Bereich des Datenschutzes flächendeckend, d. h. unter Einschluss des Beschäftigtendatenschutzes, ein Höchstniveau vorzuschreiben, um hierdurch insbesondere den europaweit agierenden Unternehmen und Konzernen einen europaweit einheitlichen Umgang mit den Daten ihrer Arbeitnehmer zu ermöglichen. Dabei steht es dem Se60
Siehe die Präambel sowie Erwägungsgrund 12. Franzen, DuD 2012, 322 (325 f.); Gola/Schulz, RDV 2013, 1 (4). 62 Kühling/Buchner/Kühling/Raab (o. Fn. 43), Einführung Rn. 8; siehe aber auch Th. Giesen, CR 2012, 550 (554 ff.), der sich für eine strikte Begrenzung auf die grenzüberschreitende Datenverarbeitung ausspricht. Zur Bedeutung der dominanten Zielsetzung eines Rechtsakts für die Rechtsgrundlage grds. EuGH 11. 9. 2003 – C-211/01, Slg. 2003, I-8399 Rn. 39 – Kommission/Rat. 63 Vgl. EuGH 6. 11. 2003 – C-101/01, EuZW 2004, 245 – Lindquist; 24. 11. 2011 – C-468/ 10 u. a., NZA 2011, 1409 – ASNEF. 64 EuGH 30. 5. 2013 – C-342/12, NZA 2013, 723 – Worten. 61
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kundärrechtsgeber selbstverständlich frei, den Vollharmonisierungsansatz von sich aus nicht durchgängig zu verfolgen, sondern den Mitgliedstaaten für Teilbereiche eigenständige Regelungsoptionen zu belassen. Diese Zugeständnisse ergeben sich dann allerdings autonom aus der DSGVO selbst und werden nicht durch die Heranziehung von Art. 153 AEUVals weitere Kompetenzgrundlage speziell für den Sektor des Beschäftigtendatenschutzes heteronom vorgegeben. Wendet man deshalb die auch im europäischen Recht üblichen Auslegungsmethoden65 auf die Interpretation von Art. 88 DSGVO an, ergibt sich ein schillerndes Bild. Der Wortlaut („spezifischere Vorschriften“) erlaubt keinen klaren Schluss, ob es nur um eine Konkretisierung innerhalb des Rahmens der DSGVO gehen soll und ob die Mitgliedstaaten den Rahmen durch strengere Vorschriften zugunsten der Beschäftigten verlassen dürfen. In systematischer Hinsicht spricht der Vergleich mit den andersgearteten Formulierungen in Art. 9 Abs. 4 DSGVO und in Art. 85 Abs. 2 DSGVO eher gegen die Möglichkeit von Verbesserungen bzw. regelrechten Abweichungen, wobei diesem Argument angesichts der großen Komplexität der DSGVO allerdings kein allzu starkes Gewicht beizumessen ist. Weiter hat auch die Entstehungsgeschichte einen eher sibyllinischen Charakter, sofern man sie insgesamt in den Blick nimmt und sich nicht nur einzelne Entwicklungsstadien herausgreift.66 So war der ursprüngliche Kommissionsentwurf von 2012 mit seiner Formulierung „in den Grenzen dieser Verordnung“ eindeutig auf eine Vollharmonisierung angelegt. Diametral entgegengesetzt sprach der Parlamentsentwurf von 2014 ebenfalls eindeutig von Mindestnormen. In den Beratungen des Rates der Jahre 2014 bis 2016 war zunächst von „for more specific rules or for more stricter rules“ die Rede, woraus man ebenfalls klar auf das Konzept einer Mindestharmonisierung schließen konnte. Übrig geblieben ist zum Schluss indes nur die Formulierung „for more specific rules“, was als Abkehr von der Mindestharmonisierung gedeutet werden kann, eher aber noch als Einigkeit darüber, sich in dieser Frage letztlich nicht geeinigt zu haben. Es bleibt die Frage nach dem Sinn und Zweck der Öffnungsklausel vor dem Hintergrund der prinzipiellen Ziele der DSGVO. Danach lässt sich nicht bezweifeln, dass es der DSGVO zwar um ein hohes Datenschutzniveau, im Interesse des Binnenmarktes aber eben auch um ein einheitliches Datenschutzniveau geht, womit sie im klaren Gegensatz zur gleichzeitig ergangenen Richtlinie (EU) 2016/ 680 steht, die ausdrücklich gerade kein Hindernis für strengere Garantien seitens der Mitgliedstaaten aufstellt.67 Dass auch Beschäftigtendaten aus dem auf Vereinheitlichung abzielenden Binnenmarktansatz nicht von vornherein herausfallen, ergibt sich aus Verlautbarungen der Kommission,68 aber auch aus der Überlegung, 65 Siehe nur Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529 ff.; Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1 (8 ff.); Pechstein/Drechsler, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 3. Aufl. 2015, § 7 Rn. 16 ff. 66 Dazu eingehend Morasch, Datenverarbeitung im Beschäftigungskontext, 2019, S. 91 ff. 67 Vgl. Erwägungsgrund 15 RL (EU) 2016/680. 68 Siehe KOM(2010) 609 endg., S. 11: „Verarbeitung personenbezogener Daten im Personalwesen“.
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dass ein einheitliches Personalmanagement in europaweit tätigen Unternehmen und Konzernen durch unterschiedliche Schutzstandards erheblich erschwert wird. Umgekehrt ist zu berücksichtigen, dass der mit Öffnungsklauseln im Grundsatz verfolgte Zweck, den Mitgliedstaaten Abweichung zu ermöglichen, umso stärker verfehlt wird, je enger man den Gedanken der Konkretisierung versteht. Als Ausweg aus diesem Dilemma erscheint eine Art „Spielraumtheorie“ gangbar. Danach setzt die DSGVO einer mitgliedstaatlichen Verschärfung von Schutzstandards auf dem Gebiet des Beschäftigtendatenschutzes einerseits zwar äußerste Grenzen, sodass etwa ein weitgehender Ausschluss der Verarbeitung von Beschäftigtendaten als ein – wenn auch nur theoretischer – Testfall unzulässig wäre. Andererseits ist die offensichtlich gewollte Konkretisierung ein durchaus dehnbarer Begriff, der letztlich nur eine Bindung an eindeutig nachweisbare Grundsätze der DSGVO verlangt. Zudem schreibt Art. 88 Abs. 2 DSGVO als Leitgedanken für die spezifischeren Vorschriften den Schutz der menschlichen Würde und der Grundrechte der betroffenen Person vor, woraus sich eine Direktive ableiten lässt, dass die Mitgliedstaaten im Zweifel für einen effektiveren Beschäftigtendatenschutz sorgen sollen und dementsprechend auch sorgen dürfen. Vor diesem Hintergrund erscheinen etwa formelle Kriterien wie die Schriftform bei der Einwilligung oder die notwendige vorherige Einschaltung des betrieblichen Datenschutzbeauftragten bei intensiven Eingriffsmaßnahmen unproblematisch, während im Hinblick auf materielle Kriterien auf europäischer Ebene wenig mehr gewährleistet ist, als dass die gegenläufigen Interessen der Arbeitgeberseite nicht übergangen werden dürfen, sondern angemessen berücksichtigt werden müssen. IV. Herausforderungen und Perspektiven Der deutsche Gesetzgeber hat die Öffnungsklausel bislang bekanntlich nur durch eine Vorschrift zum Beschäftigtendatenschutz im neuen BDSG genutzt, wobei er mit § 26 BDSG nach seinem eigenem Bekunden nahtlos an den bisherigen § 32 BDSG sowie an die dazu ergangene Judikatur anknüpfen wollte69 und nur redaktionelle Änderungen vorgenommen hat. Immerhin enthält die Gesetzesbegründung einen „Vorbehalt“ der Prüfung, Fragen des Datenschutzes im Beschäftigungsverhältnis gegebenenfalls im Rahmen eines gesonderten Gesetzes zu regeln.70 In diesem Sinne sieht der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD für die 19. Legislaturperiode von März 2018 einen Prüfauftrag für die Schaffung eines eigenständigen Beschäftigtendatenschutzgesetzes vor.71 Um diesen Prüfauftrag einzulösen, hat Bundesarbeitsarbeitsminister Heil Mitte 2020 einen beim BMAS angesiedelten interdisziplinären Beirat mit der Aufgabe eingesetzt, Empfehlungen über die Frage des Ob sowie et-
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BT-Drs. 18/11325, S. 96 f. Vgl. BT-Drs. 18/11325, S. 97. 71 Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, Zeilen 6086 ff. 70
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waiger Inhalte eines solchen Gesetzes vorzulegen.72 Auch wenn im Zeitpunkt der Entstehung der vorliegenden Ausführungen noch keine Ergebnisse vorliegen, erscheint es nicht zuletzt vor dem Hintergrund früherer Ansätze doch möglich, prinzipielle Fragen und Probleme zu formulieren, vor denen jede spezifische Regelung eines Beschäftigtendatenschutzes steht, wobei aus der Vielzahl der relevanten Themen aus Raumgründen nur einige besonders wichtige herausgegriffen werden können. 1. Strukturelle Aspekte In struktureller Hinsicht geht es gleichsam vorab um die Frage der gegenständlichen Reichweite eines etwaigen Beschäftigtendatenschutzgesetzes, die allerdings bis zu einem gewissen Grad durch das Verständnis der sachlichen Reichweite der Öffnungsklausel des Art. 88 DSGVO determiniert wird. So ist zu klären, ob nur Verarbeitungsvorgänge näher geregelt oder ob auch andere Aspekte einbezogen werden sollen.73 Letzteres spielt auf den in jüngster Zeit in der arbeitsgerichtlichen Praxis anschwellenden und mit starken Worten ausgetragenen74 Streit um das Auskunftsrecht nach Art. 15 DSGVO75 sowie die Schadensersatzpflicht gemäß Art. 82 DSGVO76 an. Vergleichbares gilt für die streitige Frage nach der Qualifikation des Betriebsrats als unselbstständiger Teil des für den Datenschutz „Verantwortlichen“ oder aber als datenschutzrechtlich eigenständiger „Verantwortlicher“,77 die angesichts der großen Menge der von Betriebsräten verarbeiteten Beschäftigtendaten sowie der bei Datenschutzverstößen drohenden Haftungs- und Sanktionsrisiken sozialpolitisch außerordentlich brisant ist. Diese skizzierten Problemfelder reißen freilich ein Grundproblem an, vor dem jede gesetzliche Regelung steht. So lässt sich die Ansicht vertreten, dass sich die Antworten auf diese und zahlreiche andere Fragen bereits unmittelbar aus der DSGVO ergeben und es nur um ihre zutreffende Auslegung geht, für die letztverbindlich der EuGH zuständig ist. Allerdings zeigt das aktuelle Beispiel des arbeitsrechtlichen 72 https://www.bmas.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2020/beirat-zum-beschaeftigtendaten schutz-nimmt-seine-arbeit-auf.html. 73 Für eine entsprechende Reichweite der Öffnungsklausel HK-DS-GVO/BDSG/Thüsing/ Traut (o. Fn. 43), Art. 88 Rn. 19 u. 51; im Erg. ebenso Körner, NZA 2019, 1389 (1392 ff.). 74 Vgl. Hamann/Wegmann, BB 2019, 1347 (1350): „Türöffner für Ausforschung und Schikane?“; grds. auch Veil, NVwZ 2018, 686 (688): „gefährliche Verabsolutierung der Idee der Selbstbestimmung“. 75 Z. B. LAG Baden-Württemberg 20. 12. 2018 – 17 Sa 11/18, NZA-RR 2019, 242; ArbG Düsseldorf 5. 3. 2020 – 9 Sa 6557/18, NZA-RR 2020, 409; vertiefend Wybitul/Brams, NZA 2019, 672 ff. 76 ArbG Düsseldorf 5. 3. 2020 – 9 Sa 6557/18, NZA-RR 2020, 409; siehe auch ÖOGH 21. 2. 2020 – 9 ObA 120/19 s, ZD 2020, 355; LAG Mecklenburg-Vorpommern 24. 5. 2019 – 2 Sa 214/18, Juris; vertiefend Wybitul/Brams, CR 2020, 571 ff.; siehe auch Wünschelbaum, BB 2019, 2102 ff. 77 Siehe dazu nur Maschmann, NZA 2020, 1207 ff. m. w. N.
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Sonderkündigungsschutzes des internen betrieblichen Datenschutzbeauftragten,78 dass man über mitgliedstaatliche Regelungen zu Themen, die in der DSGVO angesprochen sind, durchaus nachdenken kann, auch wenn die Frage nach der Zulässigkeit dahingehender Vorschriften letztlich vom EuGH zu beantworten ist. Zudem kann der deutsche Gesetzgeber im Zuge eines etwaigen Beschäftigtendatenschutzgesetzes nicht nur die Öffnungsklausel des Art. 88 DSGVO nutzen, sondern sich gegebenenfalls auch auf andere Öffnungsklauseln stützen. Dies betrifft zunächst die durch Art. 9 Abs. 4 DSGVO ermöglichte Beschränkung der Verarbeitung von genetischen, biometrischen oder Gesundheitsdaten durch mitgliedstaatliche Bedingungen und damit insbesondere das schon seit längerer Zeit diskutierte Problem der Verwendung von biometrischen Daten zu Authentifizierungs- und Autorisierungszwecken, das durch die (restriktive) Entscheidung des LAG Berlin-Brandenburg79 neue Nahrung erhalten hat. Das gilt aber auch für Konkretisierungen des Auskunftsrechts von Arbeitnehmern unter Nutzung der Öffnungsklausel des Art. 23 DSGVO vor dem Hintergrund des Umstands, dass sich im Lauf eines Beschäftigungsverhältnisses in Unternehmen, in denen die Kommunikation digital erfolgt, auf zahllosen Endgeräten Daten ansammeln können, die sich auf einen bestimmten Beschäftigten beziehen. Insoweit haben die Gerichte für Arbeitssachen in der sich nunmehr langsam entwickelnden Judikatur allerdings schon von sich aus Grenzen gesetzt, mag dies teilweise auch eher freihändig und ohne Rückgriff auf die eigentlich hierfür heranzuziehenden Vorschriften der DSGVO geschehen sein.80 Soweit es um die Zielbestimmung geht, steht infrage, ob eine etwaige gesetzliche Regelung ausschließlich dem Ziel eines effektiven Beschäftigtendatenschutzes verpflichtet sein oder ob sie zugleich das Ziel verfolgen soll, den Unternehmen sowie gegebenenfalls auch den Betriebsräten Rechtssicherheit zu verschaffen, also plakativ formuliert nicht nur Verbotszonen benennen, sondern auch Bereiche abstecken und Verfahren vorsehen soll, die zu einer Art „Safe-Harbour-Rule“ für Arbeitgeber beim Umgang mit Beschäftigtendaten führen. Verbindet man dies mit der Frage der rechtlichen Privilegierung von Kollektivverträgen, aber auch von anders gearteten prozeduralen Lösungen wie etwa dem grundsätzlichen Erfordernis des Beiseins des Betroffenen und möglichst auch des Datenschutzbeauftragten sowie eines Betriebsratsmitglieds bei einem Zugriff auf private Sphären des Arbeitnehmers innerhalb des Betriebs (etwa dem Beschäftigten zugeordnete Schränke, Schubladen oder auch Festplattensegmente) oder der Idee von Zertifizierungen bestimmter Programme als beschäftigtendatenschutzfreundlich, gelangt man auf einer allgemeineren Ebene zum Thema der Entwicklung angemessener Governance-Strukturen jenseits der schlichten Festsetzung von Rechtmäßigkeitsanforderungen für einzelne Datenverarbeitungsprozesse. 78
BAG 30. 7. 2020 – 2 AZR 225/20 (A), NZA 2020, 1468. LAG Berlin-Brandenburg 4. 6. 2020 – 10 Sa 2130/19, NZA-RR 2020, 457. 80 Z. B. keine Erwähnung von Art. 12 Abs. 5 S. 1 DSGVO („exzessive Anträge“) durch ArbG Düsseldorf 5. 3. 2020 – 9 Sa 6557/18, NZA-RR 2020, 409. 79
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Wieder stärker auf das materielle Recht bezogen ist die Frage, ob der bisherige gerichtliche Umgang mit dem Beschäftigtendatenschutzrecht lediglich konkretisiert oder gegebenenfalls korrigiert werden soll, wobei dies wiederum in zweifacher Weise mit der Interpretation der DSGVO selbst verwoben ist: Wenn man insoweit bei bestimmten Themen, etwa im Hinblick auf die noch anzusprechende Transparenz von Überwachungsvorgängen eine eher großzügige Linie vertritt, stellt sich die Frage, ob Art. 88 DSGVO eine mitgliedstaatliche Verschärfung erlaubt. Legt man dagegen von vornherein ein restriktiveres Verständnis der DSGVO zugrunde, geht es stattdessen darum, dieser Sichtweise gegenüber einer widerstrebenden Judikatur zum Durchbruch zu verhelfen, obgleich die zutreffende Auslegung der DSGVO letztlich weder vom deutschen Gesetzgeber noch von deutschen Gerichten oder gar von deutschen Rechtsinterpreten, sondern nur durch den EuGH verbindlich entschieden werden kann. Schließlich kann man sich regelungstechnisch die Frage stellen, ob stärker auf Vorschriften gesetzt werden sollte, mit denen man die derzeit vorhandene Generalklausel des § 26 BDSG nur geringfügig weiter auffächert, indem man lediglich äußerste Grenzen nennt (wie etwa das in der Rechtsprechung bereits anerkannte Verbot der „Totalüberwachung“),81 oder ob sich eine detaillierte Normierung typischer Überwachungspraktiken wie etwa die Videoüberwachung und die Lokalisierung von Arbeitnehmern bzw. neuartiger Themen wie der Einsatz algorithmischer Systeme zur Analyse der Belegschaft und Vorbereitung von Entscheidungen auf dem Gebiet des Human Resource Management (People Analytics) empfiehlt. Im Übrigen wird zwar jedes Vorhaben auf dem Gebiet des Datenschutzes zwangsläufig bis zu einem gewissen Grad durch die aktuell verfügbare Technik geprägt. Gleichwohl kann es nicht zweifelhaft sein, dass ein etwaiges Beschäftigtendatenschutzgesetz nicht lediglich an bestimmte technische Funktionalitäten anknüpfen, sondern stärker von den spezifischen Risiken für Arbeitnehmer ausgehen und hierfür von der konkret eingesetzten Technik abstrahierende Lösungen entwickeln sollte, um durch technische Weiterentwicklungen nicht schon in kurzer Zeit überholt zu sein. Gefragt ist somit eine Regelungsarchitektur, die sich nicht in technischen Detailfragen etwa von Microsoft MyAnalytics, Humanyze und Business Microscrope mit ihrem erschreckendem Überwachungspotenzial82 verliert, sondern die technikneutral gestaltet ist,83 zugleich aber den Besonderheiten beim Umgang mit Beschäftigtendaten hinreichend Rechnung trägt.
81 Siehe nur BAG 25. 4. 2017 – 1 ABR 46/15, NZA 2017, 1205 Rn. 29 ff.; 27. 7. 2017 – 2 AZR 681/16, NZA 2017, 1327 Rn. 33. 82 Dazu Bales/Stone, Berkeley Journal of Employment and Labor Law 41 (2020), 1 (16 ff.). 83 Zum Grundsatz der Technologieneutralität siehe auch Erwägungsgrund 15 DSGVO.
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2. Einzelne Themenfelder Betrachtet man einzelne Themenfelder näher, geraten auf der phänomenologischen Ebene Kontrolltechniken wie die Videoüberwachung, die Lokalisierung sowie die Kontrolle des Arbeitsverhaltens bei der Nutzung der betrieblichen IT-Mittel in den Blick. Etwas allgemeiner formuliert geht es um die Frage der Zulässigkeit bzw. die Voraussetzungen heimlicher Überwachungen sowie um die absoluten Grenzen auch von offenen Überwachungen. Diese „Datenperspektive“, um einen Begriff der Datenethikkommission aufzugreifen,84 lässt sich als Transparenzfrage sowie als Persönlichkeitsentfaltungsfrage reformulieren. Gewiss sind beide Fragen durch die DSGVO bis zu einem gewissen Grad normativ vorstrukturiert. So kann man der DSGVO zunächst einen prinzipiellen Vorrang einer für die Betroffenen transparenten Erhebung personenbezogener Daten entnehmen (Art. 5 Abs. 1 lit. a, 13 DSGVO). Darüber hinaus ist die weitere These immerhin vertretbar, dass sich heimliche und damit nicht transparente Formen der Datenerhebung nicht schon durch schlichte Interpretation der DSGVO (etwa von Art. 14 Abs. 5 lit. b DSGVO analog)85 rechtfertigen lassen, sondern es – anders als im Rahmen des Rechts auf Privatheit gemäß Art. 8 EMRK86 – ausdrücklicher mitgliedstaatlicher (gesetzlicher sowie unter Umständen auch kollektivvertraglicher) Regelungen nach Maßgabe von Art. 23 DSGVO bedarf, damit derartig invasive Maßnahmen überhaupt zulässig sind.87 Demgegenüber ist es eher von nachgeordneter rechtstechnischer Bedeutung, ob die gegenwärtige Vorschrift des § 26 Abs. 1 S. 2 BDSG klarer gefasst werden sollte, um deutlicher zum Ausdruck zu bringen, dass die dort genannten höheren Anforderungen an eine Datenerhebung nicht an den schlichten Zweck der Maßnahme anknüpfen, sondern es wesentlich auf die Eingriffsintensität ankommt. Letztlich geht es bis zu einem gewissen Grad darum, welches Maß an Vertrauen in den Arbeitsbeziehungen herrschen soll und ob bzw. unter welchen Voraussetzungen es Arbeitgebern gestattet sein soll, ihren Beschäftigten mit einem prinzipiellen Misstrauen als Hintergrund zahlreicher technischer Kontrollen entgegenzutreten. Ähnlich lässt sich im Hinblick auf die Persönlichkeitsentfaltungsfrage davon sprechen, dass mit rechtlichen Kategorien wie dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und dem Teilaspekt des Gebots der Datenminimierung die normative Richtung vorgeben ist, hiermit aber zugleich über die Grundfrage entschieden wird, in welchem Umfang dem Arbeitgeber die Möglichkeit eröffnet wird, das Verhalten der Beschäftigten nicht nur nach dem gesetzlichen Grundmuster des § 611a BGB durch die Erteilung von Weisungen, son-
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Gutachten der Datenethikkommission, 2019, S. 15. So Byers, NZA 2017, 1086 (1087 ff.). 86 Vgl. EGMR 5. 10. 2010 – 420/07, EuGRZ 2011, 471 – Köpcke; 17. 10. 2019 – 1874/13, NZA 2019, 1697 – López Ribalda. 87 Kühling/Buchner/Maschmann (o. Fn. 43), Art. 88 DS-GVO Rn. 46 f. 85
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dern zusätzlich durch das Bewusstsein, Objekt einer unentrinnbaren Beobachtung zu sein, zu determinieren.88 Im Hinblick auf die jedenfalls in den USA immer weiter um sich greifenden People-Analytics-Verfahren, bei denen aus einer möglichst großen Menge (vorwiegend) von Leistungs- und Verhaltensdaten aus der Vergangenheit durch komplexe Algorithmen auf die Wahrscheinlichkeit einer künftigen Leistung (etwa vorhandene oder nicht vorhandene Potenziale) bzw. eines künftigen Verhaltens (etwa Aufstiegswille oder Abwanderungstendenzen) geschlossen wird, geht es – wiederum in Anlehnung an die Begrifflichkeit der Datenethikkommission89 – im Rahmen der „Algorithmenperspektive“ zum einen um die Diskriminierungsfrage sowie zum anderen um die Metrisierungsfrage. Die Diskriminierungsfrage adressiert die Qualität der Eingangsdaten, hinter denen versteckte oder sogar offene Diskriminierungen stehen können, wie Analysen aus den USA eindrucksvoll demonstrieren.90 Demgegenüber zielt die Metrisierungsfrage darauf ab, ob selbst eine vollkommen diskriminierungsfreie und objektive Vermessung aller möglichen menschlichen Fähigkeiten und Eigenschaften mit dem Ziel der optimalen Verwertung des Arbeitsvermögens gesellschaftlich überhaupt wünschenswert oder ob ihr – und sei es aus paternalistischen Motiven oder aufgrund externer Effekte zulasten Leistungsschwächerer – entgegengetreten werden sollte.91 Wieder stärker auf der rechtstechnischen Ebene liegt das Problem eines Sachvortrags- und Beweisverwertungsverbots als Konsequenz eines Verstoßes gegen Datenschutzvorschriften, was zumeist bei der Klage gegen eine Kündigung aufgrund eines gravierenden Fehlverhaltens, das der Arbeitgeber nur mithilfe datenschutzrechtswidrig gewonnener Erkenntnisse belegen kann, eine Rolle spielt. Die reichhaltige Rechtsprechung des BAG läuft nach derzeitigem Stand darauf hinaus, dass eine Einschränkung des Rechts des Arbeitgebers auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG nur dann gerechtfertigt ist, wenn mit der gerichtlichen Verwertung des vorgetragenen Prozessstoffes ein neuerlicher Eingriff in das Persönlichkeitsrecht des betroffenen Arbeitnehmers verbunden ist, der durch schutzwürdige Interessen des Arbeitgebers nicht gerechtfertigt ist.92 Insoweit stellt sich die Frage, ob und 88 Insoweit kommt der vom BVerfG im Zusammenhang mit dem „Recht auf informationelle Selbstbestimmung“ wiederholt betonte „Einschüchterungseffekt“ („chilling effect“) zum Tragen, vgl. dazu BVerfG 15. 12. 1983 – 1 BvR 209/83 u. a., BVerfGE 65, 1 (43); 12. 4. 2005 – 2 BvR 1027/02, BVerfGE 113, 29 (46); 4. 4. 2006 – 1 BvR 518/02, BVerfGE 115, 320 (342). 89 Gutachten der Datenethikkommission, 2019, S. 15. 90 Vgl. Barocas/Selbst, California Law Review 104 (2016), 671 ff. Siehe hierzu auch Enquete-Kommission „Künstliche Intelligenz – Gesellschaftliche Verantwortung und wirtschaftliche, soziale und ökologische Potenziale“, BT-Drs. 19/23700, S. 334; Orwat, Diskriminierungsrisiken durch Verwendung von Algorithmen, 2019, S. 34 ff. 91 Dazu Rieder, Digital Culture & Society 2 (2016), Nr. 2, 39 ff. Zur Problematik von Mitarbeiterratings ferner Staab/Geschke, Ratings als arbeitspolitisches Konfliktfeld, HBSStudy 429, 2020, S. 27 ff. 92 Siehe nur BAG 23. 8. 2018 – 2 AZR 133/18, NZA 2018, 1329 Rn. 42 ff.
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bis zu welchem Grade der Gesetzgeber diese Abwägung von Grundrechten und grundrechtsgleichem Recht überhaupt verschieben kann, während im Hintergrund das bislang ungeklärte Problem steht, ob nicht in Wirklichkeit die DSGVO diese Thematik regelt.93 V. Abschließende Bemerkungen Der Beschäftigtendatenschutz gehört zweifellos zu den derzeit wachstumsträchtigsten Bereichen des Arbeitsrechts. Eine sich weiterentwickelnde Technik sowie eine ständig voranschreitende Ausdifferenzierung des Rechts stellen den Rechtsanwender vor immer größere Herausforderungen. Ein Beschäftigtendatenschutzgesetz löst gewiss nicht alle auftretenden Probleme. Es könnte aber doch einen erheblichen Beitrag zur Effektivierung des hinter dem Datenschutz stehenden Persönlichkeitsschutzes der Beschäftigten, der gegenwärtig an vielen Stellen bedroht erscheint, sowie zu größerer Rechtssicherheit auf einem umkämpften Gebiet leisten. Der Jubilar wird die weitere Entwicklung auf einem derart „spannenden Beobachtungs- und Aktionsfeld“94 der Regulierung von Technik sicherlich aufmerksam verfolgen.
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BAG 23. 8. 2018 – 2 AZR 133/18, NZA 2018, 1329 Rn. 47. So Vieweg, JuS 1993, 894 (898), zu den generellen Wechselbeziehungen von Technik und Recht. 94
Ein Fehleinkauf Strafbarkeitsrisiken bei der Verpflichtung eines Profi-Fußballspielers Von Hans Kudlich I. Hinführung Der Jubilar steht – gerade in den letzten gut 15 Jahren, in denen mich mit ihm ein kollegiales, zunehmend aber auch ein freundschaftliches Verhältnis verbindet – jedenfalls in seinen wissenschaftlichen Tagungen und größeren Veröffentlichungen insbesondere für die Bereiche des Sport- und des Technikrechts. Freilich würde man Klaus Vieweg Unrecht tun, ihn darauf zu reduzieren. Neben diesen beiden Feldern hat er stets auch das Wirtschaftsrecht in großer Breite verfolgt und bearbeitet,1 ist aber etwa den Erlanger Studierenden auch durch seine Vorlesungen insbesondere zum Sachenrecht2 sowie auch zum Erbrecht bekannt geworden. Daneben ist Klaus Vieweg aber immer auch ein „Universaljurist“ geblieben, der sich – bei der Materie des Technikrechts besonders naheliegend – auch mit dem öffentlichen Recht und teilweise ebenso mit dem Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht befasst hat, da es ihm stets wichtig ist, rechtliche Fragen nicht allein von der Dogmatik, sondern auch von den diese Fragen prägenden Lebenssachverhalten her zu erfassen, welche dann eben Berührungspunkte zu verschiedenen Rechtsgebieten haben. Deshalb möchte ich in diesem Beitrag ein Problem aus dem Strafrecht, hier verknüpft mit einem Sachverhalt aus dem Bereich des (Profi-)Sports, behandeln. Dabei geht es um die Frage, ob sich die Entwicklungen innerhalb unserer Gesellschaft, welche bei wirtschaftlichen Sachverhalten (insbesondere im Zusammenhang mit der Untreue sowie mit dem Korruptionsstrafrecht) zunehmend punitiver agiert,3 auch im Sport widerspiegeln, wenn dort größere Summen bewegt werden. Die hier im Wirtschaftsleben mitunter zur Frage einer Untreuestrafbarkeit führenden unvor-
1 In der jüngeren Vergangenheit deutlich etwa in dem 2019 in erster Auflage erschienen und zusammen mit Fischer verfassten Lehrbuch zum Wirtschaftsrecht. 2 Hierzu ist der Jubilar mit mehreren beeindruckenden didaktischen Werken hervorgetreten, die er zusammen mit wichtigen Schülern verfasst hat: Vieweg/Werner, Sachenrecht, 8. Aufl. 2018; Vieweg/Röthel, Fälle zum Sachenrecht, 4. Aufl. 2017; Vieweg/Regenfus, Examinatorium Sachenrecht, 2. Aufl. 2011. 3 Kritisch zu einer über das Ziel hinausschießen Punitivität im Fall einer strafrechtlichen Fahrlässigkeitshaftung eines ehrenamtlichen Übungsleiters Kudlich/Vieweg, SpuRt 2015, 138.
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teilhaften Investitionen4 sind im Profisport unter dem Stichwort eines „Fehleinkaufs“ geradezu sprichwörtlich. Dabei dürfte außer Frage stehen, dass ein solcher „Fehleinkauf“ keine (noch dazu straf-)rechtlich relevante Pflichtverletzung darstellen kann, wenn ein Spieler sich entgegen wohlbegründeten Prognosen etwa im neuen Verein „nicht durchsetzt“, wenn er aufgrund eines groben Fouls eine schwerwiegende Verletzung erleidet o. ä. Weniger klar ist die Frage dagegen, wenn sich schon anfängliche Anhaltspunkte für ein mögliches Risiko zumindest zu zeigen scheinen. II. Beispielsfall Diese Frage soll im Folgenden anhand eines Beispiels erörtert werden, das in der konkret geschilderten Konstellation zwar fiktiv ist, aber in zumindest ähnlicher Form bzw. mit Abwandlungen gewiss ohne weiteres auch praktisch vorstellbar ist: Zum Verein V gehört unter anderem eine Profi-Fußballmannschaft, die seit vielen Jahren in der ersten Bundesliga spielt. Zwar hat das Team in den letzten zwei Jahrzehnten regelmäßig nicht zu den wenigen Mannschaften gehört, die ernsthaft „um die Meisterschaft mitspielen“ könnten; Mannschaft, Vereinsführung und auch die große Fanbasis haben aber doch die Erwartungshaltung, dass V in der Fußballbundesliga typischerweise um einen Platz kämpfen kann, welcher in der Nachfolgesaison die Teilnahme an einem internationalen Wettbewerb ermöglicht; in manchen Jahren gelingt dies, in anderen nicht. Als V am Ende einer besonders erfolgreichen Spielzeit wieder einmal einen Platz erreicht, der letztlich eine Qualifikation zur Champions League ermöglicht, ist den Verantwortlichen klar, dass sie einerseits durch die Teilnahme an diesem Wettbewerb nicht unerhebliche garantierte Mehreinnahmen haben, dass die Mannschaft sich aber andererseits noch möglichst verstärken sollte, um die Chance zu verbessern, die Gruppenphase der Champions League zu überstehen. Sportvorstand M, dessen Aufgabenbereich früher mit dem Beruf des „Managers“ umschrieben worden wäre, hat dabei ein Auge auf den ausländischen Nationalspieler S geworfen, der für eine Ablösesumme von 20 Millionen E verpflichtet werden kann. S ist zwar keiner der „ganz Großen“ des internationalen Fußballs, ist aber in der Szene bekannt und durchaus geschätzt: Er gilt als talentierter und torgefährlicher Offensivspieler, der aufgrund seiner mitunter spektakulären Spielweise in seinem bisherigen Verein auch ein überdurchschnittlich gutes Standing bei den Fans hat. Angesichts seiner internationalen Erfahrung, seiner Spielstärke und seiner in den vergangenen beiden Jahren relativ konstanten Form im „besten Fußball-Alter“ (25 Jahre) erscheint S als eine gute Er-
4 Dogmatisch steht außer Frage, dass es hier nur um Investitionen gehen, deren Nachteilhaftigkeit bereits ex ante erkennbar ist, nicht dagegen um solche, deren Schadensneigung erst ex post deutlich geworden ist; tatsächlich bzw. in der Richterpsychologie bildet sich diese dogmatische Selbstverständlichkeit freilich nicht immer ab, und es entsteht die Gefahr von Rückschaufehlern, vgl. dazu mit Blick auf das Untreuestrafrecht Kudlich, in: Jäger/KettStraub/Kudlich/Safferling (Hrsg.), FS Streng, 2017, S. 63.
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gänzung des Kaders und der für ihn gezahlte Preis – auch im Quervergleich zu anderen Transfers, die in dieser Spielzeit getätigt werden – als „normal“. Allerdings findet vor der Vertragsunterzeichnung eine sportmedizinische Untersuchung durch den Vereinsarzt Dr. A statt. Dieser stellt bei S belastungsbedingte Schädigungen des Kniegelenks fest. Diese führe zwar zu keinen akuten Problemen, weshalb A für S auch eine Bescheinigung für die Spieltauglichkeit in der Bundesliga ausstellt, bergen aber eine erhöhte Wahrscheinlichkeit einer zukünftigen Verletzungspause. Nach der fachlich insoweit nicht zu beanstandenden Prognose des A müssen sich Spieler mit einer Symptomatik, wie sie bei S vorliegt, in den nächsten 3 – 5 Jahren mit einer Wahrscheinlichkeit von 25 % einer Knie-OP unterziehen, die zu einem mindestens mehrwöchigen Ausfall führt. Am Rande des Gesprächs, in dem A dem M diese Diagnose mitteilt und erläutert, äußert er noch, dass er „M nun nicht um seine Position beneide, da dieser ja nunmehr vor einer schwierigen Entscheidung stehe“; er (A) sei ja skeptisch, ob es eine so gute Idee sei, den S zu verpflichten. Ungeachtet der Diagnose und der Äußerung des A führt M die Verpflichtung durch. S kommt zu V und hat auch immer wieder Probleme mit dem Knie, ohne allerdings zunächst operiert zu werden. Als es einige Wochen später aus anderen Gründen zu Querelen zwischen Fans, Vorstand und Aufsichtsrat kommt, wird dem M u. a. vorgeworfen, S sei doch „ein Fehleinkauf“, da es von Anfang an ein erhöhtes Verletzungsrisiko gegeben habe. In diesem Zusammenhang wird auch geäußert, ein Manager, der sich in einem Wirtschaftsunternehmen eine solche Fehlinvestition leiste, werde sicher wegen Untreue angeklagt. M macht sich Gedanken, ob auch für ihn strafrechtliche Risiken bestehen. III. Vorbemerkungen zur Untreuestrafbarkeit 1. § 266 StGB als Prüfungsmaßstab Prüfungsmaßstab soll im Folgenden die Untreue nach § 266 StGB sein. Dies mag auf den ersten Blick überraschen, doch hat sich der Tatbestand in den letzten beiden Jahrzehnten zur „Allzweckwaffe“5 – von der Kontrolle von Vorstandsvergütungen6 bis zur Vorbereitung von strafrechtlich (noch) nicht erfassbaren Auslandskorruptionen durch Schwarze Kassen7 – entwickelt. Diese Weite führt freilich dazu, dass die Rechtsprechung zahlreiche Tatbestandsmerkmale und Problemkreise der Untreue stark kasuistisch und dabei „eher topisch-assoziativ als logisch-systematisch“ be-
5 Kritisch zugespitzt bei Ransiek, ZStW 116 (2004), 634: „Untreue passt immer“. Vgl. auch Bernsmann, GA 2009, 296 f., der davon spricht, dass die „Untreue (…) in rasantem Tempo hypertrophiert“ und zutreffend darauf hinweist, dass „nicht ausgerechnet die (…) Untreue zum generalklauselartigen Grund [sic] und Auffangdelikt“ werden solle. 6 Vgl. BGHSt 50, 331 (Mannesmann). 7 Vgl. BGHSt 52, 323 (Siemens/ENEL).
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stimmt,8 so dass immer noch der schon in den Diskussionen zur Großen Strafrechtsreform von Hellmuth Mayer geprägte bekannte Satz gilt: „Soweit nicht einer der klassischen alten Fälle der Untreue gegeben ist, weiß kein Gericht und keine Anklagebehörde, ob § 266 vorliegt oder nicht“.9 Unser Beispiel illustriert dies anschaulich: Denn ungeachtet der eben angedeuteten Ausweitungen der Untreuestrafbarkeit in der Rechtsprechung sind – soweit ersichtlich – keine Fälle bekannt, in denen sportliche Entscheidungen, ob ein neuer Spieler auch unter Berücksichtigung all seiner „wertbildenden Eigenschaften“ hätte verpflichtet werden sollen bzw. dürfen, strafrechtlich überprüft worden wäre. Solche Faktoren wären neben dem aktuellen Gesundheitszustand etwa auch Alter, Talent, Erfahrung, Anfälligkeit für Verletzungen, Kompatibilität mit dem Team und seinem System etc. – denn für die Frage, ob eine Verpflichtung eine Vermögensbetreuungspflicht verletzt und einen Schaden herbeigeführt hat, kann nicht auf einen einzelnen Aspekt allein abgestellt werden. 2. Grundzüge der Untreuestrafbarkeit Nach § 266 I StGB macht sich wegen Untreue strafbar, wer „die ihm durch Gesetz, behördlichen Auftrag oder Rechtsgeschäft eingeräumte Befugnis, über fremdes Vermögen zu verfügen oder einen anderen zu verpflichten, missbraucht oder die ihm kraft Gesetzes, behördlichen Auftrags, Rechtsgeschäfts der eines Treueverhältnisses obliegende Pflicht, fremde Vermögensinteressen wahrzunehmen verletzt und dadurch dem, dessen Vermögensinteressen er zu betreuen hat, Nachteil zufügt“. Neben der Schädigung fremden Vermögens durch den Missbrauch einer Verfügungsbefugnis und/oder die Verletzung einer Vermögensbetreuungspflicht enthält der Tatbestand keine subjektiven Merkmale, so dass (nur nach § 15 StGB Vorsatz, aber anders als bei vielen anderen Vermögensdelikten) keine Bereicherungsabsicht erforderlich ist. Die im Gesetzestext durch die beiden Tathandlungsvarianten angelegte Unterscheidung zwischen dem Missbrauchs- und dem Treubruchtatbestand kann vorliegend aus Gründen des begrenzten Raumes vernachlässigt werden, da nach mittlerweile ganz h. M. stets – d. h. auch bei der Missbrauchsuntreue – die Verletzung einer Vermögensbetreuungspflicht erforderlich ist und diese Pflicht zumindest grundsätzlich auch den gleichen Anforderungen genügen muss.10 Insoweit geht auch die Rechtsprechung dieser Unterscheidung nicht immer konsequent auf den Grund, falls zumindest der Treubruchtatbestand (gleichsam als lex generalis zum Missbrauchstatbestand) erfüllt ist. 8
So in seiner Kommentierung in der 11. Auflage des Leipziger Kommentars Schünemann, 11. Aufl., Bd. VII, 2005, § 266 Rn. 97. 9 Vgl. Mayer, Die Untreue, Materialien zur Strafrechtsreform Bd. I, 1954, S. 337. 10 Vgl. BGHSt 24, 386; 33, 244, 250; 50, 331, 342; aus der Literatur nur Satzger/Schmitt/ Widmaier-Saliger, StGB, 4. Aufl. 2019, § 266 Rn. 6 f. m. w. Nachw.
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Objektiv-tatbestandlich ist § 266 StGB mithin durch die Verletzung einer Vermögensbetreuungspflicht und den Eintritt eines Vermögensschadens geprägt. In ersterer spiegelt sich der Charakter der Untreue als Straftat wider, bei der auf das Vermögen als Ganzes (nicht wie beim Betrug durch Täuschung oder bei der Erpressung durch Nötigung, sondern) gleichsam durch eine Aushöhlung „von innen heraus“ zugegriffen wird. Ob eine solche qualifizierte, den Anforderungen des § 266 StGB genügende Vermögensbetreuungspflicht vorliegt, hängt letztlich von den Umständen des konkreten Einzelfalles ab und wird von der Rechtsprechung (und letztlich auch von der h. L.) im Ergebnis anhand eines „Indizienkatalogs“ bewertet. Im vorliegenden Fall ist freilich schon auf Grund der Stellung des M als Mitglied des Vorstandes unproblematisch von einer hinreichenden Vermögensbetreuungspflicht für V auszugehen. Auch soweit es im Detail etwa innerhalb des Vorstandes Sonderzuständigkeiten für den Bereich „Finanzen“ geben sollte, wird man bei jedem Vorstandsmitglied schon auf Grund dieser organschaftlichen Stellung eine Vermögensbetreuungspflicht anzunehmen haben. Dies gilt umso mehr, als der von M betreute Bereich „Sport“ bei einem Verein, der eine Mannschaft in der Fußball-Bundesliga hat, typischerweise das Kerngeschäft sein wird, durch das Einnahmen und Ausgaben maßgeblich generiert werden, so dass dieser Bereich unmittelbare Vermögensrelevanz besitzt. Im zweiten Merkmal zeigt sich der Charakter des § 266 StGB als Vermögensdelikt i. e. S. Dem Merkmal kommt (nicht zuletzt aufgrund des mittlerweile weitgehend anerkannten „Verschleifungsverbots“ von Tathandlung und Taterfolg)11 Bedeutung als eigenständiges Tatbestandsmerkmal zu, das heißt sein Vorliegen müsste auch bei Bejahung einer Pflichtwidrigkeit gründlich geprüft und insbesondere hinreichend beziffert werden können (worauf nicht zuletzt das BVerfG in seiner Leit-Entscheidung zur Untreue nachdrücklich hingewiesen hat12). Im subjektiven Tatbestand schließlich ist Vorsatz erforderlich, während bei § 266 StGB – anders als bei anderen Delikten gegen das Vermögen als Ganzes (also insbesondere als Betrug und Erpressung) keine Bereicherungsabsicht des Täters gefordert wird. Gewissermaßen als Ausgleich dazu werden in der Rechtsprechung allerdings teilweise Einschränkungen beim bedingten Vorsatz angenommen, auf die unten noch zurückzukommen sein wird. IV. Untreue des M durch die Verpflichtung des S? Eine genauere Untersuchung der Voraussetzungen des § 266 StGB hat vor allem auf die Frage nach einer möglichen Pflichtverletzung abzustellen, aber auch die Prüfungspunkte „Schaden“ und „Vorsatz“ verdienen eine nähere Betrachtung:
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Vgl. grundlegend Saliger, ZStW 112 (2000), 563, 610. Vgl. BVerfGE 126, 170 (Rn. 113). Zur Aufnahme der Verfassungsgerichtsentscheidung in der nachfolgenden fachgerichtlichen Rechtsprechung etwa Kudlich, ZWH 2011, 1 ff. 12
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1. Pflichtverletzung a) Grundlagen Die Frage, ob ein Pflichtverstoß vorliegt, beurteilt sich im Grundsatz nach den zugrunde liegenden Rechtsverhältnissen unter Würdigung und Berücksichtigung der konkreten Umstände des jeweiligen Einzelfalls.13 Dabei kommen Verstöße gegen explizite, etwa im Zivilrecht statuierte und ausbuchstabierte Pflichten ebenso in Betracht wie die Verletzung der allgemeinen, letztlich aber zentralen Pflicht, das betreute Vermögen nicht zu schädigen. Anders gewendet: Auch ohne Verstoß gegen formale Vorschriften oder die Überschreitung ausdrücklich begrenzter Befugnisse kann die Verletzung einer Vermögensbetreuungspflicht vorliegen. Klar ist umgekehrt aber auch, dass aufgrund der eigenständigen Bedeutung der verschiedenen Tatbestandsmerkmale des § 266 StGB nicht aus jedem späteren Vermögensverlust automatisch eine Pflichtverletzung abgeleitet werden kann.14 So würde ein etwa eintretendes kurzfristiges Erfordernis einer Operation des S nicht automatisch den Rückschluss auf eine Pflichtverletzung erlauben. Die Verpflichtung eines Spielers ist in einer klassischen Untreue-Terminologie wohl als „Risiko-Geschäft“ einzuordnen, das einerseits zur Erreichung der – hier sportlichen, damit mittelbar aber auch geschäftlichen – Ziele beitragen kann, bei dem aber stets (!) auch das Risiko erkennbar ist, dass sich die Investition aus irgendeinem Grund als nicht lohnend erweist. Solche Geschäfte sind trotz der etwas pejorativen Konnotation des Begriffs keineswegs a priori ausgeschlossen.15 Die Grenzen ihrer Zulässigkeit sind indes im Einzelfall schwierig zu ziehen und mitunter fließend, da (als solche durchaus konsensfähige) normative Begriffe wie die „Unvertretbarkeit“ des eingegangenen Risikos oder die Grenzen des „wirtschaftlich erlaubten Risikos“ gerade nichts darüber aussagen, wann diese Grenzen eingehalten sind, d. h. wann ein Risiko „unvertretbar“ oder aber noch „wirtschaftlich erlaubt“ ist. Zwischen klaren Fällen an beiden Enden des Spektrums liegen die schwierigen Fälle, in denen Gefahren erkannt, für die Erreichung des wirtschaftlichen Zieles unter Abwägung von pro und contra aber in Kauf genommen wurden. Hier stellt sich dann die Frage, ob diese Abwägung aus der ex-ante-Perspektive des Entscheiders unter Berücksichtigung der konkreten Entscheidungssituation, des geschäftlichen Umfeldes und auch der Einhaltung etwaiger formaler Verfahrensschritte noch als vertretbar16 einzustufen oder in einer (Kriminal-) Unrecht begründenden Weise fehlerhaft war. 13
Vgl. BGHSt 8, 254, 258; 24, 386, 387; BGH wistra 1991, 266. Vgl. Fischer, StGB, 67. Aufl. 2020, § 266 Rn. 64; Nomos Kommentar-Kindhäuser, 5. Aufl. 2017, § 266 Rn. 73. 15 Vgl. Fischer (Fn. 14), § 266 Rn. 63 ff.; NK-Kindhäuser (Fn. 14), § 266 Rn. 73, jeweils auch m.Nachw. aus der Rspr. 16 Zur Konstruktion der Untreue als Vertretbarkeitsüberprüfung mit der Konsequenz einer tendenziell restriktiven Auslegung vgl. auch Spickhoff/Schuhr, Medizinrecht, 2. Aufl. 2014, § 266 StGB Rn. 50 – 54, 59, 61. 14
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Dabei ist den Organen einer Gesellschaft grundsätzlich ein gewisser Entscheidungsspielraum i. S. einer Einschätzungsprärogative zuzugestehen. Soweit der Evidenzfall des „Einsetzens nach Art eines Spielers“ vorliegt, haben auch die Strafgerichte zu respektieren, dass wirtschaftliche Entscheidungen – die sich ex post als richtig oder auch falsch herausstellen können – zunächst einmal von den zuständigen Organen zu treffen sind, welche die Gegebenheiten ihres Geschäfts und auch das Risikoprofil ihrer Gesellschaft kennen. Ohne einen solchen Handlungsspielraum ist wirtschaftliches Handeln nicht möglich, wie der BGH in seiner bekannten „ARAG/Garmenbeck-Entscheidung“ deutlich gemacht hat.17 Auch für den Vorstand eines Bundesliga-Vereins mit internationalen Ambitionen gilt aber ohne Zweifel, was in der Gesetzesbegründung zu einer früheren Fassung des AktG geäußert wurde: „den Vorständen dürfe nicht jeder Mut zur Tat genommen werden“.18 b) Bewertung der Verpflichtung des S aa) Dass das generelle Risiko, dass ein Spieler nicht wie erhofft „einschlägt“ als solches keine Pflichtverletzung darstellen kann, liegt nach alldem auf der Hand. Auch war der Sachverhalt so gebildet, dass der Kaufpreis zwar hoch, aber „im Quervergleich angemessen“ und für einen Verein, der in der Champions League spielt, auch nicht gänzlich außerhalb des Rahmens liegt. Somit kommt es zunächst entscheidend darauf an, ob der Erwerb eines Spielers mit einem Operationsrisiko von ca. 25:75 bereits als Verletzung einer Vermögensbetreuungspflicht angesehen werden kann: (1) Auf den ersten Blick erscheint dieses Risiko in der Tat verhältnismäßig hoch, wenn man es mit anderen Risikowahrscheinlichkeiten vergleicht, bei deren Vorliegen im sonstigen Geschäftsleben (etwa beim Ausfallrisiko eines Darlehens) eine Abstandnahme vom Geschäft empfohlen würde. Ein solcher Vergleich würde jedoch zu kurz greifen und weder die Besonderheiten des konkreten (Risiko-)Geschäfts noch seines Umfelds angemessen berücksichtigen. So ist zunächst schon in Rechnung zu stellen, dass ein „Operationsrisiko“ innerhalb einer bestimmten Vertragslaufzeit keineswegs (wie in anderen Konstellationen 17 Vgl. BGHZ 135, 244 = BGH NJW 1997, 1926. Wörtlich heißt es dort: „Diese (gemeint ist eine Pflichtverletzung, H. K.) kann erst in Betracht kommen, wenn die Grenzen, in denen sich ein von Verantwortungsbewußtsein getragenes, ausschließlich am Unternehmenswohl orientiertes, auf sorgfältiger Ermittlung der Entscheidungsgrundlagen beruhendes unternehmerisches Handeln bewegen muß, deutlich überschritten sind, die Bereitschaft, unternehmerische Risiken einzugehen, in unverantwortlicher Weise überspannt worden ist oder das Verhalten des Vorstands aus anderen Gründen als pflichtwidrig gelten muß.“ Vgl. zu dieser Entscheidung und zur Entwicklung von Rechtsprechung und Gesetzgebung auch Adick, Organuntreue (§ 266 StGB) und Business Judgment, 2010, S. 47 ff. Explizit für „Vereine, die eigentlich, wie (…) Vereine der Fußball-Bundesliga, wirtschaftliche Vereine nach § 22 BGB sein müssten, mit Billigung des BGH aber weiter in der Rechtsform des Idealvereins bleiben“ für eine Anwendung der business judgment rule Lutter, ZIP 2007, 841, 848. 18 Amtliche Begründung zu § 84 AktG 1937, hier zitiert nach Lutter, ZRP 2007, 841.
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denkbar) einen „Totalverlust“ der erworbenen Gewinnchance bzw. des erworbenen „Wirtschaftsgutes“ darstellen würde. Vielmehr würde diese(s) selbst bei einem konkreten Operationserfordernis „nur“ für eine gewisse Zeit ausfallen, was der auf den ersten Blick plakativen Zahl „25 %“ einiges von ihrem vermeintlichen Schrecken nimmt. Hinzu kommt, dass auch bei anderen (nicht ersichtlich vorbelasteten) Spielern ein Ausfallrisiko wegen einer Verletzung oder auch wegen chronischer Beschwerden keinesfalls bei (nahe) null liegt. Ein Blick auf den normalen Verlauf von zwei oder drei Spielzeiten macht deutlich, dass sehr viele Spieler – und dabei gerade auch die Leistungsträger, welche grundsätzlich die meisten Pflichtspiele absolvieren – immer wieder einmal Verletzungspausen einlegen müssen. Verdeutlichen kann dies die (nicht einmal Anspruch auf Vollständigkeit erhebende) Kategorie „Verletzungshistorie“ auf der Internetseite „www.transfermarkt.de“. Um sich einen Einblick zu verschaffen, kann man etwa die aktuellen deutschen Nationalspieler der mittleren bis älteren Generation (26 – 30 Jahre oder älter) durchgehen. Die Verletzungshistorien sind auch dann noch beeindruckend, wenn man berücksichtigt, dass sich mitunter auch vergleichsweise harmlose Nennungen wie „muskuläre Probleme“ oder „Fieber“ finden. Dies mag zum einen daran liegen, dass auf Grund der hohen Belastungen im Leistungssport wohl bei vielen Spielern „im besten Fußballalter“ bereits Abnutzungserscheinungen aufgetreten sind; zum anderen ist stets die Möglichkeit akuter Traumata (etwa durch ein Foulspiel eines Gegners) in Rechnung zu stellen. Zwar kommt ein solches akutes Verletzungs-Risiko im vorliegenden Fall noch zur chronischen Vorschädigung hinzu; indes handelt es sich um keine echte Kumulation von Risiken, da bei einer solchen akuten Verletzungspause auch chronische Beschwerden teilweise abklingen (oder im Einzelfall sogar operativ versorgt werden) können. Schließlich wäre in der Terminologie und Logik sonstiger Wertanlagen auch noch zu berücksichtigen, dass – bildlich gesprochen – bei einem Erwerb eines einzelnen Spielers nur ein Ausschnitt aus einem mehr oder weniger stark diversifizierten Portfolio betroffen ist. Umfasst ein Kader etwa 20 – 25 Lizenzspieler, so betreffen die individuellen Ausfallrisiken numerisch gesprochen nur 4 – 5 % der „Anlage“. Auch wenn diese Zahlen noch zu modifizieren bzw. zu korrigieren sind, wenn es sich wie im Fall S um eine überdurchschnittlich teure Verpflichtung handelt (deren Anteil am Investitionsvolumen dann eben über den o. g. 4 – 5 % liegt), macht diese Überlegung doch deutlich, dass ein Abstellen auf die Zahlenwerte bei exakter Betrachtung wesentlich geringere Risiken ergibt, als dies bei den in den Raum gestellten 20 – 30 % auf den ersten Blick erscheint. (2) Des Weiteren ist in Rechnung zu stellen, dass die Verpflichtung eines Spielers auch aus anderen Gründen als wegen etwaiger Verletzungen immer ein Glücks- oder eben ein Fehlgriff sein kann. Auf die Gesamtlaufzeit eines Vertrages gesehen sind nämlich Formschwankungen und insbesondere Inkompatibilitäten mit dem Team oder den Vorstellungen eines Trainers sogar größere Risiken als ein einmaliger Ausfall wegen einer erforderlich gewordenen Operation. Damit soll das finanzielle Ver-
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lustrisiko aufgrund einer solchen Operation gar nicht hinweggeredet werden; denn typischerweise tritt dieses ja gerade neben die übrigen genannten Risiken (d. h., auch ein Spieler mit gegebenenfalls zu einer Operation führenden Vorerkrankungen kann zusätzlich noch formschwach sein, nicht ins Konzept des Trainers passen etc.). Betrachtet man aber die Gesamtchancen und -risiken einer Spielerverpflichtung, so machen diese Überlegungen deutlich, dass eine gesteigerte gesundheitliche Anfälligkeit letztlich nur ein (nicht zu vernachlässigender, aber eben auch nicht überzubewertender) Faktor innerhalb der Gesamtabwägung der Gründe ist, die für bzw. gegen die Verpflichtung sprechen. Die Bundesliga-Geschichte ist voll von entsprechenden Beispielen, bei denen gesundheitliche „Risiko-Kandidaten“ verpflichtet worden sind, von denen manche „Problemkinder“ geblieben sind, andere aber hervorragend eingeschlagen haben. Ohne dass die Überlegungen hier ins Anekdotische abgleiten sollen, seien etwa folgende Beispiele genannt, um die Spannbreite der von einem einzigen Verein bei der Verpflichtung von Spielern in Kauf genommenen Risiken, aber auch der möglichen Verläufe zu zeigen, welche deutlich dafür sprechen, dass eine erhöhte Beschwerdeanfälligkeit letztlich nur ein untergeordnetes Bewertungskriterium darstellen kann: Im Jahr 2002 hat der FC Bayern München den Spieler Sebastian Deisler von Hertha BSC Berlin im Vertrauen auf sein großes Talent verpflichtet, obwohl dieser schon seit 1998 von einer Reihe von Verletzungen geplagt worden war. Auch in den Folgejahren erlitt der Spieler Deisler mehrere Verletzungen und hatte (wohl auch infolgedessen) psychische Probleme, bevor er 2007 das vorzeitige Ende seiner Karriere verkündete. Gewissermaßen am anderen Ende des Spektrums steht die Verpflichtung von Lothar Matthäus bei seiner Rückkehr aus Italien im Sommer 1992, der während der Phase der Rekonvaleszenz nach einem Kreuzbandriss verpflichtet wurde, überraschend schnell wieder spielen konnte und in den Folgejahren ein wichtiger Leistungsträger wurde. Einen Fall „in der Mitte“ stellte Arjen Robben dar: Er war schon in den fünf Jahren vor seiner Verpflichtung (2009) von zahlreichen Verletzungen geplagt und konnte immer wieder nur Teile der Saison spielen; nach seinem Wechsel zum FC Bayern München folgten dann einerseits auch zahlreiche Verletzungen, andererseits wurde er dennoch zu einem wichtigen Spieler und einer Leitfigur. Nach den Gepflogenheiten des Profifußballs scheinen damit derartige Risiken mithin keinesfalls ein zwingender Einwand gegen die Verpflichtung eines Spielers zu sein. Dies ist im Übrigen dem Wirtschaftsleben auch sonst nicht wesensfremd, da auch in anderen Bereichen bei entsprechenden Gewinnchancen (sowie hinreichend breiter Streuung eines Portfolios) hohe Risiken bewusst in Kauf genommen werden. Sofern dabei in der Literatur mitunter19 sogar als zu pauschal erachtet wird, als Konkretisierung einer verbotenen „überwiegenden Verlustgefahr“ die Verletzung einer Vermögensbetreuungspflicht „bereits (zu) bejahen, wenn eine Entscheidung mit einer Wahrscheinlichkeit von 50,1 % zu einem Verlust führt“, da hier19
So bei Adick (Fn. 17), S. 57 f.
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mit „der Zusammenhang zwischen gesteigerten Risiken und erhöhten Gewinnaussichten außer Acht gelassen“ werde, dann würde unter diesem Blickwinkel selbst bei einem deutlich strengeren Maßstab ein Risiko in der hier skizzierten Größenordnung keinesfalls in den Bereich einer Vermögensbetreuungspflichtverletzung führen. (3) Gegen die Annahme einer Vermögensbetreuungspflichtverletzung allein auf Grund einer erhöhten Beschwerdeanfälligkeit spricht im vorliegenden Fall schließlich auch entscheidend, dass die Verpflichtung eines Spielers nicht nur unter dem Gesichtspunkt des möglichst lückenlosen Einsatzes während der Vertragslaufzeit – auch wenn diese natürlich wünschenswert ist – bewertet werden kann. Neben der unmittelbar auf dem Platz durch seinen Einsatz erzielten Wirkung sind nämlich auch weitere sekundäre Faktoren zu berücksichtigen: So können sich positive finanzielle Auswirkungen nicht nur aus den durch den Spieler mitverursachten sportlichen Erfolgen, sondern etwa auch aus einem durch seine Verpflichtung angekurbelten Merchandising (zum Beispiel Trikot-Verkauf) ergeben. Ferner kann die Verpflichtung eines prominenten Spielers eine Signalwirkung auf Fans und Mannschaft haben, welche sich zumindest mittelbar sowohl auf die Rahmengeschäfte (Merchandising, Zuschauerzahlen) als auch auf das Selbstbewusstsein und damit die Leistung der Mannschaft insgesamt auswirkt. Dies gilt umso mehr, wenn der Neueinkauf als kreativer und von den Fans geliebter Offensivspieler gilt – typischerweise wünschen sich 10jährige von ihren Eltern öfters Trikots von Stürmern als von linken Verteidigern. Mit solchen Überlegungen soll nun nicht „weichen Faktoren“, die kaum nachgeprüft (geschweige denn beziffert) werden können, zu große Bedeutung zugeschrieben werden. Andererseits würde es der Realität nicht gerecht, wenn in einem so stark von Emotionen, Stimmungen und Personenkult lebenden Wirtschaftsbereich wie dem Profifußball, in dem sich Geschäftsergebnisse eben nicht ohne weiteres durch Rohstoffpreise und Produktionskosten kalkulieren lassen, solche maßgeblichen Einflussfaktoren außer Acht gelassen würden. Dabei würde es zwar gewiss zu weit gehen, wenn man einem Vorstand zugestehen würde, allein nach seinen persönlichen Vorlieben und Visionen kostspielige Verpflichtungen vorzunehmen, die unter keinem objektiven Gesichtspunkt intersubjektiv vermittelbar sind; soweit allerdings die grundsätzliche Sinnhaftigkeit eines Transfers durch harte Fakten (insbesondere die bisherigen Leistungen und Stationen eines Spielers) unterlegt ist, ist einem für den Bereich „Sport“ zuständigen und hinreichend sachkundigen Vorstandsmitglied gewiss eine Einschätzungsprärogative hinsichtlich solcher weicher Fakten zuzugestehen. Soweit dann die belastbaren Zahlen (wie oben unter (1) und (2) näher ausgeführt) ebenfalls nicht klar gegen die Verpflichtung eines Spielers sprechen, kann daher kein pflichtwidriges Verhalten angenommen werden. bb) Fraglich ist indes, ob sich etwas anderes aus den Äußerungen des A ergibt, die doch eine deutliche Skepsis gegenüber der Verpflichtung des S zum Ausdruck bringen. Dabei ist im Ausgangspunkt zu unterscheiden (wenngleich sich im Ergebnis dadurch keine Unterschiede ergeben werden):
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(1) Die bloße Äußerung des A, er wollte nicht „in der Haut des M stecken“, bringt – und zwar gerade neben der mehr oder weniger exakt quantifizierten medizinischen Risikoeinschätzung von 25 % – letztlich nicht mehr zum Ausdruck als die Nachdenklichkeit, die bei jeder Investition in Höhe von 20 Millionen E bestehen wird und bei der man hofft (aber letztlich nie sicher wissen kann), ob sie sich im Nachhinein als glücklich herausstellt. Man könnte auch sagen: Die Aussage verdeutlicht, dass es sich eben gerade um ein Risikogeschäft handelt, und die damit einhergehenden Chancen und Risiken abzuwägen, ist gerade ureigene Aufgabe des Vorstands. (2) Etwas weiter geht die ausdrücklich geäußerte „Skepsis, ob die Verpflichtung eine gute Idee ist“, die man durchaus auch als (zumindest vorsichtigen) Ratschlag gegen die Verpflichtung verstehen könnte. Denn auch wenn das Eingehen gewisser statistischer medizinischer Risiken innerhalb der Gesamtabwägung möglich ist, wird man von einem Vorstandsmitglied erwarten müssen, dass er schwerwiegende medizinische Einwände berücksichtigt – und sei es auch nur dadurch, dass bei Zweifeln an der Verpflichtungstauglichkeit zusätzliche medizinische Fachkenntnisse eingeholt werden. Von einem solchem Vorgehen wird auch durch den Grundgedanken der business judgment rule nicht entbunden, sondern Voraussetzung der Haftungsprivilegierung ist gerade, dass das Organ sich möglichst mit umfassenden Informationen versorgt hat. Andererseits darf wohl nicht angenommen werden, dass A einerseits die Spieltauglichkeit für die Liga bescheinigen und eine Operationswahrscheinlichkeit „nur“ im Bereich von 25 % ansiedeln, andererseits aber aus medizinischen Gründen zwingend von der Verpflichtung abraten wollte. Vor allem auch die Aussage, er wolle „nicht in der Haut von M stecken“, spricht dafür, dass er gerade keine medizinisch klare Ablehnung formulieren wollte oder auch nur selbst gesehen hat, sondern dass er auf der Grundlage der von ihm angenommenen Operationswahrscheinlichkeit die Transferentscheidung als eine schwierige betrachten würde. Indes ist es gerade nicht Sache des Sportarztes, „strategische Einschätzung“ zur Gesamtsituation (d. h. zur Abwägung zwischen den von ihm bezifferten medizinischen Wahrscheinlichkeiten und dem sportlichen sowie wirtschaftlichen Wert eines Spielers) abzugeben – denn diese Gewichtung medizinischer Faktoren im Zusammenhang mit anderen Vor- und Nachteilen eines Transfers ist Sache des Vorstandes, welcher diese Entscheidung auch unter Berücksichtigung mitgeteilten medizinischen Faktenlage getroffen hat. Die gleichsam private und über die medizinischen Fakten hinausgehende Einschätzung des Arztes hat hierbei – etwas überspitzt ausgedrückt – kein größeres Gewicht als diejenige jedes anderen hypothetischen Fußballfans, der sich bei Kenntnis einer von medizinischer Seite bezifferten Operationswahrscheinlichkeit und des Kaufpreises samt den weiteren vertraglichen Bedingungen seine Meinung über Chancen, Risiken und Sinnhaftigkeit einer solchen Verpflichtung macht. Solche Meinungen sind grundsätzlich einmal ohne Bedeutung für den Pflichtenmaßstab der Vorstandsentscheidung.
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Das gilt im Übrigen umso mehr, falls A damit nur zum Ausdruck bringen wollte, dass aus medizinischer Sicht die weitere aktive Ausübung des Profisports durch S generell nicht „empfehlenswert“ ist. Denn davon abgesehen, dass „gut gemeinte medizinische Ratschläge“ an den Spieler zunächst einmal die Entscheidung des Vereins nicht unmittelbar berühren, können auch allgemeine medizinische Maßstäbe nicht auf die sportärztliche Bewertung übertragen werden: Aus ärztlicher Sicht ist es bei „normalen“ Patienten gewiss erwägenswert, bei entsprechenden Vorschädigungen bzw. Anfälligkeiten bestimmte Sportarten (jedenfalls in extremer Belastung) nicht auszuüben, da der Verzicht auf diesen Sport gegenüber den Risiken einer Operation oder den drohenden Langzeitschäden für den Hobbysportler vernachlässigenswert ist. Geht es dagegen um die Profikarriere eines jungen Mannes, der dem Alter, in dem üblicherweise die Berufsausbildung erfolgt, entwachsen ist und der in den verbleibenden Profijahren weiter seine finanzielle Zukunft absichern möchte, ist der Maßstab naturgemäß ein anderer; dies gilt – und zwar gerade bei einer für die Untreuestrafbarkeit allein entscheidenden finanziellen Betrachtung – umso mehr für den Verein, der diesen Spieler verpflichten möchte. c) Zwischenergebnis Auf der Grundlage der vorangegangenen Überlegungen ist keine Verletzung einer Vermögensbetreuungspflicht durch M ersichtlich. Denn seine Entscheidung wurde unter Berücksichtigung der - aufgrund der Vergleichsmaßstäbe zu relativierenden Risikowerten, der - jeder Spielerverpflichtung notwendig immanenten Prognose-Unsicherheiten (und der damit zwangsläufig in Kauf genommenen Ausfallrisiken) sowie der - neben dem Gesundheitszustand und der dauerhaften Spielfähigkeit bedeutsamen wertbildenden Faktoren bei der Verpflichtung des S getroffen. Die Verletzung einer Vermögensbetreuungspflicht scheidet mithin aus. 2. Schaden Vor diesem Hintergrund letztlich nur hilfsweise zu prüfen ist das Vorliegen eines Vermögensschadens. Ein solcher könnte nicht allein mit dem Argument bejaht werden, dass S mit einer geringeren Belastung durch ein Operation-Risiko „mehr wert“ gewesen wäre, sondern es wäre wirtschaftlich (und dabei dann gegebenenfalls auch gutachtlich) zu überprüfen, ob ein Spieler mit seinen Qualitäten und seinem Marktwert auch bei dem vorliegenden Operations-Rest-Risiko die tatsächlich gezahlte Transfersumme wert war. Anders gewendet: Wenn man sich etwa vorstellt, dass S bei einem vollkommen unbeeinträchtigten körperlichen Zustand vielleicht auch noch „teurer“ hätte sein können, wäre ein Schaden ausgeschlossen, wenn man in dem tatsächlich gezahlten Preis bereits einen Abschlag für eine vergleichsweise er-
Ein Fehleinkauf
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höhte Verletzungsanfälligkeit sehen würde. Dass angesichts der – wie oben gezeigt – keineswegs notwendig durchschlagenden Wertbeeinträchtigung durch eine Verletzungsanfälligkeit im hier zu Grunde gelegten Prozentrang ein tatsächlich eingetretener Vermögensschaden dann umso schwerer nachgewiesen werden kann, liegt auf der Hand. 3. Vorsatz Fehlt es bereits an der Verletzung einer Vermögensbetreuungspflicht und erst recht an einem (hinreichend berechenbaren) Vermögensschaden, so ist ebenfalls nur noch hilfsweise die Frage nach einem Untreue-Vorsatz von Interesse. Hier wäre zusätzlich zu den gegen das Vorliegen bereits des objektiven Tatbestandes vorgebrachten Argumenten an diejenigen Einschränkungen zu denken, welche der 2. Strafsenat im Fall „Kanther“ im Falle einer bloßen Vermögensgefährdung vorgenommen hat.20 Auch wenn diese Einschränkungen nicht frei von Kritik geblieben sind,21 bleibt das damalige Anliegen des 2. Strafsenats berechtigt, bei einer sehr weiten Auslegung des objektiven Tatbestandes (und ohne eine solche wäre vorliegend seine Annahme nicht möglich) ein Korrektiv auf der subjektiven Ebene zu suchen. Dieses muss demjenigen Täter zugutekommen, der im Interesse des Vermögensinhabers ein gewisses Risiko in Kauf genommen hat, dabei aber bei einer bloßen Vermögensgefährdung (von der allerhöchstens auszugehen ist, solange noch keine längerfristigen Ausfälle von S zu verzeichnen waren) auf einen guten Ausgang vertraut (und damit keinen tatsächlichen Schadenseintritt billigend in Kauf genommen) hat. Dies liegt für M nahe (wenn er keine – hier nicht mitgeteilten – eigenen Vorteile aus der Verpflichtung des Spielers zieht), da M’s eigene berufliche und damit auch finanzielle Zukunft aufs Engste gerade mit dem wirtschaftlichen und sportlichen Erfolg des V verbunden ist. Auch der subjektive Tatbestand ist in unserem Beispielsfall damit nicht erfüllt. V. Fazit und Schluss Das hier besprochene Problem beleuchtet aus strafrechtlicher Perspektive eine Schnittstelle zwischen dem Sportrecht (oder genauer: dem „Lebenssachverhalt Sport“) und dem Wirtschaftsrecht. Wo Sport ein wichtiger Wirtschaftsfaktor ist, gelten für seine Protagonisten im Ausgangspunkt die gleichen Risiken wie für die Verantwortlichen eines Unternehmens. Freilich sind ihnen dann – mutatis mutandis – auch die gleichen Einschätzungsprärogativen zuzubilligen. 20 Vgl. BGHSt 51, 100, 120 ff.; dazu Ransiek, NJW 2007, 1727, 1729; Saliger, NStZ 2007, 545, 549. 21 Gegen eine generelle Ausweitung dieser Rechtsprechung etwa BGH (1. Strafsenat) NJW 2008, 2451; relativierend auch der 2. Strafsenat selbst in seiner Siemens-Entscheidung, vgl. BGHSt 52, 323, 336.
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Engagement für den Sport muss mit einem überschaubaren Strafbarkeitsrisiko „lebbar“ bleiben. Dies gilt insbesondere in dem für den Breitensport so wichtigen Ehrenamt,22 muss aber jedenfalls mit Blick auf die wirtschaftsstrafrechtliche Kontrolldichte auch für den Profi-Bereich gelten. Recht kann und muss den Sport lenken, darf ihn aber nicht erdrosseln. In dieser Grundlinie glaube ich mich mit dem Jubilar einig wissen zu dürfen, dem dieser Beitrag in langjähriger freundschaftlich-kollegialer Verbundenheit gewidmet ist. Nach allem, was ich von Klaus Vieweg weiß, würde es mich wundern, wenn er nicht auch zu der hier behandelten Thematik aufgrund seiner reichen Erfahrung mit dem Sport (-Recht) spontan weiterführende Gedanken und die eine oder andere Anekdote im Kopf hätte – ich freue mich auf diesen Austausch!
22 Vgl. hierzu nochmals Kudlich/Vieweg, SpuRt 2015, 138; ferner Kudlich, in: Goeckenjan/ Puschke/Singelnstein (Hrsg.), FS Eisenberg II, 2019, S. 683 ff.
Values in Top-level Sports By Hans Lenk I. Introduction: What are values? Already in 1928 the famous German playwright Bert Brecht stated, “Great sport begins when it long since had finished being healthy”? But health is – or at least was – an important value also in competitive sports. – Yet, is that still true for top level and world record or Olympic sport? Is that equally valid for accomplishing a top athletic performance, achieving a remarkable jump, run, record or somersault? All these are highly valued and evaluated. This would not be possible without appreciating (i. e. valuing) and evaluating, too. What are values in sport, notably in and for top level athletics? As elsewhere, we here cannot do without invoking or attributing values. We cannot n o t value and/or evaluate. Humans are evaluating beings. But what are values in the last analysis? My theory is that values are interpretative constructs. They are necessarily dependent on and activated by interpretation. Values would only function in and via interpretations. Indeed, they are to be analysed as in part biological (if even inherited), but mostly socially/culturally learned functionalities. – Thus, we also cannot n o t interpret – by invoking, instantiating, using or at least meaning in a normative or descriptive manner, e. g. for explanation of actions and decisions etc. Interpretation/interpreting is unavoidable. In my theory interpretation is in a rather wide sense conceived or bound to the activation of schemes or schemata, of conceptual and other forms, structures, patterns, models etc. I call that scheme-interpretation. Therefore, we cannot n o t schematise.1 What do we mean by the concepts of “values”, “valuation” (“valuing”) and “evaluations”? Values are often discussed from a more general and abstract point of view than that under which they are covered by being involved in constitutive processes of valuation. The main thesis to be established will be:
1 All these activities and activations of schemes-interpretations come in different types, levels, hierarchies, value systems etc. (see below).
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Values are essentially interpretative: they can, even must be interpreted. They can and should be understood as (somehow socially, institutionally or personally standardized) interpretative constructs of a specific kind and according to different types to be distinguished and classified within a hierarchical typology (i. e. in a value system).
There is a special connection between values and actions as well as a characteristic being relation in the form of their being ascribed to persons, goods, events etc. This connection is indeed covered, borne or carried out by schematic interpretation.2 In addition, any ascription of a value concept or predicate whatsoever is dependent on a structure and hierarchy of normative and in part descriptive schemes of at times conventional and dispositional, to a certain degree even hereditary routines of schema activations which might be called “scheme-interpretations” or normative dispositions and routines of patterning according to fundamental neuronal, in part biological and physiological, however mostly cultural adaptive processes of structuring behavior and action, cultural learning, societal preferences etc.3 Certainly it is important to clearly distinguish between descriptive or explanatory analytic interpretive constructs on the one hand and normative ones on the other. Values function by understanding, categorizing, ordering and systematizing all our norms, wishes, expectations and normative or “value judgments” in a more or less hierarchical form – e.g. in a value system. Metaphorically or by interpretation we may say, values pervade, permeate, if not penetrate or at times even generate, almost all our life elements, notably actions and utterances – incl. very intrinsic ones. Values are essentially impregnated (or laden) by interpretation or even engendered or constituted/materialized by/in activation of schemes (or schemata) in normative (i. e. prescriptive or evaluation-bound) settings. Indeed, we would use values – or, rather, value interpretations – either in a “normative” (prescriptive, deciding or evaluative) manner or descriptively from an observer’s or (social) scientific point of view. II. Telecracy and athlethe’s rights In our age of television and telecracy the Olympic and World Champion sport show would fascinate roughly more than a billion spectators via direct colour TV coverage to all countries. In this “telecratic” inspection system some of the athlete’s personal and, at times, even human rights of his private personality, seem to be in danger of falling victim to a so to speak all-encompassing “televisor”, to the mass media camera-eye of Big Brother. Olympic Games and World Cups of the future 2
See H. Lenk, Grasping Reality, Singapore: World Scientific 2003. In the last thirty years, the present author developed a whole methodology of interpretive constructs by schema(ta) interpretations and scheme-activations, see H. Lenk, Interpretationskonstrukte, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993; Schemaspiele, ibid. 1995; Grasping Reality (supra nt. 2), 2003; Global TechnoScience and Responsibility, Berlin: LIT 2007. This approach does not only cover descriptive interpretations of any kind but also normative interpretational constructs and respective schematic interpretations. 3
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will increasingly be faced with such “telecratic” problems – not only in mass media and commercial respects. Commercial, political and public information needs will rather frequently conflict with the athlete’s human rights. We have to develop – and this aspect implies philosophical work proper – a kind of protection program for the athlete to secure his rights against the managers, over-boarding tendencies and/or constraints of the public media including their manipulative and alienating effects. We need a human rights program for athletes. ‘Telecracy’, though, is and will remain, even grow, to be a major problem of the Olympics and top-level athletics in the future. However, the postulated athlete’s rights program has to pertain to his sovereignty and freedom of decision making as against autocratic officials and coaches. The athlete – as a person with his specific human rights has to be protected. Only this way he can really – in a humane sense of the word – fulfil his paragon function as an ideal model. The active athlete is more troubled by “telecratic” necessities, which bother him, and other participants. At a time when tele-lenses are available, whizzing cameras sometimes irritate unduly the concentrated contestant. The sports show fascinates hundreds of millions of spectators since the mass media transmit direct colour coverage of Olympic events to all countries. Through gigantic “telecratic” inspection the athlete’s rights, his optimal action and preparation strategies, even his human intimacy and the preservation of his private personality, seem to be possessions of (or at least commanded by) the camera-eye of Big Brother. Future Olympic Games will be increasingly faced with difficult “telecratic” problems – not only in financial terms. It will not be easy to find an overall strategy which simultaneously covers the public’s need for information and the athlete’s rights. We have to develop – and this aspect would imply appropriate truly philosophical work – a kind of protection program for the athletes to secure their rights against the managers and constraints of the public media including their manipulative and alienating effects involved. “Telecracy” is and will remain a major problem of the Olympic Games and top level athletics in the future. In addition, the athlete’s rights’ program has to pertain to his or her sovereignty and freedom of decision-making as against autocratic officials and coaches. The athletes – as persons with their own human rights – have to be protected. Only in this way can they really – in a humane sense of the word – fulfil the exemplary function as an instantiation of an ideal model. However, coping with media problems and political and commercial questions will certainly not suffice. Nor are the Olympic Games just an affair of symbols, the protocol and ceremonies like the Opening, closing and Victory Ceremonies. The Olympic idea and the Olympic spirit are much more and further-reaching than just external symbols. They should remain alive and have to be adapted to modern requirements, e. g. to the open-minded critical intellectuality of today’s younger generation. Some outdated components of the idea as, for instance, exaggerated nationalism, winning at any price, compulsive manipulation, the totally autocratic style
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of coaching, the dictatorship of officials, other-directedness in motivation etc. have to be eliminated or at least mitigated – like the notorious doping problems. Ceremonial change by itself cannot bring about this necessary reform. In addition, we can hardly expect the new positive concepts, these enthusing and exciting goals, novel guidelines and ideals from an empirical scientist who is usually restricted to his discipline and only descriptive methods. By contrast, this intellectual reform of the Olympic movement and sports is basically primarily a philosophical task of value orientation, maintenance of Olympic values including fairness and and a sort of humanization of the at times all-too stern top-level competitions. Much intellectual and, particularly, philosophical work has still to be done. Philosophically speaking, the new version of the Olympic Idea still remains to be reborn or the extant conception has at least to be reformed. The most important Olympic reorientation is indeed a philosophical one and an honest recovery of value orientation. It has yet to be waited for, it has to be worked for. It should be a reform in the philosophical foundation. Sport philosophers have to take seriously the fashionable criticism of the last decades against sport and achievement orientation.4 They should develop a new or, at least a better, more adequate, philosophical anthropology of both the creative process of achieving and the achieving personality and add a social philosophy. We should also apply this philosophic anthropology to sport, science, art, play and any creative action as well as to education. This is particularly true for the Olympic calibre and for other achieving activities of top level. III. Homeric-Olympic values and philosophical anthropology A philosophy and a philosophic anthropology of achievement and of the creative achieving human being seems to be of an utmost importance – particularly for future interpretations of top-level sports of all kinds, most notably however, for the Olympic realm. I would like to sketch some basic ideas of a philosophical anthropology along these lines. Interestingly enough, it was in antiquity that our most influential anthropological ideas and concepts of “man” (i. e., correctly, the human being) was shaped. Greek philosophers, but also Greek mythology had a decisive influence on the development of Western anthropology with respect to three of four conceptions of man which in some sense are to be combined at present and in the future: I mean the Promethean-Faustian concept of man, rather, correctly speaking nowadays, the human being, as the being searching for knowledge and the extension of insight, striving to improve or even get closer to perfection, in the arts and sciences. The ancient “Know thyself” supplemented by “Know the world” and its internal connections, causes, and social systems may – besides the biological basis – become also a slogan of the anthropological picture of humankind. 4
Cf. H. Lenk, Leistungssport – Ideologie oder Mythos?, Stuttgart: Kohlhammer 1972.
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The second equally important one is the Homeric-Olympic ideal of humans governed by the quest for the best in achievement. The Homeric “Always to become better and to excel as compared with others”, “Always to be the very best, distinguished from everyone else” (Iliad VI, 208; XI, 784) would be the slogan of this picture of man. Peleus gave that slogan as a piece of advice to his son Achilles. That “Achilles Complex” (as the “Love Story” author Segal therefore labelled it) is the most important and characteristic norm and standard of athletic competition at top level and of the Olympic contests, if not the most telling one of the Olympic Movement, although it is by no means the only characteristic feature. Like the first concept of humans it is an ideal concept, too. Both may be combined in the activist aspiration to achieve best knowledge, best achievements in any field, e. g. by personally engaging in feats of arts and sciences including performing arts like music, drama, and athletics. Thirdly, also the Christian conception of humans has been deeply impregnated by Greek philosophy via Saint Paul, the Book of John etc. It certainly were the Sophists’ and mainly Socrates’s discoveries of the value of individual man which lead to the Christian commandment of “Love God in all fellow-men, particularly in your neighbours (i. e. those men with which you are in mutual interactive contact)!” Certainly, the one-dimensional orientation of history towards the fulfilment of God’s plan towards an end of the Last Days and Judgement is basically Christian eschatological thinking. But humanistic individualism has its roots also in ethical Greek philosophy taking “man” himself (as a species as well as an individual) as a “measure of everything” (Protagoras5). It seems to be only the fourth conception of humans, namely the practical-technological one of experimenting agents manipulating world and nature which did not stem from the ancient Greek philosophers, which may be a modern offspring of the era of the Renaissance and/or Reformation. And it is particularly this conception of the human being which has most explicitly changed the world and our world-views. It might if unfettered even nowadays be considered a specific danger for humankind and “Nature”, if not the other three world-views of Antiquity would counterbalance a potentially unlimited escalating hubris of technological man. In the fifth place, we nowadays learn that even robots and digital and electronic systems pose great problems for a modern philosophical anthropology and the conceptions of humans and the role of their symbolic forms, sign worlds and notably for human creativity. The creative capacities of the human being, the arts, creative thinking and writing might figure as a sixth as well as Cassirer’s living in the symbolic world/“universe” as a seventh variant of humanity. The moral/ethical variant could count as a eighth one, the transcendence-oriented as a nineth essential feature. Perhaps we may add a tenth one: human creatures as embedded in and being a part of “Nature” adjusting to natural rhythms, systems, ecosystems etc.
5
Cf. the quotation in Plato, Theaetetus 152a.
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We may have to consider all these characteristic conceptions of humankind as essential. In particular, we have to recur to the old ideas of wisdom and a counterbalance of harmony between the different anthropological concepts. Self-idolization of man by means of his technological power must not run out of control, should be limited and checked as well as balanced by the other three, more humanistic ideals. There seems to be a system of check and balances also in anthropological conceptions. We have time and again to remind ourselves of this by reactivating, revitalising, improving and developing these humanistic ideas of the human. Each of these ideals seems to be equally important. Each has its own heroes, paragon personalities and ideal types as well as its own inherent dangers. This is true for the concept of Homeric-Olympic man, too. IV. Olympians: top-level achievement orientation as a paragon model The Olympic athlete, indeed, and athletes in general – whether top-level or not – can serve as an outstanding model and paragon example documenting the mentioned symbolic sense of an active achieving life. The Olympic idea – the agonistic idea at top-level, expressed in Peleus’ slogan – is certainly incorporated, nay, incarnated in the ideal type of an Olympic athlete – may he (or today she) be a winning or a loosing contestant. “To have fought well” (Coubertin) and to have achieved one’s best – that seems to be the very core of the Olympic Idea. We should try to keep this educational idea relatively free from exaggeration to an inhumane extreme as well as from political and/or commercial distortion. In order to achieve these goals it should be worthwhile and conducive to elaborate a new “Olympic philosophy”. Ideas about a necessarily pluralistic and multi-faceted anthropology and about the multi-compatibility and multi-identifiability of the Olympic Idea and Olympic Movement have to tie in.6 The values and goals of the Olympic movement are those of a truly international and intercultural movement. They display a fascinating symbol of the potential unity of humankind in its higher aspirations for accomplishments and fairness. In this, even ambiguity and vagueness of many components within the Olympic Idea can and did lead to a social gathering and uniting impact and toward a real social effect of multi-compatibility and multiidentifiability of the Olympic movement and its values.7 According to the goals of the founder of the modern Olympic Games, de Coubertin, the Games are intended to gather the world’s youth at a great quadriennal sports festival to create international respect and goodwill and help build a better, more peaceful world – at least symboli6
See H. Lenk, Werte, Ziele, Wirklichkeit der modernen Olympischen Spiele, Schorndorf: Hofmann 1964, 2nd ed. 1972. 7 Cf. H. Lenk, Werte, Ziele (supra nt. 6), 1964; in Engl. H. Lenk, Social Philosophy of Athletics, Champaign, IL: Stipes 1979; S.O. S. Save Olympic Spirit. Toward a Social Philosophy of the Olympics, Kassel: Agon 2012; 1960: Eight Rowers ruled the Waves, Bochum/ Freiburg: Projektverlag 2020.
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cally speaking. He already interpreted the Olympic tradition as being much more than mere organization of sport games or just a world-championship of all kinds of sport. Coubertin’s main idea of an “Alliance of the arts, the sciences and sports” in the Olympic Games might also influence some organizational parts of the Olympics. However, merely a reform of the Olympic Protocol will not suffice. The Olympic Games, therefore, undoubtedly have political8 influence beyond special partisanship: They may have no directly effective peace mission as it is sometimes alleged but they constitute a symbol of a better and more human world, an understanding among the athletic youth crossing all national and cultural boundaries: All this furnishes the values and goals of the Olympic movement with the identity and union of a truly international and intercultural movement. As a consequence of the multi-identification and of the gathering impact also an intercultural collective and/or integrating effect is a function of the unspecific character, generalizability, formality, functionality, impartiality and cultural tolerance of the Olympic value system.9 Thus, its famous contribution to an “understanding among peoples” does only occur indirectly through being an effective symbol – in particular in our TV age. Certainly, the Movement has and “only has the strength of a great ideal” (former IOC president Brundage). Together with the fascination and the intercultural and international multi-compatibility that is quite an advantage and a real asset to live up to. A somewhat more concise definition of the term “Olympic Idea” would have necessarily to comprise this pluralistic structure of values, norms and basic features of the Olympic movement. The values of tolerance, equal participation rights, equality of opportunities and qualifying as well as starting chances, respect of partners, competitors, and sport opponents, the idea of a symbolic unity of mankind, the “achievement principle” and the respective idea of an Olympic achieving elite are indeed values of such a formal character, functional norms so-to-speak which are compatible with many different cultural contents. All this is reflected already in the Olympic 8
Generally speaking the IOC and the IFs should more actively and more politically serve the super-nationality and internationality of the movement by using political means in order to guarantee moderate political non-partisanship and neutrality. This cannot be obtained by preaching ideals only, but by courageously using political means. This seems to be all the more promising since the Olympics and World Cups are by now prestigious international enterprises on a planetary scale. Though the Olympic movement cannot bring about world peace as a direct consequence as would have been alleged sometimes, it can yet certainly serve an indirect mission in getting some athletes and the TV spectators the peoples to understand and respect each other better in a rather benevolent way using the top-level championships as symbols of a more peaceful and better world and for an ideal symbolic unity of humankind. The Olympic movement has to remain aware of and consciously pursue the humanistic, educational and philosophic dimensions of its idea in order to live up to its honourable tradition. The Olympic movement is too important a humanistic idea to get sacrificed or to fall victim in the jungle of commercialism, “telecracy” and nationalism still now soaring in developing countries. 9 See H. Lenk, Werte, Ziele (supra nt. 6), 1964, 14 ff. et passim.
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Charter, e. g. in §§ 6 and 3: regarding the autonomy of the Games, the Movement and the respective institutions, the National Olympic Committees and the IOC, rejection of any discrimination on political, racial, sexual or religious grounds etc. One should also look to Coubertin’s explicitly “most important principle of today’s Olympia”: “All games – all nations” – and, to wit, “all cultures!”10 The most famous Olympic slogan “Citius, altius, fortius” (§ 6) could and should be supplemented by “pulchrius” (“more beautiful”) and “humanius” (“more human(e)”) capturing the aesthetic and humanitarian aims of the Olympic Movement. Indeed, the Olympic philosophy has to be worked out according to an intellectual level of discussion up-to-date reflecting the far-reaching cultural and not only the sport components. The Olympics are in need of a more encompassing and concise description of the intellectual and philosophical content as well as of the Olympic conception of humans. The Olympic philosophy and the Olympic anthropology have to be developed in the future in order to be able to cope with external dangers cropping up from commercialism and nationalism and to successfully reflect the overriding impact of the Olympic idea on sports and active achieving life in general. The Olympics and top-level sports offer extant public opportunities for young athletic representatives of different nations enabling them at least to meet and learn to know and in part understand each other. In this sense, the Olympic Games and, moreover, the Olympic Movement fulfil an important symbolic role and function as regards an ideal unity of humankind. The Olympic Movement has to remain aware of and consciously pursue the humanistic, educational and philosophic dimensions of its idea in order to live up to its honourable tradition even if in danger today as ever since. The Olympic Movement is too important a humanistic idea to get sacrificed or to fall victim in the jungle of commercialism, “telecracy” and nationalism or to leave it to the short-sighted pragmatic orientations and operations of political and sport officials and administrators only. This is all the more important for the non-sportive components, elements and guide-lines of the Olympic Movement as, e. g., its value systems as well as its humanistic, anthropological and philosophical foundation. If there are any – Olympic philosophers should step to the front! They should not only start thinking and working, they also should enjoy some kind of resonance on the side of the public and by the Olympic officials – who thus far for the most part, unfortunately, are opportunistically and so to speak “technocratically” minded – they apparently don’t very often even read nor think very much by way of, say, digging deeper. It is, however, inappropriate to overload the Olympic idea with the exorbitant demand of a substantial and significant peace mission and direct political functions. This allegation would perhaps even diminish its actual social effectiveness. Its contribution should be seen indirectly as an effective, exemplary symbol of political neutrality that develops a ubiquitously acceptable value system, which still would have 10 Interestingly enough, all these topics do however not appear at all within the Olympic Charter.
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and could render notable influences on a “unity” of internationally understood goals and traditions, and offer public opportunities for developing understanding among representatives of various peoples and cultures. In this sense, do not Olympic Games – as a symbol of peaceful unity of mankind and youth – reflect a positive and special quasi “mythical” role – even today, besides the fact that in ancient history they were founded on a religious myth? (To be sure, “ideal type” symbols do have an important, quasi-“mythical” effect, even in a rather sober modern world which lacks in enthralling and particularly world-wide goals.) If ‘myth’ can be understood in an extended secularized sense, then this is certainly the case. ‘Myth’ characterizes a model that illustrates a meaning and valuation, and would reflect these connotations in a symbolical guise. These interpretations of meaning have developed historically in cultural traditions. Their illustration is evident in typical, exemplary situations described dramatically. When by a dramatic staging and the visualization of well-known concepts may create, circumscribe or define meaning for less well-known phenomena, “myths” develop and offer guidelines for meaning constituents and interpretations, both being typical and explanatory.11 In sport, these modern quasi myths create and transfer meaning in a visible way that is usually more dramatic and dynamic and often more festive than events meanings of everyday life. V. Symbolic quasi-“mythical” role of the athlete In competition a feeling and concept of “myth” is prevalent as a symbolic role of acting. Particularly in individual fighting events it’s a myth of action and fight. The roles fit together in the simplest confrontation, in visible dynamics and drama. The dramatic presence of the event and the historical immutability of each action and decision under the judgement of an excited and enthusiastic public are notably effective. In the simplified confrontation of competitive athletics, this can be a microcosmical illustration of almost archetypical dynamics. The dramatic and quasi “mythical” event of the Olympics, its experience and outstanding character if not uniqueness would explain both the symbolic role and also the athletes’ and the spectators’ fascination for the respective Olympic sports activities. This is especially stressed in the historical uniqueness of Olympic Games. Sports action, and especially participation in the Olympic Games, is neither normal life in a nutshell nor the focus of daily life. In quasi mythological symbolization and development, it results in a characteristically simple model of a vitally intensified, emphasized and contrasting mode of action in the form of role playing. The Olympic Games and the Olympic idea are distinguished from daily life by their tradition, the 11 I called the theoretical description and modelling of these phenomena and the social philosophical interpretation a “mythological” approach which would figure in fact under the guideline of my methodology and philosophy of scheme-interpretationism, see H. Lenk, Grasping Reality (supra nt. 2), 2003.
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history of the ancient and modern Games, the intermingling with intellectual and artistic symbols and philosophical and pedagogical concepts. Top-level sport – especially in the form of Olympic competition – symbolically and dramatically reflects the basic situation and the self-overwhelming and “active fighting accomplishment” of the athlete, who is – so to say – the “Herculean” man or woman (if that label may be allowed) of Western culture. The sports “myth” and its fascination are characterized by self-expression and self-confirmation in aspiring to achievement, the dream of mastering nature and acting rationally and under control with a minimum of equipment, enhanced vitality, the desire to cross and remove limits (Ortega y Gasset), risk taking, pressing for the lead or advantageous position, surpassing existing achievements, the restriction to technically unnecessary goals and unnecessarily limited means for achieving these goals, as well as the dramatically dynamic role-confrontation during competition. Masterful strength, swiftness, ability, body-control and endurance symbolize human capabilities through a quasi-mythical interpretation of the human’s fundamental situation. The fascination of sprint events, for example, cannot be completely explained rationally without referring to the symbolic “mythical” principle of the autonomous mobile human being, or to lost chances and experiences, or to the attractiveness of conquering spatial distance through personal strength, initiative and achievement motivation. Ideally, the athlete would dare to enter a new field of human achievement behaviour and endeavour, namely the field of a symbolic demonstration of strength, not only so much over others but equally also over her or himself. Athletic achievements also offer adventurous opportunities for gaining distinction in a basically uniform society, which nevertheless emphasizes individual values. The Olympic athlete thus illustrates the “Herculean myth” of a culturally exceptional achievement, i. e. an activity being essentially unnecessary for life’s sustenance, that is nevertheless highly valued and arises from complete devotion to striving to attain a goal very difficult to reach. The memory of having proved oneself in athletic competition and systematically learning discipline in training and self-confidence does not only develop and gain from winning but also from honest participation in an Olympic or other outstanding athletic event. As a person, the athlete would/could build up personal selfesteem by knowing that (s)he has done her or his best (as Coubertin said: “The most important thing in life is not to have won, but to have fought well”). Looking back at these aspects, the athlete may establish personal stability and continuity of personal experience, confidence or even distinction within a tradition. He had devoted himself to an extraordinary task and stood the test in his own and others’ eyes. Thus, Pythagoras (as quoted by Cicero12) was wrong in this matter: 12 Cicero, Tusc. disp. V, III 9, wrote: “Pythagoras […] replied that the life of man seemed to him to resemble the festival which was celebrated with most magnificent games before a concourse collected from the whole of Greece; for at this festival some men whose bodies had been trained sought to win the glorious distinction of a crown, others were attracted by the prospect of making gain by buying or selling, whilst there was on the other hand a certain class – the best type of free-born man – who looked neither for applause nor gain, but came for
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top-level sport, especially Olympic athletics, does not only compactly reflect normal life, it is also a symbol of an emphasized and exalted vital life, of outstanding feats and devotion for extremely unusual achievements. Pythagoras forgot about the “mythical” interpretation that Olympic competition has for spectators and active athletes. His remark was undoubtedly aimed at the human habit of making “myths” too common an element of everyday life. When an athlete like the high jumper Fosbury in the later sixties of last century discovered a new and victorious jumping style through intelligent variation; when the gymnast Fujimoto in Montreal 1976 and the German gymnast Toba in Rio 2016 attempted their decisive exercises with a fractured bone or damaged tendon and completed their Olympic performances before they collapsed, one cannot claim that characterless, mechanical, systematized and manipulated muscle-machines only accomplished pre-programmed and planned exploits. Today as in the past such cases have shown that athletic achievement cannot dispense with, ignore or shove aside extraordinary motivation, initiative, effort, personality and dedication, even devotion. This is particularly true today for areas in which almost all sports disciplines at Olympic level require total involvement in pursuing the attainment of unusual results. A top grade athletic achievement remains to be a real personal act requiring total involvement. Within a societal support system it may be facilitated and promoted, but it cannot be precisely or mechanically generated. The feat is and will always be individually accountable. The athlete is not a characterless producer of records; he is a personality – with heights and depths and abundant interesting variations, even and especially when he loses. Therefore, the outstanding personality as regards will-power, self-devotion, and almost total involvement in a goal-oriented activity is still primarily found in athletic sport today. The athlete is a convincing symbol of the human being as “the achieving being”.13 Nowadays, the Olympic Games have lost the old religious values integrated in them within the Greek culture. However is that the only fact that has enabled them to gain world-wide attention? Religious and mythical secularization and independence were a pre-requisite for their accommodation in so many cultures – hence the sake of the spectacle and closely watched what was done and how it was done. So also we, as though we had come from some city to a kind of crowded festival, leaving in like fashion another life and nature of being, entered upon this life, and some were slaves of ambition, some of money; there were a special few who, counting all else as nothing, closely scanned the nature of things; these men gave themselves the name of lovers of wisdom (for that is the meaning of the word philosopher); and just as at the games the men of truest breeding looked on without any self-seeking, so in life the contemplation and discovery of nature far surpassed all other pursuits.” – Thus spoke Pythagoras - in my favourite quotation regarding the naming of that special “breed” called after that and still today “philosophers”; it is interesting for sport philosophers that their characterizing label was once introduced in connection with the Olympic Games of antiquity! 13 See below sub VII.
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their world-wide effect. Even a certain ambiguity and multi-compatibility have been a cause of the world-wide Olympic “gathering effect”. The “mythical” factors seem to appear in the Olympic Games only indirectly, formally and functionally. But they are important for the future of the Games. These factors especially require institutional regulation that is externally evident in forms, signs and symbols expressed in ceremonies and protocol. But exteriorization of symbols and institutionalization, even innovative reforms of the protocol and ceremonies themselves, are not enough. The Olympic spirit should remain alive and be adapted to modern requirements, as already set out above.14 This intellectual reform of the Olympic Movement and sports is also basically a philosophical task. This most important reorientation has yet to occur. It has to be a reform in the philosophical foundation, a renovation of the Olympic philosophy. Again: philosophers to the fore! We – as philosophers – have indeed to take seriously the fashionable and to a considerable degree justified criticism of the last half century launched against athletics and achievement orientation. We have to develop a new philosophy of unobstructed, freely chosen achievement actions and of the creative achieving being. In short, we have to delineate a new philosophical anthropology of both creative accomplishment and the achieving personality. We should also apply this philosophical anthropology to sports, science, art, play and any creative action, as well as to education. Pythagoras, therefore, was totally right when he was looking for philosophers asking them to “scan closely the nature of things” at Olympia including those connected with (Olympic) athletic events. The most important functions of sport were not just sport. They were and still remain nowadays educational, social, societal, and philosophical. Pythagoras – as an alleged Olympic athlete – apparently understood well some of the basic problems of top level sport. A well-founded philosophy of sport and creative achieving action is of vital necessity – not only for athletics. Pythagoras was right by stating this. VI. Towards an anthropology of the acting being I shall not dwell any longer on the athletic life and success of ancient philosophers, but rather point to another topic related to the intricate relationship of sports action and proper active life. Real life is personal acting, i. e., consists of authentic actions – and sport is a very convenient way or means to act/to live in the original sense of the word. Authenticity of acting is the epitome of athletic top-level sports. Thus it seems that sport in a world of institutions shaped by administrations, delegations, red tape, etc. is one of the few reservations of authentic actions, personal performance and genuine active life. Creative arts and leisure, love and sex, dance as well as philosophizing may be other realms of this kind, i. e. vehicles of genuine experience, action and performance for humans. They may even figure at times as performing arts.
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See supra sub II.
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The human being is not only – as European philosophical anthropology once stressed – “the acting being” (Schütz, Gehlen) or “the tool-making being” (Franklin) or “the (polymorphically) cultural being” (Gehlen). Nor does it suffice to characterize it as just “the rational animal”, or as “zoon politikon”, i. e. the social being (Aristotle). The definitions turned out to be almost as insufficient as Plato’s ironic definition of man as the “featherless biped”. Also, characterizations of humans as the “decision-making beings” (Jaspers), “condemned to freedom” (Sartre), the working (Marx) or speaking animals etc. – or the beings who know of and have to organize life under the recognition that they must die (according to Heidegger) or the permanently endangered beings, will not serve to capture the essence of the human. The same is true for the characteristic properties of the being who is not yet ascertained, not yet assured and not yet determined (“noch nicht festgestellt”, in the consciously ambiguous wording by of Nietzsche), of the “eccentric being” – the only one capable of laughing and weeping, or indeed and most characteristically, of smiling (Plessner). We should not forget the well-known biological characterization of the being which is born prematurely and lacks many a natural instinctive disposition and determination (Portmann, after Herder).That however can render the human being the most unspecialized and flexible being, during all of its life remaining dependent on self-perfection, supplementation, culture as well as institutions (Gehlen) and securing sustenance. The human being was also considered the being always obliged to compensate for its notorious insufficiencies, its sufferings as well as dissatisfaction: it is the being which seems always to be still in the making and who has yet to make itself what it is or wants to become (Goethe, Sartre). One could add some such telling characterizations of humans as the beings capable of humour, irony and – probably with the exception of most philosophers and politicians – of not taking themselves too seriously. Certainly, the human being is characterized by all these essential traits: (s)he is at the same time homo faber, homo cogitans, homo agens, homo loquens, homo ludens (Huizinga), homo laborans, homo creator, homo compensator, or even homo competens (the competitive being) alias homo sportivus or athleticus or the achieving being.15 All these characteristic features seem to encompass more or less necessary conditions, but no single one offers a sufficient condition or even uniquely characterizing criterion of what humans really are and should and can be and become. Indeed, any monolithic definition as any one-factor theory of the human seems to be doomed to one-sidedness. A definition can by itself certainly not replace a whole theory referring to a very complicated species and realm. Requiring an appropriately complexity of description, a philosophical anthropology has therefore to go beyond a single-factor theory, it has to develop a multi-factor model.16 It should and could also not only summarize results of the empirical human sciences. But it has necessarily to 15
See below sub VII. See H. Lenk, Das flexible Vielfachwesen. Weilerswist/Germany: Velbrück 2010, 2nd ed. 2011; Kreative Pluralität. Bochum/Freiburg: Projektverlag 2013. 16
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include normative and what we can call ideal-type characterizations. To note, some such normative functions regarding ideal traits of what humans should be or become under the auspices of their permanent orientation towards the good, or the better, towards goals and tasks, hopes and life plans as well as values. Any of the mentioned factors can only emphasize one facet of the total realm of what is to be considered human, even “all too human” (Nietzsche). VII. Homo performator: The achieving being as a climax of intensity of life More important for our present topic is it to pay attention to another rather characteristic trait or feature of humans not yet mentioned: They are not only acting beings (Schütz, Gehlen) (i. e. the being consciously orienting themselves towards goals, plans, and some other overriding objectives), but (s)he is more specifically the being who tries to materialize goals better and better by acting, conceiving, and deciding. (S)he is at the same time the personally acting, planning, thinking, judging, and performing being. Humans are the achieving beings par excellence. Authentic and autonomous action, creative personal performance and accomplishment are the necessary ideal traits of a real human being. “Eigenhandlung” (authentic actions and activity) and “Eigenleistung” (authentic and positively evaluated personal achievement) are among some most fitting characteristic traits of humans. Genuine life is personal, authentic or even consciously autonomous acting and achieving.17 Without pushing up this trait of “the achieving being” to the status of the would-be one and only characteristic of humans, I would like to relate it – which is easy enough to do, after all – specifically to sports and athletics. Let me first try to play with a bit of pseudo-etymology: with the notion of the homo performans, or, for that, homo performator. The achieving being is – as the interpreting being18 – obliged to use patterns, shapes, and structures in order to create and to orient her or himself or to act in meaningful ways. It has to pertain towards form, to apply and conceive of forms. (S)he can only achieve by utilizing and/or creating identifiable patterns or structures, i. e. per formas, by forms. Thus, (s)he depends on this 17 Achievement and achieving here may also be understood in a wider sense. However, it can also be interpreted in an even narrower sense, in a more specific cultural way, i. e. in the connotation and meaning of an ever-improving quantifiable or measurable performance and accomplishment. Thus far, we have no really comprehensive and encompassing philosophicanthropological work about “the achieving being” (for a shorter essay on that topic, cf. H. Lenk, Eigenleistung, Osnabrück/Zürich: Interfrom 1983). The philosophy of achievement is so to speak still in its infancy, though we have some social psychological and sociological treatises on “the achieving society” (MacClelland), “the achievement motive” and the dynamics of “achievement motivation” (Atkinson, Heckhausen and others) as well as plenty books about the so-called “achievement principle” in society, economics, and sociology. 18 See H. Lenk, Grasping Reality (supra nt. 2), 2003; Sporting enthusiasm and authentic achievement, in: Philosophy now 62, no. 7 (2007), 26 – 30; Scheme Dynamics, Bochum/ Freiburg: Projektverlag 2017.
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and is even committed to exteriorize some form of forms, to project intentions, to achieve external products etc. Only creative product- and even “self”-exteriorization allows self-reflection. Self-perfection is only possible by performing, i. e. via personal achievement. That would include most activities of goal-oriented, even systematic, well-trained acting and performing – also in the sense of the word in “the performing arts”. Everybody performs parts, takes roles in the theatre of everyday life. In some sense, we are all actors/agents playing in the drama of our lives (Goffman).19 By the very way of forms – by and in using forms and forming her or himself – homo perf o r m ator comes to understand and yet to make her or himself. VIII. Symbolic and real actions in a codified world We certainly live in a world of encompassing administration, institutions and mediation (by media and other mediating mechanisms – e.g. delegation, signatures, vicarious activities and responsibilities and liabilities for other people or institutions etc.). Communication, though almost universal in scope now and well-nigh ubiquitous in world-wide coverage, are by now mediated and virtual or virtually abstracted on a higher level of operational, formal or functional make-up or provenance. Action has almost been replaced by symbolic or virtual activity. A signature is an action but hardly a real one directly changing the world – it is a symbolic action. In addition, many sorts of actions have grown rather anonymous as regards addressees and the people reached. Moreover, television, films and movies, photography, and recently computer graphics and computer imaging and the respective redoing as well as pictograms and comics have turned much of our world into pictorial preserves so to speak: a picture and imaging pseudo world more and more taking over characteristics of socialized “reality” (think also of “Reality TV”!) apt primarily for passive consumption. The world only nowadays tends to become the notorious “world as phantom and matrix” (as G. Anders had already predicted more than half a century ago). “Life” in this “codified world” somehow does “not mean acting any more” (Flusser).20 That mediation and the almost all-encompassing grip of media coverage on an intercontinental, even at times “trans-planetary” scale, favours a strong fascination, tendency, and effective trend toward passive arousal, vicarious pseudo experiences in the forms of artificially enlivened movies and film reports mistaken for “real” life literally ending up in a notorious reduction to consumerism. All that amounts to a very seductive reduction in the form of artificial imagery-making with its progressive tendency towards only vicarious living and experience as well as passivism. The seducing “force” and “grip” seems to have particularly impacts in youngsters and little children. To be sure, they need pictures and images as well as the arousal of their capacity for imagery; but they need even more the active involvement of bodies and selves-as-yet-to-develop in order to really profit from the offered moving 19
Cf. E. Goffman, The presentation of self in everyday life, New York 1959. V. Flusser, Die kodifizierte Welt, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Stuttgart, 32. Jahrgang 1978, Heft 359, 374 ff. (378). 20
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world and colour pictures which so easily seduce and don’t really present a bodily or actively engaging or even strenuous action, which they so dearly need for their development and well-being requiring true actions! Instead, already then, in childish make-up, already all the manipulative practices and procedures of catching and capturing the young flexible minds by precarious vicarious templates in the form of effectively, yet passively arousing moving pictures, colours, fabricated events and stories would seduce the youngsters, who are by nature keen on running and moving, towards the life of a “couch potato” in front of the TV screen. Later, in their adolescent and adult lives, all the well-known mechanisms of alienation and manipulation within the “administrated world” tie in: institutionalization, bureaucracy (“red tape”), functionalization, segmentation, symbolization, vicarious representation and virtualization, delegation, “organisationism” and even what we can call “progressive publicities”.21 Showing off and boasting, just pretending or even “faking” to have accomplished something remarkable without having really done so, has unfortunately become a wide-spread strategy in our “trump(l)ing” society honouring rather the public image of seeming successful than really achieved hard work or strenuous endeavours and efforts. “Esse quam videri”22 reads the Latin proverb of old: Real/authentic being (active) instead of mere appearances. The trend towards a totally prefabricated and vicariously replayed pseudo-world seems to have almost displaced any proper personal and authentic, not to speak of autonomous, psycho-physical action towards remote quasi ecological niches. Personal acting in the genuine sense tends to become a sort of leisure hobby for the proverbial common man or woman. In serious life, they hardly act any more, being condemned to only functioning. By contradistinction, to be human, to act and stay consciously alive means indeed to be active and creative – to be and remain homo actor, performator, and creator. Humans are only really alive as humans when they act and move (physically as well as psychically as well as mentally). We can extend Schiller’s famous statement “Man… is only completely a man when he plays”!23 to the slogan “Human beings … are only completely human when they achieve freely”, i. e., according to their own choice and determination without being dominated only by, e. g., the necessities of sustenance, orders, etc. Personal and authentic, autonomous or well-adapted free ac-
21 “Big Brother” and “Reality” shows or the mania of “outing oneself” in public or on the screen, in the papers etc. – without any underlying authentic achievement, effort, or really active bodily and mental engagement. 22 Cf. Cicero, Laelius, 98: “Being rather than seeming (only)” – Interestingly enough, an American state (North Carolina) still has this telling slogan as its state motto. 23 F. von Schiller, Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, fünfzehnter Brief, in: F. von Schiller, Sämmtliche Werke, Bd. 18, Stuttgart 1820, 85; first printed in: F. Schiller, Die Horen, 1. Bd., 2. Stück, Tübingen 1795, 88.
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tion is a criterion of real and truly personal life for the achieving being.24 Only (s)he who acts, achieves and moves (something and her or himself) is really alive in the deeper, humanistic, sense. Life in its emphatic authentic understanding is goal-oriented action, personal achievement, authentic commitment and performance. IX. Total involvement: the top athlete It is easy to apply these anthropological insights to sports and athletics. Both have been and remain to be realms of bodily activity in which genuine personal involvement and engagement are required. This is true in the original sense, even as a paradigm of bodily and psychical involvement. Sports actions and achievement cannot be easily, pretended or obtained surreptitiously, vicariously achieved, or even delegated. In this sense, sporting achievements are accomplished by personal endeavour and effort. They consist, ideally speaking, in genuine and honest actions resulting in an adequate assessment of performance and output. Sports actions and performance would require personal – at least usually nowadays in top level athletics – almost total devotion and commitment. To use the late Paul Weiss’s25 nice phrase “Concern for bodily excellence” – and mental strength, I would like to add – is nothing to play at or with loosely or to be ridiculed. Athletic action and achievement require spontaneity, serious commitment and extraordinary self-discipline. Even leisure sports and games depend on such personal effort, bodily as well as psycho-physically active involvement. Personal freedom means here to consciously and deliberately to agree with and abide by the rules.26 As a chance, it is somehow expressed in the changing situations as also in the vicissitudes and unpredictability of a competition event. Finally, a feeling and experience of personal freedom may typically result and be gained, if you really have symbolically achieved a victory “over yourself” or a “real” one over an opponent or metaphorically speaking against nature, say a mountain or storm or distance, e. g.: think of the experience of overcoming the notorious weakness after twenty miles of a marathon.27 – Adorno was certainly wrong in judging that sport would “essentially” be a “realm of non-freedom, wherever it is organized”. It is true though, in top level athletics there are indeed at times instances of manipulation, alienation or even compulsion and domination exerted on athletes by of24 I even proposed (in H. Lenk, Die achte Kunst: Leistungssport – Breitensport, Osnabrück/ Zürich: Interfrom 1985, 182 ff.) to install an official human right for anyone to have opportunities and access to such free and notably creative and recreative activities. 25 P. Weiss, Sport – A Philosophic Inquiry, Carbondale-Edwardsville: Southern Illinois UP 1969. 26 Some such freedom is to be found in the free variations of action and planning strategies within the framework and limits of the rules and standards. 27 In purely playful leisure sports the very establishing and changing of the rules as we go along provides an additional means of expressing and constituting a freedom of action – you may think here even of a Wittgensteinian interpretation of “following a rule”.
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ficials, authoritarian coaches, the notorious public pressures for and expectations of spectacular records, pressure of the media, journalists, etc. But these are external phenomena that do not necessarily touch the essentially voluntary action of a free athlete. Only an athlete who autonomously devotes her or himself to a strenuous regimen of training will be at times capable of extraordinary authentic accomplishments: you can command somebody to march, but not to establish a world record or, say, to climb Mount Everest without additional oxygen intake. Achievement in its wider sense is more general than just individual competition (although competition is one of the best means to improve achievement). The characteristic Homeric slogan mentioned above of athletic and Olympic contests (“Always to be the best, distinguished from everyone else”, Homer Iliad VI, 208; XI, 784), this so-called “Achilles complex” (Segal) of the ancient Greek agonistic culture – is certainly not the only norm of the best possible achievement, although it is rather significant and characteristic for the very Olympic tradition and culture of achievement. The Olympic idea, thus, is mainly characterized by a specific principle of achievement, namely the agonistic or competitive one. However, even in the Olympic Movement, the harsh ideal norm of being the one and only victor is - or at least should be, ideally! – mitigated or put into a somewhat more restricted perspective, as shown by Coubertin’s well-known phrase “The most important thing in the Olympic Games is not to win but to take part”. Educationally speaking, it is indeed more important to perform at one’s personal best, to achieve the best possible personal result, to be able to participate in the Games of the sports elite and to fight fairly. Indeed, most of the conducive effects and impacts of a rigorous athletic training and of a genuine top level achievement motivation can be gained without being the eventual, say Olympic, champion. Sometimes, it is rather an educational challenge to stand defeat, though nowadays even an Olympic victory seems to be a special test for the athlete’s personality to see whether (s)he can come out of the public and commercial aftermath uncorrupted.28 Thus, the victorious athlete also has to pass a test of personal maturity in our publicity-afflicted society. The ideal models of the “sovereignty of the autonomous and enlightened athlete” and of the so-called “democratic” (i. e., actively participating or participatory) style of coaching were once established and elaborated in the practice of coaching rowing crews at Ratzeburg/Northern Germany during the fifties and sixties.29 Starting in
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Even in antiquity, again Pythagoras should have said (according to Porphyrios, vit. Pythag. 15; see C.M. Bowra, Xenophanes and the Olympic Games, in: The American Journal of Philology, Vol. 59, No. 3, Baltimore 1938, 257 ff. (264) [= id., Problems in Greek Poetry, 1953, 15 ff.]), though it would be important to take part in the Panhellenic Games like the Olympic ones, it would as well be essential also for the athlete not to win – because of the dangers of being seduced and corrupted by the aftermaths of, say, an Olympic victory! 29 To note, that was due to my cooperation as a member of the first German Olympic champion eight (1960) and, later, as an amateur coach of a World Champion eight oar shell (1966). In a speech on the occasion of the German rowing championship (1965), I had already
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1965 I talked about the ideal standard and model of an “autonomous” and “enlightened” or “sovereign” (“mündiger”) athlete. The results regarding the so-called “democratic” style of coaching were also based on the late Karl Adam’s experience, the most successful and (scientifically and philosophically) erudite rowing coach ever who had revolutionized coaching methods in world rowing at the time.30 X. Sport as genuine, “creative life” As regards the role and function of personal autonomy in athletics, of authentic action and personal achievement the model seems indeed to have a paragon function for an active and autonomous achieving life in general, particularly in terms of personal authenticity. Life is dynamic (dynamic movement), as Plato said: “Paulan kineseos – paulan zoes”: The less movement – the less life/living.31 Human life consists mainly of goal-attaining actions – at least regarding its essential meaning, though not necessarily most of the time. Life is creative action, achievement of performance. Homo creator and homo performator – both are necessarily connected with each another. Creative or active life is indeed in the last analysis personal achieving activity (at least in the wider sense of the term ‘achievement’). If creative life in its deepest roots is authentic and personal activity and achievement, then, active sport activities, remain to be a distinct (or even distinguished) element, vehicle, and means of an engaged active life in the original sense of “Eigenhandlung” (authentic personal action). Thus sport is active, genuine, i. e. creative life. To state this is by no means trivial in the overwhelming grip of the administrated and virtual world of signs and information manipulations. Indeed – and again – active sport has remained genuine action in a world of prevailing institutions and codifications. Thus far, we may follow Ortega’s approach. We cannot, however, accept Ortega’s inverse inference that all life is sport in its deepest sense.32 This would mean illegitimately to extend the concept of “sport” beyond any identification and delineation which would no longer have and confer any sense on the word – and it would turn out to be very misleading. There are other realms of creative living and achieving, too! Also, there is no single-factor theory of life and sport that can be considered valid. Complex phenomena require intricate and differentiated theories as we saw above in connection with philosophical anthropology. Since meaningful life in its deepest sense is genuinely based on authentic and autonomous, or sovereign, personal activthen summed up conclusions from my practical experience in rowing and coaching on the socalled “democratic coaching”. 30 Cf. K. Adam, Leistungssport als Denkmodell (Posthumously ed. by H. Lenk), München: Fink 1978. 31 Plato, Phaedrus 245c. 32 Cf. J. Ortega y Gasset, El origin del estado (1930), in: id., Obras completas, Madrid 1950.
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ity, the ideas of freely chosen, authentic and autonomous achievement, action, and performance would really attain a specific philosophical and educational significance. These ideas certainly relate to all realms of creative personal and team activity, sport being but one variant. Arts, music, science, production, active recreation, leisure, love – and sport (including nature sport, e. g. hiking) are only examples of these sorts of creative activity. Their communicative and social significance is certainly beyond any doubts and essentially lies in active self-involvement and engagement. Indeed, there is still a creative principle of achievement or, rather, a principle of creative accomplishments and the respective processes, or, rather personal actions, of achieving. The traditional discussion thus far was too much related to the once fashionable social criticism in the philosophy and sociology of achievement, the performance principle and the “achieving society”. One should not only interpret the comprehensive achieving principle in but a crude economical way. Besides the economic and sociological achievement principles, we have at least a socio-psychological one – and a socio-philosophical one, too. The socio-philosophical aspect would mean that the human being is (amongst other necessary traits) indeed “the achieving being par excellence”: One has to distinguish clearly between freely chosen, self-motivated achievements and secondarily motivated or even obtruded achievements. Philosophically and also social psychologically speaking, they are really very different. It is the first-mentioned kind of achieving activity and achievement motivation including the too often forgotten pleasure of achieving and being personally active and/or productive which I think, would really be “creative”, being characteristic for homo performator and homo creator at the same time. This kind of social philosophical – and personally experienced – achievement principle which has still to be further elaborated in philosophical terms is far from being outdated.33 Educationally speaking, it is necessary to provide plenty of opportunities for creative achieving actions (in the narrower competitive sense, and in the top level as well as in the wider sense). Every man and woman, in particular every youngster, has a human right to have access to creative activities. Creativity, primary motivation, personal commitment and devotion, a plurality of creative activities in a personal combination (multi-sidedness) – in short: any opportunity for creative achieving activity has to be provided and fostered by families, elementary and high schools, colleges, universities and most certainly and effectively by sport teams, clubs, boys’ and girls’ scout groups as well as by other rather official institutions and voluntary organizations. The liberal and democratic state has to emphasize and support these tendencies and should provide plenty of such opportunities to foster and further such activities, initiatives, and motivations. It seems necessary – at least in Europe – to develop and support as well as honour a new positive culture of creative achievements – of the creative achievement and performance principle.34 33
This is also true for the other variants of the achievement principle, even if we do not live in a strict or pure “achieving society” as McClelland thinks: cf. H. Lenk, Social Philosophy of Athletics (supra nt. 7), 1979; S. O. S. Save Olympic Spirit (supra nt. 7), 2012. 34 See H. Lenk, Eigenleistung (supra nt. 17), 1983.
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Achievement being a cultural and social phenomenon and ideal value – is not purely just a natural process or phenomenon. It is at the same time a psycho-physical, social psychological, cultural and also, in some sense, spiritual – and basically even an important philosophical topic – even more so if and insofar as it is pertaining to symbolic results, processes, methods and mediating procedures. It is a fundamental anthropological model, if not a category, and an effective vehicle of self-understanding and self-development, as well as of social identification, judgement and appreciation. Certainly, the human interest in personal authentic and autonomous acting, the respective concern for excellence by achieving and accomplishing something by one’s personal efforts and endeavours, is, methodologically and philosophically speaking, an ideal with a normative hue and a convincing appeal, a demanding symbol, an expression of our eternal orientation towards the better. Achieving and “winning”, though, by contrast to the notorious slogan by Tatum and Lombardi, is “not everything” nor “the only thing”, but without achieving, the performing human being, homo performator and creator, could not make much sense of her or his life, and their higher life aspirations. Without creative human achievements and initiatives, higher civilization and even our material culture would not have been possible at all. The cultural being (dependent on culture) is the achieving being. And the top athlete is ideally a quasi “mythical” symbol of a cultural accomplishment. Let us retain and keep clean this paragon symbol of an athleta semper humanus!35
35 For further literature on the topics discussed in this article see H. Lenk (ed.), Topical Problems of Sport Philosophy, Schorndorf: Hofmann 1983; H. Lenk, Team Dynamics, Champaign, IL: Stipes 1977; Bewusstsein, Kreativität und Leistung, Darmstadt: WBG 2007; Dopium fürs Volk?, Hamburg: Merus 2007; Erfolg oder Fairness?, Münster: LIT 2002, 2nd Ed. Berlin: LIT 2010; Not a Long Way to Concrete Humanity?, Bochum/Freiburg: Projektverlag 2019; Creativity and Responsibility, ibd. 2020; H. Lenk/G. A. Pilz, Das Prinzip Fairness, Zürich: Interfrom 1989.
Die Veröffentlichung von Bildnissen des Kindes durch die sorgeberechtigten Eltern: Rechtsprobleme des „Sharenting“ Von Saskia Lettmaier I. Einführung Am Lehrstuhl des Jubilars in der Hindenburgstraße 34 – über den Dächern Erlangens – liegen gewissermaßen die Ursprünge meines wissenschaftlichen Werdegangs. Dem Jubilar verdanke ich die Gelegenheit zu meinem ersten rechtswissenschaftlichen Vortrag und zu meiner ersten Publikation. Damals ging es, der u. a. sportrechtlichen Ausrichtung des Lehrstuhls folgend, um die kommerzielle Verwertung von Persönlichkeitsbestandteilen – insbesondere Bildnissen – prominenter Sportler.1 In meiner weiteren wissenschaftlichen Entwicklung bin ich dem Sportrecht nicht treu geblieben, sondern in das Familienrecht abgewandert. Die Veröffentlichung von Bildnissen begegnet uns aber auch hier. Das gilt bereits für das Offline-Familienleben, wenn etwa der letzte Familienurlaub als Slide-Show oder im Video vor Publikum präsentiert wird. Darüber hinaus ist die moderne Familie aber auch im Internet und in den sozialen Medien präsent und postet, twittert und teilt Bilder aus ihrem mehr oder weniger imposanten Alltag. Beliebtes Motiv sind Kinderbildnisse. Minderjährige veröffentlichen zum einen selbst Fotos, auf denen sie zu sehen sind, insbesondere über Messenger-Dienste wie Whatsapp oder Snapchat, und zwar zum Teil bevor sie das in den AGB der entsprechenden Dienste vorgesehene Mindestalter für deren Nutzung erreicht haben.2 Daneben veröffentlichen aber auch Eltern Bildnisse ihrer Sprösslinge auf analogem und auf digitalem Weg: Studien zufolge sind bereits 90 % der unter Zweijährigen im Netz präsent.3 Das Teilen von Bildnissen des eigenen Nachwuchses, vor allem in sozialen Netzwerken, ist inzwischen so sehr Teil der elterlichen Alltagspraxis, dass sich dafür bereits die Wortschöpfung „Sharenting“ (eine
1 Lettmaier, Konzeption und Schutz des Kommerzialisierungswerts von Sportlern aus USamerikanischer und deutscher Perspektive, in: Klaus Vieweg (Hrsg.), Prisma des Sportrechts – Referate der sechsten und siebten interuniversitären Tagung Sportrecht, Berlin 2006, S. 219 – 246. 2 Kutscher/Bouillon, Kinder. Bilder. Rechte. Persönlichkeitsrechte von Kindern im Kontext der digitalen Mediennutzung in der Familie, Berlin 2018, S. 6. 3 Warum es gefährlich ist, Bilder seiner Kinder online zu stellen, faz.net v. 2. 3. 2017.
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Zusammenziehung aus „sharing“ = teilen und „parenting“ = erziehen) etabliert hat.4 Die Praxis des „Sharenting“ ist – wie die leicht abwertende Bezeichnung zeigt – umstritten. Im Mittelpunkt der Diskussion standen zunächst die moralisch-ethische Dimension und das Gefährdungspotenzial entsprechender Veröffentlichungen. Initiativen wie die Kampagne #DenkenFragenPosten des Deutschen Kinderhilfswerks5 oder die der Bloggerin Toyah Diebel unter dem Hashtag deinkindauchnicht6 wollten Eltern für einen verantwortungsvollen Umgang mit Kinderbildnissen sensibilisieren. Andere Beiträge verwiesen auf die Anziehungskraft, die Kinderbilder, insbesondere solche, die Kinder beim Wickeln, Baden oder Schwimmen zeigen, für Pädophile entfalten könnten.7 Jüngst – insbesondere seit Geltungsbeginn der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO)8 und der dadurch erwachten größeren Sensibilität gegenüber daten- und persönlichkeitsschutzrechtlichen Fragen – ist allerdings auch die rechtliche Zulässigkeit des elterlichen Handelns in den Fokus gerückt.9 Im Zentrum steht die Frage eines Vertretungsverbots aus §§ 1629 Abs. 2, 1795 Abs. 2, 181 BGB. Aufgeworfen – und zumeist im Sinne eines Vertretungsverbots entschieden – wird diese Frage vor allem von Autoren mit einem Schwerpunkt im Schuld- bzw. Medienrecht,10 während sie von Familienrechtlern bislang so gut wie nicht thematisiert wird.11 In Gerichtsentscheidungen spielen Bildnisveröffentlichungen von Kindern durch die eigenen Eltern soweit ersichtlich nur eine Rolle, wenn sich die Eltern – ins4 Das Wort wurde 2016 in das Collins English Dictionary aufgenommen, nachdem es als eines der Wörter des Jahres ermittelt worden war. Dort wird es definiert als „the habitual use of social media to share news, images, etc of one’s children,“ vgl. https://www.collinsdictio nary.com/dictionary/english/sharenting (zuletzt aufgerufen am 23. 6. 2020). 5 Vgl. https://www.dkhw.de/schwerpunkte/medienkompetenz/denkenfragenposten-deut sches-kinderhilfswerk./ (zuletzt aufgerufen am 23. 6. 2020). 6 Die Bloggerin veröffentlichte durch Erwachsene nachgestellte und als Abschreckung gedachte Fotos, die die Dargestellten in typischen Kinderposen – sabbernd, schlafend und auf dem Töpfchen – zeigten. Vgl. hierzu https://deinkindauchnicht.org/#toyah (zuletzt aufgerufen am 7. 6. 2020). 7 Vgl. hierzu Richards, Paedophile websites steal half their photos from social media sites like Facebook, independent.co.uk v. 30. 9. 2015; Jüngling, Kinderfotos auf Facebook können böse Folgen haben, Welt.de v. 22. 6. 2012 sowie https://www.dkhw.de/schwerpunkte/medien kompetenz/denkenfragenposten-deutsches-kinderhilfswerk/ (zuletzt aufgerufen am 7. 6. 2020). 8 25. 5. 2018, vgl. Art. 99 DSGVO. 9 Vgl. hierzu Schimke, NZFam 2019, 851; Buchner, FamRZ 2019, 665, 666 f.; Fritzsche/ Knapp, FamRZ 2019, 1905; Rake, FamRZ 2020, 1064. 10 Vgl. etwa Schimke, NZFam 2019, 851, 853, 855; Buchner, FamRZ 2019, 665, 667; Fritzsche/Knapp, FamRZ 2019, 1905, 1908. Die Autoren haben einen Forschungsschwerpunkt jeweils im Schuld- und/oder Medienrecht. 11 Nicht diskutiert wird die Anwendbarkeit des Vertretungsverbots aus §§ 1629 Abs. 2, 1795 Abs. 2, 181 BGB etwa in Burger, FF 2018, 243; Götz, FamRZ 2019, 573; Lack, FamRZ 2017, 1730 sowie in einer speziell zur Frage der Kinderbildveröffentlichung durch Eltern erstellten Übungsklausur der zuletzt genannten Autorin in JA 2020, 421. Stellung zu dieser Frage nimmt jetzt allerdings jüngst Rake, FamRZ 2020, 1064, 1065 f.
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besondere im Trennungsstreit – hinsichtlich der Veröffentlichung nicht einigen können.12 Unausgesprochene Prämisse der Entscheidungen ist, dass bei Einigkeit der Eltern entsprechende Veröffentlichungen rechtlich zulässig sind. Doch sind sie das? Aufgrund der enormen Praxisrelevanz des „Sharenting“ und der zu verzeichnenden Unsicherheit hinsichtlich seiner juristischen Beurteilung sollen die rechtlichen Rahmenbedingungen für diese Form des Elternhandelns in diesem Beitrag näher beleuchtet werden. II. Die Vorgaben der DSGVO und des Kunsturhebergesetzes (KUG) Die Veröffentlichung von Personenbildnissen untersteht seit 1907 dem Schutz der §§ 22 f. KUG. Diese Vorschriften verbieten die unbefugte Verbreitung oder öffentliche Zurschaustellung von Bildnissen, auf denen eine Person identifizierbar dargestellt ist.13 Unter einem öffentlichen Zurschaustellen versteht man jede Art der Sichtbarmachung des Bildnisses gegenüber der Öffentlichkeit, z. B. über eine Pinnwand oder eine Webseite. Allerdings fehlt es am Merkmal der Öffentlichkeit, wenn die Zuschauer (wie etwa bei der Vorführung eines Urlaubsvideos vor Oma und Opa) durch persönliche Beziehungen i. S. v. § 15 Abs. 3 S. 2 UrhG untereinander oder mit dem Veranstalter verbunden sind.14 Ein Bildnis wird verbreitet, wenn es in körperlicher oder auch in digitaler Form an Dritte weitergegeben wird.15 Während die Zurschaustellung öffentlich erfolgen muss, umfasst der Verbreitungsbegriff jede Art der Weitergabe, also auch das Verschenken des Originals oder eines körperlichen Vervielfältigungsstücks bzw. die unkörperliche Weitergabe über Messengerdienste wie Whatsapp.16 Tatbestandsmäßig ist nach herrschender Meinung selbst die Weitergabe im rein privaten Bereich; lediglich von einer Mindermeinung wird eine Reduktion des Verbreitungsbegriffs für die engste Familiensphäre erwogen.17 Überformt wird der nationale Bildnisschutz seit dem 25. 5. 2018 durch die europäische DSGVO, die in allen EU-Mitgliedstaaten, und damit auch in Deutschland, 12 Vgl. hierzu etwa OLG Karlsruhe, FamRZ 2016, 2138; AG Menden, NJW 2010, 1614; AG Stolzenau, FamRZ 2018, 35 und zusammenfassend Burger, FF 2018, 243. 13 Ausreichend ist, dass der Abgebildete begründeten Anlass zu der Annahme hat, er könne – auch aufgrund der Begleitumstände der Veröffentlichung – identifiziert werden, vgl. Dreier/Schulze/Specht, Urheberrechtsgesetz, 6. Aufl. 2018, § 22 KUG Rn. 3 f. 14 BeckOK/Herrmann, Informations- und Medienrecht, 28. Ed. 1. 2. 2020, § 22 KUG Rn. 12. 15 OLG Frankfurt a. M., MMR 2004, 683; Dreier/Schulze/Specht (Fn. 13), § 22 KUG Rn. 9; Wandtke/Bullinger/Fricke, Urheberrecht, 5. Aufl. 2019, § 22 KUG Rn. 8. 16 LG Frankfurt a. M., ZUM-RD 2016, 390; BeckOK/Engels, Urheberrecht, 27. Ed. 15. 3. 2020, § 22 KUG Rn. 51 ff.; Wandtke/Bullinger/Fricke (Fn. 15), § 22 KUG Rn. 8. 17 Für eine Reduktion etwa Schimke, NZFam 2019, 851, 854 f.; Dreier/Schulze/Specht (Fn. 13), § 22 KUG Rn. 9. Anders aber z. B. Wandtke/Bullinger/Fricke (Fn. 15), § 22 KUG Rn. 8. Tendenziell ablehnend auch BGH, GRUR 2018, 757, 760. Offengelassen in AG Menden, NJW 2010, 1614.
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unmittelbar gilt und grundsätzlich Anwendungsvorrang vor innerstaatlichem Recht genießt.18 Ein Personenbildnis enthält personenbezogene Daten im Sinne der Verordnung, nämlich Informationen, die sich auf eine identifizierbare natürliche Person beziehen (Art. 4 Nr. 1 DSGVO). Die Veröffentlichung stellt eine „Verarbeitung“ dieser Daten dar; die Definition der Verarbeitung in Art. 4 Nr. 2 DSGVO nennt insoweit beispielhaft „die Verwendung, die Offenlegung durch Übermittlung, Verbreitung oder eine andere Form der Bereitstellung.“ Die Frage, inwieweit dem Bildnisschutz des KUG seit Inkrafttreten der DSGVO noch ein Anwendungsbereich verbleibt, ist umstritten.19 Anwendbar bleibt das KUG jedenfalls auf die Veröffentlichung von Personenbildnissen im Rahmen „ausschließlich persönlicher und familiärer Tätigkeiten,“ da dieser Bereich von der Verordnung ausdrücklich ausgenommen ist (Art. 2 Abs. 2 lit. c DSGVO). Eine abschließende Bestimmung der Reichweite dieser sog. „Haushaltsausnahme“ – insbesondere im Hinblick auf Online-Publikationen auf Webseiten und über soziale Netzwerke20 – steht bislang aus. Sicher ist nur, dass Tätigkeiten mit beruflichem oder wirtschaftlichem Bezug nicht mehr erfasst sind.21 Bislang ungeklärt ist, wie sich jenseits der Haushaltsausnahme das Verhältnis der DSGVO zum KUG darstellt. Zum Teil wird – unter Berufung auf Art. 85 DSGVO – sogar eine volle Weitergeltung des KUG neben der DSGVO angenommen.22 18 BeckOK/Schantz, Datenschutzrecht, 32. Ed.1.5.2020, Art. 1 DSGVO Rn. 8; BeckOK/ Engels (Fn. 16), § 22 KUG Rn. 10a. 19 Zum Problemkreis etwa Reuter/Schwarz, ZUM 2020, 31; Remertz, MMR 2018, 507. 20 Nach Erwägungsgrund 18 der Verordnung können zwar auch „die Nutzung sozialer Dienste und Online-Tätigkeiten“ unter die Ausnahme fallen. Allerdings ist Art. 2 Abs. 2 lit. c DSGVO identisch mit der Vorgängerregelung in Art. 3 Abs. 2 DSRL, zu der der EuGH entschieden hatte, dass sie nicht mehr eingreift, wenn Online-Veröffentlichungen einem potenziell unbegrenzten Adressatenkreis zugänglich gemacht werden. Vgl. EuGH, EuZW 2004, 245, 249; NVwZ 2019, 465, 467 (jeweils noch zu Art. 3 Abs. 2 DSRL). Ob der EuGH an dieser Rechtsprechung unter der DSGVO festhalten wird, ist noch nicht entschieden. Die wohl überwiegende Literaturansicht spricht sich dafür aus, Online-Publikationen, die sich lediglich an einen begrenzten, vom Nutzer definierten Personenkreis (z. B. die Facebook-Freunde) richten, noch unter die Haushaltsausnahme fallen zu lassen. Vgl. Spindler/Schuster/Spindler/ Dalby, Recht der elektronischen Medien, 4. Aufl. 2019, Art. 2 DSGVO Rn. 6. Weitergehend BeckOK/Bäcker, Datenschutzrecht, 32. Ed. 1. 5. 2019, Art. 2 DSGVO Rn. 21 (Social MediaVeröffentlichungen unabhängig vom Adressatenkreis als Teil der Haushaltsausnahme, wenn der Nutzer den Dienst als Privatperson nutzt). 21 Vgl. Erwägungsgrund 18 der Verordnung und Paal/Pauly/Ernst, DSGVO BDSG, 2. Aufl. 2018, Art. 2 DSGVO Rn. 16. 22 Wenn eine Veröffentlichung zu journalistischen, wissenschaftlichen, künstlerischen oder literarischen Zwecken erfolgt, gestattet Art. 85 Abs. 2 DSGVO abweichende nationale Regelungen, sodass die §§ 22 f. KUG jedenfalls bei Veröffentlichungen zu den genannten Zwecken beibehalten werden können. Unklar ist, ob Art. 85 Abs. 1 DSGVO den Mitgliedstaaten eine Regelungsbefugnis für Veröffentlichungen zu anderen Zwecken einräumt, insbesondere für die im Rahmen des „Sharenting“ regelmäßig einschlägige rein privat motivierte Kommunikation. Überwiegend wird in dieser Vorschrift nur ein Anpassungsauftrag gesehen, sodass auf diese Sachverhalte künftig (jenseits der Haushaltsausnahme) die DSGVO anwendbar
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Eine genaue Abgrenzung der Geltungsbereiche der beiden Normkomplexe ist jedoch an dieser Stelle nicht erforderlich, da sich die Rechtfertigungsgrundlagen für eine Bildnispublikation nach der DSGVO und dem KUG in ihren Grundstrukturen entsprechen.23 Eine Veröffentlichung ist jeweils nur erlaubt, wenn sie sich entweder auf einen gesetzlichen Erlaubnistatbestand oder aber auf eine Einwilligung der abgebildeten Person stützen kann (Art. 6 DSGVO; §§ 22 f. KUG). Das Eingreifen eines gesetzlichen Erlaubnistatbestands nach Art. 6 Abs. 1 S. 1 lit. b–f DSGVO bzw. § 23 Abs. 1 Nr. 1 – 4 KUG ist zwar auch bei der Veröffentlichung von Bildnissen Minderjähriger nicht ausgeschlossen.24 Zu denken wäre insbesondere an die Interessenabwägungsklauseln in Art. 6 Abs. 1 S. 1 lit. f DSGVO bzw. § 23 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 KUG.25 Bei der Art von Bildnissen, die Eltern typischerweise von ihrem Nachwuchs verbreiten, ist jedoch schon nicht ersichtlich, zur Wahrung welches berechtigten Eltern- oder allgemeinen Informationsinteresses die Veröffentlichung erforderlich sein sollte. Den Wunsch, das eigene Familienglück zu teilen, welcher der Praxis des „Sharenting“ regelmäßig zugrunde liegt, wird man wohl nicht ausreichen lassen können.26 Insoweit hat der BGH ausdrücklich festgestellt, dass Fotos, die Kinder (selbst prominenter Eltern) im Alltagsleben abbilden, regelmäßig nicht zu einer öffentlichen Auseinandersetzung beitragen und kein Informationsbedürfnis, sondern allenfalls Neugier befriedigen.27 Ausnahmen sind denkbar, wenn das Kind im Rahmen oder gar als Mittelpunkt einer öffentlichen Veranstaltung dargestellt wird28 oder wenn der Veröffentlichende mit dem Bild auf einen Missstand (unberechtigte Eingriffe in sein Sorgerecht, eine Misshandlung des Kindes, etc.) hinweisen will.29 wäre. Andere Stimmen (vgl. etwa BeckOK/Engels [Fn. 16], § 22 KUG Rn. 10e) sehen dagegen auch in Art. 85 Abs. 1 DSGVO eine eigenständige Öffnungsklausel, sodass auch insoweit die §§ 22 f. KUG beibehalten werden können. Zum Ganzen Lauber-Rönsberg/Hartlaub, NJW 2017, 1057, 1060 ff. 23 So auch Reuter/Schwarz, ZUM 2020, 31; Schimke, NZFam 2019, 851, 856; Buchner, FamRZ 2019, 665. Die Frage der Fortgeltung des KUG wurde dementsprechend offengelassen in LG Frankfurt a. M., ZUM-RD 2019, 164. Abweichungen ergeben sich jedoch im Hinblick auf die prozeduralen Pflichten und die Betroffenenrechte. 24 BGH, ZUM-RD 2010, 24: kein genereller Unterlassungsanspruch hinsichtlich der Veröffentlichung von Fotos, die einen bestimmten Minderjährigen zeigen; EuGH, DAR 2017, 698, 700: keine generelle Unzulässigkeit der Datenverarbeitung, nur weil der Betroffene minderjährig ist (noch zu Art. 7 lit. f DSRL). 25 Potenziell einschlägig ist auch § 23 Abs. 1 Nr. 2 KUG. Doch selbst wenn auf der Abbildung weitere Personen oder Objekte zu sehen sind, wird die Darstellung des Kindes i. d. R. nicht derart untergeordnet sein, dass das Kind als Beiwerk im Sinne dieser Vorschrift anzusehen ist. Ein Beiwerkscharakter wurde etwa verneint in OLG Frankfurt a. M., MMR 2004, 683 (Kindergruppe bei Schuleröffnung). 26 Wie hier Buchner, FamRZ 2019, 665, 667; Rake, FamRZ 2020, 1064, 1067 f. 27 BGH, NJW 2005, 215, 217. 28 BVerfG, NJW 2005, 1857, 1858. Erforderlich ist aber, dass die Veröffentlichung des Bildnisses in einen Kontext eingebettet wird, der auf das öffentliche Ereignis (z. B. durch einen Begleittext) Bezug nimmt, vgl. BGH, NJW 2005, 56, 58. 29 OLG Karlsruhe, ZUM-RD 2011, 348 (Bildnisveröffentlichung im Zusammenhang mit Berichten über das aus Sicht des Veröffentlichenden ungerechtfertigte Verhalten des Jugend-
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Doch selbst ein berechtigtes Publikationsinteresse unterstellt, wird im Rahmen der sich dann noch anschließenden Interessenabwägung das Kindesinteresse an der Nichtveröffentlichung das Publikationsinteresse des Veröffentlichenden regelmäßig überwiegen, da Kinder anerkanntermaßen eines gesteigerten Privatsphärenschutzes bedürfen, um sich zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten erst noch zu entwickeln.30 Damit bleibt bei der Veröffentlichung von Kinderbildnissen als möglicher Legitimationstatbestand meist nur die Einwilligung der abgebildeten Person. Über die Rechtsnatur der Einwilligung wird heftig gestritten.31 Der Streit begegnet nicht nur im Zusammenhang mit Bildnisveröffentlichungen, sondern immer dann, wenn es um Eingriffe in höchstpersönliche32 Rechte und Rechtsgüter – etwa die Freiheit, die körperliche Unversehrtheit oder das allgemeine Persönlichkeitsrecht – geht. Die Bandbreite der zur Rechtsnatur der Einwilligung vertretenen Ansichten reicht von ihrer Einordnung als rechtsgeschäftlicher Willenserklärung bis hin zu ihrer Klassifizierung als Gestattung einer tatsächlichen Handlung, die in Rechtsgüter eingreift.33 Auf das Ergebnis des Streits (der deswegen auch häufig als müßig bezeichnet wird34) kommt es regelmäßig nicht an, wenn, wie so oft, die Einwilligung gegenüber einem familienfremden Dritten – etwa dem Träger eines Kindesgartens, einer Schule oder eines Krankenhauses – in Rede steht: Denn sowohl die Abgabe von Willenserklärungen im Namen des minderjährigen Kindes als auch die Gestattung tatsächlicher Handlungen in Beziehung auf das Kind ist von der Personensorge umfasst und obliegt daher grundsätzlich den Sorgeberechtigten, §§ 1626, 1629 BGB.35 III. Die Problemstellung Unmittelbare Auswirkungen hat der Streit jedoch in der hier interessierenden Fallkonstellation, dass die sorgeberechtigten Eltern selbst ein Kinderbildnis veröffentlichen und nicht Dritte hierzu autorisieren wollen. Die wohl herrschende Lehre im medien- und datenschutzrechtlichen Schrifttum betrachtet die Einwilliamts und seine Auseinandersetzungen mit diesem); BGH, GRUR 2018, 757 (gerichtliche Vorlage von Bildern zulässig, die das Kind als Opfer möglicher Misshandlungen zeigen, sofern ein besonders enger Bezug der Lichtbilder zum Verfahren besteht). 30 BVerfG, NJW 2000, 1021, 1023; NJW 2005, 1857, 1858; BGH, ZUM-RD 2010, 24, 26; zum besonderen Gewicht des Kindesinteresses vgl. auch Art. 6 Abs. 1 S. 1 a. E. DSGVO. 31 Überblick bei Ohly, „Volenti non fit iniuria“ – Die Einwilligung im Privatrecht, Tübingen 2002, S. 35 ff.; Staudinger/Hager (2017), Das Persönlichkeitsrecht Rn. 176 ff. 32 Auch im Bereich der Vermögensrechte sind Einwilligungen möglich, wenngleich weniger praxisrelevant. Vgl. Ohly (Fn. 31), S. 11. 33 Hierzu ausführlich unten III. 34 So etwa BeckOK/Engels (Fn. 16), § 22 KUG Rn. 29. 35 BGH, NJW 1972, 335, 337; NJW 2005, 56, 57; OLG Hamm, NJW 1998, 3424; CoesterWaltjen, MedR 2012, 553, 554 f.; Staudinger/Lettmaier, BGB, Neubearbeitung 2020, § 1626 BGB Rn. 287.
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gung als rechtsgeschäftliche oder zumindest rechtsgeschäftsähnliche Erklärung.36 Das hat zur Folge, dass die Eltern, wenn sie selbst Bildnisse des Kindes auf einer eigenen Web- oder Facebookseite, in sozialen Netzwerken oder auf sonstige Weise verbreiten wollen, ein Rechtsgeschäft als gesetzliche Vertreter des Kindes mit sich selbst im eigenen Namen tätigen müssten – ein klassisches Insichgeschäft also, das ihnen nach §§ 1629 Abs. 2, 1795 Abs. 2, 181 BGB grundsätzlich verboten ist.37 Zwar ist anerkannt, dass – jenseits der (hier nicht einschlägigen) geschriebenen Ausnahmen vom Verbot (Gestattung und Erfüllung einer Verbindlichkeit) – die Vorschrift des § 181 BGB teleologisch zu reduzieren ist, soweit die vom Vertreter im Wege des Insichgeschäfts abgegebene Erklärung dem Vertretenen lediglich rechtlich vorteilhaft ist.38 Die Einwilligung in die Veröffentlichung ist aber für das Kind im Hinblick auf den dadurch gestatteten Eingriff in sein Persönlichkeitsrecht nicht lediglich rechtlich vorteilhaft i. S. v. § 107 BGB.39 Zu einem anderen Ergebnis käme man nur, wenn man mit einer Mindermeinung für das Vorliegen eines rechtlichen Nachteils stets eine Gefährdung von Vermögensinteressen fordern wollte40 oder – in Fortbildung einer nicht ganz unproblematischen BGH-Entscheidung aus dem Jahr 2004 zur rechtlichen Nachteilhaftigkeit von Grundstücksschenkungen41 – solche Veröffentlichungen aus der Nachteilsbetrachtung ausklammert, die schon ihrer abstrakten Natur nach für den Minderjährigen völlig ungefährlich sind.42 In 36
Frömming/Peters, NJW 1996, 958; Vetter, AfP 2017, 127, 130; Von Strobl-Albeg, in: Wenzel, Das Recht der Wort- und Bildberichterstattung, 6. Aufl. 2018, Rn. 158; BeckOK/ Herrmann (Fn. 14), § 22 KUG Rn. 13; Wandtke/Bullinger/Fricke (Fn. 15), § 22 KUG Rn. 13; BeckOK/Schild, Datenschutzrecht, 32. Ed. 1. 5. 2020, Art. 4 DSGVO Rn. 130; BeckOK/Albers/Veit, Datenschutzrecht, 32. Ed. 1. 5. 2020, Art. 6 DSGVO Rn. 19. Anders allerdings Gola/ Schulz, DSGVO, 2. Aufl. 2018, Art. 7 DSGVO Rn. 8 (Realakt). Anders auch Sydow/Ingold, DSGVO, 2. Aufl. 2018, Art. 7 DSGVO Rn. 13 für Einwilligungen nach der DSGVO, die nicht nach überkommenen zivilrechtlichen Rechtsformen, sondern autonom zu behandeln seien. 37 Dabei dürfte unbeachtlich sein, ob auf die konkrete Veröffentlichung die DSGVO oder das KUG anwendbar ist, da die DSGVO zwar das Ob der Stellvertretung zulässt (vgl. Art. 8 DSGVO), andererseits aber ihr Wie nicht regelt, sodass insoweit die nationalen Regeln anwendbar bleiben. Vgl. hierzu Schimke, NZFam 2019, 851, 853, die einen Ausschluss der Eltern außerdem aus Erwägungsgrund 38 der Verordnung herleitet. 38 BGH, NJW 1972, 2262; Staudinger/Lettmaier (Fn. 35), § 1629 BGB Rn. 12 m. w. N. 39 Fritzsche/Knapp, FamRZ 2019, 1905, 1908; MünchKomm/Spickhoff, BGB, 8. Aufl. 2018, § 107 BGB Rn. 12; BeckOGK/Duden, BGB, Stand: 1. 4. 2020, § 107 BGB Rn. 20; Dreier/Schulze/Specht (Fn. 13), § 22 KUG Rn. 26. 40 So etwa OLG München, FGPrax 2015, 137. Zwar ist dieser Ansicht zuzugeben, dass § 181 BGB in erster Linie einen Schutz von Vermögensinteressen im Blick hat. Dies schließt jedoch einen weitergehenden Schutzzweck nicht aus. Für den rechtlichen Nachteil sind letztlich allein rechtliche und nicht wirtschaftliche Gesichtspunkte ausschlaggebend. Gegen eine einschränkende Anwendung etwa auch MünchKomm/Spickhoff, BGB, 8. Aufl. 2020, § 1795 BGB Rn. 11. 41 BGH, FamRZ 2005, 359. 42 Ähnlich auch Fritzsche/Knapp, FamRZ 2019, 1905, 1908, die hierfür allerdings das Kriterium der Sozialadäquanz bemühen, das im Kontext von §§ 107, 181 BGB grundsätzlich ausgedient hat. Vgl. hierzu Staudinger/Lettmaier (Fn. 35), § 1629 BGB Rn. 131.
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der zitierten BGH-Entscheidung ging es jedoch um wirtschaftlich völlig unbedeutende Nachteile, insbesondere gewöhnliche Grundstückslasten. Im Hinblick auf die bei Kinderbildveröffentlichungen drohenden, in erster Linie ideellen Nachteile dürfte dagegen bereits eine abstrakte und rechtssichere Definition völlig unbedenklicher Verbreitungshandlungen nicht leichtfallen. Zu denken wäre ggf. an die Weitergabe körperlicher Vervielfältigungsstücke von Alltagsaufnahmen im engeren Familienund Vertrautenkreis – eine Fallgruppe, für die von einer Mindermeinung bereits eine tatbestandliche Verbreitungshandlung i. S. v. § 22 S. 1 KUG verneint wird.43 Jenseits dieser Fallgruppe müssten bei Kinderbildveröffentlichungen durch die sorgeberechtigten Eltern allerdings stets nicht diese selbst, sondern ein vom Gericht eingesetzter Ergänzungspfleger einwilligen, §§ 1693, 1909 BGB. Das Gleiche würde – im Hinblick auf §§ 1629 Abs. 2, 1795 Abs. 1 Nr. 1 BGB – auch dann gelten, wenn sonstige enge Familienangehörige (z. B. die Großeltern oder ein neuer Ehegatte des Elternteils) Bildnisse des Kindes verbreiten wollen. Nach der Gegenansicht handelt es sich bei der Einwilligung nicht um eine rechtsgeschäftliche oder rechtsgeschäftsähnliche Erklärung, sondern um die Gestattung einer tatsächlichen Handlung, die in Rechtsgüter (das Persönlichkeitsrecht, die Freiheit, die körperliche Unversehrtheit, etc.) eingreift.44 Willigen die Eltern – gegenüber sich selbst oder Dritten – in die Veröffentlichung von Bildnissen des Kindes ein, handelt es sich dementsprechend nicht um Vertretung bei einem Rechtsgeschäft i. S. v. §§ 1629 Abs. 2, 1795 Abs. 2, 181 BGB, sodass auch der in diesen Vorschriften normierte Ausschluss der Eltern – jedenfalls direkt – keine Anwendung findet. Der BGH hat sich der zuletzt genannten Auffassung für den Bereich der ärztlichen Eingriffe ausdrücklich angeschlossen;45 sie sieht sich inzwischen auch durch die Einfügung von § 630d BGB bestätigt. Mit dieser Vorschrift hat der Gesetzgeber zum Ausdruck gebracht, dass die Geschäftsfähigkeit für die Einwilligung in ärztliche Eingriffe nicht maßgeblich ist, sodass jedenfalls insoweit von einer rechtsgeschäftlichen Erklärung nicht mehr ausgegangen werden kann.46 Eine ausdrückliche höchstrichterliche Erstreckung dieser Rechtsprechung auf die Einwilligung in Bildnisveröffentlichungen steht zwar noch aus.47 Jedenfalls für die hier interessierende Fallgruppe des „Sharenting“ dürfte eine andere Einordnung jedoch nicht angebracht sein: Denn auch wenn Eltern Fotos ihrer Kinder verbreiten, steht regelmäßig die Zurücknahme einer höchstpersönlichen Rechtsposition, nämlich der Verzicht auf das Recht am ei43
Vgl. oben Fn. 17. Spickhoff, FamRZ 2018, 418; Coester-Waltjen, MedR 2012, 553, 554 f.; Lack, FamRZ 2017, 1730, 1731; BeckOGK/Amend-Traut, BGB, Stand: 1. 4. 2020, § 1626 BGB Rn. 118; BeckOGK/Duden (Fn. 39), § 107 BGB Rn. 16. 45 BGH, NJW 1972, 335, 337. 46 BeckOGK/Amend-Traut (Fn. 44), § 1626 BGB Rn. 119.1. 47 Vgl. aber aus der obergerichtlichen Rechtsprechung OLG Karlsruhe 31. 3. 1983 – 4 UF 179/81, juris Rn. 31, FamRZ 1983, 742: „Die Einwilligung … in Beeinträchtigungen … immaterielle[r] Rechtsgüter, zu denen insbesondere das Persönlichkeitsrecht zählt, fällt nicht unter den Bereich der rechtsgeschäftlichen Willenserklärungen.“ 44
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genen Bild durch Erteilung eine beschränkten Eingriffserlaubnis im Vordergrund und nicht die rechtsfolgengerichtete Einräumung positiver Verwertungsbefugnisse.48 Zwar kann die Einwilligung in eine Veröffentlichung – anders als die Einwilligung in einen körperlichen Eingriff – durchaus zum Gegenstand einer rechtsgeschäftlichen Erklärung und einer vertraglichen Bindung gemacht werden;49 doch wird eine solche Auslegung des Elternhandelns beim „Sharenting“ regelmäßig lebensfremd sein. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Eltern mit der Veröffentlichung keine wirtschaftlichen Interessen verfolgen. Allenfalls bei kommerziell motivierten Elternveröffentlichungen mag die Annahme naheliegen, dass es den Eltern um die Einräumung einer rechtssicheren Verwertungsmöglichkeit und daher eine rechtsgeschäftlich bindende Erklärung geht. Diese Fälle verlassen jedoch das klassische Anwendungsgebiet des „Sharenting.“ Für die Verortung des „Sharenting“ im Bereich der tatsächlichen Personensorge (und nicht im Vertreterhandeln) sprechen nicht zuletzt auch pragmatische Erwägungen. Das in §§ 22 f. KUG normierte Recht am eigenen Bild ist eine spezifische Ausprägung des – deutlich weitergehenden – allgemeinen Persönlichkeitsrechts, das aus Art. 1 i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG abgeleitet wird und die autonome Selbstbestimmung und Selbstdarstellung des Einzelnen schützen will.50 Eingriffe in das allgemeine Persönlichkeitsrecht bedürfen, ebenso wie Eingriffe in das Recht am eigenen Bild, der Rechtfertigung und damit grundsätzlich – bei Fehlen eines besonderen Rechtfertigungsgrunds – der Einwilligung der betroffenen Person. Nun aber greifen Eltern im Rahmen der Erziehung fortlaufend in das Persönlichkeitsrecht ihres Kindes ein, wenn sie über seine Ausbildung oder Konfessionszugehörigkeit entscheiden,51 ihm einen bestimmten Haarschnitt oder eine bestimmte Bettgehzeit verordnen, gewisse Freunde, Fernsehsendungen oder Nahrungsmittel verbieten, etc. Dies ist ebenso selbstverständlich wie es selbstverständlich ist, dass ihnen die Wahrnehmung ihrer elterlichen Fürsorgeaufgaben möglich sein muss, ohne der – ggf. durch einen Ergänzungspfleger zu erteilenden – Einwilligung ihres Kindes zu bedürfen. Jedes andere Verständnis würde das Konzept einer natürlichen und den Eltern zuvörderst zustehenden Sorgeverantwortung (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG) ad absurdum führen und über alle vernünftigen Schutzziele hinausschießen.52 Nicht gefolgt werden kann dem Einwand von Schimke, beim „Sharenting“ fehle ein Bezug zur Personensorge, weil es in diesen Fällen nur „um die Selbstdarstellung 48 Für die Zweckrichtung als Abgrenzungskriterium hinsichtlich der Rechtsnatur der Einwilligung etwa Staudinger/Hager (Fn. 31), Rn. 176. 49 MünchKomm/Wagner, BGB, 8. Aufl. 2020, § 630d BGB Rn. 9. 50 BGH, NJW 1974, 1947, 1948; Dreier/Dreier, Grundgesetz, 3. Aufl. 2013, Art. 2 GG Rn. 22. 51 Insoweit bestehen allerdings Einschränkungen durch das RelKErzG. 52 Dementsprechend ordnen etwa MünchKomm/Huber, BGB, 8. Aufl. 2020, § 1626 BGB Rn. 34 und Rake, FamRZ 2020, 1064, 1066 die angesprochenen Bereiche als Maßnahmen der tatsächlichen Personensorge und nicht als Vertretung in persönlichen Angelegenheiten ein.
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der Eltern und nicht um Pflege und Erziehung des Kindes“53 gehe. Zur Entwicklung der Persönlichkeit und damit zur Erziehung und zur Personensorge gehört es nämlich auch, sich in der Öffentlichkeit bewegen zu lernen und mit modernen Kommunikationsmitteln, auch im Hinblick auf die eigenen Persönlichkeitsrechte, angemessen umzugehen.54 Im Übrigen stehen auch bei anderen Maßnahmen der Personensorge häufig weniger Kindes- als vielmehr elterliche Prestigeinteressen im Vordergrund: Man denke etwa an die Wahl eines vielgliedrigen Vornamens. Richtig ist allerdings, dass über die Anwendbarkeit der §§ 1629 Abs. 2, 1795 Abs. 2, 181 BGB nicht alleine begriffsjuristisch mit deduktiven Schlüssen aus der Rechtsnatur der Einwilligung entschieden werden darf, sondern dass eine Analogiebildung erwogen werden muss. Eine analoge Anwendung der genannten Vorschriften käme jedoch nur in Betracht, wenn das ohne sie geltende Regelungsregime im Hinblick auf den Minderjährigenschutz lückenhaft wäre und der durch sie angeordnete Ausschluss der Eltern und die Erforderlichkeit eines Ergänzungspflegers eine passende Lösung bieten würde. Beides ist meines Erachtens nicht der Fall. IV. „Sharenting“ und Minderjährigenschutz Die Interessen des von der Bildnisveröffentlichung betroffenen Kindes sind – auch ohne einen grundsätzlichen Ausschluss der Eltern von der Einwilligungsbefugnis – bereits auf verschiedene Weise berücksichtigt. Nicht weiter vertieft werden soll an dieser Stelle die Selbstverständlichkeit, dass die Eltern keine kindeswohlgefährdenden Kinderbilder veröffentlichen dürfen: Das Verbreiten, ja i. d. R. schon das Anfertigen von Bildern des Kindes, die die Schamgrenze überschreiten, das Kind z. B. in sexualisierter oder gar kinderpornografischer Art und Weise zeigen, ist unzulässig und kann bei Fehlen milderer Mittel den Entzug des Sorgerechts nach § 1666 BGB rechtfertigen.55 Die Bilder, die Eltern im Rahmen des „Sharenting“ verbreiten, erreichen die Grenze der Kindeswohlgefährdung jedoch in aller Regel nicht,56 mögen sie das Kind auch bisweilen in altkluger, tollpatschiger oder sonst wenig vorteilhafter Pose zeigen. Geschützt wird das Kind zudem durch ein grundsätzliches elterliches Einvernehmenserfordernis: Auch wenn die Einwilligung kein Rechtsgeschäft ist, sondern die Ermächtigung zur Vornahme einer tatsächlichen Handlung, die in den Rechtskreis des Gestattenden eingreift, so ist sie doch Ausübung der Personensorge mit der 53
Schimke, NZFam 2019, 851, 852. Lack, FamRZ 2017, 1730, 1731; Ehrhorn, Persönlichkeitsschutz von Kindern und Jugendlichen: Eine Untersuchung zum zivilrechtlichen Schutz von Minderjährigen in der modernen Medienlandschaft, Frankfurt a. M. 2016, S. 209; BeckOGK/Kerscher, BGB, Stand: 1. 3. 2020, § 1631 BGB Rn. 19. 55 OLG Frankfurt a. M., FamRZ 2018, 926: Kindeswohlgefährdung durch die Anfertigung von Bildern der eigenen Töchter in kinderpornografischer Pose. Zum Ganzen auch Rake, FamRZ 2020, 1064, 1068. 56 Wie hier Fritzsche/Knapp, FamRZ 2019, 1905, 1909. 54
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Folge, dass sie wirksam nur durch beide sorgeberechtigte Eltern gemeinsam erteilt werden kann, §§ 1626 f. BGB.57 Ist ein Elternteil mit der Veröffentlichung nicht einverstanden, so erfolgt sie ohne wirksame Einwilligung und löst damit vorbeugende Unterlassungs- bzw. – nach erfolgter Veröffentlichung – Beseitigungsansprüche des Kindes aus (§ 1004 Abs. 1 S. 1, 2 BGB analog).58 Bei Anwendbarkeit der DSGVO besteht außerdem ein spezieller Anspruch auf Löschung aus Art. 17 DSGVO, der als ein Anspruch auf Unterlassung der weiteren Publikation zu verstehen ist. Das Einvernehmenserfordernis gilt grundsätzlich auch dann, wenn die gemeinsam sorgeberechtigten Eltern getrennt leben. Zwar sieht § 1687 Abs. 1 S. 2 BGB für diesen Fall eine Alleinentscheidungsbefugnis des hauptbetreuenden Elternteils vor. Diese ausnahmsweise Alleinentscheidungsbefugnis ist jedoch auf Angelegenheiten des täglichen Lebens beschränkt, und es besteht inzwischen weitgehende Einigkeit, dass die Veröffentlichung von Kinderfotos nicht unter die Alltagsangelegenheiten fällt, jedenfalls wenn sie einem größeren Personenkreis zugänglich oder nur schwer wieder zu entfernen ist (wie regelmäßig bei der Veröffentlichung auf einer Webseite oder über soziale Netzwerke wegen der damit verbundenen erheblichen Weiterverbreitungsrisiken).59 Das Einvernehmenserfordernis wäre nur aufgehoben, wenn sich der veröffentlichungswillige Elternteil die Alleinentscheidungsbefugnis nach § 1628 BGB übertragen ließe. Eine solche Übertragung setzt jedoch eine gerichtliche Entscheidung unter Durchführung einer umfassenden Kindeswohlprüfung voraus, die mit Blick auf die persönlichkeitsrechtliche Entwicklung des Kindes höchstens in Ausnahmefällen zugunsten des veröffentlichungswilligen Elternteils ausfallen wird.60 Der aus dem Einvernehmenserfordernis erwachsende Schutz für die Persönlichkeitsrechte des Kindes ist nicht absolut. Er kann überwunden werden, wenn sich die Eltern über die Veröffentlichung einig sind oder wenn der veröffentlichungswillige Elternteil alleinsorgeberechtigt ist. Dieser Schutz steht allerdings auch nicht für sich 57 So ausdrücklich BGH, NJW 1988, 2946, 2947; OLG Frankfurt a. M., BeckRS 2019, 20043 Rn. 52. Eine Ausnahme gilt für Eil- und Notmaßnahmen, die jedoch beim „Sharenting“ nicht einschlägig ist. 58 Praktisch bedeutsam ist bei Kinderbildveröffentlichungen durch Eltern alleine der Anspruch aus § 1004 BGB analog (Burger, FF 2018, 243). Ein Schadensersatzanspruch (jenseits eines schadensrechtlichen Beseitigungsanspruchs aus § 823 Abs. 1 i. V. m. Art. 1, 2 Abs. 1 GG bzw. § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 22 KUG, jeweils i. V. m. § 249 Abs. 1 BGB) scheitert regelmäßig am fehlenden Vermögensschaden. Auch ein Schmerzensgeldanspruch wird regelmäßig nicht bestehen, da ein solcher nur bei schwerwiegenden Eingriffen gewährt wird, die nicht in anderer Weise wieder ausgeglichen werden können (vgl. BGH, NJW 2014, 2029, 2033). Ausnahmen sind denkbar bei bloßstellenden Fotos oder besonders hartnäckigen Elternverstößen. 59 OLG Oldenburg, FamRZ 2018, 1517; OLG Karlsruhe, FamRZ 2016, 2138; AG Stolzenau, FamRZ 2018, 35; Lack, FamRZ 2017, 1730, 1732; Götz, FamRZ 2019, 573, 575. 60 Gegen eine Übertragung auf den veröffentlichungswilligen Elternteil etwa AG Stolzenau, FamRZ 2018, 35; Lack, FamRZ 2017, 1730, 1731; Götz, FamRZ 2019, 573; Weber, NZFam 2019, 6, 9.
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allein, sondern wird unter bestimmten Voraussetzungen ergänzt durch das Erfordernis einer Zustimmung des minderjährigen Kindes. In Rechtsprechung und Schrifttum herrscht nahezu vollständige61 Einigkeit, dass der Grundsatz, dass den Eltern die Alleinzuständigkeit bleibt und sie die Bildnisse des Kindes über dessen Kopf hinweg veröffentlichen dürfen, im Hinblick auf das Persönlichkeitsrecht des Kindes nicht uneingeschränkt bis zur Volljährigkeit gelten darf.62 Vielmehr erfordert eine wirksame Einwilligung, sobald der Minderjährige die Bedeutung der Veröffentlichung und ihre möglichen Folgen verstehen sowie ihre Vor- und Nachteile gegeneinander abwägen kann, die Zustimmung des einsichtsfähigen Minderjährigen. Während nach einer Ansicht mit Erreichen der Einsichtsfähigkeit die Einwilligung nur noch durch den Minderjährigen, und zwar durch diesen alleine, erteilt werden kann,63 verlangt die zutreffende64 Gegenansicht, die auch der höchstrichterlichen Rechtsprechung entspricht,65 die Einwilligung sowohl des einsichtsfähigen Minderjährigen als auch der Sorgeberechtigten (sog. Co-Konsens-Lösung).66 Dem einsichtsfähigen Minderjährigen steht damit ein Vetorecht hinsichtlich einer von seinen Sorgeberechtigten gewünschten Veröffentlichung zu. Eine Missachtung seines Vetos ist nicht nur eine Verletzung elterlicher Rücksichtnahmepflichten im Innenverhältnis zum Kind. Die Rechtmäßigkeit des Eingriffs hängt vielmehr auch im Außenverhältnis vom Co-Konsens des Kindes ab.67 Fehlt er, so bleibt der mehrteilige Einwilligungstatbestand unvollständig. Damit bleibt auch der Eingriff in das Persönlichkeitsrecht des Kindes rechtswidrig und löst die oben genannten Unterlassungs- bzw. Beseitigungsansprüche aus.68
61 Für eine Alleinzuständigkeit der Eltern bis zur Volljährigkeit des Kindes allerdings wohl noch BeckOK/Wendtland, BGB, Stand: 1. 5. 2020, § 107 BGB Rn. 2. 62 Überblick zum Meinungsstand bei Staudinger/Lettmaier (Fn. 35), § 1626 BGB Rn. 306. 63 So etwa OLG Karlsruhe, FamRZ 1983, 742; Lack, FamRZ 2017, 1730, 1731 f.; Rake, FamRZ 2020, 1064, 1065. 64 Gegen die erstgenannte Ansicht spricht, dass sie zu einer partiellen Aufgabe des elterlichen Sorgerechts vor Erreichen der Volljährigkeit führen würde, die vom Gesetzgeber nicht intendiert sein dürfte, wie der beschränkte Katalog der gesetzlich normierten Alleinzuständigkeiten des Minderjährigen zeigt. Ausführlich hierzu Staudinger/Lettmaier (Fn. 35), § 1626 BGB Rn. 295. Eine Alleinzuständigkeit des Minderjährigen für die Einwilligung besteht ausnahmsweise bei einer Ermächtigung zur Tätigkeit als Fotomodell (§ 113 BGB). 65 BGH, NJW 1972, 335, 337 (für die Einwilligung in einen ärztlichen Eingriff); NJW 2005, 56, 57 (für die Einwilligung in eine Veröffentlichung). 66 BGH, NJW 2005, 56; OLG Frankfurt a. M., FamRZ 2020, 336; OLG München, AfP 1983, 276; LG Bielefeld, NJW-RR 2008, 715; Lauber-Rönsberg/Hartlaub, NJW 2016, 744, 749; Burger, FF 2018, 243, 244; Fritzsche/Knapp, FamRZ 2019, 1905, 1908; Dreier/Schulze/ Specht (Fn. 13), § 22 KUG Rn. 26. 67 Staudinger/Knothe, BGB, Bearbeitung 2012, Vorbem zu §§ 104 – 115 Rn. 58, 63; Staudinger/Lettmaier (Fn. 35), § 1626 BGB Rn. 293. 68 Staudinger/Knothe (Fn. 67), Vorbem zu §§ 104 – 115 Rn. 58, 63.
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Minderjährige gelten im Hinblick auf Eingriffe in ihre Bildrechte i. d. R. aber einem Alter von vierzehn Jahren als einsichtsfähig.69 Meines Erachtens wäre aber – im Interesse eines möglichst umfassenden Minderjährigenschutzes – das Schwellenalter schon deutlich niedriger anzusetzen. Folgt man der Co-Konsens-Lösung, gesteht man dem Kind also ab einem gewissen Alter nur ein Vetorecht, nicht aber ein Alleinentscheidungsrecht zu, so kann dem Kind hieraus kein Schaden erwachsen: Letztendlich geht es nur um die Verhinderung einer vom Kind nicht gewünschten Veröffentlichung. Es sind aber nur wenige Fallkonstellationen denkbar, in denen die Nichtveröffentlichung eines Fotos dem Kind schaden könnte;70 und in den wenigen denkbaren Fallkonstellationen (z. B. die Fotos dokumentieren einen Missbrauch des Kindes, auf den der veröffentlichungswillige Elternteil das Gericht oder Jugendamt hinweisen will) dürfte der besondere Erlaubnistatbestand eines berechtigten Publikationsinteresses71 eingreifen, sodass es der Einwilligung des Kindes gar nicht bedarf. Es spricht daher nichts dagegen, auch jüngeren Kinder ein Vetorecht hinsichtlich der Veröffentlichung ihres Bildnisses einzuräumen. Studien belegen, dass schon kleine Kinder eine genaue Vorstellung davon haben, ob, wann und mit wem Bilder von ihnen geteilt werden dürfen und dass sie oft Aspekte problematisieren, die aus Erwachsenensicht unbedenklich sind.72 Sinnvoll wäre meines Erachtens ein Schwellenalter von sechs oder sieben Jahren.73 Erfolgt die Veröffentlichung vor dem Schwellenalter, dauert sie aber über dieses hinaus an (Beispiel: Posting auf Facebook), so wird der (Dauer-)Eingriff in das Persönlichkeitsrecht des Kindes rechtswidrig, wenn das Kind nach Erreichen des Schwellenalters seine nunmehr erforderliche Zustimmung versagt. Das Gleiche muss gelten, wenn ein Kind oberhalb des Schwellenalters zunächst mit einer Veröffentlichung einverstanden war, das Foto dann aber später, z. B. im Teenageralter, „albern“ findet. Soweit der Persönlichkeitseingriff andauert, wird er mit Widerruf der Einwilligung rechtswidrig.74 Ein Widerruf der Einwilligung ist grundsätzlich mög69 LG Bielefeld, NJW-RR 2008, 715, 716; AG Stolzenau, FamRZ 2018, 35; Libertus, ZUM 2007, 621, 624; Burger, FF 2018, 243, 244; Rake, FamRZ 2020, 1064, 1065 f. 70 Anders ist das bei medizinischen Eingriffen, wo das Veto des noch nicht einsichtsfähigen Kindes – z. B. im Hinblick auf eine lebensnotwendige Behandlung – diesem schädlich sein kann. Trotzdem wird auch hier mehrheitlich vorgeschlagen, bei nicht oder nur relativ indizierten Eingriffen auch dem noch nicht einsichtsfähigen Kind ein Vetorecht zuzubilligen bzw. die Anforderungen an die Einsichtsfähigkeit niedrig anzusetzen, vgl. etwa OLG Hamm, NJW 2013, 3662 (Wille auch des noch nicht urteilsfähigen Kindes gegen eine Beschneidung maßgeblich zu beachten); Peschel-Gutzeit, NZFam 2014, 433, 436; Spickhoff, FamRZ 2018, 412, 421. 71 Vgl. hierzu S. 359 f. 72 Kutscher/Bouillon (Fn. 2), S. 7, 53 – 61. 73 Für eine grundsätzliche Beibehaltung des Schwellenalters von 14 Jahren spricht sich dagegen Rake (FamRZ 2020, 1064, 1066) aus, was vor dem Hintergrund seiner Annahme, dass dem einsichtsfähigen Kind nicht nur ein Veto-, sondern ein Alleinentscheidungsrecht zusteht, konsequent ist. 74 Die bis zum Widerruf erfolgte Veröffentlichung bleibt allerdings rechtmäßig.
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lich. Für den Geltungsbereich der DSGVO ergibt sich das bereits aus der ausdrücklichen Anordnung in § 7 Abs. 3 S. 1 DSGVO, i. Ü. ergibt es sich aus der Rechtsnatur der Einwilligung als grundsätzlich für die Zukunft revidierbarer Gestattung eines Rechtsgutseingriffs.75 Selbst die Ansicht, die die Einwilligung als rechtsgeschäftliche Erklärung ansieht und daher nach erfolgtem Zugang für unwiderruflich hält (§ 130 Abs. 1 BGB), macht – in Analogie zu § 42 UrhG – hiervon eine Ausnahme bei gewandelten Überzeugungen.76 Diese Ausnahme ist bei Kindern, die durchaus bestimmte Fotos zu unterschiedlichen Zeitpunkten in ihrer Entwicklungsbiografie für unterschiedlich problematisch halten können77 – großzügig anzuwenden.78 Nimmt ein Elternteil gegen den Willen des anderen oder nehmen die Eltern gegen den Willen des hinreichend einsichtsfähigen Kindes eine Veröffentlichung von Kinderbildern vor, so steht dem Kind als betroffenem Persönlichkeitsrechtsinhaber, wie ausgeführt, ein Anspruch auf Beseitigung der Veröffentlichung gegen den Elternteil bzw. die Eltern zu. Selbstständig gerichtlich geltend machen kann das Kind diesen Anspruch jedoch erst mit Vollendung des 18. Lebensjahrs (§ 51 ZPO),79 und bis zu diesem Alter wird regelmäßig auch eine Vertretung durch den veröffentlichungsunwilligen Elternteil ausscheiden (sofern ein solcher überhaupt existiert). Richtet sich der Anspruch des Kindes gegen einen sorgeberechtigten Elternteil, ist dieser nämlich nach dem Rechtsgedanken der §§ 1629 Abs. 2, 1795, 181 BGB von der Vertretung ausgeschlossen, und bei gemeinsamem Sorgerecht erfasst der Vertretungsausschluss zugleich den anderen Elternteil.80 Auch eine Übertragung der Alleinentscheidungsbefugnis auf den veröffentlichungsunwilligen Elternteil nach § 1628 BGB kommt nicht in Betracht, weil diese Vorschrift nach herrschender Meinung voraussetzt, dass die Eltern in der betreffenden Angelegenheit tatsächlich sorgeberechtigt und nicht, wie hier, von der Vertretung ausgeschlossen sind.81 75
Ohly (Fn. 31), S. 170; MünchKomm/Wagner (Fn. 49), § 630d BGB Rn. 48. Frömming/Peters, NJW 1996, 958, 959; Wandtke/Bullinger/Fricke (Fn. 15), § 22 KUG Rn. 19 f. 77 Kutscher/Bouillon (Fn. 2), S. 87. 78 Staudinger/Hager (Fn. 31), Rn. 184. 79 Die vorgezogene Verfahrensfähigkeit ab 14 Jahren aus § 9 Abs. 1 Nr. 3 FamFG ist hier aus zwei Gründen nicht einschlägig: Zum einen reicht die Ausnahme nicht so weit, dass sie eine selbstständige Verfahrenseinleitung durch den Minderjährigen gestatten würde (MünchKomm/Pabst, FamFG, 3. Aufl. 2018, § 9 FamFG Rn. 6). Zum anderen sind für den Anspruch aus § 1004 BGB analog, jedenfalls nach Auffassung des OLG Karlsruhe (NJW-RR 2016, 1158), nicht die Familien-, sondern die Zivilgerichte zuständig, weil es sich nicht um eine Familienstreitsache i. S. v. § 266 FamFG handeln bzw. die vorrangige Sonderregel des § 348 Abs. 1 S. 2 Nr. 2a ZPO einschlägig sein soll. Diese Entscheidung erscheint allerdings mit Blick auf BGH, FamRZ 2015, 2153 nicht wirklich überzeugend. Ablehnend etwa auch Rake, FamRZ 2020, 1064, 1069 f. 80 OLG Karlsruhe, NJW-RR 2016, 1158; OLG Celle, FamRZ 2019, 40; Staudinger/Lettmaier (Fn. 35), § 1629 BGB Rn. 200. 81 OLG Celle, FamRZ 2019, 40; BeckOGK/Amend-Traut (Fn. 44), § 1629 BGB Rn. 12; a. A. Rake, FamRZ 2020, 1064, 1069. 76
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Zur gerichtlichen Geltendmachung des Anspruchs des Kindes gegen den Elternteil ist daher regelmäßig die Bestellung eines Ergänzungspflegers erforderlich, §§ 1693, 1909 BGB.82 Bei der Pflegerbestellung handelt es sich um ein amtswegiges Verfahren nach § 151 Nr. 5 FamFG,83 das vom veröffentlichungsunwilligen Elternteil und – jedenfalls in der Theorie – auch vom minderjährigen Kind angeregt werden kann, weil die Anregung (§ 24 FamFG) keine Verfahrensfähigkeit voraussetzt. Da die Rechtsprechung die Vertretung im Gerichtsverfahren von der vorgelagerten Entscheidung darüber, ob überhaupt ein Gerichtsverfahren eingeleitet werden soll, trennt und die letztere Entscheidung als vom Vertretungsausschluss nach § 1629 Abs. 2 S. 1 i. V. m. § 1795 BGB noch nicht erfasst ansieht,84 müsste den Eltern als Anspruchsgegnern außerdem die Entscheidung über die Anspruchsgeltendmachung nach § 1629 Abs. 2 S. 3 i. V. m. § 1796 BGB entzogen werden.85 Den hierfür erforderlichen konkreten und erheblichen Interessengegensatz wird man wohl kaum verneinen können, wenn sich das einsichtsfähige Kind gegen die – mangels seiner Zustimmung rechtswidrige – Elternveröffentlichung stellt. Neben Ansprüchen gegen den veröffentlichenden Elternteil stehen dem Kind u. U. auch Löschungsansprüche aus § 1004 BGB analog bzw. Art. 17 DSGVO gegen denjenigen zu, der dem Elternteil die Plattform (z. B. die Facebook-Seite) für die Veröffentlichung zur Verfügung stellt. Der Plattformbetreiber haftet als sog. mittelbarer Störer, sobald er – etwa infolge eines Hinweises, dass eine erforderliche Einwilligung fehlt – Kenntnis von der Persönlichkeitsrechtsverletzung hat.86 Da sich dieser Beseitigungsanspruch nicht gegen den veröffentlichenden Elternteil richtet, kann ihn der andere Elternteil in Vertretung des Kindes alleine geltend machen, wenn er sich hierzu nach § 1628 BGB gerichtlich ermächtigen lässt. V. Weitergehender Schutzbedarf? Grundsätzlich ergänzungsbedürftig ist das geschilderte Regime in meinen Augen nicht, jedenfalls nicht durch einen Ausschluss der Eltern analog §§ 1629 Abs. 2, 1795 Abs. 2, 181 BGB und ihre Ersetzung durch einen Ergänzungspfleger. Die hiesige Konstellation weist zwei Unterschiede zum klassischen Anwendungsgebiet der §§ 1629 Abs. 2, 1795 Abs. 2, 181 BGB auf – dem Abschluss von für das Kind rechtlich nachteilhaften Verträgen im Eltern-Kind-Verhältnis. Während der Ergänzungspfleger bei diesen für gewöhnlich klare, nämlich i. d. R. wirtschaftliche Maßstäbe hat, an denen er seine Entscheidung über die Zustimmung zum Rechtsgeschäft ausrichten 82
Staudinger/Lettmaier (Fn. 35), § 1629 BGB Rn. 200. Johannsen/Henrich/Büte, FamFG, 6. Aufl. 2015, § 151 FamFG Rn. 6; MünchKomm/ Heilmann, FamFG, 3. Aufl. 2018, § 151 FamFG Rn. 44. 84 BGH, NJW 1975, 345; FamRZ 2009, 861; BayObLG, FamRZ 2004, 906. 85 Staudinger/Lettmaier (Fn. 35), § 1629 BGB Rn. 182, 205 m. w. Nachw. 86 BGH, NJW 2016, 2106, 2107 f. Zur Verantwortlichkeit des Social-Media-Anbieters nach der DSGVO vgl. Rake, FamRZ 2020, 1064, 1069. 83
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kann, dürften entsprechende Maßstäbe beim klassischen „Sharenting“ fehlen; allenfalls wenn die Veröffentlichung zum ökonomischen Nutzen des Elternteils erfolgt, mag man eine Analogie erwägen, wobei in diesem Fall schon eine direkte Anwendung der Vorschriften in Betracht kommt.87 Zum anderen, und das ist aus meiner Sicht entscheidend, hat das Kind beim „Sharenting“ – anders als in der klassischen § 181 BGB-Konstellation – ab Einsichtsfähigkeit ein Vetorecht: Eine (Weiter-)Veröffentlichung entgegen dem Veto des einsichtsfähigen Kindes ist bzw. wird rechtswidrig und löst Abwehransprüche aus. Richtig ist, dass die Mitentscheidungsrechte des Kindes in der gegenwärtigen „Sharenting“-Praxis wenig Beachtung finden,88 was vor allem auch daran liegt, dass kein entsprechendes Wissen in den Familien vorhanden ist. Die Antwort liegt dann aber nicht in der Ergänzungspflegschaft (deren Erforderlichkeit den Eltern wohl noch weit weniger bewusst wäre), sondern darin, Eltern und Kinder über die Rechtslage aufzuklären, sodass es möglichst nicht zu rechtswidrigen Eingriffen in das Bildnisrecht des Kindes kommt. Erst wenn die Wahrung des Persönlichkeitsrechts des Kindes auf dieser ersten Stufe nicht funktioniert und eine Veröffentlichung entgegen dem Veto des einsichtsfähigen Kindes vorgenommen wird, ist zur gerichtlichen Durchsetzung der resultierenden Beseitigungsansprüche die Bestellung eines Ergänzungspflegers erforderlich. Bedenken verbleiben u. U. hinsichtlich bestimmter Veröffentlichungsmedien. Was früher nur die heimische Kaffeerunde oder die Pinnwand in der Schule war, sind heute häufig Webseiten und Messenger-Dienste mit ungleich größerer Breitenwirkung und ungleich größerem Gefährdungspotenzial. Das gilt insbesondere dann, wenn der Nutzerkreis nicht beschränkt oder die Nutzung eines Dienstes von der Erteilung weiterer Verwertungsbefugnisse zugunsten des Dienstebetreibers oder sonstiger Personen abhängt. Und ist das Foto des Kindes erst einmal im Netz, kann es zwar in der Theorie, oft aber nicht in der Praxis wieder restlos entfernt werden. Auch für diese Fälle passt jedoch eine Analogie zu den §§ 1629 Abs. 2, 1795 Abs. 2, 181 BGB nicht. Denn die Bedenken resultieren nicht so sehr aus einem befürchteten Interessenkonflikt, dem diese Vorschriften vorbeugen wollen, als vielmehr der besonderen Gefährlichkeit des gewählten Veröffentlichungsmediums. Macht man mit den Bedenken ernst, sollte man daher die Möglichkeit von Kinderbildveröffentlichungen in den entsprechenden Medien grundsätzlich beschränken, ganz gleich, ob die Eltern die Veröffentlichung selbst vornehmen oder Dritte hierzu autorisieren. Vorbilder für entsprechende gesetzliche Beschränkungen der Personensorge für als besonders gefährlich empfundenes Elternhandeln gibt es, etwa in 87 Vgl. oben S. 363. Für die Anwendung von §§ 1629 Abs. 2, 1795 Abs 2, 181 BGB bei kommerziell motivierten Elternveröffentlichungen Fritzsche/Knapp, FamRZ 2019, 1905, 1908. 88 Nach Kutscher/Bouillon (Fn. 2), S. 85 hat sich in den im Rahmen der Studie befragten Familien die Regel etabliert, dass die Eltern das Einverständnis der Kinder voraussetzen und sie, unabhängig von ihrem Alter, faktisch kaum bis gar nicht beteiligen. Gelegentlich setzten sich Eltern auch über ausdrückliche Proteste der Kinder hinweg.
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§ 1631b BGB für die freiheitsentziehende Unterbringung, in § 1631c BGB für die Sterilisation oder in §§ 1643, 1821 BGB für bestimmte Geschäfte über wertvolle Bestandteile des Kindesvermögens. Ob und unter welchen Voraussetzungen auch Kinderbildveröffentlichungen im Internet entsprechenden Schranken unterliegen sollten, ist letztlich vom Gesetzgeber zu entscheiden. VI. Fazit Die Veröffentlichung von Bildnissen des Kindes durch die sorgeberechtigten Eltern ist eine Maßnahme der tatsächlichen Personensorge, auf die §§ 1629 Abs. 2, 1795 Abs. 2, 181 BGB nicht direkt anwendbar sind. Auch einer Analogie zu diesen Vorschriften bedarf es – mit einer möglichen Ausnahme für kommerziell motivierte Elternveröffentlichungen – nicht. Sie würde dem Minderjährigen keinen weitergehenden Schutz vermitteln als das ihm ab hinreichender Einsichtsfähigkeit anerkanntermaßen zustehende Vetorecht.89 Eltern wie Kindern sollte dieses Recht zu Bewusstsein gebracht werden, damit die Entscheidung für eine Veröffentlichung möglichst nur im innerfamiliären Einvernehmen fällt. Zeigen sich die Eltern uneinsichtig, stehen dem hinreichend einsichtsfähigen Kind zunächst vorbeugende Unterlassungsund, nach erfolgter Veröffentlichung, Beseitigungsansprüche zu. Für deren gerichtliche Geltendmachung – und erst für diese – ist i. d. R. die Bestellung eines Ergänzungspflegers erforderlich.
89 Auch Rake (FamRZ 2020, 1064, 1066) verspricht sich von der Delegierung der Entscheidung auf einen Ergänzungspfleger keine Stärkung der Kindesautonomie.
Der „christliche Staat“, Friedrich Julius Stahl und die Preußische Verfassung von 1850 Von Christoph Link Klaus Vieweg hat in einem mir gewidmeten Beitrag1 die räumliche Basis unserer freundschaftlichen Zusammenarbeit, die „vertikale Nachbarschaft“ in einer schönen alten Professorenvilla, in ihrer virtuellen Problematik ausgeleuchtet – virtuell insofern, als sich in der Realität aus der Nachbarschaft unserer Institute in übereinanderliegenden Stockwerken in all den Jahren nicht der Hauch eines Konflikts ergeben hat, vielmehr ein steter ebenso persönlicher wie wissenschaftlicher Gewinn. Ungeachtet dessen führte der Beitrag mit rechtlicher Tiefenbohrung in unscharfe Grenzregionen von Privatrecht und Öffentlichem Recht – bis hin zu einer der ganz seltenen Entscheidungen des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes. Klaus Vieweg hat damit gezeigt, wie ein kluger Autor auch aus einer scheinbar spröden Materie juristische Funken zu schlagen vermag, und er hat damit die Messlatte für meinen Beitrag so hochgelegt, dass ich nur tapfer darunter hindurchlaufen kann. Immerhin geht es dabei um ein Thema, das – wie noch zu zeigen sein wird – jedenfalls am Rande auch mit der Erlanger Friedrich-Alexander-Universität zu tun hat, die uns beiden zur akademischen Heimat geworden ist. I. Die Rationalisierung des Staatsgedankens durch Naturrechtslehre und Aufklärung Die religiöse Legitimierung weltlicher Herrschaft gehört zu den Urphänomenen politischer Gemeinschaftsbildung. Auch das christliche politische Denken blieb lange von dieser Vorstellung bestimmt. Obwohl sich bereits im mittelalterlichen Investiturstreit geistliche und weltliche Gewalt institutionell zu verselbständigen begannen und seither auch in der Theorie streng geschieden wurden – das Vorbild jener Gewaltenteilung, „die Europa (und die westliche Welt) bis heute von Gottesstaaten und Sakralreichen unterscheidet“ (Hans Maier) –, blieb ihre wechselseitige Zuordnung im „Corpus Christianum“ doch bis ins Reformationszeitalter unbezweifelt. Und auch danach galt es als selbstverständlicher Topos christlicher Staatslehren, dass weltliche Herrschaft im Dienst der göttlichen Weltordnung steht und deshalb Gottes Geboten im Staatsleben, nicht zuletzt durch ihre Schutzpflicht gegenüber Kirche und Evangelium, zur Durchsetzung zu verhelfen hat. Diese Aufgabenstellung, 1 Vieweg, in: de Wall/Germann (Hrsg.), Bürgerliche Freiheit und Christliche Verantwortung, FS für Christoph Link zum 70. Geburtstag, 2003, S. 985 ff.
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vielfach auch in Gestalt von Staatsreligion und Staatskirchentum verfassungsrechtlich verankert, fand seine Entsprechung weithin im Selbstverständnis fürstlicher Regenten, für das Seelenheil ihrer Untertanen verantwortlich zu sein. Insofern kann man nahezu alle Staaten des christlichen Kulturkreises bis weit in die Neuzeit hinein als „christliche Staaten“ bezeichnen, wenngleich in verschiedenen Abstufungen und Erscheinungsformen. Eine solche theologische Imprägnierung des Staates wurde indes durch Naturrechtslehre und Aufklärung zunehmend in Frage gestellt: nicht um der Religion willen seien die Staaten gegründet worden (John Locke, Samuel Pufendorf), sondern zur Bewältigung diesseitiger Gemeinschaftsaufgaben. Diese Säkularisierung der Staatszwecklehre wurde zum Fundament des „Modernen Staates“. Der Staat ist eine weltliche Einrichtung, die mit weltlichen Mitteln allein weltliche Ordnungsaufgaben erfüllt. Diese Rationalisierung des Staatsgedankens hatte in der europäischen Naturrechtslehre ursprünglich keineswegs eine antireligiöse Spitze, ihre primäre Intention war es vielmehr, dem religiösen Leben der Bürger einen gewissen Freiraum zu verschaffen, in dem es sich ohne staatliche Zwangseingriffe zu entfalten vermochte. Erst der Generalangriff der Französischen Revolution auf die mit dem Ancien régime eng verbundene Kirche, vorgetragen unter dem Banner der Volkssouveränität, hatte den Verteidigern der überkommenen Ordnung das politische Gefahrenpotential vor Augen geführt, das in einer derartigen Säkularisierung lag. Während Teile des europäischen Konservativismus sich dem durch eine Wiederbelebung altständischer Ideen und alter Herrschaftsbegründungen entgegenstellen wollten (in Deutschland etwa mit der Patrimonialstaatslehre Karl Ludwig v. Hallers), ging es einem anderen, einflussreichen Flügel um eine theoretisch anspruchsvollere Befestigung der Grenze gegen ein weiteres Vordringen der demokratischen Bewegung: die Christlichkeit des Staates als gottgewollte Institution. Der „christliche Staat“ wurde damit zum Feldzeichen einer (konservativen) Partei in den politischen Kämpfen des Vormärz, dies freilich auch weit über die Grenzen des Deutschen Bundes hinaus. II. Das Gegenmodell: Der „christliche Staat“ 1. Friedrich Wilhelm IV. von Preußen und die Bedeutung der Religion für den Staat Namentlich in Preußen hatten diese Vorstellungen seit dem Thronwechsel von 1840 einen ungeahnten politischen Rückhalt gewonnen. Friedrich Wilhelm IV., der „Romantiker auf dem Königsthron“ und selbst tiefreligiös, sah es als sein großes Ziel, „die Kräfte der erneuerten Religiosität in den Staat einströmen zu lassen, um diesen aus einem rationalistischen Verstandesstaat in einen christlichen Staat zu ver-
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wandeln“.2 Dies nicht in konfessioneller Engführung, sondern in wechselseitiger Verbundenheit mit beiden großen christlichen Kirchen, die ihrerseits gerade als freie, nicht staatlich reglementierte Gemeinschaften dem Staat zur geistigen Kraftquelle werden, ihn mit ihrem Ethos tragen und durchdringen sollten. Ein solches Programm zielte nicht eigentlich auf den Erhalt des bestehenden Rechtszustands, hatte doch der König selbst die im Beharren auf strikter Staatskirchenhoheit wurzelnden dramatischen Konflikte mit der katholischen Kirche alsbald nach seiner Thronbesteigung durch weitherziges Entgegenkommen entschärft und den überkommenen landesherrlichen Summepiskopat über die evangelische Kirche als „korrupt“ bezeichnet – aber es war im politischen Ideenspektrum doch nur in bestimmten Strömungen des Konservativismus konsensfähig. Deshalb berief Friedrich Wilhelm IV. einen Kreis Gleichgesinnter, um aus seinen eher noch vagen Vorstellungen ein konkretes, politisch handhabbares Konzept zu formen.3 2. Friedrich Julius Stahl Interessantestes, wissenschaftlich bedeutendstes, geistreichstes und wirkmächtigstes Mitglied dieses Kreises war zweifellos der Rechtsphilosoph und Staatsrechtslehrer Friedrich Julius Stahl – und mit seinem Namen kommt nun auch Erlangen ins Spiel. Stahl (1802 – 1861)4, jüdischer Herkunft, war 1819 zum Christentum lutherischer Prägung konvertiert und wollte sein Rechtsstudium nach Anfangssemestern in Würzburg und Heidelberg in Erlangen abschließen. Hier wurden ihm allerdings seine rebellischen burschenschaftlichen Aktivitäten zum Verhängnis: Eine zunächst unbefristete Relegation, später „gnadenweise“ auf zwei Jahre reduziert, verzögerte den Studienabschluss bis zur Promotion 1824. Nach der Habilitation in München wurde er 1832 zum a. o. Professor in Erlangen, im gleichen Jahr zum Ordinarius für Römisches Recht in Würzburg ernannt. 1834 erfolgte die Rückberufung auf den Erlanger Lehrstuhl für Staats- und Kirchenrecht. Frucht seiner Erlanger Jahre war – neben wichtigen kirchenpolitischen Arbeiten – die Fertigstellung seines bereits in München begonnenen dreibändigen Hauptwerkes „Die Philosophie des
2 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 2, 3. Aufl. 1988, S. 256; siehe auch allg. S. 333 ff. 3 Zu den Mitgliedern (mit biographischen Daten) Huber (Fn. 2), S. 338 f. 4 Dazu und zum Folgenden Füßl, Professor in der Politik: Friedrich Julius Stahl (1802 – 1861), 1988; Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2, 1992, S. 152 ff.; Link, in: Hinrichs/Franzki/Schmalz/Stolleis (Hrsg.), Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, 1993, S. 59 ff., jetzt auch ders., in: de Wall/Germann (Hrsg.), Gesammelte Abhandlungen zur Geschichte und Gegenwart des Rechts in Staat u. Kirche, 2020, 2. Bde, Bd. 1, S. 562 ff. – Tiefdringend zur geistesgeschichtlichen Einordnung: M. Heckel, Säkularisierung – Staatskirchenrechtliche Aspekte einer umstrittenen Kategorie, jetzt in: Schlaich (Hrsg.), Gesammelte Schriften, Bd. 2, 1989, S. 773 ff. (805 ff.).
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Rechts“,5 von dem gleich noch zu reden sein wird. – In die Erlanger Zeit fällt auch die erste parlamentarische Aktivität Stahls, die ihn freilich alsbald in einen ernsten Konflikt mit der Regierung verwickelte: Als Vertreter der Universität im bayerischen Landtag bekämpfte er energisch deren verfassungsrechtlich zweifelhaftes Haushaltsgebaren6 – mit der Folge, dass ihm, dem konservativen Staatsrechtslehrer, die Genehmigung zu staatsrechtlichen Vorlesungen entzogen und er stattdessen auf das Zivilprozessrecht verwiesen wurde. Diese Disziplinierung veranlasste ihn zur Annahme eines (nicht zuletzt auf die Fürsprache Savignys hin) an ihn ergangenen Rufs an die Berliner Universität. Hier fand er rasch Anschluss an den erwähnten Freundeskreis des Königs, obgleich er dort wegen seiner nicht streng restaurativen Ansichten, im standesbewussten konservativen Adelsmilieu aber auch wegen seiner jüdischen Herkunft auf gewisse Reserven stieß. Trotz seiner Katastrophenstimmung angesichts der Revolution begrüßte Stahl doch im Prinzip die Verfassung von 1848, durch die Preußen in den Kreis der konstitutionellen Staaten eintrat, da deren Oktroi durch den König seiner Auffassung vom „Monarchischen Prinzip“ entsprach – erst recht deren Revision von 1850 mit ihrer Stärkung der monarchischen Gewalt. 1849 wurde er in die Erste Kammer gewählt, 1854 in das nunmehr so genannte Herrenhaus vom König auf Lebenszeit berufen. Hier entfaltete Stahl eine rege parlamentarische Tätigkeit. Als führender Vertreter der Hochkonservativen war er ein ebenso brillanter wie gefürchteter Redner. Durch die insgesamt großdeutsch, d. h. proösterreichisch ausgerichtete Politik der Hochkonservativen geriet er dabei in zunehmenden Gegensatz zu Bismarck. Andererseits aber erschien dem strengen Legitimisten die nationale Sache durch die Revolution diskreditiert; die nationale Einigung konnte und durfte nicht – im Überspielen der Dynastien – das Werk einer Nationalversammlung sein. Deshalb bestärkten Stahl und seine Gesinnungsgenossen den zaudernden König in der Ablehnung der von der Frankfurter Nationalversammlung angebotenen Kaiserkrone. Dagegen unterstützte er trotz mancher Vorbehalte die monarchische Einigungsinitiative in der kurzlebigen Erfurter Union und ließ sich 1849 sogar ins Volkshaus des Erfurter Parlaments wählen. Das Scheitern der preußischen Unionspolitik hat er wohl auch als persönliche Niederlage empfunden, denn an den folgenden Auseinandersetzungen hat er sich kaum noch beteiligt. Vollends sank sein Stern mit dem Regime der „neuen Ära“ unter dem Prinzregenten Wilhelm (1858). Verbittert ist er 1861 in Bad Brückenau verstorben.
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1. Band: Geschichte der Rechtsphilosophie, 2. Band in 2 Teilbdn.: Rechts- und Staatslehre auf der Grundlage christlicher Weltanschauung, Erlangen 1830 – 37, 5. Aufl. Tübingen 1878 (Neudruck Darmstadt 1963). Die folgenden Zitate beziehen sich auf diese 5. Aufl. 6 Dazu Huber (Fn. 2), Bd. 2, S. 437 f.
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III. Die institutionelle Christlichkeit des Staates Dabei stand im Vordergrund seines Interesses weder die konkrete staatsrechtliche Form einer gesamtdeutschen Einigung noch deren preußische Führung. Die Grundentscheidung sei „nicht deutsch oder preußisch, nicht Staatenbund oder Bundesstaat, sondern königlich oder parlamentarisch“.7 Und das ist für Stahl nicht die Wahl zwischen politischen Konzeptionen, sondern die zwischen Wahrheit und Irrtum, denn die Entscheidung für jede Art von Parlamentssouveränität missachtet die durch göttliches Gebot vorgegebenen Strukturprinzipien der Staatlichkeit. Als Schöpfer hat Gott „Institutionen“ eingesetzt – Recht, Staat, Kirche – die als verbindliche Ordnungen menschlicher Beliebigkeit entzogen sind. Er hat seinen Ordnungswillen im Staat institutionalisiert. Damit hat Stahl indes nicht eine Sakralisierung der jeweiligen konkreten Staatsform im Sinn, denn in allen historischen Ausprägungen verdunkelt menschliche Sündhaftigkeit zugleich das eigentlich Gottgewollte. Aber der Mensch vermag in ihnen doch die „heiligen Urbilder“8 zu erkennen, die damit zur Richtschnur, zur regulativen Idee werden, um den göttlichen Willen nach besten Kräften in der jeweiligen geschichtlichen Situation auch durch politische Gestaltung Wirklichkeit werden zu lassen. So findet der Staat seinen letzten Zweck nicht in sich selbst, sondern trägt das – wenn auch verwischte – Siegel göttlicher Herrschaft an sich; aus diesem „ihm selbst innewohnenden ursprünglichen Ansehen“ leitet sich letztlich die Verbindlichkeit staatlicher Hoheitsakte her.9 Insofern ist alle Obrigkeit „von Gottes Gnaden“ – und wie Gottes Herrschaft eine in seiner Personalität begründete ist, so ist auch menschliche Herrschaft persönliche Herrschaft,10 sie beruht auf (institutioneller) Autorität, nicht auf Majorität.11 Diese theonom vorgegebenen Grundstrukturen der Staatlichkeit sind damit aller demokratischen Beliebigkeit entzogen. So wie der Staat keinen wie immer gearteten Gesellschaftsvertrag zur Grundlage hat, sind seine Institutionen und Grundaufgaben nicht Gegenstand der demokratischen Willensbildung. Deshalb birgt jede Behauptung einer Volkssouveränität in sich den Keim der Revolution, zielt sie doch auf die menschliche Verfügbarkeit über gottesgestiftete Ordnungen. Aber mit all dem geht es Stahl nicht um eine theokratische Diktatur, auch nicht um eine Wiederbelebung absolutistischer Herrschaft. Im Gegensatz zu den meisten Hochkonservativen sieht er die Zeichen der Zeit und erkennt Repräsentativverfassungen in ihrem Wert für eine ausgewogene Kräfteverteilung im Staatsleben an: Es sei die „große Wahrheit“ Lockes und Montesquieus, „dass die Theilnahme verschiedener Elemente (des Volkes, der Beamten, der Richter) an der Ausübung der 7
So Stahl in einer der auch von seinen parlamentarischen Gegnern als meisterhaft gerühmten Erfurter Parlamentsreden, abgedruckt in: Treuherz (Hrsg.), F. J. Stahl, Parlamentarische Reden, 1856, S. 58 ff. (60). 8 Stahl (Fn. 5), Bd. I, S. 281; Bd. II 1, S. 149 ff. 9 Stahl (Fn. 5), Bd. II 2, S. 181; s. a. Bd. II 1, S. 153 ff. 10 Stahl (Fn. 5), Bd. II 2, S. 132 f. 11 Stahl, Die gegenwärtigen Parteien in Staat und Kirche, 2. Aufl. 1868, S. 189 f.
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Staatsgewalt wirklich das Fundament…der politischen Freiheit ist, und umgekehrt, wo nur ein und dasselbe Subjekt (Fürst oder Volksversammlung) allein alle Funktionen versieht, Despotismus die unvermeidliche Folge ist“.12 In dieser Form sieht er das für die Konservativen unverhandelbare „Monarchische Prinzip“ der Wiener Schlussakte bereits dann gewahrt, wenn dem Monarchen im Konfliktfall das Letztentscheidungsrecht verbleibt. Auch darin unterliegt er indes den Bindungen des Rechts, denn der Staat ist für Stahl nur als Rechtsstaat denkbar.13 Mit dieser Absage an staatliche Omnipotenz, die auch die Forderungen der Zeit nach nationaler Repräsentation, Grundrechten und monarchischer Verfassungsbindung aufnahm, gewann der konservative Konstitutionalismus eine gewisse Anschlussfähigkeit auch in das (rechts-)liberale Lager hinein.14 Freilich sind es für Stahl allein die „Parteien der Legitimität“, die sich des gottgestifteten staatlichen „Urbilds“ bewusst sind und die darum für dessen (immer nur annäherungsweise) Verwirklichung in Gestalt des „christlichen Staates“ kämpfen. Denn nur dann entspricht ein Staat der „Ordnung des öffentlichen Zustands, wie ein christliches Volk sie als Anforderung erkennt“. Daraus erwächst eine „unauflösliche Symbiose“ zwischen Staat und Kirche: „Es gibt nichts Natürlicheres, als dass die beiden großen Anstalten, die Gott über das Menschengeschlecht verordnet, … auch untereinander im Bande der wechselseitigen Rücksicht und Förderung stehen“. Die Kirchen gewinnen dadurch „äußerlich an Ausbreitung und innerlich an Maß“, insbesondere an „Sicherung gegen den Zerfall in Sekten“, mehr noch aber gewinnt der Staat durch „christliche Gesittung“, auf die sich seine Fundamente gründen15. Stahl plädiert hier nicht für ein Staatskirchentum, denn Staat und Kirche haben ihren je eigenen göttlichen Auftrag, dem sie nur mit einem wechselseitigen Freiraum, nicht in institutioneller Verschmelzung genügen können. Wohl aber folgt daraus ein 12 Stahl (Fn. 5), Bd. II 2, S. 203; freilich schwebt ihm dabei eher ein ständisch gegliedertes Parlament vor, in dem die Vertreter von ihren jeweiligen Standesgenossen gewählt werden, als „Repräsentation der wahren Volksexistenz“ und damit dem Prinzip der Volkssouveränität, „gerade entgegengesetzt“ (ebda. S. 320, 323). 13 „Der Staat soll Rechtsstaat seyn, das ist die Losung…Er soll die Bahnen und Gränzen seiner Wirksamkeit wie die freie Sphäre seiner Bürger in der Weise des Rechts genau bestimmen und unverbrüchlich sichern und soll die sittlichen Ideen von Staatswegen, also direkt, nicht weiter verwirklichen (erzwingen), als es der Rechtssphäre angehört, d. i. nur bis zur nothwendigsten Umzäunung“ (Stahl (Fn. 5), Bd. II 2, S. 137). Diese berühmte Rechtstaatsdefinition Stahls ist allerdings insofern unpolitisch, als sie nicht auf eine bestimmte Regierungsform zielt. In ihrem Zentrum steht nicht – wie bei den Liberalen – das von der Volksvertretung zu beschließende allgemeine Gesetz als Basis und Garant rechtsstaatlicher Freiheit (dazu Böckenförde, Entstehung und Wandel des Rechtsstaatsbegriffs, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 1991, S. 143 ff., 148 ff.). 14 Stolleis (Fn. 4), S. 153 (in abgewogener Beurteilung). – Vgl. auch Clark, Preußen – Aufstieg und Niedergang 1600 – 1947, 4. Aufl. 2008, S. 576: Stahl als „wichtiger Modernisierer, der den Weg zur Aussöhnung konservativer Ziele mit den Gegebenheiten der modernen repräsentativen Politik wies“. 15 Stahl, Der christliche Staat und sein Verhältnis zu Deismus und Judenthum, 2. Aufl. 1858, S. 28 ff.
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autoritäres Volkskirchentum mit einer – ausschließlich christlichen – Staatsreligion, die vor allem die staatlichen Institutionen prägen soll: „Ausschließlich öffentliches Ansehen und öffentlicher Schutz der christlichen Kirche, christliches Eherecht, christliche Volkserziehung und Verwaltung der christlichen Schule durch die christliche Kirche, Erfordernis des christlichen Glaubensbekenntnisses für die öffentlichen Ämter und für die Theilnahme an der Landesvertretung“16 – mit diesen Worten umschreibt Stahl sein Leitbild des „christlichen Staates“. IV. Art. 14 der revidierten Preußischen Verfassung von 1850 und die Kontroversen um seine Interpretation In den Beratungen der revidierten Preußischen Verfassung von 1850 erzielten Stahl und seine Mitstreiter jedoch nur einen Teilerfolg im Bemühen um die verfassungsrechtliche Positivierung eines solchen Maximalprogramms. In den Diskussionen der I. Kammer17 fand zunächst die Formulierung mehrheitliche Zustimmung:18 „Die christliche Religion in ihren Hauptbekenntnissen wird, als die Religion der großen Mehrheit der Bewohner des Staates, den religiös-bürgerlichen Einrichtungen desselben, unbeschadet der Religionsfreiheit der anders Glaubenden, zum Grunde gelegt“.
Stahl vermisste darin indes den Ausdruck, dass „die Nation als solche sich zum Christentum bekennt“. Sein – als weitergehend angesehener – Antrag verfiel jedoch der Ablehnung: „Das Christentum bleibt maßgebend für alle öffentlichen Einrichtungen, die mit der Religion in Zusammenhang stehen. Die evangelische und die römisch-katholische Kirche behalten ihr öffentlich-nationales Ansehen im Staate“.
Seine endgültige Gestalt gewann der berühmte Art. 14 Rev. Verf. dann in der II. Kammer auf Vorschlag des späteren oberschlesischen Regierungspräsidenten Joh. Georg v. Viebahn:19 „Die christliche Religion wird bei denjenigen Einrichtungen des Staats, welche mit der Religionsausübung im Zusammenhang stehen, unbeschadet der im Art. 12 gewährleisteten Religionsfreiheit, zum Grunde gelegt“.
Damit trug Art. 14 Rev. Verf. einerseits dem konservativen Grundanliegen Rechnung, einen Damm gegen die – zu Unrecht20 – in die staatskirchenrechtlichen Be16
Stahl, Die gegenwärtigen Parteien (Fn. 11), S. 314. Dazu und zum Folgenden Anschütz, Die Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat vom 31. Januar 1850, 1912, S. 261 ff. 18 Antrag u. a. von dem renommierten katholischen Kirchenrechtler Ferdinand Walter (1794 – 1879), über ihn: Huber (Fn. 2), Bd. 2, S. 363. 19 Über v. Viebahn (1802 – 1871) Lengemann, Das Deutsche Parlament (Erfurter Unionsparlament) von 1850, 2000, S. 317 f. 20 Dazu Link, Kirchliche Rechtsgeschichte, 3. Aufl. 2017, § 20 Rn. 2 f.; näher dazu Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, 1985, S. 495 ff. 17
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stimmungen der gescheiterten Reichsverfassung von 1848 hineingelesene strikte Trennung von Staat und Kirche aufzuschütten – eine Besorgnis, zu der freilich auch die einschlägigen Artikel der Preußischen Verfassung keinen Anlass gaben21. Andererseits gewährleistete Art. 14 Rev. Verf. auch nicht eine institutionelle Christlichkeit des Staates selbst, kein „Staatschristentum“ im Stahlschen Sinn, er verleugnete nicht seinen Charakter als weltliche Einrichtung. „Der Staat hat das Christentum nicht zu ,bekennen‘, er hat es nur, unter gewissen Umständen, zu berücksichtigen“.22 Streitig war in der Folgezeit allerdings das Ausmaß solcher Berücksichtigungen. War die konservative Seite bemüht, den Kreis der religiös affizierten „Einrichtungen“ möglichst weit zu fassen, so bestand die liberale Staatsrechtslehre auf einer restriktiven Interpretation. Sicherlich begründete Art. 14 Rev. Verf. nicht nur eine Vorrangstellung der großen christlichen Kirchen vor anderen Religionsgemeinschaften, sondern wurde allgemein auch als Garantienorm für die christliche Prägung von Ehe23 und Schule verstanden. Der darin an sich enthaltene Ausschluss aller staatlichen bzw. kommunalen Errichtung oder Finanzierung jüdischer Schulen (einschließlich des dort erteilten Religionsunterrichts) wurde jedoch in der Praxis nicht umgesetzt.24 Unbestritten war dagegen das christliche Monopol auf religiöse Feiertage, auf staatliche Theologenausbildung (keine jüdischen Fakultäten oder Lehrstühle) sowie auch auf Militär- und Anstaltsseelsorge. Da dies indes dem damaligen Rechtszustand entsprach, konnte Art. 14 nur als Sperre gegen eine paritätische Ausweitung wirken, aber auch keine Bestandsgarantie für bereits bestehende Einrichtungen begründen. Dagegen sollten die aus der staatlichen Hoheit über alle Religionsgesellschaften fließenden Aufsichtsrechte durch Art. 14 Rev. Verf. nicht berührt sein (einschließlich der Gewährung von Vollstreckungshilfe, Besteuerungsrechten und Staatsdotationen).25 Kontrovers blieb jedoch, ob die Christlichkeit der Einrichtungen auch die Kirchenangehörigkeit der jeweiligen Amtsträger forderte.26 Dies hätte weitreichende 21
Link (Fn. 20), Rn. 5. So Anschütz (Fn. 17), S. 269, in seiner apodiktischen Deutung – freilich mehr als sechs Jahrzehnte nach Verfassungserlass und damit aus einer Zeit, in der ein „christlicher Staat“ im Sinne Stahls kaum noch vorstellbar erschien. 23 Dies hätte bei strikter Auslegung allerdings das Verbot der Zivilehe zur Folge gehabt. Da diese Möglichkeit jedoch in den linksrheinischen Gebieten bereits bestand und Art. 19 der Rev. Verf. ihre allgemeine gesetzliche Einführung vorsah, erschien eine Interpretation dahingehend zwingend, dass nur bei Wahl der religiösen Eheschließungsform allein die christlichen Kirchen zu ihr berechtigt waren. Das aber entsprach im Wesentlichen ohnehin der bestehenden Rechtslage. Mit der Einführung der obligatorischen Zivilehe (1874) hatte sich das Problem erledigt (dazu Anschütz (Fn. 17), S. 359 ff.). 24 Anschütz (Fn. 17), S. 274 f. 25 Anschütz (Fn. 17), S. 281 f. 26 Scharf ablehnend Anschütz (Fn. 17), S. 269 ff. („abwegig“ – S. 270) – anders Huber (Fn. 2), Bd. 3, 3. Aufl. 1988, S. 115: „Eine bloß institutionelle im Gegensatz zur personalen Christlichkeit wäre undenkbar“. – Zu den Konsequenzen für die Emanzipation jüdischer Bürger Clark (Fn. 14), S. 490. 22
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personelle Konsequenzen für die mit Religionsangelegenheiten befasste Verwaltung und – insbes. wegen der Abnahme von Eiden – für die Justiz nach sich gezogen und es wäre bei kompromissloser Umsetzung schwerlich mit dem Grundsatz von Unabhängigkeit der staatsbürgerlichen Rechte vom Religionsbekenntnis (Art. 12 Satz 2 Rev. Verf.) zu vereinbaren gewesen, aus dem – in Verbindung mit dem Gleichheitssatz des Art. 4 Rev. Verf. – auch in Preußen die Garantie des gleichen Zugangs zu öffentlichen Ämtern gefolgert wurde. Andererseits konnte der notwendige Konnex von Staatsamt und Bekenntniszugehörigkeit dort nicht ausgeschlossen werden, wo dies sachlich geboten erschien. Das galt nicht nur für Theologieprofessuren und Religionslehrer, sondern auch dort, wo es die Gebote sachangemessener Staatsklugheit erforderten27. Es ging also um pragmatische Lösungen jenseits der Extrempositionen. Die entsprechende Staatspraxis der Folgejahre entschärfte damit weitgehend das in Art. 14 Rev. Verf. enthaltene Konfliktpotential. V. Art. 14 und die „tragische Defensive“ des christlichen Konservativismus im 19. Jahrhundert Wenn auch die konkreten Rechtswirkungen des Art. 14 Rev. Verf. somit weit hinter den ursprünglichen Intentionen der Protagonisten eines „christlichen Staates“ zurückblieben, so ist doch die symbolische Wirkung dieses Teilerfolgs nicht zu unterschätzen. Denn die institutionell abgesicherte Verbindung des Staates mit den beiden Kirchen schien nicht nur einen Damm gegen die auf stärkere Trennung gerichtete Zeitströmung aufzuschütten, sondern auch die Dominanz der großen Kirchen zu zementieren und damit allen Versuchen einen Riegel vorzuschieben, das religionsfreundliche preußische Staatskirchenrecht paritätisch für kleinere Religionsgemeinschaften (und insbesondere für jüdische Gemeinden) zu öffnen. Die Institutionalisierung des Christentums als Staatsreligion, die trotz allen Einspruchs der liberalen Staatslehre in Art. 14 Rev. Verf. angelegt erschien,28 verkürzte die Religionsfreiheit auf ihre individuellen und negativen Aspekte („Dissidentengrundrecht“) und brachte 27
So wurde die 1841 (als Zeichen des Friedensschlusses zwischen dem preußischen Staat und der katholischen Kirche nach den vorangegangenen Konflikten) errichtete katholische Abteilung im Kultusministerium ausschließlich mit katholischen Beamten besetzt. Deren Aufhebung 1871 war dann ein Wetterleuchten des heraufziehenden Kulturkampfes. Vgl. dazu Huber/Huber, Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert (Dokumente), Bd. 1, 1973, S. 440 ff.; Bd. 2, 1976, S. 522 ff. – Konfessionsgebundene Staatsämter bestehen im Übrigen auch im modernen, grundrechtssichernden Verfassungsstaat (dazu Campenhausen/de Wall, Staatskirchenrecht, 4. Aufl. 2006, S. 60 f.; Unruh, Religionsverfassungsrecht, 4. Aufl. 2018, S. 102 f.). 28 Dies freilich nicht im staatsrechtlich präzisen Sinn der französischen Charte Constitutionelle von 1814, die in Art. 6 „die römisch-katholische Religion“ zur „Religion des Staats“ erklärt hatte. Denn dem „Christentum“ fehlt es angesichts seiner konfessionellen Ausdifferenzierungen als Rechtsbegriff an der erforderlichen Bestimmtheit (so zutreffend Hillgruber, Staat und Religion, 2007, S. 35 und ihm folgend Dreier, Staat ohne Gott, 2018, S. 86 f.). Aber darin lag doch deutlich mehr als nur eine „gleichsam natürliche Codierung des Staats- und Gesellschaftslebens durch das Christentum“ (Dreier, a. a. O. S. 87).
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sie dadurch in einen Gegensatz zum Staatskirchenrecht als „geistiges Kampfrecht“.29 Darin verbanden sich die politische Angst vor einer revolutionären Destabilisierung des Staates durch die Lösung seines Bandes zur Religion mit dem religiösen Krisenbewusstsein angesichts einer fortschreitenden Säkularisierung aller Lebensbereiche, dem „großen Abfall“ (Stahl), zu einem eigentümlichen Amalgam.30 Der Versuch, dem mit den Mitteln von Recht und Politik entgegenzutreten, vermochte die Entwicklung nicht mehr aufzuhalten und war deshalb zum Scheitern verurteilt. Stahl und mit ihm der christliche Konservativismus gerieten damit in eine „tragische Defensive“.31 Erst die bitteren Erfahrungen des Kulturkampfes ließen die Erkenntnis reifen,32 dass nur eine Abschichtung der politischen von der religiösen Sphäre den sozialen Frieden wahren konnte – eine Abschichtung, in der einerseits die Kirchen den säkularen Charakter des modernen Staates und dessen Begrenzungen respektierten, und andererseits der säkulare Staat die Kirchen nicht mehr nach seinen Maßstäben zu formen trachtet, sondern durch seine Freiheitsgarantien allen Religionsgemeinschaften die Chance eröffnet, ihre innere Ordnung nach ihrem je eigenen geistlichen Selbstverständnis zu gestalten. Staatskirchenrecht wird so zum weltlichen Rahmen religiöser Freiheit, einem Rahmen, der nur die Gemeinwohlverträglichkeit ihrer Ausübung zu sichern hat. Nicht die „Symbiose“ von Staat und Kirche im „christlichen Staat“, sondern allein die wechselseitige Akzeptanz von Auftrag und Grenzen des anderen Partners, die Respektierung seiner jeweiligen Freiheit und Bindung, konnte den Weg in eine freiheitliche Religionsverfassung weisen.
29 So Heckel (Fn. 4), S. 811; s. a. Heckel, Martin Luthers Reformation und das Recht, 2016, S. 201 f. 30 Dazu Clark (Fn. 14), S. 490. 31 Masur, Friedrich Julius Stahl, 1930, S. 166. 32 Dazu und zum Folgenden grundlegend: M. Heckel, Kulturkampfaspekte – Der Kulturkampf als Lehrstück modernen Staatskirchenrechts, jetzt in: Gesammelte Schriften (Fn. 4), Bd. 3, 1997, S. 471 ff. (482 ff.).
Schiffe und Staatenimmunität Ein Beitrag zur Gerichtsbarkeit über ausländische Staaten Von Sigrid Lorz I. „Leinen los“ für vier ganz spezielle Schiffe Das von der französischen Marine gekaperte Segelschiff „The Schooner Exchange“, der in der Wesermündung in einen Unfall verwickelte US-amerikanische Handelsdampfer „The Ice King“, das in den Hafen von Sunderland eingelaufene kubanische Handelsschiff „I Congreso del Partido“ und das im Hafen von Tema liegende argentinische Segelschulschiff „ARA Libertad“ haben eine Gemeinsamkeit: Sie waren wichtige Impulsgeber für die Begründung und die Entwicklung der Staatenimmunität. Seefahrerische Aktivitäten von Staaten und die damit verbundene Durchfahrt fremder Hoheitsgewässer waren bereits früh Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass das erste völkerrechtliche Übereinkommen zur Staatenimmunität – das Brüsseler Übereinkommen von 1926 – die Immunität der Staatsschiffe regelte. Zugleich sind Schiffe wegen ihres Wertes und ihrer Ortsungebundenheit nach wie vor ein begehrtes Vollstreckungsobjekt. Anknüpfend an die von Böger 1928 erschienene Monographie mit dem Titel „Die Immunität der Staatsschiffe. Ein Beitrag zur Frage der Gerichtsbarkeit über fremde Staaten“ lohnt es sich ein knappes Jahrhundert später erneut, den Einfluss der Staatsschiffe, die also im Eigentum eines Staates stehen oder über die er unmittelbare Verfügungsgewalt hat, aber auch der privaten Schiffe auf das Recht der Staatenimmunität näher zu betrachten. II. „The Schooner Exchange“ und die Wurzeln der Staatenimmunität Die erste das Recht der Staatenimmunität prägende Leitentscheidung fällte der US-amerikanische Supreme Court 1812 im Fall The Schooner Exchange v. McFaddon. John McFaddon und William Greetham segelten mit ihrem Schoner namens „Exchange“ von Baltimore in den Vereinigten Staaten über Großbritannien gen San Sebastián in Spanien, bis er 1810 von der französischen Marine auf Befehl Napoleons gekapert wurde. Das Handelsschiff wurde in ein französisches Kriegsschiff umgewandelt und lief einige Zeit später unter dem Namen „Balaou“ auf einer seiner Fahrten wegen der rauen See und eines Sturmschadens den Hafen von Philadelphia an. Daraufhin erhoben die früheren Eigner gegen Frankreich eine actio in rem, also eine dingliche Klage auf Herausgabe des Schoners. Der Supreme Court gewährte
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Frankreich Immunität und wies die Herausgabeklage mit der Begründung ab, dass Kriegsschiffe, die in freundlicher Absicht in den Hafen eines anderen Staates einliefen, von seiner Jurisdiktion ausgenommen seien.1 Der Gewährung von Staatenimmunität lag der Grundsatz „par in parem non habet imperium“ zugrunde. Bereits der italienische Rechtsgelehrte Bartolo da Sassoferrato postulierte 1354 in seinem Werk „Tractatus represaliarum“ die Prämisse, dass der Gleiche über den Gleichen keine Gewalt hat.2 Hieraus hat sich das Prinzip der souveränen Gleichheit aller Staaten als grundlegendes Strukturprinzip des Völkerrechts entwickelt, das nunmehr in Art. 2 Nr. 1 der Charta der Vereinten Nationen und als sechster Grundsatz in ihrer Friendly Relations Declaration niedergelegt ist. Als Ausfluss dieses völkerrechtlichen Prinzips darf ein Staat seine Gerichtsbarkeit weder auf dem Gebiet eines anderen Staates noch über den anderen Staat selbst ausüben.3 Überschreitet der Gerichtsstaat dennoch die Grenzen seiner zulässigen Souveränitätsausübung, so verstößt er gegen das Nichteinmischungsgebot4 und verletzt zugleich den Grundsatz der Staatenimmunität als ein seit Jahrhunderten allgemein anerkanntes Gebot des Völkergewohnheitsrechts5. So wurde in der Ära des klassischen Völkerrechts dem Souverän, sei es dem König, Kaiser oder Fürst, unbegrenzte Herrschaftsgewalt zuteil. Nach dem damaligen absolutistischen Staatsverständnis, das von dem auf König Ludwig XIV. zurückgehenden Gedanken „L’État c’est moi“ geprägt war, wäre die Unterwerfung eines Staates und damit seines Souveräns unter eine fremde Gerichtsgewalt der Unterwerfung unter ein fremdes Staatsoberhaupt gleichgekommen. Ein Souverän urteilte aber nicht über einen anderen Souverän, sondern setzte seine Rechte ausschließlich mit den Mitteln des Völkerrechts durch.6 Daher war es über Jahrhunderte hinweg ein etablierter Grundsatz des Völkerrechts, dass ein Staat über einen anderen Staat nicht zu Gericht sitzen durfte. So ging bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts die ganz über-
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The Schooner Exchange v. McFaddon, 11 U. S. 116 (1812). Tractatus represaliarum, Qu. I/3, § 10 (zitiert nach Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht. Theorie und Praxis, 3. Aufl. 1984, § 1168). 3 RGZ 62, 165 (167); Albert, Völkerrechtliche Immunität ausländischer Staaten gegen Gerichtszwang, 1984, S. 32 ff.; Damian, Staatenimmunität und Gerichtszwang. Grundlagen und Grenzen der völkerrechtlichen Freiheit fremder Staaten vor inländischer Gerichtsbarkeit in Verfahren der Zwangsvollstreckung oder Anspruchssicherung, 1985, S. 15; Fox/Webb, The Law of State Immunity, 3. Aufl. 2013, S. 25 f.; Dörr, AVR 41 (2003), 201 (202). 4 BVerfG, NVwZ 2008, 878 (879); Bentzien, Die völkerrechtlichen Schranken der nationalen Souveränität im 21. Jahrhundert, 2007, S. 42; Schaumann in: Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, Die Immunität ausländischer Staaten nach Völkerrecht und deutschem Zivilprozeßrecht, Heft 8, 1968, S. 1 (16). 5 Damian (Fn. 3), S. 5 f.; Geimer, Internationales Zivilprozessrecht, 8. Aufl. 2020, Rdnr. 555. 6 Fox/Webb (Fn. 3), S. 133; Lorz, Ausländische Staaten vor deutschen Zivilgerichten. Zum Spannungsverhältnis von Staatenimmunität und Recht auf Zugang zu Gericht, 2017, S. 11; Schaumann (Fn. 4), S. 1 (11 f.). 2
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wiegende Staatenpraxis dahin, ausländischen Staaten absolute Immunität zu gewähren.7 Der Supreme Court maß selbst dem Umstand, dass „The Schooner Exchange“ von den Franzosen gekapert worden war, keine Bedeutung bei.8 Aber auch heute noch existiert keine allgemeine völkerrechtliche Regel, nach der die Gerichtsbarkeit für Klagen auf Herausgabe solcher Gegenstände eröffnet wäre, die der beklagte Staat in völkerrechtswidriger Weise erlangt hat.9 Eine Ausnahme von diesem Grundsatz besteht nur dann, wenn ein Gegenstand auf Veranlassung eines Staates in das Hoheitsgebiet des Gerichtsstaates verbracht und dabei dessen Gebietshoheit verletzt worden ist. Insoweit hat sich die von einer allgemeinen Rechtsüberzeugung getragene Staatenpraxis herauskristallisiert, nach der einem solchen Gegenstand kein immunitätsrechtlicher Schutz zukommen soll.10 Relevant ist dies vor allem bei Kriegsschiffen: Dringt ein Kriegsschiff vorsätzlich und ohne Zustimmung des Küstenstaates in dessen Binnengewässer ein, etwa um dort militärische Geheimnisse auszuspionieren, so verletzt es dessen territoriale Integrität. Diese Gebietsverletzung lässt die Immunität für ein solches Kriegsschiff entfallen.11 III. „The Ice King“ als Impulsgeber für den Wandel der Staatenimmunität An dem Grundsatz der absoluten Staatenimmunität hielt auch noch gut hundert Jahre später das Reichsgericht 1921 in seiner Entscheidung „The Ice King“ fest. Streitgegenstand waren Schadensersatzansprüche aus einer in der Wesermündung erfolgten Kollision zwischen dem Stückgutfrachter „Jonas Sell“ einer deutschen Reederei mit dem Dampfer „The Ice King“ der Vereinigten Staaten von Amerika. Das Gericht verneinte seine Gerichtsbarkeit für eine Schadensersatzklage der Reederei gegen die Vereinigten Staaten, da ihnen Immunität zukomme. Zwar könnten dingliche Klagen, die sich auf unbewegliche, im Inland gelegene Sachen bezögen, auch gegen einen fremden Staat vor inländischen Gerichten erhoben werden. Diese Ausnahme sei allerdings nicht auf Schiffe übertragbar. Als Ausweg verwies das Reichsgericht auf die Möglichkeit des Deutschen Reichs zur Ergreifung einer Retorsion als unfreundliche, aber an sich völkerrechtmäßige Maßnahme. Nähmen die Vereinigten Staaten weiterhin Immunität für ihre Staatshandelsschiffe in Anspruch, anstatt sich freiwillig der deutschen Gerichtsbarkeit zu unterwerfen, dann könnte das Deutsche
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Yang, State Immunity in International Law, 2012, S. 7 f.; Kann, JW 1910, 176 (176). The Schooner Exchange v. McFaddon, 11 U.S. 116 (1812). 9 Damian (Fn. 3), S. 184; Geimer (Fn. 5), Rdnr. 605. 10 Schweiz. BGE 65 I, 39 (46 f.); Damian (Fn. 3), S. 185; Schaumann (Fn. 4), S. 1 (144). 11 Geimer (Fn. 5), Rdnr. 607; Berg, ZaöRV 42 (1982), 295 (315); Mössner, NJW 1982, 1196 (1197). 8
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Reich diesen Schiffen künftig die Einfahrt in deutsche Hoheitsgewässer verbieten und so auf eine Anpassung des Völkerrechts hinwirken.12 Mit dem Verweis auf eine Retorsion zur Anpassung des Völkerrechts rüttelte das Reichsgericht erstmals an der uneingeschränkten Befreiung von der Gerichtsbarkeit für Staatsschiffe. Und so geriet der Grundsatz der absoluten Staatenimmunität in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts allmählich ins Wanken. Dies war dem Umstand geschuldet, dass etliche Staaten insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg neben ihrer Hauptaufgabe, der hoheitlichen Betätigung, begannen, sich verstärkt am Wirtschaftsleben zu beteiligen und dadurch bedingt mit staatlichen Schiffen Handelsschifffahrt zu betreiben.13 Dadurch büßte der Grundsatz „par in parem non habet imperium“ an Wirkungskraft ein und die Souveränität des Gerichtsstaates rückte in den Vordergrund. Indem privatwirtschaftlich agierende Staaten sich auf die Ebene der Gleichordnung zu anderen Marktakteuren begaben, war es nicht mehr gerechtfertigt, sich gegenüber anderen Staaten auf ihre Souveränität als Ausdruck ihrer Staatlichkeit zu berufen. Ihnen gegenüber anderen Wirtschaftsakteuren Vorrechte dergestalt einzuräumen, dass sie sich durch Verweis auf ihre Immunität ihren vertraglichen Verpflichtungen hätten entziehen können, wäre eine nicht mehr hinnehmbare Privilegierung gewesen.14 Umgekehrt hätte aber auch das Beharren auf dem Grundsatz der absoluten Staatenimmunität den Abschluss privatrechtlicher Verträge zwischen Staaten und privaten Akteuren erschwert und sich als Hemmnis im internationalen Wirtschaftsverkehr erwiesen.15 Damit verlor der lange Zeit währende Grundsatz der absoluten Staatenimmunität seinen Geltungsanspruch und wurde durch den Grundsatz der relativen Staatenimmunität verdrängt.16 Die Geschichte der Staatenimmunität ist seitdem zur Geschichte des Ringens um Zahl, Art und Umfang ihrer Ausnahmen geworden.17 Eine Vorreiterrolle nahm dabei das in Brüssel unterzeichnete Internationale Übereinkommen zur einheitlichen Feststellung einzelner Regeln über die Immunität der
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RGZ 103, 274 (276 ff.). Böger, Die Immunität der Staatsschiffe. Ein Beitrag zur Frage der Gerichtsbarkeit über fremde Staaten, 1928, S. 153 ff.; Spruth, Gerichtsbarkeit über fremde Staaten unter besonderer Berücksichtigung der Entwicklung seit dem Weltkriege, 1929, S. 53. 14 Badr, State Immunity: An Analytical and Prognostic View, 1984, S. 89; Heß, Staatenimmunität bei Distanzdelikten. Der private Kläger im Schnittpunkt von zivilgerichtlichem und völkerrechtlichem Rechtsschutz, 1992, S. 41; Stürner, IPRax 2008, 197 (200). 15 LG Kiel, JZ 1954, 117 (117); Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht mit internationalem Insolvenzrecht und Schiedsverfahrensrecht, 7. Aufl. 2017, Rdnr. 178; Beys, in: Schütze (Hrsg.), Einheit und Vielfalt des Rechts. Festschrift für Reinhold Geimer zum 65. Geburtstag, 2002, S. 67 (68). 16 BVerfGE 16, 27 (34); Damian (Fn. 3), S. 140 f., 167 f.; Verdross/Simma (Fn. 2), § 1169; Sonnenberger, AcP 162 (1963), 485 (508). 17 So Cohn, in: Strupp/Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, Band I, 1960, S. 662; sich anschließend BVerfGE 16, 27 (34). 13
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Staatsschiffe vom 10. 4. 1926 samt Zusatzprotokoll vom 24. 5. 1934 ein.18 Mit dem Brüsseler Übereinkommen wurde erstmals auf völkervertraglicher Ebene die staatliche Immunität begrenzt, indem Staatshandelsschiffe den privaten Handelsschiffen gleichgestellt wurden. So gelten nach Art. 2 i. V. m. Art. 1 Brüsseler Übereinkommen die gleichen Regeln über die gerichtliche Geltendmachung für die Verantwortlichkeiten und Verbindlichkeiten, die einen Staat aus der Verwendung der ihm gehörenden oder von ihm benutzten Seeschiffe sowie aus der Beförderung der Ladungen treffen, wie sie gegenüber einer Privatperson mit Blick auf die ihr gehörenden Handelsschiffe und Ladungen gelten. Dagegen sind nach Art. 3 § 1 S. 1 Brüsseler Übereinkommen folgende Schiffe weiterhin von der Gerichtsbarkeit ausgenommen: Kriegsschiffe, Staatsjachten, Schiffe des Überwachungsdienstes, Hospitalschiffe, Hilfsschiffe, Proviantschiffe und andere Fahrzeuge, die einem Staat gehören oder von ihm verwendet werden und die zur Zeit des Entstehens der Forderung ausschließlich für einen staatlichen Dienst und nicht für Handelszwecke bestimmt sind oder verwendet werden. Durch das Ausschließlichkeitskriterium ist die Immunität eines ausländischen Staates weit eingeschränkt. Dieser unterliegt wegen eines Schiffes nur dann nicht der Gerichtsbarkeit, wenn es nur für staatliche Dienste verwendet wird und auch nicht für Handelszwecke bestimmt ist. Nach der Gegenausnahme in Art. 3 § 1 S. 2 Brüsseler Übereinkommen kann sich ein Staat aber selbst im Hinblick auf solche Schiffe nicht auf seine Immunität berufen, wenn das Verfahren Ansprüche aus Anlass von Schiffszusammenstößen oder anderen Schifffahrtsunfällen, von Hilfeleistungen und Bergung in Seenot oder großer Haverei oder von Ausbesserungen, Lieferungen oder anderen das Schiff betreffenden Verträgen betrifft. Diese Regelungen finden nach Art. 3 § 2 Brüsseler Übereinkommen ebenfalls auf Ladungen, die einem Staat gehören und an Bord der genannten Schiffe befördert werden, Anwendung. Das Reichsgericht hätte demnach die Schadensersatzklage des Eigners der „Jonas Sell“ gegen die Vereinigten Staaten wegen der Kollision mit ihrem Handelsdampfer „The Ice King“ auf der Wesermündung nicht als unzulässig abweisen dürfen, wäre das Brüsseler Übereinkommen bereits in Kraft getreten und wären die Vereinigten Staaten nur dem Übereinkommen beigetreten. Diese lehnten jedoch ebenso wie die damalige Sowjetunion einen Beitritt ab. Nichtsdestotrotz stieß das Brüsseler Übereinkommen mit 31 Vertragsstaaten auf eine hohe Akzeptanz der Staatengemeinschaft.19 Im Brüsseler Übereinkommen wurde den Staaten für ihre Schiffe also nur noch im beschränkten Umfang Immunität gewährt. Dieser Grundsatz der relativen Staatenim18 Brüsseler Übereinkommen: RGBl. 1927 II, S. 483, Zusatzprotokoll: RGBl. 1936 II, S. 303. 19 Dem Brüsseler Übereinkommen sind beigetreten: Ägypten, Argentinien, Belgien, Brasilien, Chile, Dänemark, Deutschland, Estland, Frankreich, Griechenland, Italien, Libyen, Kongo, Luxemburg, Madagaskar, Niederlande, Aruba, Niederländische Antillen, Norwegen, Polen, Portugal, Schweden, Schweiz, Somalia, Suriname, Syrien, Türkei, Ungarn, Uruguay, Vereinigtes Königreich einschließlich Guernsey, Isle of Man und Jersey sowie Zypern.
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munität hat sich später als allgemeine völkerrechtliche Regel durchgesetzt. Die entscheidende Wende leitete in Deutschland das Bundesverfassungsgericht 1963 in seinem Beschluss zur relativen Staatenimmunität im Erkenntnisverfahren gegenüber einer Werklohnklage wegen der Reparatur der Heizungsanlage in der iranischen Botschaft20 und 1977 in seinem Beschluss zur relativen Staatenimmunität im Vollstreckungsverfahren gegenüber der Pfändung einer Guthabenforderung aus einem Bankkonto der philippinischen Botschaft21 ein. Mit diesen beiden Leitentscheidungen setzte sich in der deutschen Rechtsprechung endgültig die Auffassung durch, dass ausländische Staaten nicht mehr uneingeschränkt Immunität genießen, sondern nur noch partiell von der deutschen Gerichtsbarkeit befreit sind. Seitdem kommt ihnen im Erkenntnisverfahren nur noch für ihre hoheitliche Tätigkeit und im Vollstreckungsverfahren nur noch für das einem hoheitlichen Zweck dienende Vermögen Immunität zu.22
IV. „I Congreso del Partido“ und die Market-Place-Doktrin Problematisch gestalten sich diejenigen Fälle, in denen ein ausländischer Staat zunächst einen privatrechtlichen Vertrag schließt und sich später der Erfüllung seiner vertraglichen Pflichten durch hoheitliches Handeln zu entziehen versucht. Hierbei hängt die Gewährung von Staatenimmunität entscheidend von ihrem Bezugspunkt ab: Während das zwischen ausländischem Staat und privatem Vertragspartner bestehende Rechtsverhältnis nichthoheitlicher Natur ist, da sich der Staat mit Abschluss des Vertrages auf die Gleichordnungsebene begibt, verlässt er mit seinem hoheitlichen Handeln diese Ebene wieder. Richtet sich dann die Gerichtsbarkeit für eine Klage des Vertragspartners gegen den ausländischen Staat nach dem zu Grunde liegenden Vertragsverhältnis oder aber nach dem Eingriff des Staates in das Vertragsverhältnis? Eine Antwort auf diese Frage gab das englische House of Lords 1981 in seiner Leitentscheidung „I Congreso del Partido“. Die chilenische Gesellschaft Iansa schloss 1973 mit dem kubanischen Staatshandelsunternehmen Cubazucar einen Kaufvertrag über die Lieferung von 128.395 Tonnen Rohrzucker, der zunächst vertragsgemäß mit dem Schiff „Playa Larga“ von Kuba nach Chile transportiert wurde. Während der Löschung der Ladung im Hafen der chilenischen Stadt Valparaiso kam es in Chile zu einem Militärputsch. Daraufhin brach die kubanische Regierung die diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu Chile ab und veranlasste, dass die „Playa Larga“ vor Beendigung der Entladung den Hafen verließ und zu der ebenfalls mit Zuckerrohr beladenen „Marble Islands“ zurückkehrte, die sich noch auf See befand. Sodann nahm die chilenische Gesellschaft die Republik Kuba wegen Vertragsbruchs vor englischen Gerichten mit einer actio in rem 20
BVerfGE 16, 27 (33 ff.). BVerfGE 46, 342 (364 ff.). 22 Hierzu näher Lorz (Fn. 6), S. 16 f. 21
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gegen das im Hafen von Sunderland (Großbritannien) ankernde kubanische Staatshandelsschiff „I Congreso del Partido“ in Anspruch.23 Während sich Kuba auf seine Staatenimmunität berief, vertrat die Klagepartei die Auffassung, „once the sovereign has descended into the market place, he can no longer invoke sovereign immunity“, später auch als Market-Place-Doktrin bezeichnet.24 Das House of Lords gab der Klägerin recht und versagte der Republik Kuba die Gewährung von Immunität. Sei ein ausländischer Staat eine privatrechtliche Rechtsbeziehung eingegangen, so falle der Vertragsbruch prima facie in denselben Tätigkeitsbereich. Zweifellos sei der Entschluss des kubanischen Staates, die Entladung des Rohrzuckers vorzeitig zu beenden, eine politische Entscheidung gewesen. Nichtsdestotrotz habe er so gehandelt, wie jeder andere Schiffseigner gehandelt hätte. Wenn Immunität nur bis zu dem Augenblick gewährt würde, in dem der privatwirtschaftlich tätige Staat eine politische Entscheidung träfe, so verlöre der Grundsatz der relativen Staatenimmunität fast vollständig an Bedeutung.25 Aus dieser Leitentscheidung hat sich der Grundsatz „once a trader always a trader“ entwickelt.26 Die zwischen einem ausländischen Staat und einem Handelspartner eingegangene Rechtsbeziehung ändert ihren privatrechtlichen Charakter nicht dadurch, dass sich ein Staat aus politischen Erwägungen seinen vertraglichen Verpflichtungen zu entziehen versucht.27 Da es sich um einen Bruch einer auf der Gleichordnungsebene eingegangenen Vertragsbeziehung handelt, spielt es für die Frage des Rechtsschutzes des Vertragspartners keine Rolle, mit welchen Mitteln ein Staat seine vertraglichen Verpflichtungen verletzt. Durch einen politisch motivierten Vertragsbruch erwächst ihm nachträglich kein Anspruch auf Gewährung von Immunität gegenüber dem Gerichtsstaat.28 Die deutschen Gerichte verneinten dagegen im Fall des Zwangsumtausches griechischer Staatsanleihen zur Restrukturierung des griechischen Staatshaushaltes vorschnell eine entsprechende völkerrechtliche Regel und vertraten die Auffassung, dass sich ein Staat durch einen nachträglichen hoheitlichen Eingriff in ein privatrechtliches Schuldverhältnis Immunität verschaffen und sich so
23
I Congreso del Partido [1983] 1 A.C. 244 at 258. Vgl. die Schilderung der Queen’s Bench Division in I Congreso del Partido [1978] 1 All ER 1169 at 1189 als Vorinstanz. 25 I Congreso del Partido [1983] 1 A. C. 244 at 268 et seq. 26 Vgl. Damian (Fn. 3), S. 106; Geimer (Fn. 5), Rdnr. 584; Schreuer, State Immunity, 1988, S. 22, 111. 27 Lorz (Fn. 6), S. 85; von Schönfeld, Die Staatenimmunität im amerikanischen und englischen Recht, 1983, S. 101 f.; Seidl-Hohenveldern, in: Sandrock (Hrsg.), Festschrift für Günter Beitzke zum 70. Geburtstag am 26. April 1979, 1979, S. 1081 (1091 f.); Thole, WM 2012, 1793 (1794); Weller/Fischer, IWRZ 2016, 172 (173). 28 So auch Damian (Fn. 3), S. 106; Fox/Webb (Fn. 3), S. 410; Geimer (Fn. 5), Rdnr. 584 ff.; Lorz (Fn. 6), S. 85 ff.; Schack (Fn. 15), Rdnr. 182; Schreuer (Fn. 26), S. 110 f.; Hauser, BKR 2019, 333 (337 f.); Müller, NJW 2016, 1662 (1662); von Schönfeld, NJW 1986, 2980 (2984); Weller/Fischer, IWRZ 2016, 172 (172). 24
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der Verpflichtung zur Erfüllung seiner vertraglichen Verbindlichkeiten entziehen könne.29 Eine solche völkerrechtliche Regel als Ausnahme zum Grundsatz der relativen Staatenimmunität ist allerdings in der Staatenpraxis nicht nachweisbar und damit auch nicht Bestandteil des allgemeinen Völkergewohnheitsrechts.30 Andernfalls wäre die Pforten zurück zum Grundsatz der absoluten Immunität geöffnet, hätte es ein ausländischer Staat nach Begründung eines Privatrechtsverhältnisses in der Hand, sich der Gerichtsbarkeit eines anderen Staates durch hoheitliches Handeln zu entziehen. Die soeben aufgezeigte historische Entwicklung macht dies deutlich: So geriet der Grundsatz der absoluten Staatenimmunität in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit der Zunahme grenzüberschreitender wirtschaftlicher Aktivitäten von Staaten ins Wanken, da die Gewährung von Immunität für ihre aus einem nichthoheitlichen Rechtsverhältnis resultierenden Verpflichtungen als eine nicht länger hinnehmbare Privilegierung erachtet wurde.31
V. Vollstreckungsimmunität für die „ARA Libertad“ Staatliche Schiffe gerieten ins Visier der Vollstreckungsgläubiger, als nach dem Ersten Weltkrieg etliche Staaten verstärkt begannen, Handelsschifffahrt zu betreiben. Daran hat sich bis heute nichts geändert. So beschlagnahmte 2012 der High Court of Accra in Ghana auf Antrag eines Hedgefonds mit Sitz auf den karibischen Cayman Islands das in den Hafen von Tema eingelaufene Segelschulschiff „ARA Libertad“ der argentinischen Marine wegen ausstehender Forderungen über circa 300 Mio. USDollar aus argentinischen Staatsanleihen. Die Beschlagnahme hatte folgenden Hintergrund: Nachdem die Republik Argentinien sich zunächst in erheblichem Umfang des Instruments der Staatsanleihen auf dem Kapitalmarkt bedient hatte, stellte sie mit Erreichen des Höhepunkts der dortigen Wirtschaftskrise Anfang 2002 und nach Erklärung des Staatsnotstands ihren Auslandsschuldendienst ein.32 Etliche Inhaber der Schuldverschreibungen, die ein von Argentinien 2004 unterbreitetes Umtauschangebot ausgeschlagen hatten, erhoben in der Folge Klage auf Zahlung der in den Schuldverschreibungen und den zugehörigen Zinsscheinen versprochenen Beträge. Die Klagen hatten ungeachtet der Berufung Argentiniens auf den Staatsnotstand wegen Zahlungsunfähigkeit vielfach Erfolg.33 Nichtsdestotrotz haben sich die meisten Kläger bislang vergeblich um eine Zwangsvollstreckung bemüht, da Argentinien sein privatwirtschaftlichen Zwecken 29
BGHZ 209, 191 (196 ff.); 217, 153 (159 ff.); BVerfG, WM 2020, 1111 ff. Geimer (Fn. 5), Rdnr. 584b. 31 Lorz (Fn. 6), S. 86. 32 Lorz (Fn. 6), S. 340 f.; Baars/Böckel, ZBB 2004, 445 (447); Cranshaw, DZWIR 2007, 133 (134 f.); Grüneberg, WM 2016, 1621 (1621). 33 Vgl. für die deutschen Gerichte z. B. BGH, ZIP 2015, 769 ff.; OLG Frankfurt, WM 2007, 929 ff.; LG Frankfurt, WM 2003, 783 ff. 30
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dienendes und damit vollstreckbares Vermögen aus zahlreichen Staaten abgezogen hat. Die Republik Argentinien rief schließlich wegen der Festsetzung der „ARA Libertad“ den Internationalen Seegerichtshof in Hamburg an und rügte, dass die Republik Ghana ihre internationale Verpflichtung zur Wahrung der Immunitäten verletzt habe, die Schiffen nach Art. 3 des Brüsseler Übereinkommens und nach Art. 32 des Seerechtsübereinkommens zuteilwerde. Der Internationale Seegerichtshof gab Argentinien recht und forderte Ghana auf, das Segelschulschiff sofort und bedingungslos freizugeben und sicherzustellen, dass sein Kapitän und seine Besatzung den Hafen von Tema und die ghanaischen Küstengewässer verlassen können. Da die Fregatte der Ausbildung der argentinischen Marine diene, sei sie als Kriegsschiff einzuordnen und genieße somit Immunität.34 Die Gewährung von Vollstreckungsimmunität für das argentinische Segelschulschiff stand im Einklang mit den völkervertraglichen Regelungen. Art. 3 § 1 S. 1 des bereits erwähnten Brüsseler Übereinkommens verbietet nicht nur eine actio in rem, sondern auch die Beschlagnahme von Kriegsschiffen. Der Internationale Seegerichtshof ging jedoch zu Recht nicht auf diese von Argentinien geltend gemachte völkervertragliche Regelung ein, da zwar Argentinien, nicht aber Ghana dem Brüsseler Übereinkommen beigetreten ist. Vielmehr stützte er seine Entscheidung auf Art. 32 des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen (SRÜ), das am 10. 12. 1982 in Montego Bay (Jamaika) geschlossen wurde und am 16. 11. 1994 in Kraft trat35. Es enthält ebenfalls Regeln zur Vollstreckungsimmunität im Hinblick auf staatliche Seeschiffe. Das SRÜ, dem mittlerweile 168 Staaten, darunter Deutschland, aber auch Argentinien und Ghana, beigetreten sind, fasst das vorher geltende, in den vier Genfer Seerechtskonventionen von 1958 kodifizierte Seerecht zusammen. Für Schiffe, die sich wie die „ARA Libertad“ im Küstenmeer i. S. v. Art. 3 ff. SRÜ befinden, gelten folgende Regelungen: Nach Art. 32 SRÜ bleiben die Immunitäten der Kriegsschiffe und der sonstigen Staatsschiffe, die anderen als Handelszwecken dienen, unberührt. Dagegen differenziert Art. 28 SRÜ im Hinblick auf die Gewährung von Immunität für Staatsschiffe, die Handelszwecken dienen, zwischen den das Küstenmeer durchfahrenden und den im Küstenmeer liegenden Schiffen: So darf nach Art. 28 Abs. 2 SRÜ der Küstenstaat Vollstreckungs- oder Sicherungsmaßnahmen gegen ein das Küstenmeer durchfahrendes Schiff nur wegen Verbindlichkeiten oder der Haftung ergreifen, die für das Schiff selbst während oder wegen seiner Durchfahrt durch die Gewässer des Küstenstaates entstanden sind. Für im Küstenmeer liegende oder dieses nach Verlassen der inneren Gewässer durchfahrende Staatsschiffe, die Handelszwecken dienen, erklärt Art. 28 Abs. 3 SRÜ das Recht des Küstenstaates, in Übereinstimmung mit seinen Rechtsvorschriften Vollstre34
ITLOS, Entscheidung v. 15. 12. 2012, Fall Nr. 20 – The „ARA Libertad“ Case, Rdnrn. 95, 108, abrufbar unter https://www.itlos.org/fileadmin/itlos/documents/cases/case_no.20/pu blished/C20_Order_151212.pdf (30. 6. 2020). 35 BGBl. 1994 II, S. 1799.
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ckungs- oder Sicherungsmaßnahmen zu ergreifen, für unberührt. Schiffen auf Hoher See kommt dagegen uneingeschränkt Immunität zu: Nach Art. 95 SRÜ genießen Kriegsschiffe auf Hoher See vollständige Immunität von der Hoheitsgewalt jedes anderen Staates als des Flaggenstaates. Nach Art. 96 SRÜ gilt dies auch für einem Staat gehörende oder von ihm eingesetzte Schiffe auf Hoher See, die im Staatsdienst ausschließlich für andere als Handelszwecke genutzt werden. VI. „Volle Kraft voraus“: vom Brüsseler Übereinkommen zum UN-Übereinkommen über Staatenimmunität Auch wenn es mittlerweile einige völkervertragliche Kodifikationen zur Staatenimmunität gibt, sind diesen Übereinkommen entweder nur wenige Staaten oder für ihr Inkrafttreten noch nicht genügend Staaten beigetreten. Die maßgebliche Rechtsquelle für den Inhalt und den Umfang der Staatenimmunität bleibt daher nach wie vor das Völkergewohnheitsrecht36 – mit einer Ausnahme: der Staatenimmunität für Staatsschiffe. So war das Brüsseler Übereinkommen von 1926 über die Immunität der Staatsschiffe nicht nur das erste völkerrechtliche Übereinkommen zur Staatenimmunität, sondern auch ein entscheidender Impulsgeber für deren Entwicklung. Nach wie vor gibt es Bestrebungen, das Recht der Staatenimmunität nach dem Vorbild des Brüsseler Übereinkommens zu kodifizieren. Hierzu verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen 2004 das Übereinkommen über die Immunität der Staaten und ihres Vermögens von der Gerichtsbarkeit.37 Das UN-Übereinkommen ist zwar seit 2005 zur Zeichnung aufgelegt, aber bislang noch nicht in Kraft getreten, da ihm erst 22 von 30 erforderlichen Staaten beigetreten sind.38 Art. 16 UN-Übereinkommen enthält in Anlehnung an das Brüsseler Übereinkommen detaillierte Regelungen zur Immunität der Staatsschiffe. So kann sich nach Art. 16 Abs. 1 UN-Übereinkommen ein Staat, dem ein Schiff gehört oder der es einsetzt, vor einem sonst zuständigen Gericht eines anderen Staates nicht auf seine Immunität von der Gerichtsbarkeit in einem Verfahren berufen, das sich auf den Einsatz dieses Schiffes bezieht, wenn es zum Zeitpunkt der Entstehung des Klagegrundes zu anderen als nicht privatwirtschaftlichen staatlichen Zwecken benutzt wurde. Mit anderen Worten: Ein ausländischer Staat kann sich nicht darauf berufen, sein Schiff werde normalerweise nur für hoheitliche Zwecke benutzt, sofern es einmalig bei Ent36
IGH, I. C. J. Reports 2012, 99 (122) – Jurisdictional Immunities; Yang (Fn. 7), S. 34 ff. Resolution 59/38 der UN-Generalversammlung vom 2. 12. 2004, abgedruckt in: Juridical Yearbook 2004, S. 243. 38 Vereinte Nationen, https://treaties.un.org/Pages/ViewDetails.aspx?src=TREATY&mtdsg_ no=III-13&Chapter=3&lang=en (30. 6. 2020). Bislang sind dem Übereinkommen Finnland, Frankreich, der Irak, der Iran, Italien, Japan, Kasachstan, Lettland, der Libanon, Liechtenstein, Mexiko, Norwegen, Österreich, Portugal, Rumänien, Saudi-Arabien, Schweden, die Schweiz, die Slowakei, Spanien, Tschechien und zuletzt Äquatorialguinea beigetreten. Weitere 14 Staaten haben das Übereinkommen zwar unterzeichnet, aber noch nicht ratifiziert. Die Bundesrepublik Deutschland zählt nicht zu den Unterzeichnerstaaten. 37
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stehen des Klagegrundes für privatwirtschaftliche Zwecke verwendet wurde.39 Entsprechendes gilt nach Art. 16 Abs. 3 UN-Übereinkommen, wenn sich das Verfahren auf die Beförderung von Ladung an Bord eines einem Staat gehörenden oder von ihm eingesetzten Schiffes bezieht. Beide Regelungen gelten vorbehaltlich einer anderweitigen Vereinbarung zwischen den betreffenden Staaten. Nach Art. 16 Abs. 2 UN-Übereinkommen findet Abs. 1 keine Anwendung auf Kriegsschiffe und Flottenhilfsschiffe sowie auf Schiffe, die einem Staat gehören oder von ihm eingesetzt und ausschließlich zu nicht privatwirtschaftlichen staatlichen Zwecken benutzt werden. Nach Art. 16 Abs. 4 UN-Übereinkommen findet Abs. 3 keine Anwendung auf die Ladung, die an Bord der in Abs. 2 genannten Schiffe befördert wird, sowie auf die Ladung, die einem Staat gehört und ausschließlich zu nicht privatwirtschaftlichen staatlichen Zwecken benutzt wird oder für eine solche Nutzung bestimmt ist. Das UN-Übereinkommen enthält dagegen keine mit Art. 3 § 1 S. 2 und Art. 3 § 3 S. 2 Brüsseler Übereinkommen vergleichbaren Regelungen, nach denen auch im Hinblick auf solche Schiffe und Ladungen keine Immunitätsausnahme für Ansprüche aus Anlass von Schiffszusammenstößen, von Hilfeleistungen oder von das Schiff bzw. die Ladung betreffenden Verträgen bestünde. Allerdings werden Ansprüche aus Schiffsunfällen bereits von Art. 12 UN-Übereinkommen und vertragliche Ansprüche bereits von Art. 10 UN-Übereinkommen erfasst. Inspiriert von Art. 5 Brüsseler Übereinkommen enthält Art. 16 Abs. 6 UN-Übereinkommen eine Beweisregel zugunsten des ausländischen Staates. Danach dient eine dem Gericht vorgelegte, von einem diplomatischen Vertreter oder einer anderen zuständigen Behörde dieses Staates unterzeichnete Bescheinigung als Nachweis der Zweckbestimmung des Schiffes bzw. der Ladung. Diese Regelung war von der Erwägung getragen, eine gerichtliche Untersuchung des hoheitlichen Zwecks würde einen Eingriff in die Souveränität des beklagten Staates darstellen.40 Art. 16 Abs. 5 UN-Übereinkommen stellt klar, dass ein Staat alle Rechtsbehelfe einlegen und sich auf Verjährung und Haftungsbeschränkungen berufen kann, wie dies für private Schiffe, private Ladungen sowie deren Eigentümer möglich ist. Diese an und für sich selbstverständliche Regelung findet sich bereits in Art. 4 S. 1 Brüsseler Übereinkommen. Auch wenn das UN-Übereinkommen über Staatenimmunität noch nicht in Kraft getreten ist, wirkt es sich bereits jetzt auf die Handhabung des universellen Völkergewohnheitsrechts aus, weil mit diesem weltweit die Regeln über die Staatenimmunität festgeschrieben werden sollen.41 So hat der Europäische Gerichtshof für Men39 Lengelsen, Aktuelle Probleme der Staatenimmunität im Verfahren vor den Zivil- und Verwaltungsgerichten unter besonderer Berücksichtigung des „UN-Übereinkommens über die Immunität der Staaten und ihres Vermögens von der Gerichtsbarkeit“, 2011, S. 125; ähnlich auch Guilfoyle, in: O’Keefe/Tams, The United Nations Convention on Jurisdictional Immunities of States and Their Property. A Commentary, 2013, Art. 16, S. 269. 40 Lengelsen (Fn. 39), S. 126 f. 41 IGH, I. C. J. Reports 2012, 99 (128) – Jurisdictional Immunities; Geimer (Fn. 5), Rdnrn. 571, 666; O’Keefe/Tams, in: dies. (Fn. 39), S. XLI.
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schenrechte den Inhalt der Vorschriften selbst gegenüber denjenigen Staaten für anwendbar erklärt, die das UN-Übereinkommen zwar nicht ratifiziert, ihm aber auch nicht widersprochen haben.42 Bereits die Präambel des UN-Übereinkommens klingt vielversprechend: Es will die Rechtstaatlichkeit und die Rechtssicherheit stärken sowie zur Kodifikation und Entwicklung des Völkerrechts und zur Vereinheitlichung der Praxis auf diesem Gebiet beitragen. Und wenn die Staatengemeinschaft volle Kraft voraus segelt, so besteht Hoffnung, dass spätestens 100 Jahre nach dem Inkrafttreten des Brüsseler Übereinkommens zur Spezialmaterie der Staatsschiffe das allumfassende UN-Übereinkommen in Kraft tritt.
42 EGMR, NLMR 2/2010, 101 (103) – Cudak v. Litauen; EGMR, NJOZ 2012, 1333 (1335 f.) – Sabah El Leil v. Frankreich; EGMR, Urteil v. 25. 10. 2016, Az. 45197/13, 73404/ 13 – Radunovic´ u. a. v. Montenegro; dazu näher Lorz (Fn. 6), S. 32 f.
Warenaustausch zwischen China und Deutschland Die europäische CE-Kennzeichnung und das chinesische CCC-Verfahren im Vergleich Von Madeleine Martinek I. Einleitung Die Coronakrise, die in der Elf-Millionen Metropole Wuhan in Zentralchina ihren Anfang nahm, offenbart die Anfälligkeit der deutsch-chinesischen Handelsverflechtungen. Die Volksrepublik China (China) ist Deutschlands größter Handelspartner. Nicht nur für die deutsche Automobilindustrie bildet China einen wichtigen Exportmarkt, sondern auch für die deutschen Maschinenbau-Unternehmen. Umgekehrt ist auch Deutschland Chinas größter europäischer Handelspartner. Wichtigste chinesische Importgüter sind beispielsweise Datenverarbeitungsgeräte, Computer, unterhaltungselektronische Geräte oder Speichermedien. Seit Ausbruch der Coronakrise sind nun die in China hergestellten Atemschutzmasken, insbesondere die Filtering Face Peace (FFP2)-Masken, das weltweit begehrteste Gut. Als sich die Coronakrise verschlimmerte, exportierte das Land mehrere Milliarden medizinischer Hilfsgüter. Zahlreiche dieser aus China importierten Atemschutzprodukte aber sind nicht mit den EU-Vorschriften im Einklang oder weisen falsche Zertifikate auf. Atemschutzmasken und Medizinprodukte sowie viele industrielle Erzeugnisse benötigen für die Einfuhr nach Deutschland bzw. in die Europäische Union (EU) ein sog. CE (Communauté Européenne oder auch Conformité Européenne)-Kennzeichen, welches besagt, dass das Produkt bestimmte Sicherheitsanforderungen erfüllt. Was genau steckt hinter dem CE-Kennzeichen? In welchen europarechtlichen Hintergrund ist das CE -Kennzeichen eingebettet? Ist es ein Qualitätszeichen oder eine Konformitätserklärung? Sind die Vorwürfe gegenüber chinesischen Herstellern berechtigt, sie profitierten von dem liberalen Marktzugang in die EU und führten nicht EU-konforme Masken ein? Wie sieht umgekehrt die Produktzulassung in China für deutsche Exporteure aus? Herrscht dort ein eher restriktives Marktzugangsmodell, das sich aber womöglich dem europäischen CE-Verfahren annähert? Diese für den Warenaustausch zwischen den beiden Ländern wichtigen Fragen bilden den Gegenstand des nachfolgenden Beitrags, der dem Jubilar Klaus Vieweg gewidmet ist (dem ich in meiner juristischen Ausbildung viele Hinweise, Empfehlungen und Ratschläge verdanke).
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II. Rechtlicher Hintergrund der CE-Kennzeichnung – Harmonisierung des Binnenmarkts Vor Schaffung eines einheitlichen Binnenmarkts bestanden in jedem europäischen Land unterschiedliche nationalstaatliche Anforderungen an technische Produkte, sodass ein Hersteller, wollte er eine Maschine aus Deutschland in ein europäisches Land exportieren, unterschiedliche Rechtsvorschriften zur Produktsicherheit zu beachten hatte.1 Um diesem Flickenteppich an Regelungsgefügen entgegenzuwirken und eine Harmonisierung der nationalen Rechtsvorschriften für sicherheitstechnisch besonders relevante Produktgruppen innerhalb des Europäischen Binnenmarkts zu erreichen und gleichzeitig ein hohes Sicherheitsniveau zu erhalten, führte der Rat der Europäischen Union 1985 die Neue Konzeption (New Approach) auf dem Gebiet der technischen Harmonisierung und der Normung ein.2 Nach dieser Neuen Konzeption wurden seit 1985 in EG-Richtlinien grundlegende Sicherheitsstandards für verschiedene Produktgruppen festgelegt, die den Hersteller dabei unterstützen sollten, Mindestanforderungen an Sicherheit und Gesundheitsschutz zu erfüllen. Wie der Hersteller den Anforderungen genügt, stand ihm frei. Die Neue Konzeption fand im Jahr 1989 durch das Gesamtkonzept zur Konformitätsbewertung (Global Approach) ihre Ergänzung,3 das im Beschluss vom 22. 7. 19934 umgesetzt wurde. Dieses Konzept enthält Module für die Konformitätsbewertung (je nach Gefährdungspotenzial der Produkte) sowie Regeln für die Anbringung des sog. CE-Kennzeichens. Seit 1985 sind mehr als 25 Richtlinien in Kraft getreten, die auf dem Neuen Konzept und dem Gesamtkonzept beruhen, wie z. B. Richtlinien über einfache Druckbehälter, Spielzeuge, Bauprodukte, elektromagnetische Verträglichkeit, Maschinen, auch persönliche Schutzausrüstungen oder Medizinprodukte.5 Dem CE-Kennzeichen kommt im Anwendungsbereich dieser Richtlinien eine herausragende Bedeutung zu. Es zeigt nämlich an, dass ein Produkt den grundlegenden Anforderungen der entsprechenden Richtlinien entspricht und zum Nachweis der Gesetzeskonformität ein Konformitätsbewertungsverfahren durchlaufen hat.6 Neben den oben genannten sektoralen, produktspezifischen Richtlinien sind umfassende horizontale Rahmenvorschriften notwendig, die gegenwärtige oder künftige spezielle Rechtsvorschriften vervollständigen, um ein hohes Schutzniveau für die 1
Thomas Klindt, VersR 2004, 296. Entschließung des Rates vom 7. 5. 1985 über eine neue Konzeption auf dem Gebiet der technischen Harmonisierung und der Normung (85/C 136/01). 3 Entschließung des Rates vom 21. 12. 1989 zu einem Gesamtkonzept für die Konformitätsbewertung (90/C 10/01). 4 Beschluss des Rates vom 22. 7. 1993 über die in den technischen Harmonisierungsrichtlinien zu verwendenden Module für die verschiedenen Phasen der Konformitätsbewertungsverfahren und die Regeln für die Anbringung und Verwendung der CE-Kennzeichnung (93/ 465/EWG). 5 Christian Tünnesen-Harmes, DVBl 1994, 1334, 1336. 6 Beschluss v. 22. 7. 1993 (93/465/EWG). 2
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Sicherheit und Gesundheit der Verbraucher zu gewährleisten; zu nennen ist hier die Richtlinie 2001/95/EG über die allgemeine Produktsicherheit,7 die durch das Produktsicherheitsgesetz8 von 2011 in nationales Recht umgesetzt wurde. Mit ihrem Beschluss Nr. 768/2008/EG vom 9. 7. 2008 haben das europäische Parlament und der Rat die Neue Konzeption und das Gesamtkonzept weiterentwickelt. Der so genannte Neue Rechtsrahmen (New Legislative Framework) versucht die Schwächen des Neuen Konzepts wie z. B. dessen Verwendung unterschiedlicher Definitionen für zentrale Begriffe von Hersteller, Inverkehrbringen etc. und den unterschiedlichen Vollzug der Sicherheitsanforderungen durch die einzelnen Mitgliedstaaten zu beseitigen, indem er präzisere Vorgaben für die Konformitätsbewertung, Akkreditierung und Marktüberwachung dekretiert.9 Im Mittelpunkt des Neuen Rechtsrahmens steht die Verordnung (EG) Nr. 765/2008, die für die Mitgliedstaaten und Wirtschaftsakteure (Hersteller, Händler, Importeure) unmittelbar anwendbar und verbindlich ist und die die rechtliche Grundlage für die Akkreditierung und die Marktüberwachung schafft. Darüber hinaus enthält die Verordnung auch Regelungen zu den allgemeinen Anforderungen an die CE-Kennzeichnung oder zur Kontrolle von Importprodukten an den EU-Außengrenzen. Ziel dieser Vorgaben ist es, einen freien Warenverkehr von Produkten innerhalb der EU zu ermöglichen und ein gleiches Schutzniveau für alle Bürger der EU sicherzustellen.10 Ein Leitfaden für die Umsetzung der nach dem Neuen Konzept und dem Gesamtkonzept verfassten Richtlinien ist der so genannte Blue Guide der Europäischen Kommission. III. Inhalt und Bedeutung des CE-Kennzeichens Die CE-Kennzeichnung wird häufig auch als „Reisepass“ für den europäischen Binnenmarkt bezeichnet. Denn eine Vielzahl von europäischen Richtlinien enthält das Erfordernis einer CE-Kennzeichnung für Produkte, die auf dem europäischen Markt in Verkehr gebracht werden. Auch die meisten in China hergestellten Produkte müssen eine CE-Kennzeichnung vorweisen, um in der EU verkauft werden zu können.
7 Richtlinie 2001/95/EG vom 3. 12. 2001 über die allgemeine Produktsicherheit. Die allgemeine Produktsicherheitsrichtlinie 92/59/EWG vom 29. 6. 1992 wurde zum 15. 1. 2004 aufgehoben. 8 Das Produktsicherheitsgesetz trat am 1. 12. 2011 in Kraft. Das bisherige Geräte- und Produktsicherheitsgesetz (GPSG) trat gleichzeitig außer Kraft. 9 Erwägungsgrund Nr. 1 des Beschlusses Nr. 768/2008/EG vom 9. 7. 2008. 10 Art. 1 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 765/2008; siehe auch Bundesnetzagentur, Inverkehrbringen von Produkten, https://www.bundesnetzagentur.de/DE/Sachgebiete/Telekommuni kation/Unternehmen_Institutionen/Technik/InverkehrbringenvonProdukten/inverkehrbringen vonprodukten-node.html, eingesehen am 22. 12. 2020.
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Das CE-Kennzeichen stellt kein Qualitätszeichen11 dar; es richtet sich nicht an den Endverbraucher, sondern soll die Überwachungsbehörden (Bundesnetzagentur oder auf Landesebene die Regierungspräsidien oder Gewerbeaufsichtsämter) nur über den Konformitätsnachweis unterrichten.12 Mit der CE-Kennzeichnung erklärt der Hersteller gemäß Art. 2 Nr. 20 der EU-Verordnung 765/2008, „dass das Produkt den geltenden Anforderungen genügt, die in den Harmonisierungsrechtsvorschriften der Gemeinschaft über ihre Anbringung festgelegt sind.“ Nach Art. 30 Abs. 3 der EU-Verordnung gibt der Hersteller mit der Kennzeichnung an, „dass er die Verantwortung für die Konformität des Produkts mit allen in den einschlägigen Harmonisierungsrechtsvorschriften der Gemeinschaft enthaltenen, für deren Anbringung geltenden Anforderungen übernimmt“. Damit bekennt sich der Hersteller des zugrunde liegenden Produkts gegenüber den Verkehrsteilnehmern zu seiner Verantwortung für dessen EU-Konformität und zwar zeitlich vor dessen Inverkehrbringen.13 Vor der Bereitstellung des Produkts auf dem Markt finden also keine staatlichen Produktzulassungsverfahren statt. Voraussetzung für das Inverkehrbringen eines Produkts auf dem Markt eines Staates der EU ist vielmehr allein das Anbringen des CE-Kennzeichens und das Ausstellen der Konformitätserklärung durch den Hersteller als Eigen- bzw. Selbsterklärung.14 Eine Pflicht zur Hinzuziehung einer dritten Stelle (so genannte notifizierte Stelle) ist nur bei bestimmten Risikoprodukten gemäß der Module für Konformitätsbewertungsverfahren in der einschlägigen Harmonisierungsrichtlinie vorgesehen.15 IV. Das Konformitätsbewertungsverfahren Die Verfahren zur Konformitätsbewertung sind in verschiedene Module unterteilt, die in den Anhängen der jeweiligen Richtlinien beschrieben sind. Die Anforderungen der Module erstrecken sich von einer einfachen Konformitätserklärung des Herstellers bis hin zu einem umfassenden zugelassenen (zertifizierten) Qualitätsmanagementsystem. Welches Modul jeweils einschlägig ist, hängt von der Klassifizierung des Produkts ab. Fällt ein Produkt unter das so genannte „Modul A“, ist eine bloße Eigenüberwachung des Herstellers vorgesehen. Diese ist in der Praxis der
11 Das GS-Zeichen-Zertifikat ist das wichtigste Beispiel für ein echtes Qualitätszeichen im Produktsicherungsrecht, siehe näher Carsten Schucht, NJW 2019, 1335, 1336 – 1337. 12 Christian Tünnesen-Harmes, DVBl 1994, 1339; Deutsches Institut für Normung, Normen und Recht – CE-Kennzeichnung, https://www.din.de/de/ueber-normen-und-standards/nor men-und-recht/ce-kennzeichnung-61872, eingesehen am 22. 12. 2020. 13 Blue Guide, hrsg. v. der Europäischen Kommission, 2016, Abschnitt 4.4.; Carsten Schucht, NJW 2019, 1335, 1336. 14 Carsten Schucht, NJW 2019, 1336; Carsten Schucht, BB 2015, 654, 655; Thomas Ziegler, Anmerkung zur Entsch. OLG Oldenburg, Urteil v. 4. 9. 2018 – 2 U 58/18. 15 Thomas Klindt, VersR 2004, 296, 297; Markus Winzenick, Prinzipien des Marktzugangs in verschiedenen Weltregionen, S. 6.
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meist verwendete Konformitätsnachweis.16 Erst bei Modulen mit höheren Schutzund Sicherheitsanforderungen bedarf es der Einschaltung einer dritten Stelle, die über besondere Kompetenzen für die Prüfung bestimmter Sicherheitsaspekte verfügt.17 Solche Konformitätsbewertungsstellen werden im Auftrag des Herstellers tätig und führen Konformitätsbewertungstätigkeiten einschließlich Kalibrierungen, Prüfungen, Zertifizierungen und Inspektionen durch, welche den Hersteller der betreffenden Produkte dann berechtigen, auf dem von ihm gefertigten Produkt oder der Verpackung eine CE-Kennzeichnung anzubringen.18 Die Mitgliedstaaten benennen ihre den europäischen Anforderungen entsprechenden Konformitätsstellen und machen der Kommission und den übrigen Mitgliedstaaten hiervon Mitteilung.19 Die notifizierten Stellen erhalten mit der Benennung eine Kennnummer und sind in der NANDO-Datenbank20 gelistet. Zwischen den Konformitätsbewertungsstellen und den einzelnen Wirtschaftsakteuren werden privatrechtliche Werkverträge über die Zertifizierung von Produkten geschlossen.21 Es handelt sich bei den Konformitätsstellen daher nicht um hoheitlich tätige Beliehene. Der Hersteller gibt aber auch bei einem je nach Risiko des Produkts erforderlichen Konformitätsbewertungsverfahrens durch eine neutrale notifizierte Stelle eine eigene Konformitätserklärung ab. Er selbst ist also auch hier für die Einhaltung der richtlinienbezogenen Sicherheitsanforderungen zuständig und verantwortlich. Das CEKennzeichen ist damit grundsätzlich nicht an ein staatliches Produktzulassungsverfahren oder eine behördliche Abnahme geknüpft. Die Rolle des Staates beschränkt sich auf die Marktüberwachung.22 Dieses eher liberale Verfahren der Konformitätserklärung in Herstellerverantwortung ermöglicht eine unbürokratische, schnelle Markteinführung der Produkte.23
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Thomas Klindt, VersR 2004, 296, 297. Zu den Akkreditierungsstellen siehe näher Arun Kapoor/Thomas Klindt, EuZW 2009, 134, 135. 18 Vgl. Art. 2 Nr. 17 ProdSG; hierzu auch Markus Hofmann, Anmerkung zur Entsch. OLG Zweibrücken 4. Zivilsenat, Urteil vom 30. 01. 2014 – 4 U 66/13. 19 Art. R13 des Beschlusses Nr. 768/2008/EG vom 9. 7. 2008. 20 Das offizielle Register der benannten Stellen (New Approach Notified and Designated Organisations [NANDO]) findet sich unter https://ec.europa.eu/growth/tools-databases/nando/ index.cfm?fuseaction=notifiedbody.main. 21 Vgl. BGH, NVwZ 2011, 556, 558 in Bezug auf die Zuerkennung des GS-Zeichens; teilweise wird die Auffassung vertreten, dass es sich um einen Werkvertrag mit dienstvertraglichen Elementen handelt, so OLG München, NJOZ 2010, 2609. 22 Carsten Schucht, BB 2015, 654, 655. 23 Markus Winzenick (Fn. 15), S. 7. 17
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V. Der Import von Atemschutzmasken aus China 1. Verstöße gegen CE-Kennzeichnungspflicht Von diesem liberalen Marktzugang in die EU profitieren alle Drittland-Hersteller. Auch Hersteller in China, die partikelfiltrierende Halbmasken, also die eingangs erwähnten FFP2-Atemschutzmasken für den europäischen Markt produzieren und in die EU einführen wollen, müssen gem. Art. 19 der europäischen Verordnung (EU 2016/425) über persönliche Schutzausrüstung (PSA-Verordnung) ein Konformitätsbewertungsverfahren durchlaufen. Ein solches unterliegt, da diese Masken zur Kategorie III des Anhangs 1 der Verordnung (und damit nicht mehr zum Modul A) zählen, nicht der bloßen Selbsterklärung des Herstellers, sondern einer zugelassenen Prüfstelle. Dieses Erfordernis wird in der Praxis allerdings oft missachtet.24 Es kommt offenbar nicht selten vor, dass chinesische Hersteller CE-Kennzeichen ohne jede Inanspruchnahme einer notifizierten Stelle selbst fälschen oder auf unzuständige Stellen ausweichen, um sich die Zertifizierung zu erschleichen. So mögen sie sich etwa im Fall von partikelfilternden Halbmasken um ein Certificate of Compliance der italienischen Prüfstelle Ente Certificazione Macchine (ECM) bemühen, die nach der NANDO-Liste hierfür – streng genommen – nicht zuständig ist.25 Denn die ECM ist zwar eine notifizierte Stelle, die für die Konformitätsbewertung von Medizinprodukten i. S. d. der Medizinprodukte-Richtlinie (EU 2017/745), aber gerade nicht für die Überprüfung persönlicher Schutzausrüstung zugelassen ist. Mit diesen „Zertifikaten“ wird vorgegeben, die benannten Produkte stünden in Übereinstimmung mit der europäischen PSA-Verordnung und seien auf dem rechtlich dafür vorgesehenen Weg für konform erklärt worden. Diese tatsächlich nicht mit den EU-Vorschriften konformen Atemmasken werden dann auf dem europäischen Markt vertrieben. 2. Neue chinesische Exportanforderungen für nicht-medizinische Masken Auf diese Rechts- und Sachlage hat China prompt reagiert. Am 26. 4. 2020 haben das chinesische Handelsministerium, die Allgemeine Zollverwaltung und die staatliche Marktregulierungsbehörde die Bekanntmachung Nr. 12 über die weitere Stärkung der Qualitätskontrolle beim Export von Materialien zur Prävention der Epidemie veröffentlicht.26 Diese Bekanntmachung sieht vor, dass Masken für nichtmedi-
24 Näheres siehe European Safety Federation, Covid 19 – Suspicious certificates for PPE, https://www.eu-esf.org/covid-19/4513-covid-19-suspicious-certificates-for-ppe, eingesehen am 22. 12. 2020. 25 Ebda. 26 Die Bekanntmachung ist (auf Chinesisch) auf der Website des chinesischen Handelsministeriums veröffentlicht, siehe http://www.mofcom.gov.cn/article/ae/ai/202004/20200402958970. shtml, eingesehen am 22. 12. 2020.
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zinische Zwecke entweder den Qualitätsstandards Chinas (z. B. GB27 2626-2006 oder anderen anwendbaren Standards für Masken für den zivilen Gebrauch) oder eines anderen Landes entsprechen müssen. Chinesische Hersteller, die einen Nachweis der Konformität mit den Standards ausländischer Märkte (wie z. B. CE-Kennzeichen) erbracht haben, müssen in eine Liste der für den Export zugelassenen Hersteller aufgenommen werden, die von der chinesischen Handelskammer für Im- und Export von Arzneimitteln und Gesundheitsprodukten herausgegeben wird. Anhand dieser Liste überprüft und inspiziert der örtliche Zoll bei der Zollanmeldung die exportierten Produkte, bevor sie zur Ausfuhr freigegeben werden. Darüber hinaus muss für die Ausfuhr von Masken für nichtmedizinische Zwecke eine gemeinsame Erklärung des Exporteurs und des Importeurs gemäß der Bekanntmachung Nr. 12 vorgelegt werden. In der gemeinsamen Erklärung bestätigen der Exporteur und der Importeur, dass die exportierten Produkte den Qualitätsstandards Chinas oder des Auslands entsprechen. VI. Der Export deutscher Produkte nach China 1. Das CCC-Verfahren Wie sieht die Sach- und Rechtslage für deutsche Exporteure in China aus? Mit dem Beitritt zur WTO 2001 hat China weitgehende Verpflichtungen zur Marktöffnung übernommen. Zwar wurden seither schon einige Fortschritte erzielt, allerdings ist das Ziel des „diskriminierungsfreien Marktzugangs“ noch nicht erreicht.28 Dies zeigt sich vor allem bei der Einfuhr von Waren aus Deutschland, die, um Sicherheitserfordernissen zu genügen, umfangreiche Zertifizierungsanforderungen erfüllen müssen. Eine Maschine mit CE-Kennzeichen entspricht keineswegs automatisch auch den Anforderungen des chinesischen Marktordnungsrechts. Vielmehr muss der europäische Exporteur mit den chinesischen Vorschriften der Produktzulassung, dem China Compulsory Certificate-Verfahren (CCC), vertraut sein. Das CCC wurde im Jahr 2002 durch die von der Allgemeinen Verwaltung für Qualitätsüberwachung, Inspektion und Quarantäne (General Administration of Quality Supervision, Inspection and Quarantine of the People’s Republic of China [AQSIQ]29) erlassenen Regelungen über die obligatorische Produktzertifizierung30 eingeführt. Mit dem CCC 27 Der GB Standard steht für „Nationaler Standard“ und stellt den lokalen chinesischen Standard dar, der die Grundlage für Produkttests bildet. 28 China – Wirtschaftliche Beziehungen, https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Artikel/Aus senwirtschaft/laendervermerk-china.html, eingesehen am 22. 12. 2020. 29 Die Ende März 2018 gegründete State Administration for Market Regulation (staatliche Marktregulierungsbehörde) vereint die bisher für verschiedene Bereiche der Marktaufsicht zuständigen Behörden, darunter die AQSIQ. 30 Regulation concerning Management of Compulsive Product Certification von 2002. Diese Regelungen sind ersetzt worden durch die Provisions on the Administration of Compulsory Product Certification von 2009.
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müssen bestimmte Produktgruppen zertifiziert werden, damit sie nach China exportiert werden können. Das CCC gilt auch für inländische, innerchinesische Produkte. Das CCC-Verfahren erweist sich im Vergleich zum CE-Verfahren als aufwendiger: Nach Einreichung umfangreicher Antragsdokumente bei den chinesischen Behörden werden Produkttests in einem chinesischen Testlabor und Audits des Werkes, in dem die Gesamtproduktion gefertigt wird, durchgeführt. Die chinesische Zertifizierungsbehörde in Zusammenarbeit mit der AQSIQ (die seit Ende März 2018 in die staatliche Marktregulierungsbehörde integriert ist) ist zuständig für die Organisation und Abwicklung des gesamten CCC-Zertifizierungssystems.31 Für den eigentlichen Zertifizierungsprozess hat die chinesische Zertifizierungsbehörde bestimmte Zertifizierungslabore akkreditiert, wie z. B. das China Quality Certification Center (CQC) oder das Certification Centre for Automotive Products (CCAP). Im Gegensatz zur CE-Kennzeichnung, die nicht erlischt, sofern das Produkt selbst nicht geändert wird, ist das CCC seit dem 1. 9. 2009 auf fünf Jahre befristet und muss danach erneuert werden.32 2. Wegfall der CCC-Pflicht für bestimmte Produkte und System der Hersteller-Selbsterklärung Die letzten Neuerungen in der chinesischen Produktzertifizierung deuten für bestimmte Produktarten allerdings auf eine Lockerung des eher rigiden und umständlichen CCC-Verfahrens hin. Am 16. 10. 2019 hat die staatliche Marktregulierungsbehörde eine Bekanntmachung veröffentlicht33, wonach bestimmte Produkte34 wie etwa Innenverkleidungsbauteile, Schlösser oder Schweißgeräte keine verpflichtende CCC-Zertifizierung mehr benötigen. Diese Produktgruppen können eine freiwillige Zertifizierung durch die CQC oder die CCAP erhalten. Diese freiwilligen Zertifizierungen stellen sicher, dass die Produkte laufend konform zu den chinesischen Regularien, also den GB-Standards sind.35 Der Prozess der CCAP-/CQC-Zertifizierung ähnelt dem der CCC-Zertifizierung.
31 Art. 3 der Provisions on the Administration of Compulsory Product Certification von 2009. 32 Art. 22 der Provisions on the Administration of Compulsory Product Certification von 2009. 33 Sog. Bekanntmachung 44/2019: Bekanntmachung der Allgemeinen Marktregulierungsbehörde zur Anpassung und Verbesserung der obligatorischen Produktzertifizierung und Umsetzung der Anforderungen der Ankündigung, http://gkml.samr.gov.cn/nsjg/rzjgs/201910/ t20191017_307433.html, eingesehen am 22. 12. 2020. 34 Eine Liste der Produkte (Annex 1 der Bekanntmachung 44/2019) findet sich bei Julian Busch, China Certification Authority CNCA Announces Important Changes to CCC Regulations, v. 30. 11. 2019, https://incompliancemag.com/article/china-certification-authority-cncaannounces-important-changes-to-ccc-regulations/, eingesehen am 22. 12. 2020. 35 Siehe auch Julian Busch (Fn. 34), eingesehen am 22. 12. 2020.
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Seit 1. 1. 2020 ist für bestimmte Produkte36, wie z. B. Sicherheitsgurte, Kopfstützen, Leuchten oder Sicherheitsglas, eine so genannte CCC-Selbsterklärung (Hersteller-Selbsterklärung)37 als das einzige verfügbare Zulassungsverfahren vorgesehen.38 Bis zum 31. 10. 2020 mussten alle CCC-Zertifikate der betroffenen Produktkategorien auf die CCC-Selbsterklärung umgestellt werden. Die betroffenen Produkte werden danach nicht mehr von einer dritten Partei zertifiziert, vielmehr erklärt der Hersteller selbst, dass die von ihm hergestellten Produkte den GB-Standards entsprechen und die Produktkonformität mit den chinesischen Regularien eingehalten wird. Das Vorbild unseres vereinfachten CE-Verfahrens nach dem Modul A ist hierbei unübersehbar. Dieses System der Hersteller-Selbsterklärung mag zwar eine zügigere Markteinführung und Kosteneinsparung gegenüber dem umfangreichen CCC-Zulassungsverfahren mit sich bringen, zumal keine Werksinspektionen erforderlich sind. Gleichzeitig geht damit aber auch ein erhöhtes Risiko einher: Der Hersteller steht nun, da er selbst die Konformität zu den chinesischen Standards sicherstellen muss, stärker in der Verantwortung. Er selbst bzw. der Antragssteller, der eine chinesische Tochtergesellschaft oder ein Händler/Importeur sein muss, „haftet“ für Produktqualität und -sicherheit.39 Änderungen an Produkten oder im Produktionsprozess, die nicht an die chinesische Zertifizierungsbehörde gemeldet werden, können Sanktionen und die Aberkennung des Zertifikats zur Folge haben.40 Zahlreiche deutsche Unternehmen, die in China durch Repräsentanzen wie Tochtergesellschaften oder Agenten vertreten sind, beklagen sich über Schwierigkeiten, eine verantwortliche Person in China zu bestimmen, die eine derart umfassende Verantwortlichkeit und Haftung für Produktqualität und -sicherheit zu übernehmen bereit ist, sodass gerade kleine und mittlere Unternehmen dem System der Hersteller-Selbsterklärung mit Zurückhaltung begegnen.41 Ungeachtet solcher Schwierigkeiten, die vielleicht nur Übergangsprobleme bilden, lässt sich aber sagen: Das neu eingeführte und für bestimmte Produkte aus36 Die Liste der Produkte (Annex 2 der Bekanntmachung 44/2019) findet sich bei Julian Busch, (Fn. 34), eingesehen am 22. 12. 2020. 37 Am 25. 12. 2019 veröffentlichte die chinesische Zertifizierungsbehörde, nämlich die Certification and Accreditation Administration of the People’s Republic of China (CNCA) die neuen Durchführungsbestimmungen für die CCC-Selbsterklärung (CCC Self-Declaration) mit der Nummer CNCA-00C-008:2019. 38 Bekanntmachung 44/2019: Bekanntmachung der Allgemeinen Marktregulierungsbehörde zur Anpassung und Verbesserung der obligatorischen Produktzertifizierung und Umsetzung der Anforderungen der Ankündigung, http://gkml.samr.gov.cn/nsjg/rzjgs/201910/ t20191017_307433.html, eingesehen am 22. 12. 2020. 39 Art. 2.2 der Durchführungsbestimmungen CNCA-00C-008:2019. 40 So Julian Busch, Wegfall der CCC-Pflicht für bestimmte Produkte und Implementierung der CCC Self-Declaration für weitere Produkte, https://www.china-certification.com/wegfallder-ccc-pflicht-fur-bestimmte-produkte-und-implementierung-der-ccc-self-declaration-fur-wei tere-produkte-a-4737/, eingesehen am 22. 12. 2020. 41 Zu diesem Schluss kommt auch Anne Wauben, Produktzulassung in China: Vom rigiden CCC-Verfahren zum europäischen System?, in: Außenwirtschaft aktuell 01 – 02/2020, S. 3.
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schließlich geltende System der „Self-Declaration“, das – ähnlich wie bei der europäischen CE-Kennzeichnung – mit einer hohen Verantwortung des Herstellers einhergeht, bedeutet eine Lockerung des rigiden, restriktiven CCC-Verfahrens. Verwaltungskosten und Bürokratie werden reduziert, was einen schnelleren Markteintritt ermöglicht. Auch die bisher eher schwach ausgeprägte Marktüberwachung spielt bei der Hersteller-Selbsterklärung eine größere Rolle. Letztlich jedoch profitieren – jedenfalls derzeit – von der Reform die Hersteller in China und weniger die Exporteure aus dem Ausland, da an die Beantragung der Selbsterklärung für ausländische Hersteller doch verschiedene Hürden geknüpft sind.42 VII. Fazit und Ausblick In der EU und China herrschen unterschiedliche Marktzugangsmodelle. In der EU besteht ein eher liberaler Marktzugang für Drittland-Hersteller, verbunden mit einer hohen Eigenverantwortung des Herstellers, der mit dem Anbringen der CE-Kennzeichnung die Konformität des Produkts mit den einschlägigen Normen erklärt. Das recht unbürokratische und flexible Verfahren begünstigt tendenziell DrittlandHersteller und erscheint missbrauchsanfällig. In der Coronakrise haben nicht korrekt zertifizierte FFP2-Atemschutzmasken aus China den europäischen Markt überschwemmt. Dem versucht die chinesische Regierung ihrerseits, durch vorgezogene Exportinspektionen und neue Exportanforderungen entgegenzuwirken. In China sind für Unternehmen aus dem Ausland technische Marktzutrittsbeschränkungen durch das aufwendige Produktzulassungsverfahren festzustellen, weil das sog. CCC mit umfangreichen Antragsdokumenten, Tests in chinesischen Laboren und Werksinspektionen durch chinesische Auditoren einhergeht. Die chinesische Regierung ist auch hier nicht untätig geblieben, sondern treibt Reformen in der Produktzertifizierung für den chinesischen Markt stetig voran. So wurden zahlreiche Produkte von der Pflichtzertifizierung befreit. Für bestimmte Produkte gilt nun die „Selbsterklärung“ als einziges Zulassungsverfahren. Zwar erinnert das Zertifizierungssystem an die europäische CE-Kennzeichnung, insofern die Hersteller nunmehr eine höhere Produktverantwortung übernehmen und der Fokus auf der Marktüberwachung liegt. Indes ist das System der Self-Declaration für ausländische Exporteure an hohe Voraussetzungen geknüpft, sodass die Annäherung an das europäische System des CE-Kennzeichens letztlich der Produktion des eigenen Landes zugutekommt. Natürlich bilden sämtliche Zertifizierungsverfahren aus der Sicht eines globalisierten Freihandels nicht-tarifäre Handelshemmnisse und sollten im Sinne der WTO-Prinzipien so weit wie möglich harmonisiert werden, doch stoßen solche Bestrebungen ungeachtet respektabler Teilerfolge immer noch an protektionistische Interessengegensätze.
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Vorschlag zur teleologischen Reduktion des Restschadensersatzanspruchs nach § 852 S. 1 BGB Von Michael Martinek I. Einleitung Unser verehrter Jubilar Klaus Vieweg kommentiert im berühmten StaudingerGroßkommentar zum BGB den sogenannten Restschadensersatzanspruch des § 852 BGB, der trotz vieler Klärungen in den vergangenen Jahrzehnten immer noch Zweifelsfragen aufwirft und in den eher seltenen Fällen seiner Einschlägigkeit den Rechtsanwender manchmal ratlos oder jedenfalls unzufrieden lassen kann, weil er doch „recht weit“ geht, wenn er auf einen verjährten Deliktsanspruch sozusagen noch einen Bereicherungsanspruch „draufsattelt“. Hier kann womöglich ein Vorschlag zur teleologischen Reduktion der Norm helfen, der im Folgenden entfaltet und begründet werden soll, um die Diskussion zu bereichern und unserem Jubilar Klaus Vieweg vielleicht eine Anregung für die nächste Bearbeitung seiner Kommentierung zu geben. Die Vorschrift des § 852 S. 1 BGB gehört nicht zu den (vielen) BGB-Regelungen, die jeder Professor gleich auswendig parat hat. Sie hat in der seit der Schuldrechtsreform von 2002 geltenden Fassung, die der früher (seit Inkrafttreten des BGB) geltenden Ursprungsfassung § 852 Abs. 2 BGB a. F. und der später (ab 1977) gleichlautend geltenden Fassung § 852 Abs. 3 BGB a. F. inhaltlich (nur leicht redaktionell verändert) entspricht, heute unter der amtlichen Überschrift „Herausgabeanspruch nach Eintritt der Verjährung“ folgenden Wortlaut: „1Hat der Ersatzpflichtige durch eine unerlaubte Handlung auf Kosten des Verletzten etwas erlangt, so ist er auch nach Eintritt der Verjährung des Anspruchs auf Ersatz des aus einer unerlaubten Handlung entstandenen Schadens zur Herausgabe nach den Vorschriften über die Herausgabe einer ungerechtfertigten Bereicherung verpflichtet.“
In § 852 S. 2 BGB heißt es weiter: „2Dieser Anspruch verjährt in zehn Jahren von seiner Entstehung an, ohne Rücksicht auf die Entstehung in 30 Jahren von der Begehung der Verletzungshandlung oder dem sonstigen, den Schaden auslösenden Ereignis an.“
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II. Normstruktur und heutiges Normverständnis 1. Wortlaut und früherer Theorienstreit (Rechtsgrund- oder Rechtsfolgeverweisung) Der seit Inkrafttreten des BGB im Kern unveränderte Wortlaut der Regelung des heutigen § 852 S. 1 BGB sieht normstrukturell als tatbestandliche Voraussetzungen vor, dass eine unerlaubte Handlung zu einer Schadensersatzpflicht geführt hat, dass der Schadensersatzanspruch verjährt ist und dass der Ersatzpflichtige durch die unerlaubte Handlung auf Kosten des Verletzten etwas erlangt hat. An diese Voraussetzungen knüpft die Norm ihrem Wortlaut nach die Rechtsfolge einer Pflicht (des Ersatzpflichtigen) zur Herausgabe des „erlangten Etwas“ (an den Verletzten) nach den Vorschriften über die Herausgabe einer ungerechtfertigten Bereicherung. Dieser Normtext kann manchen Rechtsanwender wohl verwirren und bleibt – mit Verlaub! – hinter den Idealen der hohen Gesetzgebungskunst deutlich zurück – und blieb es schon vor der Schuldrechtsreform. Unklar ist nach diesem Wortlaut, ob der hier geregelte Anspruch (der Satz 2 der Vorschrift beginnt mit „Dieser Anspruch“!) ein Schadensersatzanspruch oder ein Bereicherungsanspruch ist, was freilich zunächst nur ein systematisch-dogmatisches Einordnungsproblem begründet. Man kann zur Annahme einer „hybriden“ Rechtsnatur neigen, weil sich in den Tatbestandsvoraussetzungen deliktsrechtliche (unerlaubte Handlung) und kondiktionsrechtliche (auf Kosten des Verletzten etwas erlangt) Gesichtspunkte verbinden. Dies erklärt die bis heute in Literatur und Rechtsprechung anzutreffende Redeweise – in einem Atemzug – vom „bereicherungsrechtlichen Schadensersatzanspruch“ oder vom „deliktsrechtlichen Bereicherungsanspruch“.1 Aber kann und darf es zwischen Delikts- und Kondiktionsrecht einen Hybriden geben? Es verwundert deshalb nicht, dass in Literatur und Rechtsprechung jahrzehntelang ein Theorienstreit unter der Überschrift „Rechtsgrundverweisung oder Rechtsfolgeverweisung“ getobt hat.2 Die Theorie der Rechtsgrundverweisung, gelegentlich auch „Klarstellungstheorie“ genannt3, die bis weit nach dem 2. Weltkrieg von höchst angesehenen Repräsentanten unserer Zivilrechtswissenschaft vertreten wurde, knüpfte daran an, dass die Regelung unseres heutigen § 852 S. 1 BGB vom Gesetzgeber als ein Substitut für die nicht in das Bereicherungsrecht übernommene gemeinrechtliche condictio ex iniusta causa geschaffen worden war, um eine tatbestandlich eigenständige Bereicherungshaftung des Deliktstäters auch nach der Verjährung des
1 In den Kommentierungen zu § 852 BGB und bei der Mehrzahl des sonstigen Schrifttums herrscht bis heute terminologische Verwirrung; man weiß den Anspruch offenbar nicht recht zwischen Delikts- und Kondiktionsrecht zu platzieren. 2 Vgl. Seifert, NJW 1972, 1739: „Es ist der Wortlaut der Bestimmung, der die Verwirrung stiftet, denn im ,besonderen Sprachgebrauch‘ des BGB kann eine Verpflichtung zur Herausgabe nach den Vorschriften über die Herausgabe einer ungerechtfertigten Bereicherung sowohl eine Rechtsgrund- wie eine Rechtsfolgeverweisung bedeuten.“ 3 Seifert, NJW 1972, 1739.
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deliktischen Schadensersatzanspruchs zu sichern.4 Nach dieser früheren Theorie der Rechtsgrundverweisung enthielt die Vorgängervorschrift des § 852 S. 1 BGB die Anerkennung eines Bereicherungsanspruchs aus unerlaubter Handlung. Damit solle verhindert werden, dass die Beschränkung der Eingriffskondiktion aus § 812 Abs. 1 Satz 1, 2. Fall BGB auf Eingriffe in Rechte mit Zuweisungsgehalt unterlaufen werde, sind doch weder die durch § 823 Abs. 1 BGB geschützten Rechte noch die durch die §§ 823 Abs. 2, 824, 826 BGB geschützten Interessen sämtlich Rechte mit Zuweisungsgehalt.5 Nach dieser Sichtweise trat bei § 852 S. 1 BGB (bzw. seinen damaligen Vorgängervorschriften) an die Stelle des Deliktsanspruchs ein Bereicherungsanspruch, und es kam nicht mehr auf einen Schaden des Verletzten, sondern nur noch auf die Bereicherung des Verletzers an. Es versteht sich, dass diese Sichtweise zu einer Entkoppelung des Bereicherungsanspruchs aus § 852 BGB vom Deliktsrecht führte, so dass auch eine den Schaden übertreffende Bereicherung abgeschöpft werden konnte. Die Theorie der Rechtsfolgeverweisung, gelegentlich auch „Beschränkungstheorie“ genannt6, nimmt demgegenüber an, dass der Anspruch aus § 852 S. 1 BGB den ursprünglichen Schadensersatzanspruch in verkürzter Form fortsetzt, also einen Schaden voraussetzt und den Ersatz nunmehr auf den Umfang einer Bereicherung begrenzt. Sie kann heute die „Alleinherrschaft“ reklamieren. 2. Das heutige Normverständnis des § 852 S. 1 BGB Die heute in Literatur und Rechtsprechung alleinherrschende Sicht bekennt sich in der Tat mit Eindeutigkeit dazu, dass § 852 S. 1 BGB eine Rechtsfolgeverweisung darstellt. Maßgebend ist hierfür eine Passage aus dem sogenannten Fahrradgepäckträger-II-Urteil des BGH aus dem Jahr 1978, in dem sich der 10. Zivilsenat (im Anschluss an seine sogenannte Kunststoffhohlprofil-I-Entscheidung von 19767) zum damaligen § 852 Abs. 3 BGB (dem heutigen § 852 S. 1 BGB) ausführlich hat vernehmen lassen.8 Danach lässt sich das heute herrschende Normverständnis des § 852 S. 1 BGB letztlich in nur einem Satz zusammenfassen: Der Anspruch aus § 852 S. 1 BGB setzt den verjährten Deliktsanspruch fort und beschränkt ihn in seinem Umfang auf 4 Vgl. dazu Münchener Kommentar (BGB)-Wagner, 8. Aufl. 2018, Rn. 1 zu § 852 unter Hinweis auf Mot. II, 742 und 852 sowie auf die Darstellung der Entstehungsgeschichte bei König, in: BJM (Hrsg.), Gutachten und Vorschläge zur Überarbeitung des Schuldrechts, Bd. II, 1981, S. 1515, 1557. 5 Vgl. insbes. v. Caemmerer, FS Rabel Bd. I, 1954, S. 333, 396. Gegen die Theorie der Rechtsgrundverweisung Reuter, in: Reuter/Martinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, Teilb. 2, 2016, S. 595; ebenso schon in der Vorauflage von 1983, S. 739. 6 Seifert, NJW 1972, 1739. 7 BGH, Urt. v. 30. 11. 1976 – X ZR 81/72 –, juris = BGHZ 68, 90 ff. = NJE 1977, 1194. 8 BGH, Urt. v. 14. 02. 1978 – X ZR 19/76 –, juris, Rn. 61 und 62 = BGHZ 71, 86 – 101 = NJW 1978, 1377 – 1380; vgl. dazu Horn, GRUR 1978, 496 – 498 (Anmerkung); Hülsewig, GRUR 2011, 673 – 678 (Aufsatz); Hülsewig, GRURPrax 2019, 369 – 370 (Aufsatz); Gansweid, JA 1978, 641 – 643 (Entscheidungsbesprechung); Bruchhausen, LM Nr 11 zu § 823 (Ag) BGB (Anmerkung).
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eine bereicherungsfolgenrechtliche Herausgabe der durch die unerlaubte Handlung des Schädigers vom Geschädigten erlangte Vermögensmehrung, ohne dass es für die Gewinnabschöpfung beim Schädiger und für die Begünstigung des Geschädigten auf eine Unmittelbarkeit der Vermögensverschiebung oder sonstige Voraussetzungen eines Bereicherungsanspruchs ankommt. Mit seiner in der anschließenden Rechtsprechung, aber auch in der Kommentar-, Lehrbuch- und Aufsatzliteratur immer wieder zustimmend zitierten und beinahe endlos paraphrasierten Entscheidung hat der BGH der Qualifikation des § 852 S. 1 BGB als Rechtsfolgeverweisung zum bis heute nachhaltigen Durchbruch verholfen.9 Namentlich der Gesetzgeber des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes hat sich diesen Standpunkt zu eigen gemacht10, womit die Lehre von der Rechtsgrundverweisung „endgültig obsolet“ geworden sein dürfte.11 In der Tat wird die frühere Theorie der Rechtsgrundverweisung heute praktisch kaum mehr vertreten12, zumal ihr Dieter Reuter schon im Jahre 198313 und sodann nochmals 201614 ein „Missverständnis der früheren Rechtsprechung“ vorgeworfen hat. 3. Verbleibende Zweifelsfragen Um es klar zu sagen: Ganz und gar befriedigend ist diese „gesicherte Rechtslage“ nicht; es bleibt zumindest Erläuterungsbedarf. Dies beginnt bereits damit, dass der BGH in seinem Leiturteil in einem Atemzug von einem „Bereicherungsanspruch“ spricht, der die „Rechtsnatur als Schadensersatzanspruch (behält)“. Man kann diesen „Widerspruch“ aber im Kontext der Entscheidung wohl teilweise dahingehend auflösen oder abmildern, dass der ursprüngliche Schadensersatzanspruch (der ja ohnehin nach der Einrede der Verjährung als Naturalobligation bestehen bleibt) zwar fortbesteht, sich aber in neugefasster Form im Haftungsumfang nunmehr nach Bereicherungsgrundsätzen bemisst. Damit wechselt die Rechtsfolge des Schadensersatzanspruchs von den §§ 249 ff. BGB zu den §§ 818 f. BGB. Mit anderen Worten: der Schadensersatzanspruch setzt sich – durch den Eintritt der Verjährung gleichsam „prismatisch gebrochen“ – im Bereicherungsumfang fort: Für den Ausgleich des Schadens haftet der Schädiger dem Geschädigten nicht mehr mit seinem gesamten Vermögen, doch muss er immerhin und wenigstens noch die durch die unerlaubte
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Vgl. z. B. Rüßmann, in: Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger (Hrsg.), juris PK(BGB), 8. Aufl. 2020, Rn. 5 zu § 852; Spindler, in: Bamberger/Roth/Hau/Poseck, Beck OK BGB, 2020, Rn. 2 zu § 852; Münchener Kommentar (BGB)-Wagner, 8. Aufl. 2018, Rn. 2 zu § 852; Staudinger-Vieweg, 2015, Rn. 2 ff. zu § 852, jeweils m. w. N. 10 BT-Drucks. 14/640, 270 unter Hinweis auf BGHZ 71, 86 ff (96). 11 So Ebert, NJW 2003, 3035, 3037. 12 Zuletzt vielleicht noch von Kraßer, Patentrecht, 6. Aufl. 2009, S. 873 f.; dagegen Hülsewig, GRUR 2011, 673 ff. 13 Reuter, in: Reuter/Martinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, 1. Aufl. 1983, S. 739 f. 14 Reuter, in: Reuter/Martinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, Teilband. 2, 2. Aufl. 2016, S. 594 f.
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Handlung erlangten Vorteile herausgeben. So erklärt sich auch die häufige Rede von § 852 S. 1 BGB als einem „Restschadensersatzanspruch“.15 Störend bleibt allerdings, dass § 852 S. 1 BGB nicht „nahtlos“ an den deliktischen Schadensersatzanspruch anknüpft, sondern eine zusätzliche tatbestandliche Voraussetzung für die Herausgabepflicht aufstellt, nämlich dass der Geschädigte durch die unerlaubte Handlung überhaupt eine (abschöpfbare) Vermögensmehrung erfahren hat – was ja keineswegs schon „automatisch“ durch jede unerlaubte Handlung geschieht. Damit aber enthält § 852 S. 1 BGB, streng genommen, nicht nur auf der Rechtsfolgenseite des Bereicherungsumfangs, sondern schon auf der Tatbestandsseite eine genuin bereicherungsrechtliche, zusätzlich zu prüfende Voraussetzung: der Schädiger muss „etwas erlangt“ haben. Kurz: der Regelung des § 852 S. 1 BGB haftet wohl nach wie vor, auch auf der inzwischen gesicherten Rechtsgrundlage der Theorie der Rechtsfolgeverweisung eine hybride Rechtsnatur zwischen Schadensersatz- und Bereicherungsanspruch an, so dass die häufige aporetische Redeweise vom „deliktischen Bereicherungsanspruch“ oder vom „bereicherungsrechtlichen Schadensersatzanspruch“ verständlich ist. Diese Unschärfe wird in Kauf genommen und letztlich damit bewältigt, dass das „erlangte Etwas“ in den Bereicherungsumfang verschoben wird; es wird nicht als tatbestandliche Voraussetzung des Anspruchs nach § 852 S. 1 BGB behandelt – nur wenn der Schädiger auch etwas erlangt hat, muss er es nach Bereicherungsrecht herausgeben –, sondern das „erlangte Etwas“ wird der Rechtsfolge der Herausgabepflicht nach bereicherungsrechtlichem Umfang zugeschlagen – der Schädiger muss nach §§ 818 f. BGB das erlangte Etwas herausgeben. So verfährt nicht nur die vorstehend zitierte einhellige Meinung, sondern auch die genannte Rechtsprechung. Damit lässt sich das Normstrukturverständnis „retten“, wonach § 852 S. 1 BGB im Ausgangspunkt nach seinen tatbestandlichen Voraussetzungen weiterhin ein Deliktsanspruch ist, sich auf der Rechtsfolgeseite aber im Haftungsumfang nunmehr nach Kondiktionsrecht richtet. Als dogmatisch „unsauber“ kann man es zudem ansehen, dass die herrschende Sichtweise das im Wortlaut des § 852 S. 1 BGB ausdrücklich enthaltende Merkmal „auf Kosten“, ein ebenfalls genuin bereicherungsrechtliches Tatbestandsmerkmal (§ 812 Abs. 1 S. 1 BGB), zum Verschwinden bringt. Hier wird man sich damit trösten müssen, dass selbst in der modernen bereicherungsrechtlichen Dogmatik das Merkmal „auf Kosten“ bedeutungslos geworden ist: Im Bereich der Leistungskondiktion wird es durch den sogenannten finalen Leistungsbegriff absorbiert; im Bereich der Eingriffskondiktion ist es nach der Lehre vom Zuweisungsgehalt im Eingriff enthalten. Indes muss man bei § 852 S. 1 BGB klar erkennen, dass mit dem eskamotierten Merkmal „auf Kosten“ zugleich auf eine Unmittelbarkeit der Vermögensverschiebung verzichtet wird und dies ohne Kompensation durch den Leistungsbegriff oder die Lehre vom Zuweisungsgehalt. Der BGH sieht in seiner Leitentscheidung 15 Vgl. insbes. Ebert, NJW 1973, 3035 ff.; vgl. auch Münchener Kommentar (BGB)-Wagner, 8. Aufl. 2018, Rn. 2 zu § 852; Larenz/Canaris, Schuldrecht BT Bd. 2, 13. Aufl. 1994, S. 595.
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expressis verbis von jedem Erfordernis einer Unmittelbarkeit der Vermögensverschiebung ab; es komme „nicht darauf an, auf welchem Weg sich die (durch die unerlaubte Handlung) veranlasste Vermögensverschiebung vollzogen hat“16; dem folgt die herrschende Meinung offenbar bedenkenlos. Der BGH-Entscheidung lässt sich entnehmen, dass der Senat das Merkmal „auf Kosten“ und damit jedes Unmittelbarkeitserfordernis allein aufgrund der Beteiligung an der unerlaubten Handlung für entbehrlich hält: der Empfänger habe „in jedem Falle für die Bereicherung einzustehen …, wenn er an der unerlaubten Handlung beteiligt war“.17 Auch dieser Sichtweise folgt die ganz herrschende Meinung, für die sich die Entbehrlichkeit des Merkmals „auf Kosten“ und einer Unmittelbarkeitsprüfung „ohne Weiteres aus der deliktischen Begründung des Bereicherungsanspruchs“ ergibt.18 4. Konsequenzen für den Rechtsanwender a) Die sogenannte Doppelschritt-Prüfung und die doppelte Limitierung Eine wichtige Konsequenz des heute einhelligen Normverständnisses liegt für den Rechtsanwender darin, dass ihm § 852 S. 1 BGB eine „Doppelschritt-Prüfung“ abverlangt. Es „kommt nicht darauf an, ob die Voraussetzungen eines Kondiktionsanspruchs vorliegen, sondern es sind die Voraussetzungen für einen Deliktsanspruch, etwa aus § 823 zu prüfen, und zwar einschließlich der haftungsausfüllenden Kausalität und der Schadensberechnung. Erst wenn feststeht, was der Geschädigte nach Deliktsrecht hätte beanspruchen können, ist in einem zweiten Schritt anhand der §§ 818 ff zu ermitteln, welchen Umfang die vom Schädiger durch die unerlaubte Handlung erlangte Bereicherung hat. Übersteigt die Bereicherung den Schaden, kann er vollen Ersatz verlangen; bleibt sie dahinter zurück, ist der Ersatzanspruch entsprechend zu beschneiden.“19 Mit Doppelschritt-Prüfung ist also bei § 852 S. 1 BGB gemeint: Im ersten, deliktsrechtlichen Schritt sind die tatbestandlichen Voraussetzungen zu prüfen, dass erstens eine unerlaubte Handlung zu einer Schadensersatzpflicht geführt hat und dass zweitens der Schadensersatzanspruch verjährt ist; im zweiten, bereicherungsrechtlichen Schritt ist auf der Rechtsfolgenseite eine Herausgabepflicht des erlangten Etwas im Umfang der §§ 818 f. BGB zu prüfen. Dabei „deckelt“ der Bereicherungsumfang den Schaden, denn der Geschädigte kann auch bei weitergehendem Schaden höchstens Ersatz in Höhe des Bereicherungsumfangs verlangen. Indes „deckelt“ der Schadensersatzanspruch auch den Bereicherungsumfang, denn auch bei höherer Bereicherung des Schädigers kann der Geschädigte jedenfalls nur höchstens seinen Schaden ersetzt verlangen. Prägnant formuliert Dieter Reuter: „Tatsächlich verlangt § 852 S. 1 BGB Beides: Die Bereicherung begrenzt die 16
BGH, Urt. v. 14. 02. 1978 – X ZR 19/76 –, juris, Rn. 62. BGH, Urt. v. 14. 02. 1978 – X ZR 19/76 –, juris, Rn. 62. 18 So Münchener Kommentar (BGB)-Wagner, 8. Aufl. 2018, Rn. 6 zu § 852 mit Hinweis auf Larenz/Canaris, Schuldrecht BT Bd. II, 13. Aufl. 1994, S. 595. 19 So Münchener Kommentar (BGB)-Wagner, 8. Aufl. 2018, Rd. 5 zu § 852. 17
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Ersatzfähigkeit des Schadens; umgekehrt begrenzt der Schaden die Herausgabepflichtigkeit der Bereicherung.“20 Mit anderen Worten: „Der Anspruch ist durch den Schaden des Verletzten und die Bereicherung des Verletzers doppelt limitiert.“21 Dies lässt sich freilich weniger dem Wortlaut als der systematischen Stellung der Regelung im deliktischen Schadensersatzrecht entnehmen. b) Die wirtschaftliche Betrachtungsweise Eine weitere wichtige Konsequenz der heute einhelligen Sichtweise der Rechtsfolgeverweisung zu § 852 S. 1 BGB folgt für den Rechtsanwender daraus, dass das Merkmal „auf Kosten“ gleichsam von dem vorgehenden Merkmal „durch eine unerlaubte Handlung“ absorbiert wird; es büßt jede Eigenständigkeit ein, so dass eine „Unmittelbarkeit der Vermögensverschiebung“, die nach der früheren bereicherungsrechtlichen Dogmatik teilweise erforderlich war, unbedeutend ist.22 Schon früh hat der BGH hervorgehoben23, dass es nicht von Bedeutung ist, ob einem Mittäter die Bereicherung unmittelbar vom Geschädigten oder durch Vermittlung eines anderen an der Tat Beteiligten zugeflossen ist. Heute herrscht, wie vielfach betont wird, eine „wirtschaftliche Betrachtungsweise“ bei der Beurteilung eines Vermögenszuwachses auf der Seite des Schädigers.24 Entscheidend ist nur, dass die Begehung der unerlaubten Handlung für die eingetretene Vermögensmehrung beim Schädiger kausal gewesen ist. c) Bereicherungshaftung und Bereicherungsumfang nach §§ 818 f. BGB Wenn § 852 S. 1 BGB als eine Rechtsfolgeverweisung auf die „Vorschriften über die Herausgabe einer ungerechtfertigten Bereicherung“, also auf die Regelungen zum Bereicherungsumfang nach § 818 f. BGB zu verstehen ist, dann bedeutet dies im Kern, dass der Anspruchsgegner das erlangte Etwas, einschließlich der Nutzungen und Surrogate (§ 818 Abs. 1 BGB) herauszugeben und bei Unmöglichkeit der 20
Reuter, in: Reuter/Martinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, Teilbd. 2, 2016, S. 595; vgl. auch schon S. 594: „Weder gibt er (§ 852 S. 1 BGB) einen Bereicherungsanspruch unabhängig von einem Schaden des Verletzten noch erlaubt er dem Verletzten, dem Verletzer mehr Bereicherung abzuverlangen, als ihm an Schaden entstanden ist.“ 21 So Ebert, NJW 2003, 3035, 3037. 22 Staudinger/Vieweg (2015), Rn. 2 und 9 zu § 852; Münchener Kommentar (BGB)-Wagner, Rn. 6 zu § 852 BGB; BGH, NJW 1965, 1914, 1915; BGHZ 71, 86, 99 = NJW 1978, 1377; demgegenüber hatte das RG für die Anwendung der Vorläuferregelung des § 852 Abs. 2 BGB a. F. noch eine „Unmittelbarkeit“ der Vermögensverschiebung verlangt, vgl. insbes. RGZ 71, 358 (361): Der Restschadensersatzanspruch sei „derjenige Teil des Schadens des Verletzten in Folge der unerlaubten Handlung, hinsichtlich dessen der Vermögensverlust zugleich mit einem Vermögenszuwachs des Schädigers verbunden war, ein Vermögensteil des Beschädigten dem Vermögen des Ersatzpflichtigen zugeführt worden ist“. 23 BGH, NJW 1965, 1914, 1915 = LM § 852 Nr. 25. 24 Vgl. etwa Staudinger-Vieweg (2015), Rn. 9 zu § 852.
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Herausgabe Wertersatz nach § 818 Abs. 2 BGB zu leisten hat. Nur der gutgläubige Bereicherungsschuldner/Bereicherte kann sich auf einen nachträglichen Wegfall der Bereicherung und auf bereicherungsmindernde Abzugsposten nach § 818 Abs. 3 BGB berufen. Der bösgläubige Bereicherte, der den Mangel des rechtlichen Grundes seiner Bereicherung kennt oder später erfährt – und Bösgläubigkeit erfordert hier Vorsatz, d. h. positives Wissen; grobe Fahrlässigkeit reicht, anders als bei § 932 Abs. 2 BGB, nicht aus – haftet gem. § 819 Abs. 1, § 818 Abs. 4 BGB nach den „allgemeinen Vorschriften“, worunter jedenfalls in erster Linie und bei einer Bereicherung in Form einer Geldschuld zu verstehen ist, dass er nach §§ 291, 288 BGB den herauszugebenden Geldbetrag ab Bösgläubigkeit mit mindestens 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz zu „verzinsen“ hat. Bei allen Streitigkeiten zum Bereicherungsumfang im Einzelnen in Literatur und Rechtsprechung sind die vorstehenden Eckpunkte als gesichert anzusehen25, und zwar unabhängig von den Bemühungen, den Haftungsumfang und den Entreicherungseinwand differenziert nach den verschiedenen Kondiktionsarten (Leistungskondiktion, Eingriffskondiktion, Verwendungskondiktion, allgemeine Abschöpfungskondition usw.) auszurichten. Ein Entreicherungseinwand nach § 818 Abs. 3 BGB, d. h. eine Berufung auf einen nachträglichen Wegfall der Bereicherung und auf vermögensmindernde Abzugsposten, ist dem bösgläubigen Bereicherungsschuldner versagt. Letzteres wird insbesondere damit begründet, dass der bösgläubige Bereicherungsschuldner den erlangten Vermögensvorteil angesichts der ihm bewussten Herausgabepflicht gleichsam treuhänderisch für den Bereicherungsgläubiger zu verwalten habe und dass § 819 Abs. 1 über § 818 Abs. 4 und § 291 BGB den bösgläubig erlangten geldwerten Vermögenswert angesichts der Verzinsungspflicht der Höhe nach ab bösgläubigem Erhalt „fixiert“, womit sich der Gedanke einer Entreicherung durch Abzugsposten verbietet. An diesen Eckpunkten zum Bereicherungsumfang richtet sich auch die Rechtsprechung zur Vorteils- und Gewinnabschöpfung nach § 852 S. 1 BGB aus. Dabei geht es eher selten um einen bösgläubigen Bereicherungsschuldner mit einer deliktischen Ursprungshaftung „aus Vorsatz“ oder gar, bei § 826 BGB, „aus Arglist“. Im Hauptanwendungsfall des Immaterialgüterrechts kann sich die Haftung nach dem Restschadensersatzanspruch des § 852 S. 1 BGB durchaus vielfach erst unter Berücksichtigung des § 818 Abs. 3 BGB errechnen, wenn der Schädiger das Schutzrecht nur grob fahrlässig verletzt hat und damit nicht bösgläubig i. S. des § 819 Abs. 1 BGB, sondern gutgläubig war. Im Immaterialgüterrecht spielen auch für § 852 S. 1 BGB die drei Schadensberechnungsmethoden der konkreten Schadensberechnung, der Herausgabe des Verletzergewinns und der hypothetischen angemessenen Lizenzgebühr eine wichtige Rolle26, die auf die Fälle einer allgemeinen vermö25
Vgl. dazu besonders prägnant Reuter, in: Reuter/Martinek, Ungerechtfertigte Bereicherung, Teilb. 2, 2. Aufl. 2016, S. 185 ff., (zur Bereicherungshaftung im Allgemeinen), insbes. 341 ff. (zum Entreicherungseinwand) und S. 425 ff. (zur verschärften Haftung des Bereicherungsschuldners). 26 Vgl. dazu insbes. BGH, GRUR 1962, 509 (512) – Dia-Rähmchen II; BGH GRUR 2019, 496 – Spannungsversorgungsvorrichtung; OLG Karlsruhe GRUR-Prax 2017, 43 – Span-
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gensrechtlichen Deliktshaftung auf Restschadensersatz und damit auf die Abgasfälle nicht übertragbar sind. Immer sind die Gewinnabschöpfungsansprüche in der Entscheidungspraxis zu § 852 S. 1 BGB darauf angelegt, in wirtschaftlicher Betrachtungsweise einen aus der unerlaubten Handlung geflossenen Vorteil beim Schädiger zu ermitteln, um ihn als „Restschaden“ an den Geschädigten auszukehren. Keineswegs selten wird der Anspruch aus § 852 S. 1 BGB mit einem Auskunfts- und Rechnungslegungsanspruch verbunden, weil der Geschädigte keinen Zugriff auf die betrieblichen Daten und Interna des Schädigers hat, um sich zur Höhe des abschöpfbaren Vorteils konkret zu äußern. Die Gerichte sind nach § 287 ZPO auf Schätzungen angewiesen und bürden dem in Anspruch genommenen Schädiger die sekundäre Darlegungslast für die Erbringung der Schätzungsgrundlagen auf. Denn eine sekundäre Darlegungslast trifft den Prozessgegner der primär darlegungsbelasteten Partei nach allgemeinen Prozessrechtsgrundsätzen bzw. ständiger Rechtsprechung immer dann, wenn diese keine nähere Kenntnis der maßgeblichen Umstände und auch keine Möglichkeit zur weiteren Sachaufklärung hat, während der Bestreitende alle wesentlichen Tatsachen kennt und es ihm unschwer möglich und zumutbar ist, nähere Angaben zu machen.27 Dem Bestreitenden obliegt es im Rahmen seiner sekundären Darlegungslast, Nachforschungen zu unternehmen, wenn ihm dies zumutbar ist.28 II. Sinn und Zweck der Norm 1. Gewinnabschöpfungsfunktion Die vorstehenden Überlegungen können sich zu dem Eindruck verdichten, dass § 852 S. 1 BGB womöglich „zu weit“ geht, weil er im Grunde regelmäßig an eine verjährte Schadensersatzhaftung immer noch eine fortdauernde Bereicherungshaftung anschließt. Dies lädt zu einem Blick auf das Telos der Norm ein. Eine Auswertung von Literatur und Rechtsprechung zu § 852 S. 1 BGB (bzw. zu seinen Vorgängern der §§ 852 Abs. 2 bzw. Abs. 3 BGB a. F.) fördert als unumstrittenes Anliegen der Vorschrift zutage, dass ein deliktisch handelnder Schädiger nach der Verjährung des Schadensersatzanspruchs gegen ihn nicht mit einem erzielten Gewinn „davonkommen“, sondern nunmehr seine Bereicherung an den Geschädigten auskehren soll; er soll nach der Verjährung des Schadensersatzanspruchs weiterhin, aber nunnungsversorgungseinrichtung; LG Düsseldorf Mitt. 2000, 458 (461) – Dämmstoffbahn; LG Düsseldorf InstGE 1, 33 (37); LG Mannheim InstGE 4, 107 – Mitnehmerorgan; Hülsewig, GRUR 2011, 673 (678); Hülsewig, GRUR-Prax 2019, 369; Meier-Beck, GRUR 1993, 1 (4); Nieder, PatMitt. 2009, 540 (541); Tilmann, PatMitt. 2001, 282 (283); Pross, FS Schilling, 2007, 333. 27 Ständige Rspr., vgl. etwa BGH, Urt. v. 10. 02. 2015 – VI ZR 343/13 –, juris = WM 2015, 743 Rn. 11 m. w. N.; BGH, Urt, v. 18.12. 2019 – XII ZR 13/19 –, juris = NJW 2020, 755 Rn. 35 m. w. N. sowie BGH, Urt. v. 18.01. 2018 – I ZR 150/15 –, juris = NJW 2018, 2412 Rn. 30 m. w. N. 28 BGH, Urt. v. 01.03. 2016 – VI ZR 34/15 –, juris = BGHZ 209, 139 Rn. 48 m. w. N.; BGH, Urt. v. 28. 06. 2016 – VI ZR 559/14 –, juris = NJW 2016, 3244 Rn. 18.
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mehr nur noch auf Herausgabe seiner Bereicherung haften. Diese tragende ratio legis lässt sich bereits aus den gesetzgeberischen Motiven bei Schaffung des BGB erkennen: „Derjenige, welcher ein Delikt begangen hat, bleibt auch nach der Vollendung der … Verjährung insoweit verhaftet, als er aus dem Vermögen des Beschädigten bereichert ist.“29 Dabei war dieser „Kondiktionsanspruch“ der damals (und bis zur Schuldrechtsreform 2002) regelmäßigen dreißigjährigen Verjährung unterworfen. Ungeachtet der Änderungen im Verjährungsrecht soll auch heute durch § 852 S. 1 „verhindert werden, dass derjenige, der durch eine unerlaubte Handlung etwas erworben hat, nach Ablauf der kurzen Verjährungsfrist §§ 195, 199 Abs. 1 BGB zu Lasten des Geschädigten im Genuss des Erlangten bleibt“.30 Die Regelung will auf den verjährten Schadensersatzanspruch gleichsam einen Vorteils- oder Gewinnabschöpfungsanspruch „draufsatteln“. Drastisch heißt es im BGB-Kommentar Palandt: „Die Vorschrift soll verhindern, dass, wer einen anderen durch eine unerlaubte Handlung geschädigt und dadurch das eigene Vermögen gemehrt hat, im Besitz dieses Vorteils bleibt.“31 Zu diesem Normzweck der Gewinnabschöpfungsfunktion hat sich auch der BGH bekannt, wenn er wiederholt festhält, dass „derjenige, der durch eine unerlaubte Handlung einen anderen geschädigt und dadurch sein eigenes Vermögen vermehrt hat, nicht im Genuss dieses unrechtmäßig erlangten Vorteils bleiben (soll)“.32 2. Begünstigungsfunktion a) Substanzielle Begünstigung des Geschädigten Genau genommen wird die Regelung des § 852 S. 1 BGB noch von einer weiteren Zielsetzung getragen, die man als Begünstigungsfunktion, genauer: als doppelte Begünstigungsfunktion für den Geschädigten bezeichnen kann. Zum einen begünstigt die Vorschrift den Geschädigten natürlich dadurch, dass er es ist, der die Bereicherung vom Schädiger erhält. Es ist ja für einen Gewinnabschöpfungsanspruch (außerhalb des Rechts der Eingriffskondiktion) keineswegs selbstverständlich, dass der Gewinn des Schädigers dem Geschädigten zukommt, wenn man beispielsweise an lauterkeitsrechtliche oder kartellrechtliche Gewinn- oder Vorteilsabschöpfungsansprüche nach § 10 UWG oder § 34a GWB denkt, die die Staatskasse, genauer: den Bundeshaushalt begünstigen. Auch hier steht eine Sanktion für unrechtmäßiges Verhalten in Rede, bei dem der Verletzer einen Vorteil erlangt hat und der ihm genommen werden soll, damit sich der Rechtsverstoß im Ergebnis nicht lohnt. 29 Motive zu dem Entwurfe eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich, Bd. II – Recht der Schuldverhältnisse, Amtliche Ausgabe, 1888, zu §§ 719, 720 des 1. Entwurfs, S. 743. 30 So Staudinger/Vieweg, 2015, Rn. 1 zu § 852. 31 Palandt/Sprau, 79. Aufl. 2020, Rn. 2 zu § 852. 32 Vgl. insbes. BGH, Urt. v. 10. 06. 1965 – VII ZR 198/63 –, juris = NJW 1965, 1914, 1916 = LM § 852 Nr. 25; ebenso BGH, Urt. v. 14. 02. 1978 – X ZR 19/76 –, juris Rn. 62 = BGHZ 71, 86 – 101.
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Es ist leicht erkennbar, dass die substanzielle Begünstigungsfunktion vergleichsweise (gegenüber der Gewinnabschöpfungsfunktion) schwach ausgeprägt und nicht leicht begründbar ist, denn schließlich ist der zugrundeliegende deliktische Schadensersatzanspruch bereits verjährt. Damit kann dem Geschädigten ein vom Zufall einer beim Schädiger abschöpfbaren Bereicherung abhängiger „windfall profit“ zugutekommen, wenn er nun doch noch mit einem Restschadensersatzanspruch aus § 852 S. 1 BGB zum Zuge kommen kann. Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Anspruch aus § 852 S. 1 BGB isoliert steht und (mangels Eingriffs in einen „Zuweisungsgehalt“) nicht von einer genuinen Eingriffskondiktion begleitet wird bzw. auch eine zugleich entstandene Eingriffskondiktion auch bereits verjährt ist. b) Zeitliche Begünstigung des Geschädigten Neben dieser „substanziellen Begünstigungsfunktion“ entfaltet § 852 S. 1 BGB aber zum anderen noch eine (weniger offensichtliche) zeitliche Begünstigungsfunktion für den Geschädigten, auf die namentlich Gerhard Wagner im Anschluss an Ernst von Caemmerer besonders hingewiesen hat:33 Die Vorschrift erlaubt dem Geschädigten, den Eintritt der kurzen schadensersatzrechtlichen Verjährungsfrist sozusagen sehenden Auges verstreichen zu lassen, um sich danach doch noch wenigstens auf eine Gewinnabschöpfung zu konzentrieren. Hierzu mag es gute Gründe geben: Beispielsweise können die Haftungsvoraussetzungen oder Einzelheiten der Sachund Rechtslage noch ungewiss oder zweifelhaft sein; der Geschädigte kann möglicherweise erkennen, dass der Schädiger zwar nicht derzeit, aber später über eine ausreichende Solvenz zur Anspruchsbefriedigung verfügt; das Prozesskostenrisiko mag ihm angesichts des Streitwerts zunächst noch zu hoch sein. In solchen Fällen ermöglicht es § 852 S. 1 BGB dem Geschädigten, „trotz Kenntnis von den haftungsbegründenden Umständen und der Person des Schädigers länger als drei Jahre (§ 195) abzuwarten und von der alsbaldigen gerichtlichen Geltendmachung des Schadensersatzanspruchs abzusehen“; es steht ihm nach § 852 S. 2 BGB frei, „binnen zehn Jahren auf den Anspruch zurückzukommen“.34 Diese zeitliche Begünstigungsfunktion war für den Gesetzgeber des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes erklärtermaßen ein wesentlicher Grund für die Beibehaltung der Regelung des heutigen § 852 S. 1 BGB.35 Man kann bei § 852 S. 1 BGB von einer „Bedenkzeitregelung“ sprechen.
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Vgl. v. Caemmerer, Bereicherung und unerlaubte Handlung, Festschrift für Rabel Bd. I, 1954, S. 333 ff., 396; Münchener Kommentar (BGB)-Wagner, 8. Aufl. 2018, Rn. 3 zu § 852. 34 Münchener Kommentar (BGB)-Wagner, 8. Aufl. 2018, Rn. 3 zu § 852. 35 Vgl. Begründung des Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung des Schuldrechts, BT-Drucks. 14/6040, S. 240, 282.
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3. Sonderverjährungsfunktion a) Die Bedeutung der kenntnisabhängigen Verjährung des Deliktsanspruchs Zur ratio legis des § 852 BGB gehört seine systematische Funktion, eine verjährungsrechtliche Sonderreglung für Schadensersatzansprüche aus unerlaubter Handlung zu schaffen. Dabei kommt dem Anspruch auf Rückführung des erlangten Vermögens auch nach Eintritt der Verjährung des deliktischen Anspruchs heute eine eigenständige Bedeutung nur gegenüber der kenntnisabhängigen dreijährigen Verjährungsfrist nach §§ 195, 199 Abs. 1 BGB zu, nicht aber im Bereich der kenntnisunabhängigen Verjährung, weil hier durch § 852 S. 2 BGB ein Gleichlauf mit § 199 Abs. 3 BGB besteht. Denn nur wenn der deliktische Anspruch entstanden ist und der Gläubiger von den seinen Anspruch begründenden Umständen und der Person des Schuldners Kenntnis erlangt oder ohne grobe Fahrlässigkeit Kenntnis erlangen müsste, beginnt ab Jahresschluss (sog. ultimo-Regelung) die regelmäßige dreijährige Verjährung nach §§ 195, 199 Abs. 1 BGB zu laufen, so dass nach Verjährungseintritt Raum (bzw. Zeit) für den „Folgeanspruch“ aus § 852 S. 1 BGB ist, der dann nach dessen S. 2 in zehn Jahren von seiner Entstehung an, ohne Rücksicht auf die Entstehung in 30 Jahren von der Begehung der Verletzungshandlung oder dem sonstigen, den Schaden auslösenden Ereignis an verjährt. Weil aber (auch deliktische) Schadensersatzansprüche nach § 199 Abs. 3 Nrn. 1 und 2 BGB kenntnisunabhängig ohnehin in zehn Jahren von ihrer Entstehung an (ohne Rücksicht auf die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis, Nr. 1) oder aber jedenfalls in 30 Jahren (Verjährungshöchstfrist) von der Begehung der Handlung … oder dem sonstigen, den Schaden auslösenden Ereignis an (ohne Rücksicht auf ihre Entstehung und die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis, Nr. 2) verjähren, ist für § 852 S. 1 BGB in diesem Bereich der Kenntnisunabhängigkeit kein Raum bzw. keine Zeit. Mit anderen Worten: Nur im Rahmen der kenntnisabhängigen Verjährung des deliktischen Anspruchs nach §§ 195, 199 Abs. 1 BGB entfaltet die Vorschrift des § 852 S. 1 BGB ihre Verjährungsverlängerungs- oder Sonderverjährungsfunktion. b) § 852 S. 1 BGB als „neugefasster“ Anspruch In diesem Zusammenhang erscheint eine ergänzende Klarstellung für das Verständnis der Sonderverjährungsfunktion des Restschadensersatzanspruchs aus § 852 S. 1 BGB geboten, zumal die Kommentarliteratur insoweit manchmal missverständlich ist: Aus der vorstehend erörterten Normstruktur als Rechtsfolgeverweisung ergibt sich zwangsläufig, dass die Regelung des § 852 S. 1 BGB, genau genommen, überhaupt keine eigenständige Anspruchsgrundlage enthält und damit keinen selbständigen, vollständigen Anspruch i. S. der Legaldefinition des § 194 Abs. 1 BGB (Recht, von einem anderen ein Tun oder Unterlassen zu verlangen) bildet. Er setzt vielmehr bereits einen (verjährten) deliktischen Schadensersatzanspruch voraus (etwa aus § 823 Abs. 1 oder Abs. 2 BGB i. V. m. einem Schutzgesetz, aus § 824 oder aus § 826 BGB), um diesen unter der zusätzlichen Voraussetzung eines vom
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Schädiger durch die unerlaubte Handlung erlangten Etwas mit neuem Inhalt, nämlich auf den Bereicherungsumfang beschränkt, fortzusetzen. Er konstituiert damit allenfalls einen „fortgesetzten“ oder „neugefassten“ Anspruch. Eigentlich müsste als Anspruchsgrundlage immer die zugrundeliegende, ursprüngliche Anspruchsgrundlage gemeinsam mit § 852 S. 1 BGB genannt werden. Diese „Spitzfindigkeit“ ist keineswegs folgenlos. Denn wenn die Verjährungssonderregelung des § 852 S. 2 BGB mit „Dieser Anspruch“ beginnt und „diesen Anspruch“ nunmehr „in zehn Jahren von seiner Entstehung an, ohne Rücksicht auf die Entstehung in 30 Jahren von der Begehung der Verletzungshandlung oder dem sonstigen, den Schaden auslösenden Ereignis an“ verjähren lässt, dann ist damit keineswegs ein eigenständiger neuer Anspruch aus § 852 S. 1 BGB gemeint, der nach der Verjährung des ursprünglichen Schadensersatzspruchs selbständig entstehen würde und nunmehr mindestens zehn (weitere!) Jahre bis zu seiner Verjährung verfügbar wäre. Richtigerweise knüpft S. 2 an den ursprünglichen Schadensersatzanspruch und dessen Entstehung an und meint mit „diesem Anspruch“ den alten, durch S. 1 mit verändertem Inhalt fortgesetzten Anspruch. 4. Die Regelung des § 852 BGB nach der Schuldrechtsmodernisierung a) Änderungen des Verjährungsrechts für Bereicherungsansprüche Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass § 852 S. 1 BGB mit seiner Gewinnabschöpfungs-, Begünstigungs- und Sonderverjährungsfunktion seit der Schuldrechtsmodernisierung von 2002 in seiner Bedeutung gegenüber den früheren Jahrzehnten hinzugewonnen hat.36 Der Grund hierfür ist, dass früher neben dem ursprünglichen Schadensersatzanspruch aus unerlaubter Handlung mit seiner dreijährigen Regelverjährung vielfach noch ein bereicherungsrechtlicher Anspruch auf Herausgabe des Erlangten nach § 812 Abs. 1 S. 1, 2. Fall BGB (Eingriffskondiktion) mit damals dreißigjähriger Verjährung bestand, sofern sich die unerlaubte Handlung zugleich als ein Eingriff in den absoluten Zuweisungsgehalt von Rechtspositionen des Geschädigten darstellte. Nach alter Rechtslage entfaltete mithin die Gewinnabschöpfung gemäß § 852 Abs. 2 (bis 1977) bzw. Abs. 3 BGB (bis 2001) nach der dreijährigen Verjährung des Deliktsanspruchs nur eine eigenständige Bedeutung, wenn es um einen Vermögensgewinn des Schädigers und Bereicherten ohne Eingriff in den Zuweisungsgehalt eines absoluten Rechts ging und deshalb keine Eingriffskondiktion mit dreißigjähriger Verjährung zu Gebote stand. Dies begründete einen eher schmalen Anwendungsbereich für die Gewinnabschöpfung nach § 852 BGB. Gesellte sich nämlich zur unerlaubten Handlung ein Eingriff in den Zuweisungsgehalt hinzu, kam es – nach der dreijährigen Verjährung des deliktischen Schadensersatzanspruchs – regelmäßig zur Parallelität von Ansprüchen aus § 852 Abs. 2 bzw. 3 BGB a. F. (Gewinnherausgabe) und aus § 812 Abs. 1 S. 1, 2. Fall BGB (Eingriffskon36
Ebert, NJW 2003, 3035: „ganz neue Anwendungsgebiete“.
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diktion). Inzwischen aber unterliegen bekanntlich auch Bereicherungsansprüche aus Eingriffskondiktion der dreijährigen Regelverjährung. Dies hat zur Folge, dass § 852 S. 1 BGB die einzige Anspruchsgrundlage für den Geschädigten und Entreicherten bildet, nachdem der deliktische Anspruch und auch ein daneben möglicherweise bestehender kondiktionsrechtlicher Anspruch verjährt ist. b) Die zeitliche Begünstigungsfunktion als wichtige Rechtfertigung Im Zusammenhang mit der Schuldrechtsmodernisierung ist zudem erwähnenswert, dass § 852 S. 1 BGB diese Reform nur knapp „überlebt“ hat: Es fanden sich in der Reformdebatte durchaus Stimmen, die für eine ersatzlose Streichung der Vorschrift plädiert hatten, weil doch dem Geschädigten allemal genügend Zeit für seine deliktische Anspruchserhebung verbleibe; eine Begünstigung des durch eine unerlaubte Handlung Geschädigten in Form eines fortbestehenden deliktischen „Bereicherungsanspruchs“ auf Gewinnherausgabe lasse sich nach der Einführung der allgemeinen dreijährigen Verjährungsregelung des § 195 BGB n. F. nicht mehr rechtfertigen.37 Es gebe keinen Grund, für den Tatbestand einer „Bereicherung durch unerlaubte Handlung“ eine verjährungsrechtliche Sonderregelung zu treffen. Namentlich bei einer die Loslösung des (heutigen) § 852 S. 1 BGB von den Voraussetzungen eines Bereicherungsanspruchs (wie nach der schon 2002 herrschenden Theorie der Rechtsfolgeverweisung und der Rechtsprechung) könne es zu einer Haftungserweiterung kommen, die, wie Ernst v. Caemmerer schon im Jahre 1954 befürchtet hat, „weder praktikabel noch sachlich gerechtfertigt“ erscheine.38 Diese Abschaffungsvorschläge haben sich indes nicht durchsetzen können.39 Vielmehr hat der Gesetzgeber der Schuldrechtsreform die Regelung des § 852 S. 1 BGB (weiterhin) für erforderlich gehalten, wofür insbesondere die zeitliche Begünstigungsfunktion der Norm („Bedenkzeitregelung“) ins Feld geführt wurde: Namentlich bei Patentrechtsverletzungen sehe der Verletzte wegen Unsicherheiten der Patenterteilung oft von einer Anspruchserhebung innerhalb von drei Jahren ab. Aber auch im allgemeinen Deliktsrecht der §§ 823 ff. BGB solle dem Geschädigten eine längere Frist zur Entscheidung über die Erfolgsaussichten einer Anspruchsverfolgung zugebilligt werden, beispielsweise wenn sich ein Dieb darauf berufe, dass er das Diebesgut veräußert und den Erlös verbraucht habe, oder wenn ein Erpresser vorbringe, das Lösegeld verschwendet zu haben.40 Kurz: die zeitliche Begünstigungs37
Für eine ersatzlose Streichung inbes. Peters/Zimmermann, in: Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Gutachten und Vorschläge zur Überarbeitung des Schuldrechts, Bd. 1, 1981, S. 329; vgl. dazu auch Canaris (Hrsg.), Schuldrechtsmodernisierung 2002, 2002, S. 5 ff., 126 f. (Diskussionsentwurf); Staudinger-Vieweg, 2015, Rn. 5 zu § 852; Ebert, NJW 2003, 3035. 38 So v. Caemmerer, in: Festschrift für Rabel Bd. I, 1954, S. 333, 396. 39 Vgl. Begründung des Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung des Schuldrechts, BT-Drucks. 14/6040, insbes. S. 270. 40 BT-Drucks. 14/6040, 270, 280; Staudinger-Vieweg, 2015, Rn. 5 zu § 852.
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funktion des § 852 S. 1 BGB bildete für den Gesetzgeber des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes eine tragende Rechtfertigung für die vielfach kritisierte Aufrechterhaltung der Norm. Dies wird durch einen näheren Blick auf die praktischen Anwendungsbereiche der Vorschrift veranschaulicht. Dabei fällt sogleich ins Auge, dass ihr Haupteinsatzfeld weniger das klassische bürgerliche Vermögensrecht als vielmehr vor allem das Recht der Immaterialgüterrechte bildet, worüber sich auch der Gesetzgeber des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes im Klaren war.41 Dies betrifft nicht nur unberechtigte Schutzrechtsverwarnungen mit der Folge eines Schadensersatzanspruchs wegen eines Eingriffs in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb. Spezialgesetzliche Vorschriften wie §§ 33 Abs. 3 S. 2, 141 S. 2 PatG, § 20 S. 2 MarkenG, § 49 S. 1 DesignG, § 24 f S. 2 GebrauchsMG oder § 102 S. 2 UrhG verweisen auf § 852 BGB, wofür nicht zuletzt die Begünstigungsfunktion der Vorschrift ins Feld geführt wird: dem Verletzten soll etwa angesichts der Risiken und Unsicherheiten der Sach- und Rechtslage und damit angesichts besonderer Prozesskostenrisiken bei ungewisser Informationslage über den Verjährungseintritt der sonderdeliktsrechtlichen Regelungen hinaus Bedenkzeit für die Geltendmachung von Ersatzansprüchen eingeräumt werden.42 Er soll etwa, zumal angesichts des hohen Kostenaufwands, von einer Patentverletzungsklage auf Schadensersatz vorerst Abstand nehmen können, um erst einmal den Ausgang eines Einspruchs und/oder Nichtigkeitsverfahrens gegen das verletzte Patent abzuwarten. Der Rechtsanwender hat die Regelung des § 852 BGB, auch wenn sie die Schuldrechtsmodernisierung nur „knapp überlebt“ hat, zwar heute so hinzunehmen „wie sie im Buche steht“. Indes können, wie wir sogleich sehen werden, die „leisen“, im Ergebnis übertönten Zweifel des Gesetzgebers die Frage nach einer teleologischen Reduktion der Norm auf der Tatbestandsseite aufwerfen. 5. Die teleologische Reduktion des § 852 S. 1 BGB a) Ausgangspunkt Aus den vorstehenden Überlegungen zu Sinn und Zweck der Norm und zu ihrem „Überleben“ der Schuldrechtsreform von 2002 lässt sich eine für die Anwendung des § 852 S. 1 BGB wichtige Konsequenz ziehen: Es liegt nahe, die Regelung angesichts ihrer wegweisenden Begünstigungsfunktion für den Geschädigten einer teleologischen Reduktion zuzuführen und aus ihrem Einsatzbereich solche Fälle auszuklammern, in denen der Geschädigte eine zusätzliche Bedenkzeit nach der dreijährigen Verjährung des deliktischen Anspruchs mangels Schutzwürdigkeit nicht braucht und nicht verdient, weil es kein besonderes Prozesskostenrisiko für ihn gibt. Das methodologische Rechtsanwendungsinstrument der teleologischen Reduktion (auch: 41 42
BT-Drucks. 14/6040, 270, 282; Ebert, NJW 2003, 3035 ff. Münchener Kommentar (BGB)-Wagner, 8. Aufl. 2018, Rn. 4 zu § 852.
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Restriktion) ist bekanntlich darauf ausgerichtet, eine ihrem Wortlaut nach zu weit gefasste, nämlich über ihre von der ratio legis gedeckte Ordnungsaufgabe hinausreichende Regelung einschränkend auszulegen, so dass ihre Anwendung nur noch solche Fälle abdeckt, die vom Normzweck abgedeckt sind.43 Vereinfacht ausgedrückt: Es fehlt sozusagen im Wortlaut der Vorschrift ein Tatbestandsmerkmal, das für die angeordnete Rechtsfolge tragend und erlässlich ist und das für die ordnungsgemäße Rechtsfolge hinzugedacht werden muss. Sind die Voraussetzungen des „fehlenden“ Tatbestandsmerkmals nicht gegeben, darf die Vorschrift nicht angewandt werden, auch wenn ihrem (unvollständigen Wortlaut) nach alle Voraussetzungen gegeben zu sein scheinen. Im Einzelnen: b) Das ungeschriebene Erfordernis eines besonderen Prozesskostenrisikos Wie gezeigt, war es für den Gesetzgeber des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes ein tragendes Argument zur Aufrechterhaltung des § 852 S. 1 BGB, dass dem Geschädigten eine zusätzliche Bedenkzeit zur Verfolgung seines Ersatzanspruchs eingeräumt werden soll, wenn und weil er die Rechtslage noch für ungewiss hält, das Prozesskostenrisiko noch ungewiss ist oder der Schädiger erst später hinreichend solvent werden wird – wie dies im Immaterialgüterrecht, dem traditionellen Hauptanwendungsfeld der Vorschrift, regelmäßig, ansonsten aber nur ausnahmsweise der Fall ist. Solche Umstände eines besonderen Prozesskostenrisikos bei ungewisser Informationslage für den Geschädigten hat der Gesetzgeber trotz ihrer tragenden Bedeutung für die ratio legis im Wortlaut der Norm unerwähnt gelassen; sie bilden aber im Grunde eine ungeschriebene Voraussetzung des § 852 S. 1 BGB. Daher erscheint eine teleologische Reduktion der Norm angezeigt, wonach der Anspruch des § 852 S. 1 BGB nur dann vom Schädiger geltend gemacht werden darf, wenn er den Ablauf der dreijährigen Verjährungsfrist seines Deliktsanspruchs angesichts eines besonderen Prozessrisikos bei ungewisser Informationslage „sehenden Auges“ hat verstreichen lassen dürfen, um sich auf einen Restschadensersatzanspruch zu konzentrieren. Diese teleologische Reduktion des § 852 S. 1 BGB wird zwar in Literatur und Rechtsprechung bislang an keiner Stelle erwähnt oder gar erwogen; sie muss indes im Licht des manifesten Normzwecks als naheliegend, wenn nicht als geboten angesehen werden. Denn der Restschadensersatzanspruch des § 852 S. 1 BGB erschöpft sich nach Sinn und Zweck nicht in einer Gewinnabschöpfungsfunktion, sondern die ratio legis „lebt“ zumindest auch, im Grunde sogar seit dem Schuldrechtsmodernisierungsgesetz in starkem Maße von der Begünstigungs- oder Bedenkzeitfunktion, die dem Geschädigten erlaubt, trotz Kenntnis der anspruchsbegründenden Umstände und der Person des Schuldners/Schädigers die dreijährige Verjährungsfrist verstreichen zu lassen. Nicht nur im Bereich der Hauptanwendungsfelder der Norm im Immaterialgüterrecht, sondern auch in den vom Gesetzgeber berufenen Anwendungsbeispielen 43 Vgl. grundlegend Brandenburg, Die teleologische Reduktion: Grundlagen und Erscheinungsformen der auslegungsunterschreitenden Gesetzeseinschränkung im Privatrecht, 1983; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 211 ff.
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aus dem allgemeinen bürgerlichen Vermögensrecht bildet das besondere Prozesskostenrisiko aufgrund ungewisser Informationslage des Geschädigten die nötige Rechtfertigung der Norm. IV. Fazit Mit dieser teleologischen Reduktion dürfte die Vorschrift des § 852 S. 1 BGB in vielen Fällen im Ergebnis unanwendbar sein, in denen sich nach heutigem Normverständnis gleichsam „automatisch“ ein deliktischer Schadensersatzanspruch nach Verjährungseintritt im Umfang der Bereicherung fortsetzt, der Rechtsanwender dies aber schwerlich von Sinn und Zweck der Norm abgesegnet anzusehen vermag: Im Wege der teleologischen Reduktion gehören die Fallgestaltungen ohne ein bei deliktischem Verjährungseintritt bestehendes besonderes Prozesskostenrisiko aus dem Anwendungsbereich der Norm ausgeklammert. In diesem Licht sind die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 852 S. 1 BGB dahingehend zu verstehen, dass erstens eine unerlaubte Handlung zu einer Schadensersatzpflicht geführt hat und dass zweitens der Schadensersatzanspruch verjährt ist. Dass der Ersatzpflichtige durch die unerlaubte Handlung vom Verletzten etwas erlangt hat, wird nicht mehr (wie der Wortlaut eigentlich erfordert) als zusätzliche tatbestandliche Voraussetzung des (fortbestehenden) Deliktsanspruchs behandelt, sondern der bereicherungsrechtlichen Rechtsfolge zugeordnet. Zusätzlich aber ist drittens, wie vorstehend näher begründet wurde, das „ungeschriebene Tatbestandsmerkmal“ zu berücksichtigen, dass bis zum deliktischem Verjährungseintritt ein „besonderes Prozesskostenrisiko wegen ungewisser Informationslage“ für den Geschädigten bestanden haben muss (teleologische Reduktion), so dass eine über den deliktischen Verjährungseintritt hinausreichende Bedenkzeit für den Restschadensersatzanspruch gerechtfertigt ist. Nur bei Vorliegen dieser so verstandenen Voraussetzungen tritt die Rechtsfolge einer Pflicht (des Ersatzpflichtigen) zur Herausgabe des „erlangten Etwas“ (an den Verletzten) nach den Vorschriften über die Herausgabe einer ungerechtfertigten Bereicherung ein. Darf man nicht auf die Reaktion unseres Jubilars Klaus Vieweg auf diesen Vorschlag einer teleologischen Reduktion des Restschadensersatzanspruchs aus § 852 S. 1 BGB gespannt sein? Aber keineswegs nur deshalb: Ad multos annos!
Das Konzept eines Allgemeinen Teils in der Zivilrechtsgesetzgebung aus methodengeschichtlicher Sicht Von Bernd Mertens I. Einleitung Die breitgefächerten Interessen unseres Jubilars erstrecken sich auch auf den Allgemeinen Teil des Bürgerlichen Rechts, wie etwa in dem von ihm herausgegebenen juris-Praxiskommentar zum ersten Buch des BGB zum Ausdruck kommt.1 Allgemeine Teile gelten als ein Charakteristikum deutscher Zivilrechtsgesetzgebung und als ein Erbe der Pandektenwissenschaft des 19. Jahrhunderts. Meine nachfolgenden Überlegungen gehen der Frage nach, warum das Konzept eines Allgemeinen Teils sich nicht nur in der deutschen Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts durchgesetzt hat, sondern im Anschluss hieran auch Eingang fand in Zivilrechtskodifikationen zunächst in Deutschland, später auch in einigen anderen Ländern, wohingegen andere Zivilrechtsgesetzgeber diesem Beispiel bewusst nicht gefolgt sind. Besonders aufschlussreich hierfür sind die durch die Gesetzgeber in Deutschland und der Schweiz verfolgten konträren Konzepte, die kurz hintereinander entwickelt wurden und in denen die Argumente für und wider einen Allgemeinen Teil in der Zivilrechtsgesetzgebung in seltener Breite und argumentativer Tiefe ausgetauscht wurden. Auch in der Literatur wurde damals wie heute die Gebotenheit eines Allgemeinen Teils in Zivilrechtskodifikationen sehr kontrovers diskutiert. Ich gehe auch auf die diesbezügliche Diskussion in der NS-Zeit ein, als man den Allgemeinen Teil am liebsten beseitigt hätte, hiermit aber scheiterte. Abschließend versuche ich, ein kurzes Fazit zu ziehen und deutlich zu machen, dass die unterschiedlichen Standpunkte, so polarisierend sie auf den ersten Blick auch erscheinen mögen, bei genauerer Betrachtung häufig doch nicht so weit auseinanderliegen. Ich beschränke mich hierbei bewusst auf die grundsätzliche Frage der Gebotenheit eines Allgemeinen Teils, behandele also nicht die Detailkontroversen, welche einzelnen Regelungsmaterien dem Allgemeinen Teil zuzuweisen sind.
1 Klaus Vieweg (Hrsg.), juris Praxiskommentar BGB, Bd. 1: Allgemeiner Teil, 9. Aufl., Saarbrücken 2020.
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II. Die Ausformung eines Allgemeinen Teils in der Zivilrechtswissenschaft Die Systematisierungsleistungen der Naturrechtstheoretiker des 18. Jahrhunderts und der Pandektenwissenschaftler des 19. Jahrhunderts sowie die von ihnen herausgebildeten allgemeinen Lehren, zum Beispiel zur Willenserklärung, zum Rechtsgeschäft oder zur Geschäftsfähigkeit, waren unabdingbare Voraussetzung dafür, dass ein Allgemeiner Teil, wie wir ihn heute kennen, seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts überhaupt Aufnahme in Zivilrechtskodifikationen finden konnte. Die Entwicklung, die in der Zivilrechtswissenschaft zur Herausbildung eines Allgemeinen Teils führte, ist recht gut erforscht. Ich beschränke mich hier auf einen kurzen Überblick. Ausgangspunkt waren die Abstraktions- und Systematisierungsleistungen der Naturrechtstheoretiker des 17. und 18. Jahrhunderts. Frühe Impulse zu einer vertragstypenübergreifenden Behandlung allgemeiner Lehren im Zivilrecht kamen schon im 17. Jahrhundert von Pufendorf.2 Größer noch war in der Folge die Bedeutung der Naturrechtssysteme von Christian Wolff und seinen Schülern für die Herausbildung Allgemeiner Teile im Zivilrecht. Wesentlich hierfür war die Übertragung der in den naturrechtlichen Systemen entwickelten allgemeinen Lehren auf die Darstellung des positiven (römischen) Rechts. Es waren die Wolff-Schüler Darjes und Nettelbladt, welche 1749 erstmals diesen Schritt vollzogen und eine dem heutigen Verständnis eines allgemeinen und eines besonderen Teils vergleichbare Einteilung auch auf die Darstellungen des positiven Rechts übertrugen.3 1767 forderte dann Pütter generell für die Darstellung und Lehre des römischen Rechts eine Grundlegung durch einen Allgemeinen Teil4 und im ausgehenden 18. Jahrhundert ist das Voranstellen eines Allgemeinen Teils in den gemeinrechtlichen Lehrbüchern deutscher Autoren bereits üblich geworden.5 Gustav Hugo, von manchen als Vater des Pandektensystems angesehen, stand hingegen nicht nur dem Naturrecht, sondern auch dem Konzept eines ausführlichen Allgemeinen Teils kritisch gegenüber. Sein Lehrbuch zum römischen Recht (erstmals 1789 erschienen) enthält nur eine kurze Einleitung, die mit den späteren Allgemeinen Teilen in den Pandektenlehrbüchern des 19. Jahrhunderts nicht vergleichbar ist, und in späteren Auflagen kritisiert er die mittlerweile
2 Aus der reichhaltigen Literatur s. etwa Martin Lipp, Die Bedeutung des Naturrechts für die Ausbildung der allgemeinen Lehren des deutschen Privatrechts, Berlin 1980, S. 141 ff.; Malte Diesselhorst, Zum Vermögensrechtssystem Samuel Pufendorfs, Göttingen 1976. 3 Joachim Georg Darjes, Institutiones iurisprudentiae privatae Romano-Germanicae in usum auditorii sui systematica adornatae methodo, Jena 1749; Daniel Nettelbladt, Systema elementare universae iurisprudentiae positivae communis Imperii Romano Germanici usui fori accomodatum, Halle 1749; hierzu Andreas B. Schwarz, Zur Entstehung des modernen Pandektensystems, in: ZRG (RA) 42 (1921), S. 578 – 610, hier: S. 589 ff. 4 Johann Stephan Pütter, Neuer Versuch einer juristischen Encyclopädie und Methodologie nebst etlichen Zugaben, Göttingen 1767, § 142, S. 82 f. 5 Nachweise bei Lars Björne, Deutsche Rechtssysteme im 18. und 19. Jahrhundert, Ebelsbach 1984, S. 251 ff.; Schwarz (wie Fn. 3), S. 589 ff.
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„sehr gewöhnliche Erscheinung“, der Darstellung des römischen Rechts einen ausführlichen Allgemeinen Teil voranzustellen.6 Prägend für die weitere Entwicklung des der Lehre vom römischen Recht zugrunde gelegten Systems einschließlich eines Allgemeinen Teils wurde Georg Arnold Heises „Grundriss eines Systems des gemeinen Civilrechts“ von 1807.7 Heise verlässt die hergebrachte dreiteilige Institutionen-Gliederung zugunsten einer Gliederung in sechs Bücher mit einem ausführlichen Allgemeinen Teil („allgemeine Lehren“) als erstes Buch.8 Die gängige Bezeichnung als „Pandektensystem“ ist freilich eher missverständlich, da es sich gerade um eine Neukonzeption gegenüber der von den antiken Quellen befolgten Systematik handelt. Der große Erfolg der Heise’schen Systematik dürfte nicht zuletzt auf die Zustimmung durch Savigny zurückzuführen sein, der die Heise’sche Systematik seinen eigenen Vorlesungen zugrunde legte und in der Historischen Rechtsschule populär machte.9 Im weiteren Verlauf enthielten die deutschen Pandektenlehrbücher des 19. Jahrhunderts fast alle einen Allgemeinen Teil. Kritik hieran bezog sich meist nur auf den Umfang des Allgemeinen Teils oder einzelne dort behandelte Gegenstände; Fundamentalkritiker dieser Technik, wie Alois von Brinz, blieben vereinzelt und konnten sich nicht durchsetzen.10 Inhaltlich wiesen die unter den Begriff der „allgemeinen Lehren“ zu einem eigenständigen Teil des Zivilrechtssystems zusammengefassten Materien anfangs natürlich noch erhebliche Unterschiede auf. Doch auch was diese inhaltliche Ausgestaltung der Allgemeinen Teile betrifft, fand in der Nachfolge Heises eine gewisse Konsolidierung statt, wenngleich Unterschiede im Detail bestehen blieben. Typischerweise wurden hier die Quellen des Rechts, die Rechtssubjekte im Sinne des
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Gustav Hugo, Institutionen des heutigen römischen Rechts, Berlin 1789. Die dortige innovative Gliederung in dingliche Rechte, Obligationen, Familienrecht, Erbrecht und Prozessrecht sah keinen Allgemeinen Teil vor. Damit fehlte ein wesentlicher Bestandteil des späteren „Pandektensystems“. Auch hat er in späteren Auflagen (unter dem Titel „Lehrbuch eines civilistischen Cursus“) diese Einteilung wieder zugunsten der hergebrachten Institutionen-Gliederung (personae, res, actiones) aufgegeben. Ein Allgemeiner Teil vergleichbar den Pandektenlehrbüchern des 19. Jahrhunderts findet sich auch dort nicht. Als ersten Teil behandelte er vielmehr nur „die wichtigsten Begriffe von Personen, Sachen und Handlungen“ bei gleichzeitiger Kritik an den „neuern methodischen Schriftstellern“, die „Anfangs weit mehr in den allgemeinen Theil aufnehmen, als sie nachher selbst rathsam finden“ (Lehrbuch eines civilistischen Cursus, 3. Aufl., Berlin 1805, § 10, S. 9). 7 [Georg] Arnold Heise, Grundriss eines Systems des gemeinen Civilrechts zum Behuf von Pandecten-Vorlesungen, Heidelberg 1807. 8 Die Abfolge der Bücher bei Heise lautet: Allgemeine Lehren, Dingliche Rechte, Obligationen-Recht, Jura potestatis [Familienrecht], Erbrecht, Restitutio in integrum. Die späteren Privatrechtssysteme in Nachfolge Heises lassen den sechsten Teil (restitutio in integrum) meist weg oder integrieren ihn in die anderen Teile. 9 S. hierzu Schwarz (wie Fn. 3), S. 581 f.; Björne (wie Fn. 5), S. 141 ff. 10 Alois von Brinz, Lehrbuch der Pandekten, Erlangen 1857/1860, Bd. 1, Vorrede, S. XI seine Kritik am Allgemeinen Teil.
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Personenrechts und die Rechtsobjekte (Sachen), die Entstehung und der Untergang von Rechtsverhältnissen sowie die Ausübung und der Schutz der Rechte behandelt.11 III. Die Übernahme dieses Konzepts in Zivilrechtskodifikationen In die Zivilgesetzbücher fand ein Allgemeiner Teil jedoch nur zögerlich Eingang. Das preußische Allgemeine Landrecht von 1794 (ALR) kennt in seinen zivilrechtlichen Abschnitten noch keinen äußerlich abgehobenen Allgemeinen Teil, wohl aber beinhalten die fünf ersten Titel seines ersten Teils Regelungsgegenstände, die später zu den Kernstücken des Allgemeinen Teils des deutschen BGB gehören sollten.12 Der französische Code civil von 1804 und das österreichische ABGB von 1811 begnügen sich hingegen mit einer sehr knappen Einleitung, deren Bestimmungen keinen spezifisch zivilrechtlichen Charakter tragen und mit den späteren Allgemeinen Teilen in Zivilgesetzbüchern nicht vergleichbar sind.13 Daneben enthält das österreichische ABGB einen abschließenden dritten Teil14, der zwar methodisch mit den späteren Allgemeinen Teilen in modernen Zivilgesetzbüchern zumindest in seinen Absichten vergleichbar ist, da er „von den gemeinschaftlichen Bestimmungen der Personenund Sachenrechte“ handeln will. Inhaltlich finden sich hier aber mit Ausnahme der Verjährungsregelungen nicht wirklich gesetzbuchübergreifende Bestimmungen, sondern meist die Regelung von Materien, die spätere Gesetzgeber dem allgemeinen15 oder besonderen Schuldrecht16 zugewiesen haben. Eine allgemeine Rechtsgeschäftslehre, welche einen Kernbestandteil des Allgemeinen Teils später in Deutschland bilden sollte, war dem ABGB noch fremd.
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Einen Überblick zu den unterschiedlichen Inhalten und Gliederungen der Allgemeinen Teile in den Pandektenlehrbüchern des 19. Jahrhunderts gibt Björne (wie Fn. 5), S. 253 ff.; zur Gliederung der Allgemeinen Teile in den Darstellungen des gemeinen Rechts in der Zeit vor Heise s. Schwarz (wie Fn. 3), S. 590 ff. 12 Zu den wesentlichen Regelungsgegenständen des Allgemeinen Teils des BGB finden sich im ALR folgende Entsprechungen: Personen (§§ 1 – 89 BGB) = I 1 ALR (nur natürliche Personen; Regelungen zu Gesellschaften finden sich erst unter II 6); Sachen (§§ 90 – 103 BGB) = I 2 ALR; Geschäftsfähigkeit (§§ 104 – 113 BGB) = I 4 §§ 20 – 30 ALR; Willenserklärungen (§§ 116 – 144 BGB) = I 4 ALR; Verträge (§§ 145 – 157 BGB) = I 5 ALR; Bedingungen (§§ 158 – 163 BGB) = I 4 §§ 99 – 144 ALR; Vertretung/Vollmacht (§§ 164 – 181 BGB) = I 13 ALR (im Zusammenhang mit Auftragsrecht); Fristen/Termine (§§ 186 – 193 BGB) = I 3 §§ 45 – 49 ALR; Verjährung (§§ 194 – 225 BGB) = I 9 Abschnitt 9 ALR (im Zusammenhang mit Eigentumserwerb). 13 Art. 1 – 6 Code civil und §§ 1 – 14 ABGB. Auch das ALR hatte bekanntlich eine derartige – nicht spezifisch zivilrechtliche – Einleitung, zusätzlich hierzu aber die in der vorherigen Fußnote skizzierten spezifisch zivilrechtlichen allgemeinen Bestimmungen in den ersten fünf Titeln des ersten Teils. 14 §§ 1342 – 1502. 15 Das gilt für die im dritten Teil des ABGB geregelten Materien der Abtretung, Erfüllung, Schuldübernahme und Novation. 16 Das gilt für die im dritten Teil des ABGB geregelten Materien Bürgschaft und Vergleich.
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In seiner uns heute geläufigen, auch gliederungstechnisch hervorgehobenen Gestalt konnte sich der Allgemeine Teil in den Zivilgesetzbüchern erst relativ spät etablieren, nämlich zuerst in dem 1865 in Kraft getretenen sächsischen BGB17 und seit 1900 bekanntlich im deutschen BGB. Bereits der erste Entwurf zum sächsischen BGB, der in erster Linie von Gustav Friedrich Held als Referenten ausgearbeitet und 1852 veröffentlicht wurde, enthielt als erstes Buch einen ausführlichen Allgemeinen Teil mit 269 Paragraphen.18 In den weiteren Stadien der Entstehungsgeschichte des sächsischen BGB wurde der Umfang des Allgemeinen Teils zwar reduziert auf zuletzt 185 Paragraphen, das Grundkonzept änderte man jedoch nicht.19 Auch bei den Vorarbeiten zum deutschen BGB war bereits durch die Vorkommission 1874 eine Entscheidung für einen Allgemeinen Teil getroffen worden, wobei die Vorkommission dazu riet, den Entwurf des Allgemeinen Teils erst im Anschluss an die Entwürfe zu den besonderen Teilen zu erstellen, indem im Wege der Induktion aus den besonderen Vorschriften die verallgemeinerungsfähigen Rechtssätze gewonnen werden.20 Der Justizausschuss des Bundesrats war demgegenüber in der Frage der Angemessenheit eines Allgemeinen Teils in dem Gesetzbuch skeptischer. Unter Berufung auf Jhering verwies er darauf, dass die Abstraktion allgemeiner Rechtssätze aus dem Besonderen nicht Sache des Gesetzgebers, sondern der Wissenschaft sei. Im Ergebnis empfahl der Justizausschuss daher, der BGB-Kommission bei der Frage eines Allgemeinen Teils freie Hand zu lassen.21 Die (erste) BGB-Kommission beschloss dann bereits in einer ihrer ersten Sitzungen, dem Gesetzbuch einen Allgemeinen Teil voranzustellen.22 Zugleich entschied sich die Kommission aber auch, anders als von der Vorkommission empfohlen, mit dem Entwurf des Allgemei17 Die Pionierleistung des sächsischen BGB bei der Verwirklichung eines Allgemeinen Teils in einem Zivilgesetzbuch wird häufig übersehen und irrtümlich dem späteren deutschen BGB das Verdienst zugeschrieben, den Allgemeinen Teil in einem Zivilgesetzbuch „erfunden“ zu haben, so etwa Joachim Münch, Strukturprobleme der Kodifikation, in: Der Kodifikationsgedanke und das Modell des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB), hrsg. v. Okko Behrends u. Wolfgang Sellert, Göttingen 2000, S. 147 – 173, hier: S. 149. 18 Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs für das Königreich Sachsen, Dresden o. J. (1852). Zur Entstehungsgeschichte des sächsischen BGB s. Christian Ahcin, Zur Entstehung des bürgerlichen Gesetzbuchs für das Königreich Sachsen von 1863/65, Frankfurt a. M. 1996. 19 Im zweiten Entwurf des sächsischen BGB wurde einerseits ein Abschnitt „Von den Handlungen“ (insbesondere Rechtsgeschäfte und unerlaubte Handlungen) in den Allgemeinen Teil aufgenommen, andererseits Bestimmungen zum Besitzrecht und der Ersitzung in das Sachenrecht verwiesen. Insgesamt gab es im Allgemeinen Teil aber deutlich weniger Änderungen gegenüber dem Held’schen Entwurf als in den anderen Büchern des sächsischen BGB; vgl. Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs für das Königreich Sachsen. Nebst allgemeinen Motiven und Inhaltsverzeichniß, Dresden 1860, S. 443 f. 20 Gutachten der Vorkommission vom 15. April 1874, in: Werner Schubert (Hrsg.), Materialien zur Entstehungsgeschichte des BGB. Einführung, Biographien, Materialien, Berlin 1978, S. 170 – 185, hier: S. 179, 183. 21 Bericht des Bundesratsauschusses für Justizwesen vom 9. Juni 1874, in: Schubert (wie Fn. 20), S. 186 – 199, hier: S. 192 f. 22 Kommissionsprotokoll vom 23. September 1874, in: Schubert (wie Fn. 20), S. 214 f.
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nen Teils nicht bis zum Abschluss der Arbeiten an den besonderen Teilen zu warten, sondern von Anfang an einen fünften Redaktor (Albrecht Gebhard) zu bestellen, dem die Kodifikation derjenigen Materien zufiel, die nicht in die Redaktionsgebiete der für die besonderen Teile bestellten Redaktoren fielen.23 Windscheid, Verfasser des wohl berühmtesten Pandektenlehrbuchs und Mitglied der BGB-Kommission, hatte eine Skizze dieser Materien entworfen, welche in wesentlichen Zügen bereits den Inhalt des künftigen Allgemeinen Teils vorzeichnete.24 Was waren die Gründe, die den Gesetzgeber in Sachsen und später dann im Deutschen Reich bewogen, das in der Pandektenwissenschaft entwickelte Konzept eines Allgemeinen Teils auf die Kodifikation zu übertragen? Im Gesetzgebungskonzept unterschieden sich die Zivilrechtskodifikationen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von den früheren Kodifikationen aus der Zeit der Aufklärung zunächst dadurch, dass sie keinen belehrenden Impetus mehr hatten und auch jede Form der Kasuistik sorgsam vermieden.25 Während viele Kodifikationen der Aufklärungszeit eine selbständige Rechtswissenschaft möglichst überflüssig machen und die Richter zum bloßen „Mund des Gesetzgebers“ herabstufen wollten, setzte man im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts auf eine bewusste Arbeitsteilung zwischen dem Gesetzgeber einerseits und der Rechtswissenschaft und Rechtsprechung andererseits. Der Gesetzgeber sollte befehlen, aber nicht belehren. Er sollte sich die in der Dogmatik entwickelten Erkenntnisse zwar zunutze machen und seinen Anordnungen ein wissenschaftlich stimmiges System zugrunde legen, er sollte aber nicht selbst dogmatisieren und konstruieren. Der Allgemeine Teil im sächsischen und deutschen BGB sollte also keine Einführung in das Zivilrecht oder gar ein Lehrbuchersatz sein, er setzt die Kenntnis der Dogmatik vielmehr voraus.26 Das Streben nach Vollständigkeit in der Erfassung der zu regelnden Materien war zwar nach wie vor als Gesetzgebungsideal präsent. Um dem Vollständigkeitsideal möglichst nahe zu kommen, setzte man aber nicht länger auf eine ausufernde Kasuistik, die den Richter zum bloßen Rechtsprechungsautomaten degradierte, die er-
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Kommissionsprotokolle vom 26. und 28. September 1874, in: Schubert (wie Fn. 20), S. 218 ff. 24 Die Skizze Windscheids (in: Schubert, wie Fn. 20, S. 219 f.) wurde von der Kommission im Wesentlichen als Grundlage für die vom Redaktor des Allgemeinen Teils zu bearbeitenden Materien gebilligt (ebda., S. 218 ff.). 25 Näher Bernd Mertens, Gesetzgebungskunst im Zeitalter der Kodifikationen, Tübingen 2004, S. 318 ff., 324 f. 26 Das kommt bereits in den Materialien zum ersten Entwurf des sächsischen BGB (1852) klar zum Ausdruck, in denen deutlich gemacht wird, dass man auch mit Blick auf den Allgemeinen Teil zwischen einem Gesetzbuch und einem Lehrbuch zu unterscheiden habe und man bemüht war, den „Vorwurf einer zu doctrinären Haltung“ zu vermeiden; vgl. Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs für das Königreich Sachsen (wie Fn. 18), S. XI; Gustav Friedrich Held, Der Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs für das Königreich Sachsen in seinem Entstehen und in seinem Systeme dargestellt, Leipzig 1852, S. 38.
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strebte Lückenlosigkeit aber doch nie erreichen konnte.27 Den Schlüssel zum Erfolg sah man vielmehr im in sich stimmigen wissenschaftlichen System, das der Kodifikation zugrunde liegt, und in der dogmatisch präzisen Begriffsbildung auf hohem Abstraktionsniveau. Die Voraussetzungen hierfür übernahm der Gesetzgeber aus der Pandektenwissenschaft, ohne aber selbst ins Dogmatisieren zu verfallen. Insofern ist der berühmte Vorwurf Gierkes gegenüber dem ersten Entwurf zum deutschen BGB, dass es sich im Grunde nur um ein in Paragraphen gegossenes Pandektenlehrbuch handele, nicht ganz richtig.28 Die Gesetzgeber des sächsischen und mehr noch des deutschen BGB machten sich zwar die Errungenschaften der Pandektenwissenschaft bei der gesetzlichen System- und Begriffsbildung ausgiebig zu nutze. Sie vermieden es jedoch meist, diesen dogmatischen Unterbau im Gesetz in erläuternder und dogmatisierender Weise nach außen zu kehren. Gerade dies trug und trägt zur schweren Verständlichkeit eines Gesetzbuchs wie des deutschen BGB bei. Der Anspruch, ein aus sich selbst heraus – ohne Unterstützung von Wissenschaft und Praxis – verständliches und anwendbares Gesetzbuch zu schaffen, der den Gesetzbüchern der Aufklärungszeit zumindest partiell zugrunde lag, war hier aufgegeben. Das deutsche BGB baute in einem Maße wie kein Gesetzbuch vor ihm auf einer ausdifferenzierten Privatrechtsdogmatik auf, ohne diesen Zusammenhang aber deutlich zu machen. Mehr noch als das, was es sagt, trägt das, was das Gesetzbuch nicht sagt, sondern stillschweigend voraussetzt, zu seiner schweren Zugänglichkeit bei. Es ist die Quintessenz einer ausgereiften Zivilrechtsdogmatik, deren allgemeine Lehren es voraussetzt, ohne sie immer auszusprechen. Wie kein Gesetzbuch zuvor kann es daher nur bei gleichzeitiger Kenntnis der zugrundeliegenden Zivilrechtsdogmatik verstanden und richtig angewendet werden. Vor diesem Hintergrund wird auch das Konzept verständlich, das man im sächsischen und deutschen BGB mit dem Allgemeinen Teil verfolgte. Im möglichst hohen Abstraktionsniveau der dort getroffenen Regelungen sah man zunächst einmal das beste Mittel, unbeabsichtigte Regelungslücken und Widersprüche zwischen einzelnen Regelungsbereichen zu vermeiden. Man erstrebte also Vollständigkeit durch eine abstrakt-systematische Erfassung der Rechtsfragen, nicht durch eine Fülle von Einzelregelungen im jeweiligen Sachzusammenhang.29
27 Zum Folgenden näher Mertens (wie Fn. 25), S. 296 ff., 334 ff., 342 ff.; Jan Schröder, Das Verhältnis von Rechtsdogmatik und Gesetzgebung in der neuzeitlichen Rechtsgeschichte, in: Okko Behrends/Wolfram Henkel (Hrsg.), Gesetzgebung und Dogmatik, Göttingen 1989, S. 37 – 66, hier: S. 46 ff. 28 Otto Gierke, Der Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs und das deutsche Recht, Leipzig 1889, S. 2. Gierke zielte mit seinem Vorwurf aber auch weniger auf einen vermeintlichen Lehrbuchcharakter des Entwurfs, als vielmehr darauf, dass der Entwurf sich inhaltlich viel zu sehr am römischen Recht orientiere und auch den sozialen Herausforderungen der Gegenwart nicht gerecht werde. 29 Vgl. Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs für das Königreich Sachsen (wie Fn. 18), S. IX f.; Mathias Schmoeckel, in: Historisch-kritischer Kommentar zum BGB, Bd. 1, Tübingen 2003, vor § 1, Rn. 37, 41.
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Zugleich hat der Allgemeine Teil dadurch gesetzestechnisch eine Abkürzungsfunktion. Er dient der Vermeidung von Wiederholungen im Gesetz und einer Verdichtung der Bestimmungen.30 Er führt zu einer unausgesprochenen systematischen Vernetzung unterschiedlicher Regelungsebenen im Gesetz, die sich nur dem professionellen Rechtsanwender erschließt, und ersetzt auf diese Weise eine Fülle von expliziten Verweisungen. Dem liegt das Konzept zugrunde, dass die Stellung einer Regelung im Gesetzbuch ihre Anwendungsreichweite zum Ausdruck bringt. Der Allgemeine Teil dient somit der systematisch stimmigen Verortung einer Rechtsfrage, deren Regelung materienübergreifend erfolgen kann. Man hat das anschaulich als die Klammerfunktion der Allgemeinen Teile beschrieben. Die dort zusammengefassten Regelungen werden sozusagen vor die Klammer der nachfolgenden besonderen Materien gezogen, auf die sie gleichermaßen Anwendung erheischen. Die Stellung einer Vorschrift im Gesetz und deren Abstraktionshöhe ergibt sich nach diesem Konzept also aus ihrer dogmatischen Einordnung, nicht aus der Lebenswirklichkeit. Hieraus erschließt sich auch der auffällig nüchterne, technische Charakter des Allgemeinen Teils des deutschen BGB. Seiner Funktion nach sollte er gerade nicht eine Einleitung in das Gesetzbuch mit allgemeinen Leitsätzen oder gar pathetischen Bekenntnissen liefern. Er dient nicht dem Zugang des Laien zum Gesetzbuch, sondern wendet sich ausschließlich an den professionellen Gesetzesanwender. Auch ist er keine bloße Zusammenstellung von Legaldefinitionen. Nach dem damals herrschenden Gesetzgebungskonzept, das sich die BGB-Verfasser zu eigen machten, hatte der Gesetzgeber Definitionen zur Präzisierung konkreter gesetzlicher Anordnungen einzusetzen, insbesondere zur Festlegung eines gesetzlichen Sprachgebrauchs, nicht aber zur Vermittlung dogmatischer Einsichten oder zur Klärung der Rechtsnatur eines Begriffs oder Rechtsinstituts, was allein der Wissenschaft zukomme.31 Entsprechend sind die zahlreichen Legaldefinitionen des BGB nicht gebündelt im Allgemeinen Teil zu finden, sondern über das ganze Gesetzbuch verstreut jeweils integriert in konkrete gesetzliche Anordnungen, was sich nur dem hierin geübten professionellen Gesetzesanwender erschließt. Ein derartiges Konzept musste natürlich auf Widerspruch stoßen. IV. Kritiker und Verteidiger eines Allgemeinen Teils in der Zivilrechtsgesetzgebung Eine Diskussion um die Zweckmäßigkeit eines Allgemeinen Teils für Zivilgesetzbücher entwickelte sich erst im Anschluss an das vom sächsischen BGB gesetzte Vor-
30 Näher Mertens (wie Fn. 25), S. 418. Für die Pandektenwissenschaft wurde dieses Konzept eindringlich von Jhering propagiert: Rudolph von Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, 4. Aufl., Leipzig 1883, Bd. II/2, § 38, S. 329 f., § 40, S. 353 f. 31 Näher Mertens (wie Fn. 25), S. 468 ff.
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bild32 und erreichte im Zusammenhang mit den unterschiedlichen Wegen, die das deutsche BGB und das schweizerische ZGB in dieser Frage beschritten, ihren Höhepunkt. Von manchen wurde aus Gründen der gesetzgebungstechnischen Ökonomie das Voranstellen eines Allgemeinen Teils uneingeschränkt begrüßt; von anderen wurde ein Allgemeiner Teil für ein Privatrechtsgesetzbuch im Prinzip befürwortet, aber Kritik geübt an der Zuweisung bestimmter Materien zum Allgemeinen Teil; eine dritte Meinung schließlich lehnte einen Allgemeinen Teil für ein Privatrechtsgesetzbuch als unnötig und schädlich ab.33 Einer der schärfsten Kritiker des im deutschen BGB umgesetzten Konzepts war Eugen Huber, der als maßgeblicher Redaktor des Entwurfs zum schweizerischen Zivilgesetzbuch (ZGB) Gelegenheit hatte, sein abweichendes Gesetzgebungskonzept in der Schweiz umzusetzen. Huber, wie auch andere Kritiker eines Allgemeinen Teils, stellten dessen Nutzen für die Privatrechtswissenschaft nicht in Frage, betonten aber, dass die Frage seines Nutzens für die Gesetzgebung hiervon unabhängig zu beurteilen sei.34 Für die Privatrechtsgesetzgebung sei ein Allgemeiner Teil abzulehnen, weil er ein grobes Hindernis sei in dem Bestreben nach einem anschaulichen und möglichst auch für den Nicht-Juristen verständlichen Gesetzbuch. Auch würden durch das Konzept eines Allgemeinen Teils, wie es dem BGB zugrunde lag, zusammengehörige Materien wie das Personenrecht und das Sachenrecht künstlich aufgespalten. Schließlich sei auch für die übrigen einem Allgemeinen Teil üblicherweise zugerechneten Materien (namentlich Regelungen über die Entstehung, den Untergang und den Inhalt von Rechten) zweifelhaft, ob in einem Gesetzbuch hierfür mit einigem Nutzen allgemeine Regelungen für alle Materien gleichermaßen aufgestellt werden können. Häufig zeige sich, dass derart stark verallgemeinernde Regelungen in den besonderen Teilen dann doch wieder modifiziert werden müssen, wodurch das System des Gesetzbuchs nicht einfacher, sondern komplizierter werde. Huber hielt es daher für einfacher und anschaulicher, derartige Regelungen im Gesetzbuch dort zu treffen, wo sie in der praktischen Anwendung ihren Hauptsitz haben. In dieser Argumentation wird deutlich, warum das deutsche BGB und das schweizerische ZGB in der Frage eines Allgemeinen Teils unterschiedliche Wege beschrit32 Eine frühe ausführliche Stellungnahme findet sich bei Heinrich Emil August Danz, Die Wirkung der Codifikationsformen auf das materielle Recht. Leipzig 1861, S. 58 ff., der unter dem Eindruck des Entwurfs des sächsischen BGB die Übernahme des in der Zivilrechtswissenschaft entwickelten Allgemeinen Teils in Zivilgesetzbücher kritisiert. Zu positiven Reaktionen auf das Konzept eines Allgemeinen Teils im sächsischen Entwurf s. Schmoeckel (wie Fn. 29), Rn. 38; allgemein zu den Reaktionen auf die sächsischen BGB-Entwürfe der Überblick bei Barbara Dölemeyer, Kodifikationen und Projekte deutscher Einzelstaaten, in: Helmut Coing (Hrsg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. III/2, München 1982, S. 1551 f. 33 Detaillierte Nachweise bei Mertens (wie Fn. 25), S. 450 f.; aus französischer Sicht: Valérie Lasserre-Kiesow, La technique législative. Étude sur les codes civils français et allemand, Paris 2002, S. 100 ff. 34 Zum Folgenden: [Eugen Huber], Schweizerisches Zivilgesetzbuch. Erläuterungen zum Vorentwurf des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements, Heft 1, Bern 1901, S. 22 ff.
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ten. Für Huber hatte die Anschaulichkeit des Gesetzbuchs gegenüber dem Streben nach Vollständigkeit Vorrang. Er bevorzugte es daher, die Regelungen im Gesetzbuch dort zu treffen, wo sie im praktischen Leben am häufigsten zur Anwendung kommen, etwa im Kaufrecht, anstatt sie derart zu verallgemeinern, dass sie möglichst auf alle denkbaren Fälle Anwendung finden können und dann einem Allgemeinen Teil zuzuweisen.35 Die Erstreckung auf andere Fälle erfolgte dann entweder durch ausdrückliche Verweisung im Gesetz oder durch Rechtsprechung und Lehre mit den Mitteln der Auslegung und Analogie. Neben diesen konzeptionellen Überlegungen war für den Verzicht des ZGB-Gesetzgebers auf einen Allgemeinen Teil auch die bestehende Kodifikationstradition der Schweiz von Belang, denn keines der damals geltenden kantonalen Zivilgesetzbücher kannte einen Allgemeinen Teil und auch die zu Anfang der Entwurfsarbeiten zum ZGB eingeholten Stellungnahmen sprachen sich ganz überwiegend gegen einen Allgemeinen Teil aus. Schließlich hätte die Verwirklichung eines Allgemeinen Teils im ZGB tiefgreifende systematische Änderungen im damals bereits geltenden schweizerischen Obligationenrecht von 1881 erforderlich gemacht, welches man zwar an das ZGB anschließen und mit diesem harmonisieren, aber in seinen Grundzügen unangetastet lassen wollte. Gottlieb Planck, Mitglied schon der ersten BGB-Kommission und Hauptreferent der zweiten BGB-Kommission, nahm die erhebliche Kritik, die von vielen Seiten am ersten BGB-Entwurf geäußert worden war, zum Anlass zu einer ausgedehnten Verteidigung, in der er das dem Entwurf zugrundeliegende Konzept näher erläuterte. Seine Thesen sind im Grunde zugleich auch eine vorweggenommene Kritik an der von Eugen Huber favorisierten Gesetzgebungstechnik.36 In der Ablehnung eines kasuistischen Gesetzgebungsstils waren sich Planck und Huber einig, nicht aber darin, was an dessen Stelle zu setzen ist. Während Planck abstrahierende Regelungen befürwortete, die induktiv zu gewinnen sind und nach Möglichkeit alle regelungsbedürftigen Sachverhalte systematisch abdecken sollten, bevorzugte Huber anschauliche Leitgedanken, die zwar generalisieren, ohne aber den Normgehalt in schwer fassbare Abstraktionen aufzulösen.37 Ein Allgemeiner Teil möge zwar Regelungslücken vermeiden helfen, führe aber, so Huber, umgekehrt auch zu unbeabsich35
Vgl. Huber (wie Fn. 34), S. 10 f.; ders., Über die Art und Weise des Vorgehens bei der Ausarbeitung des Entwurfes eines einheitlichen schweizerischen Civilgesetzbuches, Bern 1893, S. 8; wieder in: Christoph Hurni/Markus Reber (Hrsg.), Schweizerisches Zivilgesetzbuch. Materialien zum Zivilgesetzbuch, Bd. 1, Bern 2009, S. 35 – 58, hier: S. 41 f. Auf diese Methode wies auch Ernst Zitelmann, Der Wert eines „allgemeinen Teils“ des bürgerlichen Rechts, in: Zeitschrift für das Privat- u. öffentliche Recht der Gegenwart 33 (1906), S. 1 – 32, hier: S. 22, unter dem Eindruck des Entwurfs des ZGB hin und lobte den hierdurch bedingten Gewinn an Anschaulichkeit, indem eine Regelung an ihrem Hauptanwendungsfall illustriert werde, anstatt nur ganz blass und abstrakt im Allgemeinen Teil Aufnahme zu finden. 36 Zum Folgenden: Gottlieb Planck, Zur Kritik des Entwurfes eines bürgerlichen Gesetzbuches für das deutsche Reich, in: AcP 75 (1889), S. 327 – 429, hier: S. 419 ff. 37 Zum Folgenden: Huber (wie Fn. 34), S. 9 f., 24. Zustimmung fand das Konzept Hubers u. a. bei François Gény, La technique législative dans la codification civile moderne, in: Le Code Civil 1804 – 1904. Livre du centenaire, hrsg. von der Société d’Études Législatives, 2 Bde., Paris 1904, Bd. 2, S. 987 – 1038, hier: S. 1032.
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tigten Regelungsüberschüssen, da der Hang zum Generalisieren dazu führe, dass Regelungen im Allgemeinen Teil aufgenommen werden, die in Wahrheit nicht für alle vom Allgemeinen Teil erfassten Materien und Fälle passen.38 Bei dem hohen Abstraktionsniveau eines Allgemeinen Teils für das gesamte Zivilgesetzbuch sei es schwierig, den Überblick zu behalten, ob die dort getroffenen Regelungen wirklich für alle von ihm erfassten Materien passen. Man sieht hieran, wie die favorisierte Regelungstechnik kein Selbstzweck war, sondern bewusst zur Erreichung verschiedener Ziele eingesetzt wurde. Je nach Gewichtung dieser Ziele fiel auch die Regelungstechnik verschieden aus. Indem die Redaktoren des deutschen BGB eine möglichst vollständige Normierung der zu regelnden Sachverhalte erstrebten und die Anschaulichkeit als weniger wichtig einstuften, gelangten sie zu dem das BGB prägenden abstrakten und präzisen, doch wenig anschaulichen Regelungsstil. Demgegenüber erachtete man in der Schweiz die Anschaulichkeit als vorrangig gegenüber dem Versuch einer möglichst präzisen Erfassung aller denkbaren Sachverhalte. Letztlich steht hinter der Entscheidung für oder gegen einen Allgemeinen Teil im Zivilgesetzbuch damit auch eine zentrale Frage der Gesetzgebungstheorie: Wie allgemeinverständlich kann ein modernes Zivilgesetzbuch sein und an wessen Verständnishorizont soll sich der Gesetzgeber orientieren, am juristisch geschulten Anwender oder am Laien?39 Im Zuge der unterschiedlichen Wege, die das deutsche BGB und das schweizerische ZGB in dieser Hinsicht kurz hintereinander beschritten, wurde diese Frage in der rechtswissenschaftlichen Literatur, aber auch von den Redaktoren der beiden Gesetzbücher selbst eingehend und kontrovers diskutiert.40 Die Verteidiger des in der deutschen Gesetzgebung verfolgten Konzeptes hoben hervor, dass das Ideal eines Gesetzbuchs, welches das ganze Volk verstehen könne, unrealistisch sei.41 Die Aufgaben der Gesetzgebung seien mit den zunehmend komplizierter werdenden sozialen Verhältnissen selbst verwickelter geworden. Den gesellschaftlichen Verhältnissen entsprängen zahllose verwickelte und schwierige Rechtsfragen, denen sich der Gesetzgeber stellen müsse. Es helfe nichts, wenn das Gesetzbuch sich stattdessen mit leicht fasslichen, aber gerade für den Streitfall 38
Dieses Argument findet sich – allerdings bezogen auf einen Allgemeinen Teil in der Zivilrechtswissenschaft – bereits bei Friedrich Karl von Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. 1, Berlin 1840, S. 391 f., der einen Allgemeinen Teil (als Gegenstand der Lehre) aber grundsätzlich befürwortete und nur vor einer „übertriebenen Ausdehnung“ warnte. 39 Ausführlich zu dieser Fragestellung Bernd Mertens, Allgemeinverständliche Gesetze – ein Mythos?, in: Susanne Hähnchen (Hrsg.), Eine Methodenlehre oder viele Methoden?, Tübingen 2020, S. 111 – 123. 40 Ausführlich zu dieser Kontroverse Mertens (wie Fn. 25), S. 398 ff. 41 Zum Folgenden: Ernst Zitelmann, Die Rechtsgeschäfte im Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich. Studien, Kritiken, Vorschläge, Berlin 1889, S. 2 ff.; Planck (wie Fn. 36), S. 419 ff.; Otto Bähr, Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 30 (1888), S. 321 – 414, 481 – 570, hier: S. 323 f.
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unzureichenden Regelungen begnüge. Hierdurch würde es nur über die Tatsache hinwegtäuschen, dass das Recht selbst in seiner Anwendung verwickelt und schwierig sei, könne diese Tatsache aber nicht aus der Welt schaffen. Das Gesetzbuch habe seinen Wert gerade dort, wo Zweifel, Unsicherheiten und Streitfälle beginnen. Die Hauptumrisse des Privatrechts seien dem einzelnen ohnehin nicht aus dem Gesetzbuch, wie immer es gestaltet sein möge, sondern aus dem täglichen Rechtsverkehr bekannt. Bei einem Gesetzbuch nach Art des BGB bedürfe es zwar des Juristen, um die abstrakten und verwickelten Sätze in ihren praktischen Konsequenzen zu entwickeln, doch dieser Vorgang sei kontrollierbar. Folge das Gesetzbuch hingegen dem Ideal der Volkstümlichkeit, so werde es dem Ratsuchenden häufig gerade in den Fällen, die zu Zweifeln oder Streit Anlass geben, die Antwort schuldig bleiben. Es müsse dann doch wieder der Jurist eintreten, dessen Entscheidung in diesem Falle aber weniger kontrollierbar sei. Die „Lebensferne“ des Gesetzbuchs durch sein hohes Abstraktionsniveau wurde also bewusst in Kauf genommen. Nun wäre es naiv zu glauben, dass man in der Schweiz stattdessen die Rechtssicherheit ganz zugunsten der Volkstümlichkeit der Gesetzgebung geopfert hätte. Eugen Huber sah nur anders als die BGB-Redaktoren nicht den Gesetzgeber in der Pflicht, Rechtssicherheit mittels des Gesetzbuchs überwiegend im Alleingang zu erreichen. Das ZGB war vielmehr von vornherein nur als ein Element bei der Gewährleistung der Rechtssicherheit vorgesehen, welche im Zusammenspiel mit Rechtsprechung und Wissenschaft erreicht werden sollte. Hierin zeigen sich aber zugleich auch die Grenzen des Volkstümlichkeitsstrebens in der Gesetzgebung an der Wende zum 20. Jahrhundert. Das ZGB sollte nach dem Konzept Hubers volkstümlich in Form und Sprache sein, es war aber nicht allgemeinverständlich in dem Sinne, dass der Laie den genauen Bedeutungsgehalt einer Regelung ohne weiteres dem Gesetzeswortlaut entnehmen könnte.42 Der aufklärerisch-absolutistische Gemeinverständlichkeitsanspruch etwa des preußischen ALR, welcher einer lückenfüllenden und rechtsfortbildenden Rechtsprechung und Lehre keinen Platz einräumte, war also nicht mehr der des ZGB. Durch die bewusste Einbindung von Rechtsprechung und Lehre in sein Gesetzgebungskonzept unter partiellem Verzicht auf ein Bestimmtheitsstreben erreichte Huber für das ZGB zwar größere Anschaulichkeit, nicht aber echte Allgemeinverständlichkeit im Sinne des aufklärerischen Gesetzgebungskonzepts. Huber selbst formulierte seinen Verständlichkeitsanspruch auch vorsichtiger, als es mancher aufklärerische Gesetzgeber getan hätte. Nicht gleiche Verständlichkeit für jedermann strebte er an, räumte vielmehr ein, dass der Jurist dem Gesetz jederzeit mehr entnehmen könne und ließ es genügen, wenn die Bestimmungen des Gesetzbuchs auch für den Nichtjuristen einen Sinn geben.43 42
Die Verherrlichung der Gesetzgebungstechnik des schweizerischen ZGB durch die Freirechtsbewegung, wonach im ZGB „jede Vorschrift ohne Kommentar jedem Laien“ verständlich sei (Ernst Fuchs, Die Gemeinschädlichkeit der konstruktiven Jurisprudenz, Karlsruhe 1909, S. 92), ist also stark überzogen und nur im Zusammenhang mit der gleichzeitigen Polemik gegen die „Hieroglyphensätze“ des deutschen BGB zu verstehen. 43 Huber (wie Fn. 34), S. 12.
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V. Gescheiterte Abkehr vom Allgemeinen Teil im Nationalsozialismus Gegner erwuchsen dem Konzept eines Allgemeinen Teils als Bestandteil der Zivilrechtskodifikation aber nicht nur in der Wissenschaft, sondern seit der Übernahme der Macht durch die Nationalsozialisten auch von Seiten des deutschen Gesetzgebers selbst.44 Schon 1934 griff der zuständige Staatssekretär im Justizministerium Schlegelberger das nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten verbreitete Schwarz-Weiß-Schema von systemorientierter Gesetzgebung einerseits und volkstümlicher Gesetzgebung andererseits auf und warnte, dass Gesetze sich selbst negieren würden, wenn sie nicht den Anspruch erheben könnten, vom Volk verstanden zu werden. Nichts sei gefährlicher für ein Gesetz, „als wenn der Gesetzgeber sich in übersteigerter Abstraktion der Rechtsgedanken gefällt“.45 Dies war offen gegen das BGB und das ihm zugrunde liegende Systemkonzept gerichtet. Statt an dogmatischen Systemzusammenhängen sollten sich die Regelungszusammenhänge im Gesetz an konkreten Lebenssachverhalten orientieren. Die ersten Schritte in diese Richtung unternahm man zunächst außerhalb der Gesetzgebung im Bereich der Juristenausbildung durch die 1935 erfolgte Änderung der juristischen Studienordnung, die im Bereich des Zivilrechts den bislang am dogmatischen System des BGB orientierten Vorlesungszuschnitt durch eine Orientierung an „konkreten Ordnungen“ ersetzte und Vorlesungen zum Allgemeinen Teil ganz aus der Studienordnung strich.46 Seitens des Gesetzgebers erfolgte die deutlichste Kampfansage an das hergebrachte dogmatische System durch den von Schlegelberger 1937 propagierten „Abschied vom BGB“, an dessen Stelle eine auf die einzelnen „Lebensgüter“ zugeschnittene Spezialgesetzgebung treten sollte.47 Schlegelberger machte sich damit Forderungen zu eigen, die schon kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten nicht nur von Parteistellen, sondern auch von namhaften Juristen erhoben worden
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Zum Folgenden: Bernd Mertens, Rechtsetzung im Nationalsozialismus, Tübingen 2009, S. 125 ff.; Schmoeckel (wie Fn. 29), Rn. 46 ff. 45 Franz Schlegelberger, Der Beruf unserer Zeit zur Gesetzgebung, in: Jahrbuch der Akademie für Deutsches Recht, hrsg. von Hans Frank 1 (1933/34), S. 99 – 110, hier: S. 106. 46 Karl August Eckhardt, Das Studium der Rechtswissenschaft, Hamburg 1935, S. 7 ff. Die Vertragslehre wurde auf den Schuldvertrag beschränkt, an die Stelle der Dichotomie von Schuld- und Sachenrecht trat eine Einteilung in Hauptgütergruppen wie „Boden“ sowie „Ware und Geld“. Schon die vorangegangene neue Justizausbildungsordnung vom 22. 7. 1934 (RGBl. I S. 727) hatte bei der Aufzählung der Prüfungsfächer (§ 5) die bisherige Anknüpfung an bestimmte Gesetze als Prüfungsstoff ersetzt durch eine Anknüpfung an „konkrete Lebensbereiche“ wie „das Recht der Herrschaft über die Sachgüter“, „das Recht des deutschen Bauern“ usw.; zum Ganzen Ralf Frassek, Weltanschaulich begründete Reformbestrebungen für das juristische Studium in den 30er und 40er Jahren, in: ZRG (GA) 111 (1994), S. 564 – 591. 47 Franz Schlegelberger, Abschied vom BGB. Vortrag, gehalten in der Universität zu Heidelberg am 25. Januar 1937, Berlin 1937, S. 18 ff.
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waren.48 Das Bürgerliche Gesetzbuch galt in der NS-Ideologie als Relikt der „überwundenen“ bürgerlich-liberalen Epoche und als Exponent der gleichermaßen verteufelten Begriffsjurisprudenz und des römischen Rechts, so dass seine Zerschlagung ein Gebot der Stunde sei. Mit dem Abschied vom BGB sollte auch ein Abschied von den diese Kodifikation in systematischer Hinsicht prägenden großen und kleinen Allgemeinen Teilen verbunden sein. Nach Ansicht Schlegelbergers sei ein Allgemeiner Teil im Gesetzbuch ein „Sammelplatz für blutleere Begriffe“ und „Gefahrenquelle für die Umfälschung eines Gesetzes in ein Lehrbuch“.49 In der zeitgenössischen rechtswissenschaftlichen Literatur stießen Schlegelbergers Angriffe auf den Systemgedanken in der Gesetzgebung im Allgemeinen und auf den Allgemeinen Teil im Besonderen sowohl auf Zustimmung als auch auf Ablehnung. Die Gegner eines Allgemeinen Teils verwarfen die diesem zugrunde liegende abstrakte Begriffswelt, geißelten ihn gar als „rationalistisch entartet“ und forderten, dass die Gesetzgebung sich nicht von der konkreten Lebenswirklichkeit emanzipieren und in Abstraktionen zurückziehen dürfe.50 Die Stimmen für einen Allgemeinen Teil blieben hingegen vereinzelt; sie verwiesen in erster Linie auf die sonst drohende Gefahr, dass viele Rechtsfragen in einzelnen Regelungsbereichen offen blieben.51 Einige namhafte Zivilrechtler nahmen auch eine vermittelnde Position ein, indem sie einen Allgemeinen Teil im Gesetzbuch nicht ganz verwarfen, aber sein Anwendungsgebiet auf das Vertragsrecht begrenzen wollten oder einen Allgemeinen Teil zwar als notwendig für Wissenschaft und Lehre, nicht aber für die Gesetzgebung erachteten.52 Als man seitens der Akademie für Deutsches Recht den Abschied vom BGB nicht mehr als Abschied von einer einheitlichen Kodifikation als solcher verstanden wis48 Überblick über die damals vertretenen Positionen bei Heinrich Lange, Die Entwicklung der Wissenschaft vom bürgerlichen Recht seit 1933. Eine Privatrechtsgeschichte der neuesten Zeit, Tübingen 1941, S. 5 ff. 49 Schlegelberger (wie Fn. 47), S. 21. 50 Arnold Köttgen, Zur Lehre von den Rechtsquellen des Wirtschaftsrechts, in: Festschrift Justus Wilhelm Hedemann zum 60. Geb., hrsg. v. Roland Freisler, George Anton Löning, Hans Carl Nipperdey, Jena 1938, S. 353 – 367, hier: S. 357 (Zitat); Hans Dölle, Die Neugestaltung des deutschen Bürgerlichen Rechts, in: Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht 1937, S. 359 – 362, hier: S. 362; Hans Carl Nipperdey, Das System des bürgerlichen Rechts, in: Zur Erneuerung des Bürgerlichen Rechts, hrsg. v. Hans Frank, München/Berlin o. J. [1938], S. 95 – 114, hier: S. 113; Franz Wieacker, Zum System des deutschen Vermögensrechts. Erwägungen und Vorschläge, Leipzig 1941, S. 24; Franz Beyerle, Schuldenken und Gesetzeskunst, in: ZStW 102 (1942), S. 209 – 258, hier: S. 215, 228 f.; Heinrich Lehmann, Der Entwurf des I. Buches des künftigen VGB im Vergleich mit neueren Kodifikationen, in: Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht 1944, S. 153 – 155, hier: S. 153. 51 Alfred Manigk, Neubau des Privatrechts. Grundlagen und Bausteine, Leipzig 1938, S. 5 ff., 34 ff.; weitergehend Philipp Heck, Der allgemeine Teil des Privatrechts. Ein Wort der Verteidigung, in: AcP 146 (1941), S. 1 – 27, hier: S. 14 ff., 26 f. 52 Im erstgenannten Sinne Karl Larenz, Neubau des Privatrechts, in: AcP 145 (1939), S. 91 – 107, hier: S. 99 ff.; im letztgenannten Sinne Heinrich Lange, Wesen und Gestalt des Volksgesetzbuchs, in: ZStW 103 (1943), S. 208 – 259, hier: S. 249.
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sen wollte und 1939 das Projekt eines sogenannten Volksgesetzbuchs (VGB) aus der Taufe hob, stellte sich die Systemfrage mit neuer Dringlichkeit. Die Redaktoren des VGB setzten anstelle eines Allgemeinen Teils auf leitsatzartige „Grundregeln“, die man in Sachen Konkretheit, Lebensnähe und Volkstümlichkeit als Gegenmodell zum Allgemeinen Teil des BGB verstand.53 Eine umfangreiche Verteidigung des Allgemeinen Teils im Privatrecht durch den Altmeister der Interessenjurisprudenz Philipp Heck blieb ohne positive Resonanz.54 Was die Systematik des projektierten neuen Gesetzbuchs betrifft, gab es einerseits nach wie vor heftige Attacken auf das „pandektistische Schulsystem“ des BGB, dem man in verklärender Weise eine Gesetzgebung entgegenstellen wollte, die „in Wirklichkeiten denkt“ und nicht in der Schulsprache der Wissenschaft und die ihre Rechtssätze in Aufbau und Gliederung in den Zusammenhang stelle, in den die Lebenswirklichkeit sie verweise.55 Andererseits wurde von moderateren Stimmen entgegengehalten, je systematischer das Gesetzbuch aufbaue, je dogmatischer es durchbilde, desto einfacher sei seine Handhabung durch den professionellen Rechtsanwender.56 Ein systematisch gegliedertes und dogmatisch durchgeformtes Gesetzbuch erleichtere auch eine Gleichmäßigkeit in der Rechtsanwendung. Systematik und Dogmatik entsprängen daher nicht nur einem „Schuldenken“, sondern seien auch die wichtigsten Hilfsmittel des Gesetzgebers. Die äußeren Umstände des Kriegsverlaufs waren dem Volksgesetzbuch-Projekt bekanntlich nicht günstig. Nach der Veröffentlichung erster Teilentwürfe geriet es 1943 ins Stocken und wurde 1944 ganz eingestellt. Die Kritik am Allgemeinen Teil des BGB überdauerte aber das Ende der NS-Herrschaft. Franz Wieacker etwa, schon in der NS-Zeit ein entschiedener Gegner des Allgemeinen Teils im BGB, hielt ihn auch noch 1967 in seiner „Privatrechtsgeschichte der Neuzeit“ für „entbehrlich, wenn nicht für geradezu schädlich“.57 Die heutige deutsche Zivilrechtsdogmatik geht Grundsatzdiskussionen, wie der nach dem Wert des Allgemeinen Teils, meist aus dem Weg. Diskutiert wird die Frage heute vornehmlich nicht aus innerstaatlicher Perspektive, sondern vor dem Hintergrund der Zukunftschancen eines 53 Justus Wilhelm Hedemann, Das Volksgesetzbuch der Deutschen. Ein Bericht, München u. Berlin 1941, S. 28 ff. 54 Heck (wie Fn. 51), S. 1 ff.; Heck sieht einen Allgemeinen Teil in der Zivilrechtsgesetzgebung nicht nur als Erleichterung für den professionellen Rechtsanwender, sondern auch als Gewinn an Gemeinverständlichkeit, da hierdurch die Klarheit und Übersichtlichkeit des Gesetzbuchs gestärkt würde (S. 26 f.). 55 Beyerle (wie Fn. 50), S. 210, 217, 226 ff. Ähnlich, aber moderater, Wieacker (wie Fn. 50), S. 6, der als Aufgabe der gesetzlichen Systematik ansah, „das für uns gültige Verhältnis zwischen Gesetz und völkischer Rechtswirklichkeit“ auszudrücken. Wieacker forderte im Sinne eines nebulösen objektiven Idealismus, dass das gesetzliche System die vielfältige Wirklichkeit „unter die Einheit einer höheren Anschauung der Wirklichkeit“ stellt (ebda, S. 13). 56 Lange (wie Fn. 52), S. 240 f. (auch zum Folgenden). 57 Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, 2. Aufl., Göttingen 1967, S. 488; kritisch gegenüber dem Nutzen eines Allgemeinen Teils für die Zivilgesetzgebung auch Andreas B. Schwarz, Das Schweizerische Zivilgesetzbuch in der ausländischen Rechtsentwicklung, Zürich 1950, S. 27.
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Allgemeinen Teils bei einer europäischen Privatrechtsvereinheitlichung.58 Da auf europäischer Ebene eine Vereinheitlichung auf absehbare Zeit, wenn überhaupt, dann nur für das Vermögensrecht, nicht aber für Materien wie das Familien- und Erbrecht zu erwarten ist, stellt sich auch die Frage nach einem Allgemeinen Teil auf europäischer Ebene praktisch nur für das Vermögensrecht. VI. Fazit Meines Erachtens gab es keinen „deutschen Sonderweg“59 in der Frage eines Allgemeinen Teils in der Zivilrechtsgesetzgebung. Zum einen ist darauf hinzuweisen, dass das Konzept eines Allgemeinen Teils in den Zivilrechtskodifikationen in mehr Ländern rezipiert worden ist, als häufig angenommen wird. Das gilt für Länder Ostasiens (Japan, China, Thailand, Korea) und Südamerikas (Brasilien), aber auch für einige Länder Europas wie Griechenland, Portugal, Polen, die ehemalige Sowjetunion und das heutige Russland und Georgien.60 Zum Teil diente hierbei das deutsche BGB als Vorlage, zum Teil handelte es sich aber auch ganz allgemein um eine Rezeption des pandektenwissenschaftlichen Konzepts eines Allgemeinen Teils für die jeweilige Gesetzgebung. Die Attraktivität des AT-Modells für die Zivilrechtsgesetzgebung hält dabei bis heute an, wie das Beispiel der Volksrepublik China zeigt, wo man sich in der 2017/2020 in Kraft gesetzten neuen Zivilrechtskodifikation erneut (wie schon 1929) für einen großen Allgemeinen Teil nach Vorbild des deutschen BGB entschied.61 Zum anderen ist darauf hinzuweisen, dass viele Länder, die in ihren Zivilrechtskodifikationen keinen für alle Materien geltenden „großen“ Allgemeinen Teil aufgenommen haben, doch zumindest „kleinere“ Allgemeine Teile für bestimmte Materien kennen, so etwa für das Schuldrecht oder – wie die Niederlande in ihrem neuen Bürgerlichen Gesetzbuch – für das gesamte Vermögensrecht. Auch das deutsche BGB beschränkt sich ja nicht auf den großen Allgemeinen Teil im ersten Buch, sondern enthält in den Folgebüchern wiederum auf die jeweilige Materie zugeschnittene Allgemeine Teile. Gerade die Allgemeinen Teile für das Schuldrecht, die sich in der Zivilrechtsgesetzgebung zahlreicher Länder finden, stehen in Abstraktionshöhe und 58
Hierzu etwa Münch (wie Fn. 17), S. 154 ff. So aber Schmoeckel (wie Fn. 29), Rn. 51; ähnlich schon Schwarz (wie Fn. 3), S. 587. 60 Vgl. Christian Baldus/Wojciech Dajczak (Hrsg.), Der Allgemeine Teil des Privatrechts, 2013 (zu Polen, Portugal, Deutschland und Brasilien); Schmoeckel (wie Fn. 29), Rn. 43; Jan Peter Schmidt, Zivilrechtskodifikation in Brasilien. Strukturfragen und Regelungsprobleme in historisch-vergleichender Perspektive, Tübingen 2009, S. 310, 355 ff.; Apostolos Georgiades, Der Einfluß des deutschen BGB auf das griechische Zivilrecht, in: AcP 200 (2000), S. 493 – 502, hier: S. 494; Hyung-Bae Kim, Das deutsche BGB und das koreanische Zivilrecht, in: AcP 200 (2000), S. 511 – 518, hier: S. 511. 61 Vgl. Wang Qiang, Vom deutschen BGB bis zu Chinas neuem Zivilgesetzbuch – eine Rezeptionsgeschichte des BGB in China, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 2020, S. 77 – 114. Der Allgemeine Teil des neuen chinesischen Zivilgesetzbuchs ist mit 206 Vorschriften auch vom Umfang her durchaus mit dem AT des deutschen BGB vergleichbar. 59
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Regelungsumfang dem Allgemeinen Teil des BGB nur wenig nach. So beinhaltet zum Beispiel auch das schweizerische Obligationenrecht, das bereits vor dem ZGB separat kodifiziert wurde, einen ausführlichen Allgemeinen Teil. Dies machte sich wiederum der spätere Schweizer ZGB-Gesetzgeber dadurch zunutze, dass er in Art. 7 ZGB einen generellen Verweis auf die allgemeinen Vorschriften des Obligationenrechts aussprach, denen über diesen Umweg also die Funktion eines Allgemeinen Teils für das gesamte kodifizierte Zivilrecht zukommt.62 Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Regelungstechniken sollten also nicht überbewertet werden. Die Frage nach einem dem Gesetzbuch vorangestellten Allgemeinen Teil gab und gibt zwar Anlass zu polarisierenden Stellungnahmen. In der Gesetzgebungspraxis waren es dann aber doch eher graduelle Unterschiede, die auf den ersten Blick so unterschiedliche Gesetzbücher wie etwa das deutsche BGB und das schweizerische ZGB in dieser Frage trennten. Schließlich ist ein systematischer Aufbau innerhalb einer kodifizierten Materie, der allgemeine Grundregeln mit weitem Anwendungsbereich voranstellt und von dort zu immer spezielleren Regelungen voranschreitet, wohl ein allgemeines Erbe der kontinentaleuropäischen Zivilrechtskodifikationen, die von der Pandektenwissenschaft des 19. Jahrhunderts geprägt wurden. Eine derartige Zivilrechtskodifikation ist keine bloße Sammlung einzelner Rechtssätze, keine bloße Kompilation im Sinne der Landrechte der frühen Neuzeit. Ob mit oder ohne „großen“ Allgemeinen Teil, liegt ihr seit dem 19. Jahrhundert in allen von der Pandektenwissenschaft geprägten Ländern mehr oder minder ein wissenschaftliches System zugrunde, das mit Abstraktionen und der Scheidung allgemeiner von besonderen Regelungsfragen arbeitet. Es geht in der Kontroverse um einen Allgemeinen Teil also letztlich weniger um ein kategorisches Entweder-Oder, sondern eher um die Frage des rechten Maßes und des konkreten Inhalts.63
62 Einen auch äußerlich hervorgehobenen AT erhielt das Obligationenrecht im Zusammenhang mit dessen gleichzeitig mit dem ZGB in Kraft getretener Revision. Der dem Wortlaut des Art. 7 ZGB erst in der parlamentarischen Beratung hinzugefügte Passus, wonach der Verweis sich (nur) auf die allgemeinen Vorschriften „über die Entstehung, Erfüllung und Aufhebung der Verträge“ beziehe, wurde schon von der zeitgenössischen Literatur überwiegend nicht als Schranke für die entsprechende Anwendung auch anderer allgemeiner Bestimmungen des Obligationenrechts interpretiert. 63 Vgl. Bernd Mertens, Kodifikation, Dekodifikation, Rekodifikation, in: Jens Eisfeld/ Diethelm Klippel/Martin Löhnig (Hrsg.), Zivilrechtswissenschaft. Bausteine der Zivilrechtstheorie, Tübingen 2021.
The Essential Role of National Identity in International Sports Competition By James A. R. Nafziger* It is an honor and privilege to salute my good friend and long-distance colleague, Klaus Vieweg, in this Festschrift. His eminence as a leading scholar of sports law, among other disciplines, is secure in both Germany and elsewhere around the world. He not only talks the talk but walks the walk in professional organizations. What follows is an essay on a nagging issue in sports law, namely, the appropriate contours and content of nationality in global competition. The focus will be on the Olympics and the Olympic Movement. Klaus concluded a “General Introduction” to his co-authored analysis of German sports law by observing that “collisions” between the rights of athletes and those of their sports organizations should be resolved by applying the principle of practical concordance and proportionality.1 This distinctly German contribution to the development of sports law is exactly the right approach to resolving nationality issues in international competitions. I. The Olympic Charter Framework Rule 6(1) of the Olympic Charter begins by providing that “[t]he Olympic Games are competitions between athletes in individual or team events and not between countries.”2 This is the basis for the abiding aspiration to maximize opportunities for ath* Thomas B. Stoel Professor and Director of International Programs, Willamette University College of Law (USA); Vice Chair, International Law Association; Honorary President, International Association of Sports Law. 1 Klaus Vieweg/Andreas Krause, Germany, Suppl. 30, in: Frank Hendrickx (ed), International Encyclopedia of Laws: Sports Law, 2013. 2 The term “countries” merits explanation. Rule 3(2) of the Olympic Charter provides that the International Olympic Committee (IOC) may recognize National Olympic Committees, one for each “country”. Of the currently 206 NOCS, 193 represent member states of the United Nations. The remainder include a UN Observer State (Palestine); two partially recognized states (Kosovo and Chinese Taipei (Taiwan)); and ten dependent territories (American Samoa, Cook Islands, Guam, Puerto Rico, the U. S. Virgin Islands, Bermuda, the British Virgin Islands, the Cayman Islands, Aruba and Hong Kong). The IOC recognized all of these thirteen NOCS except Kosovo before 1996. In that year the IOC amended the Charter to provide, under Rule 30, that “the expression ‘country’ means an independent state recognized by the international community.”
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letes in their individual interests and as role models while minimizing geopolitical interference in the sports arena. As such, this core provision underscores one of the five Fundamental Principles of Olympism: that “[t]he practice of sport is a human right…without discrimination of any kind and in the Olympic spirit, which requires mutual understanding with a spirit of friendship, solidarity and fair play.” Unfortunately, Rule 6(1) is sometimes misinterpreted so as to question any functional participation of “countries”3 in the organization of the Olympics. Such misinterpretation can lead to confusion about the national structure of the Olympic Movement. The remainder of Rule 6(1), however, clearly confirms that structure by designating National Olympic Committees (NOCs) to manage national participation in the Games and to select eligible athletes subject to their acceptance by the International Olympic Committee (IOC) and the technical direction of the pertinent International Federation (IF) governing each athlete’s particular sport. Nearly all NOCs are government-supported, many operating under the direct supervision of a national ministry of sport or in close association with it. This national structure of core activity in the Olympic Movement is not only necessary as an organizational principle but, as will be suggested, as a matter of institutional sustainability. Rule 6(1) thus establishes the essential role of “countries” in vindicating the right of qualified athletes to practice sport within the Olympic Movement. As the Charter subsequently provides in detail, governing national and international institutions are symbiotic. Even so, the controversial question remains whether nationality should be required for all members of a national team. Rule 41 of the Charter might seem to answer that question definitively by providing that “[a]ny competitor in the Olympic Games must be a national of the country of the NOC which is entering such competitor.” But should the term “national” be defined by national laws with all of their variations and uncertainties, by a concept of sport nationality or by both criteria? Must a genuine link exist, in a strict if not legal sense, between a “national” under Rule 41 and the “country” of the NOC? More fundamentally, does Rule 41 conflict with Rule 6(1)’s premise of competition between individuals, arguably without regard to their nationality, however essential “countries” may be in the structure of competition? Indeed, is Rule 41 a good idea at all in today’s world of globalization? Why not scrap it in the interest of maximizing opportunities for individual athletes freed of the shackles of nationality and thereby better ensure the highest-quality of performance? Responses to these questions are split but generally take insufficient account of a necessary mutuality between national and international identities in fulfilling the spirit of friendship, solidarity and fair play in the practice of sport.
3 See generally James A. R. Nafziger, Rights and Wrongs of and About Nationality in Sports Competition, in: C. Paulssen et al. (eds), Fundamental Rights in International and European Law, 2016.
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II. Accelerated Naturalization The issue of nationality in sports competition flared up in recent years because of what was feared to be a growing practice of accelerated naturalization by governments to acquire top-level athletes for national fame and fortune.4 Growing acceptance of dual citizenship and the diminishing significance of citizenship as a whole aided and abetted what came to be known variously as, for example, “country swapping,” “quickie citizenship” or the deployment on the soccer field of “plastic Brits,” all intimating temporary and artificial links between states and talented foreigners sharing a quest for gold medals and resulting prestige. The integrity of the Olympic structure was thought to be in jeopardy. To be sure, the examples were often startling: members of the Nigerian women’s bobsled and skeleton teams born and raised in North America; a former investment fund manager and his Italian wife from Staten Island, New York who alone represented Dominica (in cross-country skiing) at the 2014 Winter Games in Sochi, having traded their contributions to charities on that Caribbean island for the opportunity to compete; a gold medalist for Russia in men’s snowboarding who was born, raised and trained in the United States but married to a Russian national; and the proud bearer of the Marshall Islands flag in the opening ceremony of the 2012 London Games who, though of Marshallese parentage, had never been there. These examples underscore that the practice of accelerated naturalization includes both states already wellendowed with athletic prowess and those in need of talent. The top naturalizing states have been, in order, France, the United States, Spain, Canada, Qatar and Bahrain. “Muscle drain” is normally not a problem. Often accelerated naturalization is not artificial or temporary, but rather a reflection of dual citizenship, marriage to a national of another state, professional relocation there, or parentage as in the case of tennis star Naomi Osaka, a naturalized U. S. citizen, born in Japan of Japanese-Haitian parentage, who opted to join the Japanese team for the Tokyo Olympics. Sometimes humanitarian reasons explain a change of nationality as in the instance of Yamilé Aldama, a world-class triple jumper who participated in three consecutive Olympics as a member of the Cuban, Sudanese and British teams, respectively. Also, accelerated naturalization may be reasonably viewed as simply a specific instance of normal competition among states, especially immigrant-destination ones, to acquire the best and brightest new citizens, however they are categorized. Moreover, the practice may often be commendable and perhaps should be encouraged as a means to expand opportunities for athletes who do not make a cut or are otherwise ineligible to compete for a team of their original nationality such as a third-seeded Chinese table tennis player, a Kenyan distance runner or an Austrian skier. The iconic example is Victor Ahn, the triple gold medalist and also bronze med4 See Ayelet Shachar, Picking Winners: Olympic Citizenship and the Global Race for Talent, 120 Yale L. J. 2088 (2010 – 11).
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alist, under his birth name of Ahn Hyun-Soo, on the South Korean short-track speed skating team at the 2006 Winter Games in Turin. As the reigning overall champion in that sport, having won five straight championships, he unfortunately suffered injuries and related absences from international competition that prevented his inclusion on the South Korean team at the 2014 Winter Games in Sochi. Instead, he slavicized his name; acquired Russian citizenship; again won three gold medals and a bronze medal, this time for Russia; and went on to become the overall champion at the “Worlds” that year. In the end, the practice of accelerated naturalization is a non-issue, at least up to the point at which the national integrity of a genuinely competitive national team is materially compromised. There is little evidence of either that or that the practice has bumped many deserving athletes off their national teams. Nor is it a growing problem. At the 2018 Winter Games in PyeongChang, only 6 % (178) of the athletes competed on teams other than those of their countries of origin,5 many of them for creditable reasons. This statistic seems to have remained static over the years. Moreover, international relocation of athletes is a broadly accepted and growing practice in professional sport leagues.6 If the practice ever does threaten the national integrity of genuinely competitive national teams, remedies are available. These might include uniform or harmonized rules among IFs to restore integrity regardless of the eccentricities of national citizenship or residence. A UNESCO or other international agreement among states on threshold residence requirements might be another response, albeit a politically problematic one. A third option might be to establish “wild card” slots on each team, to be reserved for non-nationals from excessively well-endowed countries in particular sports. III. Sport Nationality: A Genuine Link or No Link? Although the Olympic Charter leaves the definition of the requisite legal nationality under Rule 41 to the discretion of states7, a concept of sport (or more narrowly, Olympic) nationality by IFs may further define the eligibility of athletes, including players in non-Olympic professional leagues.8 Such requirements beyond those of 5
See Rob Hodgetts, CNN Sports, Feb. 14, 2018. See Gregor Aisch, Kevin Quealy and Rory Smith, Where Are the Best Pro Athletes From? Increasingly, From Somewhere Else, N. Y. Times, Global Sports, Jan. 7, 2018, at 6 (including two full pages of sport-by-sport graphs showing the growth since 1960 of foreignborn professionals in several countries). 7 This discretion, though not expressed, is a legacy of the Olympic Movement’s acceptance of customary international law. See Nationality Decrees in Tunis and Morocco (U. K. v. Fr.) P. C. I. J., Ser. B., No. 4 (1923). 8 For an in-depth commentary on the rules of one IF applicable to professional sports leagues and teams, see Courtney D. Hall, Fishing for All-Stars in a Time of Free Agency: Understanding FIFA Eligibility Rules and the Impact on the U.S. Men’s National Team, 23 MARQ. Sports L. REV. 191 (2012). 6
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legal nationality seek to better confirm a genuine link – termed a “meaningful connection” by some IFs – between nationality and a state granting it. Although IF requirements do not function under international law as do the genuine link requirements of the classic Nottebohm Case,9 they nevertheless share a concern about the integrity of naturalization measures. The requirements for such a link vary among the IFs and national sports practice. They typically involve residence, stipulated waiting periods, parentage or grandparentage. Accordingly, either athletes of a single nationality or those possessing dual nationality can make choices. The requirements also confirm, restrict or otherwise affect transferability from one national team to another.10 The applicable rules of transferability range from a limitation in, for example, basketball, soccer and ice hockey, of just one change of nationality to more nuanced, movement-friendly rules of other IFs. Treaty provisions and jurisprudence of the European Union involving freedom of movement and competition law add to the complexity. Both the IFs and the Olympic Charter require “cooling-off periods” between national transfers. The Charter, for example, provides that at least three years must pass between national transfers subject to waivers. The waivers themselves must be approved by transferor states. Cuba, in particular, has sometimes refused to do so, leading to two cases before the Court of Arbitration for Sport (CAS). In both cases the petitioners claimed statelessness after they had left Cuba and denounced their Cuban citizenships. One, a U. S. resident, lost his appeal before the CAS whereas the other, a Canadian resident, won.11 Thus, waivers of sport nationality rules can be undependable. To summarize, requirements of so-called sports nationality can compound the problem of variations among national laws of citizenship, both of origin and of naturalization. For example, although most states apply principles of both jus soli and jus sanguinis, their specific rules and standards vary significantly. Adding on residence or parentage/grandparentage rules of sports nationality can be further confusing, leading to proposals for unification or harmonization of the requirements.12 On balance, however, the benefits of efforts within the Olympic Movement, especially by IFs, to strengthen nationality links and avoid questionable naturalization have outweighed the fragmentation of these efforts. Still, the question remains: why not avoid problems of application altogether by simply eliminating Rule 41’s requirement of nationality? A good argument to that 9
Nottebohm Case (Second Phase) (Liechtenstein v. Guatemala), I. C. J. Judgment of April 6, 1955. 10 See Peter Spiro, Citizenship and the Olympics: Do Our Athletes Need to Come From Home? 16 L. & SOC., No. 3, at 4 (2016). 11 Respectively, USA Canoe/Kayak v. I. O. C., CAS Ad Hoc, Div. (O. G. Sydney 2000), reprinted in Ii Digest of Cas Awards; Canadian Olympic Comm. v. I. O. C., at 83. 12 See Robert Siekmann, Nationality and Sport, Int’l Sports L. J., Nos. 1 – 2, at 122 (2006); Gerard-René de Groot, Remarks on the Relationship Between the General Legal Nationality of a Person and his ‘Sporting Nationality’, id at 3.
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effect begins with the reality that the nationality requirement not only can limit the eligibility of the best athletes through national quotas (for example, the problem of excessive Chinese talent in table tennis), but also constrains transferability, commodifies citizenship, and defies a global trend away from national barriers to the exercise of individual human rights. Arguably, Rule 41 is an anomaly if not a contradiction of Rule 6(1)’s insistence that competition is among athletes and not countries, subject only to the acknowledged necessity of a national structure for organizing sports at the international level. IV. National and International Identities Just as the threat to the integrity of international sports competition of accelerated naturalization turns out to be misguided, so would be an attempt to enhance that integrity by scrapping nationality requirements altogether. To be sure, requirements of both legal nationality and sports nationality theoretically inhibit opportunities to participate in international competition and the overall quality of the competition. But denials of such opportunities, at least any substantially affecting the quality of competition, are even rarer than instances of accelerated naturalization. Marginally deprived athletes are more theoretical than real. Also, it is not at all clear that the global public and sponsors of sports competition, as prime stakeholders in sports, would prefer a disproportionate inclusion of top-notch Chinese table tennis players or Kenyan distance runners on their national teams as opposed to enhancing opportunities for marginally inferior athletes of a team’s national affiliation. With regard to such preferences by the public and sponsors, the argument to scrap the requirement of nationality altogether has employed an analogy to professional sports teams or clubs based in and identified with particular cities.13 Their players are seldom home-grown in those cities and, indeed, are increasingly of foreign nationality. This lack of local identity, however, doesn’t normally matter to fans, who themselves may not reside in or otherwise identify themselves with the particular cities that host their favorite teams. So why should nationality matter for Olympic teams? This analogy is unpersuasive for three reasons: First, although professional sports fans may be interested in the origin of individual players, it is the composite team as a whole on which they focus in a particular game or match. By contrast, in the Olympics and other such international competition, with a few exceptions of team sports, the public overwhelmingly focuses on individual athletes in individual events. The Olympic focus is therefore far more sharply defined by individual profiles. Second, insofar as the Olympics and such international competition is necessarily structured nationally, the expectation as a matter of the integrity of the overall pageant, is that each national team will largely if not entirely reflect that nationality. Loyal fans of the 13 Id. (noting that “[w]e don’t require our professional athletes to hail from cities on whose teams they play” and asking “[w]hy should it be any different at the global level?”).
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New England Patriots in North American football, on the other hand, do not expect that the players will largely hail from New England, let alone Foxboro, Massachusetts. Third, sometimes the national origin of players does matter to a professional team’s fans, as, for example, when the Toronto Maple Leafs hockey team included numerous Americans.14 In any event, national identity is not the same as nationalism. Indeed, the two concepts can be opposites when the national identity incorporates international identity. Nationalism is an ideological expression of an aspiration to power whereas national identity is a much softer affection for or devotion to a nation (or nation-state). Although nationalism can be consistent with international cooperation and even an engine of, for example, ecological management, it too often expresses a “me-first” approach to international relations.15 National identity, on the other hand, is more closely associated with normal patriotism. Baron Pierre de Coubertin’s aspiration in founding the modern Olympic Movement was not simply a romantic or nostalgic one of replicating ancient Games for elitist glory; instead, he wanted the Games to serve broader values of public health and international peace – still an often frustrated work in progress. The Olympics were part of a larger, non-governmental expression of fin de siècle idealism that also included, for example, the establishment of the Red Cross, Scouting, and Esperanto.16 All of these international movements have shared a reliance on constituent nongovernmental organizations to do the heavy lifting for common ends.17 Typical of the movements’ leaders, de Coubertin “came to the conviction that patriotism and internationalism were not only not incompatible, but required one another.”18 A paragon of this viewpoint was the eminent French statesman, Jean Jaurès. For him, patriotism, as a collective expression of national identity, entailed a commitment to universalistic principles in which the patriotic feelings of citizens around the world would be deliberately fused in solidarity at the international level.19 Jaurès was convinced that this cosmopolitan, almost organic form of patriotism, by inspiring a transnational workers movement, would prevent the outbreak of war. Tragically, his vision not only failed but led to his assassination on July 31, 1914,20 the very eve of 14 See Made in the USA: Some Toronto Fans Aren’t Happy with the American Look of Canada’s Team, Sports Illus., Nov. 7, 2011, at 26. 15 See Edith Brown Weiss, Establishing Norms in a Kaleidoscopic World: General Course in Public International Law 406 (2018). 16 See generally John Hoberman, Toward a Theory of Olympic Internationalism, 22 J. Sports Hist., No 1, at 1 (1995). 17 In the case of the Esperanto Movement, the effort was fragmented and disputed, however. 18 John J. Macaloon, This Great Symbol: Pierre de Coubertin and the Origins of the Modern Olympic Games 112 (1981). 19 See Geoffrey Kurtz, Jean Jaurès: A Portrait, 5 Logos J., No. 2, unpaginated (2006). 20 See Barbara W. Tuchman, The Proud Tower, ch. 8 (The Death of Jaurès) ed. by Bantam, at 541 (1971).
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the Great War, by an extreme French nationalist bearing the unlikely name of Raoul Villain. Jaurès left his mark, however, on the conscience of the Olympics in its quest to mutually catalyze national and international identities. This fusion of national and international identities is crucial not only as an organizational construct of the Olympic Movement, but also for the desired appeal and sustainability of the competition itself. Normally, a person’s national identity is neither ideological in a political sense or purposeful like nationalism. Nor is the concept of identity abstract such as “shared citizenship.” Instead, it is non-exclusive and affective. It can operate nationally, internationally or, as in the Olympic Movement, mutually. A chief critic of country swapping, noting that the level of global sports law in action “far exceeds anything that we have witnessed to date in other social realms or legal arenas, including those that involve extensive cross-border activities such as trade or war,”21 has observed that “international standards were not achieved at the expense of erasing national identities or turning borders into nothing. In fact, the opposite is the case. Part of what sustains the modern Olympic Movement is the amalgamation of the focus on pure human achievement [with the patriotic affection of people for athletes and teams of their nationality].”22 An iconic sequence at every Olympics moves from the opening ceremony involving a parade of national teams in alphabetical order (Israel normally follows Iran, for example), through the competition itself, to the closing ceremony, this time featuring a parade of informally commingled athletes without regard to nationality. During the course of the competition, the national media understandably draw the popular attention to national prowess and box scores. But the global public is nevertheless drawn into a cosmopolitan experience. It may, alas, have no direct effect on the cause of peace, but it has a lasting effect on the human conscience and development. V. Conclusion Rules 3(2), 6(1) and 41 of the Olympic Charter frame the reliance of the Olympic Movement on national organizations and the essential values of the individual athlete and national identity. This mutuality of national and international identities counteracts the common antagonism between nationalism, in its “me-first” sense, and internationalism. Arguably, the requirement of nationality under Rule 41 is too relaxed; accelerated naturalization and the purchase of foreign talent is a threat to the integrity of international competition and its financing, structured as it necessarily is along national lines. On the other hand, it has been argued that Rule 41 frustrates opportunities for marginalized premier athletes and thereby the achievement of the highest quality 21 22
Schachar, supra note 4, at 2120. Id.
The Essential Role of National Identity in International Sports Competition
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of competition. The evidence in today’s world supports neither of these opposing apprehensions although the lingering debate expresses reasonable concerns. If, however, either the integrity of nationality on the one hand, or the achievement of top quality performance, on the other hand, are materially compromised, remedies are available. So far, the mutuality of national and international identities has been beneficial, if not essential to the global popularity and institutional sustainability of the Olympics and other major international competition. In the end, this model of international sports law reflects an impressive application of the principle of practical concordance and proportionality.
Sportsponsoring während Corona Zum Schicksal von Verträgen bei Verschiebung und Absage von Sportevents Von Martin Nolte1 I. Einleitung Die Corona-Pandemie ist eine Herausforderung für Staat und Gesellschaft. Sie trifft auch den Sport auf breitester Front. Zur Verhinderung von COVID-19 werden Sportwettbewerbe verschoben oder abgesagt. Die Playoffs der Deutschen Eishockey Liga fielen bereits Anfang 2020 aus. Wenig später beendete die Handball Bundesliga ihre Saison 2020/21 vorzeitig. Die Deutsche Fußball Liga und die Basketball-Bundesliga unterbrachen ihren Spielbetrieb und konnten die Saisons 2020/21 mit Veranstaltungen ohne Zuschauer immerhin beenden. Das bedeutendste Reitturnier der Welt, der CHIO Aachen, wurde 2020 demgegenüber genauso gestrichen wie das prestigeträchtigste Tennisturnier der Welt, die Wimbledon Championships, sowie die Leichtathletik-Europameisterschaft in Paris. Die Tour de France wurde im Spätsommer 2020 nachgeholt, während die für 2020 geplanten Olympischen und Paralympischen Spiele, die Fußball-Europameisterschaften und das älteste noch ausgespielte Golfturnier der Welt, die British Open, um ein ganzes Jahr auf 2021 verschoben sind. Ob und in welcher Weise die Veranstaltungen schlussendlich stattfinden können, ist schwer zu beurteilen. Es hängt von dem Verlauf der Pandemie und der Entwicklung eines Impfstoffes ab. Durch die Corona-Pandemie ergeben sich breit gestreute Rechtsfragen für den Sport.2 Sie reichen von etwaiger Staatshaftung für das Verbot von Zuschauern3 und den Auswirkungen des „Shutdowns“ bzw. „Lockdowns“ auf Arbeitsverträge von Sportlerinnen und Sportlern4 über die Planinsolvenz als Sanierungsoption für Fußballvereine in der Corona-Krise5 und die Zulässigkeit des vorzeitigen Abbruchs 1 Der Autor ist Universitätsprofessor und Leiter des Instituts für Sportrecht an der Deutschen Sporthochschule Köln. Seiner wissenschaftlichen Mitarbeiterin Frau Dr. Caroline Bechtel sei herzlich für die Durchsicht der Druckfahne gedankt. 2 Vgl. hierzu die Causa Sport Spezial, Heft 2/2020; sowie Orth, in: Schmidt (Hrsg.), Covid-19, Rechtsfragen zur Corona-Krise, 2. Aufl. München 2020, § 10 (Sport). 3 Hierzu Nolte, Causa Sport 2020, S. 162 ff. 4 Hierzu Del Fabro, Causa Sport 2020, S. 234 ff.; zu den Auswirkungen der Coronakrise auf Arbeitsverhältnisse im Profisport Fischinger, SpuRt 2020, S. 112 ff., 158 ff. 5 Hierzu Laschinski/Kührt, SpuRt 2020, S. 232 ff.
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der Spielzeit der Tischtennisliga6 sowie der Fortsetzung des Spielbetriebs in der 3. Fußballliga nach dem corona-bedingten „Lockdown“7 bis hin zur Benutzung von Sportstätten8 und dem Fortbestehen erfolgreicher Qualifikationen für Sportwettkämpfe, die infolge von Corona verschoben wurden.9 Der vorliegende Beitrag befasst sich mit ausgewählten Folgefragen der Corona-Pandemie für das Sportsponsoring. Besonders praxisrelevant erscheint hierbei das Schicksal laufender Verträge bei corona-bedingter Verschiebung oder Ausfall von Sportveranstaltungen.10 Diesem Thema ist der nachfolgende Beitrag für Klaus Vieweg aus Anlass seines 70. Geburtstages im Jahre 2021 gewidmet. Seine Untersuchung zur Normsetzung und -anwendung deutscher und internationaler Verbände aus dem Jahre 199011 gilt als erste deutschsprachige Habilitationsschrift zum Sportrecht. Die Entwicklung von „Sport und Recht“ zur „Faszination Sportrecht“ prägte Klaus Vieweg in den vergangenen drei Jahrzehnten maßgeblich durch zahlreiche (Mit-)Herausgeberschaften, Veröffentlichungen, Veranstaltungen und Projekte.12 Als früherer Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Rechtsinformatik, Technik- und Wirtschaftsrecht und Direktor des Instituts für Recht und Technik sowie Vizepräsident sowohl der internationalen als auch der nationalen Sportrechtsvereinigung und Vorstandsmitglied des Instituts für Deutsches und Internationales Sportrecht e. V. galt sein besonderes Interesse stets der Verzahnung zwischen Wissenschaft und Praxis. Diesem Interesse von Klaus Vieweg gelten die nachfolgenden Ausführungen zum Sponsoring im Sport.13
6 OLG Frankfurt vom 20. 05. 2020 – 19 W 22/20 –, SpuRt 2020, S. 196 ff., mit Anmerkung von Ruttig/Niewiadomski, SpuRt 2020, S. 201 f. 7 Beschluss des Bundesgerichts des Deutschen Fußball-Bundes vom 03. Juli 2020 – 2019/ 2020 BG –, Causa Sport 2020, S. 321 ff. mit Anmerkung von Bechtel (S. 327 f.) 8 Beschluss des Verfassungsgerichtshofs von Österreich vom 15. Juni 2020 – V 401/2020 – 13, V 420/2020 – 9, Causa Sport 2020, S. 373 ff. 9 Hierzu Bechtel, Causa Sport 2020, S. 148 f. 10 Zu den Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Fitnessverträge, Zuschauer- oder Werkund Mietverträge vgl. bereits Müller, Causa Sport 2020, S. 214 ff. (223 f.). 11 Klaus Vieweg, Normsetzung und -anwendung deutscher und internationaler Verbände. Eine rechtstatsächliche und rechtliche Untersuchung unter Berücksichtigung der Sportverbände, Berlin 1990. 12 Vgl. nur den beeindruckenden Überblick über die ausgewählten Schriften von Klaus Vieweg – angefangen von seinem Einführungsaufsatz aus dem Jahre 1983 (Juristische Schulung, S. 825 ff.) bis zu dessen wesentlicher Erweiterung und Aktualisierung in dritter (!) Auflage unter dem Titel „Faszination Sportrecht“ im Jahre 2015 –, die anlässlich seines 65. Geburtstages von Steiner/Walker, Von „Sport und Recht“ zu „Faszination Sportrecht“, Berlin 2016, publiziert wurden. 13 Vgl. bereits Vieweg, Sponsoring im Sport, Stuttgart 1995.
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II. Schicksal von Sponsoringverträgen Im Mittelpunkt des Sportsponsorings stehen Sponsoringverträge zwischen Sponsoren sowie den Veranstaltern der Wettbewerbe und Athleten (Gesponserte) mit Bezug zu Sportveranstaltungen. Deren Verschiebung oder Ausfall führt zu grundlegenden Fragen des Vertragsrechts. Die Beantwortung dieser Fragen bestimmt sich nach dem Recht des Staates, das entweder ausdrücklich im Wege der Rechtswahl oder nach den Bestimmungen des Internationalen Privatrechts maßgeblich ist. Der vorliegende Beitrag beurteilt die Rechtsfolgen der Verschiebung und des Ausfalls von Sportveranstaltungen für Sponsoringverträge nach deutschem Schuldrecht in der Gemengelage zwischen höherer Gewalt, Unmöglichkeit und Wegfall der Geschäftsgrundlage.14 1. Force-Majeure-Klauseln Einige Fragestellungen im Kontext der Verschiebung oder des Ausfalls von Sportveranstaltungen infolge der Corona-Pandemie dürften nach Klauseln für Fälle höherer Gewalt (sog. Force-Majeure-Klauseln) beantwortet werden können. Die Klauseln ordnen spezielle Rechtsfolgen an, die den allgemeinen Bestimmungen des Schuldrechts vorgehen. Ein Fall höherer Gewalt wird nach deutscher Rechtsprechung in aller Regel dann bejaht, wenn ein betriebsfremdes, von außen durch elementare Naturkräfte oder durch Handlungen dritter Personen herbeigeführtes Ereignis, das nach menschlicher Einsicht und Erfahrung unvorhersehbar ist, mit wirtschaftlich erträglichen Mitteln auch durch äußerste, nach der Sachlage vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht verhütet oder unschädlich gemacht werden kann und auch nicht wegen seiner Häufigkeit vom Betriebsunternehmen in Kauf zu nehmen ist.15 Eine solche Situation wird üblicherweise für Naturkatastrophen (Erdbeben, Überschwemmungen, Unwetter) oder anderen unabwendbaren Ereignissen (Aufruhr, Attentate, Blockade, Brand und Bürgerkrieg) bejaht. Diese werden bisweilen ausdrücklich in der jeweiligen Vertragsklausel als Beispiele angeführt. Gleichwohl ist das Vorliegen von höherer Gewalt stets einzelfallabhängig zu beurteilen, von dem konkreten Leistungsgegenstand abhängig und mit Blick auf die verschiedenen Rechtsgebiete innerhalb einer Rechtsordnung zu beurteilen. Im deutschen Reiserecht sah man Epidemien und Seuchen prinzipiell als Fälle höherer Ge-
14 Bezogen auf das Vertragsrecht im Allgemeinen betont Bacher, MDR 2020, S. 514, vor allem die Vorschriften des Allgemeinen Schuldrechts über Leistungsstörungen, während Rothermel, IHR 2020, S. 89, kritisch betont: „Es wird deutlich, dass die betroffenen Vertragspartner in der konkreten Situation wenig konkrete Orientierung im Gesetz finden.“ Zu den Veranstaltungsabsagen und ihre Folgen für Besucher und Dienstleister jüngst Weller/Schwemmer, NJW 2020, S. 2985 ff. 15 So etwa BGH, Urteil vom 22. 04. 2004 – III ZR 108/03 –, BGHZ 159, 19 = MDR 2004, 875; BGH, Urteil vom 16. Mai 2017 – X ZR 142/15.
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walt an.16 Vergleichbares dürfte für die jüngere Rechtsprechung mit Blick auf die Corona-Pandemie und die novellierten Bestimmungen des Reisevertragsrechts gelten.17 Entscheidend ist aber stets, worauf sich die in Rede stehende Leistung genau bezieht und ob insoweit ein Fall höherer Gewalt vorliegt. Liegt in Bezug auf die betreffende Leistung ein Fall höherer Gewalt vor, gehen die Rechtsfolgen der betreffenden Force-Majeure-Klauseln den allgemeinen (Vertrags-) Bestimmungen vor. Dies gilt insbesondere in ihrem Verhältnis zu den Bestimmungen über die Vorschriften zur Unmöglichkeit sowie zum Wegfall der Geschäftsgrundlage. II. Unmöglichkeit und Wegfall der Geschäftsgrundlage Fehlt es in einem Sponsoringvertrag an einer Force Majeure-Klausel oder kommt diese in dem konkreten Fall nicht zur Anwendung, dürfte die endgültige Absage einer Sportveranstaltung zur (endgültigen) Unmöglichkeit der Leistungserbringung des Gesponserten führen. Schwieriger ist die Situation zu beurteilen, wenn eine Sportveranstaltung wie beispielsweise die Olympischen und Paralympischen Spiele oder die Fußball-Europameisterschaften, auf die sich ein Sponsoringvertrag bezieht, verschoben wird (hierzu 1.). Problematisch erscheint es ferner, wenn eine oder mehrere Sportveranstaltung(en) im Rahmen eines (spiel-)zeitbezogenen Sponsoringvertrages ausfällt (hierzu 2.). In diesen Konstellationen kommt es zu Abgrenzungsfragen zwischen Unmöglichkeit und Wegfall der Geschäftsgrundlage. 1. Verschiebung Wird eine Sportveranstaltung lediglich verschoben, dürfte es für das Schicksal des jeweiligen Vertrages darauf ankommen, ob der ursprüngliche Termin der betreffenden Sportveranstaltung zum Zeitpunkt der rechtlichen Beurteilung bereits verstrichen ist (hierzu a.) oder noch bevorsteht (hierzu b.). a) Vorübergehende Unmöglichkeit Ist der ursprüngliche Termin einer Sportveranstaltung, in deren Kontext Werbeleistungen zu erbringen sind, bereits verstrichen, liegt eine vorübergehende Unmög16
Dies haben das Amtsgericht Augsburg (Urteil vom 09. November 2004, Az. 14 C 4608/ 03) im Hinblick auf den Ausbruch des SARS-Virus im Jahre 2002/2003 sowie das Amtsgericht Homburg (Urteil vom 02. September 1992 – 2 C 1451/92 – 18) mit Blick auf den Ausbruch von Cholera seinerzeit entschieden. 17 Vgl. jüngst etwa AG Frankfurt a. M., Urteil vom 11. 08. 2020 – 32 C 2136/20 –; AG Köln, Urteil vom 14. 09. 2020 – 133 C 213/20 –. Zu den rechtlichen Implikationen der CoronaKrise auf bestehende Verträge, insbesondere Liefer- und VOB/B-Bauverträge Beyer/Hoffmann, NJOZ 2020, S. 609 ff.; sowie mit Blick auf Force-Majeure-Klauseln und Leistungsstörungen bedingt durch das Corona-Virus Lejeune, ITRB 2020, S. 117 ff.
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lichkeit vor, wenn die Veranstaltung weitgehend unverändert in absehbarer Zeit stattfinden kann. Unter diesen Umständen sind Sponsoren und Gesponserte von ihren wechselseitigen (Primär-)Leistungspflichten bis zur Durchführung der neu terminierten Sportveranstaltung analog §§ 275 Abs. 1, 326 Abs. 1 BGB suspendiert. Denn wurde eine Sportveranstaltung infolge der Corona-Pandemie verschoben, so kann der Gesponserte seine Werbeleistungen nicht mehr zum ursprünglichen Termin der Veranstaltung erbringen. Damit wird sowohl die Leistungspflicht des Gesponserten als auch die Pflicht der Sponsoren zur Erbringung ihrer Zahlungspflichten suspendiert. Die Suspendierung der wechselseitigen Leistungspflichten anlässlich der CoronaPandemie ist allerdings nur vorübergehend. Sobald das Hindernis, das der Durchführung der Veranstaltung entgegensteht, in absehbarer Zeit überwunden wird, leben die wechselseitigen Leistungspflichten wieder auf. Dies trifft etwa auf die Olympischen und Paralympischen Spiele und die Fußball-Europameisterschaften zu. Diese wurden im Jahre 2020 zunächst um ein Jahr auf das Jahr 2021 verschoben. Zu ihren ursprünglichen Terminen ist die Erbringung von Werbeleistungen durch die Gesponserten nicht mehr möglich. Diese Unmöglichkeit wird aber durch den Nachholtermin überwunden. Die zeitliche Verschiebung führt gleichwohl nicht zu einer dauernden Unmöglichkeit. Eine dauernde Unmöglichkeit läge nur dann vor, wenn sich der Sponsoringvertrag entweder auf ein absolutes Fixgeschäft beziehen würde oder die vorübergehende Unmöglichkeit den Zweck des Sponsoringvertrags in Frage stellen und den Sponsoren das Festhalten am Vertrag bis zum Wegfall des Leistungshindernisses nicht zuzumuten wäre. Beides dürfte regelmäßig nicht der Fall sein. Denn bei veranstaltungsbezogenen Sponsoringverträgen handelt es sich üblicherweise nicht um absolute Fixgeschäfte. Absolute Fixgeschäfte bestünden nur dann, wenn die Einhaltung der Leistungszeit nach dem Zweck des Vertrags und der gegebenen Interessenlage für die Sponsoren derart wesentlich ist, dass eine verspätete Leistung durch die Gesponserten keine Erfüllung mehr darstellt. Bezieht sich ein Sponsoringvertrag aber auf eine bestimmte Sportveranstaltung als solche und ist diese Sportveranstaltung in weitgehend identischer Art und Weise zu einem späteren Termin nachholbar, so kann der Zweck des Vertrages, Werbeleistungen für die Sponsoren im Kontext dieser Sportveranstaltung zu erbringen, erfüllt werden. Der Zweck des Sponsoringvertrags entfällt dadurch nicht. Zwar leisten Sponsoren erhebliche betriebsinterne Aufwendungen, um ihr Sponsoring für einen Wettbewerb oder eine einzelne Sportveranstaltung einzuplanen. Dies gilt vor allem für ihre haushälterische Bereitstellung und Genehmigung eines finanziellen, zumeist nach Kalenderjahren bestimmten Budgets. Allerdings dienen diese Planungen lediglich zur Schaffung der Voraussetzungen für den Abschluss und die Durchführung eines Sponsoringvertrages. Seinen Zweck zur Erbringung von Werbeleistungen an sich berühren sie damit regelmäßig nicht. Etwas Anderes wäre nur dann anzunehmen, wenn sich der Zweck eines Sponsoringvertrages (Erbringung von Werbeleistungen gegen Geldzahlung) aus einem be-
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stimmten Termin der Sportveranstaltung selbst ergibt bzw. derart eng mit einem bestimmten Termin verbunden ist, dass die Erbringung der Werbeleistungen zu einem späteren Zeitpunkt für den Sponsor weitgehend sinnlos wird. Dies trifft etwa auf Sponsoringverträge zu, bei denen die Erbringung der Werbeleistungen im Kontext mit einem etwaigen Firmenjubiläum steht und nur aus diesem Grunde für den Sponsor Sinn macht. Um solche Sponsoringverträge dürfte es sich im Sport jedoch regelmäßig nicht handeln. Schließlich ist anzunehmen, dass der Zweck der in Rede stehenden Sponsoringverträge darin besteht, den Sponsor als Förderer einer bestimmten Veranstaltung auszuweisen. Dies gilt insbesondere für Olympische und Paralympische Spiele oder Fußball-Europameisterschaften. Deren ursprüngliche Terminierung ist zwar von wesentlicher Bedeutung für die finanziellen Planungen von Sponsoren. Ihnen dürfte aber vor allem daran gelegen sein, dass sie als deren Sponsor (bzw. Sponsor einzelner Athleten) als solche in Erscheinung treten. Zu welchem Zeitpunkt dies genau geschieht, ist zwar mit Blick auf die Planungen der Sponsoren wichtig. Der Zeitpunkt bestimmt aber nicht den Vertragszweck. Damit handelt es sich in aller Regel bei sportveranstaltungsbezogenen Sponsoringverträgen nicht um absolute Fixgeschäfte. In dem Zeitraum zwischen dem ursprünglichen Datum der Veranstaltung und ihrem Nachholtermin entsteht ein Schwebezustand. Dieser kann sowohl für die Sponsoren als für die Gesponserten – aus welchen Gründen auch immer – lästig sein, weil etwa das Festhalten am Vertrag die Entscheidungsfreiheit und Leistungskapazität beider Parteien erheblich beeinträchtigt. Vor diesem Hintergrund vertritt die herrschende Lehre im Falle einer vorübergehenden Unmöglichkeit, dass Gläubigern (Sponsoren) zwar keine sofortige Rücktrittsbefugnis gemäß § 326 Abs. 5 BGB, allerdings ein Rücktrittsrecht vom Vertrag nach § 323 BGB zusteht. Dies bedeutet, dass sie den Gesponserten grundsätzlich eine angemessene Frist einzuräumen haben, innerhalb derer sie ihre Werbeleistungen zu erbringen haben. Was als angemessen gilt, hängt von vielen Faktoren ab. Insbesondere ist maßgeblich, wie groß die Aussichten für eine Behebung des Hindernisses sind und wie viel Zeit bis dahin wahrscheinlich vergehen wird. Ferner ist die Schutzwürdigkeit des Schuldners (also der Gesponserten) von Bedeutung. Diese hängt vor allem davon ab, ob er das Hindernis zu vertreten hat und ob bzw. wie lange dem Gläubiger (Sponsoren) ein Warten noch zumutbar ist. Die Verschiebung um ein Jahr erscheint jedenfalls bei den größten Sportereignissen noch prinzipiell zumutbar. Schließlich dürften die Planungen der Sponsoren zur Unterstützung dieser Veranstaltung (bzw. einzelner Athleten) auch einen zeitlichen Vorlauf besitzen, während das Hindernis zur termingerechten Durchführung jedenfalls nicht im Verantwortungsbereich der Gesponserten liegt. Ist einem bestimmten Sponsor allerdings aus besonderen Gründen weiteres Zuwarten nicht mehr zumutbar, so käme für ihn eine frühere Rücktrittsbefugnis in Betracht. Umgekehrt wird jedoch vertreten, dass Schuldnern (Gesponserten) Rechte auf Vertragsanpassung sowie ggf. Rücktritt zustehen, sofern für sie der Tatbestand des § 313 BGB (Störung der Geschäftsgrundlage) erfüllt ist. Bei der Geltendmachung einer
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Vertragsanpassung durch die Gesponserten müssen gleichwohl die Rechte der Sponsoren berücksichtigt werden. Sollten die Sponsoren bereits Gegenleistungen (Zahlungen) bei vorübergehender Unmöglichkeit erbracht haben und die Sportveranstaltung zum späteren Zeitpunkt entweder gar nicht mehr oder nicht zu einem zumutbaren Zeitpunkt stattfinden, so können die Sponsoren ihre Gegenleistungen analog § 326 Abs. 4 BGB zurückfordern. Schließlich haben Sponsoren die theoretische Befugnis, neben der Erbringung der Werbeleistungen einen etwaigen Schaden, der durch die Verzögerung eingetreten ist, im Sinne der §§ 280 Abs. 1, 2, 286 BGB bei den Gesponserten zu liquidieren. b) Wegfall der Geschäftsgrundlage Vor dem ursprünglichen Datum einer Sportveranstaltung, in deren Kontext vertragsmäßige Werbeleistungen zu erbringen sind, erscheint es interessengerecht, unter Umständen eine Störung der Geschäftsgrundlage gemäß § 313 Abs. 1 BGB anzunehmen. Die Anwendung von § 313 Abs. 1 BGB würde beiden Parteien den Weg zur Vertragsanpassung und ggf. zum Rücktritt eröffnen, sofern einer Partei das Festhalten am Vertrag nicht zugemutet werden kann. Zwar sind die Regeln über die Störung der Geschäftsgrundlage nach § 313 Abs. 1 BGB grundsätzlich subsidiär. Dies gilt insbesondere in ihrem Verhältnis zu den Vorschriften über die Unmöglichkeit nach § 275 Abs. 1 BGB. Vor dem geplanten Termin einer Sportveranstaltung sind die (zukünftigen) Werbeleistungen, die im Rahmen dieser Veranstaltung zu erbringen sind, jedoch noch nicht unmöglich geworden. Das Datum der jeweiligen Sportveranstaltung ist für beide Parteien indes von großer Bedeutung und Grundlage der jeweiligen Sponsoringverträge. Sponsoren interessieren sich für die Erbringung termingerechter Werbeleistungen und müssen ihre finanziellen Planungen an den Terminen ausrichten. Für Gesponserte ist die Unterstützung der Sponsoren zumeist von existenzieller Bedeutung, insbesondere wenn es um die Bestreitung des Lebensunterhalts zur Erbringung sportlicher Leistungen geht (Athleten). Die deutliche Verschiebung einer Sportveranstaltung stellt eine schwerwiegende Änderung der grundlegenden Vertragsumstände dar. Denn sie bedeutet, dass Sponsoren ihre Planungen um einen größeren Zeitraum nach hinten verschieben müssen und Gesponserte mit Blick auf verzögerte Zahlungsansprüche in ernsthafte Schwierigkeiten kommen können, den Zeitraum zwischen dem ursprünglichen Datum einer Veranstaltung (und ihren damit verbundenen Zahlungsansprüchen) sowie einem etwaigen Nachholtermin (wirtschaftlich) zu überbrücken. Hätten die Parteien zudem gewusst, dass sich eine betreffende Sportveranstaltung beispielsweise um ein ganzes Jahr verschieben sollte, dann hätten sie den Sponsoringvertrag nicht mit dem ursprünglichen Datum geschlossen und ihre Leistungen (aller Wahrscheinlichkeit nach) um ein ganzes Jahr nach hinten verschoben. Insofern dürften auch die Voraussetzungen nach § 313 Abs. 1 BGB gegeben sein.
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Die Anpassung des Vertrags (oder sogar ein Rücktritt nach § 313 Abs. 3 BGB) kann indes nur insoweit verlangt werden, als das Festhalten am unveränderten Vertrag einer der Parteien nicht zugemutet werden kann. Die Frage der Zumutbarkeit erfordert eine umfassende Interessenabwägung. Dabei ist zunächst zu berücksichtigen, dass keine der Parteien die zur Verschiebung der Sportveranstaltung führenden Umstände zu vertreten hat. Das Risiko der Verschiebung liegt also weder im Verantwortungsbereich der Sponsoren noch der Gesponserten. Aus Sicht der Sponsoren ist dabei vor allem relevant, ob und inwieweit sie ein Interesse auch an der verzögerten Erbringung von Werbeleistungen besitzen. Zudem dürfte es eine große Rolle spielen, inwieweit ihnen die ursprünglichen Verpflichtungen zur Erbringung von Gegenleistungen auch zu einem späteren Zeitpunkt aufgebürdet werden können. Sollte sich beispielsweise der betreffende Sponsor wegen der Corona-Pandemie in derart wirtschaftlichen Schwierigkeiten befinden, dass er zu betriebsinternen Einsparungen gezwungen wird, dürfte es ihm nur unter besonderen Umständen zumutbar sein, an Sponsoringverträgen mit erheblichen Gegenleistungen festzuhalten. Umgekehrt ist jedoch zu berücksichtigen, dass für viele Gesponserte die Gegenleistungen aus den Sponsoringverträgen von existenzieller Bedeutung sind und sie deshalb ein großes Interesse daran haben, dass die geschlossenen Verträge (weitgehend unverändert) fortgeführt werden. Bei gesponserten Einzelsportlern könnte es allenfalls dann zu einer unzumutbaren Situation kommen, wenn sie in der Zwischenzeit eine Leistungsexplosion erfahren und sie unter den veränderten Umständen in der Lage wären, wesentlich günstigere Vertragsbedingungen auszuhandeln. In diesen Fällen muss aber wiederum das Interesse der Sponsoren am unveränderten Festhalten an den Verträgen in Rechnung gestellt werden – zumal sie die Gesponserten zumeist über einen längeren Zeitraum unterstützen und eine positive Leistungsentwicklung als solche noch nicht zu einer relevanten Äquivalenzstörung im Sinne von § 313 Abs. 1 BGB führt. Von daher ist die Frage der Zumutbarkeit nur mit Blick auf jedes einzelne Sponsoringverhältnis und die individuellen Umstände von Sponsor und Gesponserten zu beantworten. Ist eine Anpassung des Vertrags letztlich nicht möglich oder einem Teil nicht zumutbar, so kann der benachteiligte Teil vom Vertrag zurücktreten (§ 313 Abs. 3 BGB). 2. Ausfall Fällt eine einzelne Sportveranstaltung, auf die sich ein Sponsoringvertrag bezieht, ersatzlos aus, ist die Erbringung der Leistungen durch die Gesponserten unmöglich. Problematisch erscheint insbesondere der Ausfall einiger Sportveranstaltungen im Rahmen (spiel-)zeitbezogener Sponsoringverträge, die nicht an eine genaue Anzahl von Sportwettkämpfen geknüpft sind, sondern nur eine Verpflichtung zur Verfügungstellung einer gewissen Anzahl von Rechten (z. B. Tickets, LED Werbung etc.) pro Veranstaltung vorsehen. In diesen Fällen verstößt ein Rechtegeber zwar nicht gegen vertragliche Vorschriften, wenn er seine Rechte nur in den stattgefundenen Spielen oder Events zur Verfügung stellt. Allerdings entsteht ein signifikantes Ungleichge-
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wicht, wenn ein Sponsor seine Gegenleistungen in vollem Umfang auch bei Ausfall einer erheblichen Anzahl von Sportveranstaltungen infolge von Corona erbringen müsste. In diesen Konstellationen können die Vorschriften über den Wegfall der Geschäftsgrundlage die Möglichkeit einer Anpassung der Verträge nach Maßgabe von § 313 Abs. 1 BGB bieten. Zwar ist § 313 Abs. 1 BGB generell nur subsidiär gegenüber vertraglichen Vereinbarungen und gesetzlichen Sonderregelungen anwendbar. Allerdings können Verträge durchaus so konzipiert sein, dass weder etwaige Force-Majeure-Klauseln für Fälle höherer Gewalt, noch andere Vertragsbestimmungen über die wechselseitigen Leistungen von Sponsor und Gesponserten zum Zuge kommen, wenn eine Anzahl von Wettbewerben nicht vereinbart wurde. In diesen Fällen wird der Rückgriff auf § 313 Abs. 1 BGB auch nicht durch gesetzliche Sonderregelungen gesperrt. § 313 Abs. 1 BGB setzt voraus, dass sich die Umstände, die zur Grundlage des Vertrages geworden sind, nach Vertragsschluss schwerwiegend verändert haben und die Parteien den Vertrag nicht oder mit anderem Inhalt geschlossen hätten, wenn sie diese Veränderung vorausgesehen hätten.18 Unter diesen Voraussetzungen kann eine Anpassung des Vertrags verlangt werden, soweit einem Teil unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der vertraglichen oder gesetzlichen Risikoverteilung, das Festhalten am unveränderten Vertrag nicht zugemutet werden kann. Die Anzahl von Wettbewerben dürfte bei veranstaltungsbezogenen Sponsoringverträgen in aller Regel zu grundlegenden Vertragsumständen im Sinne des § 313 Abs. 1 BGB gehören. Die Formulierung des § 313 Abs. 1 BGB ist weit und erfasst nach der Rechtsprechung sowohl die subjektive, als auch die objektive Geschäftsgrundlage. Zur subjektiven Geschäftsgrundlage gehören die bei Abschluss des Vertrags zutage getretenen, dem anderen Teil erkennbar gewordenen und von ihm nicht beanstandeten Vorstellungen der einen Partei oder die gemeinsamen Vorstellungen beider Parteien von dem Vorhandensein oder dem künftigen Eintritt bestimmter Umstände, sofern der Geschäftswille der Parteien auf diesen Vorstellungen aufbaut. Die objektive Geschäftsgrundlage bilden demgegenüber diejenigen Umstände und allgemeinen Verhältnisse, deren Vorhandensein oder Fortdauer objektiv erforderlich ist, damit der Vertrag im Sinn der Intentionen beider Vertragsparteien noch als eine sinnvolle Regelung bestehen kann. Gehen Vertragspartner von Sponsoringverträgen von dem normalen Verlauf einer Saison bzw. Spielzeit aus, so ist diese nach den sportverbandlichen Spielplänen regelmäßig durch eine bestimmte Anzahl von Spielen oder Events geprägt. Dieser Umstand ist beiden Parteien bei Abschluss des Sponsoringvertrags auch bekannt. Die Anzahl von Wettbewerben bildet damit den Rahmen für die Bemessung der wechselseitigen Leistungspflichten von Sponsoren und Gesponserten. Auf dieser gemeinsamen Grundlage beruht ein veranstaltungsbezogener Sponsoringvertrag. Danach 18
Zur Gesetzesbegründung vgl. BT-Drs. 14/6040 vom 14. 05. 2001, S. 174 ff.
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bemisst sich in aller Regel auch die Höhe der Gegenleistungen von Sponsoren. Die Anzahl der Spiele bzw. Events ist damit Teil der Geschäftsgrundlage eines veranstaltungsbezogenen Sponsoringvertrags. Durch den Ausfall zahlreicher Spiele bzw. Events, in denen die gesponserten Rechteinhaber ihre Gegenleistungen zu erbringen haben, ändern sich die wesentlichen Vertragsumstände schwerwiegend. Die Beurteilung, ob eine Veränderung als schwerwiegend anzusehen ist, hängt von der Art des Vertrags und der aufgetretenen Störung sowie den sonstigen Umständen des Einzelfalls ab. Im Allgemeinen ist eine Störung dann als schwerwiegend anzusehen, wenn nicht ernstlich zweifelhaft ist, dass eine der Parteien oder beide den Vertrag bei Kenntnis der Änderung nicht oder nur mit anderem Inhalt abgeschlossen hätten. Dies ist dann der Fall, wenn sich die Erwartungshaltung beider Parteien (auch) auf eine bestimmte Anzahl von Spielen bzw. Events bezieht, die bei normalem Verlauf einer Saison bzw. Spielzeit wesentlich höher gewesen wäre. Hätten beide Parteien bei Abschluss eines (spiel-)zeit- bzw. saisonbezogenen Sponsoringvertrages Kenntnis davon gehabt, dass teilweise sogar die Hälfte aller Spiele einer Saison bzw. Spielzeit infolge der Corona-Pandemie ausfallen, dann hätten sich die Sponsoren zu einer deutlich geringeren Leistung verpflichtet. Dies gilt selbst für den Fall, dass es den Sponsoren auch darauf ankommen wird, überhaupt eine bestimmte Athleten-, Vereins-/Verbandsoder Ligabindung einzugehen. Schließlich bestimmt die Anzahl der Spiele bzw. Events ganz wesentlich den Wert der Leistungen von Gesponserten, an dem sich die Gegenleistung der Sponsoren orientiert. Differenzierter zu beurteilen ist die Situation, wenn lediglich ein einzelnes Spiel bzw. Event ausfällt. Dann dürfte es auf die Konzeption des jeweiligen Sponsoringvertrages, insbesondere die Bedeutung des einzelnen Spiels bzw. des Events, ankommen. Handelt es sich etwa um ein einzelnes Spiel im Rahmen eines (spiel-)zeit-, saison- bzw. wettbewerbsbezogenen Sponsoringvertrags, so dürfte die Veränderung im Regelfall nicht als schwerwiegend zu bezeichnen sein. Erstreckt sich der Sponsoringvertrag demgegenüber ohnehin nur auf eine sehr geringe Anzahl von Spielen bzw. Events oder handelt es sich bei dem ausgefallenen Spiel bzw. Event um die mit Abstand bedeutsamste Einzelveranstaltung des gesamten Sponsoringvertrags (Finale, Endspiel etc.), könnte man auch diesen Fall als eine schwerwiegende Veränderung der wesentlichen Vertragsumstände ansehen. Bei (spiel-)zeit- bzw. saisonbezogenen Sponsoringverträgen ist dies im Regelfall jedoch nicht der Fall. Ferner fehlt es an vertraglichen sowie gesetzlichen Sonderregelungen über die Risikoverteilung bei behördlicher Untersagung von Spielen bzw. Events infolge der Corona-Pandemie. In dieser Konstellation trägt keine der beiden Parteien das Risiko für die geringere Anzahl von Spielen bzw. Events. Die unveränderte Vertragserfüllung erscheint den Sponsoren indes aus wirtschaftlichen Gründen unzumutbar. Schließlich steht der Wert ihrer Leistungen in einem offenkundigen Missverhältnis zum Wert der Gegenleistungen. Dadurch ist das Äquivalenzverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung gestört. Deshalb kommt in diesen Konstellationen
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eine Anpassung der Sponsoringverträge in Betracht. Ist eine Anpassung der Verträge nicht möglich oder einem Teil nicht zumutbar, so kann die benachteiligte Partei letztlich auch vom Vertrag zurücktreten. Dies ergibt sich aus § 313 Abs. 3 BGB. III. Resümee Die Corona-Pandemie trifft den Sport auf breitester Front. Zahlreiche Wettbewerbe werden verschoben oder fallen aus. Die rechtlichen Folgen bekommen alle Sportbeteiligten zu spüren. Die Konsequenzen der Pandemie für laufende Sponsoringverträge sind davon abhängig, ob und inwieweit etwaige Klauseln für Fälle höherer Gewalt anwendbar sind oder allgemeine Bestimmungen des Schuldrechts, insbesondere seine Vorschriften über Unmöglichkeit oder Wegfall der Geschäftsgrundlage, gelten. Bei der Verschiebung einer Veranstaltung kann dann von einer vorübergehenden Unmöglichkeit gesprochen werden, wenn das ursprüngliche Datum der geplanten Veranstaltung bereits verstrichen ist und die Veranstaltung weitgehend identisch zu absehbarer Zeit stattfinden soll. In dieser Konstellation ist die Erbringung der wechselseitigen Leistungspflichten zu dem ursprünglichen Termin nicht mehr möglich. Analog §§ 275, 326 BGB werden beide Parteien von ihren wechselseitigen Leistungspflichten bis zum Nachholtermin befreit. Erweist sich der Zeitraum zwischen dem ursprünglichen Datum und dem Nachholtermin als unzumutbar für die Sponsoren, dürfte ihnen ein Rücktrittsrecht zustehen. Umgekehrt haben Gesponserte ggf. ein Recht zur Vertragsanpassung, sofern sich im Schwebezustand zwischen dem ursprünglichen Termin und dem Nachholtermin vertragswesentliche Umstände schwerwiegend geändert haben sollten. Ist der ursprüngliche Termin einer Sportveranstaltung indes noch nicht verstrichen, so sind die wechselseitigen Leistungen (noch) nicht unmöglich geworden. Vor dem ursprünglich geplanten Termin einer Sportveranstaltung ist der Rückgriff auf § 313 Abs. 1 BGB damit nicht analog § 275 Abs. 1 BGB versperrt. Da der Termin einer Sportveranstaltung zu den Umständen zählen dürfte, die zur Grundlage eines Sponsoringvertrags wurden, darf man bei einer zeitlichen Verschiebung um ein ganzes Jahr von einer schwerwiegenden Änderung dieser Vertragsumstände ausgehen. In jedem Fall hätten beide Parteien den Vertrag nicht in der Weise geschlossen, wie sie es ohne Kenntnis der Corona-Pandemie getan haben. Deshalb kann eine Anpassung des Vertrags nach § 313 Abs. 1 BGB verlangt werden, sofern einer Partei das Festhalten am unveränderten Vertrag nicht zumutbar ist. Die Frage der Zumutbarkeit hängt wiederum von vielen Faktoren ab. Hierbei kommt es zu einer umfassenden Abwägung beider Interessen der Gesponserten und Sponsoren. Soweit das Festhalten am unveränderten Vertrag einer Partei – aus welchen Gründen auch immer – nicht mehr zumutbar erscheint, ist der Weg zur Vertragsanpassung eröffnet. Ist eine Anpassung nicht möglich oder einem der beiden Vertragsparteien nicht zumutbar, kann die benachteiligte Partei auch vom Vertrag zurücktreten.
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Sofern die Leistungen in Sponsoring-Verträgen nicht zwingend an eine Anzahl von Spielen oder Events geknüpft sind, allerdings viele oder besonders bedeutsame Spiele oder Events infolge der Corona-Pandemie ausfallen, bietet das rechtliche Konstrukt des Wegfalls der Geschäftsgrundlage nach § 313 Abs. 1 BGB das Recht zur Anpassung der Sponsoringverträge. Zwar ist § 313 Abs. 1 BGB nur subsidiär gegenüber vertraglichen und gesetzlichen Sonderregeln anwendbar. Allerdings gibt es Sponsoringverträge, in denen vertragliche oder gesetzliche Sonderregelungen nicht zum Zuge kommen. In diesen Konstellationen ist § 313 BGB anwendbar. Dessen Voraussetzungen liegen vor. Die Anzahl der Spiele oder Events gehört zu den Umständen, die zur Grundlage des Vertrags geworden sind. Nach dem übereinstimmenden Willen beider Parteien ist sie wesentlich sowohl für die Erbringung der Leistungen durch die Gesponserten als auch für die Bemessung der Gegenleistungen durch die Sponsoren. Der Wegfall einer erheblichen Anzahl von Spielen oder Events ist eine schwerwiegende Veränderung der Vertragsumstände. Durch ihn wird das Äquivalenzverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung gestört. Insofern bietet sich eine Anpassung der Sponsoringverträge an. Dies gilt in besonderen Fällen auch dann, wenn es sich um ein einzelnes Spiel oder Event handelt, sofern diese Veranstaltung von herausragender Bedeutung für den Sponsoringvertrag ist (Finale, Endspiel).
Gedanken zum Mitgliedsbeitrag Von Thomas Regenfus Das Sportrecht bildet einen der Forschungsschwerpunkte des Jubilars Klaus Vieweg. Teil dieser Querschnittsmaterie ist das Vereins- und Verbandsrecht, mit dem er sich seit seiner Assistentenzeit intensiv befasst hat. Ebenso gilt das Interesse des Jubilars der uneigennützigen Förderung von Aktivitäten, die der Allgemeinheit zugutekommen. Was liegt daher näher, als für seine Festschrift einen „Beitrag über den Beitrag“ zu verfassen? I. Fragestellung und Eingrenzung Das Vereinsrecht des BGB enthält mit § 58 Nr. 2 BGB nur eine einzige Bestimmung, die sich mit der Pflicht der Vereinsmitglieder befasst, Beiträge zu leisten; eine (positive oder negative) Aussage hierüber gehört danach zum Soll-Inhalt der Satzung.1 Diese Regelungsarmut wirft die Frage auf, welche formellen und (vor allem) materiellen Voraussetzungen für die Beitragserhebung im eingetragenen Verein gelten.2 Hierbei sollen die „regulären“ Beiträge (Beiträge i. e. S.) im Fokus stehen, also Leistungen, die regelmäßig zu erbringen sind und in einer Geldzahlung bestehen. Ausgeblendet werden somit Verpflichtungen zu Dienst- und Sachleistungen (z. B. zur Pflege von Sportflächen), zu außergewöhnlichen Zahlungen wie Umlagen, Sonderbeiträgen und Aufnahmegebühren oder zur Darlehensgewährung.3 II. Festsetzung und Durchsetzung des „regulären“ Vereinsbeitrags 1. Materielle Vorgaben und Organkompetenz Das im Recht der Personal- und Kapitalgesellschaften anzutreffende Belastungsverbot4 gilt auch für den Verein.5 Um zu verhindern, dass dem Mitglied Verpflichtun1 Waldner/Wörle-Himmel, in: Sauter/Schweyer/Waldner, Der eingetragene Verein, 20. Auflage 2016, Rn. 117. 2 Die folgenden Überlegungen beziehen sich nur auf diesen. Auch wenn daher nur vom „Verein“ die Rede ist, ist jeweils der e. V. gemeint. 3 Zu den denkbaren Formen von Beiträgen i. w. S. etwa Müller, MDR 1992, 924 (924); Otto, in: Stöber/Otto, Handbuch zum Vereinsrecht, 11. Aufl. 2016, Rn. 348; zu vereinsrechtlichen Arbeitspflichten BAG, NJW 2003, 161 (162). 4 Vgl. RGZ 68, 93 (96); 151, 321 (326); 163, 385 (391); Beuthien, BB 1987, 6 (10).
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gen ohne seinen Willen auferlegt werden, sind die Grundentscheidungen, die das Vereinsleben bestimmen, in der Satzung zu regeln.6 Ein potentielles Mitglied kann so vor seinem Beitritt erkennen, welchen Belastungen es sich ggf. aussetzt.7 Nach dem Beitritt sind zwar wegen des Mehrheitsprinzips nachteilige Veränderungen des Pflichtengefüges gegen den Willen des einzelnen Mitglieds möglich (vgl. § 33 Abs. 1 Satz 1, § 40 Satz 1 BGB), doch bewirkt das für eine Satzungsänderung erforderliche formalisierte Verfahren einen gewissen Schutz.8 In der Satzung muss allerdings lediglich die Beitragspflicht dem Grunde nach – und zwar i. d. R. ausdrücklich9 – verankert sein, nicht auch deren konkrete Höhe oder eine Obergrenze festgelegt werden. Die Bestimmung der Höhe kann einem anderen Organ überlassen werden und/oder in einer Nebenordnung erfolgen.10 Dies reduziert – wie der Jubilar ausgeführt hat – die Möglichkeiten des Mitglieds, den Umfang seiner finanziellen Mitwirkungspflicht einzuschätzen.11 Rechtfertigen lässt sich dies mit praktischen Erwägungen: Da der Verein seine laufenden Kosten durch Mitgliedsbeiträge decken und diese dazu der Preisentwicklung anpassen können muss, würde ein unnötiger, unzumutbarer und vermeidbarer Aufwand an Registereintragungskosten ausgelöst, wenn die Satzung nur deswegen jährlich geändert werden müsste.12 Strengere Regeln gelten z. B. für Umlagen: Die Vereinssatzung muss eine entsprechende Pflicht eindeutig anordnen und auch eine Obergrenze festlegen.13 Eine Ausnahme gilt nur, wenn die Erhebung der Umlage für den Fortbestand des Vereins unabweisbar notwendig ist;14 dann ist aber das Übermaßverbot zu beachten und dem Mitglied kann ein besonderes Recht zum zeitnahen Austritt zustehen.15 5
Siehe nur K. Schmidt, JuS 2008, 182 (182). BGHZ 47, 172 (175, 177); 105, 306 (313); Könen, in: BeckOGK, § 38 Rn. 161; Leuschner, in: MüKoBGB, 8. Auflage 2018, § 25 Rn. 16; Schubert, WM 2008, 1197 (1198). 7 BGH, NJW 2010, 3521 (3521), Rn. 13. 8 Vgl. BGHZ 105, 306 (314); Leuschner (Fn. 6), § 25 Rn. 19. 9 Dazu, ob im Einzelfall aus dem Satzungszweck eine Beitragspflicht abgeleitet werden kann, (bejahend) Könen (Fn. 6), § 38 Rn. 161; Otto (Fn. 3), Rn. 349; Otto, in: jurisPK, § 58 Rn. 4; (ablehnend) Reichert/Schimke/Dauernheim, Handbuch des Vereins- und Verbandsrechts, 14. Aufl. 2018, Rn. 835. 10 Siehe jeweils BGHZ 130, 243 (246 f.); BGH, NJW 2010, 3521 (3521 f.), Rn. 12, 14; Leuschner (Fn. 6), § 25 Rn. 21; Könen (Fn. 6), § 38 Rn. 161; Vieweg/Werner, LMK 2011, 313895 m. w. N. 11 Vieweg/Werner, LMK 2011, 313895. 12 BGHZ 105, 306 (316); BGH, NJW 2010, 3521 (3521 f.), Rn. 14; NJW-RR 2008, 195 (195), Rn. 12; Könen (Fn. 6), § 38 Rn. 161; Beuthien, BB 1987, 6 (10 f.); Schubert, WM 2008, 1197 (1197). 13 BGHZ 130, 243 (246 f.); BGH, NJW-RR 2008, 195 (195), Rn. 11; NJW-RR 2008, 1357 (1359), Rn. 21 f.; NJW 2010, 3521 (3521 f.), Rn. 14; Leuschner (Fn. 6), § 25 Rn. 21; Schubert, WM 2008, 1197 (1198). 14 Vgl. BGH, NJW-RR 2008, 195 (195 f.), Rn. 13 ff.; NJW-RR 2008, 1357 (1359), Rn. 23. 15 Vgl. BGH, NJW-RR 2008, 195 (196), Rn. 17 ff.; Leuschner (Fn. 6), § 38 Rn. 28; Könen (Fn. 6), § 38 Rn. 161; Schubert, WM 2008, 1197 (1197, 1203). 6
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Ob ein Beitrag oder eine Umlage vorliegt, hat daher nicht unerhebliche Bedeutung. Für die Abgrenzung ist maßgeblich, dass Beiträge – neben Spenden und Erträgen aus wirtschaftlicher Betätigung – das Mittel zur Deckung des regelmäßigen („gewöhnlichen“) Finanzbedarfs darstellen. Mit ihnen werden also (wenn auch nicht ausschließlich) die laufenden Aktivitäten zur Verwirklichung des Vereinszwecks finanziert.16 Bei nicht-strukturellen Defiziten kommen damit nur Umlagen oder Sonderbeiträge in Betracht.17 Über Beiträge abgedeckt werden können somit auch Raten für Darlehen, die zur Finanzierung einer größeren, langfristigen Investition aufgenommen wurden, soweit diese der laufenden Tätigkeit dient; dies zeigt die Überlegung, dass ohne die Anschaffung ein vergleichbarer Betrag für Mieten aufgewandt werden müsste. Auch der Neubau eines Vereinsheims oder der Erwerb eines Geländes als Sportplatz lassen sich daher so mit Beiträgen finanzieren; soweit wegen eines solchen Projekts innerhalb kurzer Zeit erhebliche Zahlungen (als „Grundstock“) von den Mitgliedern gefordert werden müssen, wird dies aber nur als Umlage möglich sein.18 2. Ausgestaltung und Bemessung Keine Vorgaben schuf der Gesetzgeber zur inhaltlichen Ausgestaltung der Beitragspflicht, d. h. wie der zu deckende finanzielle Gesamtbedarf auf die Mitglieder zu verteilen ist. Als Eckpunkte und Kriterien lassen sich aus Grundgedanken des Vereinsrechts das Prinzip der Gleichbehandlung der Mitglieder, der Umfang des mit der Mitgliedschaft verbundenen Vorteils für das einzelne Mitglied und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des einzelnen Mitglieds finden. Nach dem Gleichbehandlungsgrundsatz, der in der Treuepflicht des Vereins gegenüber seinen Mitgliedern wurzelt, darf kein Mitglied vom Verein sachwidrig schlechter gestellt werden als andere.19 Dieser Grundsatz ist nicht nur bei der Anwendung des Vereinsrechts zu beachten, sondern nach vorzugswürdiger Auffassung20 auch bei der Satzungsgebung durch die Mitgliederversammlung. Aus dem Gleichbehandlungsgrundsatz folgt allerdings nicht, dass für sämtliche Mitglieder (oder zumindest alle Mitglieder einer Kategorie) zwingend betragsmäßig identische Beiträge vorzusehen sind.21 Vielmehr gilt dasselbe wie beim allgemeinen Gleichheitssatz des Verfassungsrechts (Art. 3 Abs. 1 GG), der sowohl die ungerechtfertigte Gleichbehandlung als auch die ungerechtfertigte Ungleichbehandlung verbietet.22 Eine Differenzierung ist danach möglich, wenn Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie eine ungleiche Behandlung rechtfertigen; sie muss 16
BGHZ 96, 253 (255); Müller, MDR 1992, 924 (924). Vieweg/Werner, LMK 2011, 313895. 18 In diesem Sinne Müller, MDR 1992, 924 (924). 19 BGH, NJW 1960, 2142 (2143); Schwennicke, in: Staudinger (2019), § 38 Rn. 21 f., 27. 20 Vgl. Leuschner (Fn. 6), § 38 Rn. 19; Schwennicke (Fn. 19), § 38 Rn. 27, 30. 21 BGH, LM BGB § 39 Nr. 2. 22 Kischel, in: BeckOK GG, 42. Ed.1.12.2019, Art. 3 Rn. 16.
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sich somit sachbereichsbezogen auf einen vernünftigen oder sonst einleuchtenden Grund stützen lassen.23 Der vereinsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz ist somit nur verletzt, wenn Mitglieder unter gleichen Voraussetzungen unterschiedlich behandelt werden;24 er kann sogar gebieten, einzelne Mitgliedergruppen, denen die Vereinstätigkeit bzw. bestimmte Bereiche derselben besonders zugutekommt, an den entsprechenden Ausgaben in höherem Maße oder sogar ausschließlich zu beteiligen.25 Solche Vorteile können zum einen aus den sog. Wert- oder Vorteilsrechten resultieren, die die Mitgliedschaft vermittelt; sie berechtigen zur Teilnahme am Vereinsleben und zur Nutzung des Vereinsvermögens, z. B. zum Gebrauch von Einrichtungen (Sportanlagen) oder zur Inanspruchnahme von Sach- oder Dienstleistungen (Trainingskurse, Lohnsteuerhilfe, Pannenhilfe oder Luftrettung).26 Zum anderen können die Vereinsaktivitäten dem Mitglied mittelbar Vorteile bringen, so etwa, wenn ein Wirtschaftsverband berufliche oder gewerbliche Interessen der Mitglieder gegenüber Mitbewerbern (vgl. § 8 Abs. 3 Nr. 2 UWG, § 3 Abs. 1 Nr. 2 UKlaG), der Öffentlichkeit oder staatlichen Stellen vertritt. Lassen sich solche Vorteile ausmachen, ist es jedenfalls legitim, die Beiträge der einzelnen Mitglieder an ihnen auszurichten.27 Bei Vereinen zur Förderung wirtschaftlicher Zwecke kann dabei unterstellt werden, dass größere Unternehmen in höherem Maß profitieren; typisierend kann sich dann der Beitrag an den Bilanzsummen oder Umsätzen der einzelnen Vereinsmitglieder orientieren.28 Bedingung ist lediglich, dass der Maßstab für alle Mitglieder der gleiche ist.29 Ebenso lassen sich Beitragsstaffelungen rechtfertigen, die daran anknüpfen, wie intensiv ein Mitglied der jeweiligen Gruppe (z. B. Jüngere/Erwachsene/Senioren) gewöhnlich von den Angeboten des Vereins Gebrauch macht.30 Überlagert wird dieser „Vorteilsproportionalitätsaspekt“ vom Solidargedanken (oder auch: „Leistungsfähigkeitsproportionalität“). Da ein Verein der Verfolgung eines gemeinsamen Zwecks dient, muss zwar jedes Mitglied zur Erfolgsverwirklichung beitragen,31 dies schließt aber nicht aus, Rücksicht darauf zu nehmen, in wel-
23 Vgl. BVerfGE 55, 72 (88); 75, 108 (157); 82, 60 (86); 84, 348 (359); 87, 1 (36); 92, 365 (407); P. Kirchhof, in: Maunz/Dürig, 89. EL Oktober 2019, Art. 3 Abs. 1 Rn. 10. 24 Schwennicke (Fn. 19), § 38 Rn. 28. 25 BGH, LM BGB § 39 Nr. 2. 26 Vgl. Schwennicke, in: Staudinger (2019) § 38 Rn. 22; Könen (Fn. 6), § 38 Rn. 134; Schöpflin, in: BeckOK BGB, § 38 Rn. 20; Reichert/Schimke/Dauernheim (Fn. 9), Rn. 743. 27 BGH, NJW 1960, 2142 (2143). 28 Vgl. BGH, LM BGB § 39 Nr. 2; NJW 2010, 3521 (3521), Rn. 12. 29 BGH, NJW 1960, 2142 (2143). 30 Vgl. BGH, NJW-RR 2008, 195 (196), Rn. 17 dazu, dass insoweit auch die Höhe einer Umlage differenziert ausgestaltet werden darf. 31 Die Pflicht zur Beitragszahlung ist Teil der Förderpflicht: Lutter, AcP 180 (1980), 84 (102 ff.); Schubert, WM 2008, 1197 (1199); BAG, NJW 2003, 161 (162).
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chem Umfang das einzelne Mitglied in der Lage ist, hieran mitzuwirken.32 Daher kann es gerechtfertigt sein, Personen zu entlasten, die – mögen sie auch intensiv von Vereinsaktivitäten und -einrichtungen Gebrauch machen – nur eingeschränkt leistungsfähig sind (Rentner, Kinder),33 Familientarife zu gewähren oder eine Staffelung nach der Einkommenshöhe vorzusehen.34 Umgekehrt lässt sich die Beitragsfreiheit von Ehrenmitgliedern35 damit erklären, dass sie sich bereits in der Vergangenheit in außergewöhnlichem Umfang für den Verein verdient gemacht haben. Welche Kriterien im Einzelfall „zulässig“ sind, hängt maßgeblich davon ab, welchen Zweck der Verein verfolgt und wie er diesen konkret verwirklicht.36 Den Aspekten Vorteilsproportionalität und Solidarität kann danach unterschiedliches Gewicht zukommen. Notwendig ist ein stimmiges Konzept, was einschließt, dass Gruppen mit unterschiedlicher Beitragslast nicht in willkürlicher und sachfremder Weise gebildet werden.37 Lassen sich verschiedene Beitragsanteile abgrenzen, ist auch ein Mischsystem denkbar.38 Jedenfalls, solange eine Differenzierung und die dabei angewandten Kriterien unter Berücksichtigung des Vereinszwecks und der Weise seiner Umsetzung nicht als sachfremd zu qualifizieren sind, stellt die Ausgestaltung des Beitragssystems auch keine Grundentscheidung dar, die der Mitgliederversammlung und der Satzung vorbehalten wäre.39 Aufgrund des Wesens des Vereins gilt dies auch für Komponenten, die den Solidargedanken umsetzen.40 Strengere Vorgaben können sich in Vereinen ergeben, denen „soziale und/oder wirtschaftliche Macht“ zukommt, sofern man dort die Regelungen der Inhaltskontrolle gem. § 242 BGB unterwirft.41 3. Durchsetzung Betrachtet man das Thema „Mitgliedsbeitrag“ aus rechtstatsächlicher Perspektive, fällt auf, dass Rechtsstreitigkeiten wegen solcher Forderungen kaum anzutreffen sind. Weder bestimmen sie den Alltag der Zivilgerichte noch finden sich nennenswerte Treffer in den juristischen Datenbanken. Angesichts der millionenfachen 32
Ähnlich Waldner/Wörle-Himmel (Fn. 1), Rn. 121. Vgl. Vieweg/Werner, LMK 2011, 313895; für Umlagen ebenso Müller, MDR 1992, 924 (924). 34 Reichert/Schimke/Dauernheim (Fn. 9), Rn. 841; vgl. bereits RG, JW 1931, 1450 (1453 f.) = SeuffArch 84, 225 (226 f.). 35 Vgl. Müller, MDR 1992, 924 (924). 36 In diesem Sinne wohl auch Otto (Fn. 3), Rn. 360a. 37 Für letzteres auch Leuschner (Fn. 6), § 38 Rn. 19; Otto (Fn. 3), Rn. 360. 38 Vgl. BGH, NZG 2013, 671 (671), Rn. 10. 39 Jeweils ohne diesen Vorbehalt BGH, NJW 2010, 3521 (3521), Rn. 13; Vieweg/Werner, LMK 2011, 313895; die Beiträge zum Sicherungsverein für Kreditgenossenschaften (BGHZ 105, 306 (313 ff.)) stellen einen Ausnahmefall dar. 40 Anders Otto (Fn. 3), Rn. 360a; Otto, in: jurisPK, § 58 Rn. 5, der eine Verankerung in der Satzung verlangt. 41 Zur Diskussion vgl. Vieweg/Werner, LMK 2011, 313895; BGHZ 105, 306 (316 ff.). 33
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Zahl von Vereinsmitgliedschaften überrascht dies, zumal nicht davon ausgegangen werden kann, dass Beitragspflichten – auch wenn sie sich meist nicht auf erhebliche Beträge belaufen – lückenlos erfüllt werden. Eine naheliegende Erklärung dürfte – neben dem Aspekt, dass die Vereine nicht gewillt sind, die Zahlungsansprüche gerichtlich durchzusetzen – darin liegen, dass sich das Problem nicht-zahlender Mitglieder meist durch einen Austritt oder einen Ausschluss „löst“. Der Anspruch auf den Mitgliedsbeitrag entsteht zwar (vorbehaltlich abweichender Satzungsregeln) mit Beginn der Periode, für die er erhoben wird, und erlischt durch einen späteren Verlust der Mitgliedschaft nicht; ein solcher führt lediglich dazu, dass er für die späteren Perioden nicht mehr anfällt.42 § 39 BGB garantiert dem Mitglied ein „ordentliches“ Austrittsrecht spätestens innerhalb von zwei Jahren, welches gerade auch die Möglichkeit sicherstellen soll, sich von weiteren Pflichten gegenüber dem Verein zu befreien: Die Bestimmung entspricht der im gesamten Bürgerlichen Recht umgesetzten Tendenz, eine übermäßige Bindung der Person zu vermeiden.43 Wer meint, nicht mehr zahlen zu können, kann also jedenfalls mittelfristig „gehen“. Aus Sicht des Vereins stellt die Nichtzahlung eine Pflichtverletzung und damit einen wichtigen Grund dar, der einen Ausschluss rechtfertigen kann.44 Vielfach enthalten Satzungen auch explizite Regelungen dazu, dass Beitragsrückstände bestimmten Umfangs zur Streichung aus der Mitgliederliste berechtigen oder zum automatischen Verlust der Mitgliedschaft führen.45 Der Verein kann sich also von dem säumigen Mitglied zeitnah lösen. Haben sich Verein und Mitglied auf einem dieser Wege getrennt, wird der Verein vielfach die Kosten und Mühen einer Durchsetzung der fortbestehenden Rückstände scheuen. Wegen der negativen Außenwirkung, die bei einem rigorosen Vorgehen zu befürchten wäre, kann eine solche Haltung des Vorstands auch regelmäßig nicht als pflichtwidrig qualifiziert werden. 4. Beitragserhöhungen Das Mitglied kann seine Verpflichtung zur Beitragszahlung somit nur eingeschränkt durch Austritt abwenden. Ausnahmen werden jedoch diskutiert, falls Beiträge in erheblichem Umfang steigen.46 Ein solches Recht wird daraus hergeleitet, 42
Schwennicke (Fn. 19), § 38 Rn. 161; § 39 Rn. 37 ff.; Otto (Fn. 3), Rn. 283; Müller, MDR 1992, 924 (925); Waldner/Wörle-Himmel (Fn. 1), Rn. 123; LG Itzehoe, NJW-RR 1989, 1531 (1532); vgl. auch Schubert, WM 2008, 1197 (1199 f., 1202). Verfassungsrechtliche Bedenken hiergegen bestehen nicht, BVerfG, NJW 1991, 2626. 43 Prot. I 1074 = Mugdan I, 625 f.; RGZ 108, 160 (162); BGHZ 48, 207 (210); Schubert, WM 2008, 1197 (1199); Schwennicke (Fn. 19), § 39 Rn. 1. 44 Schwennicke (Fn. 19), § 38 Rn. 156. 45 Vgl. Schwennicke (Fn. 19), § 38 Rn. 142, 150 ff.; Otto (Fn. 3), Rn. 309, 313; Reichert/ Schimke/Dauernheim (Fn. 9), Rn. 2898. 46 So etwa AG Nürnberg, RPfleger 1988, 109.
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dass dem Mitglied – wie bei anderen Dauerschuldverhältnissen (§ 314 BGB) oder Gesellschaften (§ 723 Abs. 1 Satz 2 BGB) – ein Austritt mit sofortiger Wirkung aus wichtigem Grund offensteht, wenn wegen Umständen, die nicht in seiner Sphäre liegen, ein Verbleib bis zum nächsten regulären Beendigungstermin nicht mehr zumutbar ist.47 Aus dem Umstand, dass die Beitragshöhe durch Mehrheitsbeschluss und ohne Satzungsänderung festgesetzt werden kann, folgt aber, dass gewisse Erhöhungen grundsätzlich hinzunehmen sind, so dass sie nur Anlass für einen ordentlichen Austritt sein können. Stets ist zudem vorrangig zu prüfen, ob die Beitragserhöhung in Einklang mit gesetzlichen Vorgaben und der Satzung steht, weil andernfalls bereits keine „erhöhte“ Pflicht besteht, von der sich das Mitglied befreien können müsste.48 Abzuschichten sind daher zunächst alle Fälle, in denen die Neuregelung unwirksam ist, so etwa, wenn eine Erhöhung rückwirkend erfolgt, ohne dass die Satzung dies gestattet.49 Keine ausreichende formale Grundlage besitzen auch Verpflichtungen zu Arbeitsleistungen oder zu einem Mindestumsatz in Vereinseinrichtungen, wenn die Satzung nur allgemein die Erhebung von Beiträgen vorsieht: Zwar sind auch solche Pflichten „Beiträge“ im Sinne des Gesetzes, doch sind Satzungsbestimmungen entsprechend dem allgemeinen Begriffsverständnis i. d. R. so auszulegen, dass nur Geldleistungspflichten gemeint sind.50 Unbeachtlich sind ferner Änderungen der Beitragsstruktur, die aus sachfremden Erwägungen erfolgen,51 oder Erhöhungen, für die kein Bedarf besteht, weil die Ausgaben des Vereins ohnehin gedeckt sind; dies kann sich darin äußern, dass eine nachvollziehbare Begründung für die Erhöhung nicht gegeben werden kann.52 Ist tatsächlich Bedarf nach zusätzlichen (d. h. über die allgemeine Teuerung und die Preissteigerung in den maßgeblichen Segmenten hinausgehenden) finanziellen Mitteln vorhanden, die nur durch Beiträge aufgebracht werden können, lassen sich folgende Fallgruppen bilden: Die deutliche Beitragserhöhung kann deshalb notwendig werden, weil in den Vorjahren defizitär gewirtschaftet worden ist, ohne dass hierauf mit einer Beitragsanpassung reagiert wurde. Für solche Fälle wurde angenommen, es liege ein pflichtwidriges Verhalten des Vorstands und ggf. der Kassenprüfer (sofern diesen nicht nur die rechnerische und formelle Kontrolle, sondern auch eine Bewertung der Lage ob47 Zu diesem Grundsatz RGZ 130, 375 (378); BGH, LM BGB § 39 Nr. 2; LG Aurich, RPfleger 1987, 115 (116); LG Itzehoe, NJW-RR 1989, 1531 (1531); Schwennicke (Fn. 19), § 39 Rn. 14 f.; Waldner/Wörle-Himmel (Fn. 1), Rn. 102. 48 Ebenso Otto (Fn. 3), Rn. 280a; vgl. auch Reichert/Schimke/Dauernheim (Fn. 9), Rn. 845. 49 LG Hamburg, NJW-RR 1999, 1708 (1708 f.); Waldner/Wörle-Himmel (Fn. 1), Rn. 120. – Dazu, dass selbst einer Satzungsänderung grundsätzlich keine Rückwirkung zukommt, siehe nur BGHZ 55, 381 (385). 50 Beuthien, BB 1987, 6 (12); Otto, in: jurisPK, § 58 Rn. 7; Waldner/Wörle-Himmel (Fn. 1), Rn. 117. 51 BGH, LM BGB § 39 Nr. 2. 52 Vgl. den Fall des AG Nürnberg, RPfleger 1988, 109.
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liegt53) vor, da sie die Situation rechtzeitig erkennen und auf die Unterdeckungen reagieren hätten müssen.54 Hieran ist richtig, dass die Treuepflicht dem Verein und seinen Organen gebietet, die aktuelle und mittelfristige finanzielle Lage für die Mitglieder transparent darzustellen, damit diese fundiert entscheiden können, ob sie dem Verein weiterhin zugehören und zu seiner wirtschaftlichen Ausstattung beitragen wollen. Ein Unterbleiben einer Beitragsanpassung kann aber vielfältige Ursachen haben und insbesondere auch auf dem Verhalten der Mitgliederversammlung beruhen. Das Mitglied kann bereits dann erkennen, dass ein „weiter so“ nicht möglich sein wird und mittelfristig spürbare Beitragserhöhungen anstehen, wenn die maßgeblichen finanziellen Daten bekannt sind. Nur soweit die Transparenz nicht geschaffen wurde, ist daher Raum, eine Störung des Vertrauensverhältnisses anzunehmen.55 Auch auf der Rechtsfolgenseite stellen sich überdies Fragen, wenn man ein außerordentliches Austrittsrecht zubilligen würde: Durch ein solches steht das Mitglied u. U. besser, als es bei ordnungsgemäßem Handeln des Vereins stünde. Da die Beiträge bereits in der Vergangenheit hätten erhöht werden können (oder sogar müssen), hätte das Mitglied – je nach konkreter zeitlicher Abfolge und Satzungsregelung – für zurückliegende Perioden und ggf. die Zeit bis zum Wirksamwerden eines ordentlichen Austritts höhere Zahlungen geschuldet. Diesem mit den Aspekten des Vorteilsausgleichs und des „rechtmäßigen Alternativverhaltens“ verwandten Gedanken trägt auch der alternative Vorschlag, eine überraschende und unzumutbare Beitragserhöhung dem Mitglied gegenüber bis zur möglichen ordentlichen Beendigung der Mitgliedschaft keine Wirkung entfalten zu lassen,56 keine Rechnung. Eine andere Ursache für eine erhebliche Erhöhung des Beitrags kann sein, dass der Verein seine Aktivitäten ausweiten will oder ausgeweitet hat. Hier wird erwogen, eine Änderung des Vereinszwecks anzunehmen,57 was dann wiederum – da für eine solche i. d. R. strengere Voraussetzungen gelten (vgl. § 33 Abs. 1 Satz 2 BGB) – die Maßnahme zumeist unrechtmäßig macht. Jedoch liegt eine Zweckänderung nicht vor, solange die Leitidee gleich bleibt und sich lediglich die Mittel und das Ausmaß, in dem der Sachzweck verfolgt wird, ändern. Ausweitungen der beschriebenen Art berühren lediglich den „Gegenstand der Verbandstätigkeit“ i. S. des Tätigkeitsrahmens, auf den sich Mitglieder (faktisch) verständigt haben, welcher enger ist als der Vereinszweck und durch schlichte Satzungsänderung modifiziert werden kann.58 Die Entscheidung eines Sportvereins, seine Sportflächen zu erweitern, bringt daher keine Zweckände53 Zur Maßgeblichkeit der Satzung für das Aufgabengebiet vgl. Otto (Fn. 3), Rn. 560; Waldner/Wörle-Himmel (Fn. 1), Rn. 314. 54 LG Hamburg, NJW-RR 1999, 1708 (1709). 55 Vgl. LG Hamburg, NJW-RR 1999, 1708 (1710). 56 Otto (Fn. 3), Rn. 280a (Fn. 2), der dies aus § 242 BGB herleitet 57 Vgl. RG, JW 1931, 1450 (1454) = SeuffArch 84, 225 (227); Schöpflin (Fn. 26), § 38 Rn. 31; vgl. auch Reichert/Schimke/Dauernheim (Fn. 9), Rn. 854. 58 Zu dieser Differenzierung Beuthien, BB 1987, 6 (11); K. Schmidt, GesR, 2. Aufl. 1991, § 4 II 3; Segna, in: BeckOGK, 1. 4. 2020, BGB § 21 Rn. 55; allgemein BGHZ 96, 245 (251); LG Nürnberg-Fürth, RPfleger 1988, 151; Schöpflin (Fn. 26), § 33 Rn. 7.
Gedanken zum Mitgliedsbeitrag
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rung mit sich, kann aber eine satzungsändernde Mehrheit erfordern.59 Der bisherige Tätigkeitsrahmen begründet so zumindest ein Vertrauen, dass die Aktivitäten nicht plötzlich und ohne Satzungsänderung entscheidend ausgeweitet werden und dadurch der laufende Finanzbedarf signifikant gesteigert wird.60 Relevant kann auch an dieser Stelle61 das Steuerrecht werden: Soweit die Mitgliedsbeiträge als Sonderausgaben abzugsfähig waren, dürfen die Mitglieder auch darauf vertrauen, dass eine Erhöhung nicht dazu führt, dass die Gemeinnützigkeit gefährdet wird.62 Unerheblich ist demgegenüber, ob dem Mitglied durch die Ausweitung des Leistungsangebots ein63 oder kein64 zusätzlicher Vorteil erwächst: Das Verhältnis zwischen Mitglied und Verein bzw. Beitragspflicht und Wertrecht ist nicht als Gegenseitigkeitsverhältnis (synallagmatisches Verhältnis) zu qualifizieren,65 zumal weder der Verein dem Mitglied solche Vorteile verspricht (das Recht auf ihren Genuss folgt aus der Mitgliedschaft66 und dem Gleichbehandlungsgrundsatz67 in Verbindung mit dem Umstand, dass der Verein solche anbietet) noch das Mitglied unmittelbar die Zahlungen. Überdies müsste gelten, dass einer Partei eines Schuldverhältnisses keine Leistungen gegen Entgelt aufgedrängt werden dürfen. Schließlich kann eine Finanzlücke auf eine Pflichtverletzung eines Vorstandsmitglieds zurückgehen, gegen das Schadensersatzansprüche nicht bestehen oder nicht zu realisieren sind. Auch hieraus kann jedoch kein Austrittsrecht erwachsen, da die Mitglieder solche Folgen personeller Fehlentscheidungen als Konsequenz des Mehrheitsprinzips mittragen müssen. Ausnahmen vom Grundsatz, dass eine Beitragserhöhung als solche nicht zum sofortigen Austritt aus wichtigem Grund berechtigt,68 lassen sich mithin kaum legitimieren. Durch den Beitritt übernimmt das Mitglied eine Verantwortung für die Verfolgung des gewählten Zwecks,69 was die Finanzierung einschließt. Diese Finanzie59
Waldner/Wörle-Himmel (Fn. 1), Rn. 119. Waldner/Wörle-Himmel (Fn. 1), Rn. 119; ähnlich Wiedemann, GesR I, 1980, § 7 IV 1 b). 61 Vgl. dazu, dass den §§ 51 ff. AO Indizwirkung dafür zukommt, ob ein Verein im Sinne des § 21 BGB ausgerichtet ist, BGHZ 215, 69 (74 ff.), Rn. 22 ff. 62 Vgl. AEAO zu § 52 Nr. 1.1: durchschnittlich 1.023 E/Jahr. 63 Vgl. AG Nürnberg, RPfleger 1988, 109; Otto (Fn. 3), Rn. 280a. 64 LG Aurich, RPfleger 1987, 115 (116). 65 RGZ 100, 1 (2 f.); BAG, NJW 2003, 161 (162); Westermann, in: Erman, BGB, 15. Aufl. 2017, Vorbemerkung vor § 320, Rn. 14; Leuschner (Fn. 6), § 38 Rn. 32; Könen (Fn. 6), § 38 Rn. 161. 66 RGZ 100, 1 (3); Schwennicke (Fn. 19), § 38 Rn. 9. Vgl. Könen (Fn. 6), § 38 Rn. 161; Leuschner (Fn. 6), § 38 Rn. 32; Klempa, in: Winheller/Geibel/Jachmann, Gesamtes Gemeinnützigkeitsrecht, 2017, § 8 KStG Rn. 130. 67 Vgl. Schöpflin (Fn. 26), § 38 Rn. 21; oben II. 1. 68 LG Aurich, RPfleger 1987, 115 (116); Waldner/Wörle-Himmel (Fn. 1), Rn. 103; Otto (Fn. 3), Rn. 280a; a. A. LG Hamburg, NJW-RR 1999, 1708 (1710) „vor Beginn eines neuen Geschäftsjahres“. 69 Lutter, AcP 180 (1980), 84 (90 f.). 60
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rungsverantwortung ist nicht darauf begrenzt, wie sich die Tätigkeiten gegenwärtig darstellen, und besteht auch nicht nur für die Gegenwart, sondern in dem Umfang, der sich aus dem Zusammenspiel von Austrittsfristen, Wirtschaftsjahr und Fälligkeitsregeln ergibt, auch für die kurz- bis mittelfristige Zukunft.70 Jede andere Bewertung würde vernachlässigen, dass sich das Mitglied der satzungsgemäßen Austrittsfrist unterworfen71 und zugleich sein Einverständnis mit der Willensbildung nach dem Mehrheitsprinzip erklärt hat. Von der Finanzierungsverantwortung befreit ist der Einzelne erst, wenn die Aktivitäten ohne Satzungsänderung in einem Umfang gesteigert werden, die den bisherigen und aktuellen Rahmen verlassen. Der Satzung und dem tatsächlichen Aktivitätsumfang kommen so eine limitierende Wirkung zu.72 III. Zusammenfassung und Folgerungen Das Mitglied übernimmt durch den Beitritt zu einem beitragserhebenden Verein Pflichten, deren Umfang es noch nicht vollständig absehen und beeinflussen kann. Die Flexibilität im Hinblick auf die Festsetzung der Beitragshöhe lässt sich mit praktischen Erfordernissen rechtfertigen. Zugleich bildet die bisherige Praxis der Vereinstätigkeit und Beitragserhebung eine (nur durch Satzungsänderung überwindbare) Schranke für Erhöhungen, die eine signifikante Aktivitätsausweitung finanzieren sollen. Der Austritt aus dem Verein ist nur ein begrenzt taugliches Mittel, sich von der übernommenen Finanzierungsverantwortung zu befreien. In alldem mag man einen Wertungswiderspruch im System der Formenvorschriften des BGB sehen. Der Beitritt zum Verein bedeutet eine Verpflichtung zu einer unentgeltlichen Leistung, was besonders bei „reinen Fördervereinen“, die dem Mitglied keinerlei materielle Vorteile bringen, augenfällig ist. Während § 518 Abs. 1 Satz 2 BGB für ein derartiges Versprechen die strengste dem Bürgerlichen Recht bekannte Form vorsieht, um vor Übereilung zu schützen,73 wird der Beitritt zum Verein grundsätzlich formlos zugelassen. Erklären lässt sich dies mit der Überschaubarkeit der Pflichten, aber wohl auch mit dem Ziel, bürgerschaftliches Engagement nicht an formalen Hürden scheitern zu lassen.
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Inhaltlich ebenso BGHZ 48, 207 (211). Müller, MDR 1992, 924 (925); Waldner/Wörle-Himmel (Fn. 1), Rn. 103. 72 Ähnlich Wiedemann, GesR I, 1980, § 7 IV 1 b), der zudem die Beitragshöhe in anderen vergleichbaren Vereinigungen anführt. 73 Prot. I 293 = Mugdan I, 162; Staudinger/Chiusi (2013), § 518 Rn. 2. 71
Zum Nachweis der Erbenstellung gegenüber dem Grundbuchamt* Von Christoph Röhl Der Jubilar hat wie kein anderer meine persönliche juristische Laufbahn geprägt. Ohne ihn und seine langjährige Unterstützung während Studium und Referendariat wäre mein beruflicher Werdegang wahrscheinlich anders verlaufen. Ich bin ihm daher zu großem Dank verpflichtet. Diesen Dank verbinde ich mit meinen herzlichsten Glückwünschen zum 70. Geburtstag und mit der Hoffnung, dass noch viele gesunde Jahre folgen werden.
I. Einleitung Stirbt der Eigentümer einer Immobilie, stellt sich für den Erben regelmäßig die Frage, welche Nachweise er gegenüber dem Grundbuchamt erbringen muss, um seine Erbenstellung zu beweisen und die Umschreibung des Grundbesitzes auf sich zu bewirken. Gesetzlich geregelt ist dies nur im Ansatz und daher verwundert es nicht, dass sich immer wieder die Gerichte mit dieser Problematik beschäftigen müssen. Gemäß § 22 GBO kann das Grundbuch nach dem Tod des eingetragenen Eigentümers berichtigt werden, wenn die eingetretene Unrichtigkeit des Grundbuchs und die Richtigkeit der begehrten neuen Eintragung jeweils in der Form des § 29 GBO nachgewiesen sind. Erforderlich ist demnach eine öffentliche oder öffentlich beglaubigte Urkunde, in erster Linie also ein vom Nachlassgericht ausgestellter Erbschein oder ein entsprechendes Europäisches Nachlasszeugnis (ENZ). Für den Nachweis der Erbfolge gegenüber dem Grundbuchamt ist als lex specialis § 35 GBO zu beachten. Nach § 35 Abs. 1 Satz 2 GBO ist ein Erbschein/ENZ zum Nachweis der Erbfolge dann nicht erforderlich, wenn sich die Unrichtigkeit des Grundbuchs schon aus einer Verfügung von Todes wegen in formgültiger öffentlicher Urkunde sowie aus der Niederschrift über ihre Eröffnung ergibt. Prima facie genügen somit notarielle Testamente und Erbverträge (zusammen mit der Eröffnungsniederschrift) als alleinige Erbfolgenachweise im Grundbuchverfahren. Treten jedoch bei der Einzelfallprüfung aus Sicht des Grundbuchamts entweder aus der Urkunde selbst oder aus tatsächlichen Umständen begründete bzw. konkrete Zweifel über den Willen des Erblassers oder die Wirksamkeit der Erbeinsetzung auf, stellt sich in der Praxis häufig die Frage, ob das Grundbuchamt trotz Vorliegens einer notariellen Erbfolgeur-
* Der Autor bedankt sich herzlich bei Frau Rechtsanwältin Katharina Barz für die wertvolle Unterstützung bei der Verfassung dieses Beitrags.
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kunde (samt Eröffnungsniederschrift) zusätzlich einen (kosten- und zeitaufwändigen) Erbschein bzw. ein ENZ verlangen darf oder sogar muss. II. Ausgangspunkt: §§ 29, 35 GBO und der Pflichtenkreis des Grundbuchamts Aus § 29 GBO ergibt sich der Grundsatz, dass die zur Umschreibung des Eigentums an einer Immobilie erforderlichen Eintragungsunterlagen dem Grundbuchamt in besonderer Form nachzuweisen sind. Eine Eintragung soll nur vorgenommen werden, wenn die Eintragungsbewilligung oder die sonstigen zu der Eintragung erforderlichen Erklärungen durch öffentliche oder öffentlich beglaubigte Urkunden nachgewiesen werden. Damit soll den Gefahren begegnet werden, die aus unrichtigen Eintragungen wegen des öffentlichen Glaubens des Grundbuchs erwachsen können.1 Als Spezialvorschrift normiert § 35 Abs. 1 Satz 1 GBO, dass der Nachweis der Erbfolge im Grundbuchverfahren grundsätzlich nur durch einen Erbschein (in Ausfertigung2) oder ein ENZ (in beglaubigter Abschrift) geführt werden kann. Als Ausnahme von diesem Grundsatz bestimmt § 35 Abs. 1 Satz 2 GBO, dass in Fällen, in denen sich die Erbfolge aus einer öffentlichen Urkunde ergibt, die Vorlage dieser Verfügung von Todes wegen samt der Eröffnungsniederschrift des Nachlassgerichts jeweils in beglaubigter Abschrift3 zum Nachweis der Erbfolge ausreicht, es sei denn, das Grundbuchamt erachtet die Erbfolge durch diese Urkunden nicht für nachgewiesen. Im letzteren Fall kann gleichwohl ergänzend die Vorlage eines Erbscheins oder ENZ verlangt werden. Zu beachten ist weiter, dass bei geringwertigen Grundstücken (weniger als 3.000 E) ausnahmsweise von formgerechten Nachweisen abgesehen und auf andere Beweismittel, welche der Form des § 29 GBO nicht genügen, zurückgegriffen werden kann (§ 35 Abs. 3 GBO bzw. §§ 18, 19, 36a GBMaßG). Privatschriftliche Verfügungen von Todes wegen genügen in keinem Fall als Erbfolgenachweis; ein Erbschein/ENZ muss zudem stets dann vorgelegt werden, wenn die gesetzliche Erbfolge eingetreten ist.4 Nach vereinzelter Auffassung ist das Grundbuchamt „bis zur Grenze der Willkür“ berechtigt, einen Erbschein zu verlangen.5 Die ganz h. M. sieht dies indes anders. Wird dem Grundbuchamt eine Verfügung von Todes wegen vorgelegt, so hat es diese selbst in Bezug auf ihre Formwirksamkeit und ihren Inhalt eingehend zu prüfen. Sofern der Inhalt nicht eindeutig ist, muss das Grundbuchamt in eigener Verantwortung eine Auslegung der Verfügung vornehmen und zwar auch bei schwierigen
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BayObLG, RPfleger 1988, 478; Demharter, GBO, § 29 Rn. 2. Die Vorlage einer beglaubigten Abschrift genügt nicht, vgl. BGH, NJW 1982, 170; OLG Naumburg, ZEV 2016, 165. 3 BeckOK-GBO/Wilsch, GBO, 40. Edition, Stand: 1. 10. 2020, § 35 Rn. 96. 4 Vgl. etwa BeckOK-GBO/Wilsch (Fn. 4), § 35 Rn. 25; OLG Hamm notar 2015, 366. 5 Burandt/Rojahn/Egerland, Erbrecht, 3. Auflage 2019, § 35 GBO Rn. 12. 2
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Fragestellungen.6 Heranzuziehen sind dabei neben den gesetzlichen Auslegungsregeln auch allgemeine Erfahrungssätze und offenkundige Tatsachen.7 Das Grundbuchamt muss alle zumutbaren Anstrengungen unternehmen, um die Wirksamkeit und den gewollten Inhalt einer letztwilligen Verfügung zu ermitteln und darf nicht pauschal und im freien Belieben einen Erbschein oder ein ENZ verlangen.8 Auch dann, wenn das Grundbuchamt bloße Zweifel aufgrund theoretischer, nicht aus dem konkreten Lebenssachverhalt abgeleiteter Bedenken hat, ist die Forderung nach Vorlage eines Erbscheins/ENZ nach h. M. regelmäßig nicht statthaft. Nicht in allen Fällen ist das Grundbuchamt jedoch zu einer abschließenden Würdigung in der Lage. Dies kann einerseits daraus resultieren, dass trotz entsprechender Anstrengungen des Grundbuchamts ein eindeutiges Auslegungsergebnis nicht erzielt werden kann, und andererseits können in tatsächlicher Hinsicht weitere Ermittlungen erforderlich sein, die dem Grundbuchamt selbst verwehrt sind (z. B. zur Testierfähigkeit des Erblassers).9 In diesen Fällen ist das Grundbuchamt befugt (und unter Umständen sogar verpflichtet), zur abschließenden Aufklärung der Sachund Rechtslage weitere Nachweise zu fordern. Als Nachweismittel nennt § 35 Abs. 1 GBO nur den Erbschein und das ENZ. Im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung hat sich jedoch überdies in bestimmten Fallkonstellationen die eidesstattliche Versicherung als tauglicher Beleg im Grundbuchverfahren herausgebildet. Dies gilt insbesondere für den Bereich sog. negativer Tatsachen, deren Nichteintritt der Erklärende aus eigener Kenntnis versichern kann. Die Rechtsprechung verfährt dabei zu Recht großzügig und lässt die eidesstattliche Versicherung grundsätzlich immer dann zu, wenn keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass das Nachlassgericht im Rahmen eines Erbscheinverfahrens weitere Ermittlungen anstellen und zu einer abweichenden Beurteilung der Erbfolge gelangen könnte.10 Die Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung ist gegenüber dem Erwirken eines Erbscheins bzw. ENZ mit einer erheblichen Zeit- und Kostenersparnis verbunden. III. Fallgruppen und aktueller Meinungsstand In der Grundbuchpraxis haben sich mittlerweile zahlreiche Konstellationen herausgebildet, in denen sich die Frage nach der Notwendigkeit eines (zusätzlichen) 6
BayObLG, ZEV 2000, 233; OLG München, ZEV 2008, 340; Böhringer, ZEV 2017, 68, 68; Kroiß/Horn, NJW 2013, 516 (518); Völzmann, RNotZ 2012, 380 (382). 7 OLG München, ZEV 2017, 45; Demharter, GBO, 32. Auflage 2021, § 35 Rn. 42. 8 OLG München, NJW-RR 2016, 1233; OLG Düsseldorf, ZEV 2013, 500; Böhringer, ZEV 2017, 68. 9 OLG Düsseldorf, BeckRS 2018, 22617; OLG München, RNotZ 2016, 320; Kroiß/Horn, NJW 2013, 516 (518). 10 OLG Frankfurt, FamRZ 2013, 1688; BayObLG, NJW-RR 2000, 1545; OLG Düsseldorf, ZEV 2010, 98; BayObLG, ZEV 2000, 456; Böhringer, ZEV 2017, 68 (69); Völzmann, RNotZ 2012, 380 (384).
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Erbnachweises in Form eines Erbscheins/ENZ oder ggf. einer eidesstattlichen Versicherung stellt. Die wesentlichen Fallgruppen sowie deren Behandlung in Rechtsprechung und Literatur sollen nachfolgend dargestellt werden. 1. Pflichtteilsstrafklauseln Breiten Raum in der Diskussion nehmen sog. automatische Pflichtteilsstrafklauseln in Berliner Testamenten oder Erbverträgen ein. Hierbei setzen sich die Ehegatten wechselseitig zum Alleinerben ein und ernennen die gemeinsamen Kinder zu unter sich gleichen Teilen zu Schlusserben des längerlebenden Elternteils. Zudem wird festgelegt, dass ein Kind, das nach dem Tod des Erstversterbenden seinen Pflichtteil verlangt, auch beim Tod des Zweitversterbenden (automatisch) auf den Pflichtteil gesetzt wird und als Miterbe ausscheidet. Möchten nun die Kinder nach dem Tod des längerlebenden Elternteils den elterlichen Grundbesitz unter Vorlage der notariellen Verfügung von Todes wegen samt Eröffnungsniederschrift auf sich umschreiben lassen, stellt sich die Frage, ob das Grundbuchamt einen Nachweis für die negative Tatsache der Nicht-Geltendmachung des gesetzlichen Pflichtteils beim Tod des ersten Elternteils verlangen darf. In der Rechtsprechung werden hierzu unterschiedliche Ansichten vertreten. Einige Instanzgerichte erachten zusätzliche Erbnachweise grundsätzlich als nicht erforderlich;11 andere Gerichte dagegen verlangen zu Nachweiszwecken zwingend die Vorlage eines Erbscheins/ENZ und lassen – zumindest im jeweils entschiedenen Fall – eine eidesstattliche Versicherung der Erben nicht ausreichen.12 Begründet wird dies damit, dass es nicht zu einer den Gesetzeswortlaut überdehnenden Verallgemeinerung in der Weise kommen dürfe, dass eine eidesstattliche Versicherung generell als Nachweismittel genügt. Überwiegend wird dagegen vertreten, dass die Vorlage eines Erbscheins/ENZ nicht zwingend erforderlich ist, sondern die Lücke im Nachweis auch dadurch geschlossen werden kann, dass von den Beteiligten eine auf die Nicht-Geltendmachung des Pflichtteils bezogene eidesstattliche Versicherung abgegeben wird.13 Hauptargument ist, dass es dem Gesetzeszweck des § 35 Abs. 1 Satz 2 GBO entspreche, eine erleichterte Berichtigung ohne den Umweg über das Nachlassgericht zu ermöglichen. Ein Erbschein ist auch nach dieser großzügigeren Auffassung allerdings dann nicht verzichtbar, wenn unter Einbeziehung 11
Z. B. LG Stuttgart, BWNotZ 1988, 163; LG Koblenz, MittRhNotK 1995, 67. OLG Frankfurt, DNotZ 1995, 312; OLG Frankfurt, FamRZ 2012, 1591; LG Kassel, RPfleger 1993, 397. 13 OLG Frankfurt, DNotZ 1995, 312; OLG Köln, ZEV 2010, 97; OLG Hamm, FGPrax 2011, 169; OLG Düsseldorf, NJOZ 2011, 393; OLG München, RNotZ 2013, 173; OLG Braunschweig, DNotZ 2013, 125; OLG Frankfurt, ZfIR 2013, 484; OLG Hamm, ZEV 2014, 609 m. Anm. Weber; OLG Hamm, notar 2015, 366 m. zust. Anm. Spieker; Demharter (Fn. 8), § 35 Rn. 39; Hügel/Wilsch, GBO, 4. Auflage 2020, § 35 Rn. 117; KEHE/Volmer, Grundbuchrecht, 8. Auflage 2018, § 35 GBO Rn. 87; Worm, RNotZ 2003, 550; Kroiß/Horn, NJW 2013, 516 (518); a. A. LG Stuttgart, BWNotZ 1988, 163; LG Koblenz, MittRhNotK 1995, 67; LG Köln, MittRhNotK 1988, 177. 12
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der eidesstattlichen Versicherung noch konkrete Zweifel verbleiben, die nur durch weitere tatsächliche Sachverhaltsermittlungen geklärt werden können. Der BGH hat in seinem Beschluss vom 2. 6. 201614 den Standpunkt vertreten, dass bei einer unbedingten Erbeinsetzung der Nachweis der Erbfolge nach § 35 Abs. 1 Satz 2 Hs. 1 GBO durch die Vorlage einer Ausfertigung des notariellen Testaments und der Niederschrift über dessen Eröffnung durch das Nachlassgericht erbracht ist. Bei einer bloß bedingten Erbeinsetzung sei dies anders. Hier sei das Grundbuchamt unter Reduktion seines Ermessens nach § 35 Abs. 1 Satz 2 Hs. 2 GBO gehalten, einen Erbschein oder eine für den Nachweis ausreichende Erklärung der Beteiligten in der Form des § 29 GBO zu verlangen. Dies gelte beispielsweise für den Fall eines notariell beurkundeten Testaments, das eine Pflichtteilsstrafklausel enthält. Auch bei allgemein gehaltenen Verwirkungsklauseln,15 deren Bedingungseintritt sich im Grundbucheintragungsverfahren nicht zweifelsfrei feststellen lasse, reduziere sich das dem Grundbuchamt mit § 35 Abs. 1 Satz 2 GBO eingeräumte Ermessen „auf null“. Es bleibe dann ebenfalls bei der Regelung in § 35 Abs. 1 Satz 1 GBO, wonach das Erbrecht durch einen Erbschein nachzuweisen ist.16 In der Literatur wird überwiegend die Auffassung vertreten, dass das Grundbuchamt zwar grundsätzlich keinen zusätzlichen Erbschein verlangen kann, wenn die vorgelegte notarielle Verfügung von Todes wegen eine automatische Pflichtteilsstrafklausel enthält. Die Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung zur Schließung der Nachweislücke wird aber auch in der Literatur meist als erforderlich erachtet17. Nur vereinzelt wird der Standpunkt vertreten, dass es keinerlei zusätzlicher Nachweise bedürfe, weil der Nichteintritt der Bedingung der Pflichtteilsstrafklausel als offenkundig im Sinne des § 29 Abs. 1 Satz 2 GBO anzusehen sei.18 2. Scheidungs- und Wiederverheiratungsklauseln Nach § 2077 Abs. 1 und 3 BGB, der gemäß §§ 2268, 2279 Abs. 2 BGB auch auf gemeinschaftliche Testamente und Erbverträge Anwendung findet, ist eine letztwillige Verfügung zugunsten des Ehegatten im Zweifel unwirksam, wenn die Ehe vor dem Tode des Erblassers aufgelöst worden ist oder wenn zur Zeit des Todes des Erblassers die Voraussetzungen für die Scheidung der Ehe gegeben waren und der Erblasser die Scheidung beantragt oder ihr zugestimmt hatte. In Erweiterung dieser 14
BGH, ZEV 2016, 635. Das Testament enthielt folgende Bestimmung: „Derjenige, der mit diesen Testamentsbestimmungen nicht einverstanden ist, erhält nur den Pflichtteil unter Anrechnung dessen, was er bereits zu Lebzeiten von uns bekommen hat, wozu auch die Kosten einer Ausbildung, Ausstattung oder sonstige Zuwendungen gehören.“ 16 Ebenso OLG Frankfurt, NJOZ 2013, 149. 17 BeckOK-GBO/Wilsch (Fn. 4), § 35 Rn. 102 ff.; Völzmann, RNotZ 2012, 380 (384); Bestelmeyer, notar 2013, 14, (150 f.); Kroiß/Horn, NJW 2013, 516 (518); Böhringer, ZEV 2017, 68 (69); Spieker, notar 2017, 206 (212). 18 Etwa Meyer-Stolte, Rpfleger 1992, 195. 15
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Zweifelsregelung enthalten zahlreiche notarielle Verfügungen von Todes wegen eine sog. Scheidungsklausel, wonach die Verfügung unabhängig vom tatsächlichen Vorliegen der Scheidungsvoraussetzungen und unabhängig davon, welcher Ehegatte die Scheidung beantragt hatte, stets unwirksam werden soll, wenn einer der Ehegatten zum Zeitpunkt des Todes des Erstversterbenden einen Scheidungsantrag anhängig gemacht haben sollte. Ziel einer sog. Wiederverheiratungsklausel ist die Verhinderung der Abwanderung des ehelichen Vermögens an einen „Fremden“ dadurch, dass bei erneuter Heirat des Längerlebenden der überlebende Ehegatte sein Erbrecht vollständig verliert und der Nachlass des Erstversterbenden an die gemeinsamen Kinder oder andere Personen fällt. Bei Scheidungsklauseln, die lediglich den Gesetzeswortlaut wiedergeben oder sich inhaltlich stark an diesen anlehnen, wird ganz überwiegend vertreten, dass sich aus der Klausel allein keine Zweifel am behaupteten Erbrecht ableiten ließen, die das Verlangen nach weiteren Nachweisen rechtfertigen würden.19 Namentlich das OLG München20 hat im Falle einer erweiterten Scheidungsklausel die Forderung des Grundbuchamts gebilligt, das einen Nachweis für die negative Tatsache, dass ein Scheidungsantrag bis zum Tod des Erstversterbenden nicht gestellt wurde, gefordert hatte. Dieser Nachweis müsse indes nicht zwingend durch einen Erbschein erbracht werden; auch die Vorlage einer entsprechenden eidesstattlichen Versicherung des längerlebenden Ehegatten wurde als ausreichend erachtet.21 Diese Auffassung wird von der überwiegenden Literaturmeinung abgelehnt.22 Ein zusätzlicher Nachweis dürfe nur verlangt werden, wenn konkrete Zweifel an der Erbenstellung des längerlebenden Ehegatten bestünden.23 Dies wäre nur dann der Fall, wenn das Grundbuchamt tatsächliche Anhaltspunkte für ein Scheidungsverfahren hat und diesbezüglich die Notwendigkeit weiterer Ermittlungen besteht.24 In Fällen sog. Wiederverheiratungsklauseln wird dagegen überwiegend zumindest eine eidesstattliche Versicherung des überlebenden Ehegatten gefordert.25
19 KG, NotBZ 2013, 33; Lange, ZEV 2009, 371 (373); Schöner/Stöber, Grundbuchrecht, 16. Auflage 2020, Rn. 790; KEHE/Vollmer (Fn. 14), § 35 GBO Rn. 86; BeckOK-GBO/Wilsch (Fn. 4), § 35 Rn. 105. 20 OLG München, ZEV 2016, 401. 21 Ebenso OLG Naumburg, DNotZ 2020, 543. 22 Volmer, ZEV 2016, 402 (403); jurisPK-BGB/Reymann, § 2268 Rn. 20; Gutachten DNotI-Report 2018, 1 (2 f.); Drexler, MittBayNot 2020, 365; anders wohl nur Böhringer, ZEV 2017, 68 (69). 23 BeckOK-GBO/Wilsch (Fn. 4), § 35 Rn. 105; Lange, ZEV 2009, 371 (373); Bestelmeyer, notar 2013, 147 (151). 24 So auch KG, ZEV 2020, 764; KG, NotBZ 2013, 33. 25 LG Bochum, Rpfleger 1987, 197; BeckOK-GBO/Wilsch (Fn. 4), § 35 Rn. 113; Böhringer, ZEV 2017, 68 (72).
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3. Gesetzliche und vertragliche Rücktrittsrechte In einem Erbvertrag können sich die Vertragsschließenden den Rücktritt vorbehalten (§ 2293 BGB). Wenn ein solcher Rücktrittsvorbehalt nicht ausdrücklich vereinbart wurde, kann sich ein Rücktrittsrecht auch aus dem Gesetz ergeben, § 2295 BGB. Im Erbfall stellt sich wiederum die Frage, ob seitens des Grundbuchamts ein Erbschein zum Nachweis der negativen Tatsache, dass das Rücktrittsrecht zu Lebzeiten beider Vertragsteile nicht ausgeübt wurde, verlangt werden darf. Die Rechtslage hierzu ist noch immer sehr umstritten. Nach einer Auffassung26 soll bezüglich der Negativtatsache der Nichtausübung des Rücktrittsrechts stets eine Nachweislücke bestehen, die entweder durch einen Erbschein/ENZ oder durch eine eidesstattliche Versicherung des Erben, dass das Rücktrittsrecht nicht ausgeübt wurde, zu schließen ist. Dieser Ansicht ist das OLG München in seinem Beschluss vom 3. 11. 201127 jedenfalls bei Vorliegen eines vertraglichen Rücktrittsrechts in einem Erbvertrag gefolgt. Wenig später hat derselbe Senat dann im Fall eines nur gesetzlichen Rücktrittsrechts anders entschieden und lediglich eine abstrakte Möglichkeit gesehen, dass das aus der letztwilligen Verfügung hervorgehende Erbrecht fraglich sein könnte. Das Erfordernis einer eidesstattlichen Versicherung wurde daher verneint.28 Die ganz herrschende Meinung29 lässt dagegen generell die Vorlage der notariellen Verfügung von Todes wegen samt Eröffnungsniederschrift genügen, wenn für die Ausübung des vorbehaltenen oder gesetzlichen Rücktrittsrechts keine greifbaren Anhaltspunkte ersichtlich sind. Die Argumente der herrschenden Meinung haben mittlerweile auch das OLG München überzeugt und eine Änderung seiner bisherigen Rechtsprechung bewirkt.30 Das Gericht stützt sich in seiner Begründung allerdings maßgeblich auf den Umstand der Einführung des Zentralen Testamentsregisters zum 1. 1. 2012 und der damit verbundenen Mitteilungspflicht des Notars nach § 34 a BeurkG, wenn dieser einen Rücktritt vom Erbvertrag beurkundet hat. Liege eine solche Mitteilung nicht vor, könne das Grundbuchamt im Regelfall davon ausgehen, dass ein Rücktritt auch nicht erklärt wurde.31 Plakativ spricht das OLG München davon, dass die durch das Zentrale Testamentsregister geschaffene zusätzliche Sicherheit auch auf die Nachweisanforderungen für die Erbfolge im Grundbuchverfahren „ausstrahlt“. Demnach ist für den zur Grundbuchberichtigung erforderlichen Nachweis der Erbfolge bei vorbehaltenem Rücktritt im Erbvertrag – Glei26
Etwa BayObLG NJW-RR 2003, 736; Böhringer, Rpfleger 2003, 157 (167); Völzmann, RNotZ 2012, 380 (385); Litzenburger, FD-ErbR 2012, 334607 und FD-ErbR 2013, 346364. 27 OLG München, BeckRS 2011, 26280. 28 OLG München, BeckRS 2012, 14109. 29 LG Kleve, MittRhNotK 1989, 273; OLG Düsseldorf, MittBayNot 2013, 490; OLG Saarbrücken, FGPrax 2014, 250; Tönnies, RNotZ 2012, 326; Braun, MittBayNot 2012, 294; Braun, MittBayNot 2013, 48; Lehmann/Schulz, ZEV 2012, 538 (539); Demharter, ZfIR 2013, 471; von Rintelen, NotBZ 2013, 265. 30 OLG München, ZEV 2015, 705. 31 So bereits Tönnies, RNotZ 2012, 326 (327); von Rintelen, NotBZ 2013, 265 (266); Braun, MittBayNot 2012, 294 f.
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ches gilt auch für das gesetzliche Rücktrittsrecht nach § 2295 BGB – neben der Vorlage der notariellen Urkunde und der Eröffnungsniederschrift – auch in Bayern – keine eidesstattliche Versicherung und erst Recht kein Erbschein/ENZ mehr erforderlich. 4. Zweifel an der Testierfähigkeit Bestehen konkrete Zweifel an der Testierfähigkeit des Erblassers, kann nach überwiegender Ansicht in der Rechtsprechung die Vorlage eines Erbscheins verlangt werden, da die Frage der Testierfähigkeit durch die im Grundbuchverfahren gegebenen Erkenntnismöglichkeiten nicht aufgeklärt werden kann.32 Die generelle (abstrakte) Gefahr, dass eine letztwillige Verfügung von Todes wegen aufgrund der Testierunfähigkeit des Erblassers nichtig sein könnte, reicht dabei allerdings nicht aus, um einen Erbschein verlangen zu können.33 Bloße Behauptungen Dritter, der Erblasser sei bei der Errichtung der letztwilligen Verfügung testierunfähig gewesen, genügen folglich nicht.34 Auch berührt eine angeordnete Betreuung allein die Testierfähigkeit noch nicht.35 Es bedarf vielmehr begründeter und konkreter Zweifel, etwa gestützt auf fachärztliche Gutachten, die es rechtfertigen, dass ein Erbschein vorgelegt werden muss.36 Das OLG München entschied, dass in einem Fall, in dem mehrere sachverständige Befunde zu dem Ergebnis kamen, dass die Testierfähigkeit des Erblassers jedenfalls nicht zweifelsfrei verneint werden kann, für die Feststellung der Erbfolge im Grundbuchverfahren von der Testierfähigkeit auszugehen sei. Das Grundbuchamt könne nicht mit der Begründung, es sei nicht zweifelsfrei nachgewiesen, dass der Erblasser testierfähig gewesen sei, einen Erbschein verlangen.37 In der Literatur wird dieser Entscheidung – soweit ersichtlich – einhellig zugestimmt.38
32 OLG Hamm, MittBayNot 2015, 403; OLG München, RNotZ 2016, 320; OLG Düsseldorf, MittBayNot 2019, 596. Ausführlich Weser, MittBayNot 2015, 368. 33 Vgl. etwa Meikel/Weber, GBO, 12. Auflage 2020, § 35 Rn. 133; Böhringer, ZEV 2017, 68 (68); OLG München, MittBayNot, 2015, 221; OLG Oldenburg, MittBayNot 2017, 500. 34 Hügel/Wilsch (Fn. 14), § 35 Rn. 124; OLG Oldenburg, MittBayNot 2017, 500 m. zust. Anm. Weber. 35 BayObLG, NJW-RR 2005, 1025; OLG München, NJW-RR 2008, 164. Nach Ansicht des OLG Hamm (MittBayNot 2015, 403) liegt jedoch in einem solchen Fall ein konkreter Anlass dafür vor, die Betreuungsakten im Hinblick auf eine mögliche Testierunfähigkeit des Erblassers auszuwerten. 36 Schöner/Stöber (Fn. 29), Rn. 788. 37 OLG München, NJW-RR 2015, 138. 38 BeckOK-GBO/Wilsch (Fn. 4), § 35 Rn. 124 f.; Weser, MittBayNot 2015, 368 (372); Böhringer, ZEV 2017, 68 (72); Kroiß/Horn, NJW 2013, 516 (517).
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5. Konkurrenz von notariellem und privatschriftlichem Testament Hat das Grundbuchamt Kenntnis davon, dass neben der notariellen Verfügung von Todes wegen auch noch ein privatschriftliches Testament existiert, so ist zu differenzieren: Hat der Erblasser das privatschriftliche Testament zeitlich nach der öffentlichen Verfügung verfasst, so wird in Rechtsprechung und Literatur meist vertreten, dass ein Erbschein jedenfalls dann gefordert werden darf, wenn das privatschriftliche Testament nicht offenkundig unwirksam oder für die Erbfolge bedeutungslos ist.39 Demgemäß kann ein Erbschein/ENZ notwendig sein, wenn aus einer Vorerbenstellung im notariellen Testament eine Vollerbenstellung im privatschriftlichen Testament wird.40 Gleiches gilt, wenn die zunächst angeordnete Testamentsvollstreckung durch privatschriftliches Testament wieder aufgehoben wird.41 Entbehrlich ist ein Erbschein indes dann, wenn die spätere Erbeinsetzung im privatschriftlichen Testament mit der im früheren notariellen Testament völlig identisch ist.42 Liegt dagegen ein privatschriftliches gemeinschaftliches Ehegattentestament vor und hat der längerlebende Ehegatte sodann ein notarielles Einzeltestament errichtet, so ist dieses nur wirksam, wenn und soweit es nicht gegen die Bindungswirkung des gemeinschaftlichen Testaments verstößt (§ 2270 BGB). Die Klärung dieser Frage obliegt zunächst dem Grundbuchamt in eigener Verantwortung. Nur wenn weitere tatsächliche Ermittlungen über den Willen der Erblasser hinsichtlich der Wechselbezüglichkeit ihrer Verfügungen erforderlich sind, kann das Grundbuchamt zum Nachweis der Erbfolge einen Erbschein bzw. ein ENZ verlangen.43 Dies gilt indes dann nicht, wenn auch das Nachlassgericht in einem Erbscheinverfahren nur auf die Zweifelsregelung des § 2270 Abs. 2 BGB zurückgreifen könnte.44 6. Auslegungsschwierigkeiten Wie bereits dargelegt, obliegt die Auslegung auch notarieller Verfügungen von Todes wegen grundsätzlich dem Grundbuchamt in eigener Verantwortung. Dies gilt selbst bei rechtlich schwierigen Fragen. Nur ausnahmsweise kann im Falle der Notwendigkeit weiterer Ermittlungen über Umstände, die außerhalb der Urkunde
39 BayObLG, NJW-RR 1987, 266; OLG Frankfurt, NJW-RR 2005, 380; OLG München, RNotZ 2016, 320; Böhringer, ZEV 2017, 68 (70); Bestelmeyer, notar 2013, 147 (152). 40 BayObLG, FamRZ 1993, 605. 41 OLG Hamm, Rpfleger 2013, 13. 42 OLG Oldenburg, Rpfleger 1974, 434; BayObLG, NJW-RR 1987, 266; Bestelmeyer, notar 2013, 147 (152). 43 OLG München, RNotZ 2016, 396; BayObLG, ZEV 2000, 233; OLG Hamm, DNotZ 2001, 395; Bestelmeyer, notar 2013, 147 (152); Böhringer, ZEV 2017, 68 (70). Großzügiger OLG Schleswig, FGPrax 2006, 248. 44 OLG München, ZEV 2017, 45.
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liegen, ein Erbschein/ENZ verlangt werden.45 Dies ist dann anzunehmen, wenn das Grundbuchamt die letztwillige Verfügung nicht abschließend beurteilen kann, die Auslegung zu keinem eindeutigen Ergebnis führt oder das Auslegungsergebnis vom Antrag des Erben abweicht. Vorausgegangen sein muss aber stets eine erschöpfende rechtliche Würdigung und Auslegung der Verfügung. Exemplarisch seien folgende Fälle aus der Rechtsprechung erwähnt: Enthält ein notarielles Testament explizit nur die Anordnung einer Vor- und Nacherbschaft, nicht aber auch die ausdrückliche Einsetzung der Nacherben zu Ersatzerben, hat das OLG Celle einen Erbschein nach dem zuletzt versterbenden Ehegatten verlangt.46 Ein Erbschein/ENZ wird auch dann für erforderlich gehalten, wenn konkrete Zweifel an der Vererblichkeit der Nacherbenanwartschaft bestehen.47 Die Vorlage eines Erbscheins kann nach Ansicht des OLG Naumburg auch dann gefordert werden, wenn nicht eindeutig ist, ob ein notarielles Testament eine Erbeinsetzung oder lediglich ein Vermächtnis anordnet.48 Das Grundbuchamt ist aber nicht befugt, die Vorlage eines Erbscheins zur Grundbuchberichtigung zu verlangen, wenn in einem notariellen Erbvertrag – und sei es unter Heranziehung der Auslegungsregel des § 2102 Abs. 1 BGB – die Erbfolge hinreichend klar geregelt ist.49 7. Sonstige Fälle Schlägt der eingesetzte Erbe die Erbschaft aus und begehrt der Ersatzerbe die Berichtigung des Grundbuchs auf ihn, so kann das Grundbuchamt nach Ansicht des OLG München50 einen Erbschein bzw. ein ENZ verlangen, wenn weitere tatsächliche Ermittlungen zur Frage der Wirksamkeit der Ausschlagung erforderlich sind (etwa bei Anfechtung der Ausschlagung oder Anfechtung der Versäumung der Ausschlagungsfrist). Nur wenn die Ausschlagung ausweislich der Nachlassakte form- und fristgerecht erklärt wurde, bedarf es keiner weiteren Nachweise.51 Nach Ansicht 45
KG, NJW-RR 2012, 847; KG, NotBZ 2013, 33; OLG München, NotBZ 2013, 70; OLG Hamm, BeckRS 2014, 15502; OLG Naumburg, BeckRS 2015, 19808; OLG München, RNotZ 2016, 683. 46 OLG Celle, ZEV 2010, 95; ablehnend unter Hinweis auf die Auslegungsregel des § 2102 Abs. 1 BGB BeckOK-GBO/Wilsch (Fn. 4), § 35 Rn. 123e; Bestelmeyer, notar 2013, 147 (152). 47 OLG Oldenburg, Rpfleger 1989, 106. 48 OLG Naumburg, ErbR 2020, 204; sehr kritisch Litzenburger, FD-ErbR 2020, 425608: „fehlerhafte Einzelfallentscheidung“. 49 OLG Saarbrücken, DNotZ 2020, 942 = ZEV 2020, 382 (Ls.). 50 OLG München, FamRZ 2016, 1400. Ebenso OLG Frankfurt, MittBayNot 2019, 46. 51 Vgl. etwa Bestelmeyer, notar 2013, 147 (151) m. w. N.
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des LG Aschaffenburg52 soll sich die Verpflichtung zur eigenständigen und umfassenden Auslegung durch das Grundbuchamt stets auch auf die Wirksamkeit einer Ausschlagung der Erbschaft beziehen. Bei einer form- und fristgerechten Ausschlagungserklärung liege eine aktenkundige bzw. offenkundige Tatsache vor, die das Grundbuchamt entsprechend berücksichtigen müsse. Daher könne das Grundbuchamt nicht die Vorlage eines Erbscheins fordern. Das OLG Frankfurt vertritt den Standpunkt, dass in Fällen der Anfechtung der Annahme einer Erbschaft das Grundbuchamt einen Erbschein verlangen kann, weil das Grundbuchamt mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln nicht aufklären kann, ob eine wirksame Anfechtung vorliegt.53 Geht aus einer letztwilligen Verfügung nicht zweifelsfrei hervor, wer Erbe geworden ist, kommt diese Verfügung als Unrichtigkeitsnachweis im Grundbuchverfahren regelmäßig nicht mehr in Betracht, da an den Nachweis strenge Anforderungen zu stellen sind und er dem Bestimmtheitsgrundsatz entsprechen muss. Lediglich ausnahmsweise kann die notarielle Urkunde als Unrichtigkeitsnachweis genügen, wenn auch in einem Erbschein bzw. ENZ keine genauere Bezeichnung der Erben vorgenommen werden könnte, da beispielsweise noch gar nicht klar ist, wer Nacherbe sein wird.54 Eine eidesstattliche Versicherung, vom Notar beurkundet, reicht in der Regel als Erbfolgenachweis aus, wenn etwa eine Lücke im Nachweis der Erbfolge dahingehend besteht, dass aus der Ehe der Erblasser keine weiteren als die im notariellen Testament aufgeführten Kinder hervorgegangen sind. Die Vorlage eines Erbscheins bzw. ENZ kann dann nicht gefordert werden.55 Nach Ansicht des OLG München56 kann ein Erbschein auch dann verlangt werden, wenn an der Wirksamkeit eines Vertrages über die Aufhebung eines Erbvertrags Zweifel bestehen, die im Grundbuchverfahren nicht beseitigt werden können.57 Auch ausländische Urkunden können im Einzelfall – bei entsprechender Legalisation (§ 438 Abs. 2 ZPO, § 13 KonsG) bzw. erteilter Apostille – als Erbnachweis gemäß § 35 GBO genügen.58 Häufig wird aber die Urkunde in einer fremden Sprache verfasst sein, ausländisches Erbrecht zur Anwendung kommen oder aber im ausländischen Nachlassverfahren keine dem § 348 FamFG entsprechende Eröffnungsniederschrift erstellt worden sein. Aus diesem Grund wird das Grundbuchamt bei ausländischen Urkunden in der Regel einen Erbschein verlangen können.59 Testamente 52
LG Aschaffenburg, RNotZ 2009, 656. OLG Frankfurt, ZEV 2018, 425; BeckOK-GBO/Wilsch (Fn. 4), § 35 Rn. 123 d. 54 OLG Frankfurt, BeckRS 2018, 11672. 55 BeckOK-GBO/Wilsch (Fn. 4), § 35 Rn. 126 ff.; Bestelmeyer, notar 2013, 147 (150); OLG Düsseldorf, ZEV 2010, 98; OLG München, DNotZ 2012, 461. 56 OLG München, ZEV 2013, 620. 57 Ebenso Böhringer, ZEV 2017, 68 (69). 58 KG, JFG 17, 343; Böhringer, ZEV 2001, 387. 59 BeckOK-GBO/Wilsch (Fn. 4), § 35 Rn. 94 f.; Kroiß/Horn, NJW 2013, 516 (518). Anders wohl Burandt/Rojahn/Egerland (Fn. 6), § 35 GBO Rn. 10. 53
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zur Niederschrift vor einem Konsularbeamten stehen Urkunden, die vor einem deutschen Notar aufgenommen wurden, gleich.60 IV. Exkurs: Erbnachweis gegenüber Banken und dem Registergericht Nicht nur gegenüber dem Grundbuchamt, sondern beispielsweise auch gegenüber Banken und im Handelsregisterverfahren muss die Erbfolge bisweilen nachgewiesen werden. Nachdem der BGH im Jahr 2013 bereits die Unwirksamkeit der Nr. 5 Abs. 1 der Sparkassen-AGB, wonach es beim Tod eines Kunden im Ermessen der Sparkasse stehen sollte, zum Nachweis der Erbfolge einen Erbschein zu verlangen, festgestellt hatte,61 erließen die Karlsruher Richter am 5. 4. 2016 ein weiteres richtungsweisendes Urteil zum Umfang des Erbnachweises gegenüber Banken.62 Darin ging es um die Frage, ob Banken von den Erben stets die Vorlage eines Erbscheins verlangen können, wenn die Erbfolge nach dem Erblasser nicht auf einem notariellen, sondern auf einem privatschriftlichen gemeinschaftlichen Testament beruht. Besondere Bedeutung kommt der Entscheidung auch deshalb zu, weil das Testament eine sog. automatische Pflichtteilsstrafklausel enthielt („Fordert beim Tode des Erstverstorbenen eines unserer Kinder seinen Pflichtteil, soll es auch beim Tode des Letztverstorbenen nur den Pflichtteil erhalten.“). Der BGH kam zu dem Ergebnis, dass die beklagte Sparkasse gegen die ihr obliegende vertragliche Leistungstreuepflicht verstoßen habe, indem sie die Freigabe der Konten von der Vorlage eines Erbscheins abhängig gemacht hat. Dadurch habe sie die mit der Erteilung des Erbscheins verbundenen Kosten unnötigerweise verursacht. Von Ausnahmen abgesehen (vgl. etwa § 35 GBO) sei der Erbe nicht verpflichtet, sein Erbrecht durch einen Erbschein nachzuweisen, sondern habe auch die Möglichkeit, diesen Nachweis in anderer Form zu erbringen. Zwar sei auf Seiten der Banken die Gefahr einer doppelten Inanspruchnahme im Fall einer Auszahlung an nicht berechtigte Dritte durchaus gegeben; allerdings müsse auch den berechtigten Interessen der Erben an einer möglichst raschen und kostengünstigen Abwicklung des Nachlasses Rechnung getragen werden. Im Vergleich zum öffentlichen Testament seien beim eigenhändigen Testament (§§ 2231 Nr. 2, 2247, 2267 BGB) die Gefahren der Rechtsunkenntnis, unklarer Formulierungen, des Urkundenverlusts, einer Unterdrückung oder Fälschung höher. Daher sei es bei Vorlage einer beglaubigten Ablichtung eines eigenhändigen Testaments nebst einer beglaubigten Abschrift des Eröffnungsprotokolls eine Frage des 60
Schaub, in: Bauer/Schaub, GBO, 4. Auflage 2018, § 35 Rn. 122 f. BGH, ZEV 2014, 41. Zustimmend etwa Günther, NJW 2013, 3681; Keim, ZEV 2014, 277; Tersteegen, RNotZ 2014, 98; Wurmnest WM 2015, 1597. Die Sparkassen-AGB wurden daraufhin überarbeitet. Ein Nachweis der erbrechtlichen Berechtigung muss jetzt nur noch „in geeigneter Weise“ erbracht werden. Kritisch zur Neuregelung etwa Haaser, ErbR 2014, 313 (315). 62 BGH, NJW 2016, 2409 = ZEV 2016, 320. Dazu etwa Gottwald, ZAP 2017, 679. 61
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Einzelfalls, ob dieses die Erbfolge mit der im Rechtsverkehr erforderlichen Eindeutigkeit bezeuge. Nur bei konkreten und begründeten Zweifeln an der Richtigkeit der durch das eigenhändige Testament belegten Erbfolge sei die Bank berechtigt, ergänzende Erklärungen der Erbprätendenten (etwa in der Form einer eidesstattlichen Versicherung) einzuholen oder sich weitere Unterlagen, wie z. B. das Familienstammbuch oder einen Erbschein vorlegen zu lassen. Zweifel an der Richtigkeit der durch das eigenhändige Testament belegten Erbfolge ergäben sich nicht allein aus der Pflichtteilsstrafklausel. Im Hinblick darauf, dass das jeweils andere Kind vom Eingreifen der Pflichtteilsstrafklausel profitiert hätte und daher dessen Berufung auf die Klausel zu erwarten gewesen wäre, eine solche aber nicht erfolgte, handele es sich um bloß abstrakte Zweifel an der behaupteten Erbfolge. Die Entscheidung des BGH ist durchaus als überraschend zu bezeichnen. Zwar gilt § 35 Abs. 1 Satz 2 GBO für den Bankverkehr nicht – auch nicht entsprechend. Zudem kann richtigerweise auch ein klar und einfach gestaltetes privatschriftliches Testament, in dem die Erben positiv als (Schluss-)Erben eingesetzt werden, hinreichende Sicherheit über die Erbfolge bieten. Enthält das Testament indes eine Pflichtteilsstrafklausel, dürften unter Zugrundelegung der im Grundbuchrecht überwiegend vertretenen Auffassung, die zumindest die Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung fordert, mehr als nur „abstrakte Zweifel“ an der Erbfolge bestehen, da Banken (und sonstige Vertragspartner ebenso) wohl kaum mit hinreichender Sicherheit feststellen können, ob ein Pflichtteilsverlangen der Kinder gestellt wurde oder nicht.63 Das AG Nördlingen64 hat unter Bezugnahme auf die BGH-Entscheidung ausgesprochen, dass eine Bank für die Auflösung der Konten des Erblassers einen Erbschein nur verlangen darf, soweit die Erbfolge nicht aus anderen Gründen ausreichend nachgewiesen wurde. Lediglich ein Berufen auf die gesetzliche Erbfolge reiche dabei als Erbnachweis nicht aus. Hieran ändere im konkreten Fall des Eintritts der gesetzlichen Erbfolge auch die Vorlage eines Familienstammbaums und das informatorische Schreiben des Nachlassgerichts über die gesetzliche Erbfolge nichts. Im Erbscheinsverfahren würden zwar regelmäßig auch keine weiteren Nachforschungen durch das Nachlassgericht betrieben; durch die in solchen Fällen stets erforderliche (strafbewehrte) eidesstattliche Versicherung gebe es jedoch ein „Mehr“ an Erklärung der gesetzlichen Erben. Diese amtsgerichtliche Entscheidung wurde in der Berufungsinstanz durch das LG Augsburg65 bestätigt. Ob eine Bank gegen ihre Leistungstreuepflicht verstößt, wenn sie zum Nachweis der Erbenstellung einen Erbschein verlangt, müsse auf Grundlage einer Abwägung der beiderseitigen Interessen im jeweiligen Einzelfall beurteilt werden. Es könne weder dem Gesetz noch der Ent63 Vgl. die Nachweise in Fn. 13 und 17. Ebenfalls kritisch Litzenburger, FD-ErbR 2016, 378276. Auch Bredemeyer (ZEV 2016, 322) konstatiert, dass Banken aufgrund der Entscheidung des BGH in einem „Dilemma“ stecken können, und empfiehlt, dass Haftungsfreistellungsvereinbarungen für den Fall eines unrechtmäßigen Auszahlungsverlangens durch den falschen Erben abgeschlossen werden sollten. Zustimmend dagegen Kroiß, NJW 2016, 2411. 64 AG Nördlingen, BeckRS 2018, 47565 = ZEV 2019, 738 (Ls.). 65 LG Augsburg, BeckRS 2019, 22307 = ErbR 2020, 133.
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scheidung des BGH entnommen werden, dass der Nachweis der Erbfolge durch einen Erbschein eine gesetzlich normierte Ausnahmeregelung darstelle bzw. ein Erbschein nur verlangt werden dürfe, wenn dies gesetzlich ausdrücklich normiert ist. Das LG Memmingen66 hatte sich mit der Frage zu beschäftigen, ob eine vom Erblasser mit Konto- und Vorsorgevollmacht ausgestattete Bevollmächtigte gegen die kontoführende Bank des Erblassers Schadensersatzansprüche geltend machen kann, wenn die Bank für Transaktionen nach dem Tod des Erblassers zusätzlich die Vorlage eines Erbscheins verlangt. Wegen der bestehenden Generalvollmacht war die Bank nach Ansicht der Richter verpflichtet, der Zahlungsanweisung der Klägerin Folge zu leisten. Aus diesem Grund musste die Bank den eingetretenen Verzugsschaden ersetzen. Zweifelhaft war in diesem Zusammenhang, ob die Vorlage eines kalifornischen Testaments zum Nachweis der Erbfolge ausreichend war. Aufgrund der fremden Sprache und der durchaus komplexen Abfassung sei es – so das LG Memmingen – durchaus nachvollziehbar, dass die Bank das ausländische Testament als Erbnachweis nicht genügen ließ. Jedoch konnte dies letztlich dahinstehen, da die Bank die Transaktion bereits wegen der Konto- und Vorsorgevollmacht hätte tätigen müssen. Im Handelsregisterverfahren werden an den Nachweis der Erbfolge die gleichen Anforderungen wie im Grundbuchverfahren gestellt. Nach einer aktuellen Entscheidung des OLG Brandenburg67 genügt zur Anmeldung der Erben als neue Kommanditisten an der Stelle des verstorbenen Kommanditisten grundsätzlich die Vorlage der vom Nachlassgericht eröffneten Verfügung von Todes wegen samt Eröffnungsniederschrift als Nachweis der Erbfolge. Ein Erbschein sei ausnahmsweise nur dann erforderlich, wenn die vorgelegte Verfügung der Auslegung bedürfe und dabei Zweifel an der Erbenstellung der zur Eintragung angemeldeten hinzutretenden Gesellschafter bestehen bleiben. Das OLG München68 entschied ebenfalls, dass eine Verfügung von Todes wegen in einer öffentlichen Urkunde zusammen mit der Niederschrift über die Eröffnung für das Registergericht nach pflichtgemäßem Ermessen als ausreichend angesehen werden kann; für privatschriftliche Testamente gilt dies hingegen nicht. Auch in der Literatur findet diese Ansicht Zustimmung. Beruht die Erbfolge auf einer Verfügung von Todes wegen in öffentlicher Urkunde, so kann das Registergericht – in Anlehnung an den in § 35 Abs. 1 GBO enthaltenen Rechtsgedanken – diese zusammen mit der Niederschrift über deren Eröffnung nach pflichtgemäßem Ermessen als ausreichend ansehen, wenn die Verfügung von Todes wegen keine Auslegungsschwierigkeiten bereitet.69 66
LG Memmingen, ZEV 2019, 717. OLG Brandenburg, BWNotZ 2020, 108. 68 OLG München, BeckRS 2017, 145830. Vgl. auch KG, FGPrax 2018, 213. 69 KG, ZEV 2018, 607; OLG München, ZEV 2018, 469; OLG Köln, FamRZ 2005, 640; KG, NJW-RR 2000, 1704; Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn-Schaub, HGB, 4. Auflage 2020, § 12 Rn. 159; Krafka/Kühn, Registerrecht, 11. Auflage 2019, Rn. 128; vgl. auch Staudinger/ Herzog, 2017, § 2365 BGB Rn. 33a. 67
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V. Stellungnahme Die vorstehende Analyse des aktuellen Meinungsstands in Rechtsprechung und Literatur hat gezeigt, dass die Rechtslage unübersichtlich ist. Die Praxis der Notare, Grundbuchämter und sonstigen Stellen ist mit verschiedenen Fallkonstellationen konfrontiert, die wiederum von den Gerichten unterschiedlich behandelt werden. Bisweilen ändert sich der Meinungsstand in der obergerichtlichen Rechtsprechung zudem im Laufe der Zeit. Nichtsdestotrotz stellt eine notarielle Verfügung von Todes wegen – entsprechend dem Leitgedanken des § 35 Abs. 1 Satz 2 GBO – ein für die meisten Erbfälle wirksames Mittel dar, um den Erben die zeit- und kostenintensive Beantragung eines Erbscheins/ENZ zu ersparen. Will man den gesetzgeberischen Willen der Nachweiserleichterung nicht leerlaufen lassen, muss man beim Fehlen besonderer Anhaltspunkte vom Nichteintritt negativer Tatsachen ausgehen und die Vorlage der notariellen Verfügung von Todes wegen samt Eröffnungsniederschrift als ausreichend ansehen. Die Erben haben ein berechtigtes Interesse an einer möglichst raschen und kostengünstigen Abwicklung des Nachlasses. Zwar bedeutet die Vorlage eines Erbscheins/ENZ für das Grundbuchamt und für sonstige Vertragspartner insbesondere wegen des öffentlichen Glaubens des Erbscheins gem. §§ 2366, 2367 BGB erhebliche Vorteile. Bei Vorhandensein einer notariellen Urkunde besteht jedoch für den Rechtsverkehr grundsätzlich eine ausreichende Sicherheit über die Erbfolge, weshalb sich das zusätzliche Erfordernis eines Erbscheins/ENZ im Interesse der Erben in vielen Fällen als überobligatorisch darstellen würde. Das Anfordern eines Erbscheins steht nach dem klaren Willen des Gesetzgebers nicht im Belieben des Grundbuchamts und – mangels entsprechender gesetzlicher Regelung – erst recht nicht im Belieben sonstiger Vertragspartner wie z. B. Banken. Es sind wirkliche, im Grundbuchverfahren nicht aufklärbare Zweifel tatsächlicher Art an der Wirksamkeit oder dem Inhalt der notariellen Verfügung von Todes wegen erforderlich, um den Erben zusätzliche Erbnachweise abverlangen zu können. Es erscheint angezeigt, bei der Annahme wirklicher Zweifel zurückhaltend zu sein und bloß theoretische Risiken und Vermutungen nicht genügen zu lassen. Allein die Möglichkeit, dass die Parteien eines Erbvertrags vor dem Erbfall einen Scheidungsantrag gestellt haben (und damit nach der Zweifelsregelung des § 2077 BGB i. V. m. § 2279 Abs. 2 BGB der Erbvertrag unwirksam geworden ist) berechtigt daher richtigerweise das Grundbuchamt ebenso wenig dazu, von den Erben einen Erbschein/ein ENZ zu verlangen, wie das theoretische Risiko, dass von einem nach § 2293 BGB vorbehaltenen Rücktrittsrecht Gebrauch gemacht wurde. Das Grundbuchamt hat im Regelfall die Negativtatsache der Nichtstellung eines Scheidungsantrags bzw. der Nichtausübung eines Rücktrittsrechts und damit auch die Wirksamkeit des Erbvertrags zu unterstellen. Ginge man von der Richtigkeit der abweichenden Auffassung aus, müsste man streng genommen bei jeder notariellen Verfügung von Todes wegen stets noch einen Erbschein als (weiteren) Nachweis der Erbfolge verlangen. Denn auch bei fehlendem Rücktrittsrecht könnte der Erbvertrag
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beispielsweise nachträglich einvernehmlich wieder aufgehoben oder aber angefochten worden sein und ein Testament könnte der Erblasser später widerrufen haben.70 Auch eine eidesstattliche Versicherung kann hier als „milderes Mittel“ nicht verlangt werden. Deren Wert ist in diesem Zusammenhang bereits von vornherein durchaus zweifelhaft. So kann der Erbe beispielsweise in den meisten Fällen nicht guten Gewissens an Eides statt versichern, dass der Erblasser nicht vom Erbvertrag zurückgetreten ist. Allenfalls kann er versichern, dass ihm ein Rücktritt nicht bekannt ist.71 Anders ist die Situation bei Vorliegen einer sog. Pflichtteilsstrafklausel. Die Geltendmachung eines Pflichtteilsanspruchs durch ein Kind nach dem erstversterbenden Elternteil ist – so die zutreffende herrschende Meinung – nach der allgemeinen Lebenserfahrung viel wahrscheinlicher als die Ausübung eines in einem Erbvertrag vorbehaltenen Rücktrittsrechts.72 Das Verlangen des Grundbuchamts nach weiteren Erbnachweisen erscheint daher in solchen Fällen berechtigt. Allgemein sollte jedoch in allen geeigneten Fällen als Minus zum Erbschein die Anforderung einer eidesstattlichen Versicherung als ausreichend erachtet werden. So können die Schlusserben gegenüber dem Grundbuchamt an Eides statt versichern, dass sie nach dem Tod des ersten Elternteils kein Pflichtteilsverlangen gestellt haben. Dies stellt einen schnelleren und kostengünstigeren Weg im Vergleich zum Erbscheinverfahren dar. Es gibt allerdings auch Fälle, in denen die Vorlage eines Erbscheins oder ENZ unausweichlich sein wird. Dies gilt etwa bei sog. Verwirkungsklauseln in letztwilligen Verfügungen, bei denen nicht konkret auf ein Pflichtteilsverlangen der Kinder beim ersten Erbfall, sondern auf ein unspezifischer formuliertes sanktionsbewehrtes Verhalten (im BGH-Fall: „mit diesen Testamentsbestimmungen nicht einverstanden“) abgestellt wird.73 Es liegt auf der Hand, dass nur eine auf den Einzelfall bezogene Testamentsauslegung eine Antwort auf die Frage geben kann, ob im konkreten Fall die durch die Verwirkungsklausel gesetzte auflösende Bedingung der Erbeinsetzung eingetreten ist oder nicht. Ist ein Kind nur dann „nicht einverstanden“, wenn es das Testament juristisch angreift oder auch dann, wenn es das Testament als solches akzeptiert, aber seinen Pflichtteil (gerichtlich) geltend macht? Bei der erforderlichen Testamentsauslegung müssen in der Regel auch Umstände berücksichtigt werden, die außerhalb der Urkunde liegen. Eine solche Auslegung kann jedoch nicht im Grundbucheintragungsverfahren, sondern nur in einem dafür vorgesehenen Erbscheinverfahren vorgenommen werden. Daher hat das Grundbuchamt in einem solchen Fall die Vorlage eines Erbscheins zu verlangen (Ermessensreduktion auf null). Erweist sich ein Erbschein als zwingend erforderlich, so kann der Erbnachweis dann aber nur durch einen nicht wieder eingezogenen Erbschein geführt werden.74 70 Braun, MittBayNot 2012, 294 (295); Tönnies, RNotZ 2012, 326 (326 f.); von Rintelen, NotBZ 2013, 265 (266); OLG Saarbrücken, FGPrax 2014, 250. 71 So insb. Tönnies, RNotZ 2012, 326 (327). 72 Ebenso Braun, MittBayNot 2012, 294 (295). 73 Zutreffend daher BGH, ZEV 2016, 635. 74 BGH, FGPrax 2020, 249; zuvor OLG Düsseldorf, RNotZ 2020, 334.
Zum Nachweis der Erbenstellung gegenüber dem Grundbuchamt
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Möchte man als Erblasser die vorstehend beschriebenen Unsicherheiten vermeiden und seinen Erben potentielle Mehraufwendungen ersparen, so erweist sich die lebzeitige Erteilung einer notariellen post- oder transmortalen Vorsorge- und Generalvollmacht als probates Mittel, um eine schnelle und sichere Nachlassabwicklung sowohl im Grundbuch- und Handelsregisterverfahren als auch im Bankverkehr zu gewährleisten.75 Über den Tod hinaus wirksame Generalvollmachten werden allgemeinhin anerkannt, erfüllen bei notarieller Beurkundung bzw. Beglaubigung die Form des § 29 GBO sowie des § 12 HGB, binden bis zu einem etwaigen Widerruf sämtliche Erben und sind grundsätzlich auch dann einsetzbar, wenn der Bevollmächtigte zugleich (Allein-)Erbe ist.76 In der erbrechtlichen Beratungspraxis sollte daher der Hinweis auf die Vorzüge notarieller Vorsorge- und Generalvollmachten auf keinen Fall fehlen.
75
57.
Ausführlich hierzu etwa Joachim/Lange, ZEV 2019, 62; von Schwander, RNotZ 2019,
76 Zum Problemkreis der sog. Konfusion und den daraus resultierenden Empfehlungen für die Praxis Herrler, NotBZ 2013, 454; Herrler, DNotZ 2017, 508; Keim, MittBayNot 2017, 111; vgl. auch OLG München, ZEV 2016, 656; Palandt/Ellenberger, 80. Auflage 2021, § 168 Rn. 4.
Recht in der Einwanderungsgesellschaft Überlegungen zu interkultureller Rechtsvermittlung Von Mathias Rohe Die hier zu ehrende Jubilar hatte stets offene Augen und Ohren für grenzüberschreitende Rechtsfragen und Begegnungen, nicht zuletzt als Fakultätsbeauftragter für „Internationales“. Es freut mich deshalb, zu seinen Ehren hier erstmalig meine Gedanken zur interkulturellen Rechtsvermittlung zu entwickeln. I. Einführung Interkulturelle Rechtsvermittlung ist ein noch wenig erforschter und konturierter Bereich der allgemeinen Rechtsvermittlung. Dass der einmal erreichte Rechtsstaat kein Selbstläufer ist, wurde in den letzten Jahren schmerzlich bewusst, von den USA bis nach Ungarn, von Paris bis Istanbul, von Halle bis Hanau. Rechtsstaatliche Überzeugungsbildung ist für alle Bevölkerungsgruppen und Generationen nötig. Eine Teilfacette ist die Rechtsstaatsbildung für eingewanderte Menschen, die mit der hiesigen Rechtsordnung nicht vertraut sind. Heute wissen wir: Die kontrafaktische Devise, Deutschland sei „kein Einwanderungsland“, hat sich in vielerlei Hinsicht nicht ausgezahlt. Anders als „klassische“ Einwanderungsländer wie die USA, Kanada oder Australien war Migrationsund Integrationspolitik in Deutschland lange Zeit Stückwerk ohne jeden strategischen Ansatz. Das Anwerben billiger Arbeitskräfte für schwere Arbeiten, die Deutsche nicht mehr übernehmen wollten, und der wenige Jahre später folgende Wegfall vieler ihrer Arbeitsplätze hat notwendig erhebliche soziale Probleme geschaffen. Der 1973 verhängte Anwerbestopp mit der Alternative „Rückwanderung oder Familiennachzug“ hat die Probleme noch deutlich vergrößert. Notwendige Einstiegshilfen zur Integration fehlten breitflächig und wurden teils auch bewusst verweigert, um den Verbleib unattraktiv zu machen. Vergleichbar planlos wurde die Asylpolitik betrieben: Seit den 1990er Jahren häufen sich Fehlentscheidungen, indem Integration zielgerichtet ausgeschlossen werden sollte, damit Menschen in die Herkunftsländer zurückkehren, auch wenn Abschiebungen nur in vergleichsweise seltenen Fällen realisiert werden können. So entstanden Milieus eines prekären Aufenthaltsstatus‘ und weitgehender sozialer Exklusion, die sich in Teilen ihre eigenen Lebenswelten geschaffen haben, bis hin zu kriminellen Strukturen innerhalb eingewanderter Großfamilien („Clankri-
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minalität“). Hetzerische nationalistische oder extremistisch-religiöse Einflussnahme auf große Einwanderergruppen vergrößern die Probleme ebenso wie zunehmende rechtsradikale Propaganda und Gewalt. Nach alledem ist es an der Zeit, eine von den Fakten ausgehende und realistische Rechtspolitik und auch Rechtslehre zu entwerfen, welche die primäre Funktion des Rechts im Land erfüllen kann: Bewahrung einer gesellschaftlichen Friedensordnung mit einem fairen, den Menschenrechten verpflichteten Interessenausgleich nach rechtsstaatlichen Maßstäben. Die Rechtsordnung ist nur begrenzt in der Lage, ihre Grundlagen effizient durchzusetzen, wenn sie nicht weitgehend von den Betroffenen inhaltlich mitgetragen wird. Extremismen aller Art, wie der gegenwärtig besonders bedrohliche Rechtsextremismus und der islamistische Extremismus, müssen durch klare rechtsstaatliche Maßnahmen und mehr noch durch Prävention eingedämmt werden. Eine Facette der Rechtsstaatswahrung ist die Vermittlung grundlegender Rechtsüberzeugungen in der Gesamtbevölkerung. Spezifische Herausforderungen stellen sich indes im Hinblick auf Migrationsfolgen, wenn rechtskulturelle Überzeugungen nicht mit dem hier geltenden Recht und seinen Institutionen kompatibel sind. Dabei tut eine exakte Untersuchung Not, die tatsächliche Konflikte klar benennt, aber keine neorassistisch-ethnopluralistisch motivierten Scheinkonflikte aufbaut, wie durch weite Teile der AfD. Zwischen Unwissenheit und Böswilligkeit changiert z. B. die pseudowissenschaftlich untermauerte Behauptung einer angeblichen generellen Unvereinbarkeit „des Islam“ oder der äußerst facettenreichen islamischen Normenlehre (Scharia) mit dem deutschen Recht – weswegen sollte man in Deutschland nicht Beten oder Fasten dürfen, was spricht gegen unverzinste Darlehen? Von besonderer Bedeutung ist die adäquate Vorbereitung derer, in deren Händen später die Rechtsanwendung und -fortentwicklung liegt. Im Folgenden sollen einige Bereiche skizziert werden, die für die erforderliche Rechtsakzeptanz von zentraler Bedeutung sind.
II. Bereiche möglicher rechtskultureller Konflikte und Lösungsansätze 1. Regelung von Einheit und Vielfalt im Recht Migration führt nicht notwendig zu rechtskulturellen Konflikten. Dies gilt nicht nur dann, wenn die Einwanderung aus einem Deutschland in den Grundlagen ähnlichen Rechtssystem erfolgt oder Menschen von vornherein die Regeln des geltenden Rechts auch als die ihren verstehen. In wichtigen Grundlagenfragen rechtlich geregelter menschlicher Interaktion spiegeln sich anthropologische Konstanten mit überraschend ähnlichen Lösungen. Beispiele sind der Minderjährigenschutz, der Schutz von Ehe und Familie, die Möglichkeit rechtlich durchsetzungsfähiger vertraglicher Bindung und der sanktionenbewehrte Schutz als essentiell eingestufter Rechtsgüter. Wichtige Teilaspekte sind allerdings kontrovers: Wie weit darf individuelle Gestaltungsfreiheit reichen, wo bedarf es des Schutzes von Schwäche-
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ren vor Übervorteilung, Rechtsverweigerung oder Ausbeutung? Wird Gleichberechtigung der Geschlechter, der Religionen und Weltanschauungen, der sexuellen Orientierungen u. s. w. akzeptiert, oder folgt man einer patriarchalischen, suprematistischen oder sexistischen Weltsicht? Wichtig ist festzuhalten, dass mögliche Gegensätze keineswegs für bestimmte ethnische, religiöse oder andere Bevölkerungsgruppen charakteristisch sind. Der Binnenpluralismus der Meinungen in allen Gruppen ist hoch. Gegenpositionen betreffen häufig bestimmte, weitgehend segregiert lebende bzw. ausgegrenzte, kollektivistisch strukturierte Milieus unterschiedlichster Ethnien und Religionszugehörigkeit. Hier allerdings sind Positionen und Verhaltensweisen, die sich gegen rechtsstaatliche Grundsätze richten, teils deutlich überproportional anzutreffen. Dies zu verschweigen wäre ein Verrat an den Opfern solcher Mechanismen (vulnerable minorities within minorities). International größere Unterschiede zeigen sich im Bereich der Organisation gesellschaftlicher Willensbildung und der Etablierung einer staatlichen Infrastruktur. Insoweit wird allerdings das deutsche Modell, von zahlenmäßig kleinen extremistischen Gruppen abgesehen, auch vor dem Hintergrund bedrückender Erfahrungen in den Herkunftsländern von vielen als erstrebens- und bewahrenswert angesehen. Im Grundrechtsbereich zeigen sich Konfliktpotentiale insbesondere im Hinblick auf Gleichberechtigungsfragen sowie die Meinungs- und Pressefreiheit, nicht zuletzt im Zusammenhang mit Religionskritik. So wird beispielsweise in vielen Teilen der Welt interreligiöser Friede vor allem durch Nicht-Reden über Religion und religiöse Gegensätze gewahrt. Offene Religionskritik ist für viele Zugewanderte unterschiedlicher Religionen ein Kulturschock. Die Gewalttaten im Zusammenhang mit der Veröffentlichung islamkritischer, teils witziger, teils auch dümmlicher und bösartiger Karikaturen haben das Konfliktpotential überdeutlich offengelegt. Hier ist es einerseits unerlässlich, die Meinungs- und Pressefreiheit konsequent zu verteidigen. Ihre Begründung muss aber auch glaubhaft kommuniziert werden. So wird es wichtig, auch die Freiheit und Integrität derer zu verteidigen, die scharf kritisieren, und Grenzüberschreitungen ausschließlich mit den Mitteln des Rechtsstaats zu verfolgen. Andererseits ist davor zu warnen, sich in Verteidigung von Meinungs- und Pressefreiheit die Inhalte auch von geschmacklosen oder bösartigen Karikaturen und die Motivation der Akteure zu eigen zu machen. Ebenso muss die Religionsfreiheit von Minderheiten immer wieder gegen gelegentlich mehrheitsfähige, aber rechtsstaatswidrige Ungleichbehandlung und Beschränkung verteidigt werden. Der Rechtsstaat lebt von glaubwürdiger Erfahrbarkeit im Alltag und bewährt sich nicht zuletzt beim Minderheitenschutz. Ausgangspunkt aller weiteren Überlegungen ist das geltende Recht. Historisch gewachsen und weitgehend fest etabliert ist die institutionelle Ausgestaltung des Austarierens von notwendiger Einheitlichkeit und Garantie der Vielfalt im demokratischen Rechtsstaat. Anders als in vielen Teilen der Welt, die personal strukturierte Rechtsvielfalt kennen (z. B. gegliedert nach Ethnien oder Religionen), gilt in Deutschland grundsätzlich eine Rechtsordnung für alle, die sich im Land aufhalten. Die erforderliche Vielfalt wird durch Sonderbestimmungen (wie die Regeln
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des IPR) und die Möglichkeiten dispositiver Rechtsgestaltung sowie durch soziale Aushandlungsprozesse realisiert. Die zwingenden Bestimmungen des Rechts (Einheitsgaranten) sind hingegen außerhalb gesetzgeberischer Verfahren nicht verhandelbar. Auch sie bedürfen aber einer effizienten Durchsetzung, die in vielen Kontexten Überzeugungsbildung voraussetzt. An der Mauer des Schweigens endet der Rechtsstaat. 2. Einzelne Bereiche Rechtsbeziehungen mit grenzüberschreitender Dimension werden seit langer Zeit durch die Regelungen des IPR berücksichtigt: Das sachnächste Recht soll entscheiden, nicht zwingend das territorial herrschende Sachrecht. Die revolutionäre Grundidee dahinter ist diejenige einer prinzipiellen Gleichwertigkeit aller Rechtsordnungen und die Bereitschaft, in privaten Rechtsbeziehungen das Vertrauen der Beteiligten in die Anwendung des ihnen vertrauten Rechts zu schützen. Die Regeln des IPR öffnen also das eigene Rechtssystem für die Anwendung fremden Rechts. Die Türklinke allerdings behalten sie in der Hand: Sind die Ergebnisse der Anwendung fremden Rechts offensichtlich unvereinbar mit den hier geltenden Lösungen, so kann es zumindest bei spürbarem Inlandsbezug nicht angewandt werden; andernfalls geriete der innere Rechtsfriede in Gefahr (Eingreifen des ordre public international). Erforderlich ist aber die sachkundige Aufklärung des fremden Rechts – oft kein leichtes Unterfangen. Nicht die Normen als solche, sondern ihre Anwendungsergebnisse sind der Prüfungsgegenstand. In der juristischen Ausbildung werden bislang nur wenige Studierende mit diesen sehr praxisrelevanten Themen befasst. Meines Erachtens sollten in allen Veranstaltungen zum Sachrecht zumindest Hinweise darauf erfolgen, dass diese Spezialmaterie existiert. Dass Deutschland und viele Mitgliedstaaten der EU in erheblichem Umfang zu Einwanderungsländern geworden sind, schlägt sich darin nieder, dass rechtspolitisches Umdenken dazu geführt hat, die Anwendung ausländischen Rechts als Ausnahme zu belassen. Die Umsetzung erfolgt insbesondere dadurch, dass die Staatsangehörigkeit als primärer Anknüpfungspunkt für die Rechtsanwendung durch Formen eines gewöhnlichen Aufenthalts (Lebensmittelpunkt) ersetzt werden. Im Zusammenspiel mit den Zuständigkeitsregeln kommt es dann zur vermehrten Anwendung inländischen Sachrechts. Damit verlagern sich jedoch die rechtskulturellen Fragestellungen in den Bereich des dispositiven Rechts. Ist es zulässig, im Ehevertrag einer künftigen Ehefrau die Zahlung einer Geldsumme zu versprechen, und welche Formerfordernisse gelten hierfür? Dürfen Töchter testamentarisch gegenüber Söhnen bei der Nachlassverteilung benachteiligt werden? Können Vertragsgestaltungen und Finanzierungsgeschäfte religiös-normativen Vorstellungen folgen? Die Grenzen dispositiven Rechts werden nicht mehr durch den vergleichsweise zurückhaltenden ordre public international gezogen, sondern durch die strengere Sittenwidrigkeitskontrolle des ordre public interne (insbes. § 138 BGB).
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Könnte es aber erforderlich werden, das „Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“ um eine internationale Perspektive zu erweitern, im Sinne eines weniger strengen ordre public interne bei starkem Auslandsbezug? Ein solcher kann sich z. B. ergeben, wenn Rechtsverhältnisse geschaffen werden, deren Durchsetzbarkeit bei internationaler Lebensführung auch in anderen Staaten gesichert werden soll. Wie ist mit rechtlichen oder stark sozial wirkenden Unterhaltsverpflichtungen in Großfamilienkontexten umzugehen, welche das deutsche Recht angesichts seiner sozioökonomischen Grundlagen weitgehend ignoriert (ökonomischer Ersatz der Großfamilie durch Sozialsicherungsverbünde)? Kann eine den Bürgen krass überfordernde Bürgschaft auch dann sittenwidrig sein, wenn der Bürgschaftsgläubiger dafür die Loyalitäten nicht gegenüber engen Angehörigen, sondern innerhalb eines Großfamilienverbandes ausnutzt? Wie ist die Transparenz allgemeiner Geschäftsbedingungen zu würdigen, die in deutscher Sprache verfasst sind, sich aber typischerweise an ein Klientel richten, das dieser Sprache nur unzureichend mächtig ist? Eine Sensibilisierung für solche Fragen ist nötig, um den Interessen der Beteiligten gerecht zu werden und Vertrauen in die Institutionen des Rechtsstaats zu stärken. Offene Zugänge zu den Institutionen des Rechtsstaats sind auch dann erforderlich, wenn sie nur als ultima ratio dienen. Konfliktbeilegung außerhalb justizieller Verfahren ist weitgehend wünschenswert oder zumindest unbedenklich, solange die dafür gezogenen Rechtsgrenzen eingehalten werden – Freiwilligkeit, Wahrung zwingenden Rechts, Unvoreingenommenheit eingeschalteter Vermittler und Professionalität, die erneute Viktimisierung Schwacher vermeidet. Hier liegen einerseits noch unausgeschöpfte Potentiale: In migrantisch geprägten Milieus genießen Angehörige der eigenen Gruppe oft besonderes Vertrauen bei der Konfliktbearbeitung. Dies berichten nicht zuletzt in der Mediation Tätige ohne solchen Hintergrund. Wir kennen Fälle und Mechanismen hilfreicher Konfliktlösung mit Nutzung spezifischer soziokultureller und religiöser Gegebenheiten und Normen. Spezifische Aus- und Fortbildungsangebote sind jedoch rar oder weitgehend unbekannt. Andererseits wissen wir von zahlreichen Fällen unprofessioneller bis hin zu evident rechtswidriger Konfliktbearbeitung in manchen Milieus („Paralleljustiz“). Hiervon betroffen sind insbesondere die Bereiche von Strafrecht (Straftaten gegen Personen, Vermögensdelikte und andere Straftaten im Zusammenhang mit Organisierter Kriminalität), Familienrecht (Ehe und Ehescheidung sowie Sorgerecht) und vermögensrechtliche Fragen (Vertrags- und Erbrecht, einschließlich Schwarzarbeit und Spielschulden). Die Gründe liegen häufig in mangelnden Zugängen zu den Institutionen des Rechtsstaats (Unkenntnis von Inhalten und Wirkungsweisen, Sprache, Kosten), in von Schamkulturen geprägter Erziehung, welche die Offenlegung von Konflikten als Gesichtsverlust für den gesamten sozialen Verband ansieht, übersteigerten formalen Ehrbegriffen und Ablehnung rechtsstaatlicher Ausgleichsmechanismen als schwach und unzureichend, erlerntem Misstrauen gegen den Staat im Herkunftsland und Diskriminierungserfahrungen und
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-wahrnehmungen, in selteneren Fällen auch in grundlegender Ablehnung und Verachtung des bestehenden rechtsstaatlichen Systems. III. Handlungsfelder Bewussten Brüchen mit dem geltenden Recht und Versuchen, eine normative Gegenordnung zu etablieren, muss der Rechtsstaat mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln entgegentreten. Zugleich ist darauf zu achten, sich nicht von politmedialem Hyperventilieren irritieren zu lassen und faktenorientiert rechtsstaatliche Grundsätze auch dann zu wahren, wenn es emotional schmerzen mag. Nicht minder bedeutsam ist Rechtsstaatsbildung im Sinne einer wirksamen Präventionsstrategie. Sie betrifft die Gesamtgesellschaft, wenn z. B. solide Mehrheiten in Befragungen die Religionsfreiheit für bestimmte Minderheiten rechtswidrig beschränken wollen, oder wenn Minderheiten z. B. auf dem Arbeits- oder Wohnungsmarkt diskriminiert werden. Menschen, die mit dem hiesigen Rechtssystem nicht vertraut sind, benötigen einfach zu erreichende Informationen über Inhalte, Institutionen und die Zugänge zu ihnen. Hierin liegt eine Querschnittsaufgabe für staatliche Stellen in den Bereichen Justiz, Bildung, Soziales und Inneres sowie für eine Fülle von NGOs. Zudem bedarf es im Hinblick auf die Anwendung fremden Rechts bzw. der Würdigung bestimmter rechtskultureller Anliegen im Rahmen des dispositiven Sachrechts solider Informationen über Inhalte und Hintergründe. In vielen europäischen Staaten wird insoweit der Mangel leicht zugänglicher Informationsquellen moniert. Datenbanken und Angebote des e-learning wären hilfreich. Eine wichtige Facette ist die juristische Aus- und Fortbildung: Bislang ist die Beschäftigung mit interkulturellen Rechtsfragen noch marginal. Im Studium spielen rechtssoziologische Fragestellungen nur eine randständige Rolle, wenn überhaupt. Rechtsbereiche wie das Familienrecht, in denen einschlägige Themen besonders bedeutsam sind, stehen in den Ausbildungs- und Prüfungsordnungen meist am Rande und werden eher gekürzt als erweitert. Rechtskommunikation als Materie ist noch exotischer, aber von praktisch eminenter Bedeutung. Beispielsweise ist es oft hilfreich, Verfahrensbeteiligten, die in Schamkulturen sozialisiert sind, in sensibler Weise zu vermitteln, dass als sehr intim empfundene Fragen nicht demütigen oder bloßstellen sollen, sondern gegebenenfalls erforderlich sind, um gerechte Entscheidungen treffen zu können (Appell an gemeinsame Ziele). Ebenso sind bestimmte Verhaltensweisen wie die Vermeidung von Blickkontakt nicht zwingend als Zeichen der Unaufrichtigkeit zu werten, sondern können auch als Zeichen des Respekts vor dem als höherrangig Eingestuften zu deuten sein. Nicht selten bedarf es eines vergleichsweise hohen Zeitaufwandes, wenn Menschen, die in Schamkulturen sozialisiert sind, Konflikte üblicherweise aus einem breiteren Kontext heraus erläutern und die schnelle Aufforderung, „zur
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Sache zu kommen“ oder „nicht bei Adam und Eva anzufangen“, Beteiligte davon abhält, die wesentlichen Fakten beizutragen. Auch mehr Selbstreflexion im Hinblick auf Scheinselbstverständlichkeiten von rechtlicher Relevanz ist angezeigt. Erinnert sei an die Kleinfamilie als Modell für enge Rechtsbeziehungen ohne Rücksicht auf möglicherweise bestehende weitere Loyalitätskontexte. Auch der dem jeweils anderen Geschlecht verweigerte Handschlag bringt nicht zwingend Ablehnung zum Ausdruck, sondern wird in manchen Kommunikationskulturen als Zeichen des Respekts gedeutet oder ist das Produkt bestimmter religiöser Auslegungen, etwa im Islam oder im Judentum. Der möglicherweise bestehende patriarchalische Hintergrund mag Gegenstand offener gesellschaftlicher Debatten sein. Als Akt der Rechtsstaatsförderung durch symbolische Selbstunterwerfung taugt der Handschlag auch außerhalb von Covid-19-Zeiten nicht. In anderen Kontexten sind hingegen feste Grenzziehungen nötig, insbesondere im Strafrecht oder allgemeiner bei zwingendem Recht: Dessen Schutzfunktionen würden durch die Hinnahme von Partikularnormensystemen untergraben. So muss z. B. das Mordmerkmal der „niedrigen Beweggründe“ aus einer gesamtgesellschaftlichen Sicht konkretisiert werden und darf, wie der BGH zu Recht judiziert, nicht aufgrund bestimmter Ehrvorstellungen relativiert werden. Für all dies bestehen Ausbaupotentiale z. B. bei den Schlüsselqualifikationen oder durch Teilintegration in die klassischen Ausbildungsfächer ähnlich dem Europarecht – zu Ausbildungszeiten des Verfassers noch weitgehend ignoriert, heute weitgehend eine Selbstverständlichkeit. Ein erster Schritt wäre schon das bloße Bewusstwerden interkultureller Problemlagen. Fortbildungen finden zunehmend statt, beispielsweise in Richterakademien. Weitgehend fehlt es jedoch noch an anderen bereichsspezifischen Fortbildungen, z. B. für Rechtspfleger, Gerichtsvollzieher, Jugendgerichtshilfe, Verfahrensbeistände, Bewährungshelfer oder im Polizeibereich. Insoweit bietet auch die Digitalisierung neue Möglichkeiten. Nach langjähriger Erfahrung sind Menschen mit Migrationsgeschichte an einschlägigen Fragestellungen oft besonders interessiert. Nun ist einerseits vor Kulturalisierung zu warnen; solche Menschen sind nicht generell prädestiniert und sollten im Sinne echter Teilhabe auch das Recht haben, nicht qua Geburt zum Spezialisten für Interkulturelles (und nur dafür) zu werden. Andererseits mag ein besonderes sprachliches und soziokulturelles Potential vorliegen, das auch berufliche Entwicklungschancen bietet. Brückenbauer aus solchen Milieus sind besonders nötig und willkommen. Bisweilen werden sie auch in der Ausbildung unwillentlich ausgebremst. Wer z. B. erst als älterer Jugendlicher oder Erwachsener eingewandert ist, versteht manche Redewendungen oder Lebenssachverhalte nicht, die zur lebensnahen Illustration in Klausuren verwendet werden. Hilfreich ist es auch, wenn in praktischen Fallbeispielen Personen mit Migrationsgeschichte nicht nur als hilflose Opfer bzw. Straftäter auftauchen, sondern durchaus lebensnah auch als selbstbewusste und lebens- und rechtsversierte Akteure, gerne auch weib-
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lichen Geschlechts. Neben der Vermittlung von inhaltlichen Kenntnissen und Fertigkeiten hätte all dies voraussichtlich auch positive Auswirkungen auf Studierende aus Familien mit Migrationsgeschichte, deren Lebenswelten selbstverständlicher als Teil der deutschen Gesellschaft wahrgenommen würden. Mit alledem würde das Vertrauen in die Akteure des Rechtsstaats und damit auch in ihn selbst gestärkt.1
1 Weiterführende Veröffentlichungen des Verfassers: Mathias Rohe, Der Islam in Deutschland: Eine Bestandsaufnahme, 2. Aufl. München 2018; Das islamische Recht: Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl. München 2011 (Übersetzungen ins Englische [Islamic Law in Past and Present, Leiden 2015] und ins Russische [Moskau 2019]); Paralleljustiz – Eine Studie im Auftrag des Ministeriums der Justiz und für Europa Baden-Württemberg, Stuttgart 2019 (zum Strafrecht); Paralleljustiz – Eine Studie im Auftrag des Ministeriums der Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen (im Erscheinen) (zum Familienrecht).
COVID-19 als Risiko in der Sportveranstaltungsausfallversicherung Von Lena Rudkowski In der vielfältigen wissenschaftlichen Tätigkeit Klaus Viewegs ist Risikoabschätzung und -bewältigung ein besonders präsentes Thema: Klaus Vieweg befasste sich nicht nur mit rechtlichen, sondern auch mit technischen1 und medizinischen Risiken,2 und führte selbstverständlich auch Risikobewertung und Sport zusammen.3 Sport und medizinisches Risiko trafen in außergewöhnlicher Form im Frühjahr 2020 in der COVID-19-Pandemie aufeinander. Die durch das Virus SARS-CoV-2 ausgelöste Lungenerkrankung COVID-19 wurde der Weltgesundheitsorganisation (WHO) erstmals Ende 2019 gemeldet und von ihr am 11. 3. 2020 als Pandemie eingeordnet. Um die Verbreitung des Virus einzudämmen, wurde in der Folgezeit weltweit das öffentliche Leben schrittweise eingeschränkt, in Deutschland ab Mitte März 2020. Betroffen hiervon waren auch Breiten- und Profisport: Kontaktbeschränkungen, Ausgangssperren und ein Verbot von Zusammenkünften in Sporteinrichtungen machten nicht nur Mannschaftssportarten, sondern teilweise sogar die individuelle sportliche Betätigung unzulässig. Die Einschränkungen betrafen auch sportliche Wettbewerbe weltweit. Während die Fußballbundesliga teilweise „Geisterspiele“ ohne Zuschauer durchführte, wurden die Olympischen Spiele in Japan auf das Jahr 2021 verschoben. Auch kam es zu vorzeitigen Saisonabbrüchen, etwa in der Handballbundesliga, und zu Absagen größerer Wettkämpfe, etwa des Tennisturniers in Wimbledon. Die wirtschaftlichen Folgen der Beeinträchtigungen waren erheblich. So wird der Schaden durch die Wimbledon-Absage allein für den Veranstalter auf ca. 250 Mio. Euro, durch die Einschränkungen in den Fußball-Bundesligen auf bis zu 750 Mio. Euro geschätzt.4
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U. a. Vieweg/Regenfus, Sicherheits- und Risikoterminologie im Spannungsfeld von Technik und Recht, in: Winzer/Schnieder/Bach (Hrsg.), Sicherheitsforschung – Chancen und Perspektiven, 2009, S. 131 ff.; Vieweg (Hrsg.), Techniksteuerung und Recht, 2000. 2 Z. B. Vieweg (Hrsg.), Risiko – Recht – Verantwortung, 2006. 3 Vieweg, Unfallrisiken im Sport und Versicherung, in: Bork/Hoeren/Pohlmann (Hrsg.), Recht und Risiko – Festschrift für Helmut Kollhosser zum 70. Geburtstag, Band I Versicherungsrecht, 2004, S. 377 ff. 4 https://versicherungswirtschaft-heute.de/maerkte-und-vertrieb/2020-04-08/versicherer-zah len-114-mio-euro-fuer-wimbledon-absage/ (zuletzt abgerufen am 23. 9. 2020).
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I. Die Sportveranstaltungsausfallversicherung Um die Veranstalter gegen solche Vermögensschäden abzusichern, die aus einem Ausfall der Veranstaltung entstehen, ist es spätestens seit den Olympischen Spielen in München 1972 üblich, Sportveranstaltungen gegen Ausfall zu versichern.5 Bei größeren Veranstaltungen erfolgt die Versicherung in Form einer offenen Mitversicherung, an der aufgrund der Größe des Risikos mehrere Versicherer beteiligt sind.6 Standardisierte Musterbedingungen des GDV, wie sie für andere Versicherungszweige vorliegen, gibt es für die Sportveranstaltungsausfallversicherung nicht. Ob Versicherungsschutz für einen pandemiebedingten Ausfall einer Sportveranstaltung besteht, ist daher stark abhängig nicht nur davon, ob überhaupt ein entsprechender Versicherungsvertrag geschlossen wurde,7 sondern auch von der Gestaltung der Versicherung im Einzelfall. Nach einer in der Praxis verbreiteten Gestaltung deckt die Veranstaltungsausfallversicherung (sog. „Form A“)8 Vermögensschäden des Veranstalters, die dadurch verursacht werden, dass die Veranstaltung durch ein Ereignis beeinträchtigt wird, das „außerhalb des Einflussbereichs des Versicherungsnehmers liegt.“ Die versicherte Beeinträchtigung kann eine Absage sein,9 andere Bedingungen stellen auf Ausfall, Abbruch und/oder „Änderungen in der Durchführung“ der Veranstaltung ab.10 II. Beeinträchtigungen einer Sportveranstaltung durch COVID-19 als Versicherungsfall in der Sportveranstaltungsausfallversicherung Der Versicherungsfall in der Sportveranstaltungsausfallversicherung ist nach den am Markt angebotenen Bedingungswerken mithin regelmäßig zweistufig: Erstens tritt ein Ereignis ein, das dadurch gekennzeichnet ist, dass es „außerhalb des Einflussbereichs des Versicherungsnehmers“ liegt. Zweitens entsteht aus dem Ereignis eine Beeinträchtigung der Veranstaltung, etwa in Form einer Absage durch den Versicherungsnehmer.
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Beckmann, ZIP 2002, 1125. Dazu Schaloske, VersR 2007, 606. 7 Wohl keine Veranstaltungsausfallversicherung bei der DFL, vgl. https://versicherungswirt schaft-heute.de/politik-und-regulierung/2020-03-25/fussballverbaende-fuerchten-hohen-scha den-durch-coronavirus/ (zuletzt abgerufen am 23. 9. 2020). 8 Eine ergänzende Variante („Form B“) greift speziell bei Ausfall einer bestimmten im Versicherungsschein genannten Person (z. B. des wichtigsten Künstlers). 9 So die Beispiele bei Lüttringhaus/Genz, r+s 2020, 258 ff. 10 LG Hamburg 30. 11. 2016 – 314 O 114/15, BeckRS 2016, 131007. 6
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1. Das die Beeinträchtigung auslösende Ereignis Die Veranstaltungsausfallversicherung geht damit von einem weiten Gefahrverständnis aus, auch wenn sie keine Allgefahrendeckung bietet.11 Jedes die Veranstaltung beeinträchtigende Ereignis löst Versicherungsschutz aus, solange es „dem Einfluss des Versicherungsnehmers entzogen“ ist. Dies ist der Fall, wenn das Ereignis überhaupt nicht durch menschlichen Willen beeinflussbar ist oder sein Eintritt auf dem Willen vom Versicherungsnehmer unabhängiger Dritter beruht. Da Pandemien wie COVID-19 vom menschlichen Willen unabhängig auftreten, kommen sie grundsätzlich als den Versicherungsschutz auslösendes Ereignis in Betracht. Gleiches gilt für etwaige gesetzgeberische und behördliche Reaktionen auf das Infektionsgeschehen. Sie sind für den Versicherungsnehmer nicht beeinflussbar. Zwar kann der Versicherungsnehmer gegen behördliche Verfügungen, die seine Veranstaltung beeinträchtigen, gerichtlich vorgehen; dies ändert jedoch nichts daran, dass die Behörde unabhängiger Dritter ist und in ihrem Verhalten nicht vom Versicherungsnehmer gesteuert werden kann – anders als etwa dessen Vertreter oder Repräsentanten. 2. Die Beeinträchtigung der Veranstaltung Das versicherte Kausalereignis muss sich sodann beeinträchtigend auf die Veranstaltung auswirken. In am Markt erhältlichen Bedingungswerken sind etwa Ausfall, Abbruch und/oder „Änderungen in der Durchführung“ versichert. Zu den Änderungen in der Durchführung gehört dabei auch die zeitliche oder örtliche Verlegung der Veranstaltung. Auf die objektive Unmöglichkeit, die Veranstaltung durchzuführen, kommt es dagegen typischerweise nicht an.12 Mitunter stellen Bedingungswerke aber statt auf den Ausfall auf die „Absage“ der Veranstaltung durch den Versicherungsnehmer ab. In jedem Fall wird von den Klauseln ein Kausalzusammenhang zwischen dem Ereignis und der Beeinträchtigung der Veranstaltung verlangt. Der Ausfall muss „durch“ das versicherte Kausalereignis herbeigeführt werden. Das Ausfallenlassen oder die Absage der Veranstaltung sind Reaktion des Versicherungsnehmers auf das Kausalereignis. Diese Reaktion indes steht nach den am Markt erhältlichen Klauseln typischerweise nicht im Belieben oder auch nur im Ermessen des Versicherungsnehmers.13 Schon nach dem Wortlaut der Risikobeschreibung ist ihm regelmäßig kein Ermessen eingeräumt. Der durchschnittliche Versicherungsnehmer, auf dessen Verständnis es für die Auslegung von AVB ankommt,14 er11
LG Hamburg 30. 11. 2016 – 314 O 114/15, BeckRS 2016, 131007 Rn. 64. Beckmann, ZIP 2002, 1125, 1132. 13 Für Ermessen dagegen Beckmann, ZIP 2002, 1125; Lüttringhaus/Genz, r+s 2020, 258, 259. 14 St. Rspr., s. z. B. BGH r+s 2014, 228, 231; r+s 1993, 351, 352. 12
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wartet bei verständiger Würdigung der am Markt üblichen Risikobeschreibungen auch nicht, dass er bei Auftreten eines versicherten Kausalereignisses die Veranstaltung nach seinem Ermessen absagen darf. Die Ausfallversicherung soll den Veranstalter vor Vermögensschäden schützen, die ihm durch eine (für ihn unvermeidbare) Beeinträchtigung der Veranstaltung entstehen. Sie soll ihn dagegen nicht, bei Auftreten störender Ereignisse, in seiner Entscheidung hinsichtlich des „Obs“ der Durchführung gegenüber einem nicht versicherten Veranstalter privilegieren. Versicherungsschutz besteht mithin nur, wenn der Versicherungsnehmer sich zur Absage veranlasst sehen durfte, was der Fall ist, wenn auch ein durchschnittlicher verständiger und nicht versicherter Veranstalter abgesagt hätte. 3. Folgerungen für Beeinträchtigungen im Zusammenhang mit COVID-19 Versteht man die Risikobeschreibung in Anwendung des allgemeinen versicherungsrechtlichen Auslegungsmaßstabs so, wie ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer sie bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und unter Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs verstehen muss,15 genügt es für eine Absage grundsätzlich nicht, wenn lediglich die COVID-19-Erkrankung in räumlicher Nähe zum geplanten Veranstaltungsort auftritt.16 Das bloß allgemeine Auftreten von (auch unbekannten) Erkrankungen veranlasst einen durchschnittlichen Veranstalter nicht zur Absage. Vielmehr wird er in einem Staat mit funktionierender Gesundheitsverwaltung, wie sie in EU-Mitgliedstaaten erwartet werden darf, eine behördliche oder sonst staatliche Reaktion auf die Infektion abwarten. Kommt es bis zum Veranstaltungsbeginn zu keiner staatlichen Reaktion, wird ein durchschnittlicher Veranstalter an der Durchführung der Veranstaltung festhalten. Ergehen staatliche Warnungen zum Infektionsschutz, z. B. durch das RKI, die zwar noch nicht zur Absage verpflichten, diese aber empfehlen, ist die Absage dagegen versichert.17 Gleiches gilt erst recht, wenn dem Versicherungsnehmer durch Gesetz, Rechtsverordnung oder Verwaltungsakt von staatlicher Seite die Durchführung der Veranstaltung untersagt worden ist, und zwar unabhängig von der Rechtmäßigkeit der Anordnung. Der Versicherungsnehmer darf in einem Rechtsstaat einer Verpflichtung durch Hoheitsakt ohne Weiteres folgeleisten, soweit der Rechtsakt nicht derart offensichtlich rechtswidrig ist, dass er als nichtig angesehen werden muss. Will der Versicherer, dass der Versicherungsnehmer gegen die behördliche Verpflichtung mit rechtlichen Mitteln vorgeht, steht es ihm frei, eine entsprechende Obliegenheit in den Versicherungsvertrag aufzunehmen. Ebenfalls versichert ist der Fall einer hoheitlich verfügten Ausgangssperre für die Bevölkerung, durch die zwar die Veranstaltung nicht untersagt wird, durch die es
15
St. Rspr., s. z. B. BGH r+s 2014, 228, 231; r+s 1993, 351, 352. A. A. Lüttringhaus/Genz, r+s 2020, 258, 259. 17 Schreier, VersR 2020, 513, 517. 16
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aber dem (potentiellen) Publikum verboten wird, (für sie) das Haus zu verlassen.18 Die Durchführung der Veranstaltung ist dann aus vom Versicherungsnehmer nicht beeinflussbaren Gründen offensichtlich sinnlos geworden. Ist eine Veranstaltung hingegen zulässig und dem potentiellen Publikum die Teilnahme auch rechtlich möglich – etwa weil Kontaktbeschränkungen zwischenzeitlich aufgehoben worden sind –, kann der Veranstalter dennoch absagen wollen, etwa weil er kein hinreichendes Zuschauerinteresse mehr erwartet oder weil aufgrund vorgeschriebener Hygienemaßnahmen (z. B. zahlenmäßige Zuschauerbeschränkung) die Veranstaltung unwirtschaftlich wird. Das mangelnde Zuschauerinteresse ist im Regelfall zwar keine taugliche Ursache für eine Absage, weil sie regelmäßig dem Versicherungsnehmer – und seiner Veranstaltungskonzeption – zuzuschreiben und damit von ihm beeinflussbar ist. Anderes gilt jedoch, wenn durch behördliche Maßnahmen des Infektionsschutzes auf die Veranstaltung eingewirkt wurde und diese in ihrer Konzeption oder Durchführung daraufhin verändert werden musste. Ein durchschnittlicher verständiger Versicherungsnehmer sieht sich aber auch dann nur zur Absage veranlasst, wenn die Veranstaltung durch die hoheitliche Einwirkung wirtschaftlich sinnlos geworden ist. Auch die mangelnde Wirtschaftlichkeit einer Veranstaltung ist zwar grundsätzlich als eine dem Einfluss des Versicherungsnehmers unterliegende Ursache nicht geeignet, eine Absage zu rechtfertigen. Hat jedoch die wirtschaftliche Sinnlosigkeit ihre Ursache in rechtlich verbindlichen Anordnungen zum Infektionsschutz, etwa in einer aus Hygienegründen reduzierten Zuschauerzahl, ist eine andere Bewertung geboten. Hier wird durch vom Versicherungsnehmer nicht beeinflussbare Dritte auf die Veranstaltung eingewirkt. Folglich ist grundsätzlich Versicherungsschutz gegeben, wenn die mangelnde Wirtschaftlichkeit der Veranstaltung ihre Ursache in der staatlichen Einwirkung hat.19 III. Risikoausschlüsse Der nach der primären Risikobeschreibung grundsätzlich gegebene Versicherungsschutz kann durch einen Risikoausschluss entfallen:20 1. Ausschluss für Pandemien und Epidemien Nimmt der Versicherungsvertrag „Pandemien“ vom Versicherungsschutz aus, besteht kein Versicherungsschutz für (freiwillige oder von staatlicher Seite erzwungene) Absagen im Zusammenhang mit COVID-19. COVID-19 ist schon nach allgemei18
So auch Günther/Piontek, r+s 2020, 242, 245. Zum Risikoausschluss wegen mangelnder Wirtschaftlichkeit s. noch III. 4. 20 Zu weiteren für die Veranstaltungsausfallversicherung typischen, hier aber nicht einschlägigen Risikoausschlüssen Beckmann, ZIP 2002, 1125, 1134. 19
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nem Sprachgebrauch „Pandemie“ und überdies entsprechend von der WHO eingestuft. Da eine Pandemie ihrer Definition nach nichts anderes ist als eine weltweite Epidemie, fällt COVID-19 auch unter Risikoausschlüsse, die lediglich auf Epidemien abstellen. Auch wenn „SARS und seine Fortentwicklungen“ oder „Infektionskrankheiten, die zu Quarantäne führen“,21 vom Versicherungsschutz ausgenommen sind, erkennt ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer bei verständiger Würdigung, dass für Beeinträchtigungen durch COVID-19 kein Versicherungsschutz besteht: Das COVID-19 auslösende Virus ist als SARS-CoV-2 eine Form von SARS. Die Anordnung von Quarantäne bei Patienten mit Verdacht auf COVID-19 ist weltweit üblich. Bedenken gegen die Wirksamkeit eines Pandemie- oder Epidemie-Ausschlusses bestehen nicht, auch dann nicht, wenn der Ausschluss in AVB enthalten ist und er somit einer AGB-Kontrolle (§§ 305 ff. BGB) standhalten muss. Weder ist ein Ausschluss von Epidemien und/oder Pandemien intransparent i. S. d. § 307 I 2 BGB – beide Begriffe haben einen umgangssprachlichen Gehalt, den ein durchschnittlicher verständiger Versicherungsnehmer ohne Weiteres erfassen kann22 –, noch liegt eine Unwirksamkeit wegen unangemessener Benachteiligung des Versicherungsnehmers nach § 307 I 1 BGB vor. Der Ausschluss basiert auf dem berechtigten Interesse des Versicherers, nicht für Kumulrisiken einstehen zu müssen. 2. Ausschluss für Eingriffe von hoher Hand Enthält die Versicherung keinen Pandemie-Ausschluss, dafür aber einen Risikoausschluss für „Entziehung oder sonstige Eingriffe von hoher Hand“, soll der Versicherungsschutz nach einer in der Literatur vertretenen Auffassung entfallen, wenn Ursache für die Beeinträchtigung der Veranstaltung behördliche Anordnungen zum Infektionsschutz sind.23 Nach der Gegenauffassung höhle der Risikoausschluss für „Eingriffe von hoher Hand“ den Versicherungsschutz in der Pandemie aus, was zu seiner Unwirksamkeit gem. § 307 II Nr. 2, I 1 BGB führe.24 Richtigerweise fallen hoheitliche Einwirkungen auf die Veranstaltung mit dem Ziel des Infektionsschutzes aber bereits nicht unter Risikoausschlüsse wegen „Eingriffs von hoher Hand.“ Der Risikoausschluss erscheint am Markt typischerweise im Zusammenhang mit der „Entziehung“, in der feststehenden Formulierung „Entziehung oder sonstige Eingriffe von hoher Hand“. In einigen Bedingungswerken wird diese Aufzählung noch um die Beschlagnahme ergänzt („Beschlagnahme, Entziehung oder sonstige Eingriffe von hoher Hand“). Entziehung und Beschlagnahme sind nach dieser verbreiteten Formulierung Hauptanwendungsfälle des „Eingriffs 21
Beispiel bei Lüttringhaus/Eggen, r+s 2020, 250, 254. Zweifelnd Lüttringhaus/Eggen, r+s 2020, 250, 254. 23 Lüttringhaus/Eggen, r+s 2020, 250, 254. 24 Schreier, VersR 2020, 513, 517 f.
22
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von hoher Hand“, was den durchschnittlichen Versicherungsnehmer zu dem Schluss führt, dass nicht jede staatliche Maßnahme, insbesondere nicht jeder Verwaltungsakt, zugleich einen „Eingriff von hoher Hand“ darstellt. Vielmehr erfasst der Ausschluss nur solche Maßnahmen, die einer Entziehung oder Beschlagnahme ähnlich sind.25 Der Ausschluss kann daher nur einschlägig sein, wenn durch Hoheitsakt auf eine Sache eingewirkt, sie aufgehalten oder zurückgehalten oder die Verfügungsgewalt an ihr dem Berechtigten entzogen wird, etwa im Sinne einer Kontrolle durch den Zoll, einer Beschlagnahme für polizeiliche Ermittlungen oder einer sonstigen staatlichen Blockade des Transports.26 Für die Veranstaltungsausfallversicherung ergibt sich aus der Klausel damit, dass kein Versicherungsschutz besteht, wenn Sachen, die für die Durchführung der Veranstaltung von Bedeutung sind (z. B. Musikanlage), aufgrund hoheitlicher Maßnahmen nicht rechtzeitig am Veranstaltungsort eintreffen und deshalb die Veranstaltung abgesagt werden muss. Ein auf die Konzeption der Veranstaltung einwirkender Verwaltungsakt zum Infektionsschutz ist mangels Vergleichbarkeit mit Beschlagnahme oder Entziehung dagegen kein Eingriff von hoher Hand. Wollte man dies anders sehen und auch infektionsschutzbedingte behördliche Anordnungen als Eingriffe von hoher Hand i. S. d. entsprechenden Ausschlüsse einordnen, stünde eine unangemessene Benachteiligung des Versicherungsnehmers (§ 307 I 1 BGB) im Raum: Die behördliche Einwirkung auf seine Veranstaltung mit dem Ziel des Infektionsschutzes wäre dann von seiner Versicherung nicht gedeckt, obgleich es sich um ein typisches Risiko für den Veranstaltungsausfall handelt. 3. Ausschluss wegen mangelnden Publikumsinteresses Veranstaltungsausfallversicherungen enthalten regelmäßig Ausschlüsse für Absagen wegen mangelnden Zuschauerinteresses. Diese können im Zuge der COVID-19-Pandemie vor allem dann relevant werden, wenn die Durchführung der Veranstaltung rechtlich zulässig ist (etwa, weil die infektionsschutzbedingten Restriktionen zwischenzeitlich aufgehoben worden sind), aus Angst vor der Infektion oder aufgrund der als lästig empfundenen Hygienemaßnahmen beim Publikum aber die Nachfrage nicht wie vom Veranstalter ursprünglich erwartet ausfällt. Ausschlüsse wegen mangelnden Publikumsinteresses sollen aus der Sicht des durchschnittlichen verständigen Versicherungsnehmers verhindern, dass das Wirtschaftlichkeitsrisiko auf den Versicherer verlagert wird. Dass die Veranstaltung von vornherein, etwa wegen eines Konzeptionsfehlers, auf Desinteresse des Publikums stößt, fällt in den Verantwortungsbereich des Versicherungsnehmers. Jedoch greift der Ausschluss seinem Sinn nach nicht, wenn das mangelnde Publikumsinteresse auf infektionsschutzbedingte Einschränkungen durch hoheitliche Verfügung zurückzuführen ist: Hier wurde von hoheitlicher Seite, vom Versicherungsnehmer nicht 25 26
In diesem Sinne auch OLG Hamburg 10. 11. 2016 – 6 U 12/15, BeckRS 2016, 128410. Ehlers, r+s 2002, 133, 138.
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beeinflussbar, auf die Durchführung der Veranstaltung eingewirkt. Sind Anordnungen zum Infektionsschutz ergangen, ist zudem zu vermuten, dass das mangelnde Publikumsinteresse nicht auf mangelnde Konzeption durch den Versicherungsnehmer, sondern gerade auf diese Anordnungen zurückzuführen ist, denn derartige Lästigkeiten mindern, unabhängig von ihrer epidemiologischen Notwendigkeit, für die Zuschauer die Attraktivität einer Teilnahme an der Veranstaltung.27 4. Ausschluss wegen mangelnder Wirtschaftlichkeit Im Regelfall weisen Risikoausschlüsse dem Versicherungsnehmer ausdrücklich auch das Risiko der mangelnden Wirtschaftlichkeit der Veranstaltung zu. Dies ist gerechtfertigt, weil der Versicherungsnehmer die Wirtschaftlichkeit der Veranstaltung über ihre Konzeption, seine Buchführung und Kalkulation maßgeblich beeinflussen kann. Rechnet sich die Veranstaltung aber lediglich aufgrund infektionsschutzbedingter Einschränkungen nicht, etwa aufgrund einer durch behördliche Anordnung reduzierten Zuschauerzahl, greift der Risikoausschluss seinem Sinn nach nicht. Wäre ohne die staatlicherseits verfügten Beeinträchtigungen die ökonomische Bewertung der Veranstaltung zugunsten des Versicherungsnehmers ausgefallen, ist deshalb Deckung gegeben. 5. Ausschluss von Naturkatastrophen Ausschlüsse für Schäden aus Naturkatastrophen sind in der Veranstaltungsausfallversicherung nicht ähnlich verbreitet wie etwa Ausschlüsse speziell für Witterungsrisiken. Sie begegnen aber auch keinen AGB-rechtlichen Bedenken, weil sie durch die Unkalkulierbarkeit der zugrundeliegenden, oft nahezu schicksalhaften Ereignisse gerechtfertigt sind.28 Bei Pandemien wie COVID-19 sind etwaige Ausschlüsse für Naturkatastrophen aber ohnehin nicht einschlägig, denn nach dem Verständnis des durchschnittlichen Versicherungsnehmers handelt es sich beim Auftreten von Pandemien nicht um Naturkatastrophen. Naturkatastrophen werden von einem plötzlichen, punktuellen Naturereignis, von einer Naturgewalt verursacht (z. B. Blitz, Erdbeben, Vulkanausbruch). Viren aber sind schon nach dem allgemeinen Sprachverständnis keine Naturgewalt, sondern eine (gesundheitsschädigende) Erscheinung ähnlich gesundheitsschädigenden Lebewesen wie etwa Bakterien.29
27
Ähnlich Schreier, VersR 2020, 513, 518. Looschelders, VersR 2013, 1069, 1076. 29 Im Ergebnis ebenso Rixecker, in: Schmidt (Hrsg.), COVID-19, 2. Aufl. 2020, § 11 Rn. 10. 28
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IV. Gefahrerhöhung durch COVID-19 Als den Versicherungsschutz in der COVID-19-Pandemie einschränkendes Rechtsinstitut wird die objektive Gefahrerhöhung (i. S. d. § 23 III VVG) diskutiert. Sie bezeichnet eine nach Vertragsschluss eingetretene Änderung der Gefahrumstände, die nicht auf den Willen des Versicherungsnehmers oder eines Dritten zurückgeht. Die objektive Gefahrerhöhung ist dem Versicherer anzuzeigen und zieht ein Recht des Versicherers nach sich, innerhalb eines Monats ab Kenntnis den Versicherungsvertrag zu kündigen (§ 24 II VVG). Daneben bestehen ein Prämienanpassungsrecht des Versicherers und ein Recht zur Vertragsanpassung (§ 25 VVG). Führt die erhöhte Gefahr zum Eintritt des Versicherungsfalls, kann der Versicherer nach Maßgabe des § 26 II VVG ganz oder partiell leistungsfrei sein. Die COVID-19-Pandemie erfüllt jedoch nicht die Anforderungen, die im Einzelnen an eine Gefahrerhöhung zu stellen sind. Die Gefahrerhöhung setzt voraus, dass sich das Risiko des Schadeneintritts oder der Umfang des drohenden Schadens nach Vertragsschluss derart vergrößert, dass der Versicherer den Vertrag nicht oder zumindest nicht mit der vereinbarten Prämie abgeschlossen hätte.30 Sie muss von einer gewissen Dauer und darf nicht nur unerheblich sein (s. § 27 VVG). COVID-19 erhöht das Risiko einer Veranstaltungsabsage jedoch nicht, sondern hat das ohnehin stets bestehende allgemeine Pandemierisiko lediglich stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Die Gefahr einer Pandemie ist latent immer vorhanden, wie ein historischer Rückblick belegt.31 Dieser muss nicht zurückgehen bis hin zur Pest im Mittelalter oder auch nur bis hin zur Spanischen Grippe 1918. Allein seit der Jahrtausendwende sind an Deutschland mit SARS, Vogelgrippe (H5N1) und Schweinegrippe (H1N1) drei Pandemien vorübergegangen. SARS-CoV-2 ist außerdem als Coronavirus kein derart neuer, unberechenbarer Erreger, dass ein insgesamt neues Risiko vorläge. Es handelt sich bei SARSCoV-2 nicht um einen „Quantensprung“32 des Pandemierisikos, sondern um eine Fortentwicklung eines herkömmlichen Virus, wie auch das Influenzavirus mit jeder Saison zu Veränderungen neigt. Gerade Coronaviren wurden überdies von staatlicher Seite lange vor dem Auftreten von COVID-19 als epidemiologisches Risiko auch für Deutschland eingeordnet.33 Dass Pandemien Einfluss auch auf Sportveranstaltungen nehmen können, ist ebenfalls keineswegs neu. In der Vergangenheit wurde mehrfach auch für größere Sportveranstaltungen eine Absage aus Gründen des
30
BGH NJW-RR 2012, 1385, 1386; r+s 2010, 331. Lüttringhaus/Genz, r+s 2020, 258, 261. 32 Für eine Gefahrerhöhung bei einem „Quantensprung“ von Tierseuchen (BSE) Langheid, NVersZ 2002, 433, 435. 33 BMBF (Hrsg.), Aus der Forschung, 53/2011, https://www.gesundheitsforschung-bmbf. de/de/gefahrliche-eindringlinge-droht-nach-der-schweine-und-vogelgrippe-in-zukunft-eine3200.php (zuletzt abgerufen 23. 9. 2020). 31
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Infektionsschutzes diskutiert.34 Die WM der Damen im Fußball wurde im Jahr 2003 wegen SARS von China in die USA verlegt.35 Dass Versicherer sich des Pandemierisikos auch durchaus bewusst sind, zeigen entsprechende Risikoausschlüsse in am Markt vertretenen Bedingungswerken. V. Fazit Veranstaltungsausfallversicherungen können die erheblichen wirtschaftlichen Folgen der COVID-19-Pandemie für Sportveranstalter mildern. Während die in der Praxis häufig anzutreffenden Pandemieausschlüsse zum Entfallen des Versicherungsschutzes bei COVID-19-bedingten Beeinträchtigungen der Veranstaltung führen, ist der Risikoausschluss für „Eingriffe von hoher Hand“ bei Beeinträchtigungen durch staatliche Maßnahmen des Infektionsschutzes regelmäßig nicht einschlägig. Eine Gefahrerhöhung für die Sportveranstaltungsausfallversicherung liegt im Auftreten von COVID-19 nicht. Soweit kein Pandemieausschluss besteht, ist mithin regelmäßig auch für COVID-19-bedingte Beeinträchtigungen von Sportveranstaltungen Versicherungsschutz in der Sportveranstaltungsausfallversicherung gegeben.
34 35
Etwa für die Fußball-WM 2006 (wegen H5N1) Jedlitschka, GRUR 2014, 842, 845. Dazu Jedlitschka, GRUR 2014, 842, 845.
Liebe ohne Kabale Ein Adelskonkubinat im 19. Jahrhundert Stefan Chr. Saar I. Die Quelle (344) „Untersuchungsprozeß gegen Karl Maria Grafen von E -, auf W-. und Adelaide F-, aus B-. wegen Concubinat. (345) G e s c h i c h t s e r z ä h l u n g . Der Herr Graf Karl Maria von E-. kaufte im Jahre 1834 das Gut W-. im Herzogthume N-. und brachte bei seinem Einzuge eine junge Weibsperson in das Schloß in W-., welche er für seine Gattin ausgab. Im Jahre 1835 wurde sie von einem Kinde weiblichen Geschlechts entbunden, welches aber einige Tage nach der Geburt von einer bürgerlich gekleideten Frau, welche in einer Chaise ankam, abgeholt wurde. Im Jahre 1836 wurde die angebliche Gräfin zum zweiten Male Mutter, sie gebar einen Knaben, welchen jene Frau abermals abholte, und dies geschah auch im Jahre 1837, wo die angebliche Gräfin einen zweiten Knaben zur Welt brachte. Um diese Zeit war der Graf abwesend, und die angebliche Gräfin lag in der Folge ihrer Entbindung krank danieder; man fürchtete im Schloß um ihr Leben, weshalb der Ortsgeistliche, ein ehrwürdiger Greis, es für seine Pflicht erachtete, die Kranke zu besuchen. Er fand sie in Thränen! Nachdem er seinen Besuch mit der Theilnahme die er ihr widmete, entschuldigt hatte, richtete sie sich im Bette auf, sagte, sie sei dankbar dafür, da er ihren Wünschen zuvorgekommen sei; sie fürchtete zu sterben und bedürfte Rath und Trost; sie habe ein belastetes Gewissen! Ich bin – fuhr sie fort – die einzige Tochter des Malers Konstantin F-. in B-., 24 Jahre alt, Protestantin und habe den Grafen E-., welcher ebenfalls der protestantischen Kirche zugethan und 34 Jahre ist, im Frühjahr 1834 bei meinen Eltern, denen er ein Gemälde abkaufte, kennen gelernt. Ich gefiel ihm, er be= (346) suchte die Eltern öfters und war so zuvorkommend gegen mich, daß ich ihn bald lieb gewann. Er gestand zwar seine Neigung, ja seine heiße Liebe, erklärte aber auch gegen mich und meine Eltern, daß seine Familienverhältnisse ihm nicht verstatteten, eine Ehe mit einer Bürgerlichen einzugegen; er verliere in Folge der vorhandenen Familienverträge seine Güter, wenn er eine solche Ehe schließe; sollte ich aber eine Gewissensehe mit ihm eingehen wollen, so sei er bereit, einen förmlichen Vertrag mit mir und meinem Vater in der Art abzuschließen, daß er mich lebenslang wie seine Gattin behandeln, nie heirathen und
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mir für den Fall seines Todes ein Capital von 8000 Rthlr. Conv.=Mze. sichern, auch für jedes Kind, daß wir in dieser Gewissensehe erzielen würden, 6000 Rthlr. Conv.=Mze. auf dessen Namen in die N-ische Sparcasse einlegen werde. Die Zinsen davon sollten zur Erziehung der Kinder, welche m e i n e n Namen führen müßten, und über welche mein Vater die Vormundschaft übernehmen werde, verwendet und ihnen das Capital überlassen werden, wenn sie volljährig seien, oder sich verheiratheteten. Diese Kinder müßten aber gleich nach der Geburt von meinen Eltern abgeholt und alles geheim gehalten werden. Auf Zureden meines Vaters ist dieser Vertrag zwischen mir und dem Grafen auch wirklich abgeschlossen worden, ich bin mit dem Grafen hierher gegangen, ich habe 3 Kinder mit ihm gezeugt, eine Tochter, Agnes, und 2 Söhne, Adolf und Ludwig, welche meine Mutter hier abgeholt und zur Erziehung übernommen hat. Der Graf hat den Vertrag pünktlich erfüllt, mich aber, nachdem ich dieses Verhältnis als ein sündiges erkannt hatte, nicht zu beruhigen vermocht. Jetzt, wo ich sehr krank bin und vor einen strengen Richter werde treten müssen, sehne ich mich nach Rath und Trost, den Sie mir nicht versagen mögen! Sie sank in Folge der Anstrengung, die ihr diese Erzählung gekostet hatte, wieder in das Bett zurück. Der Geistliche suchte sie zuvörderst dadurch zu trösten, daß er anführte: er halte sich überzeugt, daß der Graf ihr Gewissen durch Eingehung einer förmlichen (347) Ehe mit ihr und durch Anerkennung ihre Kinder als seine legitimen Kinder gern beruhigen werde, sobald er von ihrem leidenden Zustande Nachricht erhalte. Zudem werde ihr Gott um so gewisser verzeihen, da sie von ihrem Vater zur Eingehung eines vom Gesetz allerdings nicht gebilligten Verhältnisses beredet worden sei, worüber sie jetzt so tiefe Reue empfinde. Er hoffe übrigens, daß Gott recht bald ihr wieder Gesundheit schenken, und daß sie als rechtmäßige Gattin des Grafen und als Mutter lieber Kinder noch recht frohe Tage verleben werde. Er selbst wolle – wenn sie es verstatte – mit dem Grafen sprechen, bis dahin aber werde sie niemand weiter ihr Verhältnis entdecken. Noch manches Wort des Trostes sprach der ehrwürdige Greis, und die Kranke fühlte sich erleichtert, als der Geistliche sich entfernte. Am 9. September 1837 kam der Graf von seiner Reise zurück und fand Adelaide noch immer bettlägerig. Sie war noch sehr leidend und gestand dem Grafen, daß sie vielleicht früher genesen wäre, wenn sie sich nicht gescheut hätte, den Arzt rufen zu lassen. Sie habe gefürchtet, der Graf möge ihr zürnen, wenn sie sich in seiner Abwesenheit eines Arztes bediene. Der Graf, tief gerührt durch das Geständnis, in welchem er die zarte Rücksicht erkannte, welches Adelaide F-. selbst bei einer ihr Leben bedrohenden Krankheit auf seine bei den unschuldigsten Veranlassungen zuweilen geäußerte Eifersucht genommen hatte, faßte jetzt den Entschluß, sich mit einem Wesen, das ihm mit so großer Liebe zugethan sei, in formlicher Ehe zu verbinden. Er gab Adelaiden seinen Entschluß zu erkennen und traf sogleich die nöthigen Vorkehrungen. Er verglich sich am 12. October 1837 mit seinem Bruder Franz Graf von E-. dahin, daß dieser auf seine Rechte an den Gütern W-. und U-, der Graf Karl Maria von E-. aber auf die Rechte, welche ihm auf die Güter S-bach und M-berg zustanden, zu Gunsten des Erstern zu verzichten. Dieser Vergleich wurde (348) von der betreffenden Lehnsbehörde confirmirt und nunmehr die Übereinkunft getroffen, daß der Graf Karl Maria von E-. und Adelaide F-. in der Kirche des Guts S-bach, wo die F-. ganz unbekannt war, sich trauen zu lassen. Doch ehe diese Übereinkunft verwirklicht werden konnte, ereignete sich ein Fall, welcher zu der vorliegenden Untersuchung Veranlassung gab.
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Der alte Ortsgeistliche starb, und bei der gerichtlichen Consignation seines Nachlasses fand sich am 21. October 1837 der Entwurf eines Schreibens an den Grafen Karl Maria von E-., in welchem das zwischen diesem und Adelaide F-. bestehende Verhältnis, als gegen das Gesetz und die Moral verstoßend, ausführlich dargestellt, und dem Grafen die Verpflichtung, mit Adelaide sich e h e l i c h zu verbinden, und die mit ihr gezeugten Kinder als die seinigen öffentlich anzuerkennen, auf das dringenste an das Herz gelegt wurde. Das Gericht übersendete am 24. desselben Monats dieses Schreiben an die Landesregierung von M-., welche sogleich eine Commission zu Untersuchung der Sache ernannte, und diese – bestehend aus dem Regierungsrathe von M-. und dem Regierungssecretär K-. kam am 30. October nach W-., wo dann theils durch die mittels Requisitionen der Behörde in B-. stattgehabte Vernehmung des Malers F-. und dessen Ehefrau, theils durch den zwischen dem Grafen und Adelaide vollzogenen Vertrag, theils endlich durch die Einsicht der producierten Sparcassen=Bescheinigungen und des zwischen dem Grafen Karl Maria und Franz von E-. getroffenen Vergleiches, dasjenige ermittelt wurde, was oben vorgetragen worden ist. Der Graf sowohl, als Adelaide F-. erklärten gerichtlich, daß sie zur Eingehung einer förmlichen Ehe um so fester entschlossen seien, da das bisherige Hindernis beseitigt sei und das Regierungscollegium verfaßte am 27. November folgendes (349)
Erkenntniß: Daß Herr Karl Maria Graf von E-. auf W-. und Adelaide F-. aus B-. wegen des sich schuldig gemachten Concubinats mit Rücksicht auf ihre gerichtlich niedergelegte Erklärung, sich kirchlich trauen zu lassen, und zwar Ersterer mit funfzig Reichthalern, Adelaide F-. aber mit fünf Reichsthalern zu bestrafen und diese Strafen in den Landes=Armenfond abzugeben auch beide Peccanten die erwachsenen Kosten unter solidarischer Hafpflicht zu bezahlen schuldig seien. In den Entscheidungsgründen heißt es unter andern: Die Ehe, an sich betrachtet, ist die zwischen zwei Personen verschiedenen Geschlechts eingegangene Gesellschaft zur ausschließlichen, naturgemäßen Befriedigung der Geschlechtslust in der Absicht, Kinder zu erzeugen. Nach hiesigen Gesetzen, namentlich nach dem Ehemandate vom Jahre 1761 soll die Ehe bei Protestanten dann gültig sein, wenn die Brautleute im Beisein zweier Zeugen, bezüglich der Eltern oder Vormünder derselben, sich verlobt haben, drei Mal sowohl vom Pfarrer des Bräutigams, als der Braut, in der Kirche öffentlich aufgeboten und von dem Pfarrer der Braut, oder des Bräutigams, im Beisein zweier Zeugen getraut worden sind. Eine o h n e d i e s e gesetzliche Förmlichkeit eingegangene Beischlafsgemeinschaft ist Concubinat und soll nach dem angeführten Ehemandat als Stuprum getraft werden. Diese Strafe ist, wenn die Peccanten sich zu Eingehung einer förmlichen Ehe entschlossen, nach eben diesem Mandate G e l d s t r a f e , welche nach dem Vermögen der Peccanten bemessen werden soll, jedoch die Höhe von 50 Reichsthalern nicht übersteigen soll; Gefängnisstrafe, von 4 bis 8 Wochen, wenn eine förmliche Ehe nicht stattfindet. Diesem nach mußte, wie geschehen, erkannt werden. Die Verurtheilung der Peccanten in die Kosten bedarf keiner Rechtfertigung. (350) Dieses Erkenntnis wurde am 6. December 1837 den Peccanten publicirt, die erkannte Strafe sogleich erlegt, die Ehe zwischen dem Grafen und Adelaide F-. im Februar 1838 kirchlich vollzogen und die im Concubinat erzeugten Kinder später per subseq. matrim. für legitime anerkannt.“
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Geschichtserzählung und Erkenntnis sind einer 1840 erschienenen Sammlung „Merkwürdige(r) Criminal=Rechts-Fälle“ entnommen. 1 Über den Herausgeber Dr. Friedrich Wilhelm Bischoff, großherzoglich-sächsischer Justizrat und Richter am Kriminalgericht, ist wenig bekannt,2 hervorgetreten ist er durch Beiträge zur Kriminalgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts.3 Die Criminal=Rechts-Fälle stellen ihn in die Tradition des „Pitaval“4 und Anselm von Feuerbachs „Actenmäßiger Darstellung merkwürdiger Verbrechen“.5 Mit dem Ziel, „alle Verbrechen“ zu erfassen, „welche das Deutsche gemeine Recht kennt“,6 schöpfte Bischoff aus einem Vorrat von Aktenstücken, ohne aber Feuerbachs darstellerisches Niveau und kriminalpsychologische Reflexionstiefe zu erreichen. II. Personen und Ort Das Geschehen um den Grafen Karl-Maria von E. und die Adelaide F. beginnt im Frühjahr 1834 in Adelaides bürgerlichem Elternhaus mit einer ersten Begegnung, die alsbald in ein nichteheliches Zusammenleben und die Geburt der Kinder Agnes, Adolf und Ludwig mündet. Bischoffs Bericht endet im Herbst 1837 mit einem Untersuchungsprozess wegen stuprum, gefolgt von einer kirchlichen Eheschließung im Frühjahr 1838. Hinweise, die es erlauben würden, die Akteure zweifelsfrei zu identifizieren, fehlen, denn nur „… einige von den Behörden, denen ich die Mittheilung der benutzten Acten verdanke“, hatten Bischoff gestattet, „… die wahren Namen der betreffenden Personen zu nennen“; war eine Erlaubnis „nicht ausdrücklich erteilt, habe ich die Inculpaten und die Untersuchungsbehörden mit beliebigen Namen be1 Merkwürdige Criminal=Rechts=Fälle für Richter, Gerichtsärzte, Vertheidiger und Psychologen, herausgegeben von Dr. Bischoff …, Bd. IV, Hannover 1840, S. 344 ff. 2 Das Staats-Handbuch des Grossherzogtums Sachsen Weimar-Eisenach für das Jahr 1835, S. 70, weist ihn als Richter am Kriminalgericht zu Eisenach sowie als Ritter 1. Klasse des Großherzoglich Hessischen Ludwigsordens aus. Dem dritten Band der Criminal-Rechts-Fälle (1837) ist zu entnehmen, dass Bischoff sein Staatsamt aus gesundheitlicher Ursache aufgegeben und sich auf eine „Besitzung im Ausland“ zurückgezogen hat. 3 Neben Beiträgen zur den Annalen der Deutschen und ausländischen Criminal-RechtsPflege und zur Zeitschrift für die Criminal-Rechts-Pflege in den Preußischen Staaten: Die Kocheme Waldiwerei in Reussischen Martine, oder die Gauner und Gaunerarten in Reussischen Vogtlande und Umgegegend …, Neustadt an der Orla 1822; Deutsch-Zigeunerisches Wörterbuch, Ilmenau 1827; Ergebnisse einer, von dem Großherzoglich Sächsischen Criminalgerichte in Eisenach durchgeführten Untersuchung, hinsichtlich des Gaunerwesens in den Amtbezirken Eisenach …, Eisenach 1830; Anna von Nothhorst und die Raubmörder im Böhmerwalde … Eisenach 1833. 4 Fallsammlungen gab es namentlich im Frankreich zuhauf, stilprägend wurden die auf ein breites Publikum zielenden Causes célèbres et interessantes des Anwalts am Pariser Parlament François Gayot de Pitaval, die 1792 auf Friedrich Schillers Anregung auszugsweise in deutscher Übersetzung eschienen. 5 Von Feuerbach, Actenmäßige Darstellung merkwürdiger Verbrechen, 3 Bde. Gießen 1808 – 11. 6 Bischoff (Fn. 1), Vorwort zu Bd. I, S. IV.
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zeichnet, oder doch deren Wohnorte sc. verschwiegen“.7 Diskretion war gerade in dem hier angesprochenen Fall geboten. Als der Vierte Band der Criminal = Rechts-Fälle im Jahr 1840 erschien, waren der Graf 37 und Adelaide 27 Jahre alt. Nähere Hinweise mag Bischoff umso bereitwilliger ausgespart haben, als das noch junge Paar und seine Kinder vor einer Bloßstellung zu schützen waren; auch der Respekt vor dem adligen Stand kann eine Rolle gespielt haben. Den Identitäten auf den Grund zu gehen, wäre nicht ohne Reiz; davon soll hier abgesehen werden, weil die Anonymität einer Annäherung an den rechtshistorischen Kern der Quelle nicht im Wege steht. Nicht sicher aufzuklären ist auch der Ort des Geschehens. Dafür, dass der Fall im Herzogtum Nassau8 spielt, könnten zwei Hinweise sprechen: 1834 erwarb KarlMaria das „Gut W-. im Herzogthume N-.“, wo er fortan mit Adelaide zusammenlebte; in demselben Jahr verpflichtete sich der Graf, die Versorgung Adelaides und der Kinder durch Einlagen in nennenswerter Höhe bei der „N-ische(n) Sparcasse“ sicherzustellen – womöglich spielt Bischoff auf die „Herzoglich Nassauische Landes-Credit-Casse“ an.9 Beim Wort darf er aber auch in diesem Zusammenhang nicht genommen werden.10 III. Annäherung In der Quelle überdecken sich miteinander verschränkte Aspekte mit familienrechtlichem Einschlag: Missheirat, Gewissensehe und Konkubinat, Legitimation des Konkubinats und der nichtehelichen Nachkommen. Ein Seitenstück dazu ist der Vergleich des Karl-Marias mit seinem Bruder Graf Franz von E. 1. Missheirat und Gewissensehe a) Bischoff schildert die Beziehung Karl-Marias zu Adelaide als Liebesverhältnis, an der grundsätzlichen Bereitschaft, eine Ehe einzugehen, scheint es nicht gefehlt zu haben. Eigentliche Ursache dafür, dass beide ehelos zusammenlebten, war das Standesgefälle zwischen dem Grafen und der bürgerlichen Adelaide. Standesungleich-
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Bischoff (Fn. 1), Vorwort zu Bd. I, S. V. Das Herzogtum, das 1806 mit dem Beitritt Nassau-Weilburgs und Nassau-Usingens zum Rheinbund entstanden war, hatte sich 1814 eine moderne Verfassung gegeben. Im preußischösterreichischem Krieg stand Nassau auf der falschen Seite und wurde 1860 von Preußen annektiert. Näher Köbler, Historisches Lexikon der deutschen Länder, 2007, S. 448 – 451; Schüler, Das Herzogtum Nassau 1806 – 1866, 2006. 9 Zu den Sparkassengründungen und zur Landeskreditkasse Jachmich, Die Geschichte des Hessischen Sparkassen- und Giroverbandes, 1995, S. 8 ff. 10 Ohne Begründung weist Bopp das Urteil einem sächsischen Gericht zu: Art. Concubinat, in: Karl von Rotteck und Karl Welcker, Das Staatslexikon. Encyclopädie der sämmtlichen Staatswissenschaften für alle Stände, 3. Bd., 3. Aufl. Leipzig 1859, S. 754. 8
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heit ist eines der ältesten und beständigsten Ehehemmnisse.11 Für die Ehe zwischen Hoch- und Niederadel oder zwischen einem adligen und einem nichtadeligen (namentlich bürgerlichen) Partner wurde seit dem 18. Jahrhundert die Bezeichnug „Mißheirat“ gebräuchlich.Weil der ungleiche Stand kein trennendes Hindernis begründete, konnte die Gültigkeit einer eigenmächtig, aber formgerecht geschlossenen Ehe gerichtlich erstritten werden.12 Unberührt davon war aber die Befugnis adliger Familien, die Folgen einer Mesalliance durch Testament, Hausvertrag oder Erbverbrüderung festzulegen.13 Dazu fügt sich Karl-Marias Bemerkung, „… daß seine Familienverhältnisse ihm nicht verstatteten, eine Ehe mit einer Bürgerlichen einzugehen; er verliere in Folge der vorhandenen Familienverträge“ (über deren genauen Inhalt ist bei Bischoff leider nichts zu erfahren) „seine Güter, wenn er eine solche Ehe schließe.“ An dieser Stelle treffen Missheirat und Gewissensehe aufeinander: Um die ihm hausrechtlich bei einer standesungleichen Heirat drohenden Verluste abzuwenden, schlägt der Graf eine „Gewissensehe“ vor, auf die Adelaide sich auf Zureden ihres Vater (und Geschlechtsvormunds) einlässt. Dabei bedient er sich einer Diktion, die im Anschluss an das Reformkonzil von Trient (1545/63) seit dem frühen 17. Jahrhundert nachgewiesen ist.14 Das Wort „Gewissensehe“ (matrimonium conscientiae) steht dabei zum einen für die wegen eines Dispens ohne kirchlichen Trauakt wirksam geschlossene Fürstenehe.15 Jenseits dieser Konstellation ist die Gewissensehe wegen des Fehlens einer förmlichen Eheschließung dem Konkubinat zugeschlagen.16 Von 11 Zum Folgenden Kipp/Wolff, Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts, 4. Bd.: Das Familienrecht, 7. Bearb. 1931, § 8 VI 2; Sikora, Art. „Missheirat“, in: Albrecht Cordes u. a. (Hrsg.), Handwörterbuch zu deutschen Rechtsgeschichte (HRG), Bd. III, 2. Aufl. 2016, Sp. 1558 – 1562; Wienfort, Verliebt – Verlobt – Verheiratet. Eine Geschichte der Ehe seit der Romantik, 2014, 45 f. Aus der älteren Literatur Dieck, Die Gewissensehe, Legitimation durch nachfolgende Ehe und Missheirath …, Halle 1838. 12 Das dürfte dazu beigetragen haben, dass die Morganatische Ehe (zur linken Hand) seit dem 16. Jahrhundert in Deutschland gebräuchlich wurde, dazu Sikora, HRG III (Fn. 11), Sp. 1559. Diese im wesentlichen dem Hochadel vorbehaltene Eheform hatte Karl-Maria offenbar nicht im Sinn, ebenso wenig ein Mätressenverhältnis – zu ihm Saar, in: Schmoeckel/ Rückert/Zimmermann (Hrsg.), Historisch-kritischer Kommentar zum BGB (HKK), Band IV – Familienrecht, 2018, Rn. 65. 13 Eingehend Dieck (Fn. 11), S. 224 ff.; Sikora (Fn. 11), Sp. 1561. 14 Jacob Grimm/Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, 6. Bd., 1911, 6312. Zu den tridentinischen Reformen Friedberg, Das Recht der Eheschließung in seiner geschichtlichen Entwicklung, Leipzig 1865, S. 101 ff.; Conrad, in: Georg Schreiber (Hrsg.), Das Weltkonzil von Trient, Bd. 1, 1951, S. 297 (306 ff.); Becker, in: Landwehr (Hrsg.), Die nichteheliche Lebensgemeinschaft, 1978, S. 13 (27 f.); Schwab, Eheschließungsrecht und nichteheliche Lebensgemeinschaft – eine rechtshistorische Skizze, FamRZ 1981, 1151 (1153 f.); Schott, in: Eser (Hrsg.), Die nichteheliche Lebensgemeinschaft, 1985, S. 23. 15 Friedberg (Fn. 14), S. 271 f. 16 Zur Geschichte des Konkubinats in Antike und Mittelalter statt vieler Sealey, On Lawful Concubinage in Athens, ClAnt 3 (1984), S. 111 ff.; Treggiari, Concubinae, PBSR 49 (1981), S. 59 ff.; Friedl, Der Konkubinat im kaiserzeitlichen Rom, 1996; Esmyol, Geliebte oder Ehefrau? Konkubinen im frühen Mittelalter, 2002; Brundage, Concubinage and Marriage in
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der (ebenfalls klandestinen) „Winkelehe“ ist die Gewissensehe aber zu unterscheiden, weil in diesem Begriff die Betonung von der regelwidrigen Heimlichkeit auf eine vom Gewissen herrührende, ehegleiche Pflichtenbindung der Gefährten verlagert ist. Das fügt sich zum hier angesprochenen Geschehen: Indem er sich privatvertraglich auf eine lebenslange und monogame Beziehung festlegte und die Versorgung Adelaides und der gemeinsamen Kinder zu gewährleisten versprach, nahm Graf Karl-Maria die Pflichten eines Ehemannes auf sich. b) Die „Gewissensehe“ verschwand aus dem Wortschatz,17 blieb aber im 20. Jahrhundert als Konzept in den Debatten um die „Freiehe“ lebendig.18 Liberal gesonnene Ziviljuristen wiesen darauf hin, dass die freie, „in Ehren und Zucht“ gelebte Liebesbeziehung durchaus respektabel sei (Kohler), es „sogar als unsittlich gelten“ könne, wenn ein Mann seiner Gefährtin nichts hinterlasse (Cossak).19 Die Vorstellung, dass der Staat den Konkubinat „ohne Schaden unbeachtet“ lassen dürfe,20 setzte sich unter der Geltung des Grundgesetzes fort,21 indem eine rechtliche Aufwertung des Konkubinats mit einer Abwertung der Ehe in eins gesetzt wurde. Seit den 1960er Jahren nahm jedoch die Akzeptanz zu und verlor nichteheliches Zusammenleben den Makel der Sittenwidrigkeit. Die Wahl zwischen Ehe und Ehelosigkeit wurde zu einer privaten Angelegenheit, die eheähnliche Beziehung zum alternativen Lebens-
Medieval Canon Law, JMH 1 (1975), S. 1 ff.; Heinig, in: C. Nolte u. a. (Hrsg.), Princeps, Dynastien und Höfe im späten Mittelalter, 2002, S. 277 ff.; Schumann, Die nichteheliche Familie, 1998; Holzhauer, in: Mansel (Hrsg.), Festschrift für Erik Jayme, Bd. II, 2004, S. 1447 ff.; Angenendt, Ehe, Liebe und Sexualität im Christentum. Von den Anfängen bis heute, 2015; Saar (Fn. 12), Rn. 34 ff. 17 Für eine Rückkehr zur formfreien Konsensehe noch Ramm, Familienrecht Bd. I – Recht der Ehe, 1985, § 67 I 3. Mitunter begegnet die „Gewissensehe“ als Synonym für die „freie Ehe“, das Wort „Konkubinat“ wird (entgegen dem Wortsinn) als „abwertend“ empfunden: Schenk, Freie Liebe, wilde Ehe. Über die allmähliche Auflösung der Ehe durch die Liebe, 1995, S. 26. 18 Weber, Ehefrau und Mutter in der Rechtsentwicklung, 2. Aufl. 1909, S. 514 ff.; Stöcker, Ehe und Konkubinat, Die Neue Generation 8 (1912), S. 127; Ehinger, Die Freiehe in Deutschland, Die Neue Generation 10 (1914), 73 ff. Dazu auch Linse, in: Scheuer/Grisko (Hrsg.), Liebe, Lust und Leid. Zur Gefühlskultur um 1900, 1999, S. 97 ff.; Schenk (Fn. 17), S. 158 ff.; Schlaffer, Die intellektuelle Ehe. Der Plan vom Leben als Paar, 2011, S. 25 ff., 170 ff. pass. 19 Kohler, Papinian über Liebe und Ehe, AcP 111 (1914), S. 309 (321;); Cossak, Lehrbuch des Deutschen Bürgerlichen Rechts, Bd. I, 6. Aufl. 1913, § 62a II c, B II 1 c. Aus der (uneinheitlichen) Rechtsprechung nach 1900 etwa RG, DRiZ 19 (1912), 224, KG, OLGE 22, 138. Zur Debatte Carl, Das Recht der „freien Ehe“, 1920, S. 11 ff.; Russ, Das Liebesverhältnis im bürgerlichen Recht, 1930. 20 Mittermaier, Handbuch der Sexualwissenschaft, 2. Aufl. 1926, S. 383 f.; Weber, Frau und Mutter (Fn. 18), S. 536 ff. Zur Haltung des Nationalsozialismus zum Konkubinat und zu den Verhältnissen in der ehemaligen DDR näher Saar (Fn. 12), Rn. 86, 93. 21 Dölle, Familienrecht, Bd. I 1964, § 3 III 1: „Vielmehr wird sich der Gesetzgeber bemühen müssen, die Voraussetzungen für die Entstehung solcher … Verbindungen möglichst zu beseitigen“.
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zuschnitt.22 Die an sich selbstverständliche Einsicht, dass eine Entscheidung gegen die Ehe nicht mit Bindungsunwilligkeit gleichzusetzen ist und eheähnliches Zusammenleben wechselseitige Verantwortung mit sich bringt, prägt die Debatte um eine sachgemäße zivilrechtliche Erfassung bis in die Gegenwart.23 2. Konkubinat a) Indem das frühneuzeitliche Eherecht der Protestanten die kirchliche Trauung zum konstitutiven Formalakt ausbaute,24 trennte es die Ehe randscharf vom „concubinischen Beysitz“, der bestenfalls als Alternative zur grundsätzlich unerwünschten Wiederheirat nach Scheidung in Betracht gezogen wurde.25 Davon abgesehen waren Konkubinarier vor die Entscheidung gestellt, „ehelich zu werden“ oder ihr unkeusches Zusammenleben zu beenden; hartnäckigen Eheverweigerern drohte die Landesverweisung.26 Die Pönalisierung wurde in den Polizeyordnungen des Reiches und der Territorien sowie im Strafrecht der Städte fortgeschrieben. Die Constitutio Criminalis Carolina von 1532 erwähnte den Konkubinat nicht ausdrücklich – aber kaum ein Vertreter des gemeinen Strafrechts zweifelte daran, dass diese Lebensweise wegen ihrer vermeintlich nachteiligen Folgen für Staat und bürgerliche Gesellschaft27 arbiträr zu ahnden sei. Die der Konkubine und ihren Kindern verhältnismäßig günstigen Regeln des römischen Rechts wurden in Gesetzgebung und Judikatur mitunter übernommen. Der daraus entstandene Wertungswiderspruch zwischen Strafund Privatrecht wurde seit dem 18. Jahrhundert zum Nachteil der Konkubine einge-
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Zum Wandel der Rechtsprechung statt vieler Schopp, Nichteheliche Gemeinschaft und Moral, MDR 1990, 99, zu Aufkommen und Erscheinungsformen Saar (Fn. 12), Rn. 1, zu den Hintergründen Holzhauer, Krise und Zukunft der Ehe, JZ 2009, S. 492 ff. 23 Zu den Defiziten des geltenden Rechts und den Regelungsoptionen Brudermüller, Paarbeziehungen und Recht. Rechtsphilosphie und Familienrecht der Partnerschaft, 2017, S. 68 ff., 243; Kroppenberg, in: Kroppenberg u. a. (Hrsg.), Rechtsregeln für nichteheliches Zusammenleben, 2009, S. 60 ff. 24 Friedberg (Fn. 14), S. 198 – 305; Schwab, Grundlagen und Gestalt der staatlichen Ehegesetzgebung in der Neuzeit, 1967, S. 104 ff.; Dieterich, Das protestantische Eherecht in Deutschland bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts, 1970, S. 52 ff.; Schott, Trauung und Jawort. Von der Brautübergabe zur Ziviltrauung, 1992, S. 45 ff. 25 Dieterich (Fn. 24), S. 104, 107. 26 Artikel für das Fürstentum Preußen (1540), bei E. Sehling, Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts, Bd. IV, 1911, S. 56, ferner Nassauische Kirchen-Visitationsordnung von 1570: „Uneheliche Beywohnungen sollen – mit Rechtszwang oder Landes=Verweisung ehelich zu werden oder sich solcher nichtehelicher Beywohnung zu enthalten durchs Consistorium angehalten werden …“, bei Streubing, Kirchen- und Reformations=Geschichte der Oranien =Nassauischen Lande, Hadamar 1804, S. 358 f., ferner Becker (Fn. 14), S. 29 f.; Schott (Fn. 14), S. 23 f. 27 Hierher gehörte die Nichtehelichkeit der Kinder, grundlegend dazu Schubart-Fikentscher, Die Unehelichen-Frage in der Frühzeit der Aufklärung, 1967.
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ebnet – als privatrechtlicher Restbestand blieben die Folgen nichtehelicher Geburt für Mutter und Kind.28 b) Dabei hatte sich eine Neubewertung des Konkubinats schon im 16. Jahrhundert angebahnt. Auf naturrechtlichem Hintergrund ordnete Hugo Grotius die monogame, auf Treue (fides) gegründete Beziehung als „wirkliche und gültige Vereinigung“ ein, die in der Geschichte anerkannt gewesen, in der Gesetzgebung aber gewisser „positiver und auch natürlicher Rechtswirkungen“ entkleidet worden sei.29 Unbeeindruckt von dieser (im übrigen auch bevölkerungspolitisch inspirierten30) Sicht und der weiteren Erwägung, dass der Konkubinat erst durch Verfolgung zum Skandal werde,31 hielten kirchliches wie staatliches Recht am Verbot fest: „Heutigen Tages ist … der Concubinatus aufgehoben und verbothen worden …“.32 Dabei scheint die Verfolgung regional unterschiedlich intensiv gewesen zu sein, die Steuerungswirkung sich in Grenzen gehalten zu haben. So findet sich im Land-Recht des Königreichs Preußen (1721) die Klage, dass „manchmal bey ietzigen Zeiten sich Leute finden/ welche Concubinen oder Beschläferinnen halten…“.33 Auch in der Philosophie des ausgehenden 18. Jahrhunderts ist die Verwerflichkeit hervorgehoben, so namentlich bei Kant: „… ich habe aber vermöge des Konkubinats nicht ein Recht auf den ganzen Menschen, sondern nur auf einen Teil vom Menschen, folglich mache ich seine ganze Person zur Sache. Demnach ist auch diese Art, seine Neigungen zu befriedigen, nach der Moralität nicht erlaubt.“ 34 Fichte bezeichnete den Konkubinat als „schändliche(n) Kontrakt“, den der Staat aber hinzunehmen habe, sofern nur „dem Weibe keine Gewalt zugefügt“ werde.35 28 So ließ die Wormser Reformation (1498) der Konkubine und den Kindern ein beschränktes Erbrecht, bei W. Kinkel/H. Tieme/F. Beyerle (Bearb.), Quellen zur Neueren Privatrechtsgeschichte Deutschlands, Bd. I/1, S. 162. Dazu auch Schott (Fn. 14), S. 25; Schumann, in: H. Lück (Hrsg.), Christian Thomasius (1655 – 1728). Wegbereiter moderner Rechtskultur und Juristenausbildung, 2006, S. 270 (274 f.;); Saar (Fn. 12), Rn. 62. 29 Grotius, De iure belli ac pacis, Paris 1625, Lib. 2, cap. 5, §§ 8, 15. Eine Anlehnung an das justinianische Recht erwägt Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 298. Sinnentsprechend äußerten sich Milton, Amyraut, Selden, Pufendorff, Thomasius, Swedenborg, dazu Becker (Fn. 14), S. 31 f.; Schwab, FamRZ 1981, 1154 f.; Schott (Fn. 14), S. 27 f.; Schumann, HRG II, Sp. 96. 30 Der „Staatskundige“ frage nicht nach ehelicher oder nichtehelicher Geburt, er wolle, „dass viel Kinder gebohren werden …“, so Hommel, Rhapsodia questionum in foro quotidie obventientum, Bd. IV, 4. Aufl. Bayreuth 1785, obs. 741, § 23, 176 f. 31 Wieland, Geist der peinlichen Gesetze, Bd. II, Leipzig 1784, S. 184, 216 ff. 32 Zedler, Grosses und vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, 6. Bd., Halle und Leipzig 1733, Sp. 914. 33 Solche „Mißbrauch des Ehestandes“ bedroht das Landrecht mit Verweisung, Zucht- oder Spinnhaus, 6. Buch, 7. Titel, Art. 3 § 8. Zur Verfolgungsintensität Hull, Sexuality, State, and Civil Society in Germany, 1700 – 1815, Ithaca 1995, S. 70 ff. 34 Kant, Eine Vorlesung über Ethik, (1775/76), hrsg. von G. Gerhardt, 1990, S. 176 (180). 35 Fichte, Grundlagen des Naturrechts nach den Principien der Wissenschaftslehre, Zweiter Theil oder Angewandtes Naturrecht, Jena und Leipzig 1779, S. 198; Fichte, Grundlagen des
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c) Bis weit in das 19. Jahrhundert ging das sanktionsbewehrte Verbot des Konkubinats einher mit einem „System der staatlich konzessionierten Ehe …, in dem die freie Eheschließung die Ausnahme bildete“.36 So bedurften Beamte, Militärpersonen und Studenten, aber auch Gutsuntertanen einer obrigheitlichen Ehebewilligung, die namentlich in Preußen versagt werden konnte, wenn „den künftigen Eheleuten das nöthige Auskommen fehlen würde“.37 Evangelische Kirchenbehörden beförderten den Konkubinat, indem sie die Trauung versagten, obwohl Armut nach kirchlichem Recht kein Ehehindernis war.38 Dass auf diese Weise Arme und Dienstboten von der Ehe ausgeschlossen wurden, war klarsichtigen Zeitgenossen bewusst – „die heutige Erschwerung … grenzt an Leibeigenschaft“.39 Offenkundig war auch der Zusammenhang zwischen obrigkeitlichen Ehebeschränkungen und dem Aufkommen nichtehelicher Geburten.40 Vor diesem Hintergrund fiel die Wahrnehmung des Konkubinats bemerkenswert unterschiedlich aus. In unterbürgerlichen Schichten, wo die Ehe als erstrebenswerter Stand galt,41 wurde aus der Not geborene Konkubinate mit Nachsicht beurteilt.42 Im Adel und im auf eine sittliche Lebensführung bedachten Bürgertum waren derartige Beziehungen dagegen verpönt, wurden aber von Fall zu Fall hingenommen. Angehörige regierender Häuser und des Hochadels setzten sich leichfüßig über den comment hinweg – hierher gehören die „Geistes-“ oder „Gewissensehen“ des Prinzen Louis Ferdinand von Preußen mit Pauline Wiesel und des Fürsten Hermann von Pückler-Muskau mit Machbuba. d) Unbeeindruckt von abwertenden Urteilen zeigten sich auch Künstler und Intellektuelle: „Wer erinnert sich nicht z. B. an Heroen der Literatur, welche zum BedauNaturrechts, Bd. II, 1797, 1. Anhang: Grundriß des Familienrechts, §§ 8 – 9, 21 f. Zu Fichtes Ehelehre auch Dörner, Industrialisierung und Familienrecht, 1974, S. 29 f. 36 Schwab, Art. Heiratserlaubnis, HRG II, 2. Aufl. 2012, Sp. 914 (918), grundlegend Thudichum, Über unzulässige Beschränkungen des Rechts der Eheschließung, Tübingen 1866, S. 16 ff., 27 ff., 52 ff. pass., ferner Schmelzeisen, Polizeiordnungen und Privatrecht, 1955, 55 ff.; Sieder, Ehe, in: Mitterauer/Sieder, Vom Patriachat zur Partnerschaft, 1991, S. 149 (152); Wienfort (Fn. 11), S. 25. 37 Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten (1792), Teil II, 1. Titel, 1. Abschnitt § 60, weitere Belege bei Thudichum (Fn. 36), S. 65 ff. 38 Fikentscher, Hallesche Spruchpraxis. Consiliensammlung Hallescher Gelehrter aus dem Beginn des 18. Jahrhunderts, 1960, S. 35. 39 Grimm, Deutsche Rechtsalterthümer, Bd. I, 4. Aufl. Leipzig 1899, S. XVI, Anm. **. 40 Thudichum (Fn. 36), S. 127 – 132, ferner Rehm, in: J. Conrad (Hrsg.), Handbuch der Staatswissenschaft, Bd. III, 4. Aufl. 1924, S. 289 ff.; Knodel, Law, Marrige and Illegitimacy in Nineteenth-Century Germany, Population Studies 20 (1967), S. 279 ff.; Kraus, „Antizipierter Ehesegen“ im 19. Jahrhundert. Zur Beurteilung der Illegitimität unter sozialgeschichtlichen Aspekten, VWSG 66 (1979), S. 174 ff. 41 Van Dülmen, Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit, Bd. 1, München 1990, S. 158. 42 Blasius, Ehescheidung in Deutschland 1794 – 1945, 1987, S. 86 ff.; Gröwer, Wilde Ehen im 19. Jahrhundert, 1999, S. 474 f.; Schlumbohm, in: Schlumbohn (Hrsg.), Familie und Familienlosigkeit. Fallstudien vom 15. bis 20. Jahrhundert, 1993, S. 63; Ehmer, Bevölkerungsgeschichte und historische Demographie 1800 – 2000, 2004, S. 46 ff.
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ern ihrer Freunde und Bewunderer der öffentlichen Meinung trotzten“.43 Bekannte Beispiele sind das (voreheliche) Zusammenleben Goethes mit Christiane (Vulpius), Georg Friedrich Lichtenbergs mit der Stechardin, die trauscheinlose (und zeitweise nebeneheliche) Beziehung Friedrich Schlegels zu Dorothea Veit. Der Kulturphilosph Schlegel gehörte zu jenen Intellektuellen, die auf dem Hintergrund der deutschen Romantik den Versuch unternahmen, die Paarbeziehung aus ihren herkömmlichen Bindungen zu lösen, ja sie der „freien Willkür“ gänzlich zu überlassen.44 Denn die Ehe folgt nicht dem „Rechtsgesetz“, sondern der „weit höheren Gesetzgebung“ der Natur und Vernunft (Fichte), ist eine vollkommene Vereinigung von Mann und Frau ohne „Zweck außer ihr selbst“. Indem der Trauakt die Ehe nicht begründen, sondern nur beglaubigen sollte,45 verschwamm die Grenze zum Konkubinat. Ohnehin waren nach dem Maßstab der Idealehe fast alle Ehen „nur Konkubinate, Ehen an der linken Hand, oder vielmehr provisorische Versuche, entfernte Annhäherungen…“ (Schleiermacher); dennoch sei eine Aufwertung notwendig, und zwar entweder mittels „Konkubinats-Kontrakt“ oder aber durch einen Rückbau der „übertriebenen Rechte, die aus einer förmlichen Ehe herfließen …“.46 Derart kühne Entwürfe zu Liebe, Sexualität und Ehe erreichten das gebildete Bürgertum und wurden auch hier zum Lebensentwurf; im Recht blieben sie aber ohne greifbaren Folgen, weil sie die unromantischen Seiten der Lebenswirklichkeit vernachlässigten47 – konstant blieb die Überzeugung, dass Liebe und Leidenschaft für sich genommen keine beständige Beziehung gewährleisten. Weil die Ehe mehr erfordere als ein Empfinden, sei ihr Begriff „so zu bestimmen, daß sie die rechtlich-sittliche Liebe ist, wodurch das Vergängliche, Launenhafte und bloß Subjektive aus ihr verschwindet“ (Hegel);48 verschränkt sind Sittlichkeit und Recht bei Savigny – die Ehe ist eine natürliche und sittliche, durch förmliche Begründung rechtlich bindende Beziehung.49 Auf dieser Linie konzentrierten sich Rechtslehre und Zivil-
43 Mackeldey, Lehrbuch des heitigen Römischen Rechts, 3. Aufl. Gießen 1820, § 222. Zum Folgenden auch Schwab, FamRZ, 81, 1154 f.; Gay, Die zarte Leidenschaft. Liebe im bürgerlichen Zeitalter, 1987, S. 57 ff.; Schenk (Fn. 17), S. 125 – 130; van Dülmen, Poesie des Lebens. Eine Kulturgeschichte der deutschen Romantik 1795 – 1820, Bd. 1: Lebenswelten, 2002, S. 247 ff.; Saar (Fn. 12), Rn. 67 f. 44 Von Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Wirksamkeit des Staates zu bestimmen (1792), III, 4. 45 Fichte (Fn. 35), S. 198. 46 Schleiermacher, in: E. Behler (Hrsg.), Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. II/1, 1967, 170, Fragment Nr. 6: Über Konkubinat, Ehe und Hurerei (1797), in: H.-J. Birkner u. a. (Hrsg.), Kritische Gesamtausgabe, 1. Abt., Bd. 1, 1984, S. 4 ff. 47 Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung der Intimität, 2012, S. 184 ff.; van Dülmen (Fn. 43), S. 268 f. 48 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, 1821, §§ 161 (Zusatz), 162, Werke Bd. VII, 1986, S. 310. 49 Von Savigny, System es heutigen römischen Rechts, Bd. 1, Berlin 1840, § 54.
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gesetzgebung bis zum Bürgerlichen Gesetzbuch auf die Folgen nichtehelicher Geburt und blieb der Konkubinat in die Illegitimität verwiesen.50 e) Der obrigkeitliche Umgang mit unverheirateten Paaren veränderte sich im 19. Jahrhundert insofern, als Unmoral und Strafrechtswidrigkeit voneinander geschieden wurden und die Verfolgung allmählich vom Straf- in das Polizeirecht überging.51 In der Mehrzahl der süddeutschen Staaten, namentlich in Bayern und in Württemberg, wurde der Konkubinat systematisch unterdrückt,52 vergleichsweise nachsichtig verfuhren die Hansestädte.53 Auch die preußischen Behörden verweigerten sich der gängigen Einschätzung, dass die „wilde oder polnische Ehe“ die Sitten verderbe und die Nachkommen geradewegs in die Kriminalität führe, bis nach 1840 unter Friedrich-Wilhelm IV. ein repressiver Kurs eingeschlagen wurde.54 Ungeachtet der Beschwerden über ehelose Paare und unversorgt verlassene Frauen und Kinder war der Konkubinat weder im Adel noch im Bürgertum und in den unterbürgerlichen Schichten ein Massenphänomen.55 Obwohl Verlobte aus bürgerlichem Milieu unter dem mitunter überlangen Brautstand litten, mieden sie das voreheliche „Verhältnis“.56 Konkubinate radikaler Eheverächter sind für die Zeit um das Revolutionsjahr 1848 nachgewiesen, für das späte 19. Jahrhunderts im Arbeitermilieu – aber auch hier galt es als Verstoß gegen die Schicklichkeit, die schwangere Gefährtin nicht zu heiraten. Nachdem 1868 der Norddeutsche Bund die öffentlichen Heiratsbeschränkungen reduziert und seit den Gründerjahren die Zunahme freier Lohnarbeit die Heiratschancen gebessert hatte, öffnete 1875 das Personenstandsgesetz den Zu50
Zur Gesetzgebung im 19. Jahrhundert sowie zur Haltung der Redakteure des BGB Saar (Fn. 12), Rn. 72 ff., 80 f. 51 Von Feuerbach, Anmerkungen zum Strafgesetzbuche für das Königreich Bayern, Bd. 1, München 1813, 25, § 3 sowie Kleindschrod, Entwurf eines peinlichen Gesetzbuchs für die kurpfälzischen Staaten, Bd. II, München 1802, S. 230 ff. Dazu Jagemann/Bauer, Criminallexikon. Nach dem neuesten Stande der Gesetzgebung in Deutschland, Erlangen 1854, S. 169; von Wattenwil, Der Konkubinat im Strafrecht, Diss. iur. Berlin 1928, S. 35 f., 68 ff. 52 In Württemberg verweigerte die Gemeinde einem Paar mit fünf gemeinsamen Kindern die Heiratserlaubnis – die beiden verbüßten zwischen 1852 und 1864 acht Arreststrafen, bei Matz, Pauperismus und Bevölkerung. Die gesetzlichen Ehebeschränkungen in den süddeutschen Staaten während des 19. Jahrhunderts, 1980, S. 218. Zu Württemberg auch Thudichum (Fn. 36), S. 25 f., 28 f. Zu Bayern Schenk (Fn. 17), S. 105 – hier wurde die einschlägige Verbotsnorm endgültig erst 1976 beseitigt. 53 Zu Bremen, Hamburg und Lübeck Gröwer (Fn. 42), S. 178 ff., 481 ff. 54 In den Motiven zur Preußischen Gesetzrevision findet sich der Vorschlag, derartige Beziehungen besser zu dulden, Pensum XV., Berlin 1830, S. 484. Zu Preußen Blasius (Fn. 42), S. 86 ff.; Schenk (Fn. 17), S. 101 f. 55 Blasius (Fn. 42), S. 92 f.; Schlumbohm (Fn. 42), S. 79. Nimmt man die überschaubare Zahl gerichtlicher Entscheidungen zum Maßstab, so hat sich daran (von steigenden Fallzahlen nach den Weltkriegen abgesehen) in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert wenig geändert, Saar (Fn. 12), Rn. 82. 56 Dazu Kurzke, Georg Büchner. Geschichte eines Genies, 2013, S. 231 ff.; Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert, 2013, 30; Saar, in: Schmoeckel/Rückert/ Zimmermann (Hrsg.), Historisch-kritischer Kommentar zum BGB (HKK), Band IV: Familienrecht, 2018, Rn. 63.
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gang zur (obligatorischen) Zivilehe derart, dass bis zur Jahrhundertwende der Anteil der Verheirateten merklich wuchs, die Zahl der nichtehelichen Geburten sank.57 3. Verfahren und Erkenntnis Der Untersuchungsprozess gegen den Grafen Karl-Maria und Adelaide ist ein seltener Beleg für die Verfolgung des Konkubinats in den „höheren Ständen“.58 Auffällig ist aber auch die Eile, mit der das Verfahren vorangetrieben wurde – nachdem im Oktober 1837 der Tod des Ortspfarrers das Geschehen ans Licht gebracht hatte, vergingen keine vier Wochen, bis der Sachverhalt ermittelt und ausgeurteilt war. Dabei mag Karl Marias Stand ebenso eine Rolle gespielt haben wie die Tatsache, dass das Paar geständig und bereit war, seine Beziehung durch Heirat zu legalisieren. Im engeren Umfeld war der Konkubinat ohnehin ein offenes Geheimnis, das zum öffentlichen Ärgernis hätte werden können – es ging darum, den Fall diskret zu den Akten zu legen. Bischoffs sparsame Mitteilungen fügen sich zum möglichem Ort des Verfahrens.In Hessen-Nassau, wo namentlich die Untersuchung von den Polizeivergehen zugeordneten Sittlichkeitsdelikten der obersten Innenbehörde übertragen war, wurde ein Teil des Regierungskollegiums als „Korrektioneller Senat“ tätig, der in einem geheimen Verfahren arbiträr Geld- oder Freiheitsstrafen verhängen konnte; materielle Grundlage waren das gemeine Recht und statutarische Bestimmungen.59 Im Erkenntnis vom November 1837 fehlen Angaben zum noch maßgebenden „Ehemandat vom Jahre 1761“. Sowohl die vorangestellte Definition (die Ehe ist die verschiedengeschlechtliche Gemeinschaft zur naturgemäßen Befriedigung der Geschlechtslust mit dem Ziel der Nachkommenschaft) als auch die Anforderungen an eine regelgemäße Eheschließung und die bei einem Verstoß eintretenden Rechtsfolgen entsprechen der Üblichkeit – die bloße „Beischlafsgemeinschaft ist Concubinat“ und soll, sofern „die Peccanten sich zur Eingehung einer förmlichen Ehe entschlossen“ haben, als stuprum (Unzucht) nicht mit Haft, sondern mit einer Buße geahndet werden. 4. Ein gutes Ende – Vergleich und Legitimation per subsequens matriomium Das Zusammenleben mit Karl-Maria muss Adelaide belastet haben – und zwar nicht nur wegen der fortwährenden Geheimnistuerei, der Eifersucht des Grafen und wegen der Gewissenspein, welche die Beziehung ihr offenbar bereitete. Geradezu als seelische Grausamkeit nimmt sich die Trennung von Agnes, Adolf und Ludwig aus, die nach dem Prinzip der ärgeren Hand den Namen und bürgerlichen Stand ihrer Mutter teilten, der Vormundschaft von Adelaides Vaters überantwortet und „… eini57
Nachweise bei Peuckert, Familienformen im sozialen Wandel, 8. Aufl. 2012, S. 96 f. Zutreffend Bopp (Fn. 10), S. 754 f. - das Urteil steht „fast isoliert“. 59 Eingehend Treichel, Der Primat der Bürokratie – bürokratischer Staat und bürokratische Elite im Herzogtum Nassau 1806 – 1866, 1991, S. 199 ff. 58
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ge Tage nach der Geburt“ von ihrer Großmutter abgeholt wurden, „einer bürgerlich gekleideten Frau, welche in einer Chaise ankam.“ Auf den Gedanken, diesem Zustand ein Ende zu machen, verfiel Karl-Maria, als Adelaide krank geworden war. Erst jetzt leitete er eine Eheschließung in die Wege. Vor dem Vermögensverlust, der ihm wegen der Missheirat nach den „Familienverträgen“ drohte, bewahrte den Grafen der vorab im Oktober 1837 geschlossene Vergleich. In ihm verzichtete der Bruder Franz von E. „… seine Rechte an den Gütern W-. und U-., der Graf Karl Maria von E-. aber auf die Rechte, welche ihm auf die Güter S-bach und M-berg zustanden, zu Gunsten des Erstern …“ Im Februar 1838 beendete eine Eheschließung den Konkubinat und nahm, weil Karl-Marias Vaterschaft unstreitig war, das Stigma der Nichtehelichkeit von den Kindern.60 Der Vergleich und der Umstand, dass die Trauung auf dem in Franz’ Besitz übergegangenen Gut stattfinden konnte, lassen auf eine gutbrüderliche Beziehung schließen. Auffällig ist aber wiederum das Bemühen um die Verschleierung von Missheirat und Konkubinat – die Trauung geschah in der Kirche von S-bach, weil hier „die F-. ganz unbekannt …“ war.
60 Zur Legitimation statt vieler Dernburg, Pandecten, 3. Bd., 5. Aufl. Berlin 1897, S. 58; von Gierke, Deutsches Privatrecht, 4. Bd.: Familienrecht, aus dem Nachlaß hg. von K. Kroeschell und K. Nehlsen-von Stryk, 2010, S. 464 ff.; Schubart-Fikentscher (Fn. 27), S. 133 ff. Aus der neueren Literatur Holzhauer, in: I. Czeguhn (Hrsg.), Recht im Wandel – Wandel des Rechts. Festschrift für Jürgen Weitzel zum 70. Geburtstag, 2014, 109 ff. (118 f., 127 f., 132 ff.); Schumann, Art. Legitimation durch nachfolgende Ehe, HRG III (2016), Sp. 706 ff.
Netzbetreiber-Pflichtverletzung und Haftung im Anschlussverhältnis Zugleich ein Beitrag zur subjektiven Reichweite von Netzanschlussnutzungsverhältnissen Von Peter Salje Im Notdienst am Heiligen Abend gerufen tauscht ein Monteur des Gasnetzbetreibers einen Druckregler1 aus, nachdem zuvor die Heizung eines gepachteten Gaststättenbetriebs ausgefallen war. Die Reparatur erfolgt einwandfrei. Obwohl die Gaszufuhr jetzt gewährleistet ist, gelingt es dem Gaststättenbetreiber nicht, die Heizung wieder in Betrieb zu nehmen. Auf den fortbestehenden Heizungsausfall angesprochen regt der Monteur an, den Heizungswartungsdienst zu rufen; diesem Ratschlag folgt der Betreiber namens und in Vertretungsmacht des Eigentümers. Ein Mitarbeiter des so gerufenen Unternehmens nimmt die Anlage durch einfaches Drücken des Störungsknopfes wieder in Betrieb und stellt dem Grundeigentümer/Verpächter 150,– E in Rechnung (Notdiensttarif). Auf Erstattung in Anspruch genommen, teilt der Netzbetreiber mit, dass es nicht ungewöhnlich sei, dass beim Austausch des Druckreglers Luft in das Rohrleitungssystem gelange und die Gerätesteuerung wegen des Druckabfalls auf Störung schalte. I. Haftungsgrundlagen Der Gasnetzbetreiber, zu dem der Grundeigentümer in einem Rechtsverhältnis als Anschlussnehmer steht (§§ 2, 1 Abs. 2 NDAV, im Folgenden: Netzanschlussverhältnis, NAV), kann im Falle einer Pflichtverletzung auf Erstattung des Rechnungsbetrags sowohl aus Vertrag als auch aus unerlaubter Handlung haften. Nutzt der Eigentümer selbst den Netzanschluss zur Entnahme von Gas als Letztverbraucher, kann darüber hinaus eine Haftung aus Pflichtverletzung des Anschlussnutzungsverhältnisses entstehen, vgl. §§ 3, 18 Abs. 1 Satz 1 NDAV (im Folgenden: NANV). Als Anspruchsberechtigter kommt der Eigentümer in Betracht, der dem Notdienst aus Werkvertrag zur Zahlung verpflichtet ist (§§ 631, 164 BGB). Da Heizungsanlagen
1 Einrichtungen zur Druckminderung sollen nach den technischen Vorgaben im Flüssiggasbereich alle 10 Jahre ausgetauscht werden: BGV D 34 und G 607 (Gasschläuche und Druckminderer).
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wesentliche Bestandteile des Grundstücks sind,2 kommen Aufwendungen/Verwendungen auf die Anlage stets dem Grundeigentümer zugute. Ob eine potentielle Pflichtverletzung des Monteurs/Netzbetreibers nur das NANV oder aber zugleich das Netzanschlussverhältnis zwischen Netzbetreiber und Grundeigentümer (Anschlussnehmer) berührt, soll nachstehend unter II. geklärt werden. Weil darüber hinaus § 18 NDAV keine eigenständige Anspruchsgrundlage im NANV repräsentiert, sondern die Netzbetreiberhaftung iS eines Netzbetreiberprivilegs lediglich modifiziert3 und zudem nach dem Verordnungswortlaut auf das Rechtsverhältnis des Netzbetreibers zum Anschlussnutzer beschränkt ist,4 soll im Folgenden kurz auf die möglichen Haftungsgrundlagen des Bürgerlichen Rechts eingegangen werden. 1. § 280 Abs. 1 BGB Mit dem Netzanschlussverhältnis (NAV) besteht gegenüber dem Eigentümer und mit dem Netzanschlussnutzungsverhältnis (NANV) gegenüber dem Pächter je ein Schuldverhältnis iS von §§ 241, 311 Abs. 1 BGB, vgl. § 2 bzw. § 3 NDAV. Da wegen § 280 Abs. 1 Satz 2 BGB ein Verschulden des Netzbetreibers kraft Gesetzes (mit Entlastungsmöglichkeit)5 quasi vermutet wird, kommt es primär auf das Vorhandensein einer Pflichtverletzung des Netzbetreibers selbst oder seines Erfüllungsgehilfen (§ 278 BGB) im NAV bzw. NANV an.6 Dem Netzbetreiber steht dann (nur noch) der Entlastungsbeweis offen. 2. § 831 Abs. 1 BGB Ein Unternehmer („Geschäftsherr“) haftet modifiziert für seinen Verrichtungsgehilfen nach § 831 Abs. 1 BGB insbesondere dann, wenn pflichtinadäquate Weisungen erteilt oder Gerätschaften usw. nicht ordnungsgemäß zur Verfügung gestellt werden. Ein Pflichtenverstoß des Verrichtungsgehilfen führt dagegen nicht automatisch zur Haftung. Um sich zu entlasten, muss der Unternehmer darlegen und nachweisen, dass Auswahl, Ausrüstung sowie Anleitung des Verrichtungsgehilfen in ausreichendem Umfang gewährleistet waren, während der Geschädigte die Beweislast dafür trägt, dass der Schaden in Ausführung der Verrichtung eingetreten ist. Für § 831 Abs. 1 Satz 2 BGB wird es insbesondere darauf ankommen, ob der Netzbetreiber ordnungsgemäß und korrekt Weisungen erteilt hat, insbesondere was der Monteur zu tun hat, wenn es dem Anschlussnutzer nicht gelingt, Gasver2 Vgl. BGHZ 53, 324, 325 f.; vgl. auch BGH v. 17. 09. 1987, III ZR 222/86 (Heizöl- und Wärmepumpen außerhalb des Gebäudes). 3 Vgl. Schneider/Theobald/de Wyl/Bartsch, EnWR, 4. Aufl., § 16 Rn. 76; Tamke, Die Haftungsprivilegierung für Netzbetreiber bei Störungen der Anschlussnutzung, Baden-Baden 2014, S. 155 (jeweils m. w. N.). 4 Vgl. dazu unten III. 5 Vgl. auch § 18 Abs. 1 Satz 1 NDAV mit seinen Modifikationen. 6 Vgl. dazu nachstehend II.
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brauchsgeräte wieder in Betrieb zu nehmen. Dabei wird zu klären sein, ob ein Verweis auf das Installateur- und Wartungsgewerbe in concreto ausreicht. Zweifel daran, dass der Monteur wegen seines Mitarbeiterverhältnisses zum Netzbetreiber als dessen Verrichtungsgehilfe tätig geworden ist und die Reparatur samt mündlichen Hinweisen in Ausführung der Verrichtung erfolgt sind, bestehen offensichtlich nicht. 3. § 823 Abs. 2 BGB § 823 Abs. 2 BGB als Haftungsgrundlage setzt die Verletzung eines Schutzgesetzes und damit das Vorhandensein einer (staatlichen) Rechtsnorm voraus, die dem Schutz konkreter Dritter vor Schäden dient.7 Insofern sind in Konkretisierung des NANV die §§ 16, 17 NDAV in Betracht zu ziehen, die den Netzbetreiber u. a. dazu verpflichten, - dem Anschlussnutzer die jederzeitige Nutzung des Anschlusses zu ermöglichen (§ 16 Abs. 1 Satz 1 NDAV) - den Netzdruck möglichst gleichmäßig zu halten (§ 16 Abs. 2 NDAV) - Unterbrechungen/Unregelmäßigkeiten der Versorgung unverzüglich zu beheben (§ 17 Abs. 1 Satz 2 NDAV) - den Anschlussnutzer zumindest nachträglich darüber zu informieren, aus welchem Grunde eine Unterbrechung erfolgte (§ 17 Abs. 2 Satz 3 NDAV) Obwohl sich diese Pflichten auf das Anschlussnutzungsverhältnis und damit eine Sonderbeziehung beschränken,8 schließt ein solcher Vertragsbezug den Schutzgesetzcharakter nicht aus:9 Denn der systematische Zusammenhang zum Haftungsprivileg des § 18 NDAV und dessen Inbezugnahme des Rechts der unerlaubten Handlung verdeutlicht den Schutznormbezug der §§ 16, 17 NDAV. Jedenfalls weil einem Benutzer von Trinkwasser- und Energieversorgungssystemen besondere, über allgemeine Vertragsbeziehungen hinausgehende Gefahren aus der Systemnutzung erwachsen, spricht mehr für den Schutzgesetzcharakter als dagegen. Weil die letztlich aus der Betriebspflicht des Netzbetreibers resultierenden Einzelpflichten der §§ 16, 17 NDAV somit den Anschlussnutzer zu schützen geeignet sind und dies auch bezwecken, ist deren Schutznormcharakter zu bejahen.10 Ob eine konkrete Verletzung der vorstehend aufgeführten Pflichten in Betracht zu ziehen ist, soll weiter unten im Zu-
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Art. 2 EGBGB. Potentielles Ausschlusskriterium für ein Vorliegen von Schutzgesetzen, vgl. Palandt/ Sprau, BGB, 79. Aufl. München 2020, § 823 Rn. 56. 9 Interessenbezug als Kern des Schutzgesetzcharakters: grundlegend BGHZ 40, 306 f.; vgl. auch Palandt/Sprau, BGB, § 823 Rn. 58. 10 Umfassende Würdigung des gesamten Normregelungszusammenhangs: BGH NJW 2008, 1734, 1735; BGH NJW 2012, 1800 Tz. 21. Vgl. BGH NJW 1983, 2935, 2936 f. sowie LS 1 zu §§ 4 ff. TrinkwasserV a. F. 8
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sammenhang untersucht werden.11 § 823 Abs. 2 BGB umfasst den Ersatz sämtlicher Schäden einschl. reiner Vermögensschäden.12 4. § 826 BGB Eine vorsätzliche und sittenwidrige Schädigung durch den Mitarbeiter des Netzbetreibers (persönlich), die allerdings den Arbeitgeber nach den Grundsätzen der Schadensverlagerung im Arbeitnehmer-Arbeitgeber-Verhältnis nicht treffen würde,13 erscheint als fraglich. Zwar hat der Mitarbeiter mit seinem Hinweis auf den Heizungswartungsdienst gewusst, dass insofern ein Werkvertrag und damit eine Entgeltpflicht entstehen wird, wenn sein „Rat“ befolgt werden wird; und obwohl der Anschlussnutzer den Rat durch Willensentscheidung noch umsetzen musste, ist die Schadenskausalität unzweifelhaft.14 Jedoch setzt sittenwidriges Verhalten des Mitarbeiters voraus, dass er mit seinem Hinweis bzw. mit dem Unterlassen einer Hilfestellung zur Wiederinbetriebnahme der Heizung das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verletzt hat.15 Weil man vorliegend eher Gedankenlosigkeit, Minimierung des eigenen Zeitaufwands und/oder Desinteresse wird unterstellen müssen, dürfte die Schwelle zur Sittenwidrigkeit selbst dann noch nicht überschritten sein, wenn ein pflichtwidriges Verhalten des Mitarbeiters vorgelegen hat. Ein Anspruch auf Schadensausgleich aus § 826 BGB gegen den Mitarbeiter persönlich kommt daher wohl nicht in Betracht. II. Eigentümer und Anschlussnutzungsverhältnis Die NDAV unterscheidet klar zwischen Netzanschlussverhältnis (§ 2 NDAV) und Netzanschlussnutzungsverhältnis (§ 3 NDAV); beide bestehen im Verhältnis zum Gasnetzbetreiber. Die Anwendung der §§ 16 – 18 NDAV setzt ein Anschlussnutzungsverhältnis voraus, durch das dem Anschlussnutzer vom Netzbetreiber das Recht eingeräumt wird, einen bestehenden Netzanschluss für die Entnahme von
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Nachstehend III. Anders als nach § 823 Abs. 1 BGB: Beschränkung auf Vermögensfolgeschäden nach Verletzung absolut geschützter Rechtsgüter. 13 Betriebsrisikolehre: BAG NJW 1995, 210, 212; BGH NJW 1994, 856, wonach erst ab dem Niveau mittlerer und leichter Fahrlässigkeit eine Schadensverlagerung auf den Arbeitgeber am Maßstab des § 254 BGB in Betracht kommt. Überblick bei Richardi, NZA 1994, S. 241, 242 f. Vgl. dazu Salje, Rechtsgrundlagen des Bewachungsverhältnisses zwischen Arbeitgeber und Wachleuten, in: Stober/Olschok (Hrsg.), Handbuch des Sicherheitsgewerberechts, München 2004, S. 437 ff. Rn. 91. 14 Kausaler mittelbarer Schaden nach Pflichtverletzung, vgl. die Nachweise zur Rechtsprechung bei Palandt/Grüneberg, BGB, Vor § 249 Rn. 52. 15 Vgl. BGH NJW 2017, 250 Tz. 16; NJW 2014, 383 Tz. 9 (jeweils mit Nachw. zur std. Rspr.). 12
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Gas zu nutzen.16 Der Anschlussnutzer kann zugleich Anschlussnehmer sein, wenn er mit Zustimmung des Eigentümers Herstellung oder Änderung des Anschlusses in Auftrag gibt (§ 2 Abs. 2 NDAV). Zweifelhaft ist allerdings, ob bloße Anschlussnehmer, die z. B. als Grundeigentümer zwar in einer vertraglichen oder jedenfalls einer gesetzlichen Beziehung zum Netzbetreiber stehen (§ 1 Abs. 2 und § 2 NDAV), aber den Anschluss derzeit nicht konkret zwecks Entnahme von Gas nutzen und deshalb streng genommen keine Anschlussnutzer sind (vgl. § 1 Abs. 3 NDAV), in den persönlichen Schutzbereich der §§ 16, 17, 18 NDAV einbezogen sind. Hiergegen spricht zunächst der Gesetzeswortlauf der NDAV, der klar zwischen Anschlussnehmer und Anschlussnutzer unterscheidet (§ 1 Abs. 2 vs. Abs. 3 sowie § 2 vs. § 3 NDAV). Insbesondere kann man argumentieren, dass des Schutzes der §§ 16, 17 NDAV nicht bedarf, wer gar nicht willens ist, den Anschluss zu nutzen und – wenigstens gelegentlich – Gas zu entnehmen. Dies trifft im Regelfall auf den Eigentümer eines vermieteten oder verpachteten Grundstücks zu; nur im Falle eines Leerstandes oder als Notmaßnahme entnimmt der Eigentümer Gas, um die Heizungsanlage weiter betreiben zu können. Für die Einbeziehung von (bloßen) Anschlussnehmern in die §§ 16 ff. NDAV spricht, dass das Haftungsprivileg des § 18 NDAV sowie dessen Haftungskonkretisierungs- und Haftungsbegrenzungsregelungen leer liefen, wenn § 18 NDAV gegenüber einem Grundeigentümer gar nicht anwendbar wäre. Denn bei praktisch allen mit der Gasnutzung zusammenhängenden Netzproblemen ist es letztlich der Grundeigentümer, der gegenüber seinem Mieter/Pächter/Nießbrauchsberechtigten im Vertragsverhältnis für den sicheren Gebrauch der vom Eigentümer zur Verfügung gestellten Kundenanlage sowie der Heizung einzustehen hat. Dann aber wäre es lebensfremd, die Anschlussnutzung auf die jeweilige aktuelle Nutzung zu beschränken und den Grundeigentümer aus dem Kanon der §§ 16 ff. NDAV auszuklammern: Denn dies würde bedeuten, dass alle Rechtsstreitigkeiten einschl. Prozesshandlungen ausschließlich im Verhältnis Mieter usw. mit dem Netzbetreiber vorzunehmen wären, obwohl der Grundeigentümer die dem Nutzer entstehenden Schäden und Nachteile letztlich zu tragen hätte. Insbesondere wäre es sehr umständlich, die komplizierten Grundsätze einer (gesetzlichen oder obligatorischen) Schadensverlagerung heranziehen zu müssen um dann zu entscheiden, ob diese Prüfung wegen § 18 NDAV zu modifizieren ist.17 Deshalb spricht viel dafür, den nicht aktuell das Netz nutzenden Grundeigentümer als potentiellen Nutzer des Gasanschlusses zu behandeln und damit in das Anschlussnutzungsverhältnis einzubeziehen. Denn bei jedem Wechsel der Eigentumsnutzung wird der Grundeigentümer zum (auch aktuellen) Anschlussnutzer, wenn er die Hei16 Dieses Recht umfasst weder die Belieferung mit Gas (Unbundling, § 6 EnWG) noch den Zugang zum Gasnetz (§ 20 EnWG), vgl. § 3 Abs. 1 Satz 2 NDAV. 17 Hat der Anschlussnehmer einen Schaden aus der Nutzung des Anschlusses erlitten, kann er sich einen möglichen Schadensersatzanspruch des Anschlussnutzers gegen den Netzbetreiber abtreten lassen, § 398 BGB.
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zungsanlage weiter betreibt, bis der Nachfolger des bisherigen Anschlussnutzers gefunden ist. Bedient der Eigentümer während einer Abwesenheit/Krankheit des Anschlussnutzers die Anlage, würde er kraft Gesetzes Anschlussnutzer auf Zeit – um dann diese Stellung wieder verlieren, wenn der primäre Anschlussnutzer zurückkehrt. Sollen Zuordnungsprobleme aus solchen Wechselvorgängen sicher vermieden werden,18 ist nach zutreffender Auffassung der Grundeigentümer und mittelbare Besitzer als jedenfalls potentieller Anschlussnutzer in den Kreis derjenigen einzubeziehen, die mit den Rechten, Pflichten und Einschränkungen nach den §§ 16 – 18 NDAV ausgestattet sind. Zwischen Grundeigentümer und wechselnden Nutzern des Grundstücks „oszillierende Anschlussnutzungsverhältnisse“ können auf diese Weise ausgeschlossen werden. Deshalb ist auch der Grundeigentümer als potentieller Anschlussnutzer in den Kreis der persönlich Schutzberechtigten des Anschlussnutzungsverhältnisses einbezogen. III. Pflichtenkonstellation und Pflichtverletzung Ein pflichtwidriges Verhalten von Unternehmen bzw. Mitarbeitern bildet sowohl in vertraglicher als auch in außervertraglicher Betrachtung die Grundlage einer jeden Haftung. Wie die Lehre von den Verkehrspflichten19 beweist, nähert sich die Pflichtenintensität bei Vertragshaftung derjenigen bei unerlaubter Handlung immer stärker an.20 Um die Zusammenhänge zwischen den Haftungsnormen in Bezug auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufzuzeigen, soll ein möglicher Pflichtenverstoß ausnahmsweise nicht separat nach den Haftungsgrundlagen untersucht werden. Das Pflichtenprogramm hat der Gesetzgeber im vertraglichen Bezug besonders intensiv ausgearbeitet, vgl. § 241 Abs. 1 und 2 BGB. Die Erstreckung auf vorvertragliche Rechtsbeziehungen (§ 311 Abs. 2 BGB), auf faktische Beziehungen zu einbezogenen Dritten (§ 311 Abs. 3 BGB) sowie auf besonders geschützte Dritte (Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte) zeigt, wie sich die einst kategorialen Unterschiede von Vertragshaftung einerseits und Haftung außerhalb des vertraglichen Zusammenhangs andererseits immer stärker auflösen.
18 Zu solchen Problemen insbesondere beim Mieterwechsel vgl. BGH NJW 2014, 3148 = BGHZ 202, 17 Tz. 12 ff. (Inhaber der tatsächlichen Verfügungsgewalt als Adressat des Versorger-Vertragsangebots); BGH NJW 2014, 3150 = BGHZ 202, 158 Tz. 13 ff. (bei mehreren Mietern werden alle Mieter Vertragspartner des Versorgers unabhängig von der tatsächlichen Nutzung der Wohnung); BGH NJW-RR 2020, 201 = IR 2020, 105 (Vermieter wird beim Mieterwechsel nicht Vertragspartner des Versorgers, selbst wenn der neue Mieter sich nicht um einen Stromversorgungs-Vertragsschluss bemüht). 19 Vgl. insbesondere v. Bar, Verkehrspflichten. Richterliche Gefahrsteuerungsgebote im Deutschen Deliktsrecht, Köln 1980, S. 153 ff., 170. 20 Brüggemeier, Haftungsrecht: Struktur, Prinzipien, Schutzbereich, Berlin 2006, S. 383 ff.: „Quasi-Vertrag“.
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1. Nebenpflichtverletzung § 241 BGB unterscheidet zwischen Hauptpflichten (Abs. 1) und Nebenpflichten, insbesondere Sorgfaltspflichten (Abs. 2). Konkret: Der Netzbetreiber schuldet als Hauptpflicht Reparatur und Beseitigung der Gasnetzstörung (Wechsel des Druckreglers) durch seinen Erfüllungs- bzw. Verrichtungsgehilfen. Der Druckregler dient dazu, eine gefahrlose (sichere) Nutzung des Gasnetzanschlusses zu gewährleisten; Gefahren drohen insofern sowohl dem Anschlussnehmer (Eigentümer: Zerstörung der Kundenanlage) als auch dem Anschlussnutzer (Pächter: Zerstörung von Gasverbrauchsgeräten). Damit sind beide Rechtsverhältnisse zum Netzbetreiber – NAV sowie NANV – von der Reparaturmaßnahme betroffen. Eine Verletzung der Hauptpflicht ist nicht ersichtlich, weil der Netzanschluss nach Reparatur seine Funktion wieder ordnungsgemäß erfüllt. Darüber hinaus bestehen auch Nebenpflichten: Weil § 16 Abs. 2 Satz 2 NDAV in Bezug auf das NANV den einwandfreien, also sicheren und störungsfreien Betrieb aller Endgeräte als Recht des Anschlussnutzers festlegt, kann kein Zweifel bestehen, dass der Netzbetreiber auch Hilfestellung bei der Wiederinbetriebnahme der Endgeräte schuldet. Dazu reicht der Hinweis auf den Wartungsdienst nicht aus; wie der Netzbetreiber einräumt, ist die Störschaltung eines Endgerätes nicht ungewöhnlich, weil die Geräte auf zu hohen bzw. zu niedrigen Druck durch Abschaltung reagieren (müssen). Auch ist es nicht ausgeschlossen, dass im Rahmen der Reparatur Außenluft in das System (Netz und Kundenanlage) eindringt, was ebenfalls eine Störmeldung auslöst. Insbesondere bei typischen „Folgestörungen“ von Endgeräten in Abhängigkeit von der Art der Netzstörung/Reparaturmaßnahme – „nicht ungewöhnlich“ – schuldet der Netzbetreiber aktiv Aufklärung des Anschlussnutzers. Dies kann entweder durch Übergabe eines Hinweisblattes oder aber durch mündliche Erläuterung des Mitarbeiters geschehen. Dass sich solche Hinweise und Ratschläge auf typischerweise/üblicherweise zu erwartende Probleme mit der Wiederinbetriebnahme von Verbrauchsgeräten beschränken dürfen, liegt auf der Hand; ein besonders sorgfältig handelnder Netzbetreiber wird darüber hinaus auf seiner Internetseite solche Hinweise veröffentlichen und/oder eine Beratungshotline einrichten. Die Nebenpflicht zu Hinweisen auf die Behebung von Folgestörungen nach Reparaturen am Netz nach § 241 Abs. 2 BGB wird offensichtlich verletzt, wenn der Mitarbeiter lediglich auf ein Wartungsunternehmen verweist; dies gilt umso mehr, wenn es „auf Knopfdruck“ möglich ist, die Anlage wieder in Betrieb zu nehmen. Auch angesichts der Vielfalt von Heizungsanlagentypen erscheint die Verpflichtung nicht als ausgeschlossen, jedenfalls allgemein auf die Störungsbeseitigung am Endgerät hinzuweisen und den Anschlussnutzer bei der Wiederinbetriebnahme zu unterstützen. Zur Wiederinbetriebnahme der Heizung durch eigenes Handeln des Monteurs ist der Netzbetreiber selbstverständlich nicht verpflichtet.
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Dass NAV und NANV in Bezug auf die daraus resultierenden Pflichten nicht unverbunden nebeneinander stehen, zeigt die vorliegende Konstellation. Insbesondere erscheint die naheliegende potentielle Verteidigungsstrategie des Netzbetreibers als ausgeschlossen: Der Netzbetreiber könnte insofern argumentieren, zur Reparatur nur dem Anschlussnehmer gegenüber verpflichtet zu sein; wenn dieser den Netzanschluss nicht selbst nutzt, müsse diesem gegenüber auch keine Hinweispflicht als Nebenpflicht erfüllt werden. Weil aber jeder Gasnetzanschluss offensichtliche Gefahren sowohl für den Eigentümer als Anschlussnehmer als auch für den Mieter/Pächter als Anschlussnutzer mit sich bringt, besteht die Reparaturpflicht gegenüber beiden Parteien. Die daraus obliegenden Nebenpflichten sind primär demjenigen gegenüber zu erfüllen, der den engsten Sachbezug zur auszuräumenden Gefahr aufweist (hier: Pächter). Eine Nichterfüllung kann auch der Eigentümer geltend machen, wenn der daraus resultierende Schaden letztlich ihn trifft; insbesondere ist es dem Netzbetreiber verwehrt, aus den parallel verlaufenden Rechtsverhältnissen Vorteile i S einer „Enthaftung“ zu ziehen. Eine Verletzung der Hinweispflicht – mündlich oder schriftlich – hat der Netzbetreiber grds. zu vertreten, vermag sich aber nach § 280 Abs. 1 Satz 2 BGB zu entlasten, indem er solche Besonderheiten des Einzelfalls darlegt und beweist, die eine erfolgreiche Beratung bei Wiederinbetriebnahme des Verbrauchsgerätes verhindert haben – oder verhindert hätten, wenn die Beratung zwar nicht erfolgt ist, aber aus jenem Grund erfolglos geblieben wäre.21 Gelingt dieser Entlastungsbeweis nicht, bleibt es bei der vertraglichen Haftung auf vollen Ausgleich des Vermögensschadens (§ 249 Abs. 1 BGB, Rechnung des Wartungsbetriebs), vorbehaltlich einer Schadensbegrenzung nach § 18 NDAV.22 Soweit man den Grundeigentümer nicht als mitberechtigten Anschlussnutzer einbeziehen möchte,23 besteht die Reparaturverpflichtung samt Nebenpflichten auch im Verhältnis zum Grundeigentümer als Anschlussnehmer (§ 2 Abs. 1 und § 3 NDAV). 2. Verkehrspflichtverletzung Unter „Verkehrspflichtverletzung iwS“ sollen im Folgenden solche Pflichtverletzungen des Netzbetreibers zusammengefasst werden, die im Recht der unerlaubten Handlung wurzeln. Dies betrifft sowohl § 823 Abs. 2 BGB als auch die speziellen Pflichten des Unternehmers aus § 831 Abs. 1 Satz 2 BGB. § 823 Abs. 1 BGB scheidet als Anspruchsgrundlage aus, weil es an der Eigentumsverletzung (Grundstück: Heizungsanlage, Kundenanlage) im Sinne einer Substanzverletzung fehlt und allenfalls eine vorübergehende Nutzungsbeeinträchtigung zu konstatieren ist, die gerade keine Eigentums- oder Besitzstörung auslöst.
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Einwand rechtmäßigen Alternativverhaltens (Kausalitätswegfall). Vgl. dazu unter IV. 23 Anders oben II. 22
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a) Konkretisierte Verkehrspflichten Das Netzanschlussnutzungsverhältnis konkretisiert § 1 Abs. 3 iVm §§ 16 f. NDAV. Weil der Netzbetreiber die Anschlussnutzung in jedem Zeitpunkt zu gewährleisten hat (Ausnahmen: höhere Gewalt und Unzumutbarkeit, § 16 Abs. 1 Satz 2 NDAV), hat er das Netz unverzüglich zu reparieren (§ 17 Abs. 1 Satz 2 NDAV). Dies konkretisiert § 16 Abs. 2 Satz 1 NDAV („möglichst gleichbleibender Druck“). Der Störungsgrund ist nach § 17 Abs. 2 Satz 3 NDAV jedenfalls nachträglich mitzuteilen; offenbar hat diese Mitteilung so konkret zu erfolgen, dass der Anschlussnehmer mit Hilfe dieser Information den ungestörten Betrieb wieder aufzunehmen in der Lage ist. Dieses Recht folgt aus § 16 Abs. 2 Satz 2 NDAV („… Gasgeräte müssen einwandfrei betrieben werden können.“). In der Zusammenschau von Netzbetreiber-Pflichten und Anschlussnutzer-Rechten ergibt sich, dass der Netzbetreiber alle ihm möglichen und zumutbaren Informationen geben muss, damit nach Reparatur ein störungsfreier Betrieb der Verbrauchsgeräte wieder gewährleistet ist. Ein bloßer Verweis auf ein Wartungsunternehmen reicht dazu nicht aus; den Monteur trifft im Zweifelsfall auch die Pflicht, bei seinem Arbeitgeber Rückfrage zu halten und analog § 665 BGB eine Weisung einzuholen, wie bei misslungener Wiederinbetriebnahme weiter zu verfahren ist; auf diese Weise kann eine auf den Netzbetreiber zukommende Haftung möglichst noch vermieden werden. b) Schutzgesetzverletzung Wer wie hier die §§ 16 f. NDAVals Schutzgesetze einordnet, gelangt nach Verletzung jener Vorgaben unmittelbar zur Schadensersatzpflicht nach § 823 Abs. 2 BGB, die auch reine Vermögensschäden umfasst.24 Allerdings hat das Unternehmen nicht selbst die Verpflichtung verletzt, für einen störungsfreien Betrieb der Verbrauchsgeräte zu sorgen (§ 16 Abs. 2 Satz 2 NDAV), sondern ein Gehilfe, dessen Verhalten nur über § 831 Abs. 1 BGB zugerechnet werden kann. Insofern konkretisieren die §§ 16 f. NDAV die Unternehmerpflichten aus § 831 Abs. 1 Satz 2 BGB und legen fest, bezüglich welcher topoi der Unternehmer versuchen muss, sich von der Ersatzpflicht zu entlasten. Dies betrifft nicht nur Auswahl und Fortbildung des Verrichtungsgehilfen, sondern auch den Zugang zu Gerätschaften und Vorrichtungen, die zur Erledigung der Verrichtung benötigt werden. Hier einschlägig ist die Anleitung des Verrichtungsgehilfen: Vermag der Unternehmer nicht nachzuweisen, dass er den Verrichtungsgehilfen darauf geschult hat, wie mit Folgestörungen bei den Endgeräten umzugehen ist, oder hat er den Gehilfen nicht zumindest mit dem Anschlussnutzer zu übergebendem Informationsmaterial zur Störungsbeseitigung im Bereich der Kundenanlage ausgestattet, wird der Entlastungsbeweis misslingen. Insbesondere reicht zwecks Entlastung von Ersatzpflichten der allgemeine Nachweis nicht aus, der Verrichtungsgehilfe sei zwar geschult und instruiert worden, habe aber auf
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Vgl. oben I.3.
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Grund eines „Augenblickversagens“ vergessen, die notwendigen Hinweise mündlich oder schriftlich zu erteilen. 3. Zwischenergebnis Damit steht fest, dass der Netzbetreiber im Lichte der bürgerlichen Rechtslage und vorbehaltlich des Entlastungsbeweises auf Schadensersatz wegen Nebenpflichtverletzung (§ 280 Abs. 1 BGB) und zugleich in Anspruchskonkurrenz nach §§ 831 Abs. 1 BGB sowie § 823 Abs. 2 BGB iVm §§ 16, 17 NDAV haftet. Dies umfasst auch jeglichen Vermögensschaden, § 249 Abs. 1 BGB, den Eigentümer sowie Pächter erleiden. Dieses Ergebnis muss jedoch noch wegen der Besonderheiten hinterfragt werden, die § 18 NDAV bzgl. der Netzbetreiber-Haftung im Netzanschlussverhältnis festlegt. IV. Haftungsbegrenzung nach § 18 NDAV Die Verfassungsmäßigkeit dieser unterhalb eines formellen Gesetzes angesiedelten Norm wird soweit ersichtlich nicht angezweifelt. Bei § 18 NDAV handelt es sich nach allgemeiner Auffassung nicht um eine Anspruchsgrundlage,25 sondern um die Konkretisierung allgemeiner Haftungsgrundlagen des Bürgerlichen Rechts, wie der Wortlautverweis auf Vertrag, Anschlussnutzungsverhältnis sowie unerlaubte Handlung beweist (§ 18 Abs. 1 Satz 1 NDAV). Der systematische Zusammenhang mit Netzbetreiber-Pflichten sowie Anschlussnehmer-Rechten ist unübersehbar und verklammert das Recht des Netzanschlussvertrages mit dem Bürgerlichen Recht, dessen Pflichten wie oben gezeigt entsprechend konkretisiert werden und nach hiesiger Auffassung den Grundeigentümer als jederzeitigen potentiellen Anschlussnutzer einbeziehen.26 1. Verschuldensvermutung bei Vermögensschäden Der auf den ersten Blick als Haftungsnachweiserleichterung verbraucherschützend formulierte § 18 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 2 NDAV ordnet differenzierend eine abgestufte Haftung des Netzbetreibers wegen vermuteten Verschuldens (Vorsatz und Fahrlässigkeit) in Bezug auf Sachschäden und auf Vermögensschäden an; bei letzteren Schäden sind mittlere und leichte Fahrlässigkeit von der Vermutung ausgenommen. In Wirklichkeit handelt es sich jedenfalls aus vertraglicher Sicht um eine Haftungserleichterung im Sinne eines Netzbetreiberprivilegs,27 weil sich – im Vergleich zu § 280 Abs. 1 Satz 2 BGB – der Netzbetreiber bei Vorliegen eines Vermögensschadens lediglich in Bezug auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit entlasten 25
Vgl. dazu die Nachweise oben Fn. 3. Vgl. oben II. 27 So zu Recht Tamke, Haftungsprivilegierung für Netzbetreiber, a. a. O., S. 155 ff., 166 ff. 26
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muss, so dass der Anschlussnehmer im Übrigen (verschlechternd) den vollen Nachweis des Verschuldens (§ 276 Abs. 2 BGB) zu führen hat. Lediglich in Bezug auf § 823 Abs. 1 und 2 BGB kann sich § 18 Abs. 1 Satz 1 NDAV daher zu Gunsten des Anschlussnehmers auswirken, während § 831 Abs. 1 Satz 2 BGB durch § 18 Abs. 1 Satz 1 BGB teilweise „zurückgenommen“ wird. Die Verletzung von Hinweispflichten wie hier wird lediglich zu Vermögensschäden führen (Rechnung des Wartungsunternehmens). An Endgeräten des Anschlussnehmers einschl. der Heizungsanlage ist keine Substanzverletzung eingetreten. Weil ein Sachschaden deshalb nicht vorliegt, ist die Haftungsbegrenzung nach § 18 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 NDAV einschlägig. Damit muss sich der Netzbetreiber nur in Bezug auf Vorsatz sowie grobe Fahrlässigkeit vom Verschuldenserfordernis entlasten. Für § 831 Abs. 1 Satz 2 BGB gilt dies ebenfalls, da dort nicht wegen Verschuldens des Verrichtungsgehilfen, sondern allein wegen (Auswahl-, Bereitstellungs- oder Anleitungs-)Verschuldens des Unternehmers/Geschäftsherrn gehaftet wird. 2. Verschuldensnachweis bei „sonstiger Fahrlässigkeit“ Deshalb ist zu klären, ob die Nachweislast auf den Anschlussnutzer übergeht, wenn der Erfüllungs-/Verrichtungsgehilfe notwendige Hinweise zur Wiederinbetriebnahme eines Gasverbrauchsgerätes unterlässt. Da die Haftungsgrundlagen zum einen auf Verschulden des Gehilfen abstellen (§§ 280 Abs. 1, 278 BGB sowie § 823 Abs. 2 BGB), zum anderen aber ein Verschulden gerade des Unternehmers/Geschäftsherrn erfordern, ist für beide Sichtweisen das Verschuldenserfordernis separat zu untersuchen, zumal § 18 Abs. 1 Satz 1 NDAV die Beweislastverlagerung zum Nachteil des Anschlussnutzers sowohl in Bezug auf den Unternehmer als auch in Bezug auf den Gehilfen anordnet. a) Gehilfenverschulden Unterlässt ein Gehilfe wie gezeigt notwendige und zumutbare Hinweise auf die Wiederinbetriebnahme eines Endgerätes entgegen §§ 16, 17 NDAV,28 kommt vorsätzliches Handeln in Betracht. Dies setzt voraus, dass der Gehilfe mit Wissen und Wollen diejenige Handlung unterlässt, die im Einzelfall geboten war und für die auch eine Garantenpflicht bestand. Letztere ist hier zweifellos gegeben: Der Gehilfe hat vertragsgemäß im Netzanschlussverhältnis seines Geschäftsherrn/Schuldners eine Netzreparatur vorgenommen, so dass eine Garantenpflicht aus Vertrag sowie aus voran gegangenem gefährdendem Tun bestanden hat. Im Bewusstsein dieser besonderen Pflichtenstellung hat er jegliche Hilfestellung bei Wiederinbetriebnahme der Heizung verweigert und auf das Wartungsunternehmen verwiesen, obwohl ihm branchenerfahren bewusst gewesen ist, dass dies zu einem pekuniären Aufwand beim Anschlussnehmer führen würde. Weil ihm alle Umstände der bevor ste28
Vgl. die Einzelheiten oben I. und II.
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henden Schädigung bekannt gewesen sind, hat er durch den Verweis auf das Wartungsunternehmen den Vermögensschaden willentlich ausgelöst. Ein rechtmäßiges Handeln (verbale Hilfestellung) ist jedenfalls möglich und zumutbar gewesen, wenn lediglich ein bestimmter Heizungsknopf zu drücken war und sich deshalb der erforderliche Zeitaufwand auf weniger als eine Minute beschränkt hätte. Handelt es sich um ein Verbrauchsgerät, das für den Monteur neuartig ist und er deshalb aus eigenem Wissen zur Problemlösung nichts beitragen kann, dürfte gleichwohl grobe Fahrlässigkeit vorliegen, wenn er weder seine Instruktionen für solche Fälle konsultiert noch beim Netzbetreiber zurückfragt. Denn diese Erkenntnismöglichkeiten sind naheliegend und aus der Sicht eines Netzbetreiber-Monteurs oder –dienstleisters offensichtlich stets zu nutzen, so dass ein gebotenes Verhalten unterblieben ist, dessen Notwendigkeit jedem Monteur in gleicher Lage unmittelbar einleuchten musste.29 Damit steht fest, dass in Bezug auf ein mögliches Gehilfenverschulden der Entlastungsbeweis stets beim Schuldner/Unternehmer/Geschäftsherrn verbleibt, da in dieser Konstellation der Gehilfe zumindest grob fahrlässig handelt. Indem § 18 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 NDAVeben diese Nachweiskonstellation bei Vermögensschäden anordnet, muss der Netzbetreiber Umstände vortragen, die zur Entlastung vom Vorwurf vorsätzlichen bzw. grob fahrlässigen Verhaltens des Gehilfen geeignet sind. Gelingt dies nicht, steht der Haftung des Netzbetreibers aus §§ 280 Abs. 1, 278 BGB sowie § 823 Abs. 2 BGB (Schadensverteilung im Arbeitsverhältnis) – jeweils iVm § 18 Abs. 1 NDAV – dem Grunde nach nichts im Wege. b) Unternehmerverschulden § 831 Abs. 1 Satz 2 BGB (Haftungsentlastung bei Schädigung durch Verrichtungsgehilfen) i. V. m. § 18 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 NDAV erfordert eine Entlastung des Unternehmers/Netzbetreibers in Bezug auf eigenes Verschulden, wenn es zu einem Vermögensschaden kommt. Der Netzbetreiber wird insofern auf den Gegenstand von Schulungen des Gehilfen, auf Handbücher sowie Einzelweisungen Bezug nehmen, um eigenes vorsätzliches oder grob fahrlässiges Verhalten auszuschließen. Wenn wie hier auch kein schriftlicher Hinweis zur Kundeninformation dem Monteur übergeben wurde („Wiederinbetriebnahme von Gasverbrauchsgeräten“, angekreuzt der Unterabschnitt „Austausch des Druckreglers“), dürfte versäumt worden sein, was jedem Gasnetzbetreiber unmittelbar einleuchten muss, der Folgebeeinträchtigungen beim Kunden nach Reparaturen als „nicht unüblich“ einräumen muss. Damit liegt grobe Fahrlässigkeit vor. Deshalb bleibt es auch im Lichte von § 18 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 NDAV beim durch § 831 Abs. 1 Satz 2 BGB allgemein vorgegebenen Grundsatz der Entlastungspflicht des Netzbetreibers. Eine ansonsten erforderliche Darle29 Zur groben Fahrlässigkeit vgl. BGHZ 10, 14, 16; RGZ 141, 129, 131; BGH NJW-RR 2014, 90: Verletzung der verkehrserforderlichen Sorgfalt in besonders schwerem Maße, indem ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt werden und nicht beachtet wird, was jedem einleuchten muss; w. N. bei Palandt/Grüneberg, BGB, § 277 Rn. 5.
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gung sowie Beweisantritt seitens des Anschlussnutzers zum Thema „Verschulden des Unternehmers“ entfällt daher. 3. Kein Bagatellschaden § 18 Abs. 6 NDAV ordnet für Bagatellschäden unterhalb der Schwelle von 30 E einen Wegfall der Netzbetreiber-Ersatzpflicht nur dann an, wenn mittlere oder leichte Fahrlässigkeit den Verschuldensvorwurf charakterisiert. Weil es sich insofern nicht um einen „Selbstbehalt“ des Anschlussnehmers handelt und zudem der Vermögensschaden zumindest grob fahrlässig herbei geführt wurde (Gehilfe und Unternehmer), besteht kein Haftungsausschluss nach jener Vorschrift. 4. Haftungsbegrenzung auf 5.000 E Eine weitere Haftungsgrenze sieht § 18 Abs. 4 NDAV immer dann vor, wenn ein grob fahrlässig verursachter Vermögensschaden den Grenzbetrag von 5.000,– E im einzelnen Haftungsfall überschreitet. Da dies hier nicht der Fall ist, greift auch § 18 Abs. 4 NDAV nicht ein. V. Zusammenfassung 1. Die Haftung des Netzbetreibers im Gasnetzanschluss- sowie im Anschlussnutzungsverhältnis bestimmt sich nach § 280 Abs. 1 BGB einerseits und §§ 823 ff. BGB andererseits. § 18 NDAV modifiziert diese Haftung für das Anschlussnutzungsverhältnis iS eines Haftungsprivilegs zu Gunsten des Netzbetreibers, bildet aber keine eigenständige Haftungsgrundlage. Rechte aus dem Netzanschlussverhältnis können sowohl der Anschlussnutzer als auch der Grundeigentümer herleiten, vgl. § 1 Abs. 2 NDAV. Nach dem Gesetzeswortlaut beschränkt sich die Haftungsmodifikation aus § 18 NDAV jedoch auf das Verhältnis zum Anschlussnutzer, der Gas entnimmt und verbraucht, z. B. Pächter, Mieter, Nießbrauchsberechtigte (§ 3 NDAV). 2. Gleichwohl wird man den Grundeigentümer als zumindest potentiellen Anschlussnutzer in das Netznutzungsverhältnis einbeziehen müssen. Denn Kundenanlage und wichtige Verbrauchsgeräte wie die Heizung stehen in seinem Eigentum. Bei Leerstand infolge Mieterwechsels wird der Eigentümer selbst Anschlussnutzer. Die Netzbetreiber-Pflichten im Anschlussnutzungsverhältnis wird man ohnehin auch auf den Grundeigentümer anwenden müssen; denn schon zum Schutz seines Eigentums kann dem Eigentümer nicht sein besonderes Interesse an einer einwandfreien Funktion des Gasnetzanschlusses abgesprochen werden. Die Einbeziehung des Grundeigentümers in das Anschlussnutzungsverhältnis vermeidet zudem ein unkontrolliertes „Oszillieren“ dieses Rechtsverhältnisses zwischen Pächter usw. einerseits sowie Eigentümer andererseits.
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3. Die §§ 16 und 17 NDAV konkretisieren die Pflichten des Gasnetzbetreibers im Anschlussnutzungsverhältnis (jederzeitige Nutzungsmöglichkeit, gleich bleibender Netzdruck, Störungsbeseitigung ohne schuldhaftes Zögern, nachträgliche Informationspflicht). Dies beinhaltet iS von § 241 Abs. 2 BGB die Verpflichtung, Hinweise zur Beseitigung typischer Folgestörungen von Gasverbrauchsgeräten trotz ordnungsgemäßer Reparatur schriftlich oder mündlich bereit zu halten. Dabei bildet die jederzeitige Nutzungsmöglichkeit des Netzes die Messlatte bei Konkretisierung dieser Pflichten. 4. Damit stehen zugleich diejenigen Netzbetreiber-Verkehrspflichten fest, die im Recht der unerlaubten Handlung einschl. § 831 Abs. 1 BGB zu prüfen sind: Der Netzbetreiber vermag sich nach dessen Satz 2 nur zu entlasten, wenn er Instruktionen zur Beseitigung von Folgestörungen – möglichst auch in gedruckter Form – bereitstellt und den Monteur allgemein anweist, Hilfestellung zu leisten; ein bloßer Verweis auf das Wartungsunternehmen ist im Regelfall nicht geeignet, eine Verkehrspflichtverletzung zu vermeiden. 5. Die Vorgaben der §§ 16 und 17 NDAV bezwecken den Schutz zumindest der Anschlussnutzer und damit konkreter Dritter iSv § 823 Abs. 2 BGB. Deshalb bilden sie Schutzgesetze nach § 823 Abs. 2 BGB. Hilft der Netzbetreiber bzw. sein Erfüllungs- und Verrichtungsgehilfe nicht bei der Beseitigung von Folgestörungen im Bereich der Kundenanlage, wird ein Entlastungsbeweis nach §§ 280 Abs. 1 Satz 2, 278 bzw. § 831 Abs. 1 Satz 2 BGB regelmäßig misslingen. 6. Grenzen findet die Pflicht zur Unterstützung des (aktuellen/potentiellen) Anschlussnutzers in Bezug auf Besonderheiten von Gasverbrauchsgeräten (besondere Gefahrenlage) sowie alle dem Netzbetreiber/Monteur unbekannten neuartigen Geräte. Den Maßstab zur Abgrenzung bilden Möglichkeit und Zumutbarkeit einer Hilfestellung nach Risiko und Zeitaufwand im Einzelfall. Eine Reparatur von Gasverbrauchsgeräten schuldet der Netzbetreiber/Monteur selbstverständlich nicht, selbst wenn sich der Defekt als Folge der Anschlussstörung darstellt. 7. Innerhalb einer Schadensmarge zwischen 30,– und 5000,– E wird sich der Netzbetreiber von vermutetem eigenem oder fremdem Verschulden regelmäßig selbst dann nicht entlasten können, wenn lediglich grob fahrlässiges Verhalten vorliegt. Denn in diesem Umfang wird nach § 18 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 NDAV das Verschulden des Netzbetreibers selbst in Bezug auf eingetretene bloße Vermögensschäden vermutet.
Die Veränderungen des (Sportrechts-)Lebens durch „COVID-19“ Von Urs Scherrer I. Aufwärmen Sport, ob individuell praktiziert oder organisiert betrieben, ist ein Evergreen. Seine Wurzeln reichen Jahrhunderte zurück. Er war, erstmals unmissverständlich urkundlich erwähnt im Rahmen der vom römischen Satirendichter Juvenal beschriebenen Zirkusspiele,1 ein in der Folge prävalierendes Thema und wurde im Laufe der Jahrhunderte von Politikern und Führern aller Schattierungen zu Zwecken der körperlichen, teils militärischen Ertüchtigung und zu Propagandazwecken eingesetzt und sogar missbraucht.2 Er wird in der Moderne der Freizeit- und Lifestyle-Branche, die unter den Sammelbegriff „Bespassungsindustrie“ subsumiert werden kann, zugerechnet. Obwohl der Sport noch heute dem Grundgedanken des „disportare“3 verpflichtet ist, bilden die Sportregeln das zentrale Element der Sportausübung. Auch der Freizeitsport wäre ohne Regeln, welche die Teilnehmer am Spiel beachten sollen und müssen, nur halb so attraktiv. Die regelkonform erzielte sportliche Leistung widerspiegelt das Erbrachte untrüglich. An den Resultaten ist der Wert dieser Leistung und des Sportes erkennbar.4 Es verwundert daher nicht, dass Olympische Spiele der Antike nach fast so strengen Regeln abliefen wie die Spiele der Neuzeit.5 Sport dient einerseits der meist freudvollen oder asketisch motivierten körperlichen Ertüchtigung, andererseits gilt er als organisierter Wettkampf, der unter Einhaltung der Regeln wenig „Spass“ erträgt und Leistung abverlangt. Damit der Sport fair und korrekt abläuft, hat er sich weitgehend 1 Panem et circenses – Brot und Spiele; vgl. zur Geschichte des Sports und auch des Sportrechts Hilpert, Die Geschichte des Sportrechts, Schriftenreihe Causa Sport, Bd. 4, Stuttgart/Wien/Zürich 2011. 2 Hingewiesen sei etwa auf die Hintergründe der Olympischen Winterspiele 1936 in Garmisch-Partenkirchen oder der Olympischen Sommerspiele 1936 in Berlin; bezüglich der Spiele in Garmisch-Partenkirchen vgl. etwa Ostler/Schwarz/Schwarzmüller/Wörndle, Die Kehrseite der Medaille, IV. Olympische Winterspiele in Garmisch-Partenkirchen 1936, Regensburg 2016; Causa Sport 2/2018, S. 229 f. 3 Lateinisch für: Sich zerstreuen; zum Begriff „Sport“ vgl. Scherrer et al.: Sportrecht, Eine Begriffserläuterung, 3. Aufl., Zürich 2014, S. 299 f. 4 Frei nach dem Bibelzitat: „An ihren Taten sollt ihr sie erkennen“. 5 Hilpert, Die Olympischen Spiele der Antike und Moderne im Rechtsvergleich, Schriftenreihe Causa Sport, Bd. 9, Stuttgart/Zürich/Wien 2014.
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ein eigenes Regelwerk gegeben, das durchzusetzen ist; so, wie der Staat ein Normengefüge schafft, das nur einen Wert aufweist, wenn es durchgesetzt wird. Eine weitere Parallele im Vergleich zwischen staatlichen Normengefügen und sportlichen Regelwerken ist evident: Der staatliche Richter hat die staatlichen Normen anzuwenden und durchzusetzen, dem Schiedsrichter obliegt die Durchsetzung der Sportregeln auf dem Sportplatz, auf dem der organisierte Wettkampf stattfindet.6 Der organisierte Sport ist heute ein durchgestyltes Segment, das auf drei Säulen basiert: Sportliche Aktivität, Medien und Wirtschaft. Oder simplifiziert auf die in unseren Breitengraden herrschende Begeisterung für Fussball auf diesen gemünzt: Sport ist Fussball, Fernsehen und Flaschenbier.7 Für den versierten, sportrechtlich äußerst interessierten Wissenschafter Klaus Vieweg war und ist der Sport auf zwei Ebenen von weitreichender Bedeutung, nicht zuletzt deshalb, weil er als Aktiv-Sportler über einen Erfahrungsschatz verfügt, den oft harten Sport am eigenen Körper erfahren hat: Der Geehrte war also nie ein reiner „Sport(rechts)-Theoretiker“. Bezüglich der aktiven, sportlichen Betätigung sind seine Wurzeln im Turnen zu orten. Wenn auch diese Sportart nicht gerade über den Attraktivitätsgrad etwa des Fussballs in Deutschland verfügt,8 kann das Turnen durchaus als telegene „Publikumssportart“ qualifiziert werden. Insbesondere in Deutschland haben Turnerinnen und Turner immer wieder für olympisches Edelmetall und weltmeisterliche Weihen gesorgt. Soweit ging die Aktivkarriere von Klaus Vieweg verständlicherweise nicht – und er strebte solchen Ruhm und derartige Ehre auch nie an. Doch das Turnen war für ihn, den filigran-sportlichen Techniker, seit jeher eine permanent wichtige, körperliche Betätigung, die er stets unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit sah und auch pflegte. So hielt er es offensichtlich weitgehend mit Joachim Ringelnatz,9 welcher den wichtigen Leitspruch für Turner prägte: „Von der Wiege bis zur Urne, turne, turne, turne.“. Die Omnipräsenz des Turnens war für den mit dieser Festschrift Geehrten stets wichtig und bildete für ihn fast eine Parallelwelt; Klaus Vieweg wird mit Blick auf die Bekleidungsvorschriften im Turnsport das Bonmot zugeschrieben, dass ein richtiger Turner unter der Anzugshose stets auch eine Turnhose tragen würde. Sein umfassendes, sportrechtliches Werk schuf Klaus Vieweg eben in der Anzugshose am Schreibtisch – seiner sportlichen Leidenschaft frönte er dennoch immer wieder, soweit es die Arbeit, die er in jeder Hinsicht mit der Akribie eines Turners zu bewältigen pflegte, überhaupt ermöglichte. 6
So schon Kummer, Spielregel und Rechtsregel, Bern 1973. Sog. „FFF-Theorie“; von Appen, in: Kainz/Scherrer/Werner, Sportfinanzierung und Sportwetten, Reflexionen zu Phänomenen, Möglichkeiten und Gefahren im kommerziellen Sport, Schriftenreihe Causa Sport, Bd. 6, Stuttgart/Wien/Zürich 2012, S. 63 ff. 8 Aber immerhin im Sinne von Friedrich Ludwig Jahn, auch „Turnvater Jahn“ genannt; dieser, 1852 verstorben, verstand den Sport durchaus auch als Mittel der körperlichen Ertüchtigung mit Blick z. B. auf den Befreiungskampf gegen Napoleon Bonapartes Besetzungsaktivitäten. 9 Joachim Ringelnatz, eigentlich Hans Bötticher, 1883 – 1934, war ein Schriftsteller, Kabarettist und Maler. 7
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Klaus Vieweg befasste sich in seinem umfassenden juristischen Werk beileibe nicht (nur) etwa mit Bekleidungsvorschriften, also den entsprechenden Normen, im Turnen; sondern bereits in seiner Habilitationsschrift untersuchte er differenziert das Normsetzungsgefüge und die Normanwendung im Rahmen deutscher und internationaler Sportverbände.10 Eingehend fokussierte er während seiner ganzen akademischen Laufbahn auch die verschiedensten Facetten des Sportrechts.11 Das Sportrecht als Querschnittmaterie wird stets den aktuellen Gegebenheiten gerecht, bzw. muss diesen gerecht werden. Bis 2019 hat sich diese wissenschaftliche Sonderdisziplin kontinuierlich entwickelt. Der Sport, insbesondere der organisierte Sport, mutierte zum gigantischen Wirtschaftsfaktor, der eben von der „FFF-Theorie“12 beherrscht wurde und ihr auch entsprach. Die Grenze zwischen menschlichen Primärbedürfnissen (Verpflegung, Wohnung, Arbeit) und Bespaßungsebene (Unterhaltung und Lifestyle) wurde teilweise verwischt, weil letztere eben auch zum Broterwerb für viele und zum bedeutenden Wirtschaftsfaktor wurde. Das verlief in dieser Weise bis anfangs 2020, solange, bis „COVID-19“ unser Leben in seinen verschiedensten Facetten total veränderte, und damit auch den Sport, und das Sportrecht. Eine unheimliche Pandemie sorgt(e) dafür, dass derzeit der organisierte Sport praktisch zum Erliegen gekommen ist.13 Der Kollaps des gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Lebens ist auch für den Zusammenbruch des Sports, der im Moment weitgehend nur noch aus wirtschaftlichen Gründen am Leben erhalten wird und in einer regelrechten „Blase“ stattfindet, verantwortlich. In dieser Situation stellen sich Rechtsfragen des Sports auf einmal ganz anders als bis anhin.14 Noch nie zeigte sich die Interdependenz zwischen den staatlichen Normengefügen und den Vorgaben und (rechtlichen) Rahmenbedingungen des organisierten Sports wie heute. Diese Rahmenbedingungen haben sich global verändert und praktisch alle Länder dieser Welt erfasst. Mitten in der sog. „zweiten Corona-Welle“ ist an dieser Stelle der grundsätzliche Versuch zu wagen, einen Blick auf die allgemeine Krisen-Lage zu werfen und die Auswirkungen dieser veränderten Rahmenbedingungen auf den organisierten Sport und seine Funktionsweisen aufzuzeigen, wohlwissend, dass sich die Situation auch kurzfristig wieder verändern kann. Obwohl „Prinzipien Hoffnung und Optimismus“ auch Triebfeder des Sports darstellen, sei festgehalten, dass derzeit nicht mit einem raschen Abflauen der Pandemie zu rechnen ist und der zweite „Lock10 Habilitationsschrift von Klaus Vieweg, Normsetzung und -anwendung deutscher und internationaler Verbände, Berlin 1990. Auch im Rahmen dieser Arbeit wird – dieser Hinweis sei dem Autor als Schweizer an dieser Stelle erlaubt – die Bedeutung der Schweiz als Sitz wichtiger internationaler Sportorganisationen und -verbände offensichtlich: Riemer, Sportrechts-Weltmacht Schweiz, in: Causa Sport 2004, S. 106 f. 11 Vgl. hierzu etwa sein Werk Inspirationen des Sportrechts, Beiträge zum Sportrecht, Bd. 47, Berlin 2016; „Causa Sport“ 4/2016, S. 405 f. 12 Vgl. Fn. 7. 13 Stand beim Abschluss dieses Beitrages anfangs November 2020. 14 Vgl. etwa Jäggy et al., in: COVID-19, Ein Panorama der Rechtsfragen zur CoronaKrise, Basel 2020, S. 219 ff.; Causa Sport 3/2020, S. 406 ff.
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down“ auf den Sport wiederum wie ein gewaltiger Impakt wirkt, dem kaum etwas entgegengehalten werden kann; dieser erneute „Lockdown“ wird geradezu schönfärberisch etwa auch „Lockdown light“ genannt. Immerhin könn(t)en die Erfahrungen nach dem ersten „Lockdown“ im Frühjahr 2020 in die derzeitigen Beurteilungen auf allen Ebenen miteinbezogen werden. Aktuell und zentral stellt sich verständlicherweise die Frage, die derzeit niemand beantworten kann: Wann ist der Spuk (endlich) vorbei? Eine globale „Corona-Müdigkeit“ macht sich weltweit breit. Die Hoffnung auf einen Impfstoff, welcher der Pandemie ein Ende bereiten könnte, besteht zwar; in zeitlicher Hinsicht herrscht jedoch Ungewissheit. Nachfolgend ist also aufgrund der „FFF-Theorie“15 aufzuzeigen, wie sich die Lage im Moment präsentiert und welche Auswirkungen sie auf den Sport aufweist; letztlich seien die Fragestellungen im aktuellen Sportrecht angesprochen. II. Die Trilogie Flaschenbier, Fernsehen und Fussball Grundsätzlich ist mit Bezug auf den modernen Sport von der Trilogie Flaschenbier, Fernsehen und Fussball auszugehen. Der Fußball steht auch für den Sport im Allgemeinen, das Fernsehen für die Medien und das Flaschenbier für die Wirtschaft. Auf diese Säulen stützt sich der moderne Sport ab. Nachfolgend wird bezüglich dieser Trinität, wie sie in Anbetracht des geradezu mystischen Stellenwerts vor allem des Fußballs in der Gesellschaft auch genannt wird, eine etwas andere Untersuchungs-Abfolge vorgenommen, weshalb mit der Wirtschaft (II.1.) begonnen werden soll, zu den Medien (II.2.) übergeleitet wird und letztlich der Sport, um den es in dieser Untersuchung geht, beleuchtet werden soll (II.3.). 1. Flaschenbier Die Wirtschaft ist von der Pandemie insgesamt stark betroffen; einige Zweige mehr, andere weniger oder gar nicht. Sie wird von den staatlich verordneten Maßnahmen eingegrenzt, mit Blick auf die Gewährleistung der Grundversorgung (Verpflegung) weniger, bezüglich der Bespaßung mehr. Oberste Maxime aller staatlicher Anordnungen mit Blick auf „Corona“ bildet das Bestreben, die Menschen voneinander fern zu halten. Distanzhalten lautet das Gebot bei der Virus-Bekämpfung. Homo homini lupus also. – Würde dieser Grundsatz des Abstands- und Distanzhaltens durchwegs und konsequent befolgt, wäre der Seuche wohl rasch(er) Herr zu werden. Doch die vielbeschworenen, individuellen Attribute Eigenverantwortung, Disziplin und Solidarität scheinen für den Menschen weitgehend Fremdwörter zu sein. Das Individuum foutiert sich teilweise um diese Vorgaben, wohl auch deshalb, weil das Virus „COVID-19“ ein regelrechter, unsichtbarer „Feind“ darstellt, der – vermeintlich – zufolge Nicht-Sichtbarkeit inexistent zu sein scheint, frei nach der Bibel: „Was 15
Vgl. Fn. 7.
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ich nicht sehe, glaube ich nicht“.16 Die Regierungen der Welt meinten, die erste „Corona-Welle“ im Frühjahr 2020 durch ein Herunterfahren des öffentlichen Lebens und vor allem der Wirtschaft brechen zu können. Das gelang nicht, wohl auch deshalb nicht, weil sich die Regierenden nicht oder zu wenig bewusst waren, dass der Kampf gegen das Virus einem Krieg gegen einen unberechenbaren Feind ähnelt. Die Politik entpuppte sich als kriegsuntauglich und agierte weitgehend unüberlegt, panisch und unglaubwürdig. Fehlt einer politischen Führung die Glaubwürdigkeit, sind die Regierten verloren.17 Letztlich wurde klar, dass Regierungen und Politiker weitgehended unfähig waren, den Kampf gegen das Virus wirksam zu führen. Dies vor allem auch deshalb, weil sich zwischen medizinischen Notwendigkeiten und wirtschaftlichen Wunschvorstellungen Spannungsfelder auftaten, die letztlich zu chaotischen Verhältnissen und Panikreaktionen seitens der Regierenden führten. Diese standen unter wirtschaftlichem Druck und ließen sich von Interessengruppierungen und Lobbyisten aller Art zu insbesondere „lauwarmen“ Aktivitäten nötigen, die dann zwar als demokratisch legitimierte Kompromisse dargestellt wurden, jedoch die Krise nur verschärften. Allein, dem Virus war so jedenfalls nicht beizukommen. Krisenbewältigung erträgt keine Kompromisse. Es hat sich ergeben und gezeigt, dass viele demokratisch installierte Regierungen in Europa ungeeignet waren, den Kampf gegen „COVID-19“ gemäß virologischen und medizinischen Notwendigkeiten zu führen. Sogar etablierte Medien, wie etwa die Neue Zürcher Zeitung (NZZ), sprachen vom „Staatsversagen im Zeichen von Corona“.18 Das führte dazu, dass sich die Bevölkerung gegen die Staatsmacht aufzulehnen begann und diese teils militant bekämpfte.19 Durch Unfähigkeit der Regierungen und deren Unvermögen, der Krise wirksam zu begegnen, mutierten die Staaten und die staatlichen Autoritäten zu Feindbildern der Bevölkerung. Diese wurden für die Einschränkungen des öffentlichen Lebens und der Wirtschaft direkt verantwortlich gemacht. Auch die Freizeitund Spaßgesellschaft artikulierte sich entsprechend und kämpfte dafür, dass ihr unter anderem auch der unbeschwerte Sport mit entsprechenden Zuschauerkulissen zurückgegeben werde. Der Staat als „Sündenbock“, der so hingestellt wurde, als würde er der Bürger Freiheit berauben und nicht eine Seuche bekämpfen, gelangte an seine Grenzen. Diese Entwicklung war das Resultat des Unvermögens der Regie-
16 So der Apostel Thomas, der „Ungläubige“, der nicht glauben und die Wundmale am Körper des Gekreuzigten sehen und seine Hand in die Seite legen wollte. 17 In der Schweiz wurde im Frühjahr 2020 etwa die Wirksamkeit von Schutzmasken von der Regierung geleugnet, vor allem deshalb, weil für die Bevölkerung viel zu wenig Masken verfügbar waren. Danach war es unmöglich, die Bevölkerung plötzlich vom Nutzen von Schutzmasken, die nun in ausreichender Zahl vorhanden sind, zu überzeugen. Die schweizerische Landesregierung hatte mit dieser Unredlichkeit jede Glaubwürdigkeit verspielt. 18 NZZ vom 28. März 2020, S. 29; interessanterweise erschien dieser Beitrag im Feuilleton-Teil. 19 So etwa verheerend in Stuttgart im Sommer 2020, als das „Partyvolk“ zu einem Saubannerzug durch die schwäbische Metropole ansetzte, aber auch anlässlich vieler Demonstrationen gegen „Corona“-Massnahmen in mehreren Ländern.
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renden, die Krise glaubwürdig und kompromisslos zu meistern.20 Der Aktionismus von Seiten des Staates war durch Chaos, Panik und Planlosigkeit geprägt. Der Soziologe und Historiker Rainer Zitelmann brachte es in einem Beitrag in der NZZ auf den Punkt: „Wo der Staat stark sein sollte, ist er schwach, und wo er schwach sein sollte, ist er stark.“.21 Diese Entwicklungen und Gegebenheiten demaskierten den Staat als solchen radikal; so, wie es sich mit des Kaisers neuen Kleidern verhielt oder mit Potemkin und seinen Dörfern. Der Wohlfahrtsstaat wurde in der Krise sogar zum „Super-Staat“,22 der für die Bedürfnisse aller Bürgerinnen und Bürger, auch bezüglich der Bespaßungsebene, zuständig zu sein hat. So wurden in der Schweiz kurz nach dem „Lockdown“ im März 2020 Milliarden von Franken über der in Mitleidenschaft geratenen Wirtschaft abgeworfen; man sprach vom sog. „Helikoptergeld“,23 und so wurde letztlich der Weg zur Einführung eines künftigen, bedingungslosen Grundeinkommens geebnet, mit dem der Kommunismus dann auch in unseren Breitengraden eingeführt wäre. Auch der Sport, das sei bereits an dieser Stelle erwähnt, wird entsprechend unterstützt und künftig ebenfalls mit Mitteln des Staates getragen werden. Legitimiert wird dieser Staatseingriff damit, dass der Sport vielen Menschen Arbeit ermögliche.24 Der „Super-Staat“ war zwar bis jetzt nicht in der Lage, der Verbreitung des Virus nachhaltig Einhalt zu gebieten, er profilierte sich allerdings als aus dem Ruder gelaufener Wohlfahrtsstaat aller Bürgerinnen und Bürger und festigte in der Krise diese Position. Weil die Regierenden auch gewahr wurden, dass das vom Staat verteilte Geld von irgendjemandem erwirtschaftet werden sollte, wurde die effiziente Seuchenbekämpfung auf dem Altar des „Mammon“25 geopfert; gleichzeitig wurde der „Klassenkampf“ neu lanciert. Das Unvermögen der Politik im Kampf gegen „Corona“ führte zum sich anbahnenden „zweiten Lockdown“, schönfärberisch „Lockdown light“ genannt, und dazu, dass im Herbst 2020 die „zweite Welle“ von „Corona“ nicht mehr abzuwenden war. Konzept- und hilflos übten sich die Regierenden in Durchhalteparolen. Zur (minimalen) Ehrenrettung der Re20 Entsprechend bildete das Abflauen der Krise nach dem „Lockdown“ im Frühjahr 2020 der Nährboden für das Desaster, das schliesslich zur „zweiten Welle“ im Herbst 2020 mit allen Folgen eines weiteren „Lockdown“ führte; vgl. auch Causa Sport 2/2020, S. 139 ff. 21 NZZ vom 28. März 2020, S. 29. 22 Zu Begriff und Funktionen des Staates vgl. grundsätzlich Tschannen, Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 4. Aufl., Bern 2016. 23 In Deutschland wurde der Reisekonzern TUI schon einmal mit Staatshilfen in Milliardenhöhe gestützt; damit wurde auf diesem Weg im Rahmen der Unterstützung der Bespaßungsindustrie wohl ein faktisches Grundrecht auf Urlaub geschaffen. Politiker haben es seit jeher verstanden, sich mit Zuwendungen aller Art im Gespräch und so das Wahl-Volk bei Laune zu halten. Diese Vorgehensweise wird aktuell im Sport auch als „FIFA-Prinzip“ bezeichnet; durch Geldverteilung können die begünstigten Mitgliedsverbände entsprechend eingestimmt werden. 24 Was wiederum zu Diskussionen führt, weil doch auch die Meinung vorherrscht, dass es keine Staatsaufgabe sein könne, hochbezahlte Fussball-Professionals, die sog. „Millionäre in kurzen Hosen“, zu alimentieren. 25 Dieser Begriff geht auf die Bibel zurück und ist grundsätzlich negativ besetzt; „Mammon“ wird heute weitgehend mit „Geld“ gleichgesetzt.
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gierenden ist bei dieser Lagebeurteilung allerdings zu berücksichtigen, dass sich die Bevölkerung weitgehend renitent, querulatorisch und unsolidarisch verhält. Mit konsequenter Wahrnehmung der Eigenverantwortung, mit Disziplin und mit solidarischem Verhalten ließe sich die Krise weitgehend meistern. Allein die staatliche, omnipräsente Allmacht lässt das verantwortungsbewusste Individuum an den Rand drücken und schafft Raum für individuelle Verantwortungslosigkeit. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass während der Pandemie das Bestreben, die Wirtschaft möglichst nicht zu beeinträchtigen, zu einem Desaster geführt hat, weshalb die „zweite Welle“ nicht mehr abgewendet werden konnte. In diesem Umfeld wurde der Sport als Teil der Wirtschaft massiv beeinträchtigt; dass er aufgrund medizinischer Notwendigkeiten eingeschränkt werden musste, scheint evident zu sein. Der „Super-Staat“ wird diese Impakte auf das Sport-Business allerdings auffangen. 2. Fernsehen Noch vor etwas mehr als dreißig Jahren war der Sport eine konventionelle Angelegenheit, welche aber durchaus auch wirtschaftliche Implikationen aufwies. Mit dem Aufkommen des Privatfernsehens und der rasch steigenden Nachfrage nach dem „Produkt Sport“ stiegen die Preise für die „sportliche Ware“ immer rasanter. Mehr Nachfrager standen in etwa den gleichen Anbietern, vornehmlich seitens des Fussballs oder des Automobilrennsports, gegenüber. So nahm in den 90er-Jahren das immer stärker boomende Geschäft mit Fernsehrechten seinen Anfang. Das Fernsehen und die Medien wurden für den Sport immer bedeutsamer. Sie ließen ihn zum florierenden Geschäft werden. Die Formel 1 sowie der Weltfußballverband FIFA oder der Europäische Fußballverband UEFA oder auch das Internationale Olympische Komitee (IOK) steigerten ihre Umsätze gigantisch;26 diese Verbände und Organisationen generierten im Rahmen der Struktur Schweizerischer Vereine27 immer umfassendere Mittel zur idealen, nicht-wirtschaftlichen Zweckverfolgung.28 Das Medium Fernsehen bescherte dem organisierten Sport wirtschaftlich rosige Zeiten. Durch „COVID-19“ sind aber auch hier Einbußen vorgezeichnet. Im Moment funktioniert das Rechteverwertungsgeschäft dank längerfristiger Verträge und „Geisterspiele“ immer noch, doch sollte die Krise länger andauern, so wird auch das Rechteverwertungsgeschäft auf dem angestammten Niveau nicht zu halten sein. Derzeit werden z. B. im Fussball Spiele ohne oder mit wenigen Zuschauern nur noch ausgetragen, um die gegenüber dem Fernsehen eingegangenen Verpflichtungen, nämlich Spiele auszutragen, nicht zu verletzten. Mit großen Sorgen blickt 26
Vgl. dazu etwa Scherrer et al. (Fn. 3), S. 365 und S. 269 f.; Scherrer/Zölch, Sportveranstaltungen – im Fokus von Recht und Wirtschaft, Zürich 2004. 27 Art. 60 ff. des Schweizerischen Zivilgesetzbuches, ZGB. 28 Scherrer/Brägger, Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch I, Basel 2018, Rz. 13 zu Art. 61 ZGB, S. 516.
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etwa derzeit das IOK in Richtung Japan, wo im Sommer 2021 die 2020 verschobenen Olympischen Spiele in Tokio nachgeholt werden sollten; im Moment glaubt niemand so richtig daran, dass die Wettkämpfe in Tokio 2021 abgehalten werden können. Die UEFA bangt um die Durchführung der ebenfalls verschobenen Fussball-Europameisterschaft, die im Juni und Juli 2021 an zwölf Standorten ausgetragen werden sollte. Weniger unter zeitlichem Druck steht der Weltfussballverband FIFA, der im Winter 2022 die Fussball-WM-Endrunde in Katar durchführen will. Fällt nur eine dieser Veranstaltungen weg, bedeutet dies für den Sport (und die Wirtschaft) unermessliche Verluste. Kein Sport, keine Verwertungserlöse – so einfach präsentiert sich die Rechnung aufgrund der aktuellen Lage. Der „Faktor Zuschauer“ im Rahmen von Sportveranstaltungen differiert wirtschaftlich je nach Sportart und Wettkampf. Eine Spezialität bildet die „Formel 1“, die, wie aktuell belegt wird, nicht groß vom Zuschauer vor Ort abhängig ist. Für die Rennen ist der mittelbare Zuschauer, zu Hause vor dem Fernseher, relevant. Dadurch erhärtet sich die alte „Formel-1“Wahrheit, dass der Zuschauer vor dem TV-Apparat mehr von den Rennen hat als derjenige an der Rennstrecke, sofern man nicht im VIP-Bereich verkehrt. Bedeutsam für den Sport ist zweifelsfrei das Fernsehen mit dem gesamten Rechteverwertungs-Geschäft. Auch die „Neuen Medien“29 sind hier zu nennen. Für den Sport bedeutungsvoll sind jedoch immer noch die gedruckten Medien, vor allem deshalb, um der Werbewirtschaft eine Plattform zu gewähren und um die Bedeutung des Sportes auf dieser Ebene hoch- und präsent zu halten. Nicht nur wegen „Corona“ wird dem Sport in den Print-Medien allerdings immer weniger Raum zugestanden. Die aktuelle Sport-Berichterstattung, selbstverständlich auch im Fernsehen zusammengeschrumpft, findet kaum mehr statt. Allerdings ist festzuhalten, dass diese Medien bereits vor „Corona“ an Bedeutung verloren haben. Das hängt auch mit der Positionierungs-Problematik der Medien im Allgemeinen zusammen. Wohl zutreffend ist das bei dieser Diskussion immer wieder ins Feld geführte Argument, dass nicht nur die jungen Medienkonsumenten in das digitale Segment abwandern. Somit wird die aktuelle Berichterstattung weitgehend aus den konventionellen Medien verbannt. Insbesondere die Print-Medien haben zudem seit geraumer Zeit mit einem Glaubwürdigkeitsproblem zu kämpfen. Grund hierfür sind u. a. Vorkommnisse, wie sie etwa das deutsche Nachrichten-Magazin Der Spiegel erlebt hat. Der mit Preisen aller Schattierungen ausgezeichnete Journalist Claas Relotius entpuppte sich 2018 als betrügender Geschichten-Fälscher. Er schrieb nicht nur für den „Spiegel“, sondern auch für andere, renommierte Titel, so etwa auch für die NZZ. Schwierige Zeiten für die Medien brachen schon vor der „Affäre Relotius“ an. Immer mehr entfernte sich der traditionelle Print-Journalismus vom ehernen Grundsatz, dass Fakten zu vermitteln und allfällige Kommentare und Wertungen separat niederzuschreiben seien. Auch in der Spiegel-Redaktion schien die oberste Maxime im Journalismus, die vom Spiegel-Gründer und -Herausgeber Rudolf Augstein geprägt worden war, in Vergessenheit geraten zu sein. „Sagen, was ist“, so lautete das „Credo“ des Spiegel-Pioniers, 29 Darunter werden vorwiegend elektronische Geräte mit Zugang zum Internet verstanden, wie Computer, Tablets, Smartphones.
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von dem sich die Spiegel-Redaktion längst entfernt hatte. Heute dominiert der für Betrügereien und Schummeleien anfällige „Geschichten-Journalismus“, meist verbunden mit ideologisch-moralischen Stossrichtungen. Die „Story“ mit insbesondere moralischem „touch“ steht im Vordergrund. In diese Richtung tendiert immer mehr beispielsweise auch die Neue Zürcher Zeitung, welche der Aktualität fast gänzlich entsagt und sich vor allem als „Meinungs“-Forum positioniert hat. Wichtig ist dem Blatt das „Sezieren“ von Vorkommnissen und Ereignissen, was in einer Werbekampagne sich dann etwa so niederschlägt: „Wer die Welt zu einfach malt, vertraut den Menschen nicht“.30 Weshalb denn einfach, wenn es auch kompliziert geht, könnte an dieser Stelle wohl das folgerichtige Fazit gezogen werden. Auf den Sport, konkret auf den Fussball gemünzt, hieße das entsprechend: Obwohl die Attraktivität dieses Spiels auf Einfachheit basiert und für jedermann nachvollziehbar ist (und sich deshalb dieser großen Beliebtheit erfreut), müsste nach NZZ hier kompliziert und komplex analysiert werden. Die Leserschaft will allerdings weder betrogen noch ideologisiert oder moralisch unter Druck gesetzt werden; auch sollten die Medien primär das, was ist, thematisieren, und nicht das, was sein sollte oder müsste. Wegen solcher Irrungen und Wirrungen verlieren die Print-Medien an Bedeutung und Einfluss. Das gilt auch für die Sportberichterstattung. Wegen der wegbrechenden Sport-Aktualität, dem gravierenden Inserateschwund bezüglich der Print-Medien und in Anbetracht der Hinwendung insbesondere der Jungen zu anderen Medien-Formaten, haben die Print-Medien (auch) für den Sport an Bedeutung verloren. In der Wechselwirkung zwischen Sport und Medien sind allenfalls noch die Boulevard-Medien von besonderer Relevanz, jedoch nur soweit sie auch von jungen Medien-Konsumenten genutzt werden. Dieses Medien-Segment hat wohl nur als „RTL in der Printversion“ eine Zukunft. Die mediale Aktualität findet im Fernsehen und im Rahmen der „Neuen Medien“ statt. Die Print-Medien verlieren jedoch zusehends an Bedeutung, auch im Rahmen des Sports. Und der Sport kann auf solche Synergien irgendwann verzichten. 3. Fussball Sport ist immer noch Sport – auch in Krisenzeiten; und sofern er stattfindet. Letzterer Umstand wird derzeit zum Problem. So werden Meisterschaften in Deutschland, in Österreich und in der Schweiz beispielsweise im Fussball oder im Eishockey „durchgezittert“ (aber auch der Sport in anderen Disziplinen leidet unter „Corona“: So wurde soeben die gesamte Schweizer Nationalmannschaft der Kunstturner in Quarantäne geschickt, und alle Turn-Wettkämpfe wurden abgesagt). Kaum eine Meisterschaftsrunde kann noch programmgemäß durchgeführt werden, weil die Infektionen sich innerhalb der Mannschaften immer mehr ausbreiten und für den Meisterschaftsbetrieb nicht mehr genug nicht-infizierte Sportler zur Verfügung stehen. 30 NZZ vom 20. September 2020; bzgl. der eingeschlagenen Richtung im Journalismus der NZZ vgl. z. B. Bartu, Umbruch, Die neue Zürcher Zeitung, Ein kritisches Porträt, Zürich 2020.
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Jeglicher Meisterschaftsbetrieb würde längst eingestellt, wäre dies nicht mit Bezug auf TV-Rechteverwertungsverträge problematisch. Niemand wird jedoch ernsthaft die Meinung vertreten, dass Sportveranstaltungen ohne Zuschauer des Sportfans Herz über Gebühr erfreuen. Der Sport ohne Zuschauer ist kein Event mehr, das für die (Werbe-)Wirtschaft und die Medien von Interesse wäre; so, wie es vor „Corona“ war. Fussball ohne Zuschauer ist nur noch ein Spiel. Kein Sport – kein Geld mehr, dies wäre das Fazit jedes eingestellten Meisterschaftsbetriebes. Das alles gilt für die Deutsche Bundesliga ebenso wie für die österreichische und die schweizerische Professional-Liga. Sowohl der Breitensport als auch der professionelle, organisierte Sport befinden sich im Moment auf dem „Sterbebett“. Sport bedeutet Begegnung, und gerade diese Begegnungen sind im Zuge der Ansteckungsgefahren mit „COVID-19“ zumindest unerwünscht. Zwar sind feiernde, sich „herzende“ Sportler im Zuge des Distanzgebotes keine Vorbilder, faktisch ist das virale Bedrohungspotential im Rahmen des praktizierten Trainings- und Sportausübungsbetriebs allerdings gering. Diesbezüglich gelten Schutzkonzepte, die durch die veranstaltenden Ligen und Verbände gleichsam bis zur Perfektion entwickelt sind. So wie das Individuum im Allgemeinen, erfolgt die Ansteckung des Sportlers vor allem im privaten Rahmen: Im Ausgang, anlässlich von privaten Feiern, bei Partys mit Freunden, usw. (vgl. oben II. 1). In diesen Umfeldern werden die Vorgaben, um Ansteckungen zu vermeiden, eben gerade weitgehend nicht befolgt. Weil sich der organisierte Sport derzeit in der „Agonie“ befindet, werden die Rufe nach staatlicher Hilfe lauter. Die Rufe, auch nach a-fonds-perdu-Unterstützungen, werden wohl früher oder später erhöhrt werden. Der bis anhin z. B. in der Schweiz völlig privat organisierte und finanzierte Sport wird sich früher oder später an den Staatstropf hängen (müssen). Das „Prinzip FIFA“, do ut des,31 dürfte auch in diesem Bereich funktionieren. Im Moment findet der Sport nur noch rudimentär statt. „Corona“ diktiert die Machbarkeiten und Möglichkeiten. III. Der Sport während „Corona“, vor und nach der Krise – Nunc est gymnasticendum! Die Sport-Eventbranche wird beherrscht von der Trilogie Sport, Wirtschaft und Medien. Das war vor „Corona“ so und wird wohl auch danach so sein. Während der Krise und auch jetzt wieder, im Rahmen der „zweiten Welle“, findet der Sport kaum mehr oder nur aus Opportunitätsgründen statt, im Fussball etwa, um nicht der TV-Rechteverwertungsgelder verlustig zu gehen. Das grassierende Virus beeinflusst nicht nur unser Leben, sondern bestimmt es. Dazu gehört auch der Sport, der künftig, und bis wieder ein „Normalzustand“ eingetreten ist, tendenziell weitgehend 31
Ich gebe, damit du gibst.
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nur mit Hilfe von außen am Leben erhalten werden kann. Auch wenn „Corona“ überstanden sein wird, dürfte es einige Zeit brauchen, um zur Normalität zurückzukehren. Normalität bedeutet: Ein Leben wie vor „COVID-19“ – auch wenn nicht alles, was vor der Pandemie möglich war und stattfand, erstrebenswert ist. Wenn sich die Wirtschaft nach „Corona“ wieder erholen sollte, werden die Rechtsfragen, die den Sport bis Ende 2019 bewegten und prägten, vorerst „coronabedingt“ andere sein als bisher. In sportrechtlicher Hinsicht werden u. a. folgende Rechtsbereiche im Vordergrund stehen: Etwa, welches die Auswirkungen auf Meisterschaftsbetriebe sein werden. Wie arbeitsrechtliche Konstellationen von Athleten zu behandeln sind. Wie Sponsoringverträge den veränderten Verhältnissen angepasst werden müssten, wie es um den Sport im Absage- und Verschiebungsmodus mit Blick auf seine Vermarktung bestellt ist, usw.32 Im Weiteren dürften Rechtsfragen bezüglich der Behandlung von Vertragsverhältnissen, Vereinsmitgliedschaften, Vereinsversammlungen, usw. im Zentrum stehen.33 Ein schwacher Trost ist es derzeit, dass ein Sport ohne Zuschauer zwar ist, aber die sonst damit zusammenhängenden Probleme auch nicht einer Lösung harren; so ist etwa der „Hooliganismus“ mit all seinen Unschönheiten und rechtlichen Implikationen nur noch Theorie. Die Welt und damit die Sportwelt sind durch „Corona“ derart aus den Fugen geraten, dass, solange ein Impfstoff gegen das Virus nicht flächendeckend eingesetzt werden kann, zur Zerstreuung und zur Ablenkung wohl in der Tat nur konsequentes Turnen empfohlen werden kann. In diese Konklusion dürfte Klaus Vieweg wohl einstimmen, es aber in seiner ihm eigenen, gewählten Ausdrucksweise etwas anders formulieren, frei nach dem römischen Dichter Horaz: Nunc est gymnasticendum!
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Vgl. hierzu Jäggy (Fn. 14), S. 219 ff.; Brogle, Causa Sport 2/2020, S. 142 ff. Vgl. hierzu Müller, Causa Sport 2/2020, S. 214 ff.; Scherrer, Causa Sport 2/2020, S. 228 ff. 33
Ausländerklauseln im Sport Eine Bestandsaufnahme am Beispiel des Basketballs Von Martin Schimke* I. Einführung Ein Dauerbrenner in der Sport- und sportrechtlichen Praxis ist die Thematik der sog. Ausländerklauseln. Schon in den 1970er Jahren äußerte sich der EuGH zu diesem Thema.1 Erstaunlicherweise wurde diese Entscheidung wenig wahrgenommen, wohl bedingt durch die dieser Entscheidung folgenden Vereinbarungen zwischen der UEFA und der Kommission zu Ausländerklauseln.2 Nicht zuletzt aufgrund dessen erfuhr die Sportwelt mit dem Bosman-Urteil des EuGH einen Schock, als die dort verhandelten Ausländerklauseln der UEFA als rechtswidrig erachtet wurden. Das Bosman-Urteil kann daher hinsichtlich dieses Themas als „Mutter aller Sportrechtsentscheidungen“ bezeichnet werden.3 Umso erstaunlicher ist es, dass sich der EuGH nach dem Bosman-Urteil und den darauf beruhenden bzw. bestätigenden Entscheidungen in Sachen Kolpak4 und Simutenkov5 erst wieder 2019 im sog. Biffi-Urteil mit dem Thema aufgrund einer Vorlage des AG Darmstadt befassen musste.6 Zwischenzeitlich, befassten sich nur zwei * Der Autor bedankt sich bei Ansgar Faßbender, LL. M. (Edinburgh) und Dwayne Bach für ihre Mitarbeit. Ansgar Faßbender, LL. M. (Edinburgh), arbeitet als Rechtsreferendar im Sportrecht bei Bird & Bird LLP in Düsseldorf. Dwayne Bach arbeitete im Zeitpunkt der Entstehung des Beitrags promotionsbegleitend ebenfalls im Sportrecht bei Bird & Bird LLP in Düsseldorf. 1 EuGH, 14. 7. 1976, Rs. C-13/76 (Dona), Slg. 1976, I-1333. 2 Siehe hierzu die detaillierten Ausführungen zu den Vereinbarungen aus 1978 und 1991 von Gardiner/Welch, in: Duval/Van Rompuy (Hrsg.), The Legacy of Bosman – Revisiting the Relationship between EU Law and Sport, 2016, S. 58. 3 EuGH, 20. 9. 1995, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, I-4921; Gardiner/Welch (Fn. 2), S. 58; Garcia, J Contemp. Eur. Res. 2007, 202 (205); Schimke, Sportrecht, 1996, S. 225 f.; Vieweg/Röthel, ZHR 2002, 6 (8). 4 EuGH, 8. 5. 2003, Rs. C-438/00 (Kolpak), Slg. 2003, I-04135. 5 EuGH, 12. 4. 2005, Rs. C-265/03 (Simutenov), Slg. 2005, I-02579. 6 EuGH, 13. 6. 2019, Rs. C-22/18 (Daniele Biffi), bisher veröffentlicht in SpuRt 2019, 169; Der EuGH verwies das Verfahren wieder an das AG Darmstadt zurück. Diese Entscheidung des AG Darmstadt steht noch aus; vgl. auch Vorlagebeschluss des AG Darmstadt vom 2. 11. 2017, Az.: 316 C 58/17. Siehe zur Entscheidung des EuGH insbes.: Jakob, SpuRt 2019, 249 ff.; Kornbeck, EuZW 2020, 603 ff.
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schiedsgerichtliche Verfahren mit diesem für die Praxis relevanten Thema.7 Die diesbezüglichen Entscheidungen haben allerdings eine Qualität, welche den Urteilen des EuGH in nichts nachsteht. Sie erhielten folgerichtig mit Besprechungen von Engelbrecht und Streinz in der SpuRt eine Art europarechtlichen „Ritterschlag“.8 Durch das Biffi-Urteil des EuGH ist die Thematik wieder aus seinem schiedsgerichtlichen Schattendasein einer breiteren Öffentlichkeit zugeführt worden. Grund genug sich diesem Thema erneut – hier allerdings nur in Form eines Überblicks – zu nähern. II. Ausländerklauseln, Heimkontingente und Home-Grown-Regelungen Zunächst ist zu erörtern, welchen Regelungsgehalt Ausländerklauseln aufweisen. Dabei ist zwischen originären Ausländerklauseln, sog. Home-Grown-Regelungen sowie Heimkontingenten zu unterscheiden. Unter der originären Ausländerklausel ist dabei jede Regelung zu verstehen, wonach nur eine begrenzte Anzahl von Ausländern in einem Spiel eingesetzt werden darf.9 Hiervon abzugrenzen sind die sog. Home-Grown-Regelungen, die nicht auf die Staatsangehörigkeit der Sportler abstellen, sondern darauf, ob diese in ihrer Jugend im gleichen Verein oder jedenfalls im gleichen nationalen Verband ausgebildet wurden.10 Heimkontingente verbieten demgegenüber weder die Verpflichtung ausländischer Sportler noch begrenzen diese ihren Pflichtspieleinsatz. Vielmehr schreiben sie den Mannschaften vor, eine Mindestanzahl nationaler Spieler im Kader vorweisen zu können.11 Als Beispiel dienen die Regelungen aus dem deutschen Basketball. Diese eignen sich besonders gut, die Unterschiede zwischen den verschiedenen Ausprägungen von Ausländerklauseln zu demonstrieren. So heißt es in sinngemäß in § 4 der Ausschreibung zur Basketball-Bundesliga (BBL): Im Wettbewerb 2019/2020 ist je Spiel eine Mindestanzahl an spielfähigen deutschen Spielern im Sinne des Art. 116 GG auf dem Spielberichtsbogen (SBB) aufzuführen. Dabei gilt, dass etwa bei 12 gemeldeten Spielern mindestens sechs deutsche 7
Rechtsausschuss des Deutschen Basketball-Bundes, 24. 3. 2010, RA Entscheidung 03/ 2009, veröffentlicht in SpuRt 2010, 215 ff.; Schiedsgericht AG 2. Basketball Bundesliga Herren, Schiedsspruch, 11. 5. 2004, veröffentlicht in SpuRt 2005, 124 ff. 8 Vgl. Engelbrecht, SpuRt 2011, 96; Streinz, SpuRt 2010, 231; siehe auch Engelbrecht, ISLJ 2010, 105 (105). 9 Kliesch, Der Status des Profifußballers im Europäischen Recht, 2017, S. 173 f.; Schulz, ArbRAktuell 2019, 163. 10 Gardiner/Welch (Fn. 2), S. 53. 11 Ein Beispiel hierfür ist § 5 Nr. 4 der Lizenzordnung des DFL e. V., nach welcher zur Lizenzerlangung bei jedem Bundesligapflichtspiel mindestens zwölf deutsche Lizenzspieler Teil der Mannschaft sein müssen. Diese Regelung wurde im Nachgang der Bosman-Entscheidung 1996 eingeführt. Siehe hierzu: Kliesch (Fn. 9), S. 175.
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Spieler im Sinne des Art. 116 GG gemeldet werden müssen. Dabei dürfen maximal zwei Spieler im Sinne des § 7 Abs. 3 BBL-Spielverordnung (BBL-SO) eingesetzt werden. § 7 Abs. 3 der BBL-SO stellt dann eine sog. Home-Grown-Regelung dar. Dort heißt es sinngemäß: Als deutsche Spieler gelten auch Spieler, die vor Erreichen der Altersklasse U-15 eine ganze Spielzeit eine Teilnahmeberechtigung für einen Verein besaßen, der während dieser Zeit Mitglied im Deutschen Basketball Bund (DBB e. V.) war und aktiv am Spielbetrieb teilnahm. Die Ausländerregelung in der Ausschreibung ist zwar potenziell als europarechtswidrig anzusehen.12 Allerdings stellt die BBL-SO Ausländer aus Mitgliedstaaten der EU Basketballern mit deutscher Staatsangehörigkeit gleich, § 7 der BBL-SO.13 Wirft man allerdings einen Blick in die entsprechenden Regelungen zum Jugendbasketball, fällt auf, dass diese deutlich strenger sind und insbesondere auch EU-Bürger nicht privilegiert werden. So heißt es sinngemäß in § 8 Abs. 5 der Ausschreibung zur Nachwuchs-Basketballbundesliga (NBBL)14 Saison 2020/21: Auf einem Spielberichtsbogen müssen mindestens acht Spieler aufgeführt sein. Die Anzahl der Spieler ohne deutsche Staatsangehörigkeit ist dabei auf drei begrenzt.15 Weiter lautet § 8 Abs. 2 der NBBL-Ausschreibung: Dabei müssen von diesen drei ausländischen Spielern mindestens zwei Spieler vor dem 1. 3. 2018 in Besitz einer Teilnahmeberechtigung der Nachwuchs-Basketballbundesliga (NBBL) oder Jugend-Basketballbundesliga (JBBL), oder seit mindestens drei Jahren einer DBB-Teilnahmeberechtigung gewesen sein oder nachweisen, dass
12 Summerer, in: Fritzweiler/Pfister/Summerer (Hrsg.), Praxishandbuch Sportrecht, 4. Auflage 2020, Kap. 1, Rn. 163. 13 Zudem entschied der EuGH in der Rechtssache Kolpak, dass Drittstaatler aus Staaten, die mit der EU sog. Nicht-Diskriminierungs-Vereinbarungen, also Vereinbarungen mit dem Inhalt, dass Staatsangehörige dieser Länder wie EU-Bürger zu behandeln sind (etwa der sog. Cotonou-Vertrag zwischen der EU und den AKP-Staaten), geschlossen haben, EU-Bürgern im Rahmen von Art. 45 AEUV und auch Art. 21 AEUV gleichzustellen sind – hiervon machten insbesondere die Sportarten Rugby und Cricket Gebrauch. Spieler aus solchen Drittstaaten werden geheimhin Kolpak-Spieler genannt, siehe hierzu Gardiner/Welch (Fn. 2), S. 62 mit Verweis auf EuGH, 8. 5. 2003, Rs. C-438/00 (Kolpak), Slg. 2003, I-04135. Siehe hierzu jedoch kritisch: Engelbrecht, SpuRt 2005, 192 (192 ff.). 14 Die NBBL stellt die deutsche Meisterschaft der Altersklasse U19 (männlich) dar. Die Jugend-Basketballbundesliga (JBBL) stellt die deutsche Meisterschaft der Altersklasse U16 (männlich) dar. 15 Ausschreibung NBBL Saison 2020/21, Stand April 2020, abrufbar unter: https://www. nbbl-basketball.de/download/ausschreibung202021/NBBL_Ausschreibung_20 - 21.pdf, zuletzt eingesehen am 6. 1. 2021.
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sie seit mindestens drei Jahren ihren ersten Wohnsitz bzw. gewöhnlichen Aufenthaltsort in Deutschland haben.16 Gemäß § 8 Abs. 3 der NBBL-Ausschreibung können Ausnahmen gemacht werden, wenn ein Wohnortwechsel aus Gründen erfolgt, welche nicht mit der Ausübung des Basketballsportes in Zusammenhang stehen.17 Dies ist repräsentativ für die Vielfalt der Regelungen in einer Sportart. Im Folgenden wird am Beispiel dieser Regelungen im (Jugend-)Basketball aufgezeigt, inwiefern die verschiedenen Ausprägungsarten von Ausländerklauseln gegen europäisches Primärrecht verstoßen können.18 Im Fokus stehen dabei Verstöße gegen das europäische Kartellrecht und die Grundfreiheiten. Vorauszuschicken ist, dass die Grundfreiheiten neben den Bestimmungen des Kartellrechts stehen, weshalb Verstöße gegen die jeweiligen Normen unabhängig voneinander zu bewerten sind.19 III. Verstoß gegen Grundfreiheiten Während früher noch umstritten war, inwiefern sportrechtliche Sachverhalte unter Unionsrecht subsumierbar sind,20 hat der EuGH mittlerweile klargestellt, dass jedenfalls der AEUV diesbezüglich Anwendung findet.21 1. Betroffene Grundfreiheiten – Diskriminierungsverbote des AEUV In Betracht kommen Verstöße gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 AEUV) oder gegen die unionsbürgerliche allgemeine Freizügigkeit (Art. 21 AEUV). Diese Grundfreiheiten regeln – vereinfacht gesagt –, dass man sich inner16 Ausschreibung NBBL Saison 2020/21, Stand April 2020, abrufbar unter: https://www. nbbl-basketball.de/download/ausschreibung_202021/NBBL_Ausschreibung_20 - 21.pdf, zuletzt eingesehen am 6. 1. 2020. Die Ausländeregelung in der Ausschreibung der NBBL wurde zum 1. 10. 2020 hin geändert. Dies ändert aber nichts an den folgenden Ausführungen. 17 Ausschreibung NBBL Saison 2020/21, Stand April 2020, abrufbar unter: https://www. nbbl-basketball.de/download/ausschreibung_202021/NBBL_Ausschreibung_20-21.pdf, zuletzt eingesehen am 6. 1. 2020. 18 Zur Frage, inwiefern der Sport durch das deutsche Recht beschränkt wird, siehe ausführlich Vieweg/Müller, in: Manssen/Jachmann/Gröpl (Hrsg.), Festschrift für Udo Steiner zum 70. Geburtstag, Stuttgart u. a. 2009, S. 888 ff. sowie Vieweg, ISLJ 2006, 96 ff. 19 EuGH, 18. 7. 2006, Rs. C-519/04 P (Meca-Medina), Slg. 2006, I-6991, Rn. 58. Siehe auch Streinz, SpuRt 2008, 224 (226). 20 EuGH, 15. 12. 1995, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, I- 4921, Rn. 73; EuGH, 13. 4. 2000, Rs. C-176/96 (Lehtonen), Slg. 2000, I-2681, Rn. 32. 21 Zuletzt etwa EuGH, 18. 7. 2006, Rs. C-519/04 P (Meca-Medina), Slg. 2006, I-6991, Rn. 31; siehe auch: Antwort der EU-Kommission an Engelbrecht, 1. 2. 2010, veröffentlicht in Engelbrecht, ISLJ 2010, 105 (105) und Engelbrecht, SpuRt 2011, 96 (96 f.); Eichel, EuR 2010, 685 (689); Streinz, SpuRt 2008, 224 (226).
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halb der EU aussuchen kann, wo man sich beruflich und privat aufhält.22 Dabei ist zunächst festzustellen, dass bei Ausländerklauseln aller Art jedenfalls eine Andersbehandlung von Ausländern erfolgt.23 Auch deshalb könnte gegen Diskriminierungsverbote verstoßen worden sein. Diese beiden Grundfreiheiten beinhalten jeweils ein Diskriminierungsverbot. Während das Diskriminierungsverbot bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit als Annex aus Art. 45 AEUV direkt folgt, ergibt sich das Diskriminierungsverbot bei der unionsbürgerlichen allgemeinen Freizügigkeit aus einer Zusammenschau von Art. 21 mit Art. 18 AEUV.24 2. Anwendungsbereich Insbesondere vor dem Hintergrund des vor kurzem ergangenen Biffi-Urteils des EuGH soll der sachliche und personelle Anwendungsbereich der betroffenen Grundfreiheiten untersucht werden. Dabei kommt es insbesondere auf eine horizontale Drittwirkung der Grundfreiheiten an. Denn in der beschriebenen Konfliktsituation zwischen Sportler und Ausrichter der (Nachwuchs-)Liga im deutschen Basketball stehen sich zwei Privatrechtssubjekte gegenüber. a) Anwendungsbereich von Art. 45 AEUV Zunächst könnte die Arbeitnehmerfreizügigkeit betroffen sein. Jedenfalls seit dem Bosman-Urteil des EuGH ist für diese Grundfreiheit die horizontale Drittwirkung anerkannt.25 Art. 45 AEUV findet deshalb auf das hier relevante Verhältnis zwischen Sportler und Verband Anwendung.26 Allgemein ist Arbeitnehmer nach Art. 45 AEUV derjenige, der für eine bestimmte Zeit eine unselbständige Tätigkeit in einem Lohn- oder Gehaltsverhältnis ausübt.27 Zu berücksichtigen ist, dass der Begriff des 22
Gardiner/Welch (Fn. 2), S. 69. Dies gilt auch für Home-Grown-Regelungen und Heimkontigente. Diese können jedoch gerechtfertigt sein, siehe hierzu auch Summerer, in: Fritzweiler/Pfister/Summerer (Hrsg.), Praxishandbuch Sportrecht, 4. Auflage 2020, Kap. 1, Rn. 162. 24 Jakob, SpuRt 2019, 249 (251); Magiera, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Auflage, München 2018, Art. 21 AEUV Rn. 15 – 18. Gewissermaßen analog hierzu kann auch gegen §§ 134, 138 BGB verstoßen werden. Die Diskriminierungsverbote aus Art. 45 AEUV und Art. 18, 21 AEUV finden hierbei neben den allgemeinen Wertungen des Europarechts ebenfalls Anwendung, vgl.: Armbrüster, in: MüKoBGB, § 134, Rn. 38. 25 EuGH, 15. 12. 1995, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, I-4921, Rn. 49 f.; Streinz/ Franzen (Fn. 20), Art. 45 AEUV Rn. 92; Vieweg/Röthel, ZHR 2002, 6 (18 ff.); siehe auch: EuGH, 12. 12. 1974, Rs. C-36/74 (Walrave und Koch), Slg. 1974, I-1405 Rn. 17 f.; EuGH, 14. 7. 1976, Rs. C-13/76 (Dona), Slg. 1976, I-1333, Rn. 17 f.; EuGH, 13. 4. 2000, Rs. C-176/96 (Lehtonen), Slg. 2000, I-2681, Rn. 34 ff. 26 Vgl. hierzu auch Vieweg, in: Saenger/Bayer/Koch/Körber (Hrsg.), Festschrift für Olaf Werner, Baden-Baden 2009, S. 282 f. 27 Ständige Rechtsprechung des EuGH, vgl. EuGH, 3. 7. 1985, Rs. C-66/85 (Lawrie-Blum), Slg. 1986, I-2121, Rn. 17; EuGH, 26. 2. 1992, Rs. C-357/89 (Raulin), Slg. 1992, I-1027, Rn. 10. 23
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Arbeitnehmers im Sinne des Art. 45 AEUV als autonomer Begriff des Gemeinschaftsrechts objektiv und damit unabhängig von den nationalen Regelungen der Mitgliedstaaten zu bestimmen ist.28 Entsprechend der Schutzrichtung der Norm ist der Begriff daher weit auszulegen.29 Sportler sind als Arbeitnehmer i. S. v. Art. 45 AEUV einzustufen, wenn die Ausübung der sportlichen Tätigkeit weisungsgebunden und gegen Entgelt erfolgt. Dies ist jedenfalls bei Mannschaftssportlern i. d. R. der Fall. Nicht mehr vom Schutzbereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit erfasst ist eine Tätigkeit dann, wenn ihr Umfang „völlig untergeordnet und unwesentlich“ist.30 Insofern erfasst die Arbeitnehmerfreizügigkeit nur solche Sportler nicht, die den Sport ausschließlich als Hobby ausüben.31 Die weitverbreitete Unterscheidung zwischen Amateur- und Profisportlern erscheint daher zu ungenau, um als Zuordnungskriterium zu dienen.32 Wendet man diese weite Auslegung des Arbeitnehmerbegriffes entsprechend an, sind auch Jugendsportler, sofern diese von ihren Vereinen eine Ausbildungsentschädigung erhalten, als Arbeitnehmer im Sinne des Art. 45 AEUV zu qualifizieren. Dies muss unabhängig davon gelten, ob der junge Spieler nur in den Nachwuchsteams eingesetzt wird, oder etwa (auch) in der ersten Herrenmannschaft. Hiernach ist nur relevant, ob diese „Sportler in Ausbildung“ für ihre sportliche Tätigkeit entlohnt werden.33 In die gleiche Richtung zielen zwei deutsche Urteile.34 Diese unterscheiden zunächst zwischen Lizenz- und weiteren Berufsspielern. Demnach ist Lizenzspieler, wer in der ersten bzw. zweiten Liga aktiv ist. Berufsspieler sind alle weiteren Sportler, sofern sie wirtschaftlich von der Ausübung ihres Sportes profitieren. Die Urteile wenden die Ausführungen zu den Berufsspielern explizit auch auf Jugendspieler an. Diesen wird eine eigene wirtschaftliche Tätigkeit zugesprochen.35 Zu berücksichtigen ist zudem auch, dass diese jungen Sportler regelmäßig weitere wiederkehrende und nicht zu vernachlässigende geldwerte Vorteile erhalten. Viele Basketballbundesligisten unterhalten ein Nachwuchsleistungszentrum, in dem die 28
Siehe EuGH, 13. 4. 2000, Rs. C-176/96 (Lehtonen), Slg. 2000, I-2681, Rn. 45; Streinz/ Franzen (Fn. 20), Art. 45 AEUV, Rn. 15. 29 Brechmann in Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage, 2016, Art. 45 AEUV, Rn. 11 m. w. N. 30 Zuletzt etwa EuGH, 10. 09. 2014, Rs. C-270/13 (Haralambidis), Slg. 2014, I-2185, Rn. 28; siehe auch Calliess/Ruffert/Brechmann, Art. 45 AEUV Rn. 12; Raschka, EuR 2013, 116 (120 f.). 31 Im Ergebnis wohl auch Engelbrecht, SpuRt 2011, 96 (97 f.); Engelbrecht, ISLJ 2010, 105 (105). 32 So auch: Rechtsausschuss des Deutschen Basketball Bundes, 24. 3. 2010, RA Entscheidung 03/2009, SpuRt 2010, 215 (215). Unger, SpuRt 2020, 299 (299 f.). 33 Vgl. Schimke (Fn. 3), S. 231. 34 LG Frankfurt, 29. 4. 2015; Az. 2 – 06 O 142/15; OLG Frankfurt, 2. 2. 2016; Az. 11 U 70/ 15. 35 Vgl. LG Frankfurt, 29. 4. 2015; Az.: 2 – 06 O 142/15; OLG Frankfurt, 2. 2. 2016; Az.: 11 U 70/15.
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jungen Sportler auch wohnen können.36 Die Vereine statten die Sportler dann i. d. R. mit Arbeitskleidung, Trikots sowie Schuhen aus und übernehmen die Versicherungskosten. Zudem tragen Vereine regelmäßig auch die Kosten für Privatschulen. Letzteres ist gerade für ausländische Spieler relevant, da die Privatschulen meist international ausgerichtet sind und eine schnelle Integration in das Umfeld ermöglichen.37 Mithin ist aufgrund der Arbeitnehmerstellung im europarechtlichen Sinne auch bei den Jugendspielern der Nachwuchsbasketballbundesliga der Schutzbereich des Art. 45 AEUV eröffnet. b) Anwendungsbereich des Art. 18, 21 AEUV Alternativ könnte der Schutzbereich der Art. 18, 21 AEUV betroffen sein. Mit diesen Vorschriften werden Bewegung und Aufenthalt eines Unionsbürgers im Hoheitsgebiet aller Mitgliedsstaaten geschützt. Erfasst werden neben der Einreise in jeweils andere Mitgliedstaaten, auch die freie Bewegung in dem ausgewählten Staat sowie der ständige Aufenthalt.38 Wegen des effet-utile-Grundsatzes hat eine vollständige Inländergleichbehandlung des ausländischen Mitbürgers zu erfolgen.39 Art. 21 AEUV findet deswegen Anwendung auf die sportlichen Aktivitäten des zu integrierenden Mitbürgers, insbesondere, wenn diese der Freizeitgestaltung zuzurechnen sind.40 Der EuGH bestätigt somit, was Sportlern bekannt sein dürfte: Sport fördert die Integration ausländischer Mitbürger.41 Sport kann deshalb zurecht als Motor der Integration bezeichnet werden. Ausdrücklich heißt es zudem im Biffi-Urteil des EuGH in Randnummer 34: „Aus der Zusammenschau von Art. 21 Abs. 1 AEUV und Art. 165 AEUV ergibt sich somit, dass die Ausübung eines Amateursports, insbesondere in einem Sportverein, dem Unionsbürger, der in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist als in dem, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, ermöglicht, Verbindungen zur Gesellschaft des Mitgliedstaats aufzubauen, in
36 Als Beispiel sei hier das neu erbaute Nachwuchsleistungszentrum von Basketballbundesligist „rathiopharm Ulm“ genannt. 37 Ist für den ausländischen Sportler ein Sprachkurs notwendig, werden regelmäßig auch die Kosten hierfür übernommen. 38 Sog. „Recht auf Heimat“; Calliess/Ruffert/Kluth (Fn. 25), Art. 21 AEUV Rn. 4 m. w. N. 39 Calliess/Ruffert/Kluth (Fn. 25), Art. 21 AEUV Rn. 6; Schimke, S. 229; Schulz, Freizügigkeit für Unionsbürger, 1996, S. 273. 40 EuGH, 13. 6. 2019, Rs. C-22/18 (Daniele Biffi), Rn. 31 – 35, bisher veröffentlicht in SpuRt 2019, 169; so auch: Rechtsausschuss des Deutschen Basketball Bundes, 24. 3. 2010, RA Entscheidung 03/2009, SpuRt 2010, 215 (16). Siehe hierzu auch Engelbrecht, SpuRt 2011, 96 (97 f.) sowie Streinz, SpuRt 2010, 231 (233), der Art. 18 AEUV insofern als Grundfreiheit ohne Markt bezeichnet. 41 Zuletzt: EuGH, 13. 6. 2019, Rs. C-22/18 (Daniele Biffi), Rn. 34, bisher veröffentlicht in SpuRt 2019, 169; EuGH, 7. 3. 1996, Rs. C-334/94 (Kommission ./. Frankreich), Slg. 1996, I01307, Rn. 21; Kornbeck, EuZW 2020, 603 (605 f.).
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den er sich begeben hat und in dem er ansässig ist, oder diese zu festigen. Dies gilt gleichfalls für die Beteiligung an Sportwettbewerben jeglichen Niveaus“.42
Lehnt man eine Anwendung von Art. 45 AEUV bezogen auf junge Sportler mangels Arbeitnehmereigenschaft ab, so ist jedenfalls Art. 21 AEUV aufgrund obiger Ausführungen anwendbar. Problematisch ist jedoch, ob Art. 21 AEUV horizontale Drittwirkung insbes. auf die Situation im Jugendbasketball entfaltet. Jedenfalls gilt, dass Art. 21 AEUV horizontale Drittwirkung entfaltet, wenn ein Verband gegenüber einem weiteren Privatrechtsubjekt auftritt.43 Bezogen auf den Basketball in Deutschland wurde diese grundsätzliche horizontale Drittwirkung auch gegenüber Sportlern ohne Arbeitnehmereigenschaft (herkömmlich „Amateursportler“ genannt) durch die bereits angesprochenen Schiedsentscheidungen bestätigt.44 Bezogen auf den Jugendbasketball ist zunächst festzustellen, dass Ausrichter der NBBL die NBBL gGmbH ist. Gesellschafter dieser sind der DBB e. V. sowie die Träger der ersten bzw. zweiten Basketballbundesliga. Deshalb könnte man argumentieren, dass die horizontale Drittwirkung hier keine Anwendung findet, da kein (Sport-) Verband unmittelbar in Beziehung zum Sportler stehe, sondern eben die NBBL gGmbH. Basketballer sind jedoch in Vereinen organisiert. Die Vereine sind wiederum Mitglieder im DBB e. V. Die Vereine binden die Spieler an die Regelungen des DBB e. V.45 Dieser ist wiederum (Teil-) Gesellschafter der NBBL gGmbH. Die NBBL gGmbH rückt damit in die Nähe des Verbandes. Weiterhin sind die von der NBBL gGmbH erstellten Regelwerke und die Regelwerke des DBB e. V. durch sog. Verweisungsklauseln miteinander verbunden. So verpflichtet sich bspw. die NBBL gGmbH das Regelwerk des DBB e. V. anzuerkennen.46 Hierdurch fügt sich die NBBL gGmbH nahtlos in das Verhältnis zwischen Verband, Verein und Sportler ein. Faktisch wird die NBBL gGmbH ein Teil des Verbandes. Diese Sichtweise wird auch durch die Präambel der Ausschreibung der NBBL-Saison 2020/21 gestützt, nach welcher die
42 EuGH, 13. 6. 2019, Rs. C-22/18 (Daniele Biffi), Rn. 31, bisher veröffentlicht in SpuRt 2019, 169; siehe auch Jakob, SpuRt 2019, 249 (250 f.); Kornbeck, EuZW 2020, 603 (605); ähnlich verhält sich schon die Antwort der EU-Kommission an eine Anfrage Engelbrechts vom 1. 2. 2010, veröffentlicht in Engelbrecht, ISLJ 2010, 105 (105) und Engelbrecht, SpuRt 2011, 96 (96 f.). 43 Jakob, SpuRt 2019, 249 (251); siehe etwa Streinz/Streinz (Fn. 20), Art. 18 AEUV, Rn. 44, ferner Engelbrecht, SpuRt 2011, 96 (97 f.); Streinz, SpuRt 2010, 231 (233); Vieweg/ Röthel, ZHR 2002, 6 (20 ff.). 44 Streinz, SpuRt 2010, 231, (231); vgl. auch Engelbrecht, SpuRt 2011, 96 (97 f.). 45 Vgl. bspw. Haas/Adolphsen, NJW 1995, 2146 ff. 46 Vgl. § 1 Abs. 2 der Ausschreibung NBBL Saison 2020/21, Stand April 2020, abrufbar unter: https://www.nbbl-basketball.de/download/ausschreibung_202021/NBBL_ Ausschreibung_20-21.pdf, zuletzt eingesehen am 13. 8. 2020.
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NBBL die höchste deutsche Nachwuchsliga darstellt und die deutsche Jugendmeisterschaft in dieser Altersklasse ausrichtet.47 Es ist zu berücksichtigen, dass es das originäre Recht eines nationalen (Sport-) Verbandes ist, nationale Meisterschaften auszurichten. Dies folgt aus dem sog. Ein-Platz-Prinzip.48 Aufgrund seiner Stellung als Verband richtet der DBB e. V. die deutschen Meisterschaften im Basketball aus. Das dem Verband zustehende Recht, Sportveranstaltungen auszurichten kann durch sog. Grundlagenverträge auf Gesellschaften übertragen werden. Für die deutsche Basketball-Meisterschaft U19 erhält somit durch den Gesellschaftsvertrag die NBBL gGmbH das ausschließliche Recht deutsche Meisterschaften auszurichten. Damit übernimmt die NBBL gGmbH Aufgaben des Verbandes. Es muss deshalb für die NBBL gGmbH die horizontale Drittwirkung gelten. Ungeachtet dessen entfaltet Art. 21 AEUV auf diese Konstellation horizontale Drittwirkung aufgrund des Biffi-Urteils des EuGH. In Randnummer 36 bis 38 leitet der EuGH den Grundsatz der horizontalen Drittwirkung her und führt in Randnummer 39 explizit aus, dass dieser Grundsatz gilt, „wenn eine Gruppe oder Organisation gegenüber Einzelpersonen bestimmte Befugnisse ausüben und sie Bedingungen unterwerfen kann, die die Wahrnehmung der durch den Vertrag gewährleisteten Grundfreiheiten beeinträchtigen“.49
Die NBB gGmbH ist eine solche Organisation. Sie übt über die Ausschreibung bestimmte Befugnisse aus, indem sie vorschreibt, dass sich ein teilnehmender Verein in den o. g. Nachwuchsligen den Regeln der NBBL und damit auch der NBBL gGmbH unterwerfen muss.50 Angemerkt sei noch, dass die jeweiligen Basketballbundesligisten aufgrund der Nachwuchsförderrichtlinie der BBL, welche wie beschrieben auch Gesellschafter 47 Ausschreibung NBBL Saison 2020/21, Stand April 2020, abrufbar unter: https://www. nbbl-basketball.de/download/ausschreibung_202021/NBBL_Ausschreibung_20-21.pdf, zuletzt eingesehen am 13. 8. 2020. 48 Vgl. Beisenherz, Der professionelle Sport und das europäische Kartellrecht, S. 14 ff. und S. 192 ff.; Siekmann, Introduction to International and European Sports Law, Den Haag 2012, S. 86. 49 EuGH, 13. 06. 2019, Rs. C-22/18 (Daniele Biffi), Rn. 36 – 39, bisher veröffentlicht in SpuRt 2019, 169. Hierzu merkten sowohl die Kommission in der mündlichen Verhandlung als auch der Generalanwalt in seinem Schlussantrag an, dass die Annahme einer horizontalen Drittwirkung bei Art. 18, 21 AEUV bis zu diesem Urteil noch nicht angenommen wurde. Insofern kommt dem Biffi-Urteil des EuGH grundsätzliche Wirkung zu. Siehe hierzu auch: Jakob, SpuRt 2019, 249 (251). Dass der EuGH die angenommene horizontale Drittwirkung nicht noch deutlicher herausstellt, liegt auch darin begründet, dass die Vorlagefragen des AG Darmstadt nur auf die Diskriminierung abzielen, aber nicht explizit nach der Drittwirkung fragen, vgl. AG Darmstadt, Beschluss, 2. 11. 2017, Az.: 316 C 58/17. 50 Vgl. § 1 Abs. 4 der Ausschreibung NBBL Saison 2020/21, Stand April 2020, abrufbar unter: https://www.nbbl-basketball.de/download/ausschreibung_202021/NBBL_ Ausschreibung_20 - 21.pdf, zuletzt eingesehen am 6. 1. 2021.
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der NBBL gGmbH ist, jeweils ein Team in der NBBL und JBBL melden müssen.51 Damit zwingt der Gesellschafter der NBBL gGmbH die Basketballbundesligisten sich den von der NBBL gGmbH festgelegten Regeln der Ausschreibung zu unterwerfen. Hieraus folgt, dass die NBBL gGmbH jedenfalls faktisch eine der Randnummer 39 des „Biffi“-Urteils des EuGH entsprechende Position innehat. Konsequenterweise, wie nunmehr nach der EuGH-Rechtsprechung anerkannt, muss die horizontale Drittwirkung Anwendung auf die Ausländerregelungen der NBBL finden. 3. Diskriminierende Wirkung der Klausel Es müsste eine diskriminierende Wirkung der Regelung anzunehmen sein. Eine diskriminierende Klausel i. S. d. Diskriminierungsverbote liegt vor, wenn diese zu einer für Ausländer nachteiligen Andersbehandlung führt, welche nicht gerechtfertigt ist.52 Diese diskriminierende Wirkung von Ausländerklauseln wird für den professionellen Sport im Schutzbereich von Art. 45 AEUVangenommen.53 Naturgemäß entfalten Ausländerklauseln aller Art jedenfalls mittelbar eine diskriminierende Wirkung, da durch jede Variante faktisch die Anzahl ausländischer Spieler in einer Mannschaft begrenzt wird. Dabei ist von einer direkten Diskriminierung auszugehen, sofern ein Verein aufgrund einer Ausländerklausel einen Spieler wegen seiner Staatsangehörigkeit nicht aufnehmen konnte, den Spieler aber ansonsten als für das Team passend erachtete.54 Auch vor dem Hintergrund der von Art. 21 AEUV bezweckten vollständigen Inländergleichbehandlung ist ein solcher Ausschluss von ausländischen Spielern diskriminierend. Zum einen wäre die Gleichbehandlung der ausländischen Basketballer imit Inländern erst vollständig, sofern sie auch uneingeschränkt an den von der NBBL gGmbH organisierten Nachwuchsligen teilnehmen könnten. Zum anderen steht es ausländischen, jungen Basketballern eben nicht frei, am Sportleben in Deutschland angemessen teilzunehmen. Aufgrund der Gestaltung der Klausel im Jugendbasketball gilt dies jedenfalls für einen „vierten“ Ausländer, sofern ein Team bereits zuvor schon drei Ausländer aufgenommen hatte.55 Die 51
Teil B (2.) easyCredit Basketball Bundesliga Nachwuchsförderrichtlinie Saison 2019/ 2020. Diese gilt auch für die Saison 2020/2021 mit einer Ergänzung bzgl. hauptamtlicher Jugendtrainer, abrufbar unter https://www.easycredit-bbl.de/de/easycredit-bbl/schiedsrichter-re gelwerk/ordnungen-und-standards/, zuletzt eingesehen am 13. 8. 2020. 52 Streinz/Streinz (Fn. 20,) Art. 18 AEUV, Rn. 45. 53 EuGH, 20. 09. 1995, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, I-4921; Gardiner/Welch (Fn. 2), S. 52. 54 Dies entspricht dem sog. „but for“-Test im englischen Recht, vgl. Gardiner/Welch (Fn. 2), S. 68 f.; so auch: Rechtsausschuss des Deutschen Basketball Bundes, 24. 3. 2010, RA Entscheidung 03/2009, SpuRt 2010, 215, 217; siehe auch die Antwort der EU-Kommission an eine Anfrage Engelbrechts vom 1. 2. 2010, veröffentlicht in Engelbrecht, ISLJ 2010, 105 (105) und Engelbrecht, SpuRt 2011, 96 (96 f.); explizit bezogen auf Jugendspieler vgl. Schimke (Fn. 3), S. 229. 55 Vgl. auch: Rechtsausschuss des Deutschen Basketball Bundes, 24. 3. 2010, Az.: RA Entscheidung 03/2009, SpuRt 2010, 215 (215).
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dort verwendete Klausel entfaltet somit diskriminierende Wirkung, sofern sie nicht gerechtfertigt ist. 4. Rechtfertigung Die nachteilige Klausel im Jugendbasketball kann jedoch – in engen Schranken – grundsätzlich gerechtfertigt sein. Ausländerklauseln können, wenn sie eine direkte Diskriminierung darstellen, nur nach Art. 45 Abs. 3 AEUV gerechtfertigt werden. Stellen sie eine indirekte bzw. mittelbare Diskriminierung dar, können sie aus weiteren guten Gründen gerechtfertigt sein. Bezogen auf den Schutzzweck der o. g. Diskriminierungsverbote ist dies dann der Fall wenn sachliche Gründe vorliegen, die mit der Staatsangehörigkeit an sich nichts zu tun haben. Weiterhin muss die Klausel jedenfalls geeignet, erforderlich sowie verhältnismäßig sein.56 a) Legitimer Zweck und Geeignetheit Hinsichtlich des legitimen Zwecks lässt sich anführen, dass gerade die Klausel im Jugendbasketball zur Förderung des Nachwuchses sowie der Ausbildung einer genügenden Anzahl potenzieller deutscher Nationalspieler dient.57 Dies ist als legitimes Ziel einzustufen. Die Ausländerklausel führt dabei dazu, dass sich die Vereine weniger auf ausländische Talente fokussieren, sondern eher auf deutsche Nachwuchsbasketballer, da für diese keine Beschränkung existiert. Infolgedessen ist es durchaus wahrscheinlich, dass so auch der Pool an potentiellen Jugendbasketballern für die deutsche Nationalmannschaft wächst.58 Auch wegen des den Sportverbänden eingeräumten Ermessensspielraumes kann daher von der Geeignetheit der Klausel ausgegangen werden. b) Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit Ob die Voraussetzungen der Erforderlich- sowie Verhältnismäßigkeit erfüllt sind, ist in jedem Einzelfall sorgfältig zu untersuchen. Mit der Möglichkeit Heimkontingente zu verwenden, liegt eine weniger beschränkende Alternative zu klassischen Ausländerklauseln und Home-Grown-Klauseln vor. Diese schreiben lediglich eine Mindestanzahl an deutschen Spielern im Kader vor, begrenzen aber nicht den Einsatz von ausländischen Basketballern.59 Durch die deshalb potentiell höhere Anzahl von ausländischen Spielern kann sich 56
EuGH, 11. 7. 2002, Rs. C-224/98 (d’Hoop), Slg. 2002, I-6191, Rn. 36; Streinz/Streinz (Fn. 29), Art. 18 AEUV, Rn. 63; Vieweg/Röthel, ZHR 2002, 6 (26 ff.). 57 Hilf, NJW 1984, 517 (518); Kahlenberg, SpuRt 1994, 129 (130). 58 Vgl. Rechtsausschuss des Deutschen Basketball Bundes, 24. 03. 2010, RA Entscheidung 03/2009, SpuRt 2010, 215, 218. 59 Kliesch (Fn. 9), S. 175.
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der Konkurrenzdruck im Team erhöhen. Auf diese Weise kann die Qualität der einzelnen Spieler verbessert werden, da nur die Besten zum Einsatz kommen würden. Dadurch könnten auch die deutschen Spieler zu noch besseren Leistungen motiviert werden, was wiederum der deutschen Jugendnationalmannschaft kurz-, und der Herrennationalmannschaft langfristig zugutekommen würde.60 Dagegen und für die Erforderlichkeit einer klassischen Ausländerklausel spricht jedoch, dass bei Heimkontingentierungen inländische Spieler in ihren Einsatzzeiten beschnitten werden könnten, wodurch diese weniger effektiv gefördert werden könnten. Deshalb könnte eine klassische Ausländerklausel das effektivere Mittel darstellen. Zwar ist hier ein Einschätzungsspielraum gegeben, sodass eine klassische Ausländerklausel zunächst als erforderlich angesehen werden könnte, allerdings trifft dann den Verwender einer Ausländerklausel eine erhöhte Darlegungslast.61 Die Erforderlichkeit der Ausländerklausel unterstellt, ist im Rahmen der weiteren Abwägung zunächst zu berücksichtigen, dass an einer guten und effektiven Nachwuchsförderung auch ein allgemeines Interesse besteht und diese dem Gemeinwohl zugutekommt.62 Das LG Heidelberg hat zuletzt auch angenommen, dass ein Verband in engen Grenzen ausländische Sportler von Deutschen Meisterschaften ausschließen darf.63 Zu beachten ist jedoch, dass der EuGH für die Angemessenheit von Ausländerklauseln hohe Hürden aufstellt. So stellte schon GA Lenz fest, dass Ausländerklauseln nicht unverzichtbar seien.64 Zudem entschied der EuGH später, dass wohl nur die Bildung von Nationalmannschaften als gerechtfertigte Ausnahme in Betracht kommt.65 Schon ein Eingriff, der die mittelbare Förderung der Nationalmannschaft durch einschränkende Regelungen im Jugendbereich bezweckt, kann gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstoßen. Nicht zu rechtfertigen sind Ausländerklauseln mit dem Argument, eine verstärkte Identifikation von Fans zur Mannschaft fördern zu wollen.66 Zudem werden nicht nur Ausländerklauseln, sondern auch die weniger einschneidenden Home-Grown-Regelungen regelmäßig kritisch bewertet.67 Vor diesem Hintergrund sind Ausländerklauseln grundsätzlich kritisch zu betrachten. Gerade im Jugendbereich erscheint eine Rechtfertigung des Eingriffs in 60
Vgl. kritisch hierzu Streinz, SpuRt 2008, 224 (229). Vgl. Rechtsausschuss des Deutschen Basketball Bundes, 24. 03. 2010, RA Entscheidung 03/2009, SpuRt 2010, 215 (218). 62 Vgl. Kliesch (Fn. 9), S. 303; Schimke (Fn. 3), S. 229 f.; Summerer, in: Fritzweiler/Pfister/Summerer (Hrsg.), Praxishandbuch Sportrecht, 4. Auflage 2020, Kap. 1, Rn. 162. 63 LG Heidelberg, 31. 10. 2019, 3 O 178/19. 64 GA Lenz, Schlussanträge v. 20. 9. 1995, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, I-4921, Rn. 270. 65 EuGH, 15. 12. 1995, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, I-4921, Rn. 76, 127; EuGH, 14. 7. 1976, Rs. C-13/76 (Dona), Slg. 1976, I- 1333, Rn. 14 – 16. 66 Streinz, SpuRt 2010, 231 (232); Streinz, SpuRt 2008, 224 (227); a. A.: Summerer, in: Fritzweiler/Pfister/Summerer (Hrsg.), Praxishandbuch Sportrecht, 4. Auflage 2020, Kap. 1, Rn. 162. 67 Gardiner/Welch (Fn. 2), S. 70 ff.; Streinz, SpuRt 2008, 224 (228). 61
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die Grundfreiheiten nur schwer begründbar. Jedenfalls aber bedarf es einer tiefgehenden Prüfung, welche die obigen Faktoren abwägt und die bisherige Rechtsprechung des EuGH berücksichtigt. IV. Europäisches Kartellrecht Es könnten zudem Verstöße gegen europäisches Kartellrecht vorliegen. 1. Verstoß gegen Art. 101 AEUV Nach Art. 101 Abs. 1 AEUV sind mit dem europäischen Binnenmarkt Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen unvereinbar, sofern sie geeignet sind, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen und und eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarkts bezwecken oder bewirken. a) Verhaltenskoordination eines Unternehmens oder einer Unternehmensvereinigung Die Unternehmenseigenschaft von Vereinen und die Einstufung von Sportverbänden als Unternehmensvereinigungen ist jedenfalls aufgrund der Rechtsprechung des EuGH mittlerweile anerkannt.68 Darüber hinaus müsste eine Verhaltenskoordination vorliegen. Im Rahmen von Ausländerklauseln kann dabei entweder von einem Beschluss des Verbandes auszugehen sein, wenn man darauf abstellt, dass der Verband die entsprechende Regelung bspw. im Rahmen ihrer Satzung einführt,69 oder von einer Vereinbarung, sofern darauf abgestellt wird, dass die Vereine über die Einführung der Klausel abgestimmt haben.70 Dieser Unterscheidung kommt in der Praxis allerdings nur eine geringe Bedeutung zu. Jedenfalls ist von einer Verhaltenskoordination auszugehen.71
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GA Lenz, Schlussanträge v. 20. 9. 1995, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, I-4921, Rn. 255 f.; Heermann, WuW 2009, 394 (401) m. w. N. 69 Heermann, WuW 2009, 394 (402); Streinz, SpuRt 1998, 89 (92); Weiß, Spurt 1998, 97 (98). 70 GA Lenz, Schlussanträge v. 20. 9. 1995, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, I-4921, Rn. 258; Summerer, in: Fritzweiler/Summerer/Pfister, Praxishandbuch Sportrecht, 4. Auflage 2020, Kap. 1, Rn. 191. 71 Vgl. GA Lenz, Schlussanträge v. 20. 9. 1995, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, I-4921, Rn. 258; Kliesch (Fn. 9), S. 297 m. w. N.
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b) Wettbewerbsbeschränkung Die Verhaltenskoordination müsste ferner zu einer Wettbewerbsbeschränkung führen. Dies ist dann anzunehmen, wenn die Unternehmensvereinigung zu einer spürbar negativen Beeinflussung der wirtschaftlichen Handlungsmöglichkeiten führt.72 Um eine solche Wirkung feststellen zu können, ist ein Vergleich der tatsächlichen Wettbewerbssituation mit derjenigen durchzuführen, die ohne das Verhalten bestehen würde.73 Zieht man bspw. die Klausel aus dem deutschen Jugendbasketball heran, so ist festzustellen, dass unabhängig davon, wie viele Spieler im Kader vorhanden sind, jedenfalls höchstens drei Spieler ohne deutsche Staatsangehörigkeit auf dem Spielberichtsbogen erscheinen dürfen. Insofern wird der Wettbewerb dadurch eingeschränkt, dass die Vereine – wie bezweckt – gerade nicht selbst über die Anzahl der einzusetzenden ausländischen Spieler entscheiden können. c) Zwischenstaatlichkeit und Spürbarkeit Hinsichtlich der Prüfung der Zwischenstaatlichkeit und Spürbarkeit der Verhaltenskoordination ist zunächst der relevante Markt zu bestimmen.74 Als relevanter sachlicher Markt ist im vorliegenden Beispiel der Arbeits- und Dienstleistungsmarkt für Jugendbasketballspieler zugrunde zu legen.75 Bei der Betrachtung des räumlich relevanten Marktes ist festzustellen, dass sich Vereine bei der Suche nach neuen Spielern nicht allein auf Deutschland oder die EU beschränken, weswegen hinsichtlich des Arbeits- und Dienstleistungsmarktes der weltweite Markt als räumlich relevant einzustufen ist. Die Klausel führt letztlich dazu, dass Vereine weniger ausländische Jugendbasketballer rekrutieren, da nur bis zu drei ausländische Spieler auf einem Spielberichtsbogen auftauchen dürfen. Insofern wird auf den Wirtschaftsverkehr zwischen den Staaten Einfluss genommen.76 Von der Spürbarkeit der Verhaltenskoordination ist ebenfalls auszugehen.77 d) Verhältnismäßigkeit nach Meca-Medina Weiter hat aufgrund der Rechtsprechung des EuGH in Sachen „Meca-Medina“ bei sportbezogenen Regelungen eine dreistufige Verhältnismäßigkeitsprüfung zu er72 Vgl. EuGH, 13. 7. 1966, Rs. 56 und 58/64 (Consten-Grundig), Slg. 1966, 321, 391; EuGH, 25. 11. 1971, Rs. 22/71 (Béguelin), Slg. 1971, 949, Rn. 10, 12. 73 EuGH, 30. 6. 1966, Rs. 56/65 (Société Technique Minière), Slg. 1966, 281 (303); EuGH, 10. 7. 1980, Rs. 99/79 (Lancôme), Slg. 1980, 2511, Rn. 24. 74 Vgl. Kliesch (Fn. 9), S. 312 m. w. N. 75 Vgl. Bahners, SpuRt 2003, 142 (143); Kliesch (Fn. 9), S. 313. 76 Heermann, WuW 2009, 394 (405), Weiß, SpuRt 1998, 97 (100). 77 GA Lenz, Schlussanträge v. 20. 9. 1995, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, I-4921, Rn. 260; vgl. auch Streinz, SpuRt 1998, 89 (92) sowie Weiß, SpuRt 1998, 97 (99), die eine Spürbarkeit bejahen, indem sie von Marktanteilen der Verbände von 100 % ausgehen.
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folgen.78 Zunächst ist der Gesamtzusammenhang der Vereinbarung oder des Beschlusses sowie seine Zielsetzung dahingehend zu untersuchen, ob ein legitimes Ziel verfolgt wird.79 Danach ist festzustellen, inwiefern die mit der Vereinbarung oder dem Beschluss verbundenen wettbewerbsbeschränkenden Wirkungen mit der Verfolgung der herausgestellten legitimen Ziele zusammenhängen und schließlich ist die Verhältnismäßigkeit zu überprüfen.80 Hierbei kann auf die obige Prüfung zur Rechtmäßigkeit von Ausländerklauseln im Rahmen der Grundfreiheiten verwiesen werden. Insbesondere ist anzumerken, dass zwar mit den Heimkontingenten und Home-Grown-Regelungen weniger beschränkende Möglichkeiten vorliegen, diese aber im Einzelfall nicht gleich effektiv sein müssen. Ferner ist anzuführen, dass im Rahmen der Prüfung des Art. 101 AEUVebenfalls die Besonderheiten des Sports zu berücksichtigen sind.81 Damit lassen sich Verhaltenskoordinierungen wie gemeinsame Regelwerke oder Maßnahmen zur Erhaltung der Existenz einer Vielzahl leistungsfähiger Vereine rechtfertigen.82 Ausländerklauseln dienen diesem Zweck jedoch nicht unbedingt. Jedenfalls sind sie für die Existenz des Sportes als solchem nicht zwingend erforderlich.83 Daher können die Besonderheiten des Sports die wettbewerbsbeschränkende Wirkung der Ausländerklauseln nicht angemessen rechtfertigen. Sie sind im Sport verzichtbar und deshalb unverhältnismäßig im Sinne von Meca-Medina.84 e) Keine Freistellung Das Eingreifen der in Art. 101 Abs. 3 AEUV genannten Freistellungstatbestände ist nicht ersichtlich. 2. Verstoß gegen Art. 102 AEUV Darüber hinaus besteht nach Art. 102 AEUV ein Verbot für die missbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung auf dem Binnenmarkt oder auf einem wesentlichen Teil desselben durch ein oder mehrere Unternehmen, soweit dies dazu füh78 EuGH, 18. 7. 2006, Rs. C-519/04 P (Meca-Medina), Slg. 2006, I-6991, Rn. 42; Scherzinger, NZKart 2020, 496 (496 f.); Stopper, SpuRt 2020, 216 (216 f.). 79 EuGH, 18. 7. 2006, Rs. C-519/04 P (Meca-Medina), Slg. 2006, I-6991, Rn. 42; Heermann, ZWeR 2009, 472 (479 f.); Stopper, SpuRt 2020, 216 (216 f.). Im Endeffekt entspricht dies einer bei den Grundfreiheiten vorzunehmenden Verhältnismäßigkeitsprüfung. 80 EuGH, 18. 7. 2006, Rs. C-519/04 P (Meca-Medina), Slg. 2006, I-6991, Rn. 42; Heermann, WuW 2009, 394 (403). 81 Heermann, WuW 2009, 394 (407); Stancke, SpuRt 2015, 46 (47). Streinz, SpuRt 1998, 89 (93). 82 Streinz, SpuRt 1998, 89 (93). 83 Vgl. Kornbeck, EuZW 2020, 603 (609); Streinz, SpuRt 1998, 89 (93). 84 Streinz, SpuRt 1998, 89 (93); Summerer, in: Fritzweiler/Pfister/Summerer (Hrsg.), Praxishandbuch Sportrecht, 4. Auflage 2020, Kap. 1, Rn. 196; GA Lenz, Schlussanträge v. 20. 9. 1995, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, I-4921, Rn. 262.
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ren kann, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Hierzu vertrat Generalanwalt Lenz in den Schlussanträgen zur Rechtssache Bosman, von einer gemeinsamen marktbeherrschenden Stellung der Vereine einer Profiliga ausgehend, die Auffassung, es gehe in diesem Fall „nicht um die Marktmacht, welche die Vereine in ihrer Gesamtheit gegenüber Wettbewerbern, Abnehmern oder Verbrauchern einnehmen“, da „Spieler […] zu keiner dieser Kategorien [gehören]“. Die Regelungen führen seiner Ansicht nach zwar zu einer Beschränkung des Wettbewerbs zwischen den Vereinen. Ein Missbrauch sei darin aber nicht zu erblicken, da insoweit allein das Verhältnis zwischen den Vereinen und ihren Spielern betroffen sei.85 V. Fazit Ausländerklauseln beeinträchtigen sowohl die Grundfreiheiten als auch den freien Wettbewerb. Allerdings lässt sich im Rahmen der Rechtfertigung in verschiedene Richtungen argumentieren, weswegen ein abschließendes Urteil über die Rechtmäßigkeit der Klauseln den Gerichten vorbehalten bleibt. Aufgrund der bisher ergangenen Urteile des EuGH muss bei klassischen Ausländerklauseln jedoch ein höherer Begründungsaufwand erfolgen, auch wenn diese der Förderung der Nationalmannschaft dienen. Dies gilt umso mehr bei Klauseln, die im Jugendbereich verwendet werden. Heimkontingente können eine Alternative darstellen, die ebenfalls zum bezweckten legitimen Erfolg einer erfolgreichen Nationalmannschaft führen kann. Diese Alternative dürfte wohl nicht gegen europäisches Primärrecht verstoßen.
85 GA Lenz, Schlussanträge v. 20. 9. 1995, Rs. C-415/93 (Bosman), Slg. 1995, I-4921, Rn. 285, 286; hierzu auch: Battis/Ingold/Kuhnert, EuR 2010, 3 (27); Streinz, SpuRt 1998, 89 (92).
Staat und Technik Prolegomena zur Evolution von Recht und Politik im Zeichen der Digitalisierung Von Martin Schulte „Der Universalismus der Technik ist ein solcher des Möglichen. Er ersetzt […], die Unsicherheit der künftigen Wirklichkeit durch die Sicherheit künftiger Möglichkeiten.“ (Niklas Luhmann, Systemtheorie der Gesellschaft, 2017, S. 619)
I. Einleitung Nachdem im Jahre 1989 am Fachbereich Rechtswissenschaften der Universität Trier das Institut für Umwelt- und Technikrecht gegründet worden war (es bestand bis 2019, um dann in ein Institut für Recht und Digitalisierung umgewandelt zu werden), ist es Klaus Vieweg zu danken, dass auf seine Initiative hin am 14. Mai 1991 das Institut für Recht und Technik der Juristischen Fakultät der Universität ErlangenNürnberg gegründet werden konnte. Es zählt auch nach seiner Emeritierung, wenngleich nicht mehr in der das Institut für Recht und Technik ursprünglich kennzeichnenden Breite und Vielfalt der Forschung,1 zu den zentralen Forschungsinstituten des nunmehrigen Fachbereichs Rechtswissenschaft der Universität Erlangen-Nürnberg. Vor diesem Hintergrund, insbesondere der beeindruckenden intra- wie interdisziplinären Spannbreite der Forschungen Klaus Viewegs, sollen nachfolgend aus dezidiert rechtssoziologischer Perspektive erste Überlegungen zur Evolution von Recht und Politik im Zeichen der Digitalisierung angestellt werden. Dabei handelt es sich um den Auftakt zu einer umfassender angelegten differenzierungstheoretischen Untersuchung, in deren Zentrum der Forschungsansatz stehen soll, im Wege einer (Fremd)Beobachtung und (Fremd)Beschreibung zu analysieren, wie sich Staat (und Staatlichkeit) und Recht in der Selbstbeschreibung des Rechtssystems angesichts des Wandels von der Industriegesellschaft (des 19. und 20. Jahrhunderts) zur digitalen Gesellschaft (des 21. Jahrhunderts) verändern.2 1 So ist unter dem Amtsnachfolger Klaus Viewegs, Prof. Dr. Franz Hofmann, eine gewisse „Engführung“ der Forschungen des Instituts auf den Forschungsschwerpunkt des Rechts des Geistigen Eigentums unverkennbar. 2 Siehe dazu beispielhaft aus jüngster Zeit Schallbruch, Schwacher Staat im Netz. Wie die Digitalisierung den Staat in Frage stellt, Wiesbaden 2018, passim.
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II. Theoretische Grundlegung Detailstudien zur digitalen Gesellschaft sind in ihren unterschiedlichsten Funktionssystemen schon längere Zeit nicht eben selten.3 Nun liegt aber seit kurzem aus der Feder von Armin Nassehi ein erster umfassender Entwurf einer „Theorie der digitalen Gesellschaft“ vor.4 Er selbst geht sogar so weit, zu behaupten, nichts weniger „als die erste Gesellschaftstheorie der digitalen Gesellschaft vorzulegen“.5 Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die sicherlich überraschende These, „dass die gesellschaftliche Moderne immer schon digital war, dass die Digitaltechnik also letztlich nur die Konsequenz einer in ihrer Grundstruktur digital gebauten Gesellschaft ist“.6 Digitalisierung lasse sich aber nur verstehen, wenn man sie nicht einfach voraussetze, sondern zunächst die Frage beantworte, für welches Problem der Gesellschaft Digitalisierung die Lösung sei. Es gehe mithin zentral um die „Frage nach der Funktion der Digitalisierung“.7 Als Bezugsproblem der Digitalisierung macht Nassehi dabei die Komplexität der Gesellschaft aus,8 was angesichts seines systemtheoretischen Forschungsansatzes nicht wirklich verwundert. Eindrucksvoll verankert er vor diesem Hintergrund Digitalisierung in der Struktur der modernen Gesellschaft,9 um davon ausgehend im Einzelnen die These zu entwickeln, dass es gerade die „Regelmäßigkeit der Gesellschaft“10 (in ihren Strukturen, Mustern, Routinen etc.) ist, aus der die Digitalisierung ihr enormes ökonomisches, politisches und wissenschaftliches Potential schöpfe. Durch Digitalisierung entdecke sich die Gesellschaft geradezu neu.11 So beeindruckend der Entwurf in seiner Originalität und Kreativität zweifelsohne daherkommt, ist er dennoch nicht ohne Kritik geblieben. Sie bezieht sich vor allem darauf, dass „ein Panorama der durchs Digitale veränderten Gegenwartsgesellschaft“ fehle. Im Einzelnen: „Wie etwa verändert sich das Politische durch die Digitalisierung von Wahlkämpfen, wie verändert sich der Begriff von Gesundheit/Krankheit durch die Digitalisierung von medizinischer Diagnostik und Therapie, wie verändern sich Öffentlichkeiten und die Funktion von Massenmedien durch die Ausbreitung 3 Siehe z. B. nur Baecker, in: Gläß/Leukert (Hrsg.), Handel 4.0 Die Digitalisierung des Handels – Strategien, Technologien, Transformation, Berlin, Heidelberg 2017, S. 3 ff.; Gärditz, Der Staat 54 (2015), 113 ff.; Schliesky, NVwZ 2019, 693 ff. 4 Nassehi, Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft, München 2019, passim; siehe dazu auch die Besprechungen von Kaube, FAS v. 25. 8. 2019, Nr. 34, S. 33; Koppetsch, FAZ v. 6. 9. 2019, Nr. 207, S. 12. 5 Nassehi (Fn. 4), S. 26. 6 Nassehi (Fn. 4), S. 11. 7 Nassehi (Fn. 4), S. 12. 8 Siehe dazu ausführlich Nassehi (Fn. 4), S. 28 ff. 9 Nassehi (Fn. 4), S. 44 ff., 57 ff. 10 Nassehi (Fn. 4), S. 28 11 Nassehi (Fn. 4), S. 50: „Die dritte Entdeckung der Gesellschaft ist … ihre digitale Entdeckung.“
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des Internets?12 Die Kritik erscheint begründet, soweit die durch Digitalisierung möglicherweise hervorgerufenen „Veränderungen“ in den benannten Funktionssystemen der Gesellschaft (Politik, Gesundheitswesen, Massenmedien) nicht monokausal gedeutet, sondern als Irritation der Gesellschaft13 begriffen werden. In diesem Sinne soll nachfolgend zunächst einmal dargestellt werden, mit welchem methodischen Beobachtungs- und Beschreibungsansatz analysiert wird, wie sich Staat (Staatlichkeit)14 und Recht angesichts des Wandels von der Industriegesellschaft zur digitalen Gesellschaft „verändern“.15 Methodologischer Ausgangspunkt der Untersuchung ist eine Fremdbeschreibung des Rechtssystems als eines sich selbst beschreibenden Systems. Durch sie erfährt jedes Subsystem der Gesellschaft – damit auch das Rechtssystem – eine doppelte Beschreibung: eine Selbstbeschreibung und eine Fremdbeschreibung. Selbstbeschreibung des Rechtssystems ist eine Beschreibung von innen, Fremdbeschreibung des Rechtssystems eine solche von außen. Besondere Bedeutung kommt der Selbstbeschreibung des Rechtssystems zu. Es muss nicht nur eine Selbstbeschreibung des Systems, sondern es kann durchaus eine Mehrheit von Selbstbeschreibungen eines Systems geben. Gerade das Rechtssystem ist dafür ein gutes Beispiel, weil es mit der Rechtspraxis, Rechtsdogmatik und Rechtsphilosophie/Rechtstheorie unterschiedliche Selbstbeschreibungen ein und desselben Systems produziert, die sich auf je unterschiedlichem Abstraktionsgrad und unter je spezifischer Distanznahme in der Perspektive mit dem Rechtssystem befassen. In Abhängigkeit von der Perspektive der Theoretisierung des Rechtsdenkens kommt es zu einer unterschiedlichen Rekonstruktion des Rechtssystems.16 Der Rechtspraxis geht es um die praktische Handhabung des Rechts in Alltagssituationen, insbesondere im Rahmen der praktischen Entscheidungstätigkeit. In der Fremdbeschreibung einer soziologischen Theorie des Rechts erweist sie sich als Organisation der gerichtlichen und nichtgerichtlichen Arbeitsbereiche des Rechtssystems (z. B. Gerichtsbarkeit, Gesetzgebung), aber auch als rechtsgestaltende Interaktion (z. B. Vertragsschlüsse) im Rechtssystem. 12
Koppetsch, FAZ v. 6. 9. 2019, Nr. 207, S. 12. Zum Verständnis von „Irritation und Irritierbarkeit der Gesellschaft“ siehe eingehend Schulte, Recht und Religion. Zur Evolution von staatlichem und kirchlichem Recht, Berlin 2020, S. 56 ff., 110 f., 114 f., 141. 14 Zum Wandel von Staatlichkeit siehe bereits Schulte, Staatlichkeit im Wandel, Paderborn 2017, passim. 15 Dabei muss das Rad erfreulicherweise nicht neu erfunden werden. Siehe deshalb zum Folgenden sehr viel ausführlicher bereits Schulte, Eine soziologische Theorie des Rechts, Berlin 2011, S. 11 ff. 16 Krawietz, in: ders./Welker (Hrsg.), Kritik der Theorie sozialer Systeme, Frankfurt a. M. 1992, S. 27 f.; siehe zum Verhältnis der Teildisziplinen der „Rechtswissenschaft“ zueinander aber insb. auch Hofmann, in: Stober (Hrsg.), Recht und Recht. Festschrift für Gerd Roellecke, Stuttgart/Berlin/Köln 1998, S. 117 ff.; vgl. ferner Funke, Allgemeine Rechtslehre als juristische Strukturtheorie, Tübingen 2004, passim et S. 292. 13
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Die Rechtsdogmatik wird als „innersystematisch erarbeitetes Gefüge juristischer Begriffe, Institutionen, Grundsätze und Regeln“ begriffen, die als Bestandteil der positiven Rechtsordnung unabhängig von einer gesetzlichen Fixierung allgemeine Anerkennung und Befolgung beanspruchen“.17 Aus der Perspektive der Fremdbeschreibung einer soziologischen Theorie des Rechts reflektiert sie als Selbstabstraktion die Rechtspraxis. Im Sinne einer „Konsistenzkontrolle“ definiert Rechtsdogmatik die „Bedingungen des juristisch Möglichen, nämlich die Möglichkeiten juristischer Konstruktion von Rechtsfällen“.18 Rechtsphilosophie/Rechtstheorie begreifen sich als diejenige Disziplin, in der juristische Grundsatzfragen und Grundprobleme auf „philosophische Manier“ reflektiert, diskutiert und, sofern möglich, beantwortet werden19 bzw. in normativer Absicht über das Recht, wie es sein sollte, nachgedacht wird.20 Im Sinne der Fremdbeschreibung einer soziologischen Theorie des Rechts geht es beiden darum, die Identität des Rechtssystems im Unterschied zu seiner Umwelt begrifflich auszuarbeiten und dabei Überlegungen zur Legitimation der Geltung positiven Rechts anzustellen. Nachdem damit in hier gebotener äußerster Kürze deutlich geworden sein dürfte, welchen Beitrag eine soziologische Theorie des Rechts, die eine Fremdbeschreibung des Rechtssystems als eines sich selbst beschreibenden Systems anfertigt, zur wissenschaftlichen Beobachtung und Beschreibung von Recht und „Rechtswissenschaft“ zu leisten vermag, soll dies nachfolgend – zumindest in ersten Umrissen – am Beispiel des Forschungsansatzes verdeutlicht werden, wie sich Staat (Staatlichkeit) und Recht in der Selbstbeschreibung des Rechtssystems angesichts des Wandels von der Industriegesellschaft (19./20. Jahrhundert) zur digitalen Gesellschaft (21. Jahrhundert) verändern. Es geht mithin um einen differenzierungstheoretischen Zugang zur Gesellschaft, genauer gesagt zum Verhältnis von Staat und Technik, und noch präziser um eine Selbst- und Fremdbeschreibung der Ko-Evolution von Recht und Politik im Zeichen der Digitalisierung. III. Der Staat der Industriegesellschaft Die Technikgeschichte denkt in großen evolutorischen Sprüngen.21 Am Anfang steht das Neolithikum (7000 – 3000 v. Chr.) mit seinem Übergang vom Nomadentum zur Sesshaftigkeit (vom Jäger und Sammler zum Dorf- und Stadtbewohner). Das Zusammenleben der Menschen in immer größer werdenden „Ballungsräumen“ schuf 17
Brohm, VVDStRL 30 (1972), 245 (246). Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, Stuttgart 1974, S. 18 f. 19 In diesem Sinne ausdrücklich Kaufmann, in: ders./Hassemer/Neumann (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 5. Aufl., Heidelberg 1989, S. 1 ff. 20 Rüthers, Rechtstheorie, München 1999, S. 8. 21 Zum Folgenden eingehend und instruktiv König, Technikgeschichte, Stuttgart 2009, S. 9 ff. 18
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Regelungserfordernisse, um die individuelle Entfaltung des Einzelnen und die notwendige Rücksichtnahme auf die Interessen des Nachbarn und der Allgemeinheit miteinander in Einklang zu bringen. Ungeachtet zaghafter Ansätze funktionaler Differenzierung (politisch, rechtlich etc.)22 blieb die Gesellschaft eine zunächst segmentär, später stratifikatorisch differenzierte (Städte und Reiche, Stadt und Land, Adel, Bürger, Bauern, Besitzlose). Mit der Industriellen Revolution des späten 18. Jahrhunderts, vor allem aber im 19. Jahrhundert, wurde „eine beispiellose gesellschaftliche Dynamik in Gang gesetzt“.23 Ein kaum vorstellbares Bevölkerungswachstum, der Übergang zur maschinellen Massenproduktion in Fabriken, die Steinkohle als Energieträger und zugleich wichtigster Grundstoff unterschiedlichster Industrien (z. B. der Chemieindustrie), nachhaltige soziale und räumliche Mobilisierung (Stichwort: Landflucht) und neue Verkehrs- und Kommunikationstechniken (Eisenbahn, Dampfschiff, Telegraphie) kennzeichneten spätestens zum Ende des 19. Jahrhunderts und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die sog. Industriegesellschaft.24 Auch für das Rechtssystem ist die Industriegesellschaft zum Thema geworden. Gleichsam paradigmatisch steht dafür aus der Perspektive der Rechtsdogmatik Ernst Forsthoffs im Jahre 1971 erschienene kleine Monographie mit dem Titel „Der Staat der Industriegesellschaft“.25 Wann immer die Sprache auf die Industriegesellschaft kommt, findet sich – fast schon als Pawlowscher Reflex – der Hinweis auf dieses Werk eines der bedeutendsten, aber auch umstrittensten Staats- und Verwaltungsrechtler des vergangenen Jahrhunderts. Bei näherer Lektüre des Werkes kann man sich allerdings nicht ganz des Eindrucks erwehren, dass es möglicherweise mehr zitiert denn gelesen wurde. Ein wenig scheint es damit das Schicksal der kleinen Monographie Niklas Luhmanns zum Thema „Legitimation durch Verfahren“26 zu teilen. Auch sie ist in aller Munde und darf in keiner Fundstelle fehlen, wenn es um Verfahrensfragen geht, jedoch zumeist, ohne sich wirklich mit dem (für manchen erstmaligen Leser) vielleicht überraschenden Inhalt befasst zu haben. Vergleichbares könnte möglicherweise auch für Ernst Forsthoffs „Staat der Industriegesellschaft“ gelten, wenn sich feststellen ließe, dass gar nicht die Industriegesellschaft, sondern Staat und Staatlichkeit der noch jungen Bundesrepublik Deutschland im Mittelpunkt des Werkes stehen. Dazu sogleich im Einzelnen.
22
König (Fn. 21), S. 11. König (Fn. 21), S. 11. 24 König (Fn. 21), S. 12; zum Begriff der Industriegesellschaft siehe m. w. N. insb. Meinel, Der Jurist in der industriellen Gesellschaft. Ernst Forsthoff und seine Zeit, 2. Aufl., Berlin 2012, S. 448 ff. 25 Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft. Dargestellt am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland, München 1971, passim; siehe in diesem Zusammenhang aber auch schon Huber, Das Recht im technischen Zeitalter. Rektoratsrede zum Dies Academicus der Universität Bern am 28. 11. 1959, 1960, passim. 26 Luhmann, Legitimation durch Verfahren, Neuwied 1969, passim. 23
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Natürlich bildet im Zusammenhang mit dem Aufkommen der Industriegesellschaft auch für Ernst Forsthoff die sich beschleunigende technische Entwicklung, oder in seinen Worten „die technische Realisation“27, den Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Was mit der sozialen Realisation28 in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts seinen Anfang genommen habe, werde Mitte des 20. Jahrhunderts durch die technische Realisation abgelöst.29 Sie sei sogar „vermöge der ungeheuren Akzeleration und Intensitätssteigerung, die sie in den letzten Jahrzehnten erfahren hat, praedominant geworden“.30 Vordergründig ging es ihm dabei in den frühen 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts um die Kontrolle und Begrenzung neuer Techniken (z. B. Kerntechnik, Raumfahrt, Elektronische Datenverarbeitung, Gentechnik) und ihrer Folgen für die Gesellschaft. Sie zerstörten die individuelle Freiheit des Einzelnen und seien „notwendig indifferent gegenüber dem Humanen“, so dass die maßgebliche Frage nach dem „Verhältnis von technischer Realisation und politischer Ordnung (Staat)“ letztlich auf die Suche nach einem effizienten „Hüter der Humanität“ hinauslaufe.31 Es würde aber wohl zu kurz greifen, das Anliegen Forsthoffs auf eine bloße Technikkritik zu reduzieren.32 Vielmehr gewinnt man bei genauer Lektüre des „Staats der Industriegesellschaft“ den Eindruck, dass der Autor in der technischen Realisation als solche einen Angriff auf Staat und Staatlichkeit in ihrer Gesamtheit sieht. Es geht ihm bei der Abfolge und beim Übergang von sozialer und technischer Realisation ums Ganze. Der technischen Realisation wird eine „geschichtsmächtige Potenz“33 zugeschrieben. Wie schon die soziale Realisation sei auch die technische Realisation als Angriff auf die bestehende Ordnung zu begreifen: „Der technische Prozess produziert sich selbst, und das um keines anderen Zweckes als um seiner selbst willen. Sein Motor ist … der dem Menschen innewohnende Drang, das, was als machbar erkannt ist, auch zu machen. Eben weil die Technik keinen außer ihr selbst liegenden Zweck hat, ist sie beliebig instrumentierbar“.34 Vielleicht geht 27 Forsthoff (Fn. 25), S. 30 ff.; siehe auch Forsthoff, in: Schatz (Hrsg.), Auf dem Weg zur hörigen Gesellschaft, 1973, S. 183 ff. 28 Dazu Forsthoff (Fn. 25), S. 32. 29 Siehe dazu auch Forsthoff, Der Staat 9 (1970), 145 ff. 30 Forsthoff (Fn. 25), S. 33. 31 Forsthoff (Fn. 25), S. 42, 45, 169 (möglicherweise einer internationalen Organisation); zum Inhumanen der Technik siehe auch Forsthoff, Der Staat 9 (1970), 145, 158 f. 32 In diesem Sinne wohl auch Meinel (Fn. 24), S. 463 ff. 33 Forsthoff, in: Schatz (Hrsg.), Auf dem Weg zur hörigen Gesellschaft, 1973, S. 183, 198. 34 Forsthoff (Fn. 33), S. 187; dass Forsthoff damit Sinn und Zweck der Technik grundlegend verkennt, wird nicht erst durch die „Corona-Warn-App“ deutlich, sondern lässt sich schon viel länger dadurch belegen, dass Schutz vor der Technik gerade durch die Technik realisiert wird. Ein schönes Beispiel dafür ist das Thema der Datensicherheit, bei dem maßgeblich kryptographische Systeme dem Schutz der Vertraulichkeit und Integrität dienen. Zu kurz greift Forsthoff deshalb auch, wenn er das charakteristische Moment der technischen Realisation darin sieht, dass sie „nur technische Probleme, weder gesellschaftliche noch politische“ löse. So Forsthoff (Fn. 25), S. 33.
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man deshalb gar nicht zu weit in der Annahme, dass sich die technische Realisation im Sinne Forsthoffs als Ausdruck eines „ursprünglich revolutionären Aktivismus“ begreift, „der sich nach dem Absterben der revolutionären Ideologie in seiner zerstörerischen Arbeit gegen die bestehenden Verhältnisse erschöpft“, letztlich also „Perfektionismus, Wendung und schließlich Hass gegen das unvollkommene Bestehende“ meint.35 Vor diesem Hintergrund fragt Forsthoff dezidiert nach dem Verhältnis von Staat und Technik bzw. in seinen Worten „nach dem Verhältnis von technischer Realisation und politischer Ordnung (Staat)“.36 Er hält dabei grundsätzlich drei Möglichkeiten für denkbar. Der Staat könne sich zum einen mit der Technik identifizieren und damit zum „Herrn und Promoter des technischen Prozesses“ machen, er könne zum anderen der technischen Entwicklung freien Lauf lassen, so dass Staatlichkeit eine „Komplementärfunktion der Industriegesellschaft“ werde oder schließlich „als Ausdruck und Hüter einer konkreten politischen Ordnung außertechnischer Provenienz“ den Rahmen technischer Realisation bestimmen.37 Angesichts des absehbaren enormen technischen Fortschritts plädiert Forsthoff für die zuletzt genannte Variante und sieht den Staat in der Pflicht, den technischen Prozess nicht den immanenten Bedingungen seiner Fortbewegung zu überlassen, sondern ihm die Grenzen zu setzen, die im Interesse eines geordneten menschlichen Zusammenlebens erforderlich seien.38 Die noch junge Bundesrepublik Deutschland sieht er allerdings für diese Aufgabe nicht hinreichend gerüstet. Eine weitere Fehleinschätzung, der er nicht nur für die von ihm ausdrücklich angesprochene Gentechnik erlegen ist.39 Denn ganz allgemein lässt sich für den noch jungen Staat – ohne hier ins Detail gehen zu können – feststellen, dass er die zunehmende Technisierung des Lebens nach dem 2. Weltkrieg regulatorisch durchaus überzeugend in Angriff genommen hat. Zwar fehlt es noch an der Ausbildung eines eigenständigen Technikrechts40, doch ist bereits früh ein deutlicher Ausdifferenzierungsprozess im Hinblick auf die unterschiedlichen gesellschaftlich wirksamen Techniken (Kernenergie, Mikroelektronik, Automatisierung der Produktion, Raumfahrt, Medizintechnik etc.) erkennbar. Entsprechende Bereichskodifikationen finden sich etwa im Atomrecht (1959), im Datenschutzrecht (seit 1970), im Umweltrecht (mit der TA Luft im Jahre 1964, mit der TA Lärm im Jahre 1968, mit dem Bundesimmissionsschutzgesetz im Jahre 1974) oder im Gerätesicherheitsrecht (mit dem „Maschinenschutzge35
So ausdrücklich Meinel (Fn. 24), S. 465. Forsthoff (Fn. 25), S. 42 ff. 37 Forsthoff (Fn. 25), S. 42. 38 Forsthoff (Fn. 25), S. 46. 39 Mit Blick auf die Gentechnik hat sich seine Skepsis bezüglich der Schutzfunktion des Staates spätestens 1990 (mit dem Erlass des Gentechnikgesetzes) als unbegründet erwiesen. Zur Entwicklung des nationalen Rechtsrahmens für die Gentechnik siehe nur Schulte/Apel, Recht der Umwelt- und Humangentechnik, in: Schulte/Schröder (Hrsg.), Handbuch des Technikrechts, 2. Aufl., 2011, S. 505, 530 ff. 40 Siehe dazu instruktiv Vec, in: Schulte/Schröder (Fn. 39), S. 3 ff. 36
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setz“ im Jahre 1968).41 Die Rechtspraxis der noch jungen Bundesrepublik hat sich damit – entgegen der Vermutung Forsthoffs – mit ihrer Gesetzgebung, aber auch ihrer Rechtsprechung42, durchaus in der Lage erwiesen, einen Rechtsrahmen für die „technische Realisation“ zu formulieren. IV. Der Staat der digitalen Gesellschaft Darum geht es auch für den Staat der digitalen Gesellschaft. Auch für ihn zeichnen sich bereits Konturen eines Rechtsrahmens ab.43 Am ehesten werden diese sichtbar, wenn man auf einige maßgebliche Parameter für die Regelungsstruktur eines solchen Rechtsrahmens schaut. Hier sind – an dieser Stelle noch ohne Anspruch auf Vollständigkeit – vor allem die „Regelungsziele“ und „Regelungsinstrumente“ des digitalen Staates, aber auch „Kontrolle“ und „Verantwortung“ im digitalen Staat zu nennen. Was die Regelungsziele des digitalen Staates, anders ausgedrückt seine Aufgaben, anbelangt, so gehört dazu seit jeher, die Entwicklung von Technik (auch) rechtlich zu fördern und ihre möglichen Folgen rechtlich einzuhegen.44 Schutz vor der Technik hieß jedoch lange Zeit Schutz vor klar erkennbaren, gleichsam handfesten Gefahren, z. B. vor neuen Verkehrsmitteln (Eisenbahn, Auto, Flugzeug), dem Bergbau, dem Maschinenbau oder der Kernenergie. Schon weniger greifbar sind demgegenüber heute die Risiken und Gefahren der Biotechnologie, man denke insoweit nur an die Genschere Crispr-Cas. Mit Blick auf die Digitalisierung haben sich diese schließlich praktisch vollständig verflüchtigt.45 Damit scheint sich auch das Anforderungsprofil an den Schutz vor der Technik und ihren Technikfolgen zu verändern. Zum längst tradierten Regelungsziel der Sicherheit von Personen und Geräten sind spezifische, auf die Risiken und Gefahren der Digitalisierung bezogene Schutzgüter hinzugetreten. Hierzu zählen insbesondere der Persönlichkeitsschutz und der Datenschutz (z. B. in der Form des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung). Und dies schon geraume Zeit nicht mehr allein gegenüber dem Staat, sondern auch gegenüber Privaten.46 Aber wird sich diese Entwicklung, z. B. mit Blick auf Big Data, fortsetzen? Oder erscheinen uns vielleicht schon in naher Zukunft Persönlichkeits- und Datenschutz als geradezu anachronistische Abwehrrechte gegenüber Staat und Pri41
Im Einzelnen dazu Vec (Fn. 40), S. 79 ff. m. w. N. Siehe an dieser Stelle nur am Beispiel des Atomrechts den Klassiker des Grundrechtsschutzes durch Verfahren: Mülheim-Kärlich BVerfGE 53, 30 (55). 43 Was zumindest ein Indiz dafür sein dürfte, dass mit der Digitalisierung nicht, wie teilweise schon vermutet (siehe z. B. die Relativierungen bei Baecker, Studien zur nächsten Gesellschaft, 2007, S. 169 ff., 172 et passim), die funktionale Differenzierung der Gesellschaft in Frage gestellt wird. Siehe dazu auch Wagner, FAZ v. 27. 9. 2017, Nr. 225, S. N 4. 44 Geradezu paradigmatisch dafür § 1 GentechG. Siehe dazu auch Gärditz, Der Staat 54 (2015), 113, 126 ff.; vgl. auch Schulte, Technik, Technikfolgen, in: Heun/Honecker/Morlok/ Wieland (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, 2006, Sp. 2444 ff. 45 Siehe dazu auch Bull, Der Staat 58 (2019), 57 (60). 46 Bull, Der Staat 58 (2019), 57 (61). 42
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vaten, „sobald ganze Lebensformen sich darin eingerichtet, sich in Clouds mit sich selbst synchronisiert, den Nahraum von Gelegenheitskommunikation durch das Netz erweitert und das Download-Internet längst schon zum Upload-Internet gemacht haben“?47 Vor uns könnte also eine (rechtspraktische wie rechtsdogmatische) Neujustierung dessen liegen, was Privatheit in der digitalen Gesellschaft eigentlich meint.48 An technikrechtlichen Regelungsinstrumenten, ob materieller oder verfahrensrechtlicher Art, herrscht kein Mangel.49 Im Staat der digitalen Gesellschaft kommen Technikverboten, Verboten mit Erlaubnisvorbehalt, Genehmigungspflichten und Auflagen aber eher geringe Bedeutung zu.50 Stattdessen spielen zunehmend verfahrensrechtliche Ansätze eine größere Rolle. Besonders deutlich wird dies etwa im Datenschutzrecht sowie im Telekommunikations- und Medienrecht. Zu nennen sind hier Transparenz- und Unterrichtungsvorschriften, aber auch Informationsverpflichtungen, die Erlaubnisvorschriften ergänzen.51 Sie stehen aber nur beispielhaft für tiefgreifende, gerade auch das Verhältnis von Staat und Technik betreffende Herausforderungen des Verwaltungsverfahrensrechts.52 Man denke vor allem an neue Verantwortungsteilungen zwischen Staat und Gesellschaft (Gewährleistungsverantwortung)53, die Ermöglichung von Flexibilität und Innovationsfähigkeit im Hinblick auf technische Herausforderungen der Gesellschaft54 sowie neue Informations- und Kommunikationstechniken in der digitalen Gesellschaft (Verfahrensrecht der Infor-
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Nassehi (Fn. 4), S. 316 f. Dass sich diesbezüglich die Rechtsdogmatik bereits auf den Weg gemacht hat, belegen in jüngster Zeit insb. Aldenhoff/Edeler/Hennig/Kelsch/Raabe/Sobala (Hrsg.), Digitalität und Privatheit, 2019, passim; Burk/Hennig/Heurich/Klepikova/Piegsa/Sixt/Trost (Hrsg.), Privatheit in der digitalen Gesellschaft, 2018, passim; ferner demnächst Eichenhofer, E-Privacy – Theorie und Dogmatik eines Europäischen Privatheitsschutzes im Internet-Zeitalter, i. E.; vgl. ferner weiter ausgreifend auch Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina/Union der deutschen Akademien der Wissenschaften/Deutsche Akademie der Technikwissenschaften (acatech), Privatheit in Zeiten der Digitalisierung, 2018, passim. 49 Siehe dazu ausführlich Kloepfer, Instrumente des Technikrechts, in: Schulte/Schröder (Hrsg.), Handbuch des Technikrechts, 2. Aufl., 2011, S. 151 ff. 50 In diesem Sinne auch Bull, Der Staat 58 (2019), 57 (84 ff.). 51 Bull, Der Staat 58 (2019), 57 (87); zur Reichweite von Informationspflichten im Datenschutzrecht siehe nur Mantz/Marosi, in: Specht/Mantz (Hrsg.), Handbuch Europäisches und deutsches Datenschutzrecht. Bereichsspezifischer Datenschutz in Privatwirtschaft und öffentlichem Sektor, 2019, Rn. 99 ff. 52 Eingehend dazu sämtliche Beiträge im Siebten Teil „Verwaltungsverfahren“ von Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band II, 2. Aufl., 2012, §§ 27 – 32. 53 Siehe dazu Schulze-Fielitz, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Fn. 52), § 12 Rn. 148 ff., 154 ff.; monographisch Knauf, Der Gewährleistungsstaat: Reform der Daseinsvorsorge, 2004, passim. 54 Siehe dazu insbesondere Hoffmann-Riem, Innovation und Recht – Recht und Innovation. Recht im Ensemble seiner Kontexte, 2016, passim. 48
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mationsgesellschaft).55 Ob deshalb aber von der Rechtspraxis und Rechtsdogmatik im Staat der digitalen Gesellschaft wirklich der Weg von der Steuerung über die Regulierung hin zur Governance beschritten werden wird, bleibt abzuwarten.56 Was den Rechtsrahmen des digitalen Staates anbelangt, so dürfte die zukünftige Ausgestaltung der Kontrolle ein weiterer wichtiger Beurteilungsparameter sein. Sicherlich nicht ohne Grund wird nämlich als das derzeit wohl „am prominentesten gezeichnete Risikoszenario … das des totalen Kontrollverlusts über sich verselbständigende Mechanismen einer überwachungsaffinen Ordnungsbildung der digitalen Netzwelt“ bezeichnet.57 Nun sind dem Technikrecht, und damit auch dem Verhältnis von Staat und Technik, gewisse Kontrollgrenzen (insb. über die klassischen Rezeptionsklauseln von „Stand der Technik“ oder „Stand von Wissenschaft und Technik“) gleichsam inhärent,58 doch dürfte sich mit der Digitalisierung von Staat und Gesellschaft eine neue Dimension möglicher Kontrollverluste am Horizont abzeichnen. Um hier nur einige zu nennen: Die Gefahr einer Beobachtung und Steuerung der Öffentlichkeit durch den Zugriff auf die digitale Netzkommunikation, die Risiken des Big Data-Konzepts, der staatliche Zugriff auf Daten zu Verwertungszwecken in Gerichts- und Verwaltungsverfahren, die Verselbständigung von Überwachungsverbünden etc.59 Andererseits sind aber auch auf den unterschiedlichsten Ebenen zahlreiche (staatliche) Aktivitäten zur rechtlichen Einhegung und (gerichtlichen) Kontrolle der Techniknutzung in der digitalen Gesellschaft unverkennbar. So ist durch Gesetz im Jahre 2018 die Möglichkeit einer zivilprozessualen Musterfeststellungsklage eröffnet worden.60 Auch über staatlichen Gerichten vorgeschaltete private „CyberCourts“ als Schiedsgerichte wird in der Rechtsdogmatik nachgedacht.61 Sie sollen z. B. für den Bereich der neuen Medien Rechtsschutz in vereinfachten Verfahren und zu günstigen Kosten gewährleisten. Und nicht zuletzt hat sich angesichts
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Zu allem eingehend Schmidt-Aßmann, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Fn. 52), § 27 Rn. 70 ff. 56 Grundsätzlich eher skeptisch Voßkuhle, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Fn. 52), § 1 Rn. 68 ff., 70; geradezu euphorisch demgegenüber Schuppert, in: HoffmannRiem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Fn. 52), § 16 Rn. 20 ff.; zu Instrumenten und Verfahren des Regulierungsrechts siehe insb. Fehling, in: Fehling/Ruffert (Hrsg.), Regulierungsrecht, 2010, § 20. 57 So ausdrücklich Gärditz, Der Staat 54 (2015), 113, 121; deutlich akzentuiert auch bei Schallbruch, Schwacher Staat im Netz. Wie die Digitalisierung den Staat in Frage stellt, 2018, S. 187 ff. 58 Siehe dazu nur Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 3. Aufl., 2013, Art. 19 IV Rn. 134 ff. 59 Hinsichtlich einer rechtlichen Einhegung dieser Risiken aber grundsätzlich optimistisch Gärditz, Der Staat 54 (2015), 113 (122 ff.). 60 Gesetz zur Einführung einer zivilprozessualen Musterfeststellungsklage vom 12. 7. 2018, BGBl. I 2018, 1151 ff. 61 Siehe nur Bull, Der Staat 58 (2019), 57 (88); Ladeur, DuD 2012, 1 f.
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einer nun doch Fahrt aufnehmenden Digitalisierung der Verwaltung62 eine rechtsdogmatische Diskussion darum entwickelt, ob es insoweit neuer Formen der Vollzugskontrolle bedarf. In Ergänzung der klassischen subjektiven Vollzugskontrolle seien unter Umständen Konzepte einer objektiven Digitalaufsicht in Betracht zu ziehen.63 Bereits daraus wird ersichtlich, dass auch im digitalen Staat (gerichtliche) Kontrolle ein wesentliches Element seines Rechtsrahmens bilden wird. Dies dürfte schließlich auch für den Begriff der Verantwortung gelten, der im digitalen Staat eine „beachtliche Begriffskarriere“ erlebt. Man geht dabei sicher nicht fehl in der Beobachtung, dass er gegenwärtig sowohl rechtsphilosophisch64 wie rechtsdogmatisch65 „zum Fluchtpunkt des Umgangs mit gesellschaftlicher Komplexität“ avanciert.66 Auch für den Staat wird im Zeichen der Digitalisierung das Thema Verantwortung großgeschrieben. Dies geschieht zumeist mit Bezug auf die unterschiedlichen Arten und Intensitäten der Verantwortung, die insbesondere das Grundgesetz formuliert. In erster Linie ist dabei die sog. Infrastrukturverantwortung des Staates angesprochen, die in Art. 87 f Abs. 1 GG unmittelbaren Ausdruck gefunden hat. Hier wird im Zeichen der Digitalisierung der Gesellschaft das Bedürfnis nach einer grundlegenden Reform staatlicher Verantwortungssphären gesehen, was sich in einer von der Verfassung vorzunehmenden völligen „Neukonzeptionierung der Daseinsvorsorge-Leistungen“ niederschlagen müsse.67 Ein schnelles Datennetz, einheitliche Zugänge zu einheitlichen digitalen Verwaltungsleistungen oder digitale Bürgerkonten seien dabei nur einige Beispiele.68 Darüber hinaus sei der Staat im Interesse der Gewährleistung eines demokratischen Meinungs- und Willensbildungsprozesses der Gesellschaft ganz besonders als zuverlässiger Informationsgarant gefragt. Seit geraumer Zeit forderten ihn insoweit aber die Informationsmonopole großer, privater Digitalkonzerne zunehmend heraus, so dass es dringend verfassungsrechtlicher Rahmenvorkehrungen bedürfe, damit er diese Rolle wieder effektiv gegenüber dem Bürger wahrnehmen könne. Für die Zukunft einer freiheitlichen par-
62 Dazu jüngst insb. Guckelberger/Kube, VVDStRL 78 (2018), 235 ff.; 289 ff.; Berger, in: Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft (Hrsg.), 3. Nassauer Dialog. Digitalisierung und Arbeit 4.0., 2019, S. 25 ff. 63 Siehe insoweit nur die Diskussionsbeiträge von Schneider, VVDStRL 78 (2018), 337 f.; Guckelberger, VVDStRL 78 (2018), 355 f. mit der Anregung, de lege ferenda über „eine Art abstrakte Normenkontrolle in Bezug auf Algorithmen“ nachzudenken; eher skeptisch diesbezüglich Kube, VVDStRL 78 (2018), 357 (358). 64 Siehe insoweit nur Augsberg, RW 2019, 109 ff. 65 Ein schönes Beispiel dafür bilden die Compliance-Regeln im Datenschutzrecht. Siehe dazu neuerdings ausführlich Krätschmer, in: Specht/Mantz (Hrsg.), Handbuch Europäisches und deutsches Datenschutzrecht, 2019, § 6, S. 143 – 165. 66 So ausdrücklich Eller, RW 2019, 5; vgl. auch Windbichler, RW 2019, 34 ff.; speziell zur staatlichen Verantwortung im Zeichen der Digitalisierung Schliesky, NVwZ 2019, 693 (700). 67 Schliesky, NVwZ 2019, 693 (700) unter Verweis auf Schallbruch, Schwacher Staat im Netz, S. 232 ff. 68 Schliesky, NVwZ 2019, 693 (700).
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lamentarischen Demokratie handele es sich dabei um eine geradezu existentielle Herausforderung.69 Damit dürften die Konturen eines Rechtsrahmens für den Staat der digitalen Gesellschaft zumindest ansatzweise – und mehr war an dieser Stelle nicht zu leisten – deutlich geworden sein. In der Zukunft wird es darum gehen die bereits erwähnten und mögliche weitere Parameter für die rechtsdogmatische Regelungsstruktur eines solchen Rechtsrahmens detailliert herauszuarbeiten. V. Ausblick Eine Frage bleibt zum Schluss: Wird der am Horizont bereits langsam aufscheinende Staat der Künstlichen Intelligenz zu einer zusätzlichen Herausforderung für die Rechtspraxis und Rechtsdogmatik werden? Oder werden die Unterschiede zum Staat der digitalen Gesellschaft lediglich gradueller Natur sein? Die Privatrechtswissenschaft70 ist jedenfalls bereits alarmiert. So wird dort die Frage diskutiert, ob intelligente Roboter, selbstlernende Softwareagenten und andere autonome Systeme als rechtsfähig einzuordnen sind. Dies könne eine neue „Architektur der Rechtsfähigkeit“ erforderlich machen.71 Und vermutlich wäre dies nur eine aus einer ganzen Kette von Fragen. Rechtspraxis und Rechtsdogmatik, aber auch die Rechtsphilosophie72, werden sich diesen im Zeichen eines sich immer dynamischer gestaltenden technologischen Wandels zukünftig stellen müssen.
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Schliesky, NVwZ 2019, 693 (700). Ansatzweise gilt dies auch schon für die Verwaltungsrechtswissenschaft. Siehe insoweit z. B. Guggenberger, NVwZ 2019, 844 ff.; Heldt, NVwZ 2019, 862 f. 71 Siehe stellvertretend dafür Schirmer, JZ 2019, 711 ff.; vgl. aber auch aus der Privatrechtswissenschaft Teubner, AcP 218 (2018), 155 ff.; Grünberger, AcP 218 (2018), 213 ff.; Engert, AcP 218 (2018), 304 ff.; Langenbucher, AcP 218 (2018), 385 ff.; Amstutz, AcP 218 (2018), 438 ff.; Budzikiewicz, AcP 218 (2018), 558 ff.; vgl. allgemein aber auch Fries, RW 2018, 414 ff. 72 Zu möglichen Konsequenzen für den Status des Menschen und seine Personalität siehe insb. Schirmer, JZ 2019, 711 (712 f.); Teubner, AcP 218 (2018), 155 (164 ff., 196 ff.). 70
Der Griff der Eingriffsnormen nach dem Internationalen Familienrecht Von Robert Sieghörtner I. Einleitung Für Ehen bzw. eingetragene Lebenspartnerschaften, die ab 29. 1. 2019 geschlossen wurden und werden, bestimmen grundsätzlich Art. 20 ff. EuGüVO1 bzw. Art. 20 ff. EuPartVO2 das anzuwendende Güterrecht.3 Aus deutscher Sicht wurde dabei mit Art. 30 EuGüVO/EuPartVO erstmals in das Internationale Güterrecht eine Vorschrift zur Berücksichtigung von Eingriffsnormen eingeführt. Dies stellt im Internationalen Familienrecht eine Besonderheit dar. 4 Die Rom III-VO5, welche das Scheidungskollisionsrecht regelt, enthält keine Vorschrift zu Eingriffsnormen, ebenso wenig das Haager Unterhaltsprotokoll6 für das Unterhaltsstatut und das Haager Kinderschutzübereinkommen.7 Für das Internationale Erbrecht scheint mit Hinblick auf die EuErbVO8 zunächst dasselbe zu sagen zu sein, allerdings enthält sie mit Art. 30 EuErbVO eine Norm, die zum Thema gehört.9 Seit mit Inkrafttreten der Rom 1
VO (EU) 2016/1103 v. 24. 6. 2016, ABl. 2016 L 183, 1. VO (EU) 2016/1104 v. 24. 6. 2016, ABl. 2016 L 183, 30. 3 Zu beachten ist dabei, dass es nach der weiten Definition des Güterstands in Art. 3 Abs. 1 lit. a EuGüVO/EuPartVO keine Voraussetzung für eine güterrechtliche Qualifikation ist, dass eine Rechtsnorm spezifisch auf einen bestimmten Güterstand bezogen ist, Weber, DNotZ 2016, 659 (664); diese Weite des sachlichen Anwendungsbereichs wirkt sich natürlich auch auf den Bereich möglicher Eingriffsnormen im Rahmen des Art. 30 EuGüVO/EuPartVO aus; vgl. zur französischen Auffassung Martiny, IPRax 2011, 437 (451). 4 Heiderhoff, IPRax 2018, 1 (8): „für das internationale Familienrecht neu“; auch KrollLudwigs, GPR 2016, 231 (238), weist darauf hin, dass es sich um den einzigen familienrechtlichen EU-Rechtsakt, der eine Vorschrift zur Berücksichtigung von Eingriffsnormen enthält, handelt; v. Bar/Mankowski, IPR II, § 4 Rn. 340: „Novum im Konzert der internationalfamilienrechtlichen Rechtsakte der EU“; andere Rechtsordnungen enthielten aber bereits allgemeine Eingriffsnormenanknüpfungen, welche auch das Internationale Familienrecht erfassten, vgl. z. B. Art. 20 belgisches IPRG, Art. 17 italienisches IPRG sowie auch Dengel, Die europäische Vereinheitlichung des Internationalen Ehegüterrechts und des Internationalen Güterrechts für eingetragene Partnerschaften, 2014, S. 346 f. 5 VO (EU) 1259/2010 v. 20. 12. 2010, ABl. 2010 L 343, 10. 6 Haager Protokoll über das auf Unterhaltspflichten anzuwendende Recht v. 23. 11. 2007, ABl. 2009 L 331, 19. 7 Haager Kinderschutzübereinkommen v. 19. 10. 1996, BGBl. 2009 II 603. 8 VO (EU) 650/2012 v. 4. 7. 2012, ABl. 2012 L 201, 107. 9 Sonnenberger, in: Leible/Unberath, Brauchen wir eine Rom 0-Verordnung? S. 429 (431). 2
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I-VO10 das Internationale Schuldvertragsrecht nicht mehr im EGBGB geregelt ist, weist auch dieses keine Vorschrift mehr auf, die Eingriffsnormen betrifft. Die Rechtsakte zum Internationalen Schuldrecht – Rom I-VO (Art. 9) und Rom II-VO11 (Art. 16) – behandeln freilich das Thema der Eingriffsnormen. Allerdings ist bereits dort weitgehend anerkannt, dass die Sonderbehandlung von Eingriffsnormen in erster Linie als Bedürfnis und Phänomen des Internationalen Schuldvertragsrechts zu sehen ist und bereits im IPR der außervertraglichen Schuldverhältnisse ihre Durchsetzung eine wesentlich kleinere Rolle spielt.12 Einzig das Haager Erwachsenenschutzübereinkommen13 (ErwSÜ) enthielt aus dem Konzert internationalfamilienrechtlicher Rechtsinstrumente bisher eine Vorschrift, die als Eingriffsnormenregelung verstanden werden kann (Art. 20 ErwSÜ; dazu nachfolgend II. 1.).14 II. Der Aufstieg der Eingriffsnormen im deutschen IPR 1. Allgemein Aus deutscher Sicht liegt die historische Wurzel des „Eingriffsrechts“ in Art. 7 Abs. 215 des Europäischen „Übereinkommens über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht“ (EVÜ),16 welches am 19. 6. 1980 unterzeichnet wurde und am 1. 4. 1991 in Kraft getreten ist. Eine vergleichbare Regelung enthielt bereits Art. 7 des im Jahre 1972 vorgelegten „Vorentwurfs eines Übereinkommens über das auf vertragliche und außervertragliche Schuldverhältnisse anwendbare Recht“.17 Dessen Ursprung ist wiederum in der Sonderanknüpfung von Eingriffsnormen des Internationalen Kartellrechtes zu suchen.18 Mit der am 1. 9. 1986 in Kraft 10 VO (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 17. 6. 2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht ABl. 2008 L 177, 6. 11 VO (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11. 7. 2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht ABl. 2007 L 199, 40. 12 NK-BGB/Knöfel, Art. 16 Rom II-VO Rn. 1a; Freitag, NJW 2018, 430 (432); v. Bar/ Mankowski (Fn. 4), § 2 Rn. 565: im außervertraglichen Bereich nur relativ wenige Eingriffsnormen; vgl. auch Martiny, ZfPW 2017, 1 (29): „Das Instrument der Eingriffsnormen wurde bislang vor allem im internationalen Schuldrecht verwendet“. 13 Haager Übereinkommen über den internationalen Schutz von Erwachsenen v. 13. 1. 2000, BGBl. 2007 II 323. 14 Vgl. Jayme/Hausmann, Internationales Privat- und Verfahrensrecht, 19. Aufl. 2018, Nr. 20, S. 67. 15 Abs. 1 ist in Deutschland infolge eines entsprechenden Vorbehalts nicht in Kraft, vgl. Kegel/Schurig, IPR, S. 155. 16 ABl. 1980 L 266, 1; BGBl. 1986 II 810; Text auch: RabelsZ 46 (1982), 196; IPRax 1981, 67; ZfRV 1980, 305; konsolidierte Fassung ABl. 2005 C 334, 1. 17 Text: RabelsZ 38 (1974), 211; vgl zu Art. 7 des Vorentwurfs Lando, RabelsZ 38 (1974), 6 (33 ff.). 18 Mankowski, RIW 1996, 8, 9; das Eingriffsnormenthema lässt sich freilich noch weiter zurückverfolgen, vgl. v. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts VIII (1849; Nachdruck 1956), S. 33; zur Herleitung aus der Generalklausel des ordre public Kegel/Schurig,
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getretenen Neuregelung des Internationalen Privatrechts wurde Art. 7 Abs. 2 EVÜ in Deutschland als Art. 34 EGBGB inkorporiert, allerdings nur mit Bezug zum Internationalen Schuldvertragsrecht. Nach dem Inkrafttreten der Rom I-VO hat die Regelung das EGBGB wieder verlassen, so dass, wie unter I. dargestellt, derzeit vor allem noch im „Europäischen“ Kollisionsrecht Regelungen über Eingriffsnormen zu finden sind, dort neuerdings auch im Internationalen Güterrecht. Das Europäische Parlament hat sich damit gegen den Ausschuss für Bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres gestellt, der in seiner Stellungnahme aus Gründen der Rechtssicherheit und wegen der Gefahr der Ausuferung des Anwendungsbereichs die Streichung der Vorschrift vorgeschlagen hatte.19 Das ErwSÜ brachte durch sein Inkrafttreten am 1. 1. 2009 mit Art. 20 ErwSÜ für das deutsche IPR eine Regelung in das Internationale Familienrecht ein, welche teilweise – inoffiziell – mit „Eingriffsnormen“ überschrieben wird.20 Die Vorschrift nimmt Bezug auf Bestimmungen des Rechts des Staates, in dem der Erwachsene zu schützen ist, und deren Anwendung unabhängig vom sonst maßgebenden Recht zwingend ist. Sie ist insbesondere vor dem Hintergrund der Rechtswahlmöglichkeiten bei der Vorsorgevollmacht (Art. 15 Abs. 2 ErwSÜ) zu verstehen.21 Den Rückgriff auf die hergebrachte „Arblade-Formel“ für Eingriffsnormen (dazu ausführlich nachfolgend III.) nimmt die Vorschrift nicht vor. Allerdings wird auf die in Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO enthaltene Legaldefinition der Eingriffsnormen als Interpretationshilfe zurückgegriffen.22 Damit wird die Regelung tatsächlich zu einer solchen über Eingriffsnormen. Bedeutung hat sie bisher nicht erlangt. 2. Im Internationalen Güterrecht im Besonderen Das deutsche Internationale Ehegüterrecht kannte eine explizite Eingriffsnormenregelung also bis dahin nicht. Stattdessen sah der frühere Art. 3a Abs. 2 EGBGB einen Vorrang des Einzelstatuts für solche Gegenstände vor, die sich nicht in dem Staat befinden, dessen Recht Güterrechtsstatut ist, wenn sie nach dem Recht desjenigen Staates, in dem sie sich befinden, besonderen Vorschriften unterliegen. Diese Bestimmung ging auf eine lange Tradition im deutschen IPR zurück: in der Fassung des EGBGB von 1986 befand sie sich in dessen Art. 3 Abs. 3, in der Fassung von 1900 in dessen Art. 28. Damit verwirklichte der Gesetzgeber das von ihm anerkannte Bedürfnis, unter anderem auch beim Ehegüterrecht, dass das an sich festgelegte StaIPR, S. 152 ff.; ausführlich zur Geschichte der Eingriffsnormen Hemler, Die Methodik der „Eingriffsnorm“ im modernen Kollisionsrecht, 2019, S. 6 ff. 19 Rauscher/Kroll-Ludwigs, Einf EU-EheGüterVO-E Rn. 78, die ebenfalls die Streichung befürwortet hätte (a. a. O. Rn. 81). 20 Vgl. Fn. 14. 21 MüKoBGB/Lipp, Art. 20 ErwSÜ Rn. 1. 22 Staudinger/von Hein, Art. 20 ErwSÜ Rn. 3; MüKoBGB/Lipp, Art. 20 ErwSÜ Rn. 4; NK-BGB/Knöfel, Art. 20 ErwSÜ Rn. 2.
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tut besonderen Vermögensbestandteilen unter Umständen nicht gerecht wird.23 Der deutsche Gesetzgeber hat Art. 3a EGBGB a. F. durch das Gesetz zum Internationalen Güterrecht und zur Änderung von Vorschriften des Internationalen Privatrechts vom 17. 12. 201824 aufgehoben. Nach der Übergangsvorschrift in Art. 229 § 47 Abs. 2 EGBGB gilt die Norm nur für die Ehegatten, welche die Ehe vor dem 29. 1. 2019 geschlossen und ab diesem Zeitpunkt keine Rechtswahl nach der EuGüVO getroffen haben, fort. Anders als die EuErbVO, die mit Art. 30 EuErbVO eine Vorschrift enthält, die sich mit „besonderen Regelungen“ befasst und im weitesten Sinn als dem Art. 3a EGBGB a. F. vergleichbar angesehen werden kann, kennen EuGüVO bzw. EuPartVO Entsprechendes gerade nicht. III. Begriffsbestimmung der Eingriffsnormen Nach Art. 30 Abs. 2 EuGüVO/EuPartVO ist eine Eingriffsnorm eine Vorschrift, deren Einhaltung von einem Mitgliedstaat als so entscheidend für die Wahrung seines öffentlichen Interesses, insbesondere seiner politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Ordnung, angesehen wird, dass sie ungeachtet des nach Maßgabe der Verordnung auf den ehelichen Güterstand/die güterrechtlichen Wirkungen einer eingetragenen Partnerschaft anzuwendenden Rechts auf alle Sachverhalte anzuwenden ist, die in ihren Anwendungsbereich fallen. Rückgriff genommen wird damit auf die hergebrachte „Arblade-Formel“.25 1. Die Ziele des EU-Verordnungsgebers Ausweislich des Erwägungsgrundes 53 S. 1 zur EuGüVO erfolgt die Sonderanknüpfung von Eingriffsnormen aus Gründen des öffentlichen Interesses wie der Wahrung der politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Ordnung eines Mitgliedstaats. Dementsprechend sollte der Begriff „Eingriffsnormen“ Normen von zwingender Natur wie zum Beispiel die Normen zum Schutz der Familienwohnung umfassen (Erwägungsgrund 53 S. 2 zur EuGüVO). Diese Ausnahme von der Anwendung des auf den ehelichen Güterstand anzuwendenden Rechts sei jedoch eng auszulegen (Erwägungsgrund 53 S. 3 zur EuGüVO). Erwägungsgrund 53 S. 1 zur EuGüVO wiederholt dabei letztlich nur partiell die in Art. 30 Abs. 2 EuGüVO/EuPartVO ohnehin enthaltene Definition einer Eingriffsnorm und bringt damit keinen Mehrwert in der Erkenntnis hinsichtlich Sinn und Umfang der Sonderanknüpfung. Die Aussage in Erwägungsgrund 53 S. 2 zur EuGüVO, wonach es sich um Normen von zwingender Natur handele, wie auch das Gebot enger
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Ausf. zum geschichtlichen Hintergrund Kegel/Schurig, IPR, S. 423 ff. BGBl. 2018 I 2573. 25 EuGH, NJW 2000, 1553; Martiny, IPRax 2011, 437 (451).
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Auslegung (Erwägungsgrund 53 S. 3 zur EuGüVO) gehören ohnehin zum anerkannten „Grundtatbestand“ der Dogmatik von Eingriffsnormen.26 2. Der Schutz der Ehewohnung Damit verbleiben die in Erwägungsgrund 53 S. 2 zur EuGüVO beispielhaft genannten Normen zum Schutz der Familienwohnung. Auch die Begründung der Europäischen Kommission bezieht sich insoweit ausschließlich auf Rechtsnormen der Mitgliedstaaten zum Schutz der Familienwohnung.27 Es besteht Einigkeit, dass insoweit Bezug genommen ist auf entsprechende Vorschriften aus dem romanischen Rechtskreis,28 namentlich Art. 215 Abs. 3 des französischen Code civil29 und Art. 215 § 1 Abs. 1 belgischer Code civil.30 Danach ist ein Ehegatte ohne die Zustimmung des anderen nicht befugt, über die eheliche Wohnung und den zugehörigen Hausrat zu verfügen. Und tatsächlich dürfte die Zuordnung der Normen zum Schutz der Familienwohnung zu den Eingriffsnormen wohl auf eine französische Anregung zurückgehen.31 Bemerkenswerterweise regelte das belgische Kollisionsrecht diese Fragen bisher über eine Einzelstatutsanknüpfung und nicht über eine Eingriffsnormenregelung. So ergaben sich gemäß Art. 48 belgisches IPRG a. F. die Rechte an der Ehewohnung stets aus dem Recht des Lageortes.32 26
Vgl. z. B. Kropholler, IPR, S. 19, 497; zu Art. 16 Rom II-VO NK-BGB/Knöfel Art. 16 Rom II-VO Rn. 1, 2, 8; zu Art. 9 Rom I-VO Staudinger/Magnus, Art. 9 Rom I-VO Rn. 52. 27 Vgl. Europäische Kommission, Vorschlag für eine Ehegüterrechtsverordnung v. 2. 3. 2016 (COM(2016) 106 final), S. 11. 28 Es verwundert daher nicht, dass Art. 5 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik über den Güterstand der Wahl-Zugewinngemeinschaft die Zustimmung des anderen Ehegatten für Rechtsgeschäfte eines Ehegatten über Haushaltsgegenstände oder über Rechte fordert, durch die die Familienwohnung sichergestellt wird. 29 Vgl. Kroll-Ludwigs, GPR 2016, 231 (238, Fn. 122); Martiny, ZfPW 2017, 1 (28); Rupp, GPR 2016, 295 (298); Heiderhoff, IPRax 2018, 1 (9); Dengel (Fn. 4), Länderbericht Frankreich, Rn. 55, und Ferrand, in: Henrich/Schwab, Der Schutz der Familienwohnung in Europäischen Rechtsordnungen, S. 45 (54 ff.). 30 Vgl. Kroll-Ludwigs, GPR 2016, 231 (238, Fn. 122); ausf. zu dieser Norm Süß/Ring/ Hustedt, Eherecht in Europa, 3. Aufl. 2017, Länderbericht Belgien, Rn. 20, und Pintens, in: Henrich/Schwab, Der Schutz der Familienwohnung in Europäischen Rechtsordnungen, S. 1 (2 ff.); vgl. auch Art. 194 des türkischen ZGB, wonach ein Ehegatte nur mit ausdrücklicher Zustimmung des anderen einen Mietvertrag kündigen, das Haus oder die Wohnung der Familie veräußern kann, dazu Süß/Ring/Kilic, Eherecht in Europa, 3. Aufl. 2017, Länderbericht Türkei, Rn. 47; zum vergleichbaren Art. 169 Schweizerisches ZGB Schnyder, in: Henrich/ Schwab, Der Schutz der Familienwohnung in Europäischen Rechtsordnungen, S. 103 (105 ff.). 31 Henrich, ZfRV 2016, 171 (173); vgl. auch Martiny, IPRax 2011, 437 (451); v. Bar/ Mankowski, IPR II § 4 Rn. 340. 32 Süß/Ring/Hustedt, Eherecht in Europa, 3. Aufl. 2017, Länderbericht Belgien, Rn. 69; vgl. zum französischen Recht CCass civ, 20. 10. 1987, Rev. Crit. DIP 1988, 540, wonach die Art. 212 ff. Code civil territorial anzuwenden sind.
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Das deutsche Recht kennt solche spezifisch auf die Ehewohnung bezogene Veräußerungsverbote allerdings grundsätzlich33 nicht. Zuweisungsregeln für die Ehewohnung und Haushaltsgegenstände enthalten aber §§ 1361a, 1361b, 1568a, 1568b BGB (dazu nachfolgend 3. a)). Bei alledem bleibt aber doch eine Frage im Zusammenhang der verschiedenen Sätze des Erwägungsgrundes 53 zur EuGüVO bestehen: Inwiefern bestehen die Normen zum Schutz der Familienwohnung aus Gründen des öffentlichen Interesses? Es ist charakteristisch für Eingriffsnormen, dass sie im Schnittpunkt zwischen IPR und internationalem öffentlichen Recht liegen.34 Sie dienen der Durchsetzung überindividueller staatlicher Interessen.35 Diese Interessen bestimmt freilich der Staat, dessen Rechtsordnung die fragliche Norm angehört.36 Hinsichtlich der genannten französischen bzw. belgischen Norm lässt sich insofern schon deshalb zweifeln, weil der Verstoß nicht per se zur Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts führt, sondern nur, wenn der übergangene Ehegatte es innerhalb eines Jahres nach Kenntniserlangung, längstens innerhalb eines Jahres nach Eheauflösung, gerichtlich für nichtig erklären lässt. Die Verwirklichung des Normzwecks steht also gewissermaßen „doppelt“ in der Freiheit der Ehegatten (fehlende Zustimmung und gestellter Nichtigkeitsantrag). Hinzu kommt, dass nach Art. 217 des französischen Code civil die Zustimmung des anderen Ehegatten durch gerichtliche Ermächtigung ersetzt werden kann, wenn der zustimmungsberechtigte Ehegatte an der Zustimmung verhindert ist oder sie versagt, ohne dass dies durch das Familieninteresse gerechtfertigt wäre.37 Dies macht am deutlichsten klar, dass es um Familieninteressen geht und nicht um gewissermaßen „gegenüber der Familie höherstehende“ staatliche Interessen. Unterstrichen wird dies auch gesetzessystematisch durch die Einbettung der Regelung zum Schutz der Familienwohnung in den Art. 215 des französischen Code civil, welcher sich primär mit der gemeinsamen Lebensführung am gemeinsam gewählten Wohnort beschäftigt. Mit Recht weist daher Kroll-Ludwigs38 darauf hin, dass bei den auf den Schutz der Familienwohnung gerichteten familienrechtlichen Vorschriften ein Erfordernis für die Wahrung der öffentlichen Interessen des Herkunftsstaates, insbesondere seiner politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Ordnung, nicht gegeben ist. 33 Zur Ausnahme des Art. 5 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik vgl. Fn. 28. 34 MüKoBGB/Martiny, Art. 9 Rom I-VO Rn. 1. 35 V. Bar/Mankowski, IPR I § 4 Rn. 91; Kropholler, IPR, S. 498: die Norm liegt überwiegend oder zumindest stark im öffentlichen Interesse; Mankowski, RIW 1996, 8: „dient der Durchsetzung besonderer öffentlicher Interessen insbesondere staats- und wirtschaftspolitischer Art“; ausf. zum öffentlichen Normzweck A. Köhler, Eingriffsnormen – Der „unfertige Teil“ des europäischen IPR, 2013, S. 22 ff. 36 Vgl. nur Dengel (Fn. 4), S. 346: „Die Qualifikation als Eingriffsnorm nimmt der jeweilige Mitgliedstaat vor“. 37 Eine gerichtliche Ermächtigungsbefugnis enthält auch Art. 215 § 1 Abs. 1 belgischer Code civil. 38 GPR 2016, 231, 239.
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3. Die „Sogwirkung“ des Erwägungsgrundes 53 S. 2 zur EuGüVO Die Erwähnung der Normen zum Schutz der Familienwohnung im Erwägungsgrund 53 S. 2 zur EuGüVO hat in der deutschsprachigen Literatur bereits zu mehreren Erörterungsansätzen hinsichtlich der Anerkennung deutscher bzw. österreichischer Normen als Eingriffsnormen iSd Art. 30 EuGüVO/EuPartVO geführt. a) §§ 1361a, 1361b, 1568a, 1568b BGB §§ 1361a, 1361b, 1568a, 1568b BGB werden bereits, zumindest soweit es um die Zuweisung der Nutzungsbefugnis geht, als Eingriffsnormen angesehen.39 Für die Haushaltsgegenstände ist dies allerdings schon jetzt besonders umstritten und wird im Gegensatz zur Ehewohnung teilweise verneint.40 Die Behandlung der fraglichen Normen für in Deutschland belegene Ehewohnungen und Haushaltsgegenstände als Eingriffsnormen i. S. v. Art. 30 EuGüVO/EuPartVO hat aus deutscher Sicht zur Konsequenz, dass sie die frühere Rechtslage im Ergebnis aufrechterhält, da nach Art. 17a EGBGB a. F. die Nutzungsbefugnis für die im Inland belegene Ehewohnung und Haushaltsgegenstände den deutschen Sachvorschriften unterworfen war.41 Freilich ist auch hier ein primär öffentliches Interesse fraglich. Die für die frühere entsprechende Regelung in Art. 17a EGBGB a. F. sprechenden Gründe der Sachnähe des Gerichts und der Schnelligkeit und Effektivität der Lösung der Nutzungsfragen42 reichen wegen ihres allgemein (international-)prozessualen Charakters alleine nicht. Tragfähiger erscheint das Argument, dass es sich hinsichtlich der Ehewohnung um nicht aufgebbare Gerechtigkeitspostulate handele, und zwar sowohl im Interesse und zum Schutz des Ehegatten, der Gewalt durch den anderen Teil ausgesetzt ist, als auch in der Ehewohnung lebender Kinder.43 b) § 82 Abs. 2 österreichisches EheG Nach § 82 Abs. 2 österreichisches EheG ist bei Ehescheidung auch die Ehewohnung, die ein Ehegatte in die Ehe eingebracht oder von Todes wegen erworben oder die ihm ein Dritter geschenkt hat, dann in die Aufteilung des Gebrauchsvermögens einzubeziehen, wenn dies vereinbart wurde, wenn der andere Ehegatte auf ihre Weiterbenutzung zur Sicherung seiner Lebensbedürfnisse angewiesen ist oder wenn ein 39
Vgl. ausf. Erbarth, NZFam 2018, 342 ff., der den Eingriffsnormencharakter der §§ 1361b, 1568a BGB bejaht, den der §§ 1361a, 1568b BGB verneint; Rupp, GPR 2016, 295 (298); Heiderhoff, IPRax 2018, 1 (9); NK-BGB/Sieghörtner, Art. 30 EuGüVO Rn. 8; unentschieden Dutta, FamRZ 2016, 1973 (1983). 40 Ausf. Erbarth, NZFam 2018, 342 (344) m. w. N. 41 NK-BGB/Gruber Art. 17a EGBGB Rn. 15 benannte demgemäß die Möglichkeit, Art. 17a EGBGB a. F. als Indiz für den Eingriffsnormencharakter der Vorschriften zu sehen. 42 Vgl. Coester-Waltjen, in: Dutta/Weber, Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, S. 47 (59), Rn. 43. 43 Erbarth, NZFam 2018, 342 (343).
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gemeinsames Kind an ihrer Weiterbenutzung einen berücksichtigungswürdigen Bedarf hat. Gleiches gilt für den Hausrat, wenn der andere Ehegatte auf seine Weiterbenutzung zur Sicherung seiner Lebensbedürfnisse angewiesen ist. Henrich44 will dieser Bestimmung den Charakter einer Eingriffsnorm zuerkennen. Ein überwiegendes öffentliches Interesse ließe sich bezüglich der Nutzungsbefugnis aber allenfalls erkennen, soweit der andere Ehegatte oder ein gemeinsames Kind seine Lebensbedürfnisse nicht hinreichend decken kann oder eine deutliche Verschlechterung seiner Lebensverhältnisse hinnehmen müsste; vgl. § 97 Abs. 3 österreichisches EheG, wonach in solchen Fällen – aber auch nur dann – das Gericht auch von einer im Voraus geschlossenen Vereinbarung über die Nutzung der Ehewohnung bei der Aufteilung abweichen könnte. Nennen müsste man in diesem Zusammenhang auch § 97 österreichisches ABGB. Danach hat dann, wenn ein Ehegatte über die Wohnung, die der Befriedigung des dringenden Wohnbedürfnisses des anderen Ehegatten dient, verfügungsberechtigt ist, dieser einen Anspruch darauf, dass der verfügungsberechtigte Ehegatte alles unterlässt und vorkehrt, damit der auf die Wohnung angewiesene Ehegatte diese nicht verliert.45 Letztlich bleibt aber auch hier die Qualifizierung des dringenden Wohnbedürfnisses eines Ehegatten als überwiegend öffentliches Interesse im Sinne einer Eingriffsnorm zweifelhaft und ist eher zu verneinen. c) § 1365 BGB Im Unterschied zu vielen anderen Rechtsordnungen fehlt in Deutschland eine genuine güterstandsunabhängige Beschränkung für die Familienwohnung.46 Da für Immobilien die Veräußerungsbeschränkung für das gesamte Vermögen in § 1365 BGB funktional nahekommt,47 verwundert es nicht, dass von ersten Stimmen in der deutschen Literatur erwogen wird, auch § 1365 BGB als Eingriffsnorm zu qualifizieren, jedenfalls wenn er im Einzelfall die Familienwohnung als „nahezu ganzes Vermögen“48 schützt.49 Nach Martiny50 sei „an eine Einordnung als Eingriffsnorm zu denken“. Nach Dutta51 könnte § 1365 BGB erfasst sein, „jedenfalls soweit er nach der Einzeltheorie im konkreten Fall die Familienwohnung vor einseitigen Verfügungen 44
Heinrich, ZfRV 2016, 171 (173). Ausf. zu dieser Norm Mayrhofer, in: Deixler-Hübner, Handbuch Familienrecht, S. 177, und Binder, in: Henrich/Schwab, Der Schutz der Familienwohnung in Europäischen Rechtsordnungen, S. 79 (81 ff.), insbesondere S. 87 ff. zur (grundsätzlich fehlenden) Außenwirkung der Norm. 46 Martiny, ZEuP 2011, 577 (589). 47 Martiny, ZEuP 2011, 577 (589). 48 Vgl. zu dieser sog. „Einzeltheorie“ BGHZ 35, 135 (143 ff.); 43, 174 ff.; 64, 246 (248); 77, 293 (295); MüKoBGB/Koch, § 1365 Rn. 12. 49 Dutta, FamRZ 2016, 1973 (1983); Martiny, ZfPW 2017, 1 (25). 50 Martiny, ZfPW 2017, 1 (25). 51 Dutta, FamRZ 2016, 1973 (1983). 45
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schützt.“ Entscheidend sei die Funktion der Verfügungsbeschränkung zu sehen: Geht es eher um die Sicherung der wirtschaftlichen Grundlage der Familie und weniger um den Schutz der künftigen güterrechtlichen Teilhabe, läge ein Charakter als Eingriffsnorm nahe.52 Auch dann liegt aber kein über den Schutz des einzelnen Ehegatten hinausgehendes Interesse vor, so dass § 1365 BGB insgesamt der Charakter einer Eingriffsnorm zu versagen ist.53 d) §§ 138 und 242 BGB als Kontrollnormen für Eheverträge Rieck54 neigt dazu, § 138 und § 242 BGB als Eingriffsnormen einzustufen. Bezug wird damit genommen auf die auf diesen Normen fußende Kontrolle von Eheverträgen durch die deutsche Rechtsprechung.55 Mankowski56 hatte allerdings bereits zu Art. 34 EGBGB a. F. (heute Art. 9 Rom I-VO) überzeugend nachgewiesen, dass § 138 BGB keine Eingriffsnorm ist, sondern in seiner Funktion als allgemeine privatrechtliche Missbrauchskontrolle eine dem Interessenausgleich zwischen den Parteien dienende Norm.57 Die allgemeine privatrechtliche Missbrauchskontrolle verfolgt keine staats- oder wirtschaftspolitischen Interessen.58 Im Rahmen des Art. 30 EuGüVO/EuPartVO gilt nichts anderes, ebenso wenig für § 242 BGB. Anderenfalls würden Generalklauseln wie §§ 138, 242 BGB zu grundrechtsspezifischen Eingriffsnormen, welche sich stets gegen ausländisches Güterrecht durchsetzen würden.59 Im Einzelfall kann eine Lösung über den ordre public (Art. 31 EuGüVO/EuPartVO) gesucht werden,60 der traditionell die Grundlage für die Wahrung der deutschen guten Sitten im IPR darstellt.61 52
Dutta, FamRZ 2016, 1973 (1983). So auch Heiderhoff, IPRax 2018, 1 (9). 54 Rieck, NJW 2016, 3755 (3760); möglicherweise ebenso Köhler, in: Dutta/Weber (Fn. 43), S. 147 (161 Rn. 33): „Nichtigkeitsvorschriften im Hinblick auf güterstandsbegründende Eheverträge“. 55 Vgl. nur BVerfGE 103, 89 = NJW 2001, 957; BVerfG, NJW 2001, 2248; BGHZ 158, 82 = NJW 2004, 930; BGH, NJW 2005, 2386; NJW 2006, 2331; BGHZ 170, 77 = NJW 2007, 907; BGH, NJW 2008, 1076. 56 Mankowski, RIW 1996, 8 ff. 57 Mankowski, RIW 1996, 8 (12); ebenso MüKoBGB/Martiny, Art. 9 Rom I-VO Rn. 17, 60 m. w. N.; so auch BGHZ 135, 124 im Zusammenhang mit Time-Sharing-Verträgen. 58 Mankowski, RIW 1996, 8 (10). 59 So zu Art. 9 Rom I-VO MüKoBGB/Martiny, Art. 9 Rom I-VO Rn. 17; gegen eine Qualifizierung von §§ 138 und 242 BGB i. R. d. Art. 9 Rom I-VO auch Palandt/Thorn, Art. 9 Rom I-VO Rn. 10 m. w. N.; NK-BGB/Doehner, Art. 9 Rom I-VO Rn. 37: weitgehend Einigkeit darüber; ebenso Kropholler, IPR, S. 498: §§ 138, 242 BGB sind keine Eingriffsnormen; den Ansatz, § 138 BGB zur Eingriffsnorm zu machen, hält Mankowski, RIW 1996, 8 mit Recht für „gefährlich“. 60 NK-BGB/Sieghörtner, Art. 30 EuGüVO Rn. 9; so auch BGH NJW 1997, 1697 (1700) im Zusammenhang mit Time-Sharing-Verträgen. 61 Mankowski, RIW 1996, 8 (10). 53
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e) § 1357 BGB Clavel/Jault-Seseke62 erwägen, Vorschriften bezüglich der gemeinschaftlichen Verbundenheit von Haushaltsschulden als Eingriffsnormen zu qualifizieren. Damit könnte aus deutscher Sicht die Schlüsselgewalt (§ 1357 BGB) ins Visier des Art. 30 EuGüVO/EuPartVO geraten. Verstärkter Gläubigerschutz ist dabei weniger Zweck der Norm; es geht vielmehr darum, die Unterhaltsgemeinschaft „Ehe“ mit Außenwirkung zu verstärken.63 Letzteres ließe sich bei sehr weiter Interpretation durchaus als öffentliches Interesse ansehen. Gegen eine Einstufung als Eingriffsnorm spricht jedoch schon die bisherige Behandlung des § 1357 BGB im deutschen IPR. Nach dem früheren Art. 16 Abs. 2 EGBGB setzte sich die Norm gegen ein an sich anwendbares ausländisches Ehewirkungsstatut nämlich nur bei Gutgläubigkeit zum Zwecke des Verkehrsschutzes durch. Diese Verkehrsschutzfunktion erfüllt aber nun Art. 28 EuGüVO/EuPartVO und nicht Art. 30 EuGüVO/EuPartVO.64 Diese Sichtweise verstößt auch nicht gegen das Gebot der autonomen Auslegung der EuGüVO/EuPartVO, denn es geht gerade um die Behandlung als Eingriffsnorm, wofür die Einstufung durch die Ursprungsrechtsordnung der betroffenen Norm eine entscheidende Rolle spielt. IV. Die Wirkweise der Regelung Hinsichtlich der Wirkweise der Eingriffsnormen hatte Sonnenberger65 mit Recht schon auf das Fehlen eines schlüssigen Konzepts hingewiesen. Dies gilt auch im Rahmen des Art. 30 EuGüVO/EuPartVO. Die Problematik „entzündet“ sich an der Behandlung von – aus der Sicht des Forumstaates – ausländischen Eingriffsnormen, da Art. 30 Abs. 1 EuGüVO/EuPartVO nur Eingriffsnormen der lex fori einbezieht. Anders als noch im Vorschlag für die Verordnung von 2011 werden drittstaatliche Normen in Art. 30 EuGüVO/EuPartVO nicht ausdrücklich angesprochen. 66 Mit Recht wird die Frage, ob bei hinreichendem, insbesondere räumlichem, Bezug auch Eingriffsnormen anderer Mitgliedstaaten der Verordnung oder von Drittstaaten zur Anwendung gebracht werden können, grundsätzlich bejaht. 67 Andernfalls hinge es von der internationalen Zuständigkeit ab, zu den Gerichten welchen Staates und damit Eingriffsnormen welchen Staates ein Zugang besteht. Zusätzlich mag das Risiko 62
Clavel/Jault-Seseke, YbPIL 19 (2017/2018), 233 (242). Vgl. ausf. MüKoBGB/Roth, § 1357 Rn. 1 ff.; Staudinger/Voppel, § 1357 Rn. 8 ff. 64 Vgl. zur Erfassung der Schlüsselgewalt durch Art. 28 EuGüVO/EuPartVO NK-BGB/ Sieghörtner, Art. 28 EuGüVO Rn. 4. 65 Sonnenberger (Fn. 9), S. 429 (443). 66 Martiny, ZfPW 2017, 1 (29); Hausmann/Odersky/Hausmann, IPR, § 9 Rn. 11; kritisch insoweit z. B. Twardoch, Rev. Crit. DIP 2016, 465 (475 f.). 67 Köhler (Fn. 55), S. 147 (162 Rn. 34); Martiny, ZfPW 2017, 1 (29); NK-BGB/Sieghörtner, Art. 30 EuGüVO Rn. 11; a. A. v. Bar/Mankowski (Fn. 4), § 4 Rn. 344; wohl auch Bonomi, in: Dutta/Weber (Fn. 43), S. 123 (143 Rn. 109). 63
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eines forum shopping entstehen. Beispielsweise griffe Art. 215 Abs. 3 des französischen Code civil bei Ehewohnung in Frankreich nur ein, wenn auch vor französischen Gerichten verhandelt würde. Sinnvoll kann hier eine Akzeptanz der Norm als Eingriffsnorm nur auf der Basis der Belegenheit der Ehewohnung in Frankreich sein.68 Dementsprechend stellt auch die Begründung der Europäischen Kommission zu Art. 30 EuGüVO/EuPartVO auf das Recht des Staates ab, in dessen Hoheitsgebiet sich die Wohnung befindet.69
V. Art. 30 EuErbVO als „vorbildliche“ Regelung? Schon die kurze Darstellung der geschichtlichen Entwicklung unter II. hat zum einen gezeigt, dass es zumindest im Internationalen Güterrecht und zumal dann, wenn dort die grundlegenden Kollisionsnormen (vgl. Art. 21 EuGüVO bzw. EuPartVO) ein Gesamtstatut definieren, ein Bedürfnis gibt, dieses in bestimmten Bereichen zu durchbrechen.70 Zum anderen wird klar, dass dafür auf der Basis der Historie des deutschen IPR – neben dem allgemeinen Vorbehalt des ordre public (vgl. Art. 31 EuGüVO bzw. EuPartVO), welcher aber nur anstößiges ausländisches Recht zum Schutz des unantastbaren Bereichs der eigenen Rechtsordnung abwehren soll – 71 die Sonderanknüpfung von Eingriffsnormen oder die Bildung eines Einzelstatuts entsprechend dem früheren Art. 3a Abs. 2 EGBGB zur Verfügung stehen. Die vorstehend angestellten Erwägungen lassen eine Eingriffsnormenregelung als problematisch erscheinen. Dagegen hätte eine dem Art. 30 EuErbVO entsprechende Vorschrift, gerade mit Blick auf die zu schützende Ehewohnung, einer territorialen Anknüpfung zum Durchbruch verhelfen können. Übertragen auf das Güterrecht hätte eine vergleichbare Norm formuliert werden können: „Besondere Regelungen im Recht eines Staates, in dem sich bestimmte unbewegliche Sachen, Unternehmen oder andere besondere Arten von Vermögenswerten befinden, die den ehelichen Güterstand/die güterrechtlichen Wirkungen einer eingetragenen Partnerschaft in Bezug auf jene Vermögenswerte aus wirtschaftlichen, familiären oder sozialen Erwägungen beschränken oder berühren, finden auf den ehelichen Güterstand/die güterrechtlichen Wirkungen einer eingetragenen Partnerschaft Anwendung, soweit sie nach 68
Vgl. insoweit auch Clavel/Jault-Seseke, YbPIL 19 (2017/2018), 233 (245). Vgl. Europäische Kommission, Vorschlag für eine Ehegüterrechtsverordnung v. 2. 3. 2016 (COM(2016) 106 final); S. 11. 70 Vgl. aber auch Rauscher/Kroll-Ludwigs, Einf EU-EheGüterVO-E Rn. 81, die ein Bedürfnis für die Berücksichtigung von Eingriffsnormen im europäischen Familienkollisionsrecht grundsätzlich für zweifelhaft erachtet. Freilich ließen sich solche Bedenken gerade aufheben, wenn statt an Eingriffsnormen an eine Sonderanknüpfung gedacht wird. 71 Außerdem „erfolgt bei der Sonderanknüpfung von Eingriffsnormen die Fragestellung generell aus einem anderen Blickwinkel, nämlich vom Anwendungswillen der jeweils betroffenen Eingriffsnorm her“; Erbarth, NZFam 2018, 342 (343); hilfreich ist insoweit die Betrachtung von Eingriffsnormenregelungen als „positiver“ ordre public, vgl. Kegel/Schurig, IPR, S. 516 ff.; zur Abgrenzung des ordre public und der Sonderanknüpfung von Eingriffsnormen z. B. MüKoBGB/v. Hein, Art. 6 EGBGB Rn. 83 f.; Mankowski, RIW 1996, 8 (10 ff.). 69
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dem Recht dieses Staates unabhängig von dem auf den ehelichen Güterstand/die güterrechtlichen Wirkungen einer eingetragenen Partnerschaft anzuwendenden Recht anzuwenden sind.“ Eine derartige Norm hätte sowohl den problematischen Rückgriff auf öffentlich-rechtliche Interessen vermieden, wie auch ein unmittelbares Abstellen auf die lex rei sitae ermöglicht. Art. 30 EuErbVO wird außerdem ohnehin als Eingriffsnormenregelung angesehen.72 Verständlicherweise findet sich daher in der Literatur der Ansatz einer Art „Interpolation“ der Vorgehensweise aus Art. 30 EuErbVO im Rahmen des Art. 30 EuGüVO/EuPartVO.73 VI. Schlussbemerkung Schon unter dem Aspekt der vorwiegend öffentlichen Interessen als Definitionskriterium für Eingriffsnormen bleibt Art. 30 EuGüVO/EuPartVO eine zweifelhafte Norm. Sie verstärkt vielmehr die von Sonnenberger74 eingehend beschriebene Tendenz, Normen einzubeziehen, die offenkundig ausschließlich privatem Interessenausgleich dienen. Mit Recht hält er dies mit dem Wortlaut des Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO, der mit dem des Art. 30 EuGüVO/EuPartVO nahezu identisch ist, für nicht vereinbar.75 Auch ihre Bindung an die Normen der lex fori ist unpassend und ist ggf. durch eine Einbeziehung forumfremder Eingriffsnormen zu beheben. Um den vom Verordnungsgeber hervorgehobenen Schutz der Ehewohnung zu verwirklichen, wäre eine dem Art. 30 EuErbVO entsprechende Regelung passender gewesen. Diesen Weg ist er jedoch leider nicht gegangen, so dass nun mit Art. 30 EuGüVO/EuPartVO im Internationalen Familienrecht eine Vorschrift besteht, für die schon jetzt Anwendungsdivergenzen in und unter den einzelnen Mitgliedstaaten erwartet werden.76 Die Anwendung des Art. 30 EuGüVO/EuPartVO auf die genannten ehewohnungsschützenden Normen des romanischen Rechtskreises wird sich im Hinblick auf die ausdrückliche Erwähnung in Erwägungsgrund 53 S. 2 zur EuGüVO nicht vermeiden lassen. Im Übrigen bleibt aber die mit Recht für Eingriffsnormenregelungen ausgegebene Warnung beachtlich, mit ihnen sorgsam umzugehen und sie nur zurückhaltend anzuwenden.77
72 NK-BGB/Freitag, Art. 3a EGBGB Rn. 5; MüKoBGB/Dutta, Art. 30 EuErbVO Rn. 1; Palandt/Thorn, Art. 30 EuErbVO Rn. 1. 73 In diese Richtung wohl Clavel/Jault-Seseke, YbPIL 19 (2017/2018), 233 (246). 74 Sonnenberger (Fn. 9), S. 429 (433 ff.). 75 Sonnenberger (Fn. 9), S. 429 (435). 76 Rupp, GPR 2016, 295 (298); Martiny, ZfPW 2017, 1 (28). 77 Vgl. nur Sonnenberger, IPRax 2003, 104 (116); Coester-Waltjen, in: Dutta/Weber (Fn. 43), S. 47 (59 Rn. 43).
Ein kubanischer Sklavenkaufvertrag von 1811 aus dem Photoarchiv von Klaus Vieweg Von Hans-Dieter Spengler I. Einleitung Am 20. 7. 2000 oblag es dem Jubilar im Rahmen seiner Amtspflichten als damaligem Dekan der Erlanger Juristischen Fakultät, die Antrittsvorlesung eines kurz zuvor neu berufenen Kollegen zu moderieren. Nur zu gut erinnere ich mich an die freundlichen Worte, mit denen er mich dem Publikum in der Aula des Schlosses vorstellte. Ja sogar ein eher unwichtiges Detail meiner Biographie, nämlich die Mitarbeit in der Forschungsgruppe „Antike Sklaverei“ der Mainzer Akademie der Wissenschaften, entging der Aufmerksamkeit Klaus Viewegs nicht. Anknüpfend daran erwähnte er, daß er eine Photographie eines kubanischen Sklavenkaufvertrags besitze, der interessante Gewährleistungsklauseln enthalte. Meine spontane Antwort darauf war, daß ich mir hierfür zwar einen gewissen rechtlichen Hintergrund vorstellen könne. Aber selbstverständlich müsse man sich das erst näher anschauen, um voreilige Festlegungen zu vermeiden. Genau 20 Jahre sind inzwischen vergangen, so daß jetzt die Gelegenheit ergriffen sei, das damalige Versprechen einzulösen und dem Jubilar Gedanken zu „seinem“ Sklavenkaufvertrag zu widmen. Dabei kann selbstverständlich nicht auf alle Aspekte, unter denen man die Urkunde betrachten könnte, eingegangen werden. Insbesondere soll es nicht darum gehen, einen spezifischen Beitrag zur Geschichte der lateinamerikanischen Sklaverei im 18./19. Jh. zu verfassen; dies würde schon aus Kompetenzgründen nicht gelingen können. Charakteristische Merkmale solcher Vertragsdokumente herauszuarbeiten, ist schon eher die Domäne des Rechtshistorikers. Hinsichtlich einzelner Klauseln ist dann über die Frage zu spekulieren, inwieweit sich in ihnen möglicherweise sehr alte Traditionen widerspiegeln könnten. II. Der Text der Urkunde Anläßlich eines Kuba-Besuchs im Jahr 1981 hat Klaus Vieweg im Museum des Castillo del Morro zu Santiago de Cuba die Photographie einer Urkunde angefertigt,1 welche einen zum Großteil vorformulierten gedruckten und nur an wenigen Stellen handschriftlich ergänzten Text enthält; die handschriftlichen Teile der Urkunde wur1 Die Inventarnummer dieser Urkunde ist leider nicht bekannt, doch kommt es für unsere Zwecke darauf nicht an, da es nur um den Typus geht.
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den in der folgenden Wiedergabe durch Kursivdruck kenntlich gemacht; Abkürzungen im Text sind aufzulösen versucht: 1 Muy Señor mio: Sirvase Vmd. formar escritura á favor de Dn Pedro Manzo, de uno negro que le 5 he vendido del armazon que ha conducido de la costa de Africa El Berg.n Español nombrado Boladono, su Capitan Dn Martin Fernaty en el precio 10 de Dos Cientos Setanta y cinco p(esos) con la calidad de bozal, alma en boca, huesos en costal, á uso de feria, sin asegurar de tachas ni enfermedades, mal di corazon, gota coral, de S. Lazaro, ni 15 otra qualesquiera que pueda padecer la humana naturaleza; porque todas corren por cuenta del comprador, y tambien la escritura. Ntro. Sr. g(uar)de. á Vmd. m(ucho)s a(ño)s. Ha20 bana, y Dic(embre) 15. de 1811 B. L. M. de Vmd. su mas atento servidor (Unterschrift)2
Links am Rande der Zeilen 5 – 11 findet sich, gedruckt in kleinerer Kursive eine „Einfuhr-Regieanweisung“: Se presentará en la Administracion general, antes de formar la escritura, para tomar la filiacian.3
2 Kurzer „textkritischer“ Kommentar: In Z. 4 bzw. 6 scheint jeweils das – grammatikalisch erforderliche – de durch eine vermutlich zeitübliche Ligatur mit dem Anfangsbuchstaben des jeweils folgenden Wortes verbunden zu sein. Z. 7: Berg.n : Abkürzung für „Bergantín“ (= Bergantine/Brigantine bzw. Brigg). Z. 23: Von der Unterschrift vermag der Verf. nicht die Majuskeln, sondern nur einige Minuskeln (ran und tar oder tur) zu entziffern; stimmt die gerade erwähnte Vermutung zur Ligatur von de, könnte sie mit de Corval oder de Conval enden. 3 Verschreibung für „filiación“.
Kubanischer Sklavenkaufvertrag von 1811 aus dem Photoarchiv von K. Vieweg
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Man möge es (sc. das vorliegende Schriftstück) bei der Generaladministration vorlegen, bevor eine weitere Urkunde zum Herkunftsnachweis ausgestellt wird. Ebenfalls am linken Rand ist bei Zeile 17 – 20 in sehr großer Handschrift die in Z. 10 mit Worten genannte Kaufsumme in Ziffern wiederholt: „Son 275 p(esos)“, darunter – in derselben Handschrift – „N. 33“, letzteres wohl eine Registraturangabe. Am oberen Rand findet sich über dem Text in der Mitte der handschriftlich angebrachte, auf der Photographie z. T. abgeschnittene Vermerk „Son (?) Dn José Valiñas“, daneben am rechten Rand eine Zahl, vermutlich 23,4 was wohl eine „Blattnumerierung“ für die in einem Archiv niedergelegte Urkunde darstellen dürfte. III. Das historische Umfeld der Urkunde Am 15. 12. 1811 ausgestellt, fällt die vorliegende Urkunde in eine Epoche, in der Kuba – als wenn auch de facto weitgehend wenig abhängiger Teil des spanischen König- und Kolonialreichs – infolge der mittels Massensklaverei betriebenen Zuckerrohrproduktion florierte.5 Dabei war der „frische“ Arbeitskraft generierende Sklavenimport von Afrika aus über den Atlantik die „wichtigste Quelle des fast explosiven Wachstums der kubanischen Bevölkerung“6 und des Wohlstands der Insel. Ungeachtet der ausdrücklichen Aufhebung des britischen Sklavenhandels seit 1807/08 und des Verbots des – freilich nur – „äußeren“ Sklavenhandels durch die USA7 läßt sich für Kuba die Epoche von 1805 – 1820 als die Periode der „Entmonopolisierung und des freien (sc. Sklaven-)Handels“ charakterisieren.8 Gesetze zur Regelung des Sklavenstatus in Lateinamerika wurden zwar von der spanischen Krone ersonnen und auch erlassen, wie etwa der sog. Código negro español von 1789, aber nicht vollzogen; 9 König Ferdinand VII. (geb. 1784; König 1808 und 1814 – 1833) von Spanien erhob das „Nichtantasten der Sklaverei schließlich zum Prinzip.“10 Daß Europa in dieser Epoche geistig unter dem Einfluß der Aufklärung stand, politisch unter den Aus4
Man könnte hier auch 25 oder 29 lesen. Zu den Hintergründen s. nur M. Zeuske, Schwarze Karibik: Sklaven, Sklavereikultur und Emanzipation, Zürich 2004, 11 ff., 131 ff. 6 So Zeuske, Schwarze Karibik (o. Fn. 5), 197. 7 Dazu (und zu den Folgen für Kuba) vgl. Zeuske, Schwarze Karibik (o. Fn. 5), 199 ff. 8 So Zeuske, Schwarze Karibik (o. Fn. 5), 198, 202 ff. 9 Dieser sog. Código negro español, eigentlich Real cédula de su magestad sobre la educacion, trato y ocupaciones de los esclavos en todos sus dominios de Indias é islas Filipinas, baxo las reglas que se expresan, Madrid 1789 enthält entsprechend seinem Titel insbesondere Regeln zur (christlichen) Erziehung der Sklaven, Ernährungs- und Bekleidungspflichten für die Herren, zur Landarbeit und zum Verhalten der Sklaven an Festtagen, zur Wohnung, Altenund Krankenpflege, zur (erwünschten) Sklavenehe, zu Strafen und zu Fragen der Züchtigung. Über den Sklavenerwerb äußert er sich allerdings nicht. Für die Entwicklung seit der „Entdeckung“ Amerikas 1492 bis zum Ende des 16. Jh. s. nur I. Czeguhn, Sklavereigesetzgebung im Spanien der frühen Neuzeit sowie in den ersten Jahrzehnten der Kolonisierung in Amerika, in: U. Müßig (Hrsg.), Ungerechtes Recht, Tübingen 2013, 101 – 114. 10 So Zeuske, Schwarze Karibik (o. Fn. 5), 186 f. 5
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wirkungen der französischen Revolution und militärisch unter der Knute Napoléon Bonapartes, sei nur am Rande vermerkt.11 Die Urkunde selbst folgt einem in der Literatur zum Thema wohlbekannten, standardisierten Typus.12 Mit dem Schlagwort „Sklavenkaufvertrag“ wird ihre Natur jedoch nur unvollständig erfaßt. Denn sie stellt nicht den Kaufvertrag selbst dar, sondern berichtet über einen bereits erfolgten Sklavenverkauf13 und dessen Konditionen. Ihr eigentlicher Zweck ist die Aufforderung an den eingangs genannten Muy Señor mio, eine Urkunde zugunsten des Käufers, hier eines Pedro Manzo auszustellen. Diese noch zu errichtende Urkunde hat ersichtlich die Funktion eines Herkunftsnachweises und ist damit geeignet, zugunsten des Käufers die Rechtmäßigkeit des Kaufs und somit die Eigentumsverhältnisse am gekauften Sklaven nachzuweisen. Unsere Urkunde hat ferner einen zweiten Aspekt – und dieser dürfte aus Sicht der staatlichen Verwaltung der wichtigere sein –, denn es geht darum, daß der Einfuhrzoll14 für den Sklaven anhand des Kaufpreises berechnet werden kann.15 Zur Zeit der Ausstellung unserer Urkunde 1811 war, wie gerade gesagt, der Sklavenhandel in Kuba ein legales Geschäft, bevor er 1820 verboten wurde. Dieses Verbot bewirkte freilich nicht automatisch das Ende der Sklaverei, sondern lediglich, daß er in allseits geduldeter Illegalität weitergeführt wurde und somit zum Schmuggel mutierte.16 Den Historiker würde es an dieser Stelle naturgemäß reizen, Näheres über die hier handelnden Personen, den Käufer Pedro Manzo, den Kapitän Martin Fernaty, die Funktion des am oberen Rand genannten José Valiñas,17 den (anhand seiner Schrift derzeit nicht identifizierbaren) unterschreibenden Verkäufer, oder über das Schiff, 11 Zum – geringen – Einfluß der Aufklärung auf den spanisch-kubanischen Sklavenhandel bzw. die Sklaverei s. nur Zeuske, Schwarze Karibik (o. Fn. 5), 193 ff. 12 Vgl. die Wiedergabe desselben Formulars in: Documents Relating to the Foreign Relations of the United States … Bd. 6, Doc. No. 121 (Slave Ships in Alabama), Washington 1826, 57 (Verkauf von quatro negros zum Preis von 1600 ps., Havanna, 9. 7. 1818) oder bei M. Zeuske, The Names of Slavery and Beyond: the Atlantic, the Americas and Cuba, in: U. Schmieder, K. Füllberg-Stolberg, M. Zeuske (Hrsg.), The End of Slavery in Africa and the Americas: A Comparative Approach, Berlin 2011, 51 – 80, 64 (Verkauf von una negra zum Preis von 350 ps., Matanzas, 20. 5. 1820); letztere Urkunde ist in deutscher Übersetzung auch wiedergegeben bei M. Zeuske, Sklavenhändler, Negreros und Atlantikkreolen. Eine Weltgeschichte des Sklavenhandels im atlantischen Raum, Berlin/Boston 2015, 113 (mit Hinweis auf weitere Urkundsformulare in Fn. 212). 13 S. nur die Formulierung un negro, que le he vendido, zu deutsch „einen Schwarzen, den ich ihm verkauft habe“. 14 Nur am Rande sei darauf hingewiesen, daß gerade die Einfuhrzolleinnahmen eine Hauptquelle für die Erforschung der Zahl der importierten Sklaven bilden. 15 Man beachte die Hervorhebung des Kaufpreises am linken Rand der Urkunde und die (vorgedruckte) Anweisung zur Vorlegung bei der Administracion general. 16 Vgl. Zeuske, Schwarze Karibik (o. Fn. 5), 205 ff.; Sklavenhändler (o. Fn. 12), 113 f. 17 Die Ausführungen von Zeuske, Sklavenhändler (o. Fn. 12), 113 m. Fn. 212 lassen den – vorsichtigen – Schluß zu, daß unsere Urkunde in einem später geführten Rechtsstreit des José Valiñas (als Abkäufer des Sklaven) mit einem Dritten oder einem Zwischenhändler oder gegen den Erstkäufer Pedro Manzo eine Rolle spielen könnte.
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die spanische Brigg Boladono und ihre Fahrtrouten, in Erfahrung zu bringen. Zudem sollte die genauere Organisation des transatlantischen Sklavenhandels unter die Lupe genommen werden. Hier wäre insbesondere zu fragen, wie der Verkäufer seinerseits den Sklaven erlangt hat.18 Doch würde das vermutlich nicht nur angesichts der Quellensitutation und der mangelnden Kompetenz des Autors in spekulativen Aporien enden, sondern vor allem den Rahmen dieses Beitrags sprengen. IV. Der „kaufrechtliche“ Inhalt der Urkunde Nach dem Text der Urkunde hatte Pedro Manzo einen schwarzen Mann19 aus der Ladung (de armazon) des Schiffes (der von der Küste Afrikas kommenden spanischen Brigg „Boladono“) zum Preis von 275 Pesos (spätestens) am 15. 12. 1811 gekauft. Nicht ganz ausgeschlossen ist ein Kauf vom in Kuba anwesenden Sklavenhändler/Verkäufer noch während der Überfahrt – einen den Sklaven individualisierenden Namen enthält die Urkunde nicht –, wahrscheinlicher aber ist der Kauf auf einer mehr oder minder unmittelbar nach der Ankunft in Havanna stattfindenden öffentlichen „Sklavenmesse“ (feria);20 das mag hier offenbleiben. Ebensowenig ergibt sich aus dieser Urkunde ein Hinweis darauf, wie sich die Übereignung des Sklaven vollzogen haben mag:21 bereits durch den Vertrag selbst oder einen gesonderten Übereignungsakt, doch kommt es auf diese Frage nicht an.22 18 Vgl. dazu die vorsichtigen Überlegungen bei Zeuske, Schwarze Karibik (o. Fn. 5), 203, 205 f. und Sklavenhändler (o. Fn. 12), 102 f. unter Hinweis auf die prekäre Quellenlage. Die Möglichkeit, daß der „Verkäufer“ in unserer Urkunde ein Sklavenhändler war, der in Afrika durch Mittelsmänner (den Kapitän vielleicht?) von einem dortigen Menschenhändler (sei dieser ein afrikanischer Clanchef, der die Arbeitskraft seiner Untertanen veräußerte, sei es ein professioneller transatlantischer Sklavenhändler, der einem Clanchef die Arbeitskraft von dessen Untertanen bereits abgekauft hatte – hier bewegt man sich auf dem Feld der Spekulationen) die (gesamte?) Ladung an Sklaven erworben hatte, erscheint zumindest dem antiken Rechtshistoriker als einigermaßen plausibel. Inwieweit die verkauften Personen bereits aus afrikanischer Perspektive genuin als „Sklaven“ betrachtet wurden oder ob es aus dieser Sicht – so zynisch das klingen mag – „nur“ um etwas wie die Abtretung ihrer dem (wie auch immer juristisch zu fassenden) „Herrn“ geschuldeten Arbeitskraft gegen Entgelt bzw. Waren ging, kann hier leider nicht erörtert werden. Vor allem aber ist an schlichte Verschleppung der jungen Afrikaner zu denken, vgl. dazu Zeuske, Sklavenhändler (o. Fn. 12), passim, insbesondere das auf S. 108 f. mit Fn. 201 wiedergegebene Zeugnis eines jungen Afrikaners namens Antonio aus dem Jahr 1854 und S. 116 – 145. 19 Im Folgenden ist vereinfachend von dem/einem Sklaven gesprochen. 20 Vgl. Zeuske, Sklavenhändler (o. Fn. 12), 102 f. 21 Zweck der als Folge dieses Dokuments von „Muy Señor mio“ auszustellenden weiteren Urkunde war vermutlich, wie bereits gesagt (vgl. o. nach Fn. 13), einen Nachweis für den „rechtmäßigen Erwerb“ und damit das Eigentum des Käufers zu liefern. 22 Nach dem zeitgenössischen Lehrbuch von I.J. de Asso y del Rio/M. de Manuel y Rodriguez, Instituciones del derecho civil de Castilla, 5. Aufl. Madrid 1792 – das auf den ersten, römisch numerierten 126 Seiten einen guten Überblick über die (verwickelte) Rechtsgeschichte Spaniens gibt –, Lib. II, Tit. II (im Druck irrtümlich: V), Cap. IX (im Druck irrtümlich: XI), S. 102 f. galt das Traditionsprinzip.
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Damit sind wir am entscheidenden Punkt unserer Überlegungen angelangt, nämlich den einzelnen Kaufvertragsklauseln. Dabei ist zu unterscheiden zwischen einerseits der Beschreibung des Kaufobjekts und andererseits den die Gewährleistung des Verkäufers betreffenden Passagen. 1. Die Beschreibung des Kaufobjekts Es ist ein Gebot der praktischen Vernunft, in einem Kaufvertrag den Kaufgegenstand näher zu beschreiben. Um hier eine geeignete Folie zum Vergleich zu finden, lohnt es sich, auf antike Vorbilder zum – reich dokumentierten – Sklavenhandel zu rekurrieren; wir dürfen uns aus pragmatischen Gründen darauf beschränken, vor allem römische Quellen zu zitieren. So wird in aus der Provinz Dakien stammenden tabulae ceratae23 aus der ersten Hälfte des 2. Jh. n. Chr. erwähnt, der Käufer, ein römischer Soldat, habe die puellam nomine Passiam, sive ea quo alio nomine est, annorum circiter p(lus) m(inus) sex24 (das Mädchen Passia, oder wie sie heißen mag, mehr oder minder 6 Jahre alt) oder den puerum Apalaustum, sive is quo alio nomine est, n(atione) Grecum25 bzw. die mulierem nomine Theudotem, sive ea quo alio nomine est, n(atione) Creticam26 gekauft und durch Manzipation erworben. Die Manzipation ist dabei die ausschließlich römischen Bürgern zugängliche Form der Übereignung für Sklaven, Großvieh und italische Grundstücke, die sog. res mancipi.27 Sie stellt ein sollenes, mit 5 mündigen römischen Bürgern als Zeugen und einem libripens (Waagehalter) durchzuführendes Ritual dar, bei welchem der Erwerber den Sklaven ergreift, die Formel hunc ego hominem meum esse aio isque mihi emptus esto hoc aere aeneaque libra (ich sage, daß dieser Sklave mein ist und er soll mir gekauft sein mit diesem Erz und dieser ehernen Waage) ausspricht, dann mit einer symbolischen Kupfermünze an die Waage schlägt und die Münze dem Veräußerer quasi pretii loco (sozusagen anstelle des Kaufpreises) übergibt; dadurch wird – unabhängig von der realen Zahlung des Kaufpreises – Eigentum nach ius civile erworben.28 Hier wird – wie auch in anderen Sklavenkaufverträgen, in denen die Manzipation aus welchen Gründen im Einzelfall auch immer nicht erwähnt ist – der
23 Die übliche Übersetzung von tabulae ceratae mit „Wachstäfelchen“ ist nicht ganz zutreffend; die Schriftzeichen wurden in Schellack eingeritzt. 24 V. Arangio-Ruiz (Hrsg.), Fontes Iuris Romani Antejustiniani (= FIRA), Bd. III, 2. Aufl. Florenz 1969, Nr. 87, S. 283 ff. (139 n. Chr.). – Zu diesen siebenbürgischen Tafeln s. die präzise Analyse bei É. Jakab, Praedicere und cavere beim Marktkauf: Sachmängel im griechischen und römischen Recht, München 1997, 166 – 170. 25 FIRA III Nr. 88, S. 285 ff. (142 n. Chr.). 26 FIRA III Nr. 89, S. 287 f. (160 n. Chr.) 27 Mit Recht ist daher zu fragen, ob die in den siebenbürgischen Tafeln beteiligten Provinzialen überhaupt römische Bürger waren (und das verwendete Formular in concreto paßt oder nur „traditionell“ übernommen wurde), vgl. Jakab (o. Fn. 24), 168. 28 Vgl. die Darstellung bei Gai. inst. 1.119; zur Funktion s. statt aller nur M. Kaser/ R. Knütel/S. Lohsse, Römisches Privatrecht, 22. Aufl. 2021, § 17 I, S. 96 – 99; § 34 II, S. 191 f.
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„Kaufgegenstand“ also durch Name und Alter oder Herkunft29 individualisiert; in einer späten, im ägyptischen Arsinoë gefundenen und im phönizischen Askalon ausgestellten Papyrusurkunde in griechischer Sprache von 359 n. Chr. fallen in Bezug auf den gekauften, ca. 14-jährigen Gallier Argutis die Worte keuj|wqoum, rp|silom, eq|vhaklom, eqh}[tqiwa (?)] (hellhäutig, stupsnasig, schönäugig, glatthaarig).30 In diesem Dokument wird der Sklave also zusätzlich anhand gewisser körperlicher Merkmale identifiziert. Kehren wir zur kubanischen Urkunde zurück. Im Vergleich zu den antiken Texten fällt vor allem eines auf: Der gekaufte Sklave ist nicht irgendwie individualisiert anhand eines Namens, körperlicher Merkmale oder seines ungefähren Alters. Vielmehr wird er, wie sich schon aus der gedruckten Vorformulierung im Text31 ergibt, „generisch“ beschrieben als con la calidad de bozal, alma en boca, huesos en costal, á uso de feria. Die erste Kennzeichnung calidad de bozal bedarf näherer Erläuterung.32 Als bozales bezeichnete man neu angekommene Sklaven aus Afrika, was insofern für die Zwecke eines Kaufvertrags über einen ebensolchen Ankömmling geradezu tautologisch wirkt. Gleichzeitig spielt der Begriff auf ein kulturelles Kriterium an; es geht um den Ankömmling, der – als nicht „Zivilisierter“ – der spanischen Sprache nicht mächtig ist, wie eine Definition des Wortes in den Anales de la Isla de Cuba besagt.33 Ein weiterer, besonders widerwärtiger Aspekt der per se schon despektierlichen Bezeichnung ist die „Entpersonalisierung“ der ankommenden Afrikaner, die natürlich in ihrer Heimat einen Namen trugen und dessen bei ihrer Ankunft in Kuba quasi beraubt wurden.34 Die zweite Kennzeichnung, alma en boca, wirkt zunächst harmlos, ist aber, wie M. Zeuske eindringlich darstellt, als stehende Wendung im Sklavenhandel Ausdruck der Verachtung: „Sie bedeutete ,die Seele im Munde‘, und zwar in dem Sinne, dass 29 Für den römischen (Markt-)Sklavenkauf ist insoweit auf Ulp. (1 ad ed. aedil. curul.) D. 21.1.31.21 hinzuweisen: Qui mancipia vendunt, nationem cuiusque in venditione pronuntiare debent: plerumque enim natio servi aut provocat aut deterret emptorem (Die Verkäufer von Sklaven sollen die Herkunft eines jeden beim Verkauf öffentlich bekanntgeben: meistens nämlich lockt die Herkunft den Käufer an oder schreckt ihn ab). Unterbleibt dies, steht dem Käufer die actio redhibitoria (Wandlungsklage) zu. Zur Stelle vgl. Jakab (o. Fn. 24), 140 f. 30 BGU I 316 = FIRA III Nr. 135, S. 433 ff. – Die Literatur zu dieser Urkunde ist immens; hervorzuheben ist noch immer die eindringliche Besprechung von U. Wilcken, Papyrusurkunde über einen Sclavenkauf aus dem Jahre 359 n. Chr., Hermes 19, 1884, 417 – 431; vgl. nur M. Bretone, Storia del diritto romano, Roma 1987, 10 f. 31 Obwohl es in der Antike natürlich keine „Drucke“ gab, arbeitete man aber trotzdem mit Musterformularen, die immer wieder benutzt und ggf. leicht verändert wurden. 32 Zum Folgenden vgl. nur Zeuske, Schwarze Karibik (o. Fn. 5), 262 f. 33 Anales de la Isla de Cuba. Diccionario administrativo, economico, estadistico y legislativo. Año de 1855, Habana 1856, 633 s. v. ,bozal‘: El negro recien llegado de su pais – El que, aun despues de algun tiempo de residir en esta Isla ignora todavía la lengua castellana. 34 In Kuba angekommen, wurden den Afrikanern neue Namen gegeben und sie wurden zwangsgetauft, s. nur Zeuske, The Names of Slavery (o. Fn. 12), 51 ff.
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sie kurz vor dem Verlassen der Körper der Opfer des Sklavenhandels stand“.35 Die dritte, huesos en costal läßt sich plastisch mit „ein Sack voll Knochen“ bzw. „knochendürr“ wiedergeben. Wer also die Strapazen der langen Seereise von Afrika nach Kuba bei vermutlich aufs absolute Minimum beschränkter Ernährung überstanden hatte, sah typischerweise wie eine lebende Leiche aus. Doch er war dann „immerhin“ noch das, was mit der vierten Beschreibung á uso de feria zumindest aus Verkäufersicht richtig wiedergegeben wird: markttauglich. Man konnte ihn als Arbeitskraft einsetzen und auf dem öffentlichen Markt36 (weiter-)verkaufen. Insgesamt betrachtet, erweist sich die Beschreibung des Kaufobjekts in diesen aus Verkäufersicht formulierten, standardisierten Urkunden als geradezu menschenverachtend zynisch.37 In der Summe bedeutet es: verkauft wird ein halbtotes Wesen ohne Sprachkenntnis, aber marktfähig. Nochmals ist an die durch die generische Kennzeichnung bewirkte „Entpersonalisierung“ der Afrikaner zu erinnern: Die betroffenen Menschen waren aus Sicht ihrer Verkäufer bzw. der für diese tätigen Urkundsnotare nichts anderes als austauschbare Gattungsware. Für die Römer war, den erwähnten Urkunden und vor allem den Juristenschriften zufolge, ein Sklave immerhin stets ein Individuum.38 Hinzu kommt, daß die antiken Sklavenkaufverträge typischerweise aus der Käuferperspektive formuliert sind, die kubanische Urkunde aber aus Sicht des Verkäufers, der dazu ein Formular verwendet, das den Charakter moderner „Allgemeiner Geschäftsbedingungen“ trägt. 2. Die Haftungsausschlußklausel In den Z. 13 – 16 enthält unsere Urkunde einen mit sin asegurar de … (ohne zu versichern hinsichtlich …) eingeleiteten Haftungsausschluß, der sich auf tachas ni enfermedades (Fehler und Krankheiten) bezieht. Von den Krankheiten sind exemplarisch genannt mal di corazon (Herzkrankheit), gota coral (Epilepsie, evtl. auch Gicht) und de S. Lazaro (Lepra bzw. Aussatz), bevor verallgemeinernd ni otra qualesquiera que pueda padecer la humana naturaleza (oder alles andere, was auch immer die menschliche Natur erleiden kann) angeführt wird. Daß der Verkäufer hierfür keine Haftung übernehmen will, ergibt sich zudem aus der Schlußformulierung in
35
So Zeuske, Schwarze Karibik (o. Fn. 5), 205. Zu diesem Aspekt s. Zeuske, Sklavenhändler (o. Fn. 12), 250. 37 So treffend Zeuske, Sklavenhändler (o. Fn. 12), 250. 38 Zu den Aspekten der Personalität des Sklaven vgl. H.-D. Spengler, Zugleich Person und Sache – vielleicht Arbeitstier oder Unternehmer: Rechtliche Aspekte der römischen Sklaverei, in: R. Krause/W. Veelken/K. Vieweg (Hrsg.), Recht der Wirtschaft und der Arbeit in Europa. Gedächtnisschrift für Wolfgang Blomeyer, Berlin u. a. 2004, 271 – 283; Zum Menschenbild der römischen Juristen, JZ 2011, 1021 – 1030; Art. ,Homo et res‘, in: H. Heinen u. a. (Hrsg.), Handwörterbuch der Antiken Sklaverei, Bd. 2, Stuttgart 2017, 1444 – 1447. Spezifisch zu den sozialen Aspekten des Sklavenkaufgeschäfts Jakab (o. Fn. 24), 12 – 26. 36
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Z. 16 – 18, wonach all diese Risiken dem Käufer (ebenso wie die Kosten der Urkunde) zur Last fallen sollen.39 Auch an dieser Stelle sei wieder als Vergleichsfolie das römische Recht herangezogen. In den drei bereits genannten tabulae ceratae des 2. Jh. n. Chr. aus Siebenbürgen läßt sich jeweils der Käufer vom Verkäufer im Wege der fidepromissio stipulationsweise40 versprechen, eam puellam sanam esse, furtis noxisque solutam, fugitivam erronem non esse;41 in FIRA III Nr. 88 findet sich nach dieser Standardformel für den puer Apalaustus noch die Versicherung caducum (non esse), was als relativ seltene Bezeichnung für die Epilepsie zu verstehen ist.42 Eine – nach Éva Jakab typische – gräko-ägyptische Kaufurkunde aus der Römerzeit über den Kauf der 25-jährigen Sklavin Dioskouros von 95 n. Chr. zeigt einen Kauf ohne Rückgaberecht, ausgenommen Epilepsie und Aussatz (pkµm Req÷r m|sou ja· 1pav/r).43 Im bereits erwähnten, stark römisch beeinflußten Kaufvertrag von 359 n. Chr. wird die Haftung für Req± mºsor (Epilepsie), s_mor pake|m (alte Verletzung)44 und jqupt¹m p\hor (verborgenes Leiden) ebenso wie für die Sklavenflucht (ohne Erwähnung der Abwesenheit der Noxalhaftung) versprochen; hier fehlt auffälligerweise der Aussatz (1pav^).45 Außerdem enthalten die Urkunden aus dem römischen Umfeld für den Fall der Eviktion des Sklaven regelmäßig Klauseln, in denen, etwas vereinfacht gesagt, dem Käufer das duplum des Kaufpreises oder Interesseersatz versprochen wird.46 Letztere Eviktionsgarantie paßt für unseren Fall des Sklavenimports und -verkaufs an den „Ersterwerber“ in Kuba evident nicht: Wer hätte ein realistisches Interesse daran haben können, irgendwelche Rechte am gerade aus Afrika Ankommenden geltend zu machen?47 Der Sklavenhändler sicher nicht; er war nur am gewinnbrin-
39 Die Abschluß- und Grußformeln der Z. 19 ff. sind für die Zwecke dieses Beitrags nicht von Bedeutung. 40 Zur stipulatio s. statt aller Kaser/Knütel/Lohsse (o. Fn. 28), § 17 III, S. 101 f.; § 50, S. 296 – 300; zum Verhältnis dieser Garantiestipulationen zur Haftung aus dem ädilizischen Edikt überzeugend Jakab (o. Fn. 24), 172 f. 41 So FIRA III Nr. 87, S. 284; mit in der Sache fast identischer Formulierung FIRA III Nr. 88, S. 286. In FIRA III Nr. 89, S. 288 findet sich nur sanam traditam esse. 42 So Jakab (o. Fn. 24), 169 f. Weitere römische Urkunden (ggf. auch in griechischer Sprache), in denen die Epilepsie (lat. morbus comitialis, vgl. in den Juristenschriften Jav. [1 post. Lab.] D. 21.1.53 und Ulp. [1 ad Sab.] D. 26.8.1.1) erwähnt ist, finden sich ebd. 178 – 184. 43 P. Oxy. 95 = M. Chr. 267, vgl. die Interpretation bei Jakab (o. Fn. 24), 200 – 205. Zu weiteren Papyri mit der Epilepsie-Aussatz-Klausel s. ebd. 206 – 210. – Die Req± mºsor war für die Antike die Krankheit par excellence. 44 Dazu vgl. die Wendung mediocre ulcus bei Ulp. (1 ad ed. aedil. curul.) D. 21.1.4.6. 45 BGU I 316 = FIRA III Nr. 135, S. 435, Z. 28 – 30; vgl. Jakab (o. Fn. 24), 211 mit Fn. 73. 46 Zur Rechtsmängelgewährleistung beim römischen Kauf s. statt aller nur Kaser/Knütel/ Lohsse (o. Fn. 28), § 52 V, S. 311 – 315. 47 Man mag an das verschleppte Kind eines reichen Stammesfürsten denken, doch paßt dann eine „eigentumsrechtliche“ Lösung evident nicht.
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genden Verkauf des Sklaven interessiert. So darf es schon aus faktischen Gründen nicht verwundern, daß der kubanische Mustervertrag hierzu völlig schweigt. Im Hintergrund der sich auf – abstrakt und etwas modernistisch gesprochen – „Mängel“ des Sklaven beziehenden antiken Vertragsklauseln steht für das römische Recht natürlich das auf das 2. oder vielleicht schon 3. Jh. v. Chr. zurückgehende Edikt der kurulischen Ädilen.48 Es enthielt ein Sonderrecht für die Marktverkäufe von Sklaven und Zugtieren und gab den Käufern mit der actio rehibitoria bzw. quanti minoris eine Klage auf Wandlung des Vertrags innerhalb von sechs Monaten bzw. Minderung des Kaufpreises innerhalb eines Jahres. Voraussetzung dafür war nach der Wiedergabe des Beginns des Edikts zur redhibitio durch Ulpian (1 ad ed. aedil. curul.) D. 21.1.1.1 folgendes: Qui mancipia vendunt certiores faciant emptores, quid morbi vitiive cuique sit, quis fugitivus errove sit noxave solutus non sit: eademque omnia, cum ea mancipia venibunt, palam recte pronuntianto, quodsi mancipium adversus ea venisset, sive adversus quod dictum promissumve fuerit cum veniret, fuisset, quod eius praestari oportere dicetur: emptori omnibusque ad quos ea res pertinet iudicium dabimus, ut id mancipium redhibeatur.
Diejenigen, welche Sklaven verkaufen, sollen die Käufer in Kenntnis setzen, was an Krankheit oder Fehler ein jeder habe, wer zur Flucht neige oder ein Herumtreiber sei oder von einer Schadenstat nicht befreit sei: Und eben das alles sollen sie, wenn diese Sklaven verkauft werden, öffentlich richtig anzeigen. Wenn aber ein Sklave dem zuwider verkauft wird, oder entgegen dem, was gesagt oder versprochen wurde, zur Zeit als er verkauft wurde, beschaffen ist, so werden wir auf das, was deshalb geleistet werden muß, dem Käufer und allen, welche diese Angelegenheit betrifft, eine Klage geben, damit dieser Sklave zurückgegeben werde. Es geht hier also darum, daß den Verkäufern beim Marktverkauf Informationspflichten über die „Beschaffenheit“ des zu verkaufenden Sklaven auferlegt werden. Dabei sind Krankheiten und Fehler anzugeben, Charaktereigenschaften wie die Neigung zur Flucht oder zum Herumtreiben sowie die Frage der Belastung mit der Noxalhaftung. Sind die öffentlich gemachten Angaben zutreffend, muß der Verkäufer keine Haftung befürchten. Ist dies nicht der Fall, ist er den sog. ädilizischen Rechtsbehelfen, nämlich Wandlung und Minderung, ausgesetzt. Diese Haftung ist, ebenso wie die für unzutreffende ausdrückliche Behauptungen (dicta) oder stipulationshalber gemachte Zusagen (promissa) verschuldensunabhängig. Für solche Prozesse waren die Ädilen als Sondergerichtsmagistrate zuständig. Eine unmittelbare „Konkurrenz“ dieser Rechtsbehelfe zur „regulären“ Kaufklage, der actio empti, die – unter anderen Voraussetzungen und (als bonae-fidei-iudicium) mit anderem Klageziel, nämlich quidquid ob eam rem Nm Nm Ao Ao dare facere oportet ex fide bona (was auch immer wegen dieses Sachverhalts der Beklagte dem Kläger zu geben und zu leisten verpflichtet ist nach Treu und Glauben) – vor dem Prätor als ordentlichem Jurisdiktionsmagistrat geltend zu machen war, bestand daher nicht 48 Zur Sachmängelhaftung beim Kauf statt aller nur Kaser/Knütel/Lohsse (o. Fn. 28), § 52 VI, S. 315 – 319.
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im Sinne eines Ausschlusses oder Vorrangs des einen Rechtsbehelfs vor dem anderen: beide Klagen fanden vor verschiedenen Foren statt und hatten unterschiedliche Voraussetzungen und Klageziele.49 Ferner ordnete das Edikt eine Haftung für den Verkäufer an, der entgegen diesen Bestimmungen sciens dolo malo (wissentlich und arglistig) verkauft habe. Diese – recht alten – Regelungen sind durch Reformen Justinians verallgemeinert worden.50 In der Form, wie sie in die Kompilation Justinians eingegangen sind, wurden sie infolge der – hier nicht weiter zu diskutierenden – Rezeption des römischen Rechts durch die sich infolge der Schulung der Studenten der juristischen Fakultäten an den Digestentexten seit dem 11. Jh. entwickelnde europäische Rechtswissenschaft im wesentlichen von allen europäischen Rechtsordnungen übernommen,51 sieht man von kleineren lokalen Besonderheiten ab.52 In unserer kubanischen Urkunde geht es freilich gerade nicht um die Haftung des Verkäufers, sondern um deren Ausschluß, so daß zu Recht die Frage aufgeworfen werden darf, was der Rekurs auf das ädilizische Edikt denn überhaupt zum Thema beitragen mag. Versuche, dieses zu umgehen, gab es selbstverständlich schon immer. Prominent ist der Fall, daß statt eines Sklaven eine geringerwertige Toga verkauft und der Sklave als Zubehör dazugegeben wird. Das veranlaßte die Ädilen zur Schaffung einer besonderen Ediktsklausel, die dem Käufer in dieser Situation die gleichen Rechte wie beim normalen Sklavenkauf gewährleisten sollte; nach dem Zitat des spätklassischen Juristen Paulus hat der Jurist Pedius die entsprechende Entscheidung mit der dignitas hominum, der Menschenwürde begründet.53 Allgemeine Meinung der römischen Juristen war aber auch, daß man die Haftung gemäß dem ädilizischen Edikt, das ja ursprünglich für Marktkäufe galt, vertraglich ausschließen konnte. Pointiert formuliert dies Ulp. (1 ad ed. aedil. curul.) D. 2.14.31: 49 S. zum Nebeneinander des ädilizischen Edikts und der actio empti nur Kaser/Knütel/ Lohsse (o. Fn. 28), § 52 VI Rn. 45 – 47, S. 318 f. 50 Justinian erstreckte die Haftung auf alle Sachkäufe (vgl. D. 21.1.1 pr. und fr. 63 h.t.; beide insofern interpoliert) – eine fragwürdige Regelung, da sie im Grunde die actiones redhibitoria und quanti minoris schon im 6. Jh. n. Chr. überflüssig gemacht hat (und der zumindest deutschen Zivilrechtswissenschaft bis heute erhebliche Abgrenzungsprobleme im Verhältnis Mängelgewährleistung – allgemeines Leistungsstörungsrecht bereitet); vgl. nur Kaser/ Knütel/Lohsse (o. Fn. 28), § 52 VI Rn. 48, S. 319 und H. Coing, Europäisches Privatrecht Bd. 1, München 1985, 452 f. 51 Besonders deutlich war dies in den Normen der §§ 459 ff. BGB a. F. (d.h vor der Schuldrechtsreform) zu erkennen, zur Bewertung der „Neu“-regelung aus romanistischer Perspektive s. inspirierend T.J. Chiusi, Modern, alt und neu: Zum Kauf nach BGB und römischem Recht, Jura 2003, 217 – 224. 52 Für Spanien ist hier die auf das 13. Jh. zurückgehende Rechtssammlung der Siete Partidas zu erwähnen, die die grundlegende spanische Kodifikation bilden, vgl. nur J. Lalinde Abadía, s. v. ,Siete Partidas‘, Lexikon des Mittelalters Bd. 7, München 1995, 1878. Das Ausmaß des Einflusses des römischen Rechts auf die Siete Partidas ist zwar umstritten, aber in der Sache doch gerade bei spezifischen zivilrechtlichen Problemen unverkennbar. 53 Paul. (2 ad ed. aedil. curul.) D. 21.1.44 pr.
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Pacisci contra edictum aedilicium omnimodo licet, sive in ipso negotio venditionis gerendo convenisset, sive postea.
Einen Haftungsausschluß entgegen dem Edikt abzuschließen, ist auf jeden Fall erlaubt, sei es, daß man sich schon beim Abschluß des Kaufgeschäfts einigt, sei es später. Dies bestätigt auch Pomp. (23 ad Sab.) D. 21.1.48.8 für den „schlichten“ Verkauf.54 Dabei wird die Gestaltung des Preises eine tragende Rolle gespielt haben: je umfangreicher die Haftung des Verkäufers, desto teurer der Sklave. Aber: die Haftung mußte ausdrücklich ausgeschlossen werden, sonst galt das ädilizische Edikt. Nach der gründlichen Untersuchung von Éva Jakab zeigt sich, daß die Vertragsklauseln zu Sachmängeln eine recht einheitliche Handelspraxis im gesamten Mittelmeerraum erkennen lassen – und damit die oft gestellte Frage nach einer „römischen“ oder „griechischen“ Vertragspraxis wohl schief formuliert ist.55 Ihrer Folgerung, daß „die Garantieklauseln für Sachmängel … weder in den römischen noch den graeco-ägyptischen Urkunden nach dem Muster des ädilizischen Edikts abgefaßt“ wurden,56 vermag ich für die Antike gerne beizutreten. Doch ist genau diese Frage für unsere kubanische Urkunde unter einem anderen Aspekt zu betrachten. Hier versuchte die Person, die den Formulartext entworfen hatte – sie sei aus Gründen der Vereinfachung im folgenden als „Notar“ bezeichnet – die Haftung für gewisse „Mängel“ des Sklaven auszuschließen. Hierzu sind – ganz unabhängig von der Frage, ob dies die Vertragsfreiheit nach dem in Spanien bzw. dem in den Kolonien seinerzeit geltenden Recht überhaupt erlaubt hätte57 –, wiederum die einzelnen, vom „Notar“ gewählten Formulierungen kurz durchzugehen. 54 Simplarium venditionum causa ne sit redhibitio, in usu est (Es ist üblich, daß wegen einfacher Verkäufe keine Rückgabe stattfindet). Zur Unterscheidung „schlichter Kauf – guter Kauf“ s. Jakab (o. Fn. 24), 195 f., 210 – 212. – Es läge nahe, an dieser Stelle die bekannte Urkunde FIRA III Nr. 137, S. 438 f. (29 oder 116 n. Chr.) über den Kauf eines friesischen Rindes zu erwähnen (wie dies auch Jakab [o. Fn. 24], 184 – 186 tut), in der sich die rätselhafte Abkürzung RICA finden soll, was sich wahrscheinlich mit R(edhibitio) i(us) c(ivile) a(besto) auflösen ließe. Doch legt die Neuedition des Tafeltextes durch A.K. Bowman/R.S.O. Tomlin/ K.A. Worp, Emptio Bovis Frisica, The ,Frisian Ox Sale‘ Reconsidered, JRS 99, 2009, 156 – 170 eine völlig andere Lesung der Urkunde und Deutung i. S. eines Geldgeschäfts nahe, so daß sich die bisherigen Interpretationen nicht mehr aufrechterhalten lassen. 55 Vgl. Jakab (o. Fn. 24), 308 f. 56 Jakab (o. Fn. 24), 309. 57 In den Siete Partidas, Partida V Tit. V (De la vendidas e de las compras) Ley 66 findet sich eine – offensichtlich auf der Folie des ädilizischen Edikts entwickelte – Regelung für die manifesta declaracion von la tacha o la enfermedad eines verkauften Sklaven oder Tiers, die bei entsprechender Versicherung die Rückgängigmachung des Kaufs ausschließt, bei fehlender Versicherung oder Arglist diese binnen 6 Monaten ermöglicht. Eine noch deutlicher an das ädilizische Edikt angelehnte Regelung enthalten die von der (seinerzeit in Personalunion) iberisch-portugiesischen Krone erlassenen Ordenações Filipinas von 1603 in Buch IV Tit. 17, die u. a. die Haftung bei offensichtlichen Mängeln und solchen, die die Arbeitskraft des Sklaven nicht beeinträchtigen, ausschließen; für diesen Hinweis bin ich Dr. Linda De Maddalena, Bern, zu großem Dank verpflichtet. Das Lehrbuch von Asso/Manuel (o. Fn. 22) scheint
Kubanischer Sklavenkaufvertrag von 1811 aus dem Photoarchiv von K. Vieweg
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Der Haftungsausschluß beginnt mit sin asegurar de tachas ni enfermedades.58 Die Verwendung von tacha und enfermedad erweist sich dabei als exakte Übersetzung der lateinischen Worte vitium bzw. morbus.59 Und damit sind wir wieder im Bereich des ädilizischen Edikts, das ja, wie gesehen, mit der Formulierung certiores faciant emptores, quid morbi vitiive cuique sit beginnt. Die Umstellung von vitium und morbus im spanischen Text beruht dabei einzig auf dem vom deutschen Linguisten Otto Behagel formulierten allgemeinen sprachstilistischen „Gesetz der wachsenden Glieder“, nach dem, wenn möglich, das kürzere Satzglied dem längeren vorausgeht.60 Diese Ediktsklausel wird dann im Digestentitel D. 21.1. von Fragment 1.6 an bis hin zu Fragment 16 eingehend kommentiert. Dort geht es zum einen um die Abgrenzung von Fehlern und Krankheiten, zum andern und vor allem um die Frage, welche körperlichen Gebrechen eine Krankheit begründen. Tendenziell lehnen die Juristen eine Krankheit ab, wenn dadurch die Arbeitskraft nicht beeinträchtigt ist. Die Herzkrankheit (mal de corazon)61 scheint in römischen Juristenschriften nicht erwähnt zu sein – hier gab es vermutlich keinen größeren Kommentierungsbedarf.62 Dagegen ist gota coral, als Epilepsie verstanden,63 aus den griechischsprachigen Urkunden unter dem Namen Req± mºsor, wie gerade ausgeführt, bestens bekannt. Ähnlich begegnen schon in den Papyri die Äquivalente für (mal de) S. Lazaro, die Lepra bzw. Aussatz, griechisch 1pav^.64 Für die letzte, salvatorisch wirkende Klausel „oder alles andere, was auch immer die menschliche Natur erleiden kann“ scheinen dagegen keine anzu dieser Frage zu schweigen. Inwieweit die Doktrin dies als „zwingendes“ Recht betrachtet hat, läßt sich aus den Gesetzesformulierungen allein nicht beurteilen. Freilich ist es auch unter dem Aspekt des Schicksals des Código negro español von 1789 (vgl. o. bei Fn. 9) plausibel, daß – nicht nur gemäß der Devise „Wo kein Kläger, da kein Richter“ – die Effektivität von diesbezüglichen Gesetzen im durch die Sklaverei prosperierenden Kuba eher gering gewesen sein dürfte. Zur mangelnden Effektivität der Sklavereigesetzgebung schon im 16. Jh. s. Czeguhn (o. Fn. 9), 104, 110. 58 Bei der Bewertung des Haftungsausschlusses für Krankheiten ankommender Afrikaner ist zu bedenken, welch grauenhafte Konsequenzen die Einschleppung „europäischer“ Krankheiten für die indigenen Einwohner Amerikas hatte; der Ausdruck „Massensterben“ dürfte eher untertrieben wirken. 59 S. nur M. de Valbuena, Diccionario universal español-latino, Madrid 1822, s. v. ,tacha‘, 1017 und s. v. ,enfermedad‘, 418. 60 O. Behagel, Beziehungen zwischen Umfang und Reihenfolge von Satzgliedern, Indogermanische Forschungen 25, 1909, 110 – 142, insb. 137 – 139. 61 Das o. Fn. 59 erwähnte Lexikon von Valbuena gibt s. v. ,corazon‘, 273 i. S. eines an mal de corazon Leidenden mit cardiacus wieder, während letzteres mit Celsus, De medicina III, 19, 1 eher im Sinne einer Magenkrankheit zu verstehen ist. Das Wort ist in Juristenschriften nicht überliefert, der Krankheitscharakter aber offensichtlich; Celsus spricht von einer akuten Krankheit. 62 Eine mangels Kompetenz des Verf. hier nicht vertiefbare medizinhistorische Frage ist, in welchem Umfang die Antike Herzkrankheiten bereits als solche zu diagnostizieren wußte. 63 So Valbuena (o. Fn. 59) s. v. ,gota‘, 530: Epilepsia. Mit Recht erwähnt er zudem die Bezeichnungen comitialis morbus und caducus. 64 Vgl. o. bei Fn. 43.
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tiken Texte Pate gestanden zu haben, vielleicht ist an das Motiv christlicher Duldung zu denken. Doch bleibt eines zu bedenken: Unser spanisch-kubanischer Notar konnte weder die Papyri noch die tabulae ceratae kennen – all diese antiken Zeugnisse wurden erst lange nach der Abfassung des Urkundsformulars gefunden. Wir wissen selbstverständlich auch nicht, inwieweit er durch seinen Unterricht in römischer oder griechischer Literatur gebildet war. Wir dürfen aber davon ausgehen, daß er an einer spanischen Rechtsfakultät studiert hat, dort den Digestentitel 21.1 zum ädilizischen Edikt im Rahmen seines Studiums durchgearbeitet hat und damit das Instrumentarium zur Verfügung hatte, den intendierten Haftungsausschluß der spezifischen Situation anzupassen. Daß er dabei aus sachlichen Gründen zu ähnlichen Ergebnissen gelangte wie seine antiken Kollegen, braucht nicht zu verwundern. Und selbst dann, wenn er nur an die Siete partidas gedacht haben sollte,65 hätte er zumindest mittelbar das römische Vorbild vor Augen gehabt. V. Fazit Unser kleiner Streifzug hat uns aus dem Kuba des frühen 19. Jh. in die Welt des römischen Rechts sowie der gemeinantiken Vertragspraxis und wieder zurück geführt. Auffallend im kubanischen Vertrag ist zum einen die Entpersonalisierung des Sklaven durch eine aus Verkäufersicht formulierte, formularmäßige generische Beschreibung als Gattungsware, was der Antike fremd war. Zum zweiten ist es eine grundsätzliche Orientierung an der Formulierung morbi vitiive des ädilizischen Edikts, wenn auch anders als dort die Haftung für Fehler und Krankheiten gerade ausgeschlossen werden soll, was nach römischem Recht möglich war. Zudem bedient sich der Verfasser des Verkaufsformulars einer exemplarischen Aufzählung von bestimmten Krankheiten – die wohl für die Zeit und die Transportumstände typisch waren, aber im Hinblick auf Epilepsie und Aussatz schon in den antiken römischen und gräko-ägyptischen Vertragsdokumenten auftauchen. Das freilich konnte seinerzeit noch niemand im Detail wissen. So ist die von Klaus Vieweg photographierte Urkunde letztlich als Dokument einer gewissen, von der Materie „Sklavenkauf“ nahegelegten, intellektuellen Auseinandersetzung mit dem römischen Rechtsinstrumentarium zu sehen. Daß sie dabei vom Inhalt her alle Grausamkeiten und Widerwärtigkeiten des Sklavenimports und -verkaufs von Afrikanern erahnen läßt, steht auf einem anderen Blatt. Ad multos annos, lieber Klaus!
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Vgl. o. Fn. 57.
Die Rückführung der verbotenen Eigenmacht und der Selbsthilfe des Besitzers in das Gefüge des Bürgerlichen Gesetzbuchs Von Jürgen Stamm* I. Einleitung Das Besitzrecht genießt im Sachenrecht des Bürgerlichen Gesetzbuches eine Sonderstellung. Prägend dafür ist die Etablierung eines eigenständigen Selbsthilferechts, § 859 BGB, sowie einer selbstständigen Definition der Besitzentziehung und der Besitzstörung in Form der verbotenen Eigenmacht, § 858 BGB. An ihr ist insbesondere auffällig, dass der gutgläubige Nachfolger im Besitz geschützt wird, § 858 Abs. 2 Satz 2 BGB, während das Zivilrecht einen Schutz des guten Glaubens nur für den Erwerb des Eigentums kennt, §§ 932 bis 934 BGB. Es fehlt eine Implementierung von Selbsthilfe und verbotener Eigenmacht in das Gesamtgefüge des materiellen Zivilrechts. Dies will der vorliegende Beitrag nachholen. II. Das Selbsthilferecht des Besitzers Eine tragende Säule des Besitzschutzes bildet das Selbsthilferecht aus § 859 BGB. Der Besitzer darf sich verbotener Eigenmacht mit Gewalt erwehren, § 859 Abs. 1 BGB. Er muss nicht erst die unbefugte Wegnahme der Sache oder die Störung in ihrem Besitz erdulden, um daran anschließend sein Recht auf Herausgabe oder Unterlassung der Störung im Wege der Klage mit anschließender Vollstreckung geltend zu machen. 1. Überholter historischer Ausgangspunkt Der unbefangene, systemübergreifend denkende Jurist wird nach dem Sinn der Vorschrift des § 859 BGB fragen. Denn die Selbsthilfe ist im Sinn des Klammerprin* Der Autor ist Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Zivilprozessrecht, Insolvenzrecht und Freiwillige Gerichtsbarkeit an der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg. Ihn verbindet mit dem Jubilar Klaus Vieweg die Begeisterung für das Zivilprozessrecht und das Sachenrecht. Untrennbar mit dem Sachenrecht verbunden ist die Trilogie aus Lehrbuch, Casebook und Examinatorium, die Klaus Vieweg aus der Taufe gehoben und jahrzehntelang fortentwickelt hat. So ist der vorliegende Beitrag zu seiner Festschrift dem Sachenrecht gewidmet.
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zips übergreifend für sämtliche zivilrechtlichen Ansprüche in §§ 229 bis 231 BGB normiert. Es stellt sich also einleitend die Frage nach der Existenzberechtigung von § 859 BGB.1 Zu ihrer Beantwortung sind die gesetzgeberischen Motive sehr aufschlussreich. Hintergrund der Einführung von § 859 BGB war die seinerzeit fehlende Ausbreitung einer öffentlichen Ordnungsmacht.2 Dieser Zustand darf aus heutiger Sicht als überholt angesehen werden, ohne dass aber der Besitzschutz deswegen bislang überdacht worden wäre. 2. Fallkonstellation Stellt allein schon die Lektüre der Gesetzesmotive die Vorschrift des § 859 BGB in Frage, so erscheint es hilfreich, der weiteren Untersuchung eine „kritische“ Fallkonstellation der Selbsthilfe voranzustellen. Von besonderem Interesse ist dabei das Aufeinandertreffen des Eigentümers oder anderweitig berechtigten Besitzers mit einem Dieb. Die juristische Bewertung dieser Konstellation ruft typischerweise die Empörung des rechtlichen Laien hervor.
1
Ausführlich zum Verhältnis der §§ 229 ff. BGB zu § 859 BGB Klingbeil, Die Not- und Selbsthilferechte, 2017, S. 260 f., wonach die §§ 229, 230 BGB eine Auffangfunktion haben. Ein Rückgriff auf diese Vorschriften sei nur möglich, wenn kein spezielles Not- oder Selbsthilferecht eingreife; in diese Richtung auch Duchstein, JuS 2015, 105 (106), und Wagner, in: Erman, BGB, 16. Auflage 2021, § 229 Rn. 1; nach anderer Ansicht steht § 859 BGB kumulativ neben dem allgemeinen Selbsthilferecht, §§ 229 ff. BGB werden nicht verdrängt, so Repgen, in: Staudinger, §§ 164 bis 240, Neubearbeitung 2019, § 229 Rn. 8; ähnlich auch Dennhardt, in: BeckOK BGB, 56. Edition, Stand: 01. 11. 2020, § 229 Rn. 2, der der Ansicht ist, § 859 BGB stelle eine über die allgemeinen Gewaltrechte hinausgehende Selbsthilfebefugnis dar. Kritisch zur Notwendigkeit des § 859 BGB neben §§ 227 ff. BGB Meder/Czelk, Grundwissen Sachenrecht, 3. Auflage 2018, S. 34; Wieling, Sachenrecht, Band 1, 2. Auflage 2006, S. 192, und Wolff/Raiser, Sachenrecht, 10. Bearbeitung 1957, § 18 I. 1., S. 56. 2 Johow, in: Schubert, Die Vorlagen der Redaktoren für die erste Kommission zur Ausarbeitung des Entwurfs eines Bürgerlichen Gesetzbuches, Sachenrecht, Nachdruck 1982, S. 545: „[…] wenn auch der Richter nicht sofort zur Stelle ist, um sofort zu entscheiden, so darf doch das Recht nicht schweigen“. Als Vorlage zieht Johow, S. 548, ähnliche bereits existierende Vorschriften heran, diese sind noch stark vom Faustrecht geprägt. So wird auf das preußische Recht verwiesen, wonach jeder Inhaber und Besitzer die Befugnis hat, Gewalt mit Gewalt zu vertreiben; in den Protokollen der Kommission für die zweite Lesung des Entwurfs des Bürgerlichen Gesetzbuchs, Band 3, Sachenrecht, 1899, S. 39 f., wird ausgeführt, dass im Mittelalter die langwierige Dauer der Prozesse die Anerkennung eines Selbsthilferechts gerechtfertigt habe. Nunmehr dehne sich die Staatsgerichtsbarkeit über das ganze Reichsgebiet aus. Die Selbsthilfe müsse demnach eingeschränkt werden und sei nur zuzulassen, wenn sie unmittelbar nach der Besitzentziehung erfolge; ähnlich geht auch Feldmann, Der possessorische Besitzschutz und sein Verhältnis zum petitorischen Recht, 2020, S. 22 ff., in ihrer historischen Analyse davon aus, dass § 859 BGB auf der fehlenden Ausbreitung einer öffentlichrechtlichen Ordnungsmacht beruht. Die römischrechtlichen Besitzinterdikte zur Selbsthilfe gegen Besitzstörungen entstanden in Zeiten der besonderen Rechtsunsicherheit, Loyal, ZfPW 2019, 356 (361).
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Fall: D stiehlt M ein Fahrrad, das M von E gemietet hat. Einige Monate später entdeckt M, wie D mit dem gestohlenen Fahrrad unterwegs ist. Darf M ihm das Rad mit Gewalt wegnehmen, bevor D unerkannt davonradelt? Darf D sich umgekehrt der Wegnahme erwehren?
3. Befremdliche Ergebnisse Eine rein besitzrechtliche Lösung des Falles führt zu folgenden Überlegungen. Die Selbsthilfe ist M in der geschilderten Konstellation gemäß § 859 Abs. 2 BGB untersagt, da D weder auf frischer Tat betroffen noch im Anschluss verfolgt ist. D dürfte sich seinerseits einer Wegnahme durch M gemäß § 859 Abs. 2 BGB erwehren. Denn gemäß § 858 Abs. 1 BGB läge seitens M eine verbotene Eigenmacht vor und er wäre auf frischer Tat betroffen. Anders als der Herausgabeanspruch gemäß § 861 Abs. 2 BGB ist die Selbsthilfe des Diebes gemäß § 859 BGB nicht dadurch ausgeschlossen, dass D selbst den Besitz mittels verbotener Eigenmacht gegenüber M erlangt hat. § 859 Abs. 4 BGB besagt zwar, dass die Selbsthilferechte dem Besitzer auch gegenüber dem fehlerhaften Besitzer zustehen. Voraussetzung ist aber auch hier, dass die zeitlichen Beschränkungen von § 859 Abs. 1 bis 3 BGB gewahrt bleiben.3 § 859 Abs. 4 BGB erfasst also nur die kaum vorstellbare Konstellation, dass der Dieb die Sache noch auf der Flucht an einen bösgläubigen Helfer weiterreicht.4 Ihm gegenüber dürfte M die Selbsthilfe gemäß § 859 BGB noch ausüben, nicht aber gegenüber D in der oben angeführten Fallkonstellation. Diese rein besitzrechtliche Bewertung, den Dieb im Verhältnis zum berechtigten Besitzer zu schützen, ist befremdlich.5 Sie lässt sich nur dann korrigieren, wenn man das Besitzrecht nicht als vorrangig und abschließend versteht.6 Immerhin weist § 858 Abs. 1 BGB in diese Richtung, demzufolge eine verbotene Eigenmacht seitens M im Falle der gesetzlichen Gestattung der Wegnahme des Rades ausgeschlossen ist und D daher keine Selbsthilfe üben darf. In diesem Sinne ist M die Selbsthilfe gemäß § 229 BGB gestattet, da infolge der Flucht von D die Vereitelung der Durchsetzung des
3
Fritzsche, in: BeckOK BGB (Fn. 1), § 859 Rn. 19. Zu § 859 IV BGB s. noch gesondert unter III. 4. 5 Ähnlich in seiner allgemeinen Kritik an der Selbsthilfe Hoffmann-Riem, ZRP 1977, 277 (281 f.): „Gleichwohl ist den Normen über zulässigen Selbst- und Fremdschutz anzumerken, daß sie einen Bruch im System eines rechtsstaatlich gebändigten Ausgleichs von kollidierenden Individualinteressen bedingen. Die Gesetzesfassung zeigt, daß nicht etwa ein Recht zur Selbsthilfe, Notwehr u. a. gesetzlich positiv verankert wird; vielmehr wird lediglich bestimmt, daß entsprechende Maßnahmen – ausnahmsweise – nicht rechtswidrig oder schuldhaft sein sollen. […] Diese an sich systemfremde Großzügigkeit bei der Beurteilung von Rechtsgutsverletzungen durch den Angegriffenen hat offenbar nur deshalb bisher nicht zu aufsehenerregenden Unzuträglichkeiten geführt, weil die rechtlichen Möglichkeiten nicht ausgenutzt werden.“ 6 Zum umstrittenen Konkurrenzverhältnis s. bereits die Anmerkungen in Fn. 1. 4
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Herausgabeanspruchs droht.7 Zwar ist M mangels Eigentums die Vindikation versagt, jedoch verbleibt ihm als früherem Besitzer der Herausgabeanspruch aus § 861 Abs. 1 BGB. Der Tatbestand der verbotenen Eigenmacht ist seitens D erfüllt, indem er M das Fahrrad widerrechtlich weggenommen hat. Im Ergebnis ist eine sachgerechte Lösung gefunden. Zugleich offenbart sich aber, dass § 859 BGB nicht mit dem allgemeinen Selbsthilferecht harmoniert. Dort, wo § 859 BGB zu gegenteiligen Wertungen führt, bedarf es der Korrektur. Der Vorschrift fehlt also nicht nur ihre historische Existenzberechtigung, sondern sie bewirkt darüber hinaus systemfremde Ergebnisse. 4. Gewährleistung der Selbsthilfe mittels §§ 229 bis 231 BGB Es leuchtet unmittelbar ein, dass das allgemeine Selbsthilferecht nicht auf den Schutz des Besitzes begrenzt ist, sondern prinzipiell die Gewährleistung jeglichen Anspruchs absichert, dessen Erfüllung bei unmittelbar fehlender staatlicher Ordnungsmacht vereitelt oder wesentlich erschwert zu werden droht. Demzufolge regelt das Bürgerliche Gesetzbuch die Selbsthilfe übergreifend in seinem allgemeinen Teil. Die Vorschrift des § 859 BGB behielte ihre Existenzberechtigung, wenn sie einen über die §§ 229 ff. BGB hinausgehenden Regelungsgehalt hätte. Insofern wird stets die Schnelligkeit sowie auch die Intensität des Besitzschutzes betont.8 Jedoch geht beides nicht über § 229 BGB hinaus. Es bestehen weder in zeitlicher Hinsicht noch in Bezug auf die Intensität der zur Verfügung stehenden Mittel Unterschiede. a) Zeitliche Komponente In zeitlicher Hinsicht ist nicht § 229 BGB, sondern im Gegenteil § 859 BGB limitiert. Dies veranschaulicht die einleitende Fallkonstellation. Die Besitzkehr bezogen auf eine bewegliche Sache ist nur gegenüber dem auf frischer Tat betroffenen oder verfolgten Täter zugelassen, § 859 Abs. 2 BGB. Die Besitzkehr an einem Grundstück darf nur sofort erfolgen, § 859 Abs. 3 BGB. Aus der übergreifenden Vor7
In diesem Sinne betrachtet Schäfer, in: MüKoBGB, Band 8, 8. Auflage 2020, § 858 Rn. 9, die §§ 227 bis 229 BGB als gesetzliche Gestattungen im Sinne von § 858 Abs. 1 BGB. Ebenso Schreiber, JURA 1997, 29 (33 f.), wonach der Besitzer, der sich eine ihm zuvor durch verbotene Eigenmacht entzogene Sache mit Gewalt wiederbeschafft, nach § 229 BGB gerechtfertigt sei, wenn die Selbsthilfe gemäß § 859 Abs. 2 BGB verspätet ist. Als nach § 229 BGB zu sichernder Anspruch kommt auch der Besitzanspruch aus § 861 BGB in Betracht. Sind die Voraussetzungen des § 229 BGB erfüllt, begeht der Besitzer durch die gewaltsame Rückholung der Sache keine verbotene Eigenmacht. In ähnlicher Art weist Gies, in: jurisPKBGB, 9. Auflage (Stand: 01. 07. 2020), § 859 Rn. 14, darauf hin, dass sich das Verhalten des Täters gegenüber dem unmittelbaren Besitzer als verbotene Eigenmacht im Sinne des § 858 Abs. 1 BGB darstellen muss, was eine inzidente Prüfung dieser Norm erforderlich macht. 8 So Berger, in: Jauernig, BGB, 18. Auflage 2021, § 859 Rn. 2, und Schäfer, in: MüKoBGB (Fn. 7), § 859 Rn. 12, zum engen zeitlichen Zusammenhang der Gewaltanwendung gemäß § 859 BGB mit der Entziehung der Sache.
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schrift des § 229 BGB leitet sich hingegen ab, dass die zeitliche Differenzierung zwischen der Besitzkehr an einer beweglichen Sache und derjenigen an einem Grundstück nicht nur entbehrlich, sondern verfehlt ist. Genauso wenig bedarf es der Unterscheidung zwischen Besitzwehr, § 859 Abs. 1 BGB, und Besitzkehr, § 859 Abs. 2 und Abs. 3 BGB.9 Übergreifend knüpft § 229 BGB allein an das Fehlen obrigkeitlicher Hilfe und die Gefahr der Vereitelung oder wesentlichen Erschwerung des Anspruchs an. Diese Voraussetzungen können auch dann erfüllt sein, wenn – wie im obigen Fall – der Anspruchsgegner zeitlich erst weit nach Ausübung der verbotenen Eigenmacht gefasst werden kann. b) Intensität der Selbsthilfehandlung Hinsichtlich der Intensität der gestatteten Selbsthilfehandlung scheint § 859 BGB nach seinem Wortlaut über § 229 BGB hinauszugehen. Denn § 859 Abs. 1 BGB gestattet als Ausgangsvorschrift die Gegenwehr „mit Gewalt“, was für die Besitzkehr gemäß § 859 Abs. 2 BGB ausdrücklich bestätigt wird. § 859 Abs. 3 BGB sieht in ähnlicher Fassung für die Besitzkehr an einem Grundstück die „Entsetzung des Täters“ vor. Jedoch besteht Einigkeit, dass § 229 BGB gleichermaßen die Anwendung von Gewalt gegen eine Person legitimiert.10 Die Vorschrift lässt es zu, „den Widerstand des Verpflichteten gegen eine Handlung, die dieser zu dulden verpflichtet ist“ zu „beseitigen“, was schwerlich ohne Gewaltanwendung vorstellbar ist. Damit korrespondierend regeln §§ 228, 904 BGB den Gewalteinsatz gegen eine Sache. Schließlich liegt in der Gewaltanwendung erst die eigentliche Einschränkung des staatlichen Gewaltmonopols begründet, die § 229 BGB legitimiert. Über diese Grenze geht § 859 BGB nicht hinaus. c) Vorrang der obrigkeitlichen Hilfe Wollte man § 859 BGB einen spezialgesetzlichen Regelungsgehalt zumessen, wäre ein Rückgriff auf § 229 BGB ausgeschlossen. Dies würde in der weiteren Konsequenz zu einer Einschränkung der besitzrechtlichen Selbsthilfe führen, was ausweislich der Ausgangskonstellation zu befremdlichen Ergebnissen führen würde und augenscheinlich nicht bezweckt ist. Die vermeintliche Schärfe des Besitzschutzes entpuppt sich im Rahmen der Selbsthilfe als Trugschluss. Sie könnte sich allein dadurch erweisen, dass man die Selbsthilfe gemäß § 859 BGB nicht einem Prinzip der Subsidiarität unterwirft, wie es §§ 229, 230 BGB vorsehen. Danach darf die Selbsthilfe nur so weit gehen, wie „obrigkeitliche Hilfe nicht rechtzeitig zu erlangen ist“. Zu denken ist an eine Abwandlung der obigen Fallkonstellation in der Weise, 9 Nicht umsonst lässt BGH NJW 2009, 2530 (2531), zu den klassischen Abschleppfällen die Differenzierung dahinstehen. 10 Ellenberger, in: Palandt, 79. Auflage 2020, § 229 Rn. 8.
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dass M die Identität des Diebes bekannt ist.11 Hier könnte man eine Selbsthilfe gemäß § 229 BGB in Frage stellen, da zwar obrigkeitliche Hilfe nicht rechtzeitig zu erlangen ist, die Vereitelung des Herausgabeanspruchs jedoch in Kenntnis der Identität des Diebes nicht zu befürchten ist. Zumindest eine Erschwernis der Anspruchsverfolgung ist jedoch auch in dieser Fallvariante in Anbetracht der kriminellen Energie des Diebes zu befürchten. Umgekehrt darf die Gewaltanwendung auch im Zuge von § 859 BGB das erforderliche Maß nicht überschreiten. Vorrangig sind mildere Mittel einzusetzen.12 Dies beinhaltet die vorrangige Heranziehung der obrigkeitlichen Hilfe,13 zumal wenn man berücksichtigt, dass deren mangelnde Gewährleistung bei Inkrafttreten des BGB erst zur Vorschrift des § 859 BGB geführt hat.14 Dieser gesetzliche Regelungsbedarf ist spätestens mit Inkrafttreten des Grundgesetzes
11 Ein solches Lehrbuchbeispiel findet sich bei Meder/Czelk, Grundwissen Sachenrecht (Fn. 1), S. 33 f., in dem der Eigentümer zufällig weiß, wo der Dieb wohnt, und sich deshalb erst am nächsten Tag zum Dieb begibt, um dort das Fahrrad gewaltsam wieder an sich zu bringen. Die Ablehnung des Selbsthilferechts in diesem Lehrbuchfall wird von Meder/Czelk mit dem Erfordernis der Rechtssicherheit begründet. Ein Außenstehender könne nicht mehr erkennen, dass E zuerst der Besitz abhandengekommen war. Im Gegenteil könne das Verhalten von E den Eindruck erwecken, er begehe verbotene Eigenmacht. Würde eine zeitlich so weit von der ursprünglichen Wegnahme entfernte Handlung noch dem Unmittelbarkeitserfordernis des § 859 BGB genügen, wäre die Rechtssicherheit gefährdet. Die Besitzkehr müsse auf einen Zeitpunkt beschränkt bleiben, in dem der vorangegangene eigenmächtige Eingriff in die Besitzlage noch mit der Selbsthilfe des ursprünglichen Besitzers in Verbindung zu bringen ist. In der strafrechtlichen Rechtsprechung wird die gewaltsame Verteidigung der Sache durch den Dieb thematisiert. Bereits das Reichsgericht hat festgestellt, dass sich auch der Dieb gegen die Wegnahme der gestohlenen Sache gemäß § 859 BGB zur Wehr setzen darf, RGSt 60, 273 (278); so auch BGH (Strafsenat), NStZ-RR 2017, 244 (245). 12 Schäfer, in. MüKoBGB (Fn. 7), § 859 Rn. 9. 13 So Schünemann, Selbsthilfe im Rechtssystem, 1985, S. 149, Fn. 2, zur Subsidiarität gegenüber obrigkeitlicher Hilfe gemäß dem Leitbild der lex generalis in § 229 BGB; Klingbeil (Fn. 1), S. 204 ff., 208 ff., mit der Konstruktion einer öffentlich-rechtlichen Notgeschäftsführung; anders die h. M.: RG, Urteil vom 4. 5. 1934 – Az.: III 312/33, BeckRS 1934, 100413; BGH, NJW 1967, 46 (47); AG München, NJW-RR 2002, 200 (200); Fritzsche, in: BeckOK BGB (Fn. 1), § 859 Rn. 8; Gies, in: jurisPK-BGB (Fn. 7), § 859 Rn. 8; Gutzeit, in: Staudinger, §§ 854 bis 882, Neubearbeitung 2018, § 859 Rn. 11; Herrler, in: Palandt (Fn. 10), § 859 Rn. 2; Hoeren, in: Ring/Grziwotz/Keukenschrijver, NomosKommentar BGB, 4. Auflage 2016, § 859 Rn. 7; Lorenz, in: Erman (Fn. 1), § 859 Rn. 3; Prütting, in: Prütting/Wegen/ Weinreich, BGB, 15. Auflage 2020, § 859 Rn. 2 f.; Schäfer, in: MüKoBGB (Fn. 7), § 859 Rn. 12; Schulte-Nölke, in: Schulze u. a., BGB, 10. Auflage 2019, § 859 Rn. 2; Vieweg/Werner, Sachenrecht, 8. Auflage 2018, § 2 Rn. 55. 14 Der historische Gesetzgeber ging davon aus, dass es sich bei den Gewaltrechten des Besitzers um eine Ergänzung zu den Vorschriften des Allgemeinen Teils über die Selbstverteidigung und Selbsthilfe handle, Jakobs/Schubert, Die Beratung des Bürgerlichen Gesetzbuchs, Sachenrecht I (§§ 854 bis 1017), 1985, S. 168. Bis heute ist das Verhältnis der §§ 229 ff. BGB zu § 859 BGB aber nicht abschließend geklärt, s. Fn. 1.
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und dem in Art. 20 Abs. 3 GG verbürgten Anspruch auf effektiven Rechtsschutz entfallen.15 d) Verpflichtung zum dinglichen Arrest Im Falle der Wegnahme einer Sache ist gemäß § 230 Abs. 2 BGB nachträglich der dingliche Arrest zu beantragen, um eine gerichtliche Überprüfung herbeizuführen. Darin kommt der Vorrang des staatlichen Gewaltmonopols zum Ausdruck. Dem widerspricht es, in § 859 BGB eine gesetzliche Ausnahme zu sehen.16 Die zeitlich engeren Grenzen von § 859 BGB stehen in keinem sachlichen Zusammenhang mit dem staatlichen Gewaltmonopol. Sie rechtfertigen daher nicht ihre Relativierung. Der Vorrang der staatlichen Hoheitsgewalt ist verfassungsrechtlich verbürgt. Er unterliegt allein den verfassungsimmanenten Grenzen in Form der Gewähr eines effektiven Rechtsschutzes. Ausprägung dessen sind die Regelungen der §§ 229, 230 BGB. Eine weitergehende Reglementierung des staatlichen Gewaltmonopols lässt sich verfassungsrechtlich nicht legitimieren. 5. Teleologische Reduktion von § 859 BGB um § 861 Abs. 2 BGB Führt § 859 BGB zu einem systemwidrigen Schutz des unrechtmäßigen Besitzers – in der Ausgangskonstellation des Diebes gegenüber dem bestohlenen rechtmäßigen Besitzer –, so bedarf es im Rahmen der Gesetzesanwendung einer Korrektur. Schließt die verbotene Eigenmacht seitens D im Ausgangsfall dessen Selbsthilfe gemäß § 859 BGB nicht aus, so ist dieses Ergebnis analog § 861 Abs. 2 BGB zu berichtigen. Nicht anders als der Herausgabeanspruch des Diebes ist auch sein Selbsthilferecht ausgeschlossen, da sein Besitz dem rechtmäßigen Besitzer gegenüber fehlerhaft ist.17 6. Teleologische Reduktion von § 859 BGB um das Anspruchselement Die Korrektur von § 859 BGB um § 861 Abs. 2 BGB findet ihre Bestätigung, wenn man die Selbsthilfe gemäß § 229 BGB zum Vorbild für eine Rechtsfortbildung wählt. Die Vorschrift setzt einen Anspruch voraus, um die Selbsthilfe zu rechtferti15 In diesem Sinne treffend zu den Wechselwirkungen zwischen Rechtsstaatlichkeit und Selbsthilfe Lopau, JuS 1980, 501 (502): „Die Zurückdrängung der Selbsthilfe ist in einem Staat, der sich auch als Rechtswegstaat versteht, selbstverständlich.“ 16 Anders Repgen, in: Staudinger (Fn. 1), § 230 Rn. 4; Gutzeit, in: Staudinger (Fn. 13), § 859 Rn. 15, und Grothe, in: MüKoBGB, Band 1, 8. Aufl. 2018, § 230 Rn. 2. 17 Ähnlich einschränkend Klingbeil (Fn. 1), S. 200 ff., wonach § 859 BGB der Durchsetzung von Besitzschutzansprüchen aus §§ 861, 862 BGB dient. Ein Rückgriff auf § 859 BGB ist daher abzulehnen, wenn ein Anspruch aus §§ 861, 862 BGB nicht besteht. In diese Richtung geht auch Gutzeit, in: Staudinger (Fn. 13), § 861 Rn. 2: „Die Ansprüche aus §§ 861 und 862 BGB entsprechen in ihrem Ziel den Gewaltrechten aus § 859 BGB.“ Jedoch zieht Gutzeit daraus nur den Schluss, dass § 864 BGB analog auf § 859 BGB anwendbar ist.
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gen. Der Anspruch aus §§ 861 Abs. 1, 862 Abs. 1 BGB steht im Ausgangsfall aber nicht D, sondern M zu. Gemäß §§ 861 Abs. 2, 862 Abs. 2 BGB ist D wegen seiner früheren verbotenen Eigenmacht gegenüber M nicht geschützt. Aus dieser Perspektive ist ebenso eine teleologische Reduktion von § 859 BGB vorzunehmen. Nicht anders als § 229 BGB ist § 859 BGB auf die Gewährleistung der Erfüllung eines Besitzschutzanspruchs gerichtet. Unterliegt demzufolge der Herausgabeanspruch einer Einschränkung, nämlich der Ausgrenzung desjenigen, der selbst verbotene Eigenmacht geübt hat, so gilt dies gleichermaßen für die Selbsthilfe. Hätte der Dieb also bei Wegnahme der Sache durch den vormaligen Besitzer keinen Herausgabeanspruch gegen diesen, so ist er auch nicht befugt, Selbsthilfe zu üben. Die teleologische Reduktion von § 859 BGB um das Anspruchserfordernis des § 229 BGB führt zu demselben Ergebnis wie eine besitzrechtliche Restriktion um § 861 Abs. 2 BGB. Soweit sich darüber hinaus Einschränkungen von § 861 Abs. 2 BGB als unberechtigt erweisen, zu denken ist insbesondere an die Jahresfrist,18 betrifft eine diesbezügliche Korrektur wiederum das Selbsthilferecht. Nur dann, wenn man § 859 BGB auf die Grundprinzipien des allgemeinen Selbsthilferechts zurückführt, lässt sich eine Gewaltspirale im Aufeinandertreffen mit § 229 BGB vermeiden, womit § 859 BGB aber auch seine Existenzberechtigung verliert. 7. Zur Bewusstseinsbildung des Selbsthilferechts Da § 859 BGB augenscheinlich keine praktische Bedeutung entfaltet, wird der Vorschrift zumindest eine Bewusstseinsbildung zugeschrieben.19 Dies setzt aber rechtstatsächlich voraus, dass der Schutz (auch) des unrechtmäßigen Besitzers dem Bewusstsein des normalen Bürgers entspricht. Dazu fehlt augenscheinlich jeder Nachweis. § 859 BGB steht im Widerspruch zur allseits bekannten strafrechtlichen Ächtung des Diebstahls. Zumindest die Lektüre der Besitzschutzvorschriften müsste also geeignet sein, ein davon abweichendes Bewusstsein zu begründen. So nachvollziehbar jedoch die allgemeine Selbsthilfe erscheint, so wenig vermag eine solche Funktion eine Vorschrift zu erfüllen, die (auch) zugunsten eines Diebes gilt, dies aber nicht einmal transparent zum Ausdruck bringt. Demgegenüber wirkt die Vorschrift des § 229 BGB nicht nur bewusstseinsbildend, sondern auch rechtsbegründend für die Praxis. Vor diesem Hintergrund ist nur zu wünschen, dass der Besitzschutz schnellstmöglich dem allgemeinen Selbsthilferecht angeglichen wird, damit dann aber auch seine eigenständige Funktion einbüßt. Muss die Selbsthilfe sich in den Fällen bewähren, in denen obrigkeitliche Hilfe – und demzufolge auch ein juristischer Rat – nicht rechtzeitig eingeholt werden kann, so verlangt genau diese Situation eine im Bewusstsein der Allgemeinheit verankerte Normierung. Diesem Anspruch vermögen die §§ 229 18 S. dazu im Detail Stamm, Reformvorschläge zum Schutz des Besitzes – Eine kritische Analyse der §§ 861 bis 864 BGB unter Einbeziehung von § 1007 BGB, im Erscheinen, II. 5. 19 Schäfer, in: MüKoBGB (Fn. 7), § 859 Rn. 1.
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bis 231 BGB zu genügen, nicht hingegen ein weitergehendes Selbsthilferecht für den unrechtmäßigen Besitzer. 8. Lösungsvorschläge Die Selbsthilfe als Ausnahme vom staatlichen Gewaltmonopol ist sachgerecht in §§ 229 bis 231 BGB normiert. Dazu im Widerspruch sieht § 859 BGB ein Selbsthilferecht (auch) für den unrechtmäßigen Besitzer vor, welches jeglicher Legitimation entbehrt. Die Vorschrift ist daher de lege lata um das Anspruchselement von § 229 BGB teleologisch zu reduzieren. De lege ferenda ist § 859 BGB ersatzlos zu streichen. III. Der Tatbestand der verbotenen Eigenmacht Die Untersuchung zu § 859 BGB gibt Veranlassung, die Vorschrift des § 858 BGB näher zu beleuchten. 1. Die verbotene Eigenmacht als Synonym der Rechtswidrigkeit § 858 Abs. 1 BGB definiert die verbotene Eigenmacht. Wer dem Besitzer ohne dessen Willen den Besitz entzieht oder ihn im Besitz stört, handelt, sofern nicht das Gesetz die Entziehung oder die Störung gestattet, widerrechtlich. Diese Definition ist ein Spiegel der Rechtfertigungsgründe. Die Vorschrift normiert die Rechtswidrigkeit der Besitzerlangung vorbehaltlich ihrer gesetzlichen Gestattung, also ihrer Rechtfertigung. Nicht anders als im Strafrecht indiziert daher der Tatbestand der Wegnahme oder der Störung im Besitz die Rechtswidrigkeit. Die Indizwirkung steht allein unter dem Vorbehalt, dass weder eine rechtsgeschäftliche Einwilligung vorliegt20 noch ein gesetzlicher Rechtfertigungstatbestand erfüllt ist. Dies bedeutet aber auch, dass mit der Definition des § 858 Abs. 1 BGB nichts gewonnen ist. Die Vorschrift hat keinen eigenen Regelungsgehalt. Der Begriff der Rechtswidrigkeit wird nur durch einen anderen, die verbotene Eigenmacht, ersetzt, was eine unnötige Verunsicherung in der Rechtsanwendung zur Folge hat. 2. Die Fehlerhaftigkeit als Appendix des Begriffswirrwarrs Gemäß § 858 Abs. 2 Satz 1 BGB ist der durch verbotene Eigenmacht erlangte Besitz fehlerhaft. Hier wird die Begriffsvielfalt durch ein weiteres Synonym ergänzt: Rechtswidrigkeit ist gleich verbotene Eigenmacht ist gleich Fehlerhaftigkeit des Besitzes. Auch diese Vorschrift entbehrt eines eigenen Regelungsgehalts. 20 Hier ist allein umstritten, ob eine rechtsgeschäftliche Einwilligung erforderlich ist oder – entsprechend den Voraussetzungen für den Besitz selbst – ein natürlicher Wille ausreicht, Schäfer, in: MüKoBGB (Fn. 7), § 858 Rn. 7.
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3. Verfehlte Beschränkung auf den bösgläubigen Besitzer Für die nachfolgenden Überlegungen ist es hilfreich, den Ausgangsfall fortzuführen. a) Fortführung der Fallkonstellation Geht es im Ausgangsfall um den Diebstahl eines Fahrrades zu Lasten von dessen Mieter, so soll es im Folgenden um eine Weiterveräußerung durch den Dieb gehen. Fortführung zum Fall: D veräußert das Fahrrad an K, der D für den Eigentümer und berechtigten Besitzer des Rades hält. M und E verlangen von K Herausgabe.
Der eigentliche Regelungsgehalt von § 858 BGB liegt in § 858 Abs. 2 Satz 2 BGB begründet. Die Fehlerhaftigkeit des Besitzes muss der Nachfolger im Besitz nur dann gegen sich gelten lassen, wenn er sie bei dem Erwerb kennt.21 Mit anderen Worten wird in der Fallfortführung K als gutgläubiger Nachfolger im Besitz vor der Selbsthilfe, § 859 Abs. 4 BGB, und vor den besitzrechtlichen Ansprüchen aus §§ 861, 862 BGB geschützt.22 b) Zur Relevanz der Besitznachfolge Für die Selbsthilfe wird die Besitznachfolge ausweislich des § 859 Abs. 4 BGB kaum mehr relevant.23 Für den Unterlassungsanspruch aus § 862 BGB spielt sie keine Rolle. Denn § 862 Abs. 4 BGB richtet sich stets gegen den aktuellen Störer, der selbst nicht Besitzer ist. Besitzer ist der Anspruchssteller, nicht der Anspruchsgegner. Eine Besitznachfolge in der Person des Störers ist also ausgeschlossen. Die Regelung gemäß § 858 Abs. 2 Satz 2 BGB wird also nur für den Herausgabeanspruch relevant und zwar für den Fall, dass der Besitznachfolger gutgläubig ist. In der Fallfortführung kann daher M von K keine Herausgabe des Fahrrades aus § 861 Abs. 2 BGB verlangen. c) Parallele und Unterschied zum gutgläubigen Eigentumserwerb Der Schutz des gutgläubigen Besitznachfolgers gemäß § 858 Abs. 2 Satz 2 BGB gilt gleichermaßen für spätere Nachfolger von K im Besitz. Denn selbst wenn ein solcher Nachfolger bösgläubig wäre, knüpft § 858 Abs. 2 Satz 2 BGB allein an den Besitz des Vorgängers an, in der Fallfortführung dann des K, der aufgrund seiner 21 Zu dem ebenso von § 858 Abs. 2 Satz 2 BGB erfassten Erbenbesitz und zu den weiteren Sonderformen des Besitzes erscheint ein gesonderter Beitrag des Autors. 22 S. zu §§ 861, 862 BGB Stamm, Reformvorschläge zum Schutz des Besitzes – Eine kritische Analyse der §§ 861 bis 864 BGB unter Einbeziehung von § 1007 BGB, im Erscheinen, II. 23 Zu § 859 Abs. 4 BGB s. bereits oben unter II. 3. sowie gesondert unter III. 4.
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Gutgläubigkeit nicht fehlerhaft besitzt. Deshalb scheidet eine Fortschreibung des fehlerhaften Besitzes aus. Der Mechanismus erinnert an die Gleichwertigkeit des gutgläubigen Eigentumserwerbs vom Nichtberechtigten mit dem Eigentumserwerb vom Berechtigten. Zugleich springt aber ein maßgeblicher Unterschied ins Auge. Im Gegensatz zum Mieter M kann nämlich E als Eigentümer von K unabhängig von dessen Gutgläubigkeit die Herausgabe aus § 985 BGB verlangen. Der Diebstahl hindert gemäß § 935 Abs. 1 BGB jeglichen gutgläubigen Eigentumserwerb in der weiteren Erwerberkette. d) Einschränkung der Fehlerhaftigkeit versus Schärfe des Besitzschutzes Im Gefolge der bisherigen Überlegungen ist festzustellen, dass der Besitzschutz mit dem Schutz des Eigentums nicht in Übereinstimmung zu bringen ist. Es ergeben sich gravierende Wertungswidersprüche. § 858 Abs. 2 Satz 2 BGB schützt nicht den ursprünglichen Besitzer, sondern den Nachfolger. Geschützt wird nicht das Opfer der verbotenen Eigenmacht, sondern der gutgläubige Besitznachfolger. Dies widerspricht diametral dem Leitbild von der Schärfe des Besitzschutzes. § 858 Abs. 2 Satz 2 BGB ist folglich in mehrfacher Hinsicht begründungsbedürftig. e) § 858 Abs. 2 Satz 2 BGB im Widerspruch zur Dogmatik des Sachenrechts Die Regelung des § 858 Abs. 2 Satz 2 BGB ist daraufhin zu untersuchen, ob sie den sachenrechtlichen Prinzipien gerecht wird. aa) Unmittelbarer Besitz als Anknüpfungspunkt eines gutgläubigen Eigentumserwerbs Der Mechanismus des gutgläubigen Erwerbs vom Nichtberechtigten entstammt dem Eigentumsrecht. Bezugspunkt dort ist ausweislich des Publizitätsprinzips der Besitz, dessen Überleitung gemäß § 929 Satz 1 BGB Voraussetzung für den Eigentumserwerb ist. Abgeschwächt, aber bestätigt wird dies durch die Besitzsurrogate der §§ 930, 931 BGB. Hier genügt anstelle der Übertragung des unmittelbaren Besitzes die Begründung eines Besitzrechts in Form eines Besitzmittlungsverhältnisses oder die Abtretung des Herausgabeanspruchs gegen den derzeitigen Besitzer. Jedoch macht das Gesetz den gutgläubigen Erwerb des Eigentums vom Nichtberechtigten gemäß §§ 933, 934 BGB von der abschließenden Übergabe abhängig. Weder der mittelbare Besitz noch ein Herausgabeanspruch gegen den Besitzer ist (ausreichender) Anknüpfungspunkt für den gutgläubigen Eigentumserwerb. Maßgeblich bleibt die Übertragung des unmittelbaren Besitzes gemäß § 854 Abs. 1 BGB als solcher, dies jedoch nur in der dienenden Funktion für den Eigentumserwerb.24 Der Mecha24 So auch im Ansatz Schäfer, in: MüKoBGB (Fn. 7), § 854 Rn. 15, wonach der Gesetzgeber den Besitz als rechtstechnisches Instrument in vielen Regelungsbereichen herangezogen
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nismus des gutgläubigen Eigentumserwerbs vom Nichtberechtigten lässt sich also nicht auf § 858 Abs. 2 Satz 2 BGB übertragen. bb) Rückschluss aus der Vindikation für den Besitzer als Anspruchsgegner Die Vindikation richtet sich gegen den jeweiligen Besitzer. Ausweislich des § 985 BGB besteht der Herausgabeanspruch unabhängig von der Gutgläubigkeit des Besitzers. Für die Nachfolge im Besitz spielt die Gutgläubigkeit, anders als § 858 Abs. 2 Satz 2 BGB es suggeriert, keine Rolle. Es ist Ausfluss der Verdinglichung der Vindikation, dass Anspruchsgegner der aktuelle Besitzer ist, unabhängig davon, unter welchen subjektiven Umständen er in den Besitz der Sache gelangt ist.25 cc) Unterscheidung zwischen Besitz und Besitzrecht Die Vindikation veranschaulicht eine Differenzierung, die im Besitzschutz bislang nicht präzise erfasst wird. Es geht um die Unterscheidung von Besitz und Besitzrecht.26 Der Besitz ist absolut und entzieht sich einem guten Glauben. Fraglich ist, wie es sich mit dem Besitzrecht verhält. dd) Guter Glaube an das Besitzrecht im Widerspruch zu § 986 BGB Scheidet der Besitz als Anknüpfungspunkt für eine Gutgläubigkeit des Anspruchsgegners von § 861 Abs. 1 BGB aus, stellt sich die Frage nach einer anderweitigen Rechtfertigung für die Beschränkung auf den fehlerhaften Besitz. Es geht ausweislich des § 858 Abs. 2 Satz 2 BGB um die Rechtswidrigkeit der Besitzerlangung
hat. Seine theoretische und praktische Hauptbedeutung liege in der Grundlage des Eigentumserwerbs bei beweglichen Sachen. 25 Thole, in: Staudinger, §§ 985 bis 1011, Neubearbeitung 2019, 985, Rn. 111: „Die Art und Weise des Besitzerwerbs ist für § 985 BGB gleichgültig; der Besitzer braucht dem Eigentümer nicht den Besitz entzogen zu haben.“ 26 So auch Fritzsche, in: BeckOK BGB (Fn. 1), § 854 Rn. 16. Die Vorschrift des § 985 BGB verdeutliche die Unterscheidung zwischen dem Besitz und dem Besitzrecht, denn der Besitzer kann die Herausgabe der Sache an den Eigentümer nach § 986 BGB nur aufgrund eines Rechts zum Besitz verweigern; die zwei Ebenen des Besitzes wurden bereits von Savigny erfasst, Das Recht des Besitzes, 7. Auflage (Neudruck der Ausgabe Wien 1865), S. 43 f. So sei der Besitz Faktum und Recht zugleich; Sandtner, Kritik der Besitzlehre, 1968, S. 37 f., geht im Hinblick auf die Beziehung zwischen Recht und Faktum davon aus, dass der Besitz als Faktum die Ursache sei, der Besitz als Recht stelle die Wirkung dar; nach anderer Ansicht ist der Besitz nur als reines Faktum zu begreifen, Sosnitza, Besitz und Besitzschutz, 2003, S. 65 ff.; ähnlich Westermann/Gursky/Eickmann, Sachenrecht, 8. Auflage 2011, § 7 Rn. 8 m. w. N.; der Besitz sei kein subjektives Recht, sondern nur eine geschützte Rechtsposition oder Rechtsstellung oder ein Rechtsverhältnis; unklar Herrler, in: Palandt (Fn. 10), Überbl. v. § 854 Rn. 1, wonach der Besitz ein tatsächliches Verhältnis sei und kein subjektives Recht, allerdings gewähre der Besitz eine wichtige Rechtsstellung und habe damit die Bedeutung eines (wenn auch nur vorläufigen) Rechts.
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oder anders ausgedrückt um das Besitzrecht.27 Letzteres entstammt dem Eigentumsrecht, allerdings nicht dem Erwerbstatbestand, sondern dem gegenläufigen Aspekt des Behaltendürfens der Sache trotz der fremden Rechtsinhaberschaft, wie es in § 986 BGB normiert ist. Es handelt sich also nicht notwendigerweise um eine dingliche Rechtsposition, beispielsweise ein Besitzpfandrecht, sondern gleichermaßen und weitaus bedeutsamer um schuldrechtlich begründete Besitzrechte. § 986 BGB bezieht sich insoweit ausdrücklich auf die Relativität des Besitzrechts „gegenüber“ dem Eigentümer.28 Aus guten Gründen spielt die Gutgläubigkeit daher keine Rolle. Zum einen geht es im Wesentlichen um schuldrechtliche, also um relative Berechtigungen, die sich naturgemäß nicht auf Dritte beziehen und damit kein Anknüpfungspunkt für einen gutgläubigen Erwerb sein können. Zum anderen geht es nicht um die Überleitung einer Rechtsposition im Sinne eines Erwerbstatbestandes. Es geht allein um die relative Rechtsbeziehung zwischen Rechtsinhaber und Besitzer. Mithin fehlt ein Bezugspunkt für einen guten Glauben, wie § 858 Abs. 2 Satz 2 BGB ihn vorsieht. ee) Der gute Glaube an die Rechtmäßigkeit als juristisches Phantom Die Suche nach einem tauglichen Bezugspunkt für den guten Glauben gestaltet sich gleich der Suche nach einem Phantom. Man hält vergeblich Ausschau nach einer dogmatischen Legitimation. Dies wird besonders deutlich, wenn man sich vor Augen hält, dass § 858 Abs. 2 Satz 2 BGB mit dem Begriff des „fehlerhaften Besitzes“ auf die verbotene Eigenmacht abstellt, also ausweislich der Überlegungen zur Bedeutung von § 858 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 BGB auf die Rechtswidrigkeit der Besitzerlangung. Es gibt aber keinen guten Glauben an die Rechtmäßigkeit einer Handlung, jedenfalls keinen solchen, der eine Besitzberechtigung nach sich ziehen würde. Dies widerspricht allen Vorstellungen der Rechtfertigungslehre.29
27 Im Einzelfall kann die Frage der Rechtswidrigkeit der Besitzerlangung von der Frage der Rechtmäßigkeit des Besitzrechts divergieren, s. dazu näher sogleich unter ee) und unter f). 28 Dies mag erklären, weshalb Schäfer, in: MüKoBGB (Fn. 7), § 858 Rn. 13, die Fehlerhaftigkeit als relative Rechtswidrigkeit gegenüber bestimmten Personen bezeichnet. Die Bezeichnung ist hingegen unglücklich, da relativ das Besitzrecht ist, die Rechtswidrigkeit des Besitzentzugs sich hingegen nicht relativieren lässt. Im Ergebnis ablehnend daher auch Brehm/Berger, Sachenrecht, 3. Auflage 2014, Rn. 4.7. 29 Für ein subjektives Moment besteht allein im Zuge eines Rechtfertigungsgrundes Raum und dies vorwiegend im Strafrecht, siehe hierzu Rönnau, JuS 2009, 594 ff. Im Zivilrecht ist selbst ein solches subjektives Tatbestandsmerkmal umstritten. Braun, NJW 1998, 941 (942), lehnt ein subjektives Rechtfertigungselement ab. Er führt aus, dass im Zivil- und Strafrecht unterschiedliche Ziele verfolgt werden. Im Strafrecht gehe es um Sanktionen für die Auflehnung gegen staatliche Ge- und Verbote, im Zivilrecht um einen Interessenausgleich zwischen Privatpersonen; so auch Grothe, in: MüKoBGB (Fn. 16), § 227 Rn. 18; Mansel, in: Jauernig (Fn. 8), § 227 Rn. 6, und Repgen, in: Staudinger (Fn. 1), § 227 Rn. 51 ff.; nach a. A. bedarf es auch für die zivilrechtlichen Notrechte eines subjektiven Rechtfertigungselements, BGH, NJW 1985, 490 (491 f.); Ellenberger, in: Palandt (Fn. 10), § 227 Rn. 6; Wagner, in: Erman (Fn. 1), § 227 Rn. 10. Zur strafrechtlichen Dimension s. gesondert unter III. 3. f).
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ff) Der gutgläubige Besitzerwerb um seiner selbst willen Der Vergleich mit dem gutgläubigen Eigentumserwerb veranschaulicht, dass dem Besitz lediglich dienende Funktion im Zuge eines dinglichen Rechtserwerbs zukommt. Das Erfordernis des Besitzübergangs zur Begründung eines gutgläubigen Eigentumserwerbs fußt auf dem Publizitätsprinzip, mithin auf dem durch den Besitz erweckten Rechtsschein des Eigentums. § 1006 BGB begründet daran anknüpfend die gesetzliche Vermutung, dass der Besitzer zugleich Eigentümer ist. Der Besitz verkommt hingegen zum Selbstzweck, wenn er als Anknüpfungspunkt für einen „gutgläubigen Besitzerwerb“ herangezogen wird. Gegenstand des Besitzerwerbs ist gemäß § 854 BGB allein die willentliche Übertragung der tatsächlichen Herrschaftsgewalt, bezüglich derer es keinen guten Glauben gibt. Der Besitz kann nicht für sich selbst zeugen.30 gg) Besitzerwerb versus gutgläubiger Eigentumserwerb Gemäß den bisherigen Überlegungen ist es kein Wertungswiderspruch, dass der Eigentumserwerb vom Nichtberechtigten nur bei Gutgläubigkeit des Erwerbers möglich ist, wohingegen der Besitzerwerb sich unabhängig von der Gutgläubigkeit des Erwerbers vollzieht. Anders als bei § 985 BGB das Eigentum, das gutgläubig erworben werden kann, ist bei § 861 BGB nicht der Besitz Anknüpfung für einen Herausgabeanspruch, sondern das Besitzrecht,31 das unabhängig von der Gutgläubigkeit besteht oder nicht besteht. Mangelt es am Besitzrecht, so hilft dem Anspruchssteller auch nicht sein guter Glaube. Der Besitz ist folglich schwächer ausgestaltet als das Eigentum. Die Überlegungen gelten gleichermaßen für den Anspruchsgegner, den zur Herausgabe verpflichteten Besitzer. Der unrechtmäßige Besitzer ist auch dann zur Herausgabe verpflichtet, wenn er gutgläubig ist. Auch insoweit ist der gutgläubige Besitzer schlechter gestellt als der gutgläubige Erwerber des Eigentums. Hier führt der gutgläubige Eigentumserwerb schon auf Seiten des Anspruchsstellers mangels dessen Eigentums zum Ausschluss der Vindikation, wohingegen auch der gutgläubige Besitzer bei fehlendem Besitzrecht zur Herausgabe verpflichtet bleibt. Der Besitzschutz ist nicht stärker, sondern schwächer ausgeprägt als der Schutz des Eigentums,32 sofern man einen solchen Vergleich angesichts der disparaten Rechtspositio30 Demzufolge verweist auch § 1007 Abs. 3 Satz 2 BGB nur auf §§ 986 bis 1003 BGB, nicht hingegen auf § 1006 BGB. Ausführlich zu § 1007 BGB Stamm, Reformvorschläge zum Schutz des Besitzes – Eine kritische Analyse der §§ 861 bis 864 BGB unter Einbeziehung von § 1007 BGB, im Erscheinen, III. 31 Anderer Auffassung ist Sosnitza (Fn. 26), S. 152, 188; die §§ 858 ff. BGB dienten dem Schutz des allgemeinen Rechtsfriedens, dem Anspruch müsse nicht notwendigerweise ein dingliches oder obligatorisches Ursprungsrecht zu Grunde liegen. 32 In diese Richtung neigt auch Hartung, Besitz und Sachherrschaft, 2001, S. 59; der Besitz ende, wenn eine andere Person ihr stärkeres materielles Recht nachweisen kann und gerichtlich durchsetzt. Der Besitz sei eine subsidiäre Regelung, dessen eigentliche, definitive Regelung das Recht des Eigentums sei.
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nen überhaupt ziehen will. Nur beim Eigentum vermag die Gutgläubigkeit des Erwerbers die mangelnde Berechtigung zu überwinden. Für den Besitz wie für das Besitzrecht ist der gute Glaube irrelevant. hh) Privilegierung hinsichtlich des Maßstabs für den guten Glauben Es fällt auf, dass gemäß § 858 Abs. 2 Satz 2 BGB nur die positive Kenntnis von der Fehlerhaftigkeit des Besitzes dem nachfolgenden Besitzer schadet. Eine grob fahrlässige Unkenntnis wirkt sich schon nicht mehr zulasten des Besitznachfolgers aus. Hier tut sich ein weiterer Wertungskonflikt im Verhältnis zum gutgläubigen Eigentumserwerb auf. Denn gemäß § 932 Abs. 2 BGB führt auch die grob fahrlässige Unkenntnis zur Bösgläubigkeit des Erwerbers.33 Eine Parallele ließe sich allenfalls zu § 892 BGB ziehen, was den gutgläubigen Eigentumserwerb an einem Grundstück anbelangt. Denn für einen solchen schadet ebenso nur die positive Kenntnis. Allerdings mangelt es insoweit auch an der Vergleichbarkeit. Denn Bezugspunkt für den guten Glauben ist hier nicht der Besitz, sondern das Grundbuch. Dessen hohe Richtigkeitsgewähr erklärt den erhöhten Vertrauensschutz gegenüber dem mobiliarrechtlichen Eigentumserwerb vom Nichtberechtigten.34 Im Ergebnis lässt sich nicht erklären, weshalb § 858 Abs. 2 Satz 2 BGB einen über § 932 Abs. 2 BGB hinausgehenden Vertrauensschutz vorsieht.35 ii) Der Schutz des guten Glaubens im Widerspruch zu § 935 BGB Im Sinne eines konsequenten Besitzschutzes müsste die verbotene Eigenmacht – anders, als es § 858 Abs. 2 Satz 2 BGB vorsieht – unabhängig von der Gutgläubigkeit des gegenwärtigen Besitzers einen Herausgabeanspruch des zum Besitz Berechtigten begründen. Die Rechtswidrigkeit der Besitzerlangung ist nicht disponibel, es sei denn, es liegt ein Rechtfertigungsgrund vor. Allein der gute Glaube an den rechtmäßigen Besitzerwerb des Vorgängers kann den Erwerber bei einer rechtswidrigen Vortat nicht legitimieren. Deutlicher Beleg dafür ist die Regelung des § 935 Abs. 1 33 Die vom Eigentumserwerb abweichende Definition der Gutgläubigkeit wurde im Gesetzgebungsverfahren mit Recht kritisiert, Prot. III, S. 37. Der Schutz des gutgläubigen Besitznachfolgers wurde aber als solcher nicht in Frage gestellt. 34 Kohler, in: MüKoBGB (Fn. 7), § 892 Rn. 2. 35 Im Gesetzgebungsverfahren wurde der Antrag gestellt, die Bösgläubigkeit von Besitzerwerber und Eigentumserwerber anzugleichen. Auch derjenige, der die Fehlerhaftigkeit infolge grob fahrlässiger Unkenntnis nicht gekannt habe, sei nicht schutzwürdig. Im Interesse der Einheitlichkeit des Gesetzes dürfe der Begriff der Bösgläubigkeit nicht unterschiedlich definiert werden. Die Mehrheit lehnte den Änderungsantrag jedoch ab. Eine unterschiedliche Definition sei zweckmäßig. Die Spolienklage bzw. der Einwand des fehlerhaften Besitzes sei sowohl im gemeinen Recht als auch in aktuellen landesrechtlichen Kodifikationen nur bei positiver Kenntnis begründet, Prot. III, S. 36 f.; heute wird die Diskrepanz zwischen § 932 Abs. 2 BGB und § 858 Abs. 2 Satz 2 BGB zwar erkannt, aber nicht hinterfragt, so statt vieler Gutzeit, in: Staudinger (Fn. 13), § 858 Rn. 62.
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Satz 1 BGB. Die Vorschrift schließt den gutgläubigen Eigentumserwerb aus, wenn die Sache dem Eigentümer gestohlen wurde, verloren gegangen oder sonst abhandengekommen ist. Die rechtswidrige Besitzerlangung schließt jeglichen Eigentumserwerb in einer sich anschließenden Veräußererkette aus. Die Gutgläubigkeit späterer Erwerber schützt diese nicht. Der Schutz des Bestohlenen hat Vorrang, da dieser mangels freiwilliger Besitzentäußerung keinen ihm zurechenbaren Vertrauenstatbestand geschaffen hat.36 Demgegenüber soll im Zuge von § 858 Abs. 2 Satz 2 BGB die Gutgläubigkeit des Erwerbers den Makel des Abhandenkommens der Sache überwinden und zwar für jeglichen weiteren Besitznachfolger unabhängig von dessen Gutgläubigkeit. Mag letzteres noch dem Vorbild der §§ 932 ff. BGB entsprechen, so stellt sich jedenfalls die Frage, weshalb der gegenwärtige Besitzer im Verhältnis zum vormaligen Besitzer, dem die Sache abhandengekommen gekommen ist, geschützt wird. Das Eigentumsrecht trifft exakt die gegenteilige Wertung. Die vermeintliche Schärfe des Besitzschutzes entpuppt sich ein weiteres Mal als tatsächliche Schwäche. § 935 Abs. 1 Satz 1 BGB böte Anlass für eine Verschärfung des Besitzrechts, das im Zuge von § 858 Abs. 2 Satz 2 BGB in die exakt entgegengesetzte Richtung verläuft. jj) Erstreckung von § 935 BGB auf den Teilrechtserwerb Auf der Suche nach einer Legitimation für § 858 Abs. 2 Satz 2 BGB ließe sich die Rechtswidrigkeit der Besitzerlangung als dingliche Belastung des Besitzes interpretieren. Die Parallele wäre dann nicht zu §§ 932 bis 935 BGB, sondern zu § 936 BGB zu ziehen. Gemäß § 936 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 BGB erlischt die dingliche Belastung tatsächlich bei Gutgläubigkeit des Erwerbers. Jedoch unterliegt auch § 936 BGB – über seinen Wortlaut hinaus – dem Vorbehalt von § 935 BGB.37 Dessen Wertung gilt parallel zum Erwerb des Eigentums nicht minder für den Erwerb beschränkt dinglicher Rechte. Demzufolge lässt sich § 858 Abs. 2 Satz 2 BGB auch auf diesem Wege nicht legitimieren. Im Gegenteil tritt der Prinzipienwiderspruch nochmals deutlich zu Tage. Für einen guten Glauben an den rechtmäßigen Besitz des Vorgängers besteht kein Raum. f) Deutung aus strafrechtlicher Perspektive Legt man den Wortlaut von § 858 Abs. 2 Satz 2 BGB zugrunde, so ist präzise nicht die Rechtsmäßigkeit des Besitzes, sondern die Rechtmäßigkeit der Besitzerlangung Bezugspunkt der Kenntnis. Beides kann divergieren.38 Knüpft man in diesen Fällen 36
Kindl, in: BeckOK BGB (Fn. 1), § 935 Rn. 1; Vieweg/Werner (Fn. 13), § 5 Rn. 37. So im Sinne der allgemeinen Meinung, Berger, in: Jauernig (Fn. 8), § 936 Rn. 7; Brehm/ Berger (Fn. 28), Rn. 27.91; Kindl, in: BeckOK BGB (Fn. 1), § 936 Rn. 5; Oechsler, in: MüKoBGB (Fn. 7), § 936 Rn. 13; Westermann/Gursky/Eickmann (Fn. 26), § 50 Rn. 1; Heinze, in: Staudinger, §§ 925 bis 984, Neubearbeitung 2020, § 936 Rn. 12. 38 S. zu derartigen Konstellationen bereits oben unter II. 4. 37
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an die Besitzerlangung an, bliebe im Anschluss an die bisherigen Überlegungen für § 858 Abs. 2 Satz 2 BGB allenfalls noch eine strafrechtliche Deutung. So kann der Besitzer einer Sache für eine Straftat in Bezug auf den rechtswidrigen Besitzerwerb des Vorgängers nur dann verantwortlich gemacht werden, wenn er Kenntnis von der Vortat hat. Zu denken ist an die klassische Konstellation einer Hehlerei, § 259 StGB. Dies würde die subjektive Limitierung von § 858 Abs. 2 Satz 2 BGB sowie auch das Erfordernis der Kenntnis erklären. Die Hehlerei kann mangels strafrechtlicher Bewehrung nicht fahrlässig begangen werden, § 15 StGB. Für eine strafrechtliche Wertung besteht aber im Zivilrecht aus naheliegenden Gründen kein Raum.39 Das Zivilrecht entzieht sich – von wenigen Ausnahmen abgesehen40 – subjektiven Wertungen. Es dient nicht der staatlichen Repression eines Fehlverhaltens des Bürgers, sondern der Ermittlung der objektiven Rechtslage im Verhältnis zum Mitbürger. Dies gilt zumal im Sachenrecht als absolut geltendem Recht. Für subjektive Bewertungsmaßstäbe ist auch mit Blick auf die daraus resultierenden Rechtsunsicherheiten kein Platz. So mag die Gutgläubigkeit beim Besitzerwerb einer gestohlenen Sache den Erwerber vor einer strafrechtlichen Verfolgung schützen. Sie macht ihn hingegen nicht zum rechtmäßigen Besitzer mit der weiteren Folge, dass der bislang zum Besitz Berechtigte seinen Besitzschutz verliert. Zivilrechtlich ist nicht der subjektive Kenntnisstand des Besitzers entscheidend, sondern die objektive Rechtmäßigkeit des Besitzes. Mit dieser grundlegenden Weichenstellung zwischen Straf- und Zivilrecht bricht § 858 Abs. 2 Satz 2 BGB. 4. Korrektur von § 859 Abs. 4 BGB Belässt das Zivilrecht für § 858 Abs. 2 Satz 2 BGB keinen Raum, so gilt dies gleichermaßen für die Regelung des § 859 Abs. 4 BGB. Gemäß dieser Vorschrift stehen die Besitzschutzrechte dem Besitzer einer beweglichen Sache auch gegen denjenigen Besitzer zu, der nach § 858 Abs. 2 BGB die Fehlerhaftigkeit des Besitzes gegen sich gelten lassen muss. Händigt also der Dieb auf der Flucht vor dem bisherigen Besitzer die entwendete Sache einem Dritten aus, so erstreckt sich der Schutz des vormaligen Besitzers auch gegen den Besitznachfolger des Diebes. Dies gilt jedoch im Sinne von § 858 Abs. 2 Satz 2 BGB nur dann, wenn der Dritte um die rechtswidrige Entwendung weiß, es sich also beispielsweise um die Konstellation einer Hehlerei handelt.41 Die Bezugnahme auf § 858 Abs. 2 BGB ist im Zuge von § 859 Abs. 4 BGB gleichermaßen verfehlt wie die Vorschrift selbst. Demzufolge ist § 859 Abs. 4 BGB te39
S. dazu auch schon die Anmerkungen in Fn. 29. Dazu zählt der gutgläubige Eigentumserwerb, aus dem sich jedoch – wie dargelegt – keine vergleichbaren Schlüsse für den Besitzerwerb ziehen lassen. 41 Kregel, in: RGRK-BGB, 12. Auflage 1979, § 859 Rn. 5, und Schäfer, in: MüKoBGB (Fn. 7), § 859 Rn. 4, gehen davon aus, dass § 859 Abs. 4 BGB die Selbsthilferechte erweitert. Der Besitzschutz dürfe durch eine Weitergabe des Gegenstandes nicht umgangen werden. Dies lässt allerdings unberücksichtigt, dass wegen des Erfordernisses aus § 858 Abs. 2 Satz 2 BGB (positive Kenntnis) die Erweiterung des Besitzschutzes erheblich geschmälert wird. 40
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leologisch zu reduzieren. Die Regelung berechtigt den bisherigen Besitzer auch gegenüber dem „gutgläubigen“ Besitznachfolger zur Selbsthilfe. Zu keinem anderen Ergebnis gelangt § 229 BGB, der von vornherein jegliches subjektive Moment zum Schutz des Gegners der Selbsthilfe ausspart. Die Vorschrift widerlegt daher § 858 Abs. 2 Satz 2 BGB für die Selbsthilfe gleichermaßen wie § 858 Abs. 2 Satz 2 BGB zuvor schon in Bezug auf den Herausgabeanspruch aus § 861 Abs. 1 BGB widerlegt worden ist. IV. Resümee Die §§ 858, 859 BGB sind systemkonform im Lichte von § 229 BGB auszulegen. § 859 BGB ist teleologisch um den Ausschlusstatbestand von § 861 Abs. 2 BGB zu reduzieren, besser noch um das Anspruchselement aus § 229 BGB zu ergänzen. Umgekehrt ist der Anwendungsbereich von § 858 Abs. 2 Satz 2 BGB auszudehnen, indem das Merkmal der Gutgläubigkeit im Wege der teleologischen Auslegung auszusparen ist. Im Reformwege tut eine Rückbesinnung auf das allgemeine Selbsthilferecht Not. Die §§ 229 bis 231 BGB erweisen sich in Bezug auf den Schutz des Besitzes als sachund interessengerecht, weshalb §§ 858 bis 860 BGB de lege ferenda ersatzlos zu streichen sind. Sie versperren den Blick dafür, dass Ausgangspunkt eines Selbsthilferechts nicht eine Herrschaftsgewalt, sondern ein Anspruch ist. Der Regelungsgehalt von § 858 BGB beschränkt sich im Wesentlichen auf die Umschreibung der Rechtswidrigkeit bei der Erlangung des Besitzes sowie bei der Störung im Besitz. Verfehlt ist der Schutz des guten Glaubens des Nachfolgers im Besitz an dessen Rechtmäßigkeit, § 858 Abs. 2 Satz 2 BGB. Im Gegensatz zum gutgläubigen Eigentumserwerb fehlt es beim Besitz an einem tauglichen Anknüpfungspunkt. Weder der Besitz selbst noch die Annahme eines Besitzrechts eignen sich als Rechtsscheinträger für ein Vertrauen des Erwerbers auf die Rechtmäßigkeit des erlangten Besitzes.
Das Bundesverfassungsgericht und der Sport Von Udo Steiner und Anne Müller I. Grundgesetz und Sport 1. Der Grundrechtstatus des Sports Viel kann man im Grundgesetz, dessen Text heute doppelt so umfangreich ist als im Geburtsjahr 1949, lesen, vom Sport allerdings nichts. Auf den ersten Blick scheint deshalb ein Beitrag, der sich mit der Rolle des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) im Sport befasst, ein Beitrag zur richterlichen Geschäftsführung ohne verfassungsrechtlichen Auftrag zu sein. Denn die Auslegung des Grundgesetzes ist seine Aufgabe und sonst (fast)1 keine. Das Grundgesetz gilt jedoch im Sport und in sportrelevanten Lebensbereichen, und dies durch seine Grundrechte als Ausdruck einer allgemeinen Wertordnung, auch wenn dieser Zusammenhang sich durch das Sachregister der Registerbände des Gerichts nicht sofort erschließt. Der Verfassungsstatus des Sports ist primär der Grundrechtsstatus der Sportler und der Sportorganisationen.2 Sie sind in der Wirklichkeit des organisierten Sports immer wieder im bipolaren Konflikt. Der Sportler aktiviert seinen Grundrechtsstatus gegen Vereine und Verbände, die es gewohnt und durch Art. 9 Abs. 1 GG auch grundsätzlich dazu verfassungsrechtlich legitimiert sind, ihre Regeln und Ordnungen in eigener Verantwortung, selbstbewusst und mit Neigung zu Detail und Perfektion zu gestalten.3 Sehr früh in der Rechtsgeschichte des Sports wird das Grundrecht des Art. 12 Abs. 1 GG durch den Berufssportler und den, der auf dem Weg zum Berufssport ist, mobilisiert, um sich Freiräume im organisierten Sport zu erstreiten.4 Entscheidungen der Verbände über die Zulassung von Athleten zu sportlichen Wettbewerben werden justiziabel.5 Möglichkeiten und Grenzen der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG) im Sportbetrieb werden immer wieder aus aktuellem Anlass ausgelotet.6 Intensiv ge1
Zur Prüfung von nationalem Recht am Maßstab der Unionsgrundrechte durch das BVerfG siehe BVerfG, NJW 2020, 300 (314). 2 Dazu statt Vieler Vieweg/Müller, FS Steiner, 2009, S. 890. 3 Noch immer grundlegend die Habilitationsschrift von Klaus Vieweg, Normsetzung und -anwendung deutscher und internationaler Verbände, 1990. 4 Fritzweiler, in: Fritzweiler/Pfister/Summerer, Praxishandbuch Sportrecht, 3. Aufl. 2014, I 1 Rn. 16 ff. 5 Dazu etwa Lambertz, in: Vieweg (Hrsg.), Inspirationen des Sportrechts, 2016, S. 35 ff.; Walker (Hrsg.), Nominierungsfragen im Sport, 2013. 6 Dazu Zollner, Das Grundrecht der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) im Lizenzfußball, 2013; Fischinger (Hrsg.), Sportarbeitsrecht. Lehr- und Praxishandbuch, 2020, § 5 (im Druck).
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führt wird die Diskussion um die Durchsetzungsfähigkeit der Persönlichkeitsrechte der Sportler (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) bei Eingriffen in deren Privatund Intimsphäre im Zusammenhang mit dem Anti-Doping-Kampf, aber auch im Markt- und Mediengeschehen des Spitzensports.7 Die Juristen haben schon lange den Raum des Sports betreten, auch Klaus Vieweg als Beobachter und als Akteur. Drei Entscheidungen des BVerfG zum Sport stehen im Folgenden im Mittelpunkt. Notiert sei aber vorab der Beschluss des BVerfG vom 10. 10. 2017 zum sog. Dritten Geschlecht.8 Er stellt klar, dass Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG auch Menschen, die sich dauerhaft weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen lassen, vor Diskriminierungen wegen ihres Geschlechts schützt. Die Entscheidung ist revolutionär für das deutsche Personenstandsrecht; die Umsetzung des Diskriminierungsverbots in die Welt des sportlichen Wettbewerbs ist aber ungleich schwieriger. Der CAS9 hat im Falle der Leichtathletin Caster Semenya eine höchst umstrittene Entscheidung getroffen. Aber auch die deutschsprachige sportrechtliche Diskussion hat nachlesbar Schwierigkeiten, eine faire und praktikable Lösung des intergeschlechtlichen Problems zu finden. 2. Versteckte Fundorte Der Verfassungsstatus des Sports ist aber mehr als der Grundrechtsstatus von Sportlern und Sportorganisationen. Es ist bekanntlich nicht so, dass der Verfassungsjurist schweigen muss, wenn das Grundgesetz schweigt. So ist heute wohl unbestritten, dass der Bund als Gesamtstaat über eine ungeschriebene natürliche Kompetenz zur Förderung des national und international bedeutsamen Spitzensports verfügt.10 Diese Kompetenz nutzt er tatkräftig: Er finanziert Olympiamannschaften, fördert den Stadionbau, beschäftigt Leistungssportler im Öffentlichen Dienst, beim Zoll, der Bundespolizei und der Bundeswehr, finanziert Olympia- und Bundesschwerpunkte, unterstützt Bewerbungen des Sports um Großsportereignisse, diplomatisch, finanziell und steuerrechtlich. Der Sport ist aber auch an einer Stelle im Grundgesetz „versteckt“, wo es ganz entscheidend auf seine Förderung ankommt: Er ist ein Aufgabenfeld, das den Städten und Gemeinden durch Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG als geschützter Raum kommunalpolitischer Gestaltung eröffnet ist. Aktivitäten der Gemeinden auf dem Gebiet des Sports bestimmen ganz wesentlich die Lebens- und Aufenthaltsqualität vor Ort, sind sog. weiche Standortfaktoren. Es ist ein breites, vielfältiges Spektrum der Sportförderung: regelmäßige Zuschüsse an die örtlichen 7 Siehe dazu die Beiträge in: Württ. Fußballverband (Hrsg.), Das Persönlichkeitsrecht des Fußballspielers, 2010; Niewalda, Dopingkontrollen im Konflikt mit allgemeinem Persönlichkeitsrecht und Datenschutz, 2011. 8 BVerfGE 147, 1 = NJW 2017, 3643 mit Anm. Gössl. 9 CAS, Schiedsspruch vom 30. 4. 2019, SpuRt 2019, 211. Dazu Jakob, SpuRt 2018, 143; Meier, NVwZ 2018, 1013; Pfister, SpuRt 2018, 1. 10 Steiner, Bemerkungen zum Verhältnis von Staat und Sport in Deutschland, in: FS Röhricht, 2005, S. 1225.
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Sportvereine, die ihre Aufgaben mit den verhältnismäßig geringen Mitgliedsbeiträge und mit Spenden allein nicht finanzieren können; Bau und Betrieb von Sportstätten einschließlich der aufwändigen Hallenbäder; Zuteilung von Nutzungszeiten an die örtlichen Vereine; Mithilfe bei der Organisation von Großveranstaltungen; Unterstützung bei der Anwerbung von sportlichen Großereignissen; Bereitstellung von öffentlichen Flächen für Sportevents im Innenstadtbereich. Die meisten Landesverfassungen halten den Gesetzgeber an, die Städte und Gemeinden bei deren Aufgaben im Bereich des Sports zu unterstützen.11 II. Schwerpunkte der Rechtsprechung 1. Nachhaltig: Sportberichterstattung im Rundfunk als Grundversorgung (BVerfGE 97, 228) a) Rundfunk und Sport Sport und Rundfunk (Hörfunk und Fernsehen) stehen heute – unbeschadet der Rolle der neuen Medien – in einem so intensiven Verhältnis zueinander, wie noch nie in der Medien- und Sportgeschichte.12 Beide, übrigens auch der Hörfunk13 mit der außerordentlich hohen Reichweite seiner Sportsendungen, sind, wollen sie ihre jeweiligen Ziele erreichen, aufeinander angewiesen. Wer Rundfunkprogramme gestaltet und sendet, benötigt den Sport und ganz besonders die Übertragung von großen Sportereignissen. Auf der anderen Seite konkurrieren Sportverbände und Sportarten um (möglichst bezahlte) günstige Sendezeiten und komfortable Formate. Dieser medien- und sportsoziologische Befund ist schon lange in einen komplexen nationalen und europäischen Rechtsrahmen eingefügt.14 Auch der am 7. 11. 2020 in Kraft getretene Staatsvertrag zur Modernisierung der Medienordnung in Deutschland (Medienstaatsvertrag 2019) privilegiert die allgemeine Zugänglichkeit zu bestimmten sportlichen Ereignissen als „Ereignisse von erheblicher gesellschaftlicher Bedeutung“ (§ 13 Abs. 1 i. V. m. Abs. 2). Der Sport wird der Programm-Kategorie „Information“ zugeordnet (§ 2 Abs. 2 Nr. 25) und nicht dem der „Unterhaltung“ (§ 2 Abs. 2 Nr. 28).
11 So engagiert das Thüringer Sportfördergesetz (ThürSportFG) vom 5. 12. 2018, GVBl. Thür. 2018, S. 671. 12 Siehe zum Folgenden u. a. Frey, in: Schwartmann, Praxishandbuch Medien- IT- und Urheberrecht, 4. Aufl. 2018, S. 633; Kuhn/Lau, in: Stopper/Leutze (Hrsg.), Handbuch Fußball-Recht, 2. Aufl. 2018, Kap. 3; Steiner, in: Galli u. a., Sportmanagement, 2012, S. 556; Vieweg, in: Steiner/Walker (Hrsg.), Von „Sport und Recht“ zu „Faszination Sportrecht“, 2016, S. 595. 13 Dazu Strauß, Hörfunkrechte des Sportveranstalters, 2006. 14 Dazu statt Vieler Weihs, Zentrale Vermarktung von Sportübertragungsrechten, 2004; Laier, Die Berichterstattung über Sportereignisse, 2007.
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b) Sportberichterstattung als Grundversorgung Innerhalb der stattlichen Zahl von Rundfunkentscheidungen des BVerfG, die zu den großen Linien der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung gehören, hat auch das Urteil des Ersten Senats vom 17. 2. 1998 einen prominenten Platz. Es befasst sich mit dem unentgeltlichen Recht auf nachrichtenmäßige Kurzberichterstattung im Fernsehen über Veranstaltungen und Ereignisse, die öffentlich zugänglich und von allgemeinem Informationsinteresse sind. In der Sache geht es vor allem um den Sport. Der Streit ist in dem Zeitpunkt, als er an das Verfassungsgericht gelangt, von der Sorge der Sportveranstalter und der Inhaber vertraglich erworbener Sonderrechte bestimmt, dass der durch die Regelung begünstigte Rundfunkveranstalter mit Hilfe einer professionellen ton- und bildtechnischen Verarbeitung eine Art Ersatzerlebnis auf der Grundlage eines „pars-pro-toto-Effekts“ vermittelt und damit die Attraktivität einer zeitlich umfassenden Berichterstattung wesentlich mindert. Es ist ein Streit mit einer langen Vorgeschichte.15 Das Gericht bestätigt das Recht auf Kurzberichterstattung, sieht allerdings einen Verstoß gegen Art. 12 Abs. 1 GG darin, dass dieses Recht bei berufsmäßig durchgeführten Veranstaltungen unentgeltlich ausgestaltet ist. Unmittelbar praktische Bedeutung hat das Recht auf Kurzberichterstattung in dem volatilen Sportrechtsmarkt nicht erlangt. Immerhin enthält der Medienstaatsvertrag 2019 unverändert das Recht auf Kurzberichterstattung (§ 14) und einen Anspruch des Rechteinhabers auf ein billiges Entgelt für die Kurzberichterstattung über berufsmäßig durchgeführte Veranstaltungen (§ 14 Abs. 7 Satz 1), obgleich der EuGH16 in der Entgeltfrage anders als das BVerfG entschieden hat. Für den Sport ist eine Feststellung im Urteil17 von ganz wesentlicher Bedeutung: Berichte über herausragende Sportveranstaltungen gehören zum klassischen Rundfunkauftrag. Die Bedeutung solcher Sportereignisse erschöpft sich nicht – so das Gericht – in ihrem Unterhaltungswert. Sie erfüllen darüber hinaus eine wichtige gesellschaftliche Funktion. Der Sport biete Identitätsmöglichkeiten im lokalen und nationalen Rahmen und sei Anknüpfungspunkt für eine breite Kommunikation in der Bevölkerung. Damit – so der Senat – gelangt der Sport in den Kernbereich der rundfunkrechtlichen Grundversorgung. Eine umfassende Berichterstattung, wie sie von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG gefordert wird, ließe sich unter Verzicht auf Sportereignisse nicht verwirklichen.
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Dazu näher BVerfGE 97, 228, 229 ff. EuGH, Urt. v. 22. 1. 2013, SpuRt 2013, 154, 156 f. Dazu Naumann, ZUM 2014, 938; Wagner, in: FS Dauses, 2014, S. 475. 17 BVerfGE 97, 228, 257; dazu Kühling, Zugangsoffenheit in der Medienordnung – Das Beispiel der Fußballberichterstattung, in FS Steiner, 2009, S. 474; Lundberg, Der Fußball als Teil des Grundversorgungs- und Funktionsauftrags des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, 2020; Summerer, in: Fritzweiler/Pfister/Summerer, Praxishandbuch Sportrecht, 4. Aufl. 2020, 5. Kap., Rn. 191 ff. 16
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c) Programmautonomie und Sport Damit nimmt das BVerfG eine rundfunk- und sportpolitisch wichtige verfassungsrechtliche Klarstellung vor, enthält aber auch eine Art soziokulturelle Aussage, auf die noch im Zusammenhang mit der sog. Stadionverbots-Entscheidung des Gerichts zurückzukommen ist. Trotz dieser Zuordnung des Sports zur Grundversorgung bleibt es bei der Programmautonomie des Rundfunks.18 Der Programmgestaltung ist auch unter dem Dach des Grundversorgungsauftrags eine großzügig bemessene Freiheit der Entscheidung darüber vorbehalten, welche Informationen man sich mit welchen personellen Mitteln, mit welchem organisatorischen Aufwand und für welches Entgelt beschafft oder eben auch nicht beschafft. Dazu gehören die teuer gewordenen Übertragungsrechte des Profifußballs. Einklagbar ist der Sport ins Programm der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten nicht.19 Dies muss man auch den sog. kleinen Sportarten vermitteln, die sich im Sportprogramm der Rundfunkanstalten vernachlässigt sehen. Finanzierbar ist der Rechteerwerb durch die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten jedenfalls für die von der DFL ausgeschriebenen Fußballveranstaltungen nach Stand der Dinge eher nicht mehr; es reicht wohl nur noch – aber immerhin – für den Erwerb der sog. kleinen Rechtepakete (spätere Zusammenfassungen).20 2. Langer Atem: Sportwettenanbieter als Beruf (BVerfGE 115, 276) a) Die Öffnung des Staatsmonopols im Glücksspielwesen für ein Konzessionssystem Soweit ersichtlich, befasst sich die Welt des Sportrechts erstmals 1988 mit den Rechtsproblemen der Sportwette. Veranstalter ist der Konstanzer Arbeitskreis für Sportrecht e. V.21, heute Deutsche Vereinigung für Sportrecht e. V., in der Klaus Vieweg unverändert eine führende Rolle spielt. Das staatliche Toto-Monopol steht noch nicht zur politischen und verfassungsrechtlichen Diskussion. Die Sportwetten bewegen sich im wirtschaftlichen Schatten der anderen Glücksspielarten. 2001 geht dann beim BVerfG eine Verfassungsbeschwerde ein, die darauf abzielt, dass das Gericht das bayerische staatliche Sportwettenmonopol für verfassungswidrig erklärt. Erstrebt wird im Ergebnis die Öffnung der Sportwetten für konzessionierte Anbieter.22
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Dazu Steiner, in: FS Ule, 1988, S. 96. Zur Programmautonomie des Rundfunks siehe Cornils, in: Gersdorf/Paal, Informationsund Medienrecht, Kommentar, 2014, § 42 RStV Rn. 3. 20 FAZ Nr. 131 v. 8. 6. 2020, S. 25. 21 Siehe Pfister (Hrsg.), Rechtsprobleme der Sportwette, 1989. 22 Siehe dazu und im Folgenden Steiner, in: wfv (Hrsg.), Das Recht der Sportwette und des Wettbetrugs, 2012, S. 19. 19
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Das Gericht qualifiziert im Urteil vom 28. 3. 200623 die Veranstaltung und Vermittlung von Sportwetten als einen durch das Grundrecht der Berufsfreiheit geschützten Beruf. Es gebe kein natürliches Staatsmonopol im Glücksspielbereich. Verfassungsrechtlich zu rechtfertigen sei ein solches gesetzlich begründetes Monopol nur, wenn es konsequent am Ziel der Bekämpfung von Suchtgefahren ausgerichtet sei. Das BVerfG sieht diese Feststellungen im Einklang mit dem EuGH, der seine unionsrechtliche Grundlinie zum Glücksspielwesen bereits mit dem sog. Gambelli-Urteil vom 6. 11. 200324 gefunden hat und dann in seinem Urteil vom 8. 9. 201025 auf Vorlage der deutschen Verwaltungsgerichte fortzeichnet: Glücksspielangebote sind wirtschaftliche Tätigkeiten, also Aktivitäten im Binnenmarkt, und als solche durch die Grundfreiheiten des Unionsrechts geschützt. Den Mitgliedstaaten steht es frei – so der EuGH –, den Glücksspielmarkt unter Berücksichtigung ihrer sittlichen, religiösen und kulturellen Besonderheiten zu organisieren. Gesetzliche Beschränkungen könnten aus für sie zwingenden Gründen des Allgemeinwohls gerechtfertigt sein. Dazu gehöre auch die Bekämpfung der Spielsucht. Diese Beschränkungen müssten aber so gestaltet sein, dass sie „kohärentsystematisch“ zur Begrenzung der Wetttätigkeit beitragen. b) Ein Urteil und seine Folgen Das Urteil des BVerfG löst eine Art juristischen Tsunami aus, dessen Folgen die Gesetzgebung der Länder bis heute in Atem hält. Es ist der Streit um das politisch und verfassungsrechtlich optimale Modell: Konzessionen oder Erlaubnisse, zahlenmäßig beschränkt oder unbeschränkt, mit und ohne zeitliche Befristung.26 Drei Glückspieländerungsverträge haben unterschiedliche Modelle der Länder27 inzwischen auf den Weg gebracht oder dies versucht. Der Dritte Glücksspieländerungsvertrag (GlüStV 2020) ist am 1. Januar 2020 in Kraft getreten und hebt für die Dauer einer Experimentierphase die Kontingentierung der Sportwettenkonzession auf (§ 4a Abs. 3)28. Der Vertrag soll grundsätzlich bis zum 30. 6. 2021 in Geltung bleiben, bis ein neuer Glücksspielstaatsvertrag (GlüNeuRStV) in Kraft tritt. Vorgesehen ist die dauerhafte Einführung eines Erlaubnismodells für Sportwetten ohne zahlenmäßige Be23 BVerfGE 115, 276, 300; dazu statt Vieler Kment, NVwZ 2006, 617; zur folgenden Rechtsprechung des BVerfG siehe die Beschlüsse Beck-RS 2007, 28251; NVwZ 2008, 301; NVwZ 2009, 1221. 24 EuGH, NJW 2004, 139. 25 EuGH, NVwZ 2010, 1409; NVwZ 2010, 1419. 26 Die Einzelheiten dieser selbst für einen Bundesstaat der starken und streitbaren Länder wie Deutschland turbulenten Erfahrung sind hier nicht nachzuzeichnen. Siehe dazu Berwanger, NVwZ 2020, 916; Hilf/Umbach, ZfWG 2019, 337; Lüder, NVwZ 2020, 190. 27 Zum schleswig-holsteinschen Sonderweg siehe Lüder, NVwZ 2020, 190, 192; Pastel, in: Liberamicorum M. Hecker, 2017, S. 253. 28 Glücksspielstaatsvertrag (GlüStV) v. 15. 11. 2011 i. d. F. v. 26.3./18. 4. 2019 (z. B. NdsGVBl. 2019, S. 412). Zum Vertrag: Brüggemann, ZfWG 2020, 201; Wormit, DVBl. 2020, 1057.
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grenzung der Anbieter.29 Das Urteil des BVerfG von 2006 hat einen langen Atem bewiesen. Für die Gesetzgebung galt und gilt: Die nächste Rechtslage kommt bestimmt. c) Glücksspiel und Sportfinanzierung Das Urteil des BVerfG von 2006 hat zudem einen wichtigen Ertrag auch für den Sport gebracht. Dieser hat nur auf den ersten Blick mit den Glücksspielaktivitäten der Menschen nichts zu tun, und ist doch mit diesen intensiv verbunden. Denn die Erträge aus der Veranstaltung von Glücksspielen kommen dem Sport finanziell vielfach zugute (Olympia-Lotterie, Glücksspirale, Lotto-Toto).30 Soweit es um Sportwetten geht, ist der Sport selbst Gegenstand des Glücksspiels und zieht Nutzen aus dieser Form der Glücksspielwesen. Die Liberalisierung des Sportwettenmarkts hat auch die Spieloptionen für den Sportfan erweitert. Nicht nur Ergebniswetten werden angeboten; es kann auch nach dem neuen Glücksspielstaatsvertrag auf Ereignisse während des Spiels gesetzt werden – Freistöße, Einwürfe, Eckbälle usw. –, es sei denn, die Ereignisse können vom Spieler willkürlich herbeigeführt werden. 3. Viel Lärm um viel: Stadionverbote (BVerfGE 148, 267) a) Das Sportereignis als Gewaltanlass Zu keinem Zeitpunkt seiner Rechtsprechung ist das BVerfG dem Sport und seinen Rechtsproblemen so nahegekommen wie mit seiner sog. Stadionverbotsentscheidung vom 11. 4. 2018.31 Der organisierte Sport und insbesondere der Fußballsport muss sich seit Jahrzehnten praktisch und juristisch mit Gewalttätigkeiten von Fans („Hooligans“) innerhalb und außerhalb der Sportstätten bei Sportereignissen auseinandersetzen.32 Gefahrenprävention und Gefahrenabwehr im Zusammenhang mit Großsportveranstaltungen sind längst ein rechtspraktisch und rechtswissenschaftlich bedeutendes Thema geworden.33 Im Vordergrund stehen in den letzten Jahren die Inanspruchnahme des störenden Zuschauers durch den mit einer verbandsgerichtlichen Geldstrafe belegten Fußballverein34 und die Erhebung von Gebühren für den polizei29
Hilf/Umbach, ZfWG 2019, 337, 342; Lüder, NVwZ 2020, 190, 195. Im Einzelnen: Breuer, Beiträge zum Glücksspielwesen, 2019, 22. Mit zahlreichen Beiträgen Kainz/Scherrer/Werner (Hrsg.), Sportfinanzierung und Sportwetten, 2012. 31 BVerfGE 148, 267 = SpuRt 2018, 113. 32 Siehe schon WfV (Hrsg.), Zuschauerausschreitungen bei Fußballspielen, Schriftenreihe Heft Nr. 13, 1980; Schild (Hrsg.), Rechtliche Aspekte bei Sportgroßveranstaltungen, 1994; Deutsch, Polizeiliche Gefahrenabwehr bei Sportgroßveranstaltungen, 2005; Walker (Hrsg.), Hooliganismus, 2009. 33 Dazu allgemein Bliesener, Sport und Gewalt – Eine zwangsläufige Verbindung?, in: Vieweg, Festgabe Institut für Recht und Technik, 2017, S. 411. 34 BGH, NJW 2016, 3715. Dazu Cherkeh/Schroeder, causa sport, 2006, 400; Martens, NJW 2016, 3691; Ness, Der Verbandsstrafenregress im Nachgang an störendes Zuschauer30
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lichen Aufwand beim Einsatz im Zusammenhang mit sog. Hochrisiko-Fußballspielen.35 Das Interesse an der Lösung der mit diesen Maßnahmen verbundenen Rechtsprobleme ist nicht auf die sportrechtlichen Insider beschränkt. Das zivil- und öffentlich-rechtliche Schrifttum hat sich intensiv in die Diskussion ihrer Rechtsdogmatik eingeschaltet. b) Die Stadionverbots-Entscheidung des BVerfG Dieses juristische Interesse gilt auch der Entscheidung des BVerfG zum Stadionverbot.36 Die Zivilrechtsdogmatik fühlt sich einmal mehr herausgefordert, weil der konstruktive Weg des BVerfG gewissermaßen das Herzstück des Zivilrechts – die Privatautonomie – und ihr „wichtigstes Medium“, die Vertragsfreiheit, betrifft. Es geht um die sog. Drittwirkung von Grundrechten oder deren „Ausstrahlungswirkung“ ins Privatrecht und damit um ein ganz großes Thema im Verhältnis von Verfassungsgerichtsbarkeit und Zivilgerichtsbarkeit.37 Das BVerfG steht seit der sog. Lüth-Entscheidung vom 15. 1. 195838 unter kritischer Beobachtung der Mehrheit der deutschen Zivilrechtslehrer und durchaus auch von Vertretern des öffentlichen Rechts. In dieser kritischen Tradition steht auch die Reaktion auf die Entscheidung des BVerfG zu den Stadionverboten.39 Für den organisierten Sport ist allerdings wichtiger als die Dogmatik, dass das BVerfG ihm, ebenso wie vorher schon der BGH,40 das unverzichtbare Instrument des Stadionverbots zur Bekämpfung von Gewalt innerhalb und außerhalb der Stadien belassen hat und sein Einsatz auch praktikabel41 geblieben ist. Die Androhung und die Verhängung solcher Stadionverbote ist ein Beitrag der Clubs zur öffentlichen Sicherheit innerhalb und außerhalb der Stadien, den der Staat von ihnen erwartet.
verhalten, 2019; Scheuch, RW 2015, 439; Weller/Benz/Wolf, JZ 2017, 237; Heermann, in: FS Ch. Huber, 2020, S. 159. 35 BVerwG, NVwZ 2019, 1444; dazu statt Vieler Brüning, NVwZ 2019, 1416. Gegen dieses Urteil ist zur Fristwahrung Verfassungsbeschwerde zum BVerfG erhoben worden. Zur Thematik siehe im Übrigen statt Vieler Mayer, Polizeikosten im Profifußball, 2018. 36 Schon vorher statt Vieler: Henseler, Die rechtlichen Dimensionen des bundesweiten Stadionverbots, 2016. 37 Siehe dazu die umfangreichen Literaturnachweise bei Hellgardt, JZ 2018, 901 Fn. 2; siehe auch Steiner, in: FS Schmidt-Preuß, 2018, S. 319. 38 BVerfGE 7, 198, 205. 39 Hellgardt, JZ 2018, 901; Jobst, NJW 2020, 11; Michl, JZ 2018, 910; Muckel, VVDStRL 79, 220 (245, 273, 283, 285); Schönberger, VVDStRL 79, 291 (306, 310); Ruffert, JuS 2020, 1; Smets, NVwZ 2019, 34. 40 BGH, SpuRt 2010, 28 m. Anm. Breucker = NJW 2010, 534; Orth/Schiffbauer, RW 2011, 177. 41 Zu den praktischen Fragen siehe Gietl, JR 2010, 50.
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c) Das BVerfG und seine Kritiker aa) Zentraler Einwand der Kritik ist, das BVerfG habe die rote Linie zwischen mittelbarer und unmittelbarer Anwendung des Gleichheitsgrundsatzes des Art. 3 Abs. 1 GG überschritten. Man tut sich allerdings nach Lektüre des Beschlusses schwer, diesem Vorwurf zu folgen. Der Senat sieht seine Entscheidung selbst als Anwendungsfall der mittelbaren Drittwirkung, der „Ausstrahlungswirkung“ und der „Einstrahlung“,42 und bleibt damit terminologisch im Einklang mit seiner bisherigen Dogmatik.43 Es wäre zumindest ungewöhnlich, wollte der Senat das Rechtspublikum darüber täuschen, dass er in Wirklichkeit das Gleichheitsgrundrecht des Art. 3 Abs. 1 zur unmittelbaren Anwendung bringt. Er sieht sich in Übereinstimmung mit dem BGH, wenn er „aus den Wertungen des Art. 3 Abs. 1 GG“ für die verfassungsrechtliche Beurteilung des Stadionverbots Folgerungen zieht.44 Im Mittelpunkt seiner Argumentation steht die verfassungsrechtliche Klarstellung, gleichheitsrechtliche Anforderungen für das Verhältnis zwischen Privaten könnten sich aus Art. 3 Abs. 1 GG für „spezifische Konstellationen“ (nicht für bestimmte „Situationen“)45 ergeben. Diese spezifische „Konstellation“ ist nach Auffassung des Senats durch zwei Komponenten bestimmt: Der Inhaber des Hausrechts öffnet seine Veranstaltung grundsätzlich allen, schließt aber durch die Verhängung eines Stadionverbots eine einzelne Person aus. Von diesem Ausschluss geht – so die zweite Komponente – eine besondere Betroffenheit aus. Er entscheide – so das Gericht – in erheblichem Umfang über die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben.46 Man muss kein Szenen-Insider sein, um diese Einschätzung zu bestätigen: Der gemeinsame Besuch des Stadions bestimmt für viele Fans ihre Lebenssituation und bestimmt nicht nur die Art und Weise der Freizeitgestaltung. In der Gruppe erfahren viele die soziale Achtung und Anerkennung, die ihnen die Gesellschaft versagt. Das gemeinsame Sportinteresse eröffnet – als Besucher des Stadions authentisch – die Teilhabe an Kommunikation und Identifikation in der Gesellschaft, jedenfalls für den Volkssport Fußball. Diese sozio-kulturelle Sicht des Sports hat das BVerfG47 bereits in der Entscheidung zum Recht auf Kurzberichterstattung herausgearbeitet. bb) Kritik haben im wissenschaftlichen Schrifttum auch die formellen Vorgaben für eine verfassungsgemäße Handhabung des Stadionverbots in der Praxis ausgelöst, die man unter dem Stichwort „Grundrechtsschutz durch Verfahren“ zusammenfassen kann. Zu diesen Anforderungen rechnet das BVerfG zumutbare Anstrengungen des 42 BVerfGE 148, 267 (278 Rn. 26; 279 f. Rn. 31; 280 Rn. 32; 282 Rn. 37; 283 Rn. 40; 283 f. Rn. 41). 43 Diskutiert wird schon lange die Ablösung der sog. Drittwirkungslehre durch die Konstruktion der sog. staatlichen Schutzpflicht. Dazu aus jüngerer Zeit Neuner, NJW 2020, 1851. 44 BVerfGE 148, 267 (287 Rn. 52). 45 So aber Michl, JZ 2018, 910 (911). Zurecht restriktiv BGH, NJW 2020, 3382 mit Anm. Weller/Schulz. 46 BVerfGE 148, 267 (284 Rn. 41). 47 BVerfGE 97, 228 (257).
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Stadionbetreibers zur Aufklärung des Sachverhalts, in diesem Zusammenhang grundsätzlich die vorherige Anhörung des Betroffenen. Zudem verlangt das Gericht, die Entscheidung zu begründen, wenn dies vom Betroffenen verlangt wird.48 Es zieht offenbar die Konsequenz daraus, dass das Stadionverbot „faktisch als Sanktion“49 wirkt, grundrechtsdogmatisch gesprochen eingriffsähnliche Wirkung hat. Ein solches dem Verwaltungsverfahrensrecht nahes Konzept mag aus der Sicht der Rechtswissenschaft ein „Fremdkörper“ im Zivilrecht sein.50 Es gehört aber zu den legitimen Optionen eines Verfassungsgerichts, die rechtsstaatlichen Bedingungen zu formulieren, unter denen es in bestimmten Konstellationen die einseitige Ausübung von Privatrechtsmacht verfassungsrechtlich akzeptieren kann. Die Schwelle für die Verhängung eines Stadionverbots („sachlicher Grund“) ist praxisfreundlich niedrig. Der Preis dafür sind entsprechende verfahrensrechtliche Sicherungen für seine grundrechtskonforme Handhabung. Er ermöglicht offenbar den Konsens in einer Sache, die den Senat lange beschäftigt hat. III. Erwartungen Fast ein halbes Jahrhundert hat es gedauert, bis das BVerfG sich zum Sport und wichtigen verfassungsrechtlichen Bedingungen seiner Ausübung grundsätzlich geäußert hat. Auf eine wichtige Entscheidung des Ersten Senats warten wir noch. Es ist die Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde von Claudia Pechstein, am Ende einer langen nationalen und internationalen Justizreise,51 zur Verfassungsmäßigkeit von Schiedsabreden in Athletenvereinbarungen. Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen das Urteil des BGH vom 7. 6. 2016.52 Die wissenschaftliche Diskussion der durch das Verfahren aufgeworfenen Rechtsfragen geht, solange die Entscheidung des BVerfG noch aussteht, weiter.53 Es geht nicht weniger als um die Zukunft der Sportschiedsgerichtsbarkeit. Über mehr als drei Jahrzehnte publiziert Klaus Vieweg zu sportrechtlichen Themen. Als höchst produktiver Autor, Herausgeber von sportrechtlichen Schriften, Sportschiedsrichter, Gastgeber und Organisator von Tagungen, Berater der Sportpolitik, Repräsentant in internationalen Sportrechtsgremien und gewiss nicht zuletzt als Förderer des sportrechtlichen Nachwuchses ist er zu einem Glücksfall des Sportrechts geworden. Fortsetzung darf folgen. 48
BVerfGE 148, 267 (285 f. Rn. 46). BVerfGE 148, 267 (286 Rn. 47). 50 Hellgardt, JZ 2018, 901 (909); Michl, JZ 2018, 910 (915); Wiater, JZ 2020, 379. 51 CAS, SpuRt 2010, 71 mit Anmerkung Emanuel; Schweiz. Bundesgericht, BGE 129 III, 445; LG München I, SchiedsVZ 2014, 100; OLG München, SpuRt 2015, 78; BGH, SpuRt 2016, 163; EGMR, SpuRt 2018, 253 = NJW 2019, 1057 (Ls.). 52 Dazu Handschin/Schütz, SpuRt 2014, 179. 53 Aus dem umfangreichen Schrifttum: Eichner, causa sport 2017, 68; Heermann, NJW 2016, 2224; Heermann, NJW 2019, 1560; Hülskötter, Die (Un-)Wirksamkeit von Schiedsvereinbarungen im Berufssport, 2020; Prütting, SpuRt 2016, 143. 49
Verkehrsunfall eines Trainers infolge Übermüdung und seine rechtlichen Konsequenzen Von Franz Steinle I. Einleitende Problemstellung An jedem Wochenende sind in den verschiedensten Sportarten Trainer, vor allem im Schüler und Jugendbereich, mit ihren Mannschaften/Teams mit Kleinbussen unterwegs. Dabei ist der Trainer allumfassend zuständig. Er hat nicht nur die Mannschaft/das Team zu betreuen, sondern sitzt häufig selbst am Steuer des Kleinbusses auf der Fahrt zu den einzelnen Sportstätten, zum Training oder zu den Wettkämpfen. Kommt es nun zu einem Unfallereignis sollen im Folgenden die rechtlichen Problemkreise aus den verschiedenen Rechtsgebieten beleuchtet werden und zwar exemplarisch an einem Beispiel aus dem Wintersport. Die rechtlichen Problemstellungen lassen sich jedoch unschwer auch auf andere Sportarten übertragen. So finden im Bereich des Deutschen Skiverbandes in jeder Wintersaison sogenannte Deutsche Schülercup Wettbewerbe in den unterschiedlichen Disziplinen wie Skilanglauf/Nordische Kombination/Biathlon oder Alpin statt. Diese Wettbewerbe finden in den verschiedenen Bundesländern statt mit der Folge von häufig langen Anfahrtswegen, so z. B. ein Wettbewerb im Skilanglauf über ein Wochenende in Oberwiesenthal (Sachsen). Der Ablauf der Veranstaltung gestaltet sich wie folgt: Das Langlaufteam der Skiverbände Baden-Württemberg reist am Freitagabend an. Die Heimreise folgt am Sonntag nach den Wettbewerben. Der Trainer hat ein umfassendes Programm zu absolvieren. So ist er u. a. nach den Wettbewerben am Samstag noch bis in die späten Abendstunden bis ca. 23:00 Uhr mit der Präparierung der Ski für die Wettbewerbe am darauffolgenden Sonntag beschäftigt. Am Sonntagfrüh folgt vor Beginn des Wettbewerbs die Testung der Ski für die Läufer/innen. Es schließt sich die Betreuung der Läufer/innen während des Wettkampfes an und dies bei entsprechenden Minusgraden. Es folgt nach dem Wettkampf und der Siegerehrung sodann gegen 15:00 Uhr die Heimreise in den Schwarzwald mit einer Gesamtfahrzeit von ca. 6 – 7 Stunden. Der Trainer setzt sich selbst an das Steuer. Auf der Heimfahrt ereignet sich ein Unfall mit Personen- und Sachschaden infolge einer fehlerhaften Reaktion des Trainers. Es stellt sich somit die Frage: „War diese fehlerhafte Reaktion auf eine Übermüdung des Fahrers zurückzuführen und gegebenenfalls welche rechtlichen Konsequenzen sind hieraus zuziehen?“
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II. Überblick: Betroffene rechtliche Bereiche Für die rechtliche Beurteilung sind drei juristische Bereiche zu unterscheiden. Da ist zum einen die strafrechtliche Seite, d. h. die Frage, hat sich der Trainer strafbar gemacht. Die Beurteilung erfolgt durch den Strafrichter nach den Bestimmungen des Strafgesetzbuches (StGB) und strafprozessualen Regeln der Strafprozessordnung (StPO). Zuständig ist regelmäßig der Strafrichter beim Amtsgericht (§ 25 Nr. 2 GVG: keine höhere Strafe als zwei Jahre zu erwarten) oder gegebenenfalls bei schweren Unfällen auch das Schöffengericht beim Amtsgericht. Die zivilrechtliche Seite hat die Frage zu beantworten, welche Schadensersatzansprüche auf den Trainer nach dem Straßenverkehrsgesetz (StVG) und dem Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) zukommen. Im Streitfall zwischen dem Schädiger und den Geschädigten entscheidet der Zivilrichter nach zivilprozessualen Regeln (ZPO). Bei Streitwerten bis zu 5.000.– EUR ist das Amtsgericht zuständig (§§ 23 Nr. 1, 71 GVG), bei Beträgen darüber das Landgericht. Schließlich beantwortet die versicherungsvertragsrechtliche Seite die Frage, ob eventuelle zivilrechtliche Schadensersatzansprüche durch eine Versicherung abgedeckt sind. Im Streitfall zwischen Versicherung und Versichertem entscheiden wiederum die Zivilgerichte nach den zivilprozessualen Regeln der ZPO. Insoweit besteht zwischen der zivilrechtlichen und der versicherungsrechtlichen Seite eine Verzahnung der Beurteilungsfragen beispielsweise dahingehend, ob dem Trainer „grob fahrlässiges Handeln“ vorzuwerfen ist. III. Zur strafrechtlichen Seite im Einzelnen 1. Welche Straftatbestände kommen in Betracht Da ist zum einen der Tatbestand der vorsätzlichen oder fahrlässigen Straßenverkehrsgefährdung nach § 315c Abs. 1, Abs. 3 StGB. Der Strafrahmen bei fahrlässiger Begehung reicht von einer Geldstrafe bis hin zu einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren. Als weitere strafrechtliche Maßregelung der Besserung und Sicherung kommt § 69 Abs. 2 Nr. 1 StGB in Betracht. Danach kann die Fahrererlaubnis entzogen werden, wenn sich aus der Tat ergibt, dass der Beschuldigte zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet ist. Nach dieser Vorschrift ist der Täter in der Regel als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen anzusehen, wenn eine Gefährdung des Straßenverkehrs nach § 315c StGB vorliegt. Kommt es bei dem Unfallereignis auch zu einem Personenschaden, ist eine vorsätzliche oder fahrlässige Körperverletzung nach den §§ 223, 229 StGB in Betracht zu ziehen, bei tödlichen Verletzungen zu dem der Tatbestand der fahrlässigen Tötung nach § 222 StGB. Der Strafrahmen bei einer fahrlässigen Körperverletzung nach § 229 StGB reicht von einer Geldstrafe bis hin zu einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren. Wer durch
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Fahrlässigkeit den Tod eines Menschen verursacht, wird mit einer Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft (§ 222 StGB). So kommt auch bei Übermüdung als Unfallursache und eine dadurch bedingte Tötung eines Menschen eine Freiheitsstrafe in Betracht. Insbesondere kann eine Freiheitsstrafe nicht mit der Erwägung ausgeschlossen werden, eine derart hohe Strafe komme in der Regel nur bei Unfällen aufgrund alkoholbedingter Fahruntüchtigkeit in Betracht.1 So hat Übermüdung regelmäßig eine Verlängerung der Reaktionszeit, eine erschwerte Einordnung für neu auftretende Situationen sowie Störungen der Aufmerksamkeitsfähigkeit und des Tiefensehens zur Folge. 2. Im Einzelnen zur Frage der Straßenverkehrsgefährdung nach § 315c StGB Beim Tatbestand der Straßenverkehrsgefährdung kommt insbesondere § 315c Abs. 1 Nr. 1 b) StGB in Betracht. Insoweit heißt es, „wer im Straßenverkehr ein Fahrzeug führt, obwohl er infolge körperlicher Mängel nicht in der Lage ist, das Fahrzeug zu führen und dadurch Leib oder Leben oder fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährdet“. Eine Übermüdung kann einen geistigen oder körperlichen Mangel im Sinne dieser Vorschrift darstellen. Übermündung ist dabei von bloßer „Ermüdung“ zu unterscheiden. Nicht jegliche Ermüdung führt zur Bejahung der Tatbestandsvoraussetzungen des § 315c Abs. 1 Nr. 1 b), Abs. 3 StGB.2 Übermüdung gehört zu den weitverbreiteten Gefahrenquellen des Straßenverkehrs. Von diesem Tatbestand erfasst sind vor allem Fahrer, die trotz Übermüdung weiterfahren, obwohl ihnen dieser Zustand bewusst ist.3 Für die Strafbarkeit ist freilich neben der Erfüllung des objektiven Tatbestandes auch Voraussetzung, dass der Fahrer vorsätzlich oder zumindest fahrlässig gehandelt hat. a) Vorsatz Ein vorsätzliches Handeln liegt nur dann vor, wenn der Fahrer wegen Übermüdung tatsächlich fahruntüchtig war und er diesen Mangel vor dem Unfall entweder selbst für sicher gegeben hielt (direkter Vorsatz) oder doch wenigstens als möglich voraussehbar in Kauf nahm, d. h. eine Fahruntüchtigkeit billigte oder zumindest aus Gleichgültigkeit hinnahm;4 d. h. umgangssprachlich: „Wenn der Fahrer weiß, dass er übermüdet ist, trotzdem fährt und einen möglichen Unfall in Kauf nimmt, weil er meint ihm sei mangels Alternativen nichts anderes übrig geblieben“. 1
S. nur BayObLG, NJW 2003, 3499 m. w. N. LG Gießen v. 9. 12. 2013 – 7 Qs 196/13 – juris; OLG Köln, DAR 1989, 352 = NZV 1989, 357; König, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 13. Aufl. 2019, § 315c Rn. 62 c m. w. N. 3 OLG Köln, DAR 1989, 352 = NZV 1989, 357 m. w. N. 4 Indirekter Vorsatz; vgl. OLG Celle, VersR 1980, 482. 2
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Vorsätzliches Handeln wird somit mangels subjektiven Tatbestandes nur in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht zu ziehen sein. Zumindest wird ein solches vorsätzliches Handeln selten nachweisbar sein. Die Prüfung, ob Vorsatz in Abgrenzung zur „bewusster Fahrlässigkeit“ vorliegt, erfordert eine Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Tatumstände.5 Regelmäßig wird der Fahrer behaupten, er sei davon ausgegangen, dass „trotz Übermüdung alles gut gehe“ (bewusste Fahrlässigkeit). Der Strafrichter darf einer Verurteilung nur solche Umstände zugrunde legen, von denen er überzeugt ist (§ 261 StPO). Voraussetzung für die Überzeugung des Tatgerichts von einem bestimmten Sachverhalt und damit das erforderliche Maß an Gewissheit, ist nach ständiger Rechtsprechung nicht eine absolute, von niemanden anzweifelbare und das Gegenteil denknotwendig ausschließende Gewissheit. Vielmehr genügt ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit, das vernünftige Zweifel nicht zulässt.6 Insoweit muss der Strafrichter nachgewiesene konkrete Anhaltspunkte, Indizien oder Zeugenaussagen haben, die belegen, dass der Fahrer nicht mehr davon ausgehen konnte „es würde schon alles gut gehen“.7 In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass eine beginnende Ermüdung innerhalb gewisser Grenzen ausgeglichen werden kann, indem über den Leistungswillen die Leistungsreserven stärker ausgeschöpft werden.8 b) Fahrlässigkeit Fahrlässigkeit beinhaltet einen Verstoß gegen Sorgfaltspflichten. Das Strafrecht fordert, die nach den Umständen objektiv gebotene sowie nach den persönlichen Kenntnissen und Fähigkeiten zumutbare Sorgfalt. Fahrlässig handelt, wer einen Tatbestand verwirklicht, ohne dies zu wollen oder zu erkennen, dabei aber eine Sorgfaltspflicht verletzt und handelt, obwohl die Folge seines Tuns objektiv voraussehbar war. Für den strafrechtlichen Fahrlässigkeitsbegriff ist es insoweit ausreichend, dass die Pflichtverletzung objektiv und subjektiv voraussehbar den Erfolg herbeigeführt hat; dabei müssen Einzelheiten des Kausalverlaufs nicht vorhersehbar gewesen sein.9 In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass es für den gebildeten Beispielsfall keine exakt vorgeschriebenen Lenkzeiten gibt. Ausdrückliche Lenk- und Ruhezeiten beispielsweise nach dem Gesetz über das Fahrpersonal von Kraftfahrzeugen und Straßenbahnen (FPersG) sind nicht einschlägig. Wer übermüdet fährt verletzt die ihm obliegende Sorgfaltspflicht. Wer sich übermüdet fühlt muss das Steuer zwingend abgeben, ansonsten handelt er fahrlässig. Bei längerer Fahrt muss einer Ermüdung zudem durch Pausen vorgebeugt werden. Dem 5
S. nur BGH, NJW 2018,1621 m. w. N. St.Rspr.; s. nur BGH, NStZ-RR 2010, 144 m. w. N.; Ott, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 8. Aufl. 2019, § 261 Rn. 12 m. w. N. 7 S. hierzu auch BVerwG v. 11. 12. 2018 – 2 WD 12 – 18 – juris m. w. N. 8 OLG Celle, VersR 1980, 482. 9 St. Rspr.; s. nur BGH, NStZ 2009,148 m. w. N. 6
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sogenannten „Einnicken“ am Steuer gehen in der Regel wahrnehmbare Anzeichen der Ermüdung voraus.10 IV. Zur zivilrechtlichen Seite 1. Haftung nach dem Straßenverkehrsgesetz (StVG) Nach § 18 Abs. 1 Satz 1 StVG ist in den Fällen des § 7 Abs. 1 StVG auch der Führer des Kraftfahrzeuges zum Ersatz des Schadens verpflichtet. § 7 StVG regelt die Ersatzpflicht des Halters eines Fahrzeugs dem Verletzten gegenüber, wenn bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeuges ein Mensch getötet, der Körper oder die Gesundheit eines Menschen verletzt oder eine Sache beschädigt wird. Bei § 18 Abs. 1 Satz 1 StVG handelt es sich um eine sog. vermutete Verschuldenshaftung mit umgekehrter Beweislast. Der Fahrer muss sich von der Schuld, somit auch von einem Fahrlässigkeitsvorwurf vollständig entlasten.11 Der Tatbestand des § 18 StVG betrifft freilich nur die Haftung Dritten gegenüber für Personen und Sachschaden. Bis zum 1. 8. 2002 war die Haftung für Insassen, d. h. für Mitfahrer im Fahrzeug regelmäßig nach § 8a StVG ausgeschlossen. Danach bestand eine Haftung gegenüber diesen Personen nur dann, wenn es sich um eine entgeltliche, geschäftsmäßige Personenbeförderung gehandelt hat. Durch das 2. Gesetz zur Änderung schadensersatzrechtlicher Vorschriften vom 19. 7. 2002 ist dieser Haftungsausschluss gegenüber unentgeltlich beförderten Personen weggefallen. Die Haftung des Halters nach § 7 StVG, wie auch die des Fahrers nach § 18 Abs. 1 StVG wird in solchen Fällen nicht mehr ausgeschlossen. Freilich kann nunmehr nach § 8a StVG n. F. die Haftung im Falle einer unentgeltlichen und nicht geschäftsmäßigen Personenbeförderung qua Vereinbarung ausgeschlossen oder beschränkt werden.12 Trotz weiter Auslegung der Begriffe entgeltliche und geschäftsmäßige Beförderung ist die Anwendung auch des § 8a StVG n. F. auf den hier gebildeten Beispielsfall, der Mitnahme von Sportlern durch Trainer in einem Kleinbus abzulehnen, sodass ein Haftungsausschluss aufgrund einer Vereinbarung grundsätzlich möglich wäre. So ist für die Entgeltlichkeit zu fordern, dass die wirtschaftlichen Interessen den eigentlichen Grund für die Beförderung bilden.13 Geschäftsmäßig bedeutet,
10
BGH, NJW 1970, 520 § 18 Abs. 1 Satz 2 StVG; vgl. nur OLG München v. 3. 6. 2008 – 10 U 2966/08 – juris; OLG Stuttgart, VersR 1979, 1039. 12 S. hierzu nur Kaufmann, in: Geigel, Haftpflichtprozess, 28. Aufl. 2020, Rn 295 ff. 13 S. hierzu BGHZ 80, 303 = NJW 1981,1842; s. auch BGHZ 114, 308 = NJW 1991, 2143; Kuhn, in: Buschbell/Höke, MAH Straßenverkehrsrecht, 5. Aufl. 2020, § 23 Rn. 194. 11
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dass die entgeltliche Personenbeförderung zum wiederkehrenden Bestandteil der Beschäftigung gemacht wird.14 2. Haftung nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) Liegt ein Verschulden zumindest in Form der Fahrlässigkeit vor, so haftet der Fahrer sowohl Dritten gegenüber wie auch gegenüber den Mitfahrern nach den § 823 Abs. 1 und § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. den entsprechenden Bestimmungen der Straßenverkehrsordnung (StVO) für Personen und Sachschäden. Nach § 254 Abs. 1 BGB wird ein grundsätzlich bestehender Schadensersatzanspruch der Höhe nach beschränkt bzw. reduziert, wenn bei der Entstehung des Schadens ein Verschulden des Geschädigten mitgewirkt hat.15 Je nach konkreter Sachverhaltskonstellation kann eine Mitschuld des Mitfahrers vorliegen. So insbesondere, wenn er die Beeinträchtigung der Fahrtüchtigkeit des Fahrers kannte oder bei gehöriger Sorgfalt hätte erkennen können16 und er dennoch in das Fahrzeug eingestiegen ist. Muss der Fahrgast mit Übermüdung des Fahrers rechnen, so kann er mitschuldig sein. Diese Umstände müssen jedoch regelmäßig vor Fahrtantritt bereits bekannt sein und nicht erst während der Fahrt sichtbar werden.17 So liegt beispielsweise eine Mitschuld des Fahrgastes vor, wenn ihm bekannt war, dass der jugendliche Fahrer nach der Tagesarbeit und nur 1 Stunde Schlaf eine mehrstündige Nachtfahrt angetreten hatte18 oder wenn er beispielsweise weiß, dass der Fahrer schon 15 Stunden ununterbrochen gefahren ist19. Insoweit könnte bei dem gebildeten Beispielsfall auch ein Mitverschulden der Mitfahrenden grundsätzlich zu prüfen sein, da sie die äußeren Umstände kannten, die zu einer Beeinträchtigung der Fahruntüchtigkeit führen konnten. Freilich werden die Voraussetzungen für ein Mitverschulden bei mitfahrenden, insbesondere minderjährigen Schülern nur in Ausnahmefällen in Betracht kommen, zum einen im Hinblick auf die eingeschränkten Sorgfaltsanforderungen und zum anderen mangels Al-
14 König, in: Henschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 45. Aufl. 2019, StVG § 8a Rn. 3, 5. 15 Vgl. nur Grüneberg, in: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 79. Aufl. 2020, § 254 Rn. 1 m. w. N. 16 BGH, NJW 1988, 2365; OLG Frankfurt v. 08. 11. 10 – 1 U 170/10 – juris; OLG Köln, MDR 99, 804. 17 KG, VRS Bd. 76, 1989, 100. 18 OLG Celle, VersR 1962, 1110. 19 Vgl. OLG München, ZfS, 1986, 1
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ternativen. In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass es in erster Linie Pflicht des Fahrers ist zu prüfen, ob er in der Lage ist sein Fahrzeug sicher zu führen.20 V. Zur versicherungsvertragsrechtlichen Seite Die Fragen im Zusammenhang mit der versicherungsvertragsrechtlichen Seite sind vielfältig. - So gilt es zum einen die Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung zu beleuchten, zur Klärung der Frage, welche Schadensersatzansprüche von ihr abgedeckt werden. - Weiter ist zu fragen, ob gegebenenfalls eine Privathaftpflichtversicherung bzw. Sport-Unfallversicherung für den zivilrechtlichen Schaden aufkommt. - Die Frage des Eintretens einer Kaskoversicherung stellt sich im Hinblick auf Schäden am eigenen Pkw. - Die private Unfallversicherung bezieht sich wiederum in ihrem Leistungsumfang auf gesundheitliche Beeinträchtigungen der eigenen Person aufgrund eines Unfallereignisses. - Die sog. Kraftfahrzeugzusatzversicherung über den eigenen Sportverband bzw. -verein versichert Fahrten der Trainer zu Training oder Wettkämpfen für Schäden am eigenen Pkw. Sie enthält weiter eine Rechtsschutzversicherung und deckt weitere Kosten für die Bergung sowie das Abschleppen und die Weiterfahrt nach einem Unfallereignis ab. Schließlich enthält sie gegebenenfalls eine Insassen-Unfallversicherung. - Eine Rechtsschutzversicherung, die für Kosten im Rahmen einer rechtlichen Auseinandersetzung eintritt. 1. Kfz-Haftpflichtversicherung Nach § 1 PflVersG ist der Halter eines Kraftfahrzeugs verpflichtet, sich für den Eigentümer und den Fahrer eine Haftpflichtversicherung zur Deckung der durch den Gebrauch des Fahrzeugs verursachten Personenschäden, Sachschäden und sonstigen Vermögensschäden abzuschließen. Diese Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung deckt Schadensersatzansprüche nach dem Straßenverkehrsgesetz (StVG) und dem Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) in vollem Umfang ab, dies sowohl gegenüber dem Unfallgegner wie auch gegenüber Mit-
20 OLG Frankfurt, NZV 2007, 525; siehe hierzu auch OLG Frankfurt v. 08. 11. 2010 1 U 170/10 – juris: zu den Voraussetzungen einer Selbstgefährdung nach § 254 Abs. 1 BGB eines Beifahrers wegen Übermüdung des Fahrers nach einem Open-Air-Festival.
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fahrern. Das schuldhafte Verhalten des Fahrers bei Gebrauch des Kraftfahrzeuges ist in den Versicherungsschutz ausdrücklich eingeschlossen.21 a) Direktanspruch Nach § 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VVG kann der Dritte nach einem Unfallereignis seinen Anspruch auf Schadensersatz auch gegenüber dem Versicherer direkt geltend machen, wenn eine wie hier nach dem Pflichtversicherungsgesetz bestehende Versicherungspflicht besteht. Der Anspruch besteht im Rahmen der Leistungspflicht des Versicherers aus dem Versicherungsvertragsverhältnis und – soweit eine Leistungspflicht nicht besteht – im Rahmen des § 117 Abs. 1 – 4 VVG, vgl. § 115 Abs. 1 Satz 2 VVG. b) Herbeiführung des Versicherungsfalles Nach § 81 Abs. 1 VVG ist der Versicherer zur Leistung nicht verpflichtet, wenn der Versicherungsnehmer vorsätzlich den Versicherungsfall herbeigeführt; nach Abs. 2 ist der Versicherer berechtigt, seine Leistung zu kürzen, wenn der Versicherungsnehmer den Versicherungsfall grob fahrlässig herbeigeführt hat. Diese Ausschluss- bzw. Minderungklausel wird für die Haftpflichtversicherung durch § 103 VVG eingeschränkt. § 81 VVG gilt somit zwar für die Schadensversicherung, aber nicht für die Haftpflichtversicherung.22 Nach der subjektiven Risikoausschlussklausel des § 103 VVG ist der Versicherer nur bei „vorsätzlichem und wiederrechtlichem“ Handeln des Versicherungsnehmers zur Leistung nicht verpflichtet.23 Danach haftet im Umkehrschluss der Haftpflichtversicherer auch für jede, somit auch grobe Fahrlässigkeit.24 Andererseits spricht § 103 VVG nur von dem vorsätzlichen und widerrechtlichen Handeln des Versicherungsnehmers. Dem steht jedoch nach h. M. eine Auslegung des Gesetzes nicht entgegen bei einer Fremdversicherung auch den Fahrer mit einzuschließen. Im Rahmen der Fremdversicherung gilt § 103 VVG somit auch für den versicherten Fahrer,25 sodass ihm gegenüber keine Deckungspflicht besteht, wenn er vorsätzlich gehandelt hat, während dem Versicherungsnehmer selbst der Vorsatz des versicherten Fahrers regelmäßig nicht zuzurechnen ist.26
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§ 10 Nr. 2 c AKB; BGH, VersR 1969, 696. S. nur OLG Hamm v. 26. 4. 2013, r+s 2014,11 mit Anmerkung Schimikowski. 23 S. hierzu auch OLG München v. 11. 3. 2020 – 10 U 21350/18 – juris. 24 S. nur Lücke, in: Prölss/Martin, VVG 30. Aufl. 2018, § 103 Rn. 1 m. w. N. 25 BGH, VersR 1971, 239; OLG Stuttgart, NJW-RR 1990, 527; OLG Nürnberg, NZV 2011, 538; Prölss/Martin/Lücke (Fn. 24), § 103 Rn. 2. 26 S. nur BGH, VersR 1971, 239; OLG Hamm, VersR 1993, 1372 = NJW-RR 1993, 1180. 22
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c) Zurechnung des Verhaltens Dritter Allgemein stellt sich im Versicherungsvertragsrecht häufig die Frage, ob der Versicherungsnehmer für ein schuldhaftes Verhalten eines Dritten, hier des Fahrers einzustehen hat. Die im Bürgerlichen Gesetzbuch zentrale Zurechnungsnorm des § 278 BGB für einen Erfüllungsgehilfen findet im Versicherungsvertragsrecht keine Anwendung. Vielmehr hat die Rechtsprechung die sogenannte Repräsentantenhaftung entwickelt (s. hierzu im Einzelnen unten V.3.). Aber auch im Hinblick auf die sog. Repräsentantenhaftung verbleibt der Hinweis, dass selbst, wenn es sich bei dem Fahrer um einen Repräsentanten des Versicherungsnehmers handelt, der Versicherungsschutz für den Versicherungsnehmer unberührt bleibt.27 Der Verlust des Versicherungsschutzes ist in diesen Fällen auf den Fahrer beschränkt.28 Sind Halter und Fahrer personenverschieden, bleibt der Versicherer gegenüber dem Halter als Versicherungsnehmer zur Leistung verpflichtet und haftet zudem gemäß § 3 Nr. 1 PflVersG a. F.= § 115 VVG n. F. auch dem geschädigten Dritten.29 Der Ausschluss der Leistungspflicht des Versicherers bei vorsätzlicher Schadenszufügung durch den Fahrer der zugleich Halter ist, widerspricht nicht europarechtlichen Vorgaben.30 2. Privathaftpflicht- oder Sportunfallversicherung Der Eintritt einer Privathaftpflichtversicherung oder einer Sport-Unfallversicherung scheidet bei einem Verkehrsunfall regelmäßig aus. In den Vertragsbedingungen der Privathaftpflichtversicherung findet sich regelmäßig die sog. Benzinklausel,31 welche wirksam die Haftung bei Unfällen im Zusammenhang mit dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs ausschließt. 3. Zur Kaskoversicherung des eigenen Pkws Hier besteht grundsätzlich ein Versicherungsanspruch. Eine Ausnahme, d. h. einen Versicherungsausschluss bzw. eine Kürzung des Anspruchs gibt es nur unter zwei Voraussetzungen: - Vorsätzliches oder grobfahrlässiges Handeln (§ 81 VVG) sowie 27 Vgl. OLG Köln, NJW-RR 2000, 1476; OLG Oldenburg, VersR 1996, 746 = r+s 1996, 394; s. hierzu auch relativierend Littbarski, in: MüKoVVG, 2. Aufl. 2017, § 103 Rn. 69; Römer, NZV 1993, 52. 28 OLG Nürnberg v. 14. 09. 2000, NJW-RR 2001,100. 29 s. nur BGH v. 18. 12. 2012, NJW 2013,1163 = NZV 2013,231; MüKoVVG/Littbarski (Fn. 27), § 103 Rn. 74. 30 Siehe BGH, NJW 2013, 1163 = NZV 2013, 231. 31 S. hierzu Prölss/Martin/Lücke (Fn. 24) § 3 Rn. 2.
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- die sog. Repräsentanteneigenschaft des Fahrers. Wie zuvor ausgeführt,32 ist nach § 81 Abs. 1 VVG der Versicherer nicht zur Leistung verpflichtet, wenn der Versicherungsnehmer den Versicherungsfall vorsätzlich herbeigeführt hat. Gemäß § 81 Abs. 2 VVG ist bei grob fahrlässiger Herbeiführung des Versicherungsfalls der Versicherer berechtigt, seine Leistungen in einem der Schwere des Verschuldens des Versicherungsnehmers entsprechenden Verhältnis zu kürzen. a) Repräsentanteneigenschaft Bei der Kaskoversicherung muss somit für einen Kürzungsanspruch des Versicherers neben dem grobfahrlässigen Handeln des Fahrers, der nicht zugleich Halter ist, die sog. Repräsentanteneigenschaft des Fahrers als Zurechnungsmerkmal hinzukommen.33 Die herrschende Meinung lässt einen Versicherungsnehmer nicht nur für den gesetzlichen Vertreter oder ein Organ, sondern auch für einen Repräsentanten haften.34 Für die Repräsentanteneigenschaft ist allein nicht ausreichend, dass der Versicherungsnehmer dem Dritten die alleinige Obhut über den versicherten Gegenstand überlassen hat. Vielmehr muss er auch befugt sein, selbstständig in einem gewissen, nicht ganz unbedeutenden Umfang für den Versicherungsnehmer zu handeln.35 Es ist somit nach den Umständen des Einzelfalls zu entscheiden, ob einem Trainer, dem vom Verein oder Verband ein Fahrzeug eigenverantwortlich überlassen worden ist, eine Repräsentanteneigenschaft zukommt. Dies wird wohl nur in Ausnahmefällen der Fall sein. Regelmäßig werden lediglich die bloße Überlassung des Fahrzeugs und keine weiteren Befugnisse für den Trainer in Betracht kommen. b) Grobe Fahrlässigkeit Für einen Kürzungsanspruch nach § 81 Abs. 2 VVG muss zudem ein grobfahrlässiges Handeln des Fahrers hinzukommen. In welchen Fällen ist nun eine grobe Fahrlässigkeit zu bejahen, wenn ein Verkehrsunfall auf Übermüdung zurückgeführt werden kann? Die Rechtsprechung ist insoweit eher zurückhaltend, während Versicherungen zumindest versuchen, diesen Tatbestand weit eher anzunehmen. - Grobe Fahrlässigkeit erfordert eine in objektiver Hinsicht schweren und in subjektiver Hinsicht nicht entschuldbaren Verstoß gegen die Anforderungen der im Ver32
S. oben unter V.1.c. S. hierzu BGH, NJW 1996, 2935. 34 H. M.; s. nur Prölss/Martin/Armbrüster (Fn. 24), § 81 Rn. 6 m. w. N. 35 Risikoverwaltung; s. BGHZ 107, 229 (235) = VersR 1989, 737; BGH, NZV 1996, 447; BGHZ 122, 250 (253) jeweils m. w. N. 33
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kehr erforderlichen Sorgfalt. Diese Sorgfalt muss in ungewöhnlich hohem Maße verletzt und es muss dasjenige und unbeachtet geblieben sein, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen. Subjektiv muss schlechthin eine unentschuldbare Pflichtverletzung vorliegen, die das in § 276 Abs. 2 BGB bestimmte Maß erheblich überschreitet36. Die Beweislast obliegt insoweit dem Versicherer und die Regeln des Anscheinsbeweises gelten insoweit nicht.37 Die Feststellung der groben Fahrlässigkeit erfordert die Überzeugung des Tatrichters. Dieser muss nach dem gesamten Inhalt der Verhandlung und der Beweisaufnahme entscheiden, ob eine Behauptung für wahr oder nicht wahr zu erachten ist.38 Dies muss nach den Beweismaßstäben des § 286 ZPO positiv festgestellt werden.39 Hierfür genügt ein für das praktische Leben brauchbarer Grad von Gewissheit ohne dabei unerfüllbar hohe Anforderungen zu stellen.40 Andererseits verlangt § 286 ZPO den sog. Vollbeweis; mit einer nur überwiegenden Wahrscheinlichkeit darf sich der Richter nicht begnügen.41 Für die Annahme eines grob fahrlässigen Verhaltens bedarf es somit der Feststellung eines auch in subjektiver Hinsicht nicht entschuldbaren Verstoßes gegen die Anforderungen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt. Nach der Rechtsprechung wird grobe Fahrlässigkeit nur dann bejaht, wenn der Fahrer sich über typische Übermüdungsanzeichen hinwegsetzt hat.42 Ein sog. Sekundenschlaf begründet nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nur dann den Vorwurf eines leichtfertigen Handelns, wenn sich der Fahrer bewusst über die von ihm erkannten Anzeichen einer Übermüdung hinweggesetzt hat. Der Nachweis eines sog. Sekundenschlafs allein führt nicht ohne weiteres zur Bejahung grober Fahrlässigkeit.43 Ein Sekundenschlaf kann „einfach fahrlässig“ 36 St. Rspr., vgl. BGH v. 3. 11. 2016 – III ZR 286/15 – juris m. w. N.; NJW-RR 2014, 90; BGHZ 119, 147 (149); OLG Celle v. 1. 7. 2020, 14 U 8/20 – juris. 37 BGH v. 21. 03. 2007- I ZR 166 – 04 – juris; BGHZ 104, 256 = NJW 1988,128; OLG Köln, NJW-RR 2019, 1239 = ZfS 2019, 630; OLG Stuttgart v. 28. 7. 2005 – 7 U 51/05 – juris; OLG Koblenz v. 12. 1. 2007 – 10 U 949/06 – juris; s. aber OLG Hamm, MDR 1998, 344: Anscheinsvermutung für grobe Fahrlässigkeit; s. auch OLG Bamberg v. 3. 3. 2010 – 3 Ss 100/ 09 - juris: zum Auftreten von Vorzeichen bei Übermüdung. 38 S. BGH, NJW 1974, 948. 39 OLG Düsseldorf v. 1. 10. 2001 – 1 U 73/01- juris; s. auch OLG Saarbrücken, r+s 2015, 340. 40 BGH, NJW 1993,935; Seiler, in: Thomas/Putzo, ZPO 41. Aufl. 2020, § 286 Rn. 2 m. w. N. 41 Prütting, in: MüKoZPO, 6. Aufl. 2020, § 286 Rn. 35 m. w. N. 42 OLG Frankfurt, MDR 1998, 215; BGH, NJW 1974, 948: „Einnicken“ am Steuer rechtfertigt für sich allein noch nicht das Urteil „grober Fahrlässigkeit“, dazu bedarf es einer besonderen Begründung; LG Stuttgart, VersR 1993, 1350; OLG München, VersR 1995, 288: verneint bei ausreichend vorangegangenem Schlaf 43 OLG Celle v. 1. 7. 2020 – 14 U 8/20 – juris.
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nicht vorhergesehen worden sein,44 weil häufig objektive Ermüdungserscheinungen subjektiv nicht wahrgenommen werden.45 Freilich besteht andererseits ein Erfahrungssatz, dass ein Kraftfahrer, bevor er am Steuer „einnickt“ zumeist deutliche Zeichen der Ermüdung wahrnehmen kann oder wenigstens hätte wahrnehmen können. Dies beruht auf der in Fachkreisen gesicherten Erkenntnis, dass ein gesunder, bislang hellwacher Mensch nicht plötzlich von einer Müdigkeit überfallen wird.46 Häufig hat sich allerdings ein Fahrer über deutliche und typische Ermüdungszeichen hinweggesetzt, die sich jedem hätten aufdrängen müssen.47 VI. Zur Unfallversicherung bzw. Kraftfahrzeug-Zusatzversicherung über den Verband bzw. Verein Auch hier ist ein Versicherungsschutz nur bei Vorsatz und grober Fahrlässigkeit ausgeschlossen (§ 81 VVG). Grundsätzlich sind auch hier die Voraussetzungen wie zuvor beschrieben für eine Leistungsfreiheit nach dieser Vorschrift vom Versicherer darzulegen und zu beweisen.48 VII. Ergebnis – Zusammenfassung M. E. sind im Hinblick auf die Gefahren und Anforderungen im Straßenverkehr an die von einem Kraftfahrer zu fordernde Sorgfalt, der zum einen mögliche Gefahren für andere Verkehrsteilnehmer zu vermeiden hat und zum anderen aber auch Verantwortung für die körperliche Unversehrtheit seiner ihm anvertrauten Mitfahrer trägt, strenge Anforderungen zu stellen. Dies erfordert im Ergebnis, dass ein Trainer – wie im Beispielsfall – sich im Zustand einer aufgrund der Daten und Fakten vorhersehbaren Übermüdung nicht an das Steuer setzen darf. Ob aus diesem Verhalten bereits eine grobe Fahrlässigkeit abzuleiten ist, ist den jeweiligen weiteren Einzelheiten des Falles vorbehalten. Jedenfalls ist im Ergebnis zumindest von einer einfachen Fahrlässigkeit auszugehen, die eine Strafbarkeit wegen einer fahrlässigen Straßenverkehrsgefährdung nach
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OLG Celle v. 3. 2. 2005 – 8 U 82/04 – juris. OLG Saarbrücken, RuS 2010,129 46 OLG Celle v. 1. 7. 2020 – 14 U 8/20 – juris; BGH v. 18. 11. 1969 – 4 StR 66/69 – juris; OLG Frankfurt v. 26. 5. 1992 – 8 U 184/91 – juris. 47 S. BGH, MDR 2007, 1383; OLG Koblenz v. 8. 6. 2006 – 10 U 1161/05 – juris; OLG Rostock, RuS 2012, 533; OLG Zweibrücken, NZV 1998, 289: Fahrt trotz Übermüdungsanzeichen fortgesetzt. 48 S. nur OLG Koblenz v. 12. 1. 2007 – 10 U 949/06 – juris. 45
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dem § 315c Abs. 1, Abs. 3 StGB sowie nach § 229 StGB zur Folge hat. Weiter liegt eine zivilrechtliche Haftung nach dem StVG und dem BGB vor. Die dargestellte Problematik sollte Trainern im Rahmen der Aus- und Fortbildung immer deutlich gemacht werden, da sie zum einen selbstverständlich alle Gefahren für die ihnen anvertrauten Schüler und Schülerinnen im bestmöglichen Umfang vermeiden sollen und zum anderen aber auch aus generalpräventiven Gründen, welches Risiko sie für den Fall eines Fehlverhaltens eingehen. Dies zum einen vor dem Hintergrund einer drohenden strafrechtlichen Verantwortung und zum anderen im Hinblick auf die zivilrechtliche Haftungsproblematik, auch wenn diese in den wohl überwiegenden Fällen versicherungsvertragsrechtlich abgedeckt ist.
Verstößt die unterschiedliche Auslegung der Bußgeldvorschriften für Kartellverstöße durch Bundeskartellamt und Rechtsprechung gegen den verfassungsrechtlichen Anspruch auf rechtliches Gehör? Von Clemens Stewing I. Ausgangslage 1. Der Beitrag befaßt sich mit den verfassungsrechtlichen Grenzen einer wesentlichen Erhöhung des Bußgeldes im kartellrechtlichen Rechtsmittelverfahren. Die gesetzliche Grundlage dieses Beitrags ist § 81 Abs. 4 S. 2 f. GWB und lautet: Im Falle eines Unternehmens oder einer Unternehmensvereinigung kann über Satz 1 hinaus eine höhere Geldbuße verhängt werden; die Geldbuße darf 10 vom Hundert des im der Behördenentscheidung vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielten Gesamtumsatzes des Unternehmens oder der Unternehmensvereinigung nicht übersteigen. Bei der Ermittlung des Gesamtumsatzes ist der weltweite Umsatz aller natürlichen und juristischen Personen sowie Personenvereinigungen zugrunde zu legen, die als wirtschaftliche Einheit operieren.
Die Vorschrift ist entstanden in Angleichung des nationalen an das europäische Recht, das ebenfalls ein Höchstbußgeld von 10 % des Gesamtjahresumsatzes der Unternehmenseinheit (des Konzerns) ermöglicht – allerdings dort mit einer faktischen Zurückhaltung des EuGH, was die gerichtliche Nachprüfung der Bußgeldhöhe angeht.1 2. Das Bundeskartellamt hat in seinen neuen Leitlinien vom 25. 6. 2013 die Bußgelduntergrenze in Anlehnung an § 17 Abs. 1 OWiG auf 5 E festgelegt und berechnet die Buße im Übrigen mit 10 % vom tat- und zeitbezogenen Umsatz; tatbezogen ist der Umsatz mit den Leistungen, die mit der Zuwiderhandlung im Zusammenhang stehen, zeitbezogen über den gesamten Tatzeitraum. Den so ermittelten Wert multipliziert das Bundeskartellamt je nach Unternehmensgröße mit einem Faktor von 2 bis > 6. Bei dieser Bußgeldbemessung wird die Höhe des Bußgeldes ins Verhältnis zu den Vorteilen gesetzt, die das Unternehmen aus dem kartellrechtswidrigen Verhalten gezogen hat, bzw. zu den Nachteilen, die der Volkswirtschaft daraus entstanden sind. Damit nimmt das Bundeskartellamt eine Eingrenzung des gesetzlichen Bußgeldrahmens vor, die nur noch dann durchbrochen wird, wenn das Gewinn- und Schadenspotential des Verstoßes of1
BGH Beschl. v. 26. 2. 2013 („Grauzement-Beschluß“) – KRB 20/12, Rdnr. 52 m. w. N.
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fensichtlich zu niedrig bemessen ist, oder wenn die gesetzlich vorgegebenen Zumessungskriterien der §§ 81 Abs. 4 S. 6 GWB und 17 Abs. 3 OWiG im Rahmen einer Gesamtabwägung eine Verschärfung oder Minderung der Geldbuße nahelegen. Die Rechtsprechung, hier das OLG Düsseldorf als erste Rechtsmittelinstanz den Vorgaben des BGH folgend, legt als Rahmen für die Anwendung der 10 %-Grenze den Konzernumsatz vor der Behördenentscheidung zugrunde. Dieser kann um ein x-faches über dem Bußgeldrahmen liegen, den die Leitlinien des Bundeskartellamtes vorsehen. In einer Entscheidung des OLG Düsseldorf v. 28. 2. 2018 wurde das Bußgeld von 5,25 auf 30 Mio. E erhöht.2 Die Grundsatzentscheidung des BGH vom 26. 2. 2013,3 nach der die zuvor ab 2006 geltenden Leitlinien des Bundeskartellamtes geändert wurden, hat sich u. a. mit dem Rückwirkungsverbot und dem Bestimmtheitsgrundsatz befaßt und einen Verstoß gegen § 81 Abs. 4 GWB nicht erkannt. Vor allem jedoch hat der BGH in dem Beschluß die richterliche Eigenständigkeit bei der Bußgeldbemessung betont.4 Der BGH sieht als Bezugsgröße ebenfalls nicht den tatbezogenen Umsatz, sondern den Konzernumsatz und begründet dieses mit der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit.5 3. Es besteht somit ein fundamentaler Unterschied in der Handhabung des gesetzlichen Bußgeldrahmens durch die Behörde und die Gerichte. Das hier geschilderte Problem würde wesentlich entschärft, wenn sich die Rechtsprechung – wie übrigens der EuGH, s. o. – auf die Überprüfung von Rechtsfehlern bei der Ermessensentscheidung des Bundeskartellamtes beschränken würde. Ein Unternehmen, das sich nach einem Bußgeldbescheid durch das Bundeskartellamt rechtlich oder tatsächlich beschwert fühlt, steht vor der Überlegung, hiergegen Rechtsmittel einzulegen. Dabei ist allerdings bereits an dieser Stelle anzuerkennen, daß das Unternehmen alle Umstände, die in seine Überlegungen einfließen, kennt, einschließlich der Möglichkeit einer deutlichen Verschlechterung des Bußgeldes.
2 Az V-4 Kart 3/17 OWi; aus formalen Gründen aufgehoben durch BGH Beschl. v. 9. 7. 2019 – KRB 37/19; vgl. zuvor „Tapetenkartell“ OLG Düsseldorf, U. v. 12. 10. 2017 – V-2 Kart 1 – 3/17 OWi, und danach die vom BGH ebenfalls aufgehobenen Entscheidungen des OLG Düsseldorf „Flüssiggaskartell“ (BGH Beschl. v. 9. 10. 2018 – KRB 51/16, 58/16 und 60/17; Vorinstanz OLG Düsseldorf v. 15. 4. 2013 – VI-4 Kart 2 – 6/10 OWi) und „Süßwarenhersteller“ (BGH Beschl. v. 21. 6. 2019 – KRB 10/18; Vorinstanz OLG Düsseldorf v. 26. 1. 2017 – V-4 Kart 6/15 OWi). 3 Beschl. v. 26. 2. 2013 – KRB 20/12. 4 Ebda. Rdnrn. 54, 58, Vorinstanz OLG Düsseldorf 26. 6. 2009 – VI 2a Kart 2 – 6/08 mit vollumfassender Würdigung und Beurteilung von Tatsachen, Rechtslage und ermessensbasierter Bußgeldbemessung; s. a. BGH Beschl. v. 3. 6. 2014 – KRB 46/13 Rdnr. 7. 5 BGH Beschl. v. 26. 2. 2013 – KRB 20/12 Rdnr. 69.
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4. Fraglich ist, ob die hierdurch gleichwohl entstehende Unsicherheit verfassungsrechtlich tragbar ist. Denkbar ist ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG. Das erscheint auf den ersten Blick abwegig, da den betroffenen Unternehmen der Rechtsweg formell uneingeschränkt offensteht. Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch aus anderem Anlaß bereits einen Bezug der dadurch entstehenden verfassungsrechtlichen Problematik zu Art. 103 GG gestreift: „Art. 103 Abs. 2 GG zieht auch für die Auslegung von Bußgeldvorschriften eine verfassungsrechtliche Schranke (vgl. BVerfG E 87, 399 (411) m. w. N.). Da Gegenstand der Auslegung gesetzlicher Bestimmungen immer nur der Gesetzestext sein kann, erweist dieser sich als maßgebendes Kriterium: Der mögliche Wortsinn des Gesetzes markiert die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation. Wenn Art. 103 Abs. 2 GG Erkennbarkeit und Vorhersehbarkeit der Bußgeldandrohung für den Normadressaten verlangt, so kann das nur bedeuten, daß dieser Wortsinn aus Sicht des Bürgers zu bestimmen ist (vgl. BVerfG E 71 108 (115)) …“6
II. Eingrenzungen 1. Der Rahmen dieses Beitrags würde gesprengt, wenn auf alle rechtlichen und insbesondere verfassungsrechtlichen Fragen im Zusammenhang mit der Bußgeldbewehrung von Kartellverstößen eingegangen würde; das mag umfassenderen Untersuchungen vorbehalten bleiben. a) Es geht hier nicht um Kritik an der Höhe des Bußgeldes. Allerdings geht der gelegentliche, allerdings plakative Vergleich mit einem Bußgeld im Straßenverkehr, das zwischen 5 E und 10 % des Jahreseinkommens des Fahrers betragen würde, sogar noch nicht einmal weit genug; denn das Jahreseinkommen des Fahrers ist eher mit dem Gewinn des Unternehmens als mit seinem Umsatz vergleichbar. Bei einem durchschnittlich anzunehmenden Gewinn von Unternehmen in Höhe von 5 % des Umsatzes läge die Obergrenze der Kartellbuße bei zwei Jahresgewinnen. Andererseits liegt in der Festlegung von Buß- und Strafgeldern auch immer eine politische Grundentscheidung mit Abschreckungsabsicht. Der Bußgeldrahmen ist gesetzlich festgelegt, verstößt nicht offensichtlich gegen das Übermaßverbot und ist damit rechtlich nicht zu beanstanden. An der Rechtsauffassung der Gerichte, diesen auszuschöpfen, ist prinzipiell nichts auszusetzen. Es geht hier also nicht um die Fragen nach der Verfassungsmäßigkeit des § 81 Abs. 4 GWB, konkret um die fehlende Bestimmtheit infolge der Anknüpfung an Umsatzzahlen7 und die Frage nach der Angemessenheit einer möglichen Bußgeldhö-
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Beschl. v. 20. 8. 2015 – 1 BvR 980/15 Rdnr. 11. S. hierzu bereits oben BGH vom 26. 2. 2013 (Beschl. v. 26. 2. 2013 – KRB 20/12); Bechthold/Buntscheck, NJW 2005, 2966; vgl. einschränkend BVerfG NJW 2002, 1779; zur entsprechenden – und zeitlich älteren – Vorschrift im europäischen Kartellrecht EuG U. v. 5. 4. 2006 – Rs T 279/02, Rdnrn. 66 ff.; EuGH U. v. 22. 5. 2008 – Rs C 262/06, Rdnrn. 11 ff. 7
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he im Rahmen des verfassungsrechtlichen Übermaßverbotes. Genauso spielen vorliegend general- oder spezialpräventive Erwägungen hier keine Rolle.8 b) In diesem Beitrag wird auch nicht einem Verschlechterungsverbot das Wort geredet, obwohl dieses später noch eine Rolle spielen wird. Jedoch agiert das Unternehmen im Rechtsmittelverfahren vor dem Hintergrund einer Chance auf eine Ermäßigung des Bußgeldes und dem Risiko einer deutlichen Verschlechterung. Die Berechenbarkeit des Ausgangs eines gerichtlichen Verfahrens hängt entscheidend vor der rechtlichen und tatsächlichen Komplexität der Materie ab. Da prima facie9 davon auszugehen ist, daß die Behörde ihren rechtlichen Beurteilungs- und Ermessensspielraum sachgerecht ausübt und rechtmittelfähige Fehler vermeidet, ist auch anzunehmen, daß offensichtliche oder einfach zu argumentierende Fehler einer Behördenentscheidung nicht der Regelfall sind. Genauso ist für den Regelfall zu unterstellen, daß Rechtsmittel nicht unter offensichtlicher Verkennung der Sach- und Rechtslage oder gar mißbräuchlich eingelegt werden. Daher stellen sich für – zumal im Kartellrecht mit einer oftmals dünnen Beweislage und einer zunehmend „kreativ“ weiter entwickelten Rechtseinschätzung – eher rechtlich und tatsächlich schwierige und damit im Verfahrensausgang schwer zu prognostizierende Fälle die Alternativen Akzeptieren der behördlichen Bußgeldentscheidung oder Rechtsmittel einlegen. Damit ist die Forderung nach einer Berechenbarkeit des zu erwartenden Bußgeldes grundsätzlich berechtigt, mit welcher Genauigkeit auch immer. c) Es geht hier auch nur begrenzt um den verfassungsrechtlichen Anspruch auf ein faires Verfahren,10 denn der Betroffene ist sich in jedem Verfahrensschritt über seine rechtlichen Möglichkeiten und seine Chancen und Risiken im weiteren Verlauf im Klaren. Daher ist eben auch nicht trivial die Anknüpfung an Art. 103 Abs. 1 GG, s. o. Die Funktion als objektivrechtliches Verfahrensprinzip11 scheint vordergründig nicht tangiert, die subjektive Rechtsposition der Betroffenen bleibt formal gewahrt, und zudem geht es vorliegend um eine im Vorfeld der und im Vergleich zur Rechtsmittelinstanz günstigere Behandlung des Betroffenen. 2. Für den Fall jedoch einer gegenüber der Auslegung der Rechtsprechung vermeintlich günstigeren Rechtsanwendung durch eine Behörde oder eine niedrigere Gerichtsinstanz kann ebenso eine Störung der o. g. Gewährleistung greifen, wenn z. B. die Besserstellung nicht die Rechtsanwendung betrifft, sondern die Rechtsfolgen, im Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht die Strafe bzw. Buße. Erstens sind beide insoweit miteinander verknüpft, wie sich die Rechtsfolge aus der tat8
Zur Frage der Abgrenzung zwischen Ahndungsgeldbuße und Abschöpfungsgeldbuße s. schließlich BGH Beschl. v. 25. 4. 2005 – KRB 22/04, wistra 2005, 384. 9 Zum zweiten Blick s. u. III. 4. 10 Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG; zu § 257 c StPO BVerfG Beschl. v. 25. 8. 2014 – BvR 2048/13, Beschl. v. 26. 8. 2014 – 2 BvR 2172/13. 11 Vgl. BVerfG E 6, 7 (12).
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sächlichen und rechtlichen Bewertung der Tat ableitet; insoweit ist durchaus denkbar, daß bei anderer Rechtsanwendung die Rechtsfolge noch milder hätte ausfallen können, als sie es aufgrund der Nichtbefolgung des rechtlichen Rahmens ohnehin tut. Zweitens kann selbstverständlich die tatsächliche und rechtliche Würdigung so fehlerhaft sein, daß die Rechtsfolge Straflosigkeit lauten müßte. Das bedeutet, daß die für den Betroffenen vermeintlich günstigere Rechtsfolge nicht ohne weiteres zu einer rechtlich positiven Beurteilung des Verwaltungshandelns führt. a) Mit der Beschreitung des Rechtsweges genau wie dem Sich-Einlassen auf ein Settlement, einen Deal, zu Deutsch einen Vergleich oder jede andere Form einer pragmatischen Befriedung des Falles unter Auslassen des Rechtsweges erfolgt immer auch eine Beurteilung der Sach- und Rechtslage und Einschätzung der Risiken und Chancen; diese Abwägung ist mithin eine – auch psychologisch – komplexe Angelegenheit. Das gilt für alle Beteiligten und auch für die involvierte Behörde oder – etwa im Fall des § 257 c StPO – das beteiligte Gericht. Ohne damit die Rechtsgebundenheit der staatlichen Institutionen infrage zu stellen, wäre es lebensfremd, anzunehmen, diese würden nicht auch pragmatische Gesichtspunkte wie schnelle Befriedung, Arbeitserleichterung, ErledigungsFallzahlen und anderes ins Kalkül ziehen. Dazu gehört auch die taktisch motivierte Einschätzung der eigenen sowie der Position des Betroffenen. Das deutsche Recht befreit den Rechtsuchenden nicht immer von Last, bei der Einlegung von Rechtsmitteln das Risiko einer Verschlechterung einzugehen, denn sonst gäbe es ein allgemeines Verschlechterungsverbot im Sanktionsrecht. Den partiellen Verschlechterungsverboten (z. B. § 331 StPO) liegt zwar genau der Gedanke zugrunde, daß der Betroffene nicht wegen der Befürchtung einer Verschlechterung seiner Rechtsposition von Rechtsmitteln abgehalten wird.12 Im Rahmen des Verwaltungsverfahrens (vgl. § 88 VwGO) ist das Verschlechterungsverbot aufgrund des größeren Gestaltungsspielraums anders gelagert, und der Aspekt kommt hinzu, daß das Gericht die ermessenskonformen Gestaltungserwägungen der Behörde nur begrenzt ersetzen darf. Hinzu kommt das Argument, daß ein allgemeines Verschlechterungsverbot zu mißbräuchlicher Rechtsmittelausnutzung führen kann. Daß der Gesetzgeber dieses Risiko aus pragmatischen Gründen und implizit verringern will, um im Sinne von Art. 103 Abs. 2 GG das Rechtssystem zugunsten anderer Rechtsuchender offen zu halten, zeigt sich an zahlreichen Vorkehrungen.13 Abschreckung von einer Tat ist aber etwas anderes als Abschreckung von mißbräuchlicher Rechtsmittelausnutzung, weil die verfassungsrechtlichen Grundlagen andere sind. Der Grundsatz rechtlichen Gehörs verbietet damit nicht jegliches Risiko des Betroffenen bei Einlegung eines Rechtsmittels. Damit sind sowohl eine Strafmaßverschlechterung wie auch sonstige 12 13
BGH St 7, 86; 11, 319 (323); 27, 176 (178). Z. B. Gebühren des BVerfG.
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Unannehmlichkeiten wie z. B. finanzieller und persönlicher Aufwand zur Durchsetzung des Rechts zulässig. Die verfassungsrechtliche Grenze kann möglicherweise dort gezogen sein, wo diese Unannehmlichkeiten prohibitiv im Hinblick einzulegender Rechtsmittel wirken. Das läßt sich nicht in ein Schema pressen, und hier geht der Gesetzgeber situationsbezogen vor, z. B.: strafrechtliches Verschlechterungsverbot hier, Möglichkeit der Verschlechterung dort, Gebührenerhebung und -bemessung bei Rechtsmitteln einerseits, Möglichkeit der Prozeßkostenhilfe andererseits. Insoweit ist der Aussage zuzustimmen, daß das Verschlechterungsverbot keine zwingende Folge des Rechtsstaatsprinzips sei.14 Umgekehrt kann jedoch aus dieser Aussage auch nicht geschlossen werden, daß das Rechtsstaatprinzip einer Verschlechterung im Rechtsmittelverfahren überhaupt keine Grenzen setzt.15 b) Zur weiteren Grenzziehung eignet sich ein Blick auf die Praxis und die rechtliche Einordnung der bereits erwähnten rechtsfindungs- und rechtsmittelverkürzenden Verfahren des kartellrechtlichen „Settlements“ und des strafprozeßrechtlichen „Deals“16. aa) § 257 c Abs. 1 StPO17 verlangt als Voraussetzung für den Deal einen „geeigneten Fall“. Am Deal ist außerdem ein Gericht beteiligt, und dieses ist verpflichtet, den Fall vollumfänglich in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht zu prüfen. Außerdem hat der Angeklagte ein Geständnis abzulegen. bb) Anders ist dagegen § 153 a StPO einzuordnen. Diese Vorschrift kommt in Bereichen niedriger Kriminalitätsstufen bzw. geringer Schuld vor und hat eher Beschleunigungs- und Friedensstiftungszweck. Die Belastung durch Auflagen und Weisungen hat einen weniger gravierenden Strafcharakter. Die Druckausübung auf den Betroffenen mit der faktischen Folge des Verzichts auf das rechtliche Verfahren ist vergleichsweise gering und eher subjektiv als objektiv zu konstatieren. cc) Im Gegensatz dazu ist das kartellrechtliche Settlement-Verfahren in Deutschland nicht ausdrücklich gesetzlich geregelt,18 sondern bemißt sich19 allein an übergeordneten verfassungsrechtlichen Grundsätzen. Das Verfahren ist auch weniger formal und transparent als der strafprozessuale Deal bzw. das europarechtliche Settlement-Verfahren. Ein Gericht ist am Settlement nicht beteiligt, ebenso kann die vollumfängliche rechtliche und tatsächliche Prüfung unterbleiben, und Akteneinsicht ist nicht vollständig gewährt. Eine „geständige Einlas14
BGH St 9, 324 (332); BGH Z 85, 180 (185). Vgl. auch BGH StV 2004, 470: Die Sanktionsschere darf sich nicht zu weit öffnen. 16 S. a. § 153 a StPO, 46 a StGB. 17 Grundsätzlich zum Deal BVerfG Beschl. v. 27. 1. 1987 – 2 BvR 1133/86. 18 In Europa seit 2008 in Art. 10a VO 773/2004 bzw. Settlement-Mitteilung – jedoch nur bei horizontalen Kartellverstößen. 19 Neben § 81 Abs. 4 GWB, § 47 Abs. 1 OWiG, Polley/Heinz, WuW 2012, 14 ff. 15
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sung“ – kein formales Geständnis – des Kartellanten ist erforderlich. Durch die Reduzierung der Geldbuße um bis zu 10 % ist eine „Zuckerbrot-und-Peitsche“Konstellation geschaffen. Der Analogieschluß zum Vertrauensschutz im Settlement-Verfahren spielt hier keine Rolle; im europäischen Settlement-Verfahren und eingeschränkt im deutschen Verfahren kann die Behörde zum „streitigen“ Verfahren zurückkehren und die Geldbuße an den dortigen rechtlichen und tatsächlichen Erkenntnissen bemessen. Der EuGH hat darin weitgehend keinen Verstoß gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes gesehen.20 Den Vorteilen des strafprozessrechtlichen Deals wie auch des kartellrechtlichen Settlement-Verfahrens – Entlastungswirkung, Verfahrensbeschleunigung, Strafmaßsicherheit, Bindungswirkung – stehen hier wie dort die Nachteile gegenüber: Eingeschränkte bis mangelnde Transparenz, im Kartellverfahren insbesondere für latent Schadenersatzberechtigte (obwohl das Settlement-Verfahren Indiz-Wirkung entfaltet), Gefährdung des fair-trial-Grundsatzes und des Ermittlungsgrundsatzes, sowie schließlich Erzeugung der bereits erwähnten „Zuckerbrot-und-Peitsche“-Konstellation für den Angeklagten und zu gegebener Zeit das Erreichen des „Point of no Return“ für alle Beteiligten, womit gemeint ist die Nachwirkung von Verständigungsgesprächen und der damit verbundenen geständigen Einlassung im Falle ihres Scheiterns. Ob der Verweis auf die Vermeidung einer übermäßigen Formalisierung des Settlement-Verfahrens im Vergleich zum strafprozeßrechtlichen „Deal“ verfassungsrechtlichen Ansprüchen genügt, kann bezweifelt werden, weil die Belastungswirkung und die finanziellen Auswirkungen für die Beteiligten mit denen im Strafverfahren – je nach Tat – vergleichbar oder größer sein können. Statistische Daten über Settlement-Verfahren werden nicht übermäßig transparent gehandhabt. Ausweislich des Tätigkeitsberichtes21 des Bundeskartellamtes dürfte die überwiegende Zahl der Verfahren durch eine Verständigung enden.22 III. Diesbezügliche Voraussetzungen für effektiven Rechtsschutz Voraussetzungen für einen effektiven Rechtsschutz sind Bestimmtheit staatlichen Verhaltens, Vorhersehbarkeit staatlicher Entscheidungen und das Verbot systematischer Verschlechterung im Rechtsweg. Mit dieser Behauptung verlagert sich die vordergründig formale Gewährleistung des Art. 103 Abs. 2 GG auf einen materiell-verfassungsrechtlichen Gesichtspunkt. 1. Die Frage steht im Raum, ob der verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgrundsatz nur für Gesetze gilt, oder ob sich aus ihm auch der Handlungsrahmen des Staates als einheitlich auftretende Institution gegenüber dem Bürger ableiten läßt. M. E. 20
Rs C-411/15 P Timab u. a., Rdnrn. 137 – 139. Z. B. für den Zeitraum 2017/18, auf der Homepage des BKartA verfügbar. 22 Vgl. auch Grafunder/Gänswein, BB 2015, 968 ff. 21
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läßt sich ein solcher Grundsatz bereits aus dem System der Gewaltenteilung ableiten insoweit, wie sich im Grundsatz aus der Stellung der Gerichte und ihrer Innenkonstitution eine solche systematische Einheitlichkeit zwingend ergibt. Mit der Frage nach der Bestimmtheit geht einher die Frage nach einer Pflicht des Staates als Gesamtheit – also Legislative, Exekutive und Judikative –, das Rechtsregime so widerspruchsfrei auszugestalten und anzuwenden, daß es für den Verpflichteten als in sich strukturell-konsistentes Verhalten des Staates erkennbar bleibt. Bei näherem Hinschauen lassen sich durchaus Ansätze für die Verankerung eines solchen Prinzips im System finden, etwa in Art. 95 Abs. 3 GG oder – in einem weiteren Sinne – Art. 100 GG. Das stärkste Argument für das Vorliegen eines solchen Grundsatzes ergibt sich bereits aus der o. g. gewaltenteilenden Struktur und insbesondere der sie ausprägenden überragenden Stellung der Rechtsprechung, wodurch eine Hierarchie der Kontrolle institutionalisiert ist, die eine weitgehende, d. h. strukturelle Konsistenz zwischen verfassungsrechtlich kontrollierter Rechtssetzung, einfachrichterlich kontrolliertem Rechtsvollzug und verfassungsrechtlich kontrollierter Rechtsprechung gewährleistet. Damit wird zugleich deutlich, daß die Verfassung Widersprüche etwa in Rechtsauslegung, Rechtsanwendung und auch Strafbemessung akzeptiert (und im Sinne einer geordnet-diskursiven Rechtsanwendung und -fortbildung sogar braucht!), aber so angelegt ist, daß diese in einem geordneten Verfahren und in zeitlich angemessener Frist ausgeräumt werden, indem der Rechtsmittelzug für Klarheit sorgt und sich die Institutionen daran halten. Denn es bedarf keiner weiteren Begründung, daß die Verwaltung – aufgrund der in der Gewaltenteilung, in der Bindung der Verwaltung an das Gesetz und der richterlichen und besonders verfassungsrichterlichen Kontrolle der Exekutive angelegten Einheitlichkeit staatlicher Rechtsanwendung – bei der Bemessung der Rechtsfolgen exekutiver Beurteilungen den Maßstab des durch die Rechtsprechung vorgegeben Rahmens einhalten muß. Diese Gewährleistung wird z. B. gestört, wenn sich die Verwaltung nicht an die richterlich erfolgte Auslegung einer Rechtsnorm hält, wie es z. B. häufiger im Rahmen von Nichtanwendungserlassen der Finanzverwaltung geschieht. Im Falle einer dadurch erfolgenden Verschlechterung der Position der Betroffenen steht selbstverständlich der Rechtsweg offen, wobei sich hier bereits die verfassungsrechtliche Frage nach der Waffengleichheit zwischen Verwaltung und Betroffenem stellt, denn für die Verwaltung ist ein Prozeß meistens menschlich weniger belastend als für den Betroffenen. 2. Der Aspekt einer fehlenden Vorhersehbarkeit ist im engeren Sinne in den hier behandelten Fällen nicht angezeigt, weiß doch das Unternehmen weitestgehend gesichert, daß es bei gleicher Beurteilung der Sach- und Rechtslage durch die Rechtsmittelinstanz bestimmt mit einer höheren Buße zu rechnen hat. Gleichwohl ist dieser Aspekt mit dem Bestimmtheitsgrundsatz eng verbunden. Neben vielen anderen Wirkungen fehlender Vorhersehbarkeit staatlichen Handelns und Entscheidens kann eine davon im konkreten Fall das Abschreckungskalkül in Bezug auf die Tat sein (eine interessante Frage ist, ob dieses (anerkannte)
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Motiv in Verbindung mit Unsicherheit betreffend die Strafe staatliche Rechtsetzung beeinflussen darf; m. E. ist das nicht der Fall, s. o.). Aspekt der fehlenden Berechenbarkeit kann aber auch das Recht auf Rechtschutz sein. Unterschiedlich ist, ob eine Strafe aus rechtlichen Erwägungen gerichtlich nicht überprüft wird oder ob sie einer Überprüfung deshalb nicht unterzogen wird, weil das Risiko einer höheren Strafe aus welchen Gründen auch immer als zu hoch angesehen wird. Das an und für sich unjuristische Bonmot, vor Gericht und auf hoher See sei man allein, hat hier einen verfassungsrechtlich ernstzunehmenden Hintergrund. Der BGH selbst hat in seiner wichtigen Entscheidung vom 26. 2. 2013 die Vorhersehbarkeit einer künftigen Ahndung als wichtigen rechtlichen Aspekt betont.23 Daß diese Anforderung nicht überstrapaziert werden darf, braucht nicht besonders betont zu werden. Vielleicht trifft der Begriff der Berechenbarkeit, der auch – geringere – Wahrscheinlichkeiten mit einbezieht, besser. 3. Bereits verneint wurde, daß das Rechtsstaatprinzip einer Verschlechterung im Rechtsmittelverfahren überhaupt keine Grenzen setzt. Die Grenzen liegen jedenfalls dort, wo sich eine Verschlechterungsmöglichkeit in eine faktische Verschlechterungsgewißheit – um nicht das pointierte, aber unzutreffende Wort Verschlechterungsgebot zu benutzen – verwandelt. Sie liegt aber vor der oben beschriebenen Tatsache, daß die Entscheidung dazu, Rechtsmittel einzulegen, immer aus einer Gemengelage von Rechts- und Tatsachenanalyse, Chancenund Risikoabschätzung sowie einem psychologischen Momentum geprägt wird, nämlich dort, wo schlicht das Maß der Verschlechterung prohibitiv wirkt. Das kann jedoch stark vom Einzelfall abhängen; bestimmte Geldstrafen können zumindest für Unternehmen existentiell sein. 4. Obwohl der Aspekt der fehlenden Vorhersehbarkeit bereits als vordergründig nicht betroffen qualifiziert wurde, gehört er im Rahmen des Art. 103 Abs. 2 GG zu einem Dreiklang Bestimmtheit, Vorhersehbarkeit i. S. v. Berechenbarkeit und Verbot systematischer Verschlechterung i. S. v. Verbot einer Verschlechterungsgewißheit dazu. Dieses folgt aus der systematischen Möglichkeit einer taktisch motivierten Einschätzung der eigenen sowie der Position des Betroffenen. Die faktische Wirkung der Abschreckung kann Behördenverhalten beeinflussen, weil es den Begründungsdruck bezogen auf die Entscheidung mindert. Die Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung des Bußgeldverfahrens darf nicht faktisch dadurch eingeschränkt werden, daß trotz eines formal rechtsstaatlichen Verfahrens systematisch das Risiko einer erheblichen Verschlechterung des Strafmaßes für den Betroffenen besteht, wenn dadurch systematisch die rechtliche und tatsächliche Überprüfung einer Behördenentscheidung wegen prozeßtaktischer Erwägungen unterlassen werden kann. Das folgt bereits aus der check- und balance-Funktion der Gewaltenteilung und der Verpflichtung des Staates, jeden An-
23
BGH Beschl. v. 26. 2. 2013 – KRB 20/12, Rdnr. 63.
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schein zu vermeiden, nicht streng fakten- und rechtsbasiert zu entscheiden.24 Mit dieser verfassungsrechtlichen Forderung ist der Staat in keiner Weise inhaltlich oder politisch auf bestimmte Entscheidungen festgelegt, und daher ist dieses unabhängig von der persönlichen Auffassung des Verfassers auch kein Plädoyer für geringere Kartellbußen. Regelungen, wie mit Befangenheit umzugehen ist, oder die Zurückverweisung an andere Gerichte als jene, über deren Entscheidungen im Rechtsmittelverfahren entschieden wurde, zeigen, daß der Staat solche Anscheinssetzungen an anderer Stelle vermeidet. IV. Fazit und Lösungsmöglichkeiten Zusammengefaßt liegt aus verfassungsrechtlicher Sicht das stärkste Argument, daß in Fällen der hier besprochenen Art der Art. 103 Abs. 2 GG betroffen ist, in der systematisch unterschiedlichen Rechtsauffassung zwischen Behörde und Gericht das Strafmaß betreffend. Der Staat darf Betroffene nicht systematisch in die Situation bringen, daß ihnen das Beschreiten des Rechtswegs faktisch erschwert wird, indem Straf- und Bußgeldrahmen bei Gericht zu höheren Strafen und Bußgeldern führen als bei der behördlichen Festsetzung. Er setzt sich sonst dem Anschein aus, dadurch entstehende Zwangslagen ausnutzen zu können. Die an und für sich daraus zwingende Folge ist paradoxerweise, daß das Bundeskartellamt verpflichtet ist, die Bußgeldbemessung nach oben an die des OLG Düsseldorf anzuheben, so wie es im umgekehrten Fall einer Bußgeldabsenkung selbstverständlich wäre – und sich auch automatisch einstellen würde, da sonst sämtliche Entscheidungen des Bundeskartellamtes im gerichtlichen Verfahren aufgehoben würden. Solange dieses jedoch nicht geschieht, ist eine interessante, aber hier nicht mehr zu erörternde Frage, ob Art. 103 Abs. 2 GG so weit geht, daß in Fällen wie diesen ein Verschlechterungsverbot greift oder ob die Rechtsmittelinstanz für den Fall einer beabsichtigten systematischen Verschlechterung dem Verfassungsgericht vorzulegen hat. Paradoxerweise setzt dies die Einlegung eines Rechtsmittels voraus, was vor dem Hintergrund der erheblichen Risiken einer Bußgelderhöhung wiederum den Mut erfordert, vor dem der Staat nach der hier vertretenen Auffassung den Betroffenen gerade schützen soll. Dem Verfassungsstaat stünde es gut, wenn in einer solchen Situation der Gesetzgeber seiner ihm zugewiesenen Pflicht nachkommt, rechtsgestaltend eine Klärung herbeizuführen. Ansonsten bleibt eine verfassungsrechtlich ungeklärte Frage offen.
24 Vor diesem Hintergrund ist auch die Strafreduzierung beim Deal oder die 10 %ige Bußgeldminderung beim Settlement verfassungsrechtlich nicht unbedenklich.
EGMR und Sport Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Rechtsfragen aus dem Bereich des Sports Von Rudolf Streinz I. Einleitung Die Auswirkungen des Europarechts als Recht der Europäischen Union auf den Sport sind durch zahlreiche Urteile des EuGH bekannt und wurden in mehreren von Klaus Vieweg organisierten Tagungen eingehend behandelt.1 Der vom EGMR im Jahr 2018 entschiedene Fall Pechstein2 machte deutlich, dass auch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und die zu deren Anwendung maßgebliche Rechtsprechung des EGMR als „Europarecht im weiteren Sinne“3 zunehmend an Bedeutung gewinnen. Daher sollen die Grundlagen dafür, wichtige davon erfasste Bereiche des Sports, daraus gezogene und noch zu ziehende Konsequenzen und sich abzeichnende weitere mögliche Problemfälle aufgezeigt werden.
II. Grundlagen Ebenso wie das Fehlen des Wortes „Sport“ bis zur Einfügung in Art. 165 AEUV durch den Vertrag von Lissabon4 den EuGH nicht daran hinderte, den Sport erheblich berührende Urteile zu fällen,5 wird der Sport auch ohne Erwähnung in der 1 Vgl. z. B. T. Groß, Rechtfertigungsmöglichkeiten von Sportverbänden bei Beschränkungen der Grundfreiheiten, in: K. Vieweg (Hrsg.), Perspektiven des Sportrechts, 2005, S. 37 – 61; R. Streinz, Europarechtliche Grenzen der Verbandsgerichtsbarkeit. Sport ist kein europarechtsfreier Raum, in: K. Vieweg (Hrsg.), Lex Sportiva, 2015, S. 121 – 141. 2 EGMR, Urt. v. 4. 10. 2018, Nr. 40575 und Nr. 67474/10 – Mutu und Pechstein/Schweiz, SpuRt 2018, 253 m. Anm. T. Hülskötter. Die Urteile des EGMR ergehen verbindlich in englischer und französischer Sprache (Art. 34 Abs. 1 VerfO EGMR). Hier und im Folgenden erfolgt die Zitierung aufgrund deutscher Übersetzungen und Bearbeitungen von J. Kornbeck (SpuRt) bzw. J. Meyer-Ladewig/H. Petzold (NVwZ, NVwZ-RR und NJW). 3 Vgl. dazu R. Streinz, Die Befassung des Europarats mit dem Sport, SpuRt 2018, 192 (195 f.). 4 Siehe dazu und zur Tragweite dieser Bestimmung M. Niedobitek, in: R. Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV-Kommentar, 3. Aufl. 2018, Art. 165 AEUV, Rn. 31 – 33, 45 – 49, 56. 5 Vgl. zum Berufssport insbesondere EuGH, C-415/93 – Bosman, SpuRt 1996, 59 und EuGH, C-519/04 – Meca-Medina, SpuRt 2006, 195 m. Anm. M.-E. Orth. Zum Amateursport zuletzt EuGH, C-22/18 – Daniele Biffi/DLV, SpuRt 2019, 169.
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EMRK und ihren Zusatzprotokollen durch die mit ihm verbundenen Einwirkungen auf die Grundrechte erfasst. Zwar enthält die EMRK anders als Art. 15 EU-Grundrechtecharta (GRCh) und die EU-Grundfreiheiten (Art. 45, Art. 49, Art. 56 AEUV) sowie Art. 12 GG keine über das Verbot der Sklaverei und Zwangsarbeit (Art. 4 EMRK) hinausgehende Gewährleistung der Berufsausübungsfreiheit.6 Berufssportler werden aber auch in anderen Rechten beschränkt, z. B. bei Dopingtests wegen der damit verbundenen medizinischen Untersuchungen7 sowie der Meldepflichten im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK). Sie unterliegen wegen des Ein-Platz-Prinzips8 dem Regelwerk des jeweiligen Verbandes einschließlich des „Schiedszwangs“, was wegen des damit verbundenen Ausschlusses der staatlichen Gerichte der Kontrolle auf Einhaltung eines fairen Verfahrens bedarf. Da der Court of Arbitration (CAS) als „Weltsportgerichtshof“9 seinen Sitz in der Schweiz hat und seine Urteile (einschränkt) vom Schweizerischen Bundesgericht angefochten werden können, wird der EGMR öfter mit Individualbeschwerden (Art. 34 EMRK) gegen die Schweiz, die sich als Vertragspartei der EMRK die Urteile ihres Bundesgerichts zurechnen lassen muss, befasst. Die präventiven und repressiven Zwangsmaßnahmen gegen bei Sportveranstaltungen auftretende Hooligans unterliegen den Einschränkungen des Art. 5 EMRK und können auch gegen Art. 3 EMRK verstoßen, der außer der Folter auch unmenschliche oder erniedrigende Strafen oder Behandlungen verbietet. Betroffen kann auch der Schulsport sein, wenn sich Eltern aus religiösen Gründen (Art. 9 EMRK) gegen Bekleidungsvorschriften oder gemischten Schwimmunterricht wenden. Anlässlich von Sportereignissen können ferner andere Grundrechte, z. B. die Freiheit der Meinungsäußerung (Art. 10 EMRK), beeinträchtigt sein. Soweit die Betroffenen mit den Entscheidungen der letzten Instanz (einschließlich eines Verfassungsgerichts) des jeweiligen nationalen Rechtswegs einer der 47 Vertragsparteien der EMRK unzufrieden sind, steht ihnen nach dessen Erschöpfung unter den Voraussetzungen des Art. 35 EMRK die Individualbeschwerde zum EGMR offen.
6 A. Behnsen, in: U. Karpenstein/F. C. Mayer (Hrsg.), EMRK-Kommentar, 2. Aufl. 2015, Art. 4, Rn. 18. Zum darauf gestützten Schutz vor besonders schweren Eingriffen in die Berufsfreiheit vgl. T. Marauhn, in: O. Dörr/R. Grote/T. Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2. Aufl. 2013, Kap. 12, Rn. 6. 7 Zum Schutz des Privatlebens des Einzelnen vor erzwungenen medizinischen Untersuchungen J. Pätzold, in: Karpenstein/Mayer (o. Fn. 6), Art. 8, Rn. 8. 8 Vgl. dazu I. Hannamann, Kartellverbot und Verhaltenskoordination im Sport, 2001, S. 54 ff. Kritisch zum Begriff „Prinzip“ P. Fischer, Die Rolle des Ein-Platz-Prinzips in der Autonomie der Sportverbände. Eine Untersuchung der exklusiven Organisationsstruktur im Sport, 2018, S. 151 f. 9 J. Wittmann, Schiedssprüche des Court of Arbitration for Sport vor schweizerischen und deutschen ordentlichen Gerichten, 2015, S. 4 ff.
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III. Erfasste Bereiche 1. Maßnahmen gegen Ausschreitungen bei Fußballspielen a) Polizeilicher Präventivgewahrsam für Hooligans Die Klage gegen die Kosten der Unterbringung in Polizeigewahrsam, die durch Ausschreitungen am Rande eines Fußball-Bundesligaspiels erfolgte, veranlasste das VG Hannover 2012 zur Prüfung der Vereinbarkeit des den polizeilichen Unterbindungsgewahrsam regelnden § 18 Abs. 1 Nr. 2 lit. a NdsSOG (jetzt NPOG) mit Art. 5 Abs. 1 EMRK, wobei es sich eingehend mit der bis dahin dazu ergangenen Rechtsprechung des EGMR auseinandersetzte.10 Das VG sah sich dazu zu Recht veranlasst, weil die Rechtsprechung des EGMR für alle deutschen Gerichte grundsätzlich Bindungswirkung hat.11 Die EMRK hat als völkerrechtlicher Vertrag in Deutschland durch die erfolgte Zustimmung der Gesetzgebungsorgane (Art. 59 Abs. 2 GG) den Rang eines einfachen Bundesgesetzes und geht daher bereits deshalb gemäß Art. 31 GG („Bundesrecht bricht Landesrecht“) den Landesgesetzen vor.12 Unabhängig davon ist Art. 2 Abs. 2 GG, der zu Freiheitsentziehungen ermächtigt, im Lichte des Art. 5 Abs. 1 EMRK auszulegen.13 Die EMRK als Bestandteil der in Deutschland geltenden Rechtsordnung entfaltet damit für die deutschen Organe und folglich auch für die den polizeilichen Präventivgewahrsam regelnden Landesgesetzgeber und die für den Vollzug zuständigen Behörden und Gerichte weitgehend die in Art. 1 Abs. 3 GG vorgesehene Bindungswirkung und erfährt dadurch quasi eine faktische Rangerhöhung.14 Der Unterschied zu Art. 2 Abs. 2 GG besteht darin, dass Art. 5 Abs. 1 EMRK die Zulässigkeit jeder Form von staatlicher Freiheitsentziehung abschließend regelt,15 indem er die materiellen Rechtfertigungsgründe erschöpfend aufzählt.16 Das VG Hannover sah keinen Verstoß gegen Art. 5 EMRK. Das OVG Lüneburg als Berufungsinstanz bestätigte dies 10
VG Hannover, NVwZ-RR 2012, 925. Grundlegend BVerfGE 111, 307 (322) – Görgülü. 12 Überwiegende Meinung, vgl. BVerfGK 10, 234 (239); M. Breuer, in: Karpenstein/Mayer (Fn. 6), Art. 46, Rn. 57; L. O. Michaelis, Der polizeiliche Präventivgewahrsam, JA 2014, 198 (200). A. A. mit der Begründung, Art. 31 GG erfasse nur Normen, die unter der Kompetenzordnung des GG erlassen wurden und sei mangels Bundeskompetenz für das Polizeirecht nicht anwendbar R. Uerpmann-Wittzack, Die Bedeutung der EMRK für den deutschen und den unionalen Grundrechtsschutz, JURA 2014, 916 (920 f.). 13 Grundlegend BVerfGE 74, 358 (370); BVerfGE 128, 326, Rn. 86 ff.; zuletzt BVerfGE 141, 1, Rn. 59. 14 Vgl. zu dieser (bedingten) „faktischen Rangerhöhung“ R. Streinz, in: M. Sachs (Hrsg.), GG-Kommentar, 8. Aufl. 2018, Art. 59, Rn. 65a m. w. N.; M. Breuer, in: Karpenstein/Mayer (o. Fn. 6), Art. 46, Rn. 47 ff. 15 W. Peukert, in: J. A. Frowein/W. Peukert, EMRK-Kommentar, 3. Aufl. 2009, Art. 5, Rn. 35. 16 Siehe dazu M. Heidebach, Der polizeiliche Präventivgewahrsam auf konventionsrechtlichem Prüfstand, NVwZ 2014, 554 (554 f.). 11
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im Ergebnis, folgte dem VG allerdings aufgrund der als „gefestigt“ bewerteten Rechtsprechung des EGMR insoweit nicht, als das VG Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. c EMRK als Rechtfertigungsgrund annahm, sondern stützte die Maßnahme auf Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. b EMRK.17 Die unterschiedlich interpretierte Rechtsprechung des EGMR warf seit längerem die Frage auf, ob der in Deutschland geregelte präventive Polizeigewahrsam mit Art. 5 EMRK vereinbar ist.18 Daher wurde das dazu anhängige Urteil des EGMR im Fall Ostendorf mit Spannung erwartet. Diesem lag ein Sachverhalt aus dem Jahr 2004 zugrunde, nach dem eine in der bundesweiten Datei „Gewalttäter Sport“ geführte Person, die mit weiteren, als „Hooligans“ eingestuften Fußballfans zu einem Spiel der Fußball-Bundesliga anreiste, aufgrund ihres Verhaltens eine Stunde vor Beginn des Spiels in Polizeigewahrsam genommen wurde, aus dem sie eine Stunde nach dessen Ende entlassen wurde. Die dagegen eingelegten Rechtsmittel zum VG Frankfurt a. M. und zum VGH Kassel blieben ohne Erfolg, das BVerfG lehnte die Annahme der Verfassungsbeschwerde am 26. 2. 2008 ohne Angabe von Gründen ab.19 Der EGMR kam zum Ergebnis, dass Art. 5 EMRK nicht verletzt ist, „weil der Gewahrsam des Beschwerdeführers in Einklang mit Art. 5 Abs. 1 lit. b EMRK stand“.20 Er bestätigt letztlich seine Rechtsprechung zu Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. c zweite Alternative EMRK, der zwar eine Freiheitsentziehung einer Person vorsieht, „wenn begründeter Anlass zu der Annahme besteht, dass es notwendig ist, sie an der Begehung einer Straftat … zu hindern“, der aber nur in Zusammenhang mit einem Strafverfahren gelte und daher für eine präventive Maßnahme nicht anwendbar sei. Die Rechtfertigung sah der EGMR, der ein generelles Verbot sicherheitsrechtlicher Präventivmaßnahmen ersichtlich vermeiden wollte, in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. b zweite Alternative EMRK, der eine Freiheitsentziehung zur „Erzwingung der Erfüllung einer gesetzlichen Verpflichtung“ erlaubt, die allerdings (über die allgemeine Verpflichtung zur Befolgung der Rechtsordnung hinausgehend) hinreichend bestimmt und konkret sein und gegenüber dem Betroffenen deutlich gemacht werden müsse, was hier der Fall war. Auch die weiteren Voraussetzungen der Einhaltung einer gesetzlichen Grundlage und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes lagen vor. Letzterer verlangt, dass nach Erreichung des Zwecks die Beendigung der Freiheitsentziehung erfolgen muss, da es sich um eine präventive und keine Strafmaßnahme handelt. Die Konstruktion des EGMR stieß auf Kritik, da der Ansatz über Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. c EMRK überzeugender gewesen wäre.21
17
OVG Lüneburg, NVwZ-RR 2014, 552 (556 f.). Vgl. dazu Heidebach (o. Fn. 16), NVwZ 2014, 554 m. w. N. 19 Siehe zum Sachverhalt NVwZ 2014, 43. 20 EGMR (V. Sektion), Urt. v. 7. 3. 2013, Nr. 15598/08 – Ostendorf/Deutschland, NVwZ 2014, 43, Rn. 105. 21 Heidebach (o. Fn. 16), NVwZ 2014, 556 ff.; W.-D. Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 10. Aufl. 2018, Rn. 141. 18
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In einem 2018 entschiedenen „Hooligan“-Fall folgte dem die Große Kammer des EGMR und änderte die Rechtsprechung des Gerichtshofs.22 Sie bestätigt zwar grundsätzlich das Urteil Ostendorf, sieht aber angesichts des der EMRK insgesamt zugrunde liegenden Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit eine restriktive Auslegung des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. b EMRK geboten und daher für diesen keine Anwendung, „solange keine bestimmten Maßnahmen angeordnet worden sind, denen der Betroffene nicht nachgekommen ist“. Die Große Kammer erkennt das Problem, dass dies bei polizeilichen Präventivmaßnahmen, wie der konkrete Fall offenbarte, kaum zutrifft, es der Polizei aber „nicht unmöglich gemacht werden“ dürfe, „ihre Pflicht zu erfüllen, die Ordnung aufrechtzuerhalten und die Öffentlichkeit zu schützen, wobei sie das Art. 5 EMRK zugrunde liegende Prinzip beachten muss, den Einzelnen vor Willkür zu schützen“. Daher „muss gelten, dass die rechtmäßige Freiheitsentziehung einer Person außerhalb eines Strafverfahrens grundsätzlich nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. c EMRK zulässig sein kann“, wenn die weiteren Voraussetzungen (gesetzliche Grundlage, Verhältnismäßigkeit, Dauer, Beendigung der Freiheitsentziehung vor richterlicher Entscheidung, die nur zu ihrer Verlängerung führen würde), erfüllt sind.23 Damit wird den Erfordernissen der polizeilichen Anwendungspraxis entsprochen, ohne die gebotenen rechtsstaatlichen Anforderungen zu lockern.24 b) Nachverfolgbarkeit von Polizeimaßnahmen Nach einem Spiel der Fußball-Regionalliga in München zwischen FC Bayern München II und TSV 1860 München II beschwerten sich Fans gegen den Einsatz von Pfefferspray und Schlagstöcken durch Polizeibeamte. Die Ermittlungen wurden gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt, da die Fans die Beamten, die sie angegriffen haben sollen, nicht ermitteln konnten, weil diese Schutzhelme mit Visier und Uniformen ohne Namensschilder oder sichtbare Identifikationsnummern getragen hatten. Nachdem Rechtsmittel erfolglos waren und das BVerfG die Verfassungsbeschwerden unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR nicht zur Entscheidung angenommen hatte,25 erhoben zwei Betroffene Individualbeschwerde zum EGMR wegen Verletzung von Art. 3 EMRK (Verbot von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung) und Art. 13 EMRK (Recht auf wirksame Beschwerde). Der EGMR verneinte mangels hinreichender Beweise zwar die materielle Verletzung von Art. 3 EMRK, sah die Bestimmung aber in verfahrensrechtlicher Hinsicht verletzt und sprach den Beschwerdeführern jeweils 2000 Euro zu. Denn es habe keine wirksame Untersuchung gegeben, „weil der Einsatz von behelmten Po22
Zur Abgabe der Rechtssache an die Große Kammer in einem solchen Fall siehe Art. 30 EMRK. 23 EGMR, Urt. v. 22. 10. 2018, Nr. 35553/12, 36678/12, 36711/12 – S. V. und A./Dänemark, NVwZ 2019, 135 (Nr. 83 – 87, 116, 122) – m. Anm. J. M. Hoffmann. 24 Vgl. auch J. M. Hoffmann, NVwZ 2019, 141 (142 f.). 25 BVerfG, NStZ-RR 2015, 347.
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lizeibeamten ohne identifizierende Kennzeichnung und die daraus bei den Ermittlungen entstandenen Schwierigkeiten nicht hinreichend durch andere Ermittlungsmaßnahmen ausgeglichen worden sind“.26 c) Gerichtliches Stadionverbot Wegen der Beteiligung an Ausschreitungen am Rande eines Fußballspiels von Dynamo Zagreb verhängte das zuständige kroatische Gericht neben einer kurzen Freiheitsstrafe ein Stadionverbot von einem Jahr für Heimspiele dieser Mannschaft und, als der Betroffene mehrfach im Rahmen von Auswärtsspielen randalierte, auch hinsichtlich dieser ein Stadionverbot von einem Jahr. Gegen dieses Verbot erhob der Betroffene Individualbeschwerde zum EGMR und rügte einen Verstoß gegen Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK (Verbot der Doppelbestrafung – ne bis in idem). Der EGMR erklärte die Beschwerde einstimmig für unzulässig, weil der Anwendungsbereich der Bestimmung nicht eröffnet sei. Das zweite Verbot sei anders als das erste keine strafrechtliche Verurteilung, sondern eine Maßnahme der Gefahrenabwehr.27 2. Bekämpfung von Doping Die effektive Bekämpfung von Doping im Sport verlangt offenbar Maßnahmen, die mit rechtsstaatlichen Prinzipien wie der Unschuldsvermutung in Konflikt kommen28 und mit erheblichen Eingriffen in Grundrechte der Athleten verbunden sind.29 Mit dem Eingriff in das durch Art. 8 EMRK geschützte Recht auf Privatheit durch den vom französischen Gesetzgeber im Sportgesetz (Code du Sport) geschaffenen Rechtsrahmen zur nationalen Umsetzung der Meldepflichtregelung („Whereabouts“) gemäß dem World Anti-Doping Code (WADC) wurde der EGMR durch mehrere Individualbeschwerden befasst. Erhoben hatten diese französische Sportgewerkschaften und u. a. die französische Spitzenradsportlerin Jeannie Longo nach Ablehnung ihrer Klage bzw. ihrer Anträge durch den französischen Conseil d’État. Die dadurch verursachte Beeinträchtigung der von Art. 8 EMRK garantierten Rechte war unstreitig, so dass es auf deren Rechtfertigung anhand
26 EGMR, Urt. v. 9. 11. 2017, Nr. 47274/15 – Hentschel und Stark/Deutschland, NJW 2018, 3763 (Nr. 103). Siehe auch SpuRt 2018, 25 (zum Sachverhalt) und M. G. Daimagüler/ N. Drexler, Die individuelle Kennzeichnung von Polizistinnen und Polizisten in geschlossenen Einsätzen, NVwZ 2018, 1530 (1531 f.). 27 EGMR, Urt. v. 9. 1. 2018, Nr. 10120/15 – S./Kroatien. Mitgeteilt von H. Sauer, Bericht über die Rechtsprechung des EGMR in Verfahren gegen andere Staaten als Deutschland im Jahr 2018, S. 30 f. Deutschland hat das 7. Zusatzprotokoll zwar 1985 unterzeichnet, bislang aber nicht ratifiziert. Zu von Fußballvereinen auf privatrechtlicher Grundlage verhängten Stadionverboten BVerfGE 148, 267. 28 Vgl. dazu J. Kleen, Perspektiven nationaler und internationaler Dopingbekämpfung, 2019, S. 68 ff. m. w. N. 29 Vgl. dazu Kleen (o. Fn. 28), S. 54 ff. m. w. N.
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der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Voraussetzungen ankam.30 Mit dem Sportgesetz besteht eine gesetzliche Regelung, „die die Sportler und ihre Trainer in die Lage versetzt, ihre Aktivitäten danach zu planen und damit angemessen gegen willkürliche Entscheidungen geschützt zu sein“.31 Die legitime Zielsetzung sieht der EGMR im Gesundheitsschutz sowohl von Berufs- als auch von Amateursportlern, insbesondere auch von jüngeren Sportlern und in der Fairness sportlicher Wettbewerbe. Um „notwendig in einer demokratischen Gesellschaft“ zu sein, muss für den Eingriff ein dringendes soziales Bedürfnis bestehen und dieser in Bezug auf das rechtmäßig verfolgte Ziel verhältnismäßig sein. Der EGMR sieht die Gefahren des Dopings und die Erforderlichkeit der Feststellung von Dopingmethoden innerhalb einer kurzen Zeitspanne hinreichend belegt. Durch die Aktivitäten des Europarats32 und das UNESCO-Übereinkommen33, mit dem aufgrund seiner Form als völkerrechtlicher Vertrag die Integration des WADC in das nationale Recht der Vertragsstaaten ermöglicht wurde, sei zudem ein europaweiter und weltweiter Meinungskonsens vorhanden. Er kommt bei der Normenabwägung im vorliegenden Fall zum Ergebnis, dass trotz der nicht zu unterschätzenden Auswirkungen der Meldepflichtregelung auf das Privatleben die Beweggründe des Interesses der Allgemeinheit, die die Regelung erforderlich machen, von besonderer Bedeutung sind und die Einschränkungen rechtfertigen. Würden die beanstandeten Pflichten reduziert oder abgeschafft, könnten dadurch die Gefahren des Dopings für die eigene Gesundheit der Beschwerdeführer sowie die „der gesamten sportlichen Gemeinschaft“ gesteigert werden, was den europa- und weltweiten gemeinsamen Ansichten zur Erforderlichkeit der Durchführung unangemeldeter Kontrollen widersprechen würde.34
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Vgl. zu den einzelnen Prüfungsschritten J. Pätzold, in: Karpenstein/Mayer (o. Fn. 6), Art. 8, Rn. 90 ff.; J. Meyer-Ladewig/M. Nettesheim, in: J. Meyer-Ladewig/M. Nettesheim/ S. von Raumer (Hrsg.), EMRK-Kommentar, 4. Aufl. 2017, Art. 8, Rn. 101 ff. 31 Zur Umsetzung des Welt Anti-Doping Code in Deutschland J. Adolphsen, in: Vieweg, Perspektiven des Sportrechts (o. Fn. 1), S. 82 ff. Zum Umgang mit insoweit relevanten personenbezogenen Daten vgl. § 9 Nr. 9 AntiDopG v. 10. 12. 2015 (BGBl. I 2210). 32 Vgl. dazu Streinz (o. Fn. 3), SpuRt 2018, 194. Darauf beruhen die Anti-Doping Convention vom 16. 11. 1989, European Treaty Series Nr. 135 und das Additional Protocol dazu vom 12. 9. 2002, European Treaty Series Nr. 188. 33 International Convention against Doping in Sport vom 19. 10. 2005, ratifiziert von 189 Staaten. 34 EGMR, Urt. v. 18. 1. 2018, Nr. 48151/11 und 77769/13 – FNASS u. a./Frankreich, SpuRt 2018, 62 (Nr. 151, 160 ff., 191). Die Aufdeckung von Doping im Berufssport (Radsport) und die damit verbundenen gesundheitlichen Probleme als Frage von „erheblichem öffentlichem Interesse“ war für den EGMR, Urt. v. 28. 6. 2018, Nr. 15054/07, 15066/07 – Ressiot u. a./ Frankreich, NJW 2013, 3709 (Nr. 114 ff., 121 ff., 127) ein wichtiger Gesichtspunkt, Durchsuchungsmaßnahmen gegen die Redaktion einer darüber berichtenden Zeitung trotz deren Verletzung der Vertraulichkeit einer gerichtlichen Voruntersuchung durch Veröffentlichung von Unterlagen aus Ermittlungsakten als Verletzung von Art. 10 EMRK (Freiheit der Meinungsäußerung) zu beanstanden.
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3. Schulsport Mit der Religion des Islam begründete Kleidungsvorschriften für Frauen35 haben den EGMR in Fällen beschäftigt, in denen Eltern die Teilnahme ihrer Töchter am Schulsport von Bedingungen abhängig machten oder verweigerten. In Flers (Frankreich) erschienen elf- bzw. zwölfjährige Musliminnen in der ersten Klasse der Sekundarschule wiederholt mit einem Kopftuch bekleidet zum Turnunterricht und kamen der Aufforderung der Lehrerin, dieses abzunehmen, nicht nach. Sie wurden daraufhin von der Schule ausgeschlossen und erhielten Fernunterricht. Die auf Verletzung des Art. 9 EMRK (Religionsfreiheit) gestützten Individualbeschwerden hielt der EGMR einstimmig für unbegründet, da der Eingriff unter Berücksichtigung der Umstände des Falles und des staatlichen Ermessensspielraums36 gerechtfertigt und verhältnismäßig sei. Als legitimes Ziel wurde der Schutz des in Frankreich Verfassungsrang genießenden Prinzips des Säkularismus gesehen, dem insbesondere in Schulen erhebliche Bedeutung zukomme. Die Entscheidung, das Tragen eines Kopftuchs sei aus Gesundheits- und Sicherheitsgründen mit dem Turnunterricht unvereinbar, sei nicht unangemessen, zumal dies auf den Turnunterricht beschränkt war. Zudem seien die Behörden mit den Betroffenen zur Konfliktlösung in Dialog getreten und konnte die schulische Ausbildung durch Fernunterricht fortgesetzt werden.37 Im Kanton Basel-Stadt sind Schüler verpflichtet, am Schwimmunterricht teilzunehmen. Als gläubige Muslime weigerten sich Eltern, ihre Töchter am gemeinsamen Schwimmunterricht für Jungen und Mädchen teilnehmen zu lassen, worauf die Schulbehörde gegen sie Bußgelder verhängte. Nach erfolgloser Erschöpfung des Rechtswegs erhoben sie Individualbeschwerde zum EGMR, gestützt auf Art. 9 EMRK.38 Der EGMR entschied, dass die Schweizer Behörden und Gerichte „den weiten Ermessensspielraum, der ihnen in diesem die Schulpflicht betreffenden Fall zusteht“, nicht überschritten haben. Als legitimes Ziel billigte der EGMR die soziale Integration in der Schule durch einen umfassenden gemeinsamen Unterricht. Zudem hätten die Behörden „sehr flexible Möglichkeiten“ angeboten, „welche die
35 Vgl. dazu – bezogen auf den Berufssport – N. Hoevels, Rechtsprobleme muslimischer Sportler in Deutschland, in: Vieweg, Perspektiven des Sportrechts (o. Fn. 1), S. 63 (75 f.) 36 Zum mitgliedstaatlichen Ermessensspielraum („margin of appreciation“) im Rahmen des Art. 9 EMRK siehe A. von Ungern-Sternberg, in: Karpenstein/Mayer (o. Fn. 6), Art. 9, Rn. 43 ff. 37 EGMR, Urt. v. 4. 12. 2008, Nr. 31645/04 – Kervanci/Frankreich; EGMR, Urt. v. 4. 12. 2008, Nr. 27058/05 – Dogru/Frankreich, NVwZ 2010, 693. 38 Lex specialis dazu wäre grundsätzlich Art. 2 Satz 2 2. Zusatzprotokoll zur EMRK (Recht auf Bildung), der das Recht der Eltern garantiert, die Erziehung und den Unterricht ihrer Kinder „entsprechend ihren eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen“. Dieses Protokoll wurde von der Schweiz aber nicht ratifiziert. Materiell ergibt die Prüfung insoweit nach Ansicht des EGMR keinen Unterschied.
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Folgen der Teilnahme der Kinder am gemeinsamen Schwimmunterricht für die religiösen Überzeugungen der Eltern mildern könnten“.39 4. Anforderungen an Schiedsgerichte Der wenig überzeugende Schiedsspruch des CAS im Fall Pechstein vom 25. 11. 200940 wirft eine Reihe von Rechtsfragen auf.41 Zutreffend bezweifelte das LG München I die „Freiwilligkeit“ der zugrunde liegenden Schiedsvereinbarung und die Neutralität des CAS und übte Kritik an der „erstaunlichen“ Beweiswürdigung des CAS angesichts des Hinweises des Sachverständigen auf die Aufklärung einer Blutkrankheit als mögliche Ursache für zu hohe Retikulozytenwerte.42 Das OLG München hielt den Schiedsspruch des CAS wegen Verstoßes gegen grundlegende Bestimmungen des Kartellrechts und damit gegen den ordre public als nicht anerkennungsfähig. Wegen der Abhängigkeit der Zulassung zu Wettkämpfen der ISU von einer Schiedsvereinbarung zugunsten des CAS, dessen Neutralität angesichts des strukturellen Übergewichts der Verbände bei den Vorgaben für die Besetzung des für eine konkrete Streitigkeit zuständigen CAS-Kollegiums grundsätzlich in Frage stehe, liege der Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung vor.43 Dagegen billigte der BGH mit wenig überzeugenden und zum Teil einander widersprechenden Argumenten den Schiedsspruch des CAS. Er anerkannte den CAS als Schiedsgericht im Sinne von § 1025 Abs. 2, § 1032 Abs. 1 ZPO, verneinte den Missbrauch der Marktmacht der ISU, sah keine durchgreifenden Probleme in der Verfahrensordnung des CAS und verneinte eine Verletzung des Justizgewähranspruchs (Art. 2 Abs. 1 GG), der Berufsfreiheit (Art. 12 GG) und des Rechts auf ein durch Art. 6 Abs. 1 EMRK gewährleistetes faires Verfahren.44 Das Urteil des BGH stieß weitgehend auf Kritik.45 Claudia Pechstein hat dagegen Verfassungsbeschwerde erhoben.46 Da das Schweizerische Bundesgericht die Anfechtung des
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EGMR, Urt. v. 10. 1. 2017, Nr. 29086/12 – Osmanog˘ lu und Kocabas¸/Schweiz, NVwZRR 2018, 505 (Nr. 96 – 97, 101, 105). 40 CAS, Schiedsspruch v. 25. 11. 2009, 2009/A/1912 – Claudia Pechstein/International Skating Union (ISU). 41 Siehe dazu R. Streinz, Europarechtliche Vorgaben für die autonome Sportgerichtsbarkeit – Folgen des Falles Claudia Pechstein, in: M. Ludwigs (Hrsg.), Festschrift für M. Schmidt-Preuß, 2018, S. 463 (466 ff.). 42 LG München I, SpuRt 2014, 113 (116 ff., 119 f., 124). 43 OLG München, SpuRt 2015, 78 (79 ff.) und Leitsätze. Siehe zu beiden Urteilen auch J. F. Orth, Zur Zukunft der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit im Sport – auch in Deutschland, SpuRt 2015, 230 (231 ff.). 44 BGH, SpuRt 2016, 163 (164 ff.) und Leitsätze. 45 Siehe dazu die Nachweise bei Streinz (o. Fn. 41), S. 468, Fn. 31 und 32. 46 Die 2016 erhobene Verfassungsbeschwerde (1 BvR 2103/16) ist nach wie vor anhängig und wird im Jahresbericht 2020 des BVerfG unter Nr. 12 aufgeführt. Berichterstatter ist jetzt BVR Prof. Dr. A. Paulus.
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Schiedsspruchs des CAS abgewiesen47 und ihren Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens (Revision) abgelehnt hat,48 wandte sie sich 2010 mit einer Individualbeschwerde an den EGMR und rügte eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK. Der EGMR verband diese Beschwerde mit der des rumänischen Fußballspielers Adrian Mutu, da auch dieser sich gegen ein Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts49 wandte und eine Verletzung der Garantien des Art. 6 Abs. 1 EMRK durch einen Schiedsspruch des CAS rügte.50 Während die Beschwerde von Adrian Mutu gänzlich erfolglos blieb, sah der EGMR immerhin in der Nichtöffentlichkeit der mündlichen Verhandlung im Schiedsverfahren von Claudia Pechstein vor dem CAS eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK und verurteilte die Schweiz zur Zahlung von Schadenersatz in Höhe von 8.000 Euro.51 Im Übrigen sah die Mehrheit des Gerichts52 keinen Verstoß. Die Anwendung von Art. 6 Abs. 1 EMRK als Maßstab für den CAS begründet der EGMR damit, „dass, obschon die Schiedsklausel nicht per Gesetz, sondern aufgrund der ISU-Regelung aufgezwungen“ worden war, die Zustimmung der Beschwerdeführerin zur CAS-Schiedsgerichtsbarkeit im Sinne einer ,erzwungenen‘ Einwilligung im Sinne der Rechtsprechung erfolgt ist“.53 Damit wird zutreffend gesehen, dass angesichts des Ein-Platz-Prinzips für Berufssportler ein „Schiedszwang“ besteht, als dessen Folge an ein Schiedsgericht die Anforderungen gestellt werden müssen, die für ein durch die Schiedsvereinbarung grundsätzlich ausgeschlossenes staatliches Gericht gelten. Dazu gehören dessen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit. Insoweit hat der EGMR hinsichtlich des CAS keine durchgreifenden Bedenken.54 Dagegen erhebt das Sondervotum überzeugende Einwände wegen des überwiegenden Einflusses der Verbände als Partei auf die Zusammensetzung der Schiedsrichter, so dass dem CAS bereits der Anschein der Unabhängigkeit fehle.55 Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des CAS werfe eine „schwerwiegende Frage der Auslegung oder Anwendung“ der EMRK im Sinne von Art. 43 Abs. 2 EMRK auf und die strukturellen Probleme des CAS hätten daher ebenso wie die Fragen seiner Zuständigkeit „nach strengeren Maßstäben geprüft werden müssen“.56 Art. 43 Abs. 2 EMRK sieht für solche Fälle eine Verweisung an die Große Kammer vor. Der dazu gemäß Art. 43 Abs. 1 EMRK 47
SchweizBG, Urt. v. 10. 2. 2020, Causa Sport 2010, 185. SchweizBG, Urt. v. 28. 9. 2010. 49 SchweizBG, Urt. v. 10. 6. 2010. 50 EGMR (o. Fn. 2). 51 EGMR (o. Fn. 2), SpuRt 2018, 259 (Nr. 169 – 83, 195). 52 Insoweit ablehnendes Sondervotum der Richter Keller und Serghides, SpuRt 2018, 259 – 261. 53 EGMR (o. Fn. 2), SpuRt 2018, 256 (Nr. 115). 54 Ebda., Nr. 138 – 159. 55 Sondervotum (o. Fn. 52), Nr. 5 – 16,28. J. F. Orth, Claudia Pechstein: Im Westen wenig Neues! (Editorial), SpuRt 2018, 233 sieht im Sondervotum „noch das Lesenswerteste dieser Entscheidung“. 56 Sondervotum (o. Fn. 52), Nr. 30. 48
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gestellte Antrag von Claudia Pechstein wurde aber gemäß Art. 43 Abs. 2 EMRK abgelehnt,57 so dass das Urteil der Kammer gemäß Art. 44 Abs. 2 EMRK rechtskräftig wurde. IV. Folgen 1. Reaktionen auf das Urteil im Fall Pechstein Als erste Reaktion des CAS auf die Entscheidung des EGMR im Fall Pechstein erfolgten Pressemitteilungen, dass über öffentliche Verhandlungen nachgedacht worden sei und dass das Schiedsverfahren zwischen dem Fußballclub Paris Saint-Germain und der UEFA vom 5. 11. 2018 auf Wunsch der Parteien vertraulich sein würde58 – somit keine der Parteien ein öffentliches Verfahren gefordert hatte. Die Verfahrensordnung des CAS sieht jetzt59 für Berufungsverfahren gegen Entscheidungen von Sportverbänden, die in ihren Statuten dafür den CAS vorsehen, auf Antrag der von einer Disziplinarmaßnahme betroffenen Person grundsätzlich eine öffentliche Anhörung vor.60 Gleiches gilt für die Veröffentlichung von Entscheidungen des CAS, es sei denn, beide Parteien einigen sich auf Vertraulichkeit.61 Damit wurde dem erfolgreichen Teil der Individualbeschwerde Rechnung getragen, zumal der EGMR deutlich gemacht hatte, dass auf Schiedsverfahren, denen, wie beim CAS, die Betroffenen faktisch zwangsweise unterliegen, der Maßstab des Art. 6 EMRK anzulegen ist.62 Dies ist die notwendige Bedingung für den angesichts des internationalen Charakters des Sports legitimen grundsätzlichen Ausschluss des jeweiligen nationalen Rechtswegs durch Schaffung eines Weltsportgerichts. Obwohl die Mehrheit der den Fall entscheidenden Richter gegen die Organisation und die Verfahrensordnung des CAS keine durchgreifenden Bedenken hatte, sollte dieses Urteil auch angesichts der überzeugenden Einwände des Sondervotums den CAS veranlassen, diese insbesondere durch eine Reform des Bestimmungsverfahrens der Schiedsrichterliste und vor allem des Bestimmungsrechts über den Panelvorsitz63 zu überarbeiten.64 Denn schon wegen der erhebli-
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Mitteilung des EGMR vom 5. 2. 2019. T. Hülskötter, SpuRt 2018, 261 (263). 59 Code of Sports-related Arbitration. Fassung vom 1. 7. 2020. 60 Special Provisions Applicable to the Appeal Arbitration Procedure, R 57. 61 Ebda., R 59. 62 Zu kontroversen Ansichten dazu vgl. Wittmann (o. Fn. 9), S. 62 ff. 63 Dies betrifft nicht nur Streitigkeiten zwischen Athleten und Verbänden, wie der am 29. 7. 2020 mit 2 zu 1 entschiedene Fall Manchester City/UEFA zeigt, bei dem es zu einer an sich gemäß der Verfahrensordnung auch für die von den Parteien benannten Richter auszuschließenden Interessenkollision kam, die zudem auch die letztlich entscheidende Benennung des Vorsitzenden erfasste. Siehe dazu den Kommentar von C. Catuogno („Wenn der Kläger seinen Richter aussuchen darf“) in Süddeutsche Zeitung v. 30. 7. 2020 (www.sz.de/1.4983035). 58
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chen Folgen seiner Urteile bedarf der CAS für die Akzeptanz seiner Rechtsprechung einer vertrauenswürdigen Grundlage. 2. Rezeption der EGMR-Rechtsprechung in Deutschland Deutsche Gerichte beziehen sich häufig direkt auf Art. 5 EMRK.65 Seit dem Fall Ostendorf ist geklärt, dass ein präventiver Polizeigewahrsam zulässig ist, allerdings nur unter strikter Beachtung der EMRK-Vorgaben, insbesondere der hinreichend konkreten Bestimmung und Zuordnung der Gefahr und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Dies erfordert die Anlegung eines strengen Maßstabs, weshalb die Ingewahrsamnahme eines nur vermeintlichen „Hooligans“ unzulässig ist.66 Im Fall Hentschel und Stark schreibt der EGMR zwar nicht ausdrücklich eine Pflicht zur individuellen Kennzeichnung von Polizeibeamten vor, legt diese aber nahe, weil andernfalls erheblich gesteigerte Anforderungen an das Ermittlungsverfahren gestellt werden. Der EGMR berücksichtigt durch die Empfehlung einer Identifikationsnummer (sog. pseudonyme Kennzeichnung) auch aus Gründen des Datenschutzes berechtigte Belange der betroffenen Polizisten. Daraus sind die gebotenen Konsequenzen zu ziehen.67 Das BVerwG hat die gesetzliche Pflicht für uniformierte Polizeivollzugsbedienstete zum Tragen eines Namensschilds und einer Kennzeichnung bei einem Einsatz in einer geschlossenen Einheit für verfassungsmäßig gehalten68 und dabei auf das Urteil des EGMR hingewiesen.69 Obwohl Urteile des EGMR grundsätzlich nur inter partes wirken,70 sind sie auch in Parallelfällen zu beachten, auch dann, wenn diese andere Mitgliedstaaten betreffen.71 Ohne auf diese einzugehen, hat das BVerwG wie der EGMR die Teilnahme einer Schülerin muslimischen Glaubens am koedukativen Schwimmunterricht für zumutbar gehalten und dabei auf die Integrationsfunktion eines gemeinsamen Unterrichts hingewiesen.72 Dem durch praktische Konkordanz gebotenen Ausgleich zwischen der Glaubensfreiheit und dem staatlichen Bestimmungs-
64 Zu erforderlichen Reformen des CAS R. Lungstras, Das Berufungsverfahren vor dem Court of Arbitration for Sport (CAS) im Lichte der Verfahrensgarantien gemäß Art. 6 EMRK, 2019, S. 259 ff., 407 ff. 65 B. Elberling, in: Karpenstein/Mayer (o. Fn. 6), Art. 5, Rn. 2. 66 Zutreffend OVG Lüneburg, SpuRt 2020, 42 m. Anm. G. Müller-Eiselt. 67 Siehe dazu Daimagüler/Drexler (o. Fn. 26), NVwZ 2018, 1535. 68 BVerwG, NVwZ 2020, 247 (Nr. 14 ff.) zu § 9 Abs. 2 BbgPolG. 69 Ebda., Nr. 51. 70 Breuer, in: Karpenstein/Mayer (o. Fn. 6), Art. 46, Rn. 31. 71 Zur „Orientierungs- und Leitfunktion“ von Urteilen des EGMR BVerfGE 128, 326, Rn. 89 ff.; Breuer, in: Karpenstein/Mayer (o. Fn. 6), Art. 46, Rn. 45 f. 72 BVerwG, NVwZ 2014, 81 (Nr. 12 ff., 20). Siehe dazu A. Uhle, Integration durch Schule, NVwZ 2014, 541. Die dagegen erhobene Verfassungsbeschwerde war mangels hinreichender Substantiierung unzulässig, BVerfG, NVwZ 2017, 227.
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recht im Schulwesen diene die Zulassung eines Burkini als den muslimischen Vorschriften entsprechende Badekleidung.73 V. Mögliche weitere Problemfälle Sollte die erhobene Verfassungsbeschwerde erfolglos sein, ist eine erneute Befassung des EGMR mit dem Fall Pechstein zwar möglich, aber wenig aussichtsreich.74 Vor den EGMR könnten aber Fragen gelangen, die mit neuen Entwicklungen verbunden sind, die auch den Sport betreffen. Zu denken ist z. B. an Probleme des Datenschutzes, die sich aus der Digitalisierung im Sport75 ergeben. Bereits aufgeworfen wurde die Frage, welche Folgen das Urteil des BVerfG zum „dritten Geschlecht“ neben Frau und Mann76 für den Sport haben kann.77 Bereits aktuell wurde die Frage der Zuordnung zur männlichen und weiblichen „Leistungsklasse“ in der Leichtathletik im Fall Caster Semenya. Der CAS hat die DSD-Regelungen des IAAF als legitim und verhältnismäßig und die darin liegende unterschiedliche Behandlung weiblicher/intersexueller Athleten durch die Notwendigkeit separater Leistungsklassen im Spitzensport als gerechtfertigt angesehen. Soweit es bei der Implementierung der DSD-Regelungen zu praktischen Schwierigkeiten kommen kann, etwa bei von den Athletinnen nicht zu vertretenden Schwankungen des Testosteronwerts, bedürfe es allerdings einer erneuten Überprüfung.78 Die Berufung dagegen hat das Schweizerische Bundesgericht zurückgewiesen.79 VI. Fazit Fragen des Sportrechts können bis zum EGMR gelangen, und zwar auch bei Fällen des CAS mittels Individualbeschwerden gegen die Schweiz aufgrund von die CAS73 BVerwG (o. Fn. 72), Nr. 25 f., wobei auf das Problem einer dadurch möglichen religiösen „Stigmatisierung oder Ausgrenzung“ eingegangen wird. 74 Die Individualbeschwerde würde sich dann gegen Deutschland richten. Angesichts des Urteils des EGMR (o. Fn. 2) und der fehlenden Verweisung an die Große Kammer durch den dafür zuständigen Ausschuss (Art. 43 Abs. 2 EMRK) ist ungeachtet der Einwände der Sondervoten (o. Fn. 52) ein abweichendes Urteil sehr unwahrscheinlich. Anders als im Fall Pechstein hinsichtlich des CAS sah der EGMR, Beschl. v. 28. 1. 2020, Nr. 30226/10 u. a. – Ali Riza u. a./Türkei, SpuRt 2020, 180 (Rn. 215 – 222) strukturelle Mängel im Einfluss der Organisation auf die Besetzung des Schiedsgerichts des Türkischen Fußballverbands und wegen der dadurch fehlenden Sicherung der Unabhängigkeit eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK. 75 Vgl. dazu K. Vieweg (Hrsg.), Rechtsfragen der Digitalisierung im Sport, 2020. 76 BVerfGE 147,1. 77 B. Pfister, Das „dritte Geschlecht“ im Sport (Editorial), SpuRt 2018, 1. Zur Zuordnung von Intersexuellen A. Jakob, Das Geschlecht als sportliche Zugangsregelung, SpuRt 2018, 143 (145 ff.). 78 CAS, Schiedsspruch v. 30. 4. 2019, SpuRt 2019, 211. 79 SchweizBG, Urt. v. 25. 8. 2020, Az. 4 A_248/2019, 4 A_398/2019.
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Schiedssprüche nicht beanstandenden Urteilen des Schweizerischen Bundesgerichts. Wie allgemein bei Urteilen von Gerichten stoßen auch die des EGMR auf unterschiedliche Bewertungen, je nach Interessenlage und Betroffenheit. Generell zeigen aber gerade die den Sport betreffenden Entscheidungen das Bestreben, zu realistischen und angemessenen Lösungen „moderner sozialer Probleme“ zu gelangen,80 ohne die notwendige Kontrollfunktion eines Gerichts zu vernachlässigen. Das Sportrecht als Referenzgebiet erweist auch hier seine Faszination81 als inter- und intradisziplinäre Materie.
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So die Intention des EGMR, vgl. EGMR (o. Fn. 23), NVwZ 2019, 138 (Rn. 103). Vgl. dazu K. Vieweg, Faszination Sportrecht, in: U. Steiner/W.-D. Walker (Hrsg.), Von „Sport und Recht“ zu „Faszination Sportrecht“. Ausgewählte Schriften von Klaus Vieweg, 2016, S. 689. 81
Schusswaffen, Sport und Recht Eine kriminologisch-rechtspolitische Betrachtung Von Franz Streng I. Einleitung Wenn man im wissenschaftlichen Œuvre des Jubilars nach Anknüpfungen für einen Festschriftbeitrag sucht, wird man sehr schnell auf die Trias von Sport, Technik und Recht stoßen. Betrachtet man als Strafrechtler und Kriminologe alle drei Aspekte im Zusammenhang, führt das zu einem kriminologisch durchaus interessanten, in Deutschland von der Wissenschaft allerdings stiefmütterlich behandelten Themenkomplex, nämlich Schusswaffen-Kriminalität, Schießsport/Jagd und Waffenkontrolle.1 Die folgenden Ausführungen sollen sich dem widmen, wobei ein vergleichender Blick ins Ausland – schwerpunktmäßig in die USA – unverzichtbar sein wird. Im kriminologischen Bereich erfolgt aus Gründen der Darstellungsökonomie eine Konzentration auf vorsätzliche Tötungsdelikte. II. Quantifizierungen 1. Schusswaffenkriminalität in Deutschland Im Jahre 2018 wurden laut der vom Bundeskriminalamt (BKA) herausgegebenen Polizeilichen Kriminalstatistik des Bundes (PKS) in 8.343 Fällen bei Straftaten Schusswaffen verwendet; das waren 0,15 % der 5.555.520 polizeilich registrierten Straftaten insgesamt. In 3.819 Fällen wurde gedroht, in 4.524 Fällen wurde geschossen. Bezüglich des Schießens werden dabei nur Fälle der Nutzung von „echten“ Schusswaffen (vgl. § 1 WaffG) gezählt.2 Gedroht mit Waffen wurde insbesondere bei Freiheitsdelikten und bei Raubtaten.3 Die Drohungsfälle bleiben fürs Weitere freilich unberücksichtigt, da es dabei häufig
1 In der Lehrbuchliteratur lässt sich verweisen immerhin auf Ulrich Eisenberg/Ralf Kölbel, Kriminologie, 7. Aufl., Tübingen 2017, § 59 Rn. 22 ff.; vgl. ferner Günther Kaiser, Kriminologie. Ein Lehrbuch, 3. Aufl., Heidelberg 1996, § 38 Rn. 11. 2 Vgl. BKA (Hrsg.), PKS 2018, Band 1, S. 11, 30 f.; BKA (Hrsg.), Waffenkriminalität. Bundeslagebild 2018, S. 5 ff. 3 Vgl. BKA (Hrsg.), PKS 2018, Band 1, S. 31 f.
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auch um Drohung unter Nutzung lediglich von Scheinwaffen oder Schreckschusswaffen geht. Geschossen wurde besonders häufig in Fällen der Sachbeschädigung, nämlich in 24,1 % aller Fälle des Schießens, was aber nur 0,2 % aller Fälle dieses quantitativ bedeutsamen Deliktsbereichs betraf. Immerhin 14,1 % der Fälle des Schießens betrafen qualifizierte Körperverletzungen, was aber lediglich 0,47 % der entsprechenden Delikte ausmachte. Fragt man nach Deliktsarten, bei welchen der Anteil der Begehung mittels Schießens hoch ist, dann verwundert es nicht, wenn die Jagdwilderei mit 22,6 % führt; es folgen Straftaten nach dem Bundesnaturschutz-, Tierschutz- und Jagdgesetz mit 6,2 %. Erst dann folgen die Tötungsdelikte (Mord, Totschlag, Tötung auf Verlangen) mit 4,3 % der 2.471 Fälle (einschl. Versuch) des Jahres 2018.4 Eine Quantifizierung der Schusswaffenverwendung speziell bei den 544 vollendeten vorsätzlichen Tötungsdelikten5 ergibt einen Anteil von 7,7 %.6 Dass das Schießen bei Gewaltdelikten früher deutlich häufiger vorkam, belegt etwa die PKS des Jahres 2000, der zufolge in 12,7 % aller Fälle vorsätzlicher Tötungsdelikte (Vollendung und Versuch) geschossen worden war.7 Ganz ähnlich weist die PKS des Jahres 1980 eine Schusswaffen-Verwendung in 13,1 % aller Fälle vorsätzlicher Tötungsdelikte (auch hier einschließlich Versuch) nach.8 Speziell hinsichtlich vorsätzlicher Tötungen listet eine Köln und Hamburg erfassende ältere rechtsmedizinische Studie die Todesursachen auf; für 1946 bis 1967 ergab sich in diesem Untersuchungsmaterial ein Anteil von 13,9 % des Todes durch Erschießen.9 Unverkennbar zeigt sich mithin, dass in Deutschland der Einsatz von Schusswaffen über die Jahrzehnte abgenommen hat. Derzeit erweist sich im Bereich der schweren Delikte gegen die Person das Schießen als ein eher seltenes Ereignis.
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Vgl. BKA (Hrsg.), PKS 2018, Band 1, S. 32 i. V. m. S. 17 f.; a. a. O., Band 4, S. 12. Die auffällige Diskrepanz zwischen der Zahl versuchter und der Zahl vollendeter Tötungsdelikte erklärt sich aus der Neigung vieler Polizeibehörden, qualifizierte Körperverletzungsdelikte als Fälle des versuchten Totschlags zu registrieren. Dies führt wiederum zu einer hohen Rate staatsanwaltlicher Herabstufung scheinbarer Tötungsdelikte in Körperverletzungsdelikte. Vgl. Klaus Sessar, Rechtliche und soziale Prozesse einer Definition der Tötungskriminalität, Freiburg i. Br. 1981, S. 200 ff.; Christian Pfeiffer/Peter Wetzels, „Die Explosion des Verbrechens?“ Zu Missbrauch und Fehlinterpretation der polizeilichen Kriminalstatistik, Neue Kriminalpolitik 2/1994, S. 32, 36. 6 Vgl. BKA (Hrsg.), Waffenkriminalität 2018, S. 8: in 42 der 544 vollendeten vorsätzlichen Tötungen wurde geschossen. 7 Vgl. BKA (Hrsg.), PKS 2000, S. 53. 8 Vgl. BKA (Hrsg.), PKS 1980, S. 19. 9 Vgl. Günther Dotzauer/Klaus Jarosch, Tötungsdelikte 1946 – 1967 in Köln und Hamburg, (BKA) Wiesbaden 1971, S. 118. – Detailliert zur langfristigen Entwicklung ab 1971 vgl. Sabine Noback, Waffenrecht und Tötungsdelinquenz, 2015, S. 164 ff., 208 ff. 5
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2. Schusswaffenkriminalität im Ausland – speziell in den USA Etwas oberhalb der deutschen Zahlen liegen diejenigen aus den Nachbarländern Österreich und Schweiz. In Österreich wurde 2018 in 6,8 % der 190 Mordfälle (11,7 % bei den 60 Fällen von Tatvollendung) eine Schusswaffe eingesetzt und in der Schweiz im selben Jahr in 11,1 % der 208 vorsätzlichen Tötungsdelikte (einschl. Versuch).10 Deutlich markanter fällt die Nutzung von Schusswaffen als Tatwerkzeug bei Gewaltdelikten, speziell als Tötungswerkzeug, in anderen Teilen der Welt aus. In Ländern Lateinamerikas und der Karibik dominiert die Schusswaffen-Verwendung als Vorgehensweise bei Tötungsdelikten – bei zugleich sehr hohen Raten vorsätzlicher Tötung.11 Durch zahlreiche Medienberichte bekannt ist die in den USA besonders häufige Nutzung von Schusswaffen als Tötungswerkzeug. So weist die Kriminalstatistik der USA anhand der Mordopfer des Jahres 2018 das Erschießen in 72,7 % der 14.123 Fälle nach, für 2016 in 67,7 % der 15.318 Fälle und für 2014 in 63,6 % der 12.278 Fälle;12 durchaus auf dieser Linie liegen ältere Daten des FBI.13 Der aktuell wie auch früher in den USA als Tötungswerkzeug ganz dominierende Schusswaffentyp ist die Kurzwaffe (Pistole; Revolver) mit einem Anteil von 90,4 % in denjenigen Mordfällen des Jahres 2018, bei welchen der Schusswaffentyp näher spezifiziert wurde.14 3. Waffenbesitz Eine Schätzung seitens der in Genf verorteten Forschungsinstitution „Small Arms Survey“ benennt für Deutschland 15,8 Millionen Schusswaffen in privater Hand. Gemäß dieser Schätzung entfallen in Deutschland 19,6 Schusswaffen auf 100 Einwohner, demgegenüber in der Schweiz 27,6 und in Österreich 30,0 Schusswaffen.15 10 Vgl. Österreichisches Bundeskriminalamt (Hrsg.), Die Polizeiliche Kriminalstatistik 2018, S. 23, 25 (zusätzl. Tabelle Waffenverwendung in Österreich); Schweizerische Eidgenossenschaft. Bundesamt für Statistik (Hrsg.), Polizeiliche Kriminalstatistik. Jahresbericht 2018, S. 35, 37 f. 11 Vgl. Geneva Declaration Secretariat (Hrsg.), Global Burden of Armed Violence. Every Body Counts, 2015, S. 75 f. (Internet-Veröffentlichung). 12 Vgl. 2018 Crime in the United States, hrsg. vom FBI/Department of Justice – Expanded Homicide Data Table 8: Murder Victims by Weapon 2014 – 2018 (Internet-Veröffentlichung). 13 Vgl. FBI (Hrsg.), Uniform Crime Reports (= UCR)1993, S. 18: in 69,6 % der Fälle von murder wurden Schusswaffen genutzt; im Jahr 2000 waren es 65,6 % (UCR 2000, S. 19). Eine Reihe älterer quantitativer Studien wird wiedergegeben bei Marvin E. Wolfgang, Patterns in Criminal Homicide, Philadelphia 1958, S. 90 ff. 14 Vgl. Fn. 12. – Langwaffen hatten einen Anteil von 7,3 % und sonstige Schusswaffen von 2,3 %. 15 Vgl. Aaron Karp, Estimating Global Civilian-Held Firearms Numbers (Small Arms Survey, Briefing Paper 2018), S. 4; vgl. für den im deutschen Nationalen Waffenregister registrierten Waffenbesitz die „Antwort der Bundesregierung“, BT-Drs. 18/13082, S. 2 f.
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Ganz andere Dimensionen lassen sich für die USA aufzeigen: Der Bestand an privaten Schusswaffen wird auf 393,3 Millionen geschätzt, was 120,5 Schusswaffen pro 100 Einwohner ergibt.16 Diese außergewöhnliche Waffenverbreitung dürfte zum einen mit der Besiedlungsgeschichte der USA – etwa der Eroberung des Westens „mit der Waffe in der Hand“ – zu tun haben, zum anderen mit den tiefgreifenden innergesellschaftlichen Konflikten.17 Festmachen lässt sich als psychologischer Hintergrund der derzeitigen Waffenverbreitung ein besonders bei den Waffenbesitzern vorhandenes Gefühl, sich vor Angriffen schützen zu müssen – selbst wenn sie in einem sehr sicheren Ambiente zu Hause sind.18
III. Waffen und Tötungsdelikte: Zusammenhänge und Kausalitäten Naheliegend ist, dass die sofortige bzw. ungehinderte Greifbarkeit von Schusswaffen einen wesentlichen Einfluss auf die Nutzung dieser als Tötungswerkzeuge hat. Wobei sich ein Einfluss nicht nur auf das Fassen eines Tatentschlusses, sondern auch auf die Letalität des Angriffs ergeben kann. In einer älteren Studie des Verfassers ließ sich anhand der Daten der USA bezüglich des regional unterschiedlichen Ausmaßes der Verbreitung von Schusswaffen eine entsprechend mehr oder wenig häufige Nutzung dieser als Tötungswerkzeuge belegen. Je größer dabei der Erschießens-Anteil war, umso höher war dann auch die Zahl der vorsätzlichen Tötungen. Abzusichern war dieser Zusammenhang durch den Vergleich von Staaten oder Städten mit gleicher allgemeiner Kriminalitätsbelastung oder Gewaltkriminalität, aber unterschiedlicher Verbreitung von Schusswaffen; auch hier erwies sich, dass die Tötungsrate in den schusswaffenreichen Regionen oder Städten regelmäßig deutlich höher war als in den eher schusswaffenarmen.19 Diese Befunde sprechen dafür, dass Schusswaffen bei der Entstehung und Durchführung von Gewaltkriminalität nicht lediglich andere Waffen ersetzen,20 sondern ihnen ein eigenständiger kriminogener Effekt zukommt. 16 Vgl. Karp (Fn. 15), S. 4; ferner James B. Jacobs, Can Gun Control Work?, Oxford 2002, S. 38 ff. 17 Vgl. etwa Jacobs (Fn. 16), S. 11, 214. 18 Vgl. Wolfgang Stroebe/Pontus Leander/Arie Kruglanski, Is it a Dangerous World Out There? The Motivational Bases of American Gun Ownership, Personality and Social Psychology Bulletin 43 (2017), 1071 ff.; ferner Gary Kleck, Point Blank. Guns and Violence in America, New York 1991, S. 32 ff. 19 Vgl. Franz Streng, Schußwaffen-Kriminalität. Das Verhältnis des Täters zu seiner Waffe und die Bedeutung der Schusswaffe für Entstehung und Verlauf der Tat, Kriminalistik 1977, 197, 203 f. 20 Vgl. auch Frank Zimring, Is Gun Control Likely To Reduce Violent Killings?, University of Chicago Law Review 35 (1968), 721, 728 ff., 735 f.; Philip J. Cook, The Technology of Personal Violence, Crime & Justice: A Review of Research 14 (1991), 1, 14 ff., 33 ff.; Eric Fleegler/Lois Lee/Michael Monuteaux u. a., Firearm Legislation and Firearm-Related Fatalities in the United States, JAMA Internal Medicin 173 (2013), 732, 737, 739; anders etwa Wolfgang (Fn. 13), S. 82 f.
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Bestätigt wird dieses Ergebnis durch neuere, methodisch komplexer angelegte Studien aus den USA, die neben der allgemeinen Kriminalitätssituation weitere sozio-demographische Dimensionen als Kontrollvariablen integrieren.21 Auch ein weltweiter Staatenvergleich mit Daten aus 36 Ländern unter Kontrolle wesentlicher intervenierender Variablen gelangte zu dem Ergebnis, dass die Häufigkeit der vorsätzlichen Tötungsdelikte mit und wegen der Rate des Schusswaffenbesitzes in der Bevölkerung ansteigt.22 Gleichwohl ist bei der Interpretation derartiger, anhand von Aggregatdaten ermittelter Zusammenhänge zu beachten, dass die Schusswaffendichte auch mit einer spezifischen Mentalität zusammenhängen dürfte, die als solche schon gewalttätige Problemlösungen begünstigen und damit die Mordrate beeinflussen kann.23 Wenig überzeugend mutet es hingegen an, die Korrelation zwischen Waffenbesitz-Häufigkeit und Rate der Tötungsdelikte schwerpunktmäßig in der Weise zu interpretieren, dass die Bürger in Kenntnis verbreiteter Gewaltkriminalität schon aus Gründen der Eigensicherung dazu motiviert seien, Schusswaffen zu kaufen.24 Diesem Ansatz zufolge handelt sich bei den gemessenen Zusammenhängen um ein bloßes Kovariieren (Scheinkorrelation) der Variablen Waffenbesitz und Tötungsrate, wobei beide von der Kriminalitätsrate-Variable maßgeblich beeinflusst werden. Der Vorstellung, dass die Waffenbesitzrate bloßer Indikator für eine bestimmte Kriminalitätslage ist, jedoch keinen entscheidenden kausalen Beitrag zu dieser liefert, erscheint bereits mit Blick auf die oben dargestellten Zusammenhänge25 wenig plausibel. Und besonders nachdrücklich ist ihr angesichts von Ergebnissen aus international ländervergleichenden Untersuchungen, die Staaten mit ganz unterschiedlich restriktiven waffenrechtlichen Regelungen umfassen,26 zu widersprechen.27 Dabei 21 Vgl. Michael Siegel/Craig Ross/Charles King, The Relationship Between Gun Ownership and Firearm Homicide Rates in the United States, 1981 – 2010, American Journal of Public Health 103 (2013), 2098 ff.; ferner Matthew Miller/Deborah Azrael/David Hemenway, Firearm Availability and Suicide, Homicide, and Unintentional Firearm Deaths among Women, Journal of Urban Health 79 (2002), 26, 33 ff. 22 Vgl. Anthony Hoskin, Armed Americans: The Impact of Firearms Availability on National Homicide Rates, Justice Quarterly 18 (2001), 569, 586 ff. 23 Vgl. aber die kritische Bestandsaufnahme zur Hypothese einer gewaltorientierten spezifischen Südstaatenkultur bei Jo Dixon/Alan Lizotte, Gun Ownership and the „Southern Subculture of Violence“, American Journal of Sociology 93 (1987), 383, 384 ff., 397 ff. 24 So dezidiert Gary Kleck, The Relation Between Gun Ownership Levels and Rates of Violence in the United States, in: Don B. Kates (Hrsg.), Firearms and Violence. Issues of Public Policy, Cambridge, Mass. 1984, S. 99, 124 ff., 131 f. 25 Vgl. oben Fn. 19 – Fn. 22. 26 In Ländern mit restriktiven Waffengesetzen reicht ein Hinweis auf die Kriminalitätslage nicht aus, um für den daran interessierten Bürger ein waffenrechtlich relevantes Besitzbedürfnis und -recht zu begründen. Wenn zudem kein leicht zugänglicher Waffen-Schwarzmarkt vorhanden ist, lässt es sich ausschließen, dass die Gewaltkriminalitätslage sich auf die Waffenbesitz-Häufigkeit erheblich auswirkt. Ein messbarer Zusammenhang zwischen Waffenbesitzrate und Tötungsdeliktsrate kann dann nicht als bloßes Kovariieren interpretiert werden.
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fällt auf, dass der Zusammenhang zwischen landesspezifischer Waffenbesitzrate und Tötungsrate am stärksten für die Tötung von Frauen belegt ist.28 Hierfür bedeutsam ist, dass eine weite Verbreitung von Schusswaffen vor allem deren heimische Verfügbarkeit mit sich bringt. Die dort ungehinderte Zugriffsmöglichkeit auf die Waffe wirkt sich bei familiären Gewalttätigkeiten, deren Opfer zumeist Frauen sind, dann häufig fatal aus.29 Diese anhand von Aggregatdaten gewonnenen Interpretationen werden erhärtet durch stärker individualisierende Studien. In diesen zeigt sich, dass das tatsächliche Vorhandensein von Schusswaffen in einem Haushalt das Risiko des Begehens (oder Erleidens) von Tötungsdelikten erhöht. Dabei erwiesen sich durch die Greifbarkeit von Schusswaffen nicht Außenstehende als besonders gefährdet, sondern Partner, Familienangehörige, Freunde oder Nachbarn des Waffenbesitzers.30 Ein Streben, sich durch Waffenbesitz gegen den imaginierten „bösen Fremden“ zu schützen, führt paradoxerweise zu gesteigerten Gefahren für den Nahbereich. Differenzierungen in der Gewaltdeliktsgefährdung durch Schusswaffen lassen sich auch hinsichtlich des jeweiligen Urbanitätsgrads feststellen. Eine neuere USamerikanische Studie belegt, dass in ländlichen Gebieten die Rate vorsätzlicher Tötungen nicht mit der Häufigkeit von Schusswaffenbesitz zusammenhängt. Ganz anders ist das in städtischen Gebieten, wo die Häufigkeit von Waffenbesitz positiv mit der Häufigkeit von Tötungsdelikten korreliert.31 Dafür könnte zum einen die auf dem Lande eher konventionelle Nutzungswidmung bezüglich Schusswaffen, nämlich häufig im Sinne von Jagdausübung und Schießsport, mitverantwortlich sein. Zum anderen zeigt bereits die allgemein höhere Kriminalitätsrate in den großen Städten ein dort stärkeres Konfliktpotential an, das sich dann auch in der Waffennutzung nie27
Vgl. Hoskin (Fn. 22), 586 f., 587 f.; vgl. auch die USA-interne Studie von Fleegler/Lee/ Monuteaux u. a. (Fn. 20), 735 ff. 28 Vgl. Martin Killias/John van Kesteren/Martin Rindlisbacher, Guns, violent crime, and suicide in 21 countries, Canadian Journal of Criminology 2001, 429, 438, 442; Martin Killias/ André Kuhn/Marcelo F. Aebi, Grundriss der Kriminologie. Eine europäische Perspektive, 2. Aufl., Bern 2011, Rn. 734; ferner Miller/Azrael/Hemenway (Fn. 21), 33 ff., 36. 29 Zur Tötung gerade von Frauen durch ihre Partner vgl. Alexia Cooper/Erica Smith, Homicide Trends in the United States, 1980 – 2008 (November 2011 – U. S. Department of Justice; Bureau of Justice Statistics), S. 10, 18 ff.: 41,5 % der weiblichen Mordopfer wurden von einem Intimpartner getötet, im Jahr 1980 geschah dies in 69,5 % und im Jahr 2008 in 53 % der Fälle mittels Schusswaffe. Für Deutschland vgl. BKA (Hrsg.), PKS 2018, Band 2, S. 28: 56,5 % der vorsätzlich getöteten Frauen, aber nur 27 % der Männer, waren der Täter-OpferBeziehung „Ehe, Partnerschaft, Familie“ zuzuordnen. 30 Vgl. Arthur Kellermann/Frederick Rivara/Norman Rushforth u. a., Gun Ownership as a Risk Factor for Homicide in the Home, The New England Journal of Medicine 329 (1993), 1084, 1087 ff.; Michael Siegel/Yamrot Negussie/Sarah Vanture u. a., The Relationship Between Gun Ownership and Stranger and Non-Stranger Firearm Homicide Rates in the United States, 1981 – 2010, American Journal of Public Health 104 (2014), 1912, 1916 f. 31 Vgl. Matthew Moore, Firearms Prevalence and Homicide: An Examination of Urban and Suburban Counties, Criminal Justice Review 42 (2017), 315, 321 ff.
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derschlägt. Insbesondere wirkt sich die dort in Gangs und Jugendbanden sowie unter Drogenhändlern verbreitete illegale Bewaffnung aus.32 Dass Schusswaffen tatsächlich einen originären Beitrag zur Entstehung von Gewaltkriminalität liefern, wird auch durch Befunde aus einem psychologischen Experiment nahegelegt. Berkowitz und LePage zeigten, dass gereizte, frustrierte Versuchspersonen erheblich aggressiver agierten, wenn sie eine Schusswaffe im Blickfeld hatten, als wenn ein neutrales oder gar kein Werkzeug sichtbar war. Daraus schlossen sie, dass Objekte, die durch „kulturelles Lernen“ mit Aggressionen verknüpft sind – also in ganz besonderem Maße Schusswaffen – bei gereizten Personen „aggressionsauslösende Stimuli“ darstellen und so den entscheidenden Anstoß zur Begehung gewalttätiger Handlungen geben können.33 Eine Aktenuntersuchung des Verfassers zur Schusswaffenkriminalität betraf Tötungsdelikte, bezüglich derer forensisch-psychiatrische Begutachtungen der vierzehn Beschuldigten erfolgt waren. Anhand von sieben dieser Fälle zeigte sich, dass Schusswaffenbesitz ganz besonders für labile und unsichere Menschen attraktiv sein kann, um ein Gefühl von Stärke und Durchsetzungsfähigkeit zu gewinnen.34 Der Besitz der eine scheinbare Überlegenheit verleihenden Waffe verleitete dann zu Aktionen, die die Handelnden völlig überforderten.35 Die Täter gerieten schließlich in Panik und schossen ohne Überlegung. Die vermeintlich das Selbstwertgefühl stabilisierende Bewaffnung entfaltete hier eine Eigendynamik, die gerade für labile Schusswaffenträger nicht mehr kontrollierbar war.36 In diesem Zusammenhang sei an die Aussage von Verhaltensforschern erinnert, dass Menschen umso ungehemmter und skrupelloser töten und verletzen, je schneller 32
Vgl. etwa Alfred Blumstein, Youth Violence, Guns, and the Illicit-Drug Industry, The Journal of Criminal Law & Criminology 86 (1995), 10, 26 ff., 31 f.; Alfred Blumstein, Schusswaffen und Jugendgewalt, in: Wilhelm Heitmeyer/John Hagan (Hrsg.), Internationales Handbuch der Gewaltforschung, Wiesbaden 2002, S. 819, 832 ff.; Cooper/Smith (Fn. 29), S. 26, 30; Brandon Turchan/Anthony Braga, Firearms and Violence, in: Alexander T. Vazsonyi/Daniel J. Flannery/Matt De Lisi (Hrsg.), The Cambridge Handbook of Violent Behavior and Aggression, 2. Aufl., Cambridge/UK 2018, S. 687, 691; ferner Chris Melde/Finn-Aage Esbensen/Terrance Taylor, „May Piece Be with You“: A Typological Examination of the Fear and Victimization Hypothesis of Adolescent Weapon Carrying, Justice Quarterly 26 (2009), 348, 361, 366, 370 f. 33 Vgl. Leonard Berkowitz/Anthony LePage, Weapons as Aggression-Eliciting Stimuli, Journal of Personality and Social Psychology 7 (1967), 202 ff.; Methodenkritik dazu bei Ernst Ulrich Dobler, Schußwaffen und Schußwaffenkriminalität in der Bundesrepublik Deutschland. Psychosoziologische und kriminologisch-kriminalistische Aspekte, Frankfurt a. M. 1993, S. 172 ff. 34 Auch in einer großen Kohortenstudie wurden gerade bei den jungen Schusswaffenbesitzern besonders häufig psychiatrisch relevante Symptome festgestellt; vgl. Martin Killias/ Henriette Haas, The Role of Weapons in Violent Acts. Some Results of a Swiss National Cohort Study, Journal of Interpersonal Violence 17 (2002), 14, 23 ff. 35 Vgl. auch William Wells/Julie Horn, Weapon Effects and Individual Intent to Do Harm: Influences on The Escalation of Violence, Criminology 40 (2002), 265, 290. 36 Vgl. Streng (Fn. 19), 198 ff.
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wirkend und weiter reichend ihre Waffen sind. Ethologen betonen, dass die instinktiven Tötungshemmungen des Menschen umso weniger lang und intensiv von dem Opfer angesprochen und wachgerufen werden können, je schneller die Tötung erfolgt und je weiter der Angreifer dabei von seinem Opfer entfernt ist. Dies gilt in besonderem Maße „für die modernen Fernwaffen, bei deren Gebrauch wir gegen alle hemmungsauslösenden, mitleiderregenden Reizsituationen weitgehend abgesichert sind“.37 Eine besonders intensive Gefahrenlage ergibt sich bei Verfügbarkeit von Schusswaffen für Personen mit gravierenden psychischen Störungen (Schizophrenie; Persönlichkeitsstörung). Evident ist die Gefahrenlage bei Geistesgestörten mit Rachegelüsten oder mit wahnhafter Annahme einer individuellen oder gesellschaftlichen Notwehrlage.38 Komplexer ist die Situation regelmäßig bei school shootings. Typischerweise treffen hier unerfüllte Geltungswünsche, Depressivität und narzisstische Störung zusammen; durch eine große Gewalttat in Form des Erschießens möglichst vieler Menschen möchte sich der vom Leben enttäuschte und rachsüchtige Täter wenigstens ewigen „Nachruhm“ (im Internet) verschaffen.39 IV. Der rechtliche und gesellschaftliche Rahmen des Waffenbesitzes Nach dem Ende des Nachkriegs-Besatzungsregimes galt das 1938 in Kraft getretene Reichswaffengesetz in seinen sicherheitsrechtlichen Teilen ab 1955 als Landesrecht in der Bundesrepublik fort.40 Nach einem Intermezzo in Form des neben die Landesgesetze getretenen Bundeswaffengesetzes von 1968 mit seinen Spezialregelungen trat 1973 als umfassende waffenrechtliche Kodifizierung das neue Waffenge-
37 Konrad Lorenz, Das sogenannte Böse, Wien 1963, S. 361 f.; vgl. auch Irenäus EiblEibesfeldt, Krieg und Frieden aus der Sicht der Verhaltensforschung, München 1975, S. 115, 146. 38 Markante Fallschilderung bei Hans-Ludwig Kröber, Hanau – ein schizophrener Gesinnungstäter?, Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie (FPPK) 14 (2020), 220 ff.; allgemein Wolfgang Böker/Heinz Häfner, Gewalttaten Geistesgestörter. Eine psychiatrischepidemiologische Untersuchung in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1973, S. 209 f.; Britta Bannenberg/Petra Bauer, Psychopathologie von Amoktätern, Rechtsmedizin 2017, 162, 164 ff. 39 Vgl. Jens Hoffmann/Karoline Roshdi/Frank Robertz, Zielgerichtete schwere Gewalt und Amok an Schulen, Kriminalistik 2009, 196, 200 ff.; Britta Bannenberg/Petra Bauer/Alexandra Kirste, Erscheinungsformen und Ursachen von Amoktaten aus kriminologischer, forensischpsychiatrischer und forensisch-psychologischer Sicht, FPPK 8 (2014), 229, 233 f.; Norbert Nedopil, Gekränkte Eitelkeiten. Terroristische Einzelkämpfer, FPPK 8 (2014), 246, 248 ff.; ferner Franz Streng, Ansätze zur Gewaltprävention bei Kindern und Jugendlichen, Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik 2010, 227, 234 f.; Eisenberg/Kölbel (Fn. 1), § 57 Rn. 16; Frank Neubacher, Kriminologie, 4. Aufl., Baden-Baden 2020, Kap. 24 Rn. 10 ff. 40 Vgl. Alexander Mayer, Das Waffenrecht in Bayern, München 1955, S. 13 f.; Jörg-Henning Gerlemann/Bernd Heinrich, in: Gerlemann/Heinrich/Heinrich/Papsthart, Waffenrecht, 10. Aufl., München 2015, Einl. WaffG Rn. 11 f.
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setz (WaffG) als Bundesgesetz in Kraft.41 Eine Überarbeitung im Jahre 2002 schuf das Gesetz, das im Grundsatz heute gilt.42 Angesichts der (oben in III) angesprochenen kriminogenen Potentiale des Schusswaffenbesitzes sind der Erwerb, der Besitz und das Führen von Schusswaffen in Deutschland einigermaßen restriktiv geregelt. Danach ist Erwerb und Besitz scharfer Schusswaffen (§ 1 WaffG) nur zulässig für Jäger, Sportschützen, Brauchtumsschützen, Waffensammler, Waffensachverständige und gefährdete Personen. Zudem muss die am Waffenerwerb interessierte Person der zuständigen Genehmigungsbehörde neben einem Bedürfnis für den konkreten Waffenbesitz auch ihre Sachkunde im Umgang mit Waffen nachweisen und es muss von der Behörde die Zuverlässigkeit sowie die persönliche Eignung des Antragstellers bejaht werden (§§ 4 ff., 13 ff. WaffG). Sonderregelungen gelten für Waffenhersteller, Waffenhändler, Schießstätten und Bewachungsunternehmer (§§ 21 ff. WaffG). Der größte Schießsportverband ist der Deutsche Schützenbund mit derzeit etwa 1.355.000 Mitgliedern; dabei ist einzukalkulieren, dass die Zahl aktiver Schützen, die also ein Bedürfnis für Waffenbesitz nachweisen können, niedriger anzusetzen ist. Einen – freilich unvollständigen – Hinweis hierfür mag liefern, dass für 2017 im Nationalen Waffenregister rd. 270.000 Sportschützen-Waffenbesitzkarten nachgewiesen worden sind.43 Der Bund Deutscher Sportschützen (BDS), der stärker auf praxisnahes und dynamisches Schießen mit großkalibrigen Waffen ausgerichtet ist, hat ca. 80.000 Mitglieder.44 Bemerkenswert erscheint, dass dieser Schießsportverband mit seiner Ausrichtung gerade auch auf militär- und polizeinahe Schießsportdisziplinen waffenrechtliche Bedürfnisse (§ 14 Abs. 2 WaffG) für den Erwerb von spezifischen großkalibrigen Waffen begründet, was sowohl unter dem Aspekt der Gefahrenpotentiale der verwendeten Waffen als auch wegen der Ausrichtung des hier gepflegten Schießtrainings kritische Aufmerksamkeit verdient.45 Die durch den Erfolg des BDS erkennbar gewordene große Nachfrage nach Großkaliber-Schießdisziplinen hat auch beim Deutschen Schützenbund zum Ausbau seiner Schießsport-Angebote geführt. 41 Für Details des WaffG 1973 vgl. Noback (Fn. 9), S. 141 ff. – Zur ablehnenden Reaktion vieler Waffenbesitzer auf die restriktiven Elemente dieses Gesetzes, insbesondere auf die mit großem Misstrauen wahrgenommene Waffen-Anmeldepflicht, vgl. Franz Streng, Zur Kriminalität der braven Bürger. Bericht aus einer Subkultur, Kriminologisches Journal 1977, 205 ff.; Dobler (Fn. 33), S. 21 ff. 42 Vgl. zur Waffengesetz-Historie etwa Gerlemann/Heinrich (Fn. 40), Einl. WaffG Rn. 13 ff.; Noback (Fn. 9), S. 39 ff., 139 f., 169 f.; Bernd Heinrich, in: Münchener Kommentar zum StGB, Bd. 8: Nebenstrafrecht III, 3. Aufl., München 2018, Vor § 1 WaffG Rn. 5 ff.; weiter ausgreifende historische Betrachtung bei Dagmar Ellerbrock, Waffenkultur in Deutschland, Aus Politik und Zeitgeschichte 64 (2014), 40 ff. 43 Vgl. „Antwort der Bundesregierung“, BT-Drs. 18/13082, S. 3. 44 Vgl. die Website des BDS – Sportschießen mit Vergnügen. 45 Problematisierung einer der hier betriebenen dynamischen Schießsportdisziplinen in „Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses“, BT-Drs. 16/13423, S. 8 f.
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Neben den Sportschützen stellen die derzeit ca. 388.000 Jäger/Jägerinnen46 die zweite große gesellschaftliche Gruppe mit Waffenbesitz dar. Für Mitglieder dieser Gruppe ist nach Absolvieren der Jägerprüfung mit dem Erwerb eines gültigen Jahresjagdscheins ohne weiteres das Waffenerwerbs- und -besitzrecht für Langwaffen sowie für zwei Kurzwaffen gegeben (§ 13 WaffG). Der – auch für europäische Verhältnisse – in Deutschland relativ seltene private Besitz von Schusswaffen (oben II.3) hängt mit den eben skizzierten Regelungen zusammen, die sich über die Jahrzehnte hinweg schrittweise und mit einschränkender Tendenz entwickelt haben.47 Etwa wurden nach Aufsehen erregenden Mehrfachmorden bzw. Amokläufen Bewaffneter in den Jahren 2002 (Erfurt) und 2009 (Winnenden) restriktive Regelungen für den Erwerb von Großkaliberwaffen durch unter 25jährige eingeführt und es wurden die Vorschriften zur häuslichen Verwahrung bzw. Sicherung von Waffen und Munition erneut verschärft.48 Das dabei erkennbare, dosierte Reagieren auf die sich aus Schusswaffenbesitz ergebende Gefahren steht in deutlichem Gegensatz zu Großbritannien, wo nach dem Amoklauf eines – mit behördlicher Genehmigung mehrere Schusswaffen besitzenden – Mannes in der Dunblane Primary School (Schottland) im Jahr 1996 der private Schusswaffenbesitz radikal delegitimiert wurde.49 Überhaupt nicht vergleichen lässt sich die europäische Rechtslage mit den USA. Dort erlaubt ein Verfassungszusatz aus dem Jahr 1791, das Second Amendment, die Bildung von Milizen und schuf damit zugleich eine – wenngleich im Detail juristisch umstrittene – Garantie für privaten Waffenbesitz.50 Auf dieser Grundlage ist es der mächtigen Interessenvertretung der Schusswaffenbesitzer, der National Rifle Association (NRA), durch Lobbyarbeit in den Parlamenten und durch Mobilisierung von Waffenbegeisterten bei Wahlen gelungen, staatliche oder kommunale Einschränkungen des Rechts auf Waffenbesitz und auf verdecktes Tragen (Waffenführen) auf ein Minimum zu begrenzen.51 46
Quelle: Deutscher Jagdverband e. V., Handbuch 2020; Jagdjahr 2018/19. Vgl. oben Fn. 42. 48 Vgl. dazu etwa „Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses“, BT-Drs. 14/9432, S. 2; „Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses“, BT-Drs. 16/13423, S. 7 f.; für Kritik an der zurückhaltenden Linie vgl. Arthur Kreuzer, Selbstbewaffnung – Beitrag zur Prävention oder Stimulation von Gewaltkriminalität?, Kriminalistik 2017, 584, 585, 588. 49 Vgl. die aktuelle Fassung des UK Firearms Act 1968, Section 5; ausführlich Home Office (Hrsg.), Guide on Firearms Licensing Law, April 2016 (Internet-Veröffentlichung); dazu Noback (Fn. 9), S. 90 ff. 50 Vgl. etwa Jacobs (Fn. 16), S. 52 ff.; Guy Beaucamp, Aktuelle Rechtsprechung des U.S. Supreme Court zum Grundrecht auf Schusswaffenbesitz, JZ 2012, 1050 ff.; Jeff Golimowski, Pulling the Trigger: Evaluating Criminal Gun Laws in a Post-Heller World, American Criminal Law Review 49 (2012), 1599 ff.; Noback (Fn. 9), S. 64 ff. 51 Vgl. zum politischen Einfluss der NRA etwa Jacobs (Fn. 16), S. 48 ff.; Michael Scherer, The Next Gunfight, TIME, v. 28. Januar 2013, 18 ff.; Philipp Elliott/Haley Sweetland Edwards/Charlotte Alter, After the Massacre, TIME, v. 16. Oktober 2017, 18, 21 ff.; ferner Dobler (Fn. 33), S. 49 ff. 47
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V. Rechtspolitische Entwicklungen: USA und Deutschland In den USA stellen der Aspekt des sich-verteidigen-Könnens und der Gedanke einer Abschreckung Krimineller durch Bewaffnung der Bürger ganz zentrale Argumente für die Vertreter eines uneingeschränkten Rechts auf Besitz und auf verdecktes Führen von Schusswaffen dar.52 Die National Rifle Asociation (NRA) sammelt Berichte zu gelungenen Notwehraktionen und verbreitet sie per Internet. Ihr Einsatz für ein allgemeines Recht auf das Führen von Schusswaffen wurde ganz erheblich durch eine 1998 erschienene empirische Studie des Ökonomen John R. Lott gestärkt. Diese zielte darauf ab, kriminalpräventiv nützliche Abschreckungswirkungen eines – bereits damals in einzelnen Staaten für nicht vorbestrafte Bürger erlaubten – verdeckten Tragens von Schusswaffen zu beweisen.53 Bevor die derart reklamierten Befunde in anderen Studien widerlegt wurden,54 konnten sie erhebliche Auswirkungen auf die Gesetzgebung in den Staaten und Kommunen der USA hinsichtlich Erlaubnis zum Waffenführen gewinnen. Ganz generell geht es bei den Kampagnen der NRA darum, die Bürger davon zu überzeugen bzw. darin zu bestärken, dass es im wohlverstandenen Eigeninteresse liege und auch kriminalpolitisch rational sei, sich zu bewaffnen. Dies ist einerseits vor dem Hintergrund einer in der Tat deutlich höheren Kriminalitätsbelastung als in Europa zu sehen – die andererseits durch die Greifbarkeit von Schusswaffen aber noch an Problempotential gewinnt. Die große Anzahl der mit Schusswaffen vorsätzlich Getöteten (oben II.2) und die durchaus nennenswerte Anzahl von Personen, die alljährlich per Schusswaffe Suizid begehen oder durch Unfälle mit Schusswaffen getötet oder verletzt werden,55 tritt bei der von der NRA wirkungsvoll geförderten Fokussierung auf Selbstverteidigung in den Hintergrund.56 52 Differenzierte Darstellung bei Jacobs (Fn. 16), S. 14 ff.; ferner Katri K. Sieberg, Criminal Dilemmas. Understanding and Preventing Crime, Berlin 2001, S. 130 ff., 138 ff. 53 Vgl. John R. Lott, More Guns, Less Crime. Understanding Crime and Gun-Control Laws, Chicago 1998, S. 51 ff., 94 ff. 54 Vgl. David McDowall/Colin Loftin/Brian Wiersema, Easing Concealed Firearms Laws: Effects on Homicide in Three States, The Journal of Criminal Law & Criminology 86 (1995), 193, 201 ff.; Tomislav Kovandzic/Thomas Marvell, Right-to-Carry Concealed Handguns and Violent Crime: Crime Control Through Gun Decontrol?, Criminology & Public Policy 2 (2003), 363, 381 ff., 387 ff.; Terry L. Schell/Matthew Cefalu/Beth Ann Griffin u. a., Changes in firearm mortality following the implementation of state laws regulating firearm access and use, Proceedings of the National Academy of Science (PNAS) 117 (2020), 14906, 14907 ff.; Daniel Webster/Alexander McCourt/Cassandra Crifasi u. a., Evidence concerning the regulation of firearms design, sale, and carrying on fatal mass shootings in the United States, Criminology & Public Policy 19 (2020), 171, 181, 187; vgl. auch John Donohue, The Final Bullet in the Body of The More Guns, Less Crime Hypothesis, Criminology & Public Policy 2 (2003), 397 ff.; Philip J. Cook, The Great American Gun War: Notes from Four Decades in the Trenches, Crime & Justice: A Review of Research 42 (2013), 19, 48 f., 60 f.; John van Kesteren, Revisiting the Gun Owner and Violence Link. A Multilevel Analysis of Victimization Survey Data, British Journal of Criminology 54 (2014), 53, 69. 55 Quantifizierungen bei Arthur Kellermann/Grant Somes/Frederick Rivara u.a, Injuries and Deaths Due to Firearms in the Home, The Journal of Trauma: Injury, Infection, and Critical Care 45 (1998), 263 ff.; Alfred Blumstein, Schusswaffen und Jugendgewalt (Fn. 32),
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Angesichts dieser besonderen Ausgangslage unterscheiden sich rechtspolitische Ansätze von gun control in den USA57 ganz grundsätzlich von denen, die für Europa naheliegen. Nachdem sich in den USA extrem viele Waffen in Privathand befinden (oben II.3) und man von einer etablierten, nicht zu ignorierenden gun culture ausgeht,58 befürworten die relevanten politischen Akteure auch bei Waffen-kritischer Haltung kein allgemeines Besitzverbot, sondern – maßvolle – Begrenzungen von Waffenerwerb, des Besitzrechts und des Rechts zum Waffenführen. Dem law-abiding citizen als „bravem Bürger“ die Schusswaffen zu entziehen, ohne dies in gleicher Weise mit den vielen nicht registrierten Waffen in den Händen von weniger verlässlichen Bürgern und von Kriminellen tun zu können, würde als außerhalb jeder zumutbaren Politik liegend eingestuft. Von daher kann man aus der US-amerikanischen rechtspolitischen Debatte zu gun control wenig konkreten Nutzen für Europa ziehen. Immerhin insoweit besteht in Deutschland eine gewisse Ähnlichkeit zu den USA, als sich sogar in der Folge von gravierenden Delikten, die unter Nutzung von Schusswaffen begangen wurden,59 in der Politik nur selten extreme waffenrechtlichen Konsequenzen – etwa nach dem Muster von Großbritannien in der Folge des DunblaneMassakers (oben IV) – gefordert wurden.60 Es scheint die Überzeugung vorzuherrschen, dass die legalen Waffenbesitzer (Schützen und Jäger) eine gut integrierte, „staatstragende“ Gruppe darstellen. Tatsächlich sprechen die einigermaßen strengen Voraussetzungen für Waffenerwerb und -besitz für diese Sichtweise. Befördert hat man diese Gruppenidentität noch dadurch, dass im Jahr 2008 das Erbenprivileg beschnitten wurde. Ohne Erfüllung der waffenrechtlichen Voraussetzungen kann man als Erbe oder Vermächtnisnehmer ursprünglich scharfe Waffen nur mehr dann übernehmen, wenn diese mit einem Blockiersystem schussunfähig gemacht sind (§ 20 WaffG). Auch auf anderem Wege wurde versucht, den nicht durch eine behördliche Genehmigung legitimierten Besitz von Schusswaffen zu beschränken. So ermöglichte man in den Jahren 2009 und 2018 die straffreie Ablieferung von eigentlich genehS. 831 f.; Miller/Azrael/Hemenway (Fn. 21), 33 ff.; Erin Richardson/David Hemenway, Homicide, Suicide, and Unintentional Firearm Fatality: Comparing the United States With Other High-Income Countries, 2003, The Journal of Trauma: Injury, Infection, and Critical Care 70 (2011), 238, 239 ff.; zum Suizid vgl. Killias/Kuhn/Aebi, Grundriss (Fn. 28), Rn. 733; zu Potentialen präventiver legislativer Maßnahmen vgl. Schell/Cefalu/Griffin u. a. (Fn. 54). 56 Vgl. auch Cook, The Technology (Fn. 20), 62 f. 57 Vgl. für Überblicke bei Jacobs (Fn. 16); Cook, The Great American (Fn. 54), 23 ff.; Turchan/Braga (Fn. 32), S. 696 ff. 58 Lott (Fn. 53), S. 1: „American culture is a gun culture“. 59 Vgl. bei Bannenberg/Bauer/Kirste (Fn. 39), 229 ff. 60 Vergleichsweise weitgehend sind Anträge der Bundestags-Fraktion „Bündnis 90/Die Grünen“. Etwa wird in den Anträgen vom 17. 6. 2009 (BT-Drs. 16/13473) und vom 21. 9. 2016 (BT-Drs. 18/9674, S. 3) ein Verbot der Verwendung von Großkaliberwaffen durch Sportschützen gefordert; im Antrag vom 16. 10. 2019 (BT-Drs. 19/14092) wird neben sehr intensiven behördlichen Kontrollmaßnahmen speziell für Sportschützen ein Verbot der privaten Lagerung von Munition gefordert, um heimischen Affekttaten mit der Waffe entgegenzuwirken.
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migungspflichtigen Waffen durch Nichtberechtigte (vgl. § 58 WaffG) und verringerte durch diesen Amnestie-Ansatz den illegalen Waffenbesitz. Beobachter des Verhaltens von Jägern und Sportschützen gewinnen Eindrücke einer weiter zunehmenden Anpassungsbereitschaft und Normbefolgung dieser Gruppen, trotz ihrer seit jeher bürgerlich-normorientierten Prägung. Besonders deutlich wurde dies nach einem unter Waffenbesitzern viel beachteten neueren Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, das den Entzug der waffenrechtlichen Erlaubnisse eines Jägers bestätigte, nachdem dieser in mäßig alkoholisiertem Zustand (0,4 Promille) kunstgerecht einen Rehbock erlegt hatte.61 In der Folge hat sich das früher ganz selbstverständliche Ausschenken von Bier und Schnäpsen bei Treibjagden erledigt. Ganz entsprechend ist in den Schützenvereinen nun der Alkoholkonsum vor oder bei dem Schießen tabu.62 Man genießt beim Sport und in der Jagdausübung das zuerkannte Privileg, Schusswaffen besitzen zu dürfen, und will dieses keinesfalls aufs Spiel setzen. Die Zurückhaltung seitens des Gesetzgebers, zum Zwecke der Gefahrenabwehr drastische Einschränkungen bezüglich des Waffenbesitzrechts vorzunehmen, hat ihren Hintergrund auch darin, dass Schützen und Jäger in der Lage sind, ihre Interessen politisch hinlänglich wirkungsvoll zu vertreten. Es geht dabei nicht nur um das Abgeben von Stellungnahmen der Verbände zu Gesetzgebungsvorhaben.63 Zu bedenken sind auch die vielfältigen Verzahnungen von politischen Funktionen und solchen in Jägerschaft und Schießsportverbänden. Und nicht zuletzt ist an den Gang zur Wahlurne zu denken, der den etablierten politischen Parteien bezüglich waffenrechtlicher Radikalkuren zu Vorsicht Anlass gibt. Auch wenn die Möglichkeit zur Wählermobilisierung in Sachen Waffenbesitz weit hinter derjenigen der NRA in den USA zurückbleibt, ist sie dennoch der Erwähnung wert. Spricht man von der deutschen Waffenrechtspolitik, dann darf dabei die zunehmend bedeutsame europäische Dimension nicht aus dem Auge verloren werden.64 Jüngst ging es um die EU-Waffenrichtlinie 2017/85365, die durch das Dritte Waffen-
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BVerwG, Urteil vom 22. 10. 2014 – 6 C 30.13. Laut Sportordnung 2020 des Deutschen Schützenbundes (0.2.1 Alkohol) gilt die 0,0 Promille-Grenze. 63 Laut Website des Bundesministeriums des Inneren gaben im Gesetzgebungsverfahren zum Dritten Waffenrechtsänderungsgesetz vom 17. Februar 2020 folgende Verbände (ohne Berufsverbände) schriftliche Stellungnahmen ab: Bayerischer Soldatenbund 1874 e. V.; Bayerischer Jagdverband e. V.; Bund Deutscher Sportschützen 1975 e. V.; Bund der Militärund Polizeischützen e. V.; Deutscher Jagdverband e. V.; Deutsche Schießsport Union e. V.; Deutscher Schützenbund e. V.; Forum Waffenrecht e. V.; Freie Schützen in Deutschland e. V.; Pro Legal e. V. – Interessengemeinschaft für Waffenbesitz; Reservistenverband; Verband für Waffentechnik und Geschichte e. V. 64 Vgl. schon EU-Waffenrichtlinie 91/477/EWG (ABl. L 256 v. 13. 9. 1991, S. 51 ff.) und RL 2008/51/EG (ABL. L 179 v. 8. 7. 2008, S. 5 ff.). 65 Vgl. ABl. L 137 v. 24. 5. 2017, S. 22 ff. 62
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rechts-Änderungsgesetz vom 17. 2. 2020 in nationales Recht umgesetzt worden ist.66 Hintergrund für diese Gesetzgebungsinitiative war, dass es in bestimmten osteuropäischen EU-Ländern möglich war, Waffen nach nur wenig wirksamen Entschärfungsmaßnahmen als Dekowaffen an Jedermann zu verkaufen. Dies ermöglichte es den Käufern, die Waffen mittels eines wenig aufwendigen Vorgehens in einen schussfähigen Zustand zurückzuversetzen – etwa um sie dann im Darknet zu veräußern.67 Tatsächlich wurden derartig präparierte Waffen bei terroristischen Aktionen verwendet. Deshalb galt es, Europa-einheitliche Standards der Entschärfung von Schusswaffen, eine Kennzeichnungspflicht für wesentliche Bestandteile von Waffen und eine erweiterte Registrierung dieser Komponenten vorzugeben. Hierfür wurde das deutsche Nationale Waffenregister durch das WaffRG neu konfiguriert. Auch die Kapazität von zulässigen Schusswaffen-Magazinen ist restriktiv geregelt worden, nachdem halbautomatische Gewehre mit großer Magazinkapazität sich bei Amokläufen als extrem gefährlich erwiesen haben.68 – Dass nun neue, rechtlich schwer zu regulierende Gefahrenlagen durch die Möglichkeit der illegalen Herstellung von Schusswaffen mittels 3-D-Druckern entstehen, kann in diesem Zusammenhang allerdings nicht unerwähnt bleiben. Angesichts der ihnen wiederum zu kompromissbehaftet und unzulänglich erscheinenden neuesten EU-Waffenrichtlinie haben sich einzelne Autoren für eine drastisch verschärfte Waffengesetzgebung ausgesprochen: „Es gibt kein Menschenrecht auf Schießsport mit tödlichen Waffen und kein Mensch braucht tödliche Waffen als Mittel der Freizeitgestaltung“.69 Hinsichtlich einer Verzichtbarkeit derartiger Waffen wird man freilich einen ebenso entschiedenen wie wohlbegründeten Widerspruch von Seiten der Jäger erwarten dürfen. Und die Sportschützen können sich auf Art. 2 Abs. 1 GG berufen. Den guten Gründen derjenigen, die aus kriminalpräventiven Erwägungen heraus den Waffenbesitz nach Kräften einschränken wollen, stehen hier die guten Gründe derjenigen gegenüber, die für ihr Recht auf möglichst weitgehend selbstbestimmte Gestaltung ihres Lebens – und damit auch ihrer Freizeit – eintreten. Was in dieser Patt-Situation allein hilft, sind subtile gesellschaftliche Abwägungsprozesse, die in eine Gesetzgebung mit Augenmaß einmünden. Und das kann für Deutschland bislang als hinlänglich gut gelungen gelten. Man bedenke einerseits die niedrige Rate schwerer Gewaltdelikte und dabei die – im internationalen Vergleich – bei Gewaltdelikten außergewöhnlich seltene Nutzung von Schusswaf66
BGBl. I, 2020, 166 ff.; dazu der Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 19/13839. Vgl. BKA (Hrsg.), Waffenkriminalität 2015, S. 7; BKA (Hrsg.), Waffenkriminalität 2017, S. 11 f. 68 Eine wenig optimistische Einschätzung der Sinnhaftigkeit einer Begrenzung von Magazinkapazität findet sich etwa bei Jacobs (Fn. 16), S. 32, 186 f.; positive Befunde jedoch bei Webster/McCourt/Crifasi u. a. (Fn. 54), 181 ff., 187 f. 69 Thomas Feltes/Irene Mihalic/Felix Bunge, Schärfere Kontrollen für Feuerwaffen in Europa – eine aktuelle nationale Bestandsaufnahme und eine kriminologisch-kriminalpolitische Bewertung des (Nicht-)Erreichten, Recht und Politik 1/2018, 36, 51; moderater Ulrich Mäurer, Änderungsbedarf im Waffenrecht, Zeitschrift für Rechtspolitik 2009, 118 f.; Kreuzer (Fn. 48), 588. 67
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fen, andererseits die fortdauernde – wenngleich zunehmend reglementierte – Möglichkeit für Jäger und Sportschützen, ihren Interessen in der Freizeit nachzugehen. Für kriminalpräventive Maßnahmen im Zusammenhang mit Schusswaffen ist allerdings der Blick nicht nur auf das Waffenrecht unmittelbar zu lenken, sondern auch auf die Tätigkeit solcher Personen und Behörden, deren Aufmerksamkeit für das Nutzen der Gefahrenabwendungs-Potentiale des Waffenrechts wichtig ist. Beispielhaft aufzeigen lässt sich das am aktuellen Fall eines Amoklaufs mit mehreren Toten in Hanau, begangen durch einen Wahnkranken.70 Der Täter hatte wiederholt, und auch kurz vor seiner Tat, bei Staatsanwaltschaft und sogar Bundesanwaltschaft Anzeige gegen eine gefährliche, bedrohliche Geheimorganisation erstattet. Dies geschah in einer Form, die den Beamten das Vorliegen einer Wahnerkrankung unübersehbar gemacht haben dürfte. Eine Anfrage beim Nationalen Waffenregister hätte erkennen lassen, dass es sich bei dem Anzeigenden um einen Waffenbesitzer aufgrund Sportschützen-Waffenbesitzkarte handelte. Da diesem Waffenbesitzer die persönliche Eignung (§ 6 Abs. 1 Nr. 2 WaffG) jetzt in Folge der akuten Schizophrenie fehlte, hätte das Ordnungsamt die Waffenerlaubnis widerrufen (§ 45 Abs. 2 WaffG) und die Waffen sicherstellen müssen (§ 46 Abs. 4 WaffG). Dies geschah nicht. – Unklar ist, ob der behördliche Gang der Dinge tatsächlich schnell genug hätte vonstatten gehen können, um die Gefahrenlage rechtzeitig zu entschärfen. Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass das Nationale Waffenregister für solche Fälle Präventionsmöglichkeiten auf Grundlage des Waffengesetzes eröffnet, deren Nutzung jedoch nicht zuletzt auf der Aufmerksamkeit von Jägerverein- und Schützenverein-Funktionären und von Behörden auch außerhalb des waffenrechtlichen Bereichs aufbaut.
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Näher dazu Kröber (Fn. 38), 220 ff.
Der sog. Sportbetrug als Straftat Von Andrzej J. Szwarc Die folgenden Ausführungen widme ich Herrn Professor Klaus Vieweg als Danksagung für die langjährige Bekanntschaft, Freundschaft und das seit Jahren andauernde Zusammenwirken im Bereich des Sportrechts, das Gegenstand unserer gemeinsamen Aufmerksamkeit und Aktivität ist. Mit der vorliegenden Publikation möchte ich mich bei dem Jubilar für die mir entgegengebrachte Freundlichkeit und Symphatie revanchieren, ihm zu allen seinen wohlverdienten Erfolgen gratulieren und alles Gute wünschen. Angesichts der Art dieser Publikation und ihres gewünschten begrenzten Umfangs wird die im Titel angedeutete Problematik hier lediglich im Abriss skizziert, ohne sie näher zu erörtern und zu vertiefen, mit der Hoffnung, dass dadurch ein breiteres Interesse an dem Thema geweckt wird. Aus denselben Gründen werden die maßgeblichen polnischen gesetzlichen Regelungen in dieser Publikation nur im begrenzten Umfang und ausschließlich in der deutschprachigen Fassung angeführt, während die deutschen Rechtsnormen, auf die Bezug genommen wird, nicht angeführt werden, denn sie sind der deutschen Leserschaft weitgehend bekannt. I. Einleitende Anmerkungen Der Begriff „Sportbetrug“ wird allgemein in der Umgangssprache gebraucht. Damit werden solche Handlungen im Rahmen der Sportausübung bzw. im Rahmen anderer mit Sport zusammenhängender Aktivitäten bezeichnet, die als Verletzung des Fairness-Prinzips im Sportwettbewerb oder bei anderen Formen sportlicher Aktivität erachtet werden. Es sind Handlungen, die eine Verletzung der im Sport geltenden Regeln und ethischen Normen darstellen, darunter des Prinzips fair play. Solche Handlungen werden unternommen, um ein unlauteres und verfälschtes Ergebnis im Sportwettbewerb zu herbeizuführen, oder um ein anderes Resultat einer sportlichen Aktivität zu erreichen, nicht selten, um auch einen Vermögens- oder einen persönlichen Vorteil damit zu erlangen. Solche Verhaltensweisen werden durch Täuschung einer anderen Person, durch Ausnutzung eines bei ihnen vorhandenen Irrtums oder ihrer Unwissenheit darüber begangen, dass ein Ergebnis im Sportwettbewerb oder einer sonstigen sportlichen Aktivität auf unlautere Weise herbeigeführt werden soll.
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Solche Handlungen werden als verpönt bewertet und als unsportliches Verhalten bezeichnet. Als Konsequenz der Offenbarung solcher Verhaltensweisen wird aus diesem Grunde das erlangte Ergebnis des sportlichen Wettbewerbs anulliert, werden die so errungenen Medaillen, Preise oder andere Auszeichnungen aberkannt und werden auch eine verbandsrechtliche Sanktion, eine berufsrechtliche Sanktion (wenn der Täter einer solchen Handlung eine Person ist, die der beruflichen Verantwortung unterliegt, die mit dem durch sie ausgeübten Beruf zusammenhängt und wenn diese Handlung ein Berufsdelikt ist) oder eine Schadensersatzpflicht (wenn infolge solcher Verhaltensweise ein Schaden entsteht) auferlegt. Die Konvergenz des so verstandenen Begriffes „Sportbetrug“ mit dem strafrechtlichen Begriff „Straftatbestand Betrug“ veranlasst zur Erwägung, ob und unter welchen Umständen der sog. Sportbetrug kriminalisiert werden kann, insbesondere durch seine Qualifikation als Betrug oder eine andere im Strafrecht enthaltene Straftat. In diesem Zusammenhang gelangt man zur Idee der Ausweiterung der Kriminalisierung des sog. Sportbetrugs durch Schaffung eines speziellen Straftatbestands. II. Erscheinungsformen des sog. Sportbetrugs Die weiteren Ausführungen erfordern einen periphären und beispielhaften Hinweis darauf, welche Handlungen als „Sportbetrug“ bezeichnet werden. Dazu gehören unter anderem: - die heimliche Benutzung eines Gerätes oder eines Tieres im Sportwettbewerb, welches den geltenden Sportregeln nicht entspricht (z. B.: die Kugel, der Hammer, der Speer oder der Stab in den Leichtathletik-Disziplinen, die Boxhandschuhe, der Degen und das Trefferanzeigesystem beim Fechten, das Fahrrad im Radsport, die Fahrzeuge oder deren Motoren im Motorsport, die Boote oder Segel in den Wassersportarten; die Ausrüstung oder Bekleidung in den Wintersportarten; usw.) - der Einsatz von Dopingmitteln und Dopingmethoden im Sport und andere verbotene mit Doping zusammenhängende Verhaltensweisen, darunter auch verbotenes Verhalten im Zusammenhang mit Doping-Kontrollen; - die Verheimlichung oder Verbreitung falscher Informationen, die nach den Teilnahmebedingungen am Sportwettbewerb relevant sind (z. B.: das Geschlecht als Bedingung der Teilnahme an Wettkämpfen für Männer oder für Frauen, das Alter als Bedingung der Teilnahme an Wettkämpfen für Personen, die den jeweiligen Altersgruppen angehören, der Gesundheitszustand, z. B.: eine falsche Information über die Behinderung, die für die Teilnahme an entsprechenden Behindertenwettbewerben maßgeblich ist, eine falsche Information über die Staatsangehörigkeit oder über die Klubzugehörigkeit des Teilnehmers, andere falsche Informationen über die Umstände, die die Teilnahme am Wettbewerb oder deren Ausschließung bedingen, usw.);
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- die Vornahme von Handlungen, die gegen die Teilnahmeregeln verstoßen (z. B.: die verbotene Verkürzung der Route oder die Wahl einer anderen Route bei Wettläufen, für die bestimmte Routen vorgesehen worden sind, z. B. beim MarathonLauf, beim Radrennen oder beim Pferderennen, ein anderweitiges Befördern eines Teilnehmers am Sportwettbewerbes auf einem Teil der Route, z. B. mit dem Auto, das Erzielen eines Tors im Fussball mit der Hand, eine gezielte Niederlage oder ein gezieltes Erringen eines schlechteren Ergebnisses im Sportwettbewerb, eine gezielte Vermeidung des Sportwettbewerbes, usw.); - Verhaltensweisen, die bei einem am Sportwettbewerb teilnehmenden Konkurrenten einen Gesundheitschaden verursachen oder seine Leistungsfähigkeit auf eine andere Art und Weise schwächen, sowie unzulässige Manipulationen der vom Konkurrenten benutzten Ausrüstung; - die Verbreitung falscher Informationen unter den Konkurrenten über Bedingungen, die für den Sportwettkampf von Bedeutung sind (z. B. über die Wetterlage, die bei manchen Sportarten eine Bedeutung hat, usw.); - die Fälschung des Ergebnisses des Sportwettbewerbes (z. B. eine falsche Angabe zur Zeit, zur Entfernung, zum Gewicht oder in Bezug auf das angebliche Erreichen eines Berggipfels im Hochgebirgssport, usw.); Als „Sportbetrug“ werden auch andere ähnliche Handlungen bezeichnet, die im Sport festzustellen sind: - nicht nur solche, die im Zuge des Sportwettbewerbs während der Sportwettkämpfe anzutreffen sind, sondern auch außerhalb der Sportwettkämpfe, insbesondere im Rahmen eines Trainings bzw. anderer Formen der Vorbereitung auf die Teilnahme an einem Sportwettbewerb, - Verhaltensweisen nicht nur von Sportlern, sondern auch von anderen Personen, die an der Begehung der unter diesen Begriff fallenden Taten beteiligt sind, wie Trainer, Sportakteure, Schiedsrichter, Ärzte und andere Personen des medizinischen Personals, die Personen des technischen und organisatorischen Dienstes, und andere, - nicht nur solche Handlungen, die im professionellen, sondern auch im Amateursport anzutreffen sind, - nicht nur solche Handlungen, die bei der Sportausübung, sondern auch bei anderen mit Sport zusammenhängenden Aktivitäten registriert werden, wie z. B. bei der Tätigkeit des Klubs, des Vereins, des Verbandes, oder einer anderen Sportorganisation, die unter anderem als folgende Vorfälle zu Tage treten: Fälschung der Finanzdaten, andere mit der Besteuerung zusammenhängenden Umstände, Fälschung von Abstimmungsergebnissen usw.
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III. Der sog. Sportbetrug als Betrugsstraftat In den nationalen Strafrechtssystemen ist der Straftatbestand des Betrugs vorgesehen, der im deutschen Strafgesetzbuch in § 263 und im polnischen Strafgesetzbuch1 in Art. 286 geregelt wird. Zwar erfüllen die als Sportbetrug bezeichneten Handlungen bisweilen die einzelnen Tatbestandsmerkmale solcher Straftat, allerdings werden nicht immer durch solche Handlungen alle Tatbestandsmerkmale dieser Straftat verwirklicht. Die Qualifikation einer als Sportbetrug bezeichneten Handlung als Straftat des Betrugs erfordert aber, dass alle Merkmale dieses Straftatbestands erfüllt werden. So kann das Verhalten, das den sog. Sportbetrug darstellt, mit der „Absicht, sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen“ begangen werden, wie es in § 263 Abs. 1 StGB vorgesehen ist, oder „in der Absicht, einen Vermögensvorteil zu erzielen“ – wie es in Art. 286 § 1 des polnischen Strafgesetzbuches vorgesehen ist. Ebenso kann das Verhalten, das den sog. Sportbetrug darstellt, das in § 263 Abs. 1 StGB aufgeführte Tatbestandsmerkmal erfüllen, das mit den Worten beschrieben wird „das Vermögen eines anderen dadurch beschädigt“ oder das Tatbestandsmerkmal, das in Art. 286 § 1 des polnischen Strafgesetzbuches lautet „zu einer nachteiligen Verfügung über eigenes oder fremdes Vermögen veranlasst“. Auch kann der sog. Sportbetrug durch die in § 263 Abs. 1 StGB beschriebene Handlung begangen werden, nämlich „durch Vorspiegelung falscher oder durch Entstellung oder Unterdrückung wahrer Tatsachen einen Irrtum erregt oder unterhält“ oder auf die in Art. 286 § 1 des polnischen Strafgesetzbuches vorgesehene Art, nämlich so, „dass er bei dieser Person einen Irrtum hervorruft oder einen bei ihr bestehenden Irrtum oder ihre Unfähigkeit, die vorzunehmende Handlung richtig aufzufassen, ausnutzt“. Somit erfüllt der sog. Sportbetrug manchmal die – oben beispielhaft genannten – einzelnen Tatbestandsmerkmale der Straftat des Betrugs, doch kann die Qualifikation des sog. Sportbetrugs als eine Straftat des Betrugs ebenso gut ausgeschlossen sein, wenn eben nicht alle Tatbestandsmerkmale dieser Straftat gleichzeitig erfüllt werden. Auch wenn der sog. Sportbetrug damit nur in eingeschräktem Unfang eine Straftat des Betrugs darstellt und eine strafrechtliche Sanktionierung unter diesem Aspekt eröffnet ist, ist eine Strafbarkeit keineswegs endgültig ausgeschlossen. Der sog. Sportbetrug kann nämlich in manchen Fällen auch rechtlich als eine andere Art von Straftat eingeordnet werden.
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Art. 286 § 1 lautet: Wer in der Absicht, einen Vermögensvorteil zu erzielen, einen anderen dadurch zu einer nachteiligen Verfügung über eigenes oder fremdes Vermögen veranlasst, dass er bei dieser Person einen Irrtum hervorruft oder einen bei ihr bestehenden Irrtum oder ihre Unfähigkeit, die vorzunehmende Handlung richtig aufzufassen, ausnutzt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu acht Jahren bestraft.
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IV. Der sog. Sportbetrug als Dopingstraftat Eine Strafbarkeit der Fälle des sog. Sportbetrugs, die durch ein Dopingdelikt begangen werden, droht vor allem dann, wenn im Strafrechtssytem eines jeweiligen Landes Dopingdelikte spezielle Straftatbestände darstellen, die umgangsprachlich als „Dopingstraftaten“ benannt werden. Im deutschen Strafrecht handelt es sich um die Straftaten, die im Gesetz gegen Doping im Sport (Anti-Doping-Gesetz) vom 10. 12. 2015 bestimmt sind. Im polnischen Strafrecht hingegen sind derartige Straftaten durch Gesetz vom 21. 4. 2017 zur Bekämpfung von Doping im Sport2 geregelt. Nach Art. 483 dieses Gesetzes liegt eine Straftat dann vor, wenn einem minderjährigen Wettkampfteilnehmer oder dem Wettkampfteilnehmer ohne seines Wissens eine verbotene Substanz verabreicht wird, die in diesem Artikel genannt ist, und nach Art. 494 – unter den in diesem Artikel bestimmten Umständen – liegt eine Straftat dann vor, wenn verbotene Dopingsubstanzen zur Verfügung gestellt, aufbewahrt, verkauft, auf das Territorium der Republik Polen eingeführt oder importiert werden. Solche und ähnliche Arten der sog. Dopingstraftaten sind auch im Strafrecht vieler anderer Länder vorgesehen, z. B. in Österreich, Tscheschien, Estland, Frankreich, Spanien, Norwegen, in der Schweiz, in Italien und in anderen Ländern. Wegen des sog. Sportbetrugs, der durch ein Dopingdelikt begangen wird, kann eine Strafbarkeit auch wegen anderer Straftatbestände drohen, die keine speziellen Dopingstraftaten sind. So können im polnischen Strafrecht in bestimmten Fällen einiger mit dem Doping zusammenhägende Handlungen als Straftaten qualifiziert wer2
Poln. Gbl. Jg. 2017, Pos. 1051. Art. 48.1 lautet: Wer einem minderjährigen Wettkampfteilnehmer eine verbotene Substanz verabreicht, die in der Gruppe S1, S2 oder S4 des Anhanges Nr. 1 zur Konvention, die in Art. 2 Abs. 1 bezeichnet wird, wird mit Geldstrafe, mit Freiheitsbeschränkungsstrafe oder mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft. 2. Mit derselben Strafe wird bestraft, wer einem Wettkampfteilnehmer ohne sein Wissen eine verbotene Substanz, die in der Gruppe S1, S2 oder S4 des Anhanges Nr. 1 zur Konvention, die in Art. 2 Abs. 1 bezeichnet wird, verabreicht. 4 Art. 49.1 lautet: Wer Dritten entgeltlich oder unentgeltlich eine verbotene Substanz verabreicht, die in der Gruppe S1, S2 oder S4 des Anhanges Nr. 1 zur Konvention, die in Art. 2 Abs. 1 bezeichnet wird, oder wer sie mit dem Zweck aufbewahrt, sie entgeltlich oder unentgeltlich Dritten zur Verfügung zu stellen, ohne eine Genehmigung für das Inverkehrbringen aufgrund des Art. 2 Abs. 1 oder Abs. 2 des Gesetzes vom 6. September 2001 (Arzneimittelgesetz) (poln. Gbl. Jg. 2016, Pos. 2142 und 2003) zu besitzen, wird mit Geldstrafe, mit Freiheitsbeschränkungsstrafe oder mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft. 2. Derselben Strafe unterliegt, wer ohne Genehmigung, die in Art. 70 Abs. 4, Art. 74 Abs. 1 oder Art. 99 Abs. 1 des Gesetzes vom 6. September 2001 (Arzneimittelgesetz) vorgesehen wurde, einen Handel mit der verbotenen Substanz treibt, die in der Gruppe S1, S2 oder S4 des Anhanges Nr. 1 zur Konvention, die in Art. 2 Abs. 1 bezeichnet wird. 3. Derselben Strafe unterliegt, wer im Widerspruch zu Art. 68 des Gesetzes vom 6. September 2001 (Arzneimittelgesetz) eine verbotene Substanz, die in der Gruppe S1, S2 oder S4 des Anhanges Nr. 1 zur Konvention, die in Art. 2 Abs. 1 bezeichnet wird, auf das Territiorium der Republik Polen einführt oder importiert. 3
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den, wie sie in folgenden Gesetzen vorgesehen wurden: im Gesetz vom 29. 7. 2005 zur der Drogensuchtvorbeugung,5 wenn die Dopingmittel als Rauschmittel oder psychotrope Substanz im Sinne dieses Gesetzes qualifiziert werden können, oder aber ein Ausgangsstoff solcher sind; im Gesetz vom 11. 3. 2004 zum Tierschutz und zur Bekämpfung der ansteckenden Krankheiten der Tiere,6 im Falle des Dopings an den Tieren; im Arzneimittelgesetz vom 6. 9. 2001,7 wenn die Dopingsubstanz im Sinne dieses Gesetzes ein Arzneimittel ist, und im Gesetz vom 25. 2. 2011 über die chemischen Substanzen,8 wenn die Dopingsubstanz eine chemische Substanz im Sinne dieses Gesetzes ist, eine Ingredienz einer Mischung ist oder in einem Produkt enthalten ist. Nicht ausgeschlossen ist in solchen Fällen auch die Bestrafung eines durch Doping im Sport verübten Betrugs aufgrund der Vorschriften des Strafrechts zum Schutz von Leben und Gesundheit von Menschen. Gemeint sind die Vorschriften, die die Strafbarkeit wegen vorsätzlicher bzw. fahrlässiger Versursachung des Todes oder einer Gesundheitsschädigung eines Menschen oder die Gefährdung einer Person mit dem Tod oder einer Gesundheitsschädigung (geregelt durch Art. 148 § 1,9 Art. 155,10 Art. 156,11 Art. 15712 und Art. 16013 des polnischen Strafgesetzbuches) 5
Poln. Gbl. Nr. 179, Pos. 1485 mit Änderungen. Poln. Gbl. Nr. 69, Pos. 625 mit Änderungen. 7 Poln. Gbl. Jg. 2008, Nr 45, Pos. 271 mit Änderungen. 8 Poln. Gbl. Jg. 2011, Nr 63, Pos. 322. 9 Art. 148 § 1 Wer einen Menschen tötet, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter acht Jahren, mit fünfundzwanzig Jahren Freiheitsstrafe oder mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft. 10 Art. 155. Wer fahrlässig den Tod eines Menschen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. 11 Art. 156 § 1 Wer einem anderen einen schweren Gesundheitsschaden in Gestalt (…) zufügt, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren bestraft. § 2 Handelt der Täter fahrlässig, wird er mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft. § 3 Hat die Tat im Sinne des § 1 den Tod eines Menschen zur Folge, wird der Täter mit Freiheitsstrafe von fünf Jahren, mit fünfundzwanzig Jahren Freiheitsstrafe oder mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft. 12 Art. 157 § 1 Wer eine andere als die in Art. 156 § 1 bezeichnete Verletzung der Funktionen eines Körperteils oder eine Gesundheitsschädigung verursacht, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. § 2 Wer eine Verletzung der Funktionen eines Körperteils oder eine Gesundheitsschädigung verursacht, die nicht länger als sieben Tage andauert, wird mit Geldstrafe, mit Freiheitsbeschränkungsstrafe oder mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bestraft. § 3 Handelt der Täter der Tat im Sinne der §§ 1 oder 2 fahrlässig, wird er mit Geldstrafe, mit Freiheitsbeschränkungsstrafe oder mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bestraft. (…). 13 Art. 160 § 1 Wer das Leben eines Menschen unmittelbar gefährdet oder ihn der unmittelbaren Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung aussetzt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft. (…) § 3 Handelt der Täter der Tat im Sinne der §§ 1 oder 2 fahrlässig, wird er mit Geldstrafe, mit Freiheitsbeschränkungsstrafe oder mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bestraft. 6
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vorsehen, falls der Einsatz von Dopingmitteln und Dopingmethoden im Sport solche Auswirkungen zur Folge hat. Eine Bestrafung für mit Doping zusammenhängende Handlungen ist nicht nur im Falle der vorsätzlichen, sondern auch im Falle der fahrlässigen Begehung solcher Taten möglich. Gleiches gilt, wenn nur ein Fall des Versuchs der Begehung gegeben ist,14 sowie nicht nur für eine Person, die eine solche Tat alleine begeht, sondern auch für Mittäter dieser Tat.15 Strafbar macht sich auch, wer die Ausführung der Tat durch eine andere Person leitet (die sog. leitende Täterschaft) bzw. wer eine andere Person mit der Begehung einer solchen Tat beauftragt (die sog. beauftragende Täterschaft)16 sowie der, der eine andere Person zur Begehung einer solchen Tat veranlasst (die sog. Anstiftung)17 oder ihr bei deren Begehung hilft (die sog. Beihilfe).18 Die Möglichkeit, sich wegen des Einsatzes von Dopingmitteln und Dopingmethoden nach diesen Vorschriften strafbar zu machen, ist jedoch sehr eingeschränkt. Zum ersten, weil der Einsatz von Dopingmitteln und Dopingmethoden nur vereinzelt den Tod oder eine Gesundheitsschädigung des Sportlers zur Folge hat. Auch wenn dies der Fall ist, lassen sich die Auswirkungen oft erst nach einer längeren, manchmal sogar nach einer sehr langen Zeit erkennen. Zum zweiten, weil zu diesem Zweck ein zweifelsfreier Nachweis eines kausalen Zusammenhangs zwischen dem Einsatz von Dopingmitteln und Dopingmethoden im Sport und deren Auswirkung in Form des Todes bzw. des Gesundheitsschadens bzw. der Lebens- oder Gesundheitsgefährdung geführt werden muss. Zum dritten: Strafbar ist zwar schon die Gefährdung des Sportlers mit dem Tod oder einer Gesundheitsschädigung (also auch, wenn es zu einer solchen glücklicherweise nicht gekommen ist), aber – nach Art. 160 des Strafgesetzbuches, der die Straftat der Lebens- und Gesundheitsgefährdung regelt – nur, wenn eine unmittelbare Gefahr gegeben ist, die sich sofort zu verwirklichen droht. Hinzu kommt, dass diess eine Gefahr des sogenannten schweren Gesundheitsschadens – im Sinne des Art. 156 § 1 des Strafgesetzbuches – sein müsste. Die Verursachung der Gefahr eines anderen, nur geringfügigen Gesundheitsschadens schließt die Strafbarkeit des Täters auf Grund des Art. 160 des Strafgesetzbuches aus. V. Der sog. Sportbetrug als Korruptionsstraftat Eine Bestrafung droht auch für den sog. Sportbetrug, der in Form eines Korruptionsdeliktes in Erscheinung tritt. Dies ist dann der Fall, wenn bestimmte Sport-Korruptionsdelikte im Rechtssystem eines bestimmten Landes besonderere Erscheinungsformen solcher Straftaten sind. 14
Vgl. Art. 13 – 15 des Strafgesetzbuches. Vgl. Art. 18 § 1 des Strafgesetzbuches. 16 Vgl. Art. 18 § 1 des Strafgesetzbuches. 17 Vgl. Art. 18 § 2 des Strafgesetzbuches. 18 Vgl. Art. 18 § 3 des Strafgesetzbuches.
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Im deutschen Rechtssystem ist ein solcher Straftatbestand in § 265c StGB vorgesehen und wird als „Sportwettbetrug“ bezeichnet. Im italienischen Rechtssystem wird eine solche Straftat – mit dem Begriff „Frode in competizioni sportive“ (Betrug im Sportwettbewerb) genannt – in dem Art. 1 des Gesetzes 401/1989 vom 13. 12. 1989 normiert. So ist es auch im polnischen Strafrecht, in dem die Strafbarkeit derartigen Handlungen – als eines besonderen Sport-Korruptionsbetruges – in Art. 46 – 49 des Gesetzes über Sport vom 25. Juni 201019 vorgesehen ist. Zu solchen Straftaten gehören insbesondere: Straftat der sog. Vorteilsannahme und Bestechlichkeit im Sport (die sog. passive Bestechlichkeit, Art. 46 Abs. 120) und die Straftat der sog. Vorteilsgewährung und Bestechung im Sport (die sog. aktive Bestechung, Art. 46 Abs. 221). Diese Taten werden milder bestraft im Falle einer geringen Bedeutung (Art. 46 Abs. 322) bzw. strenger bestraft, wenn der Vermögensvorteil einen hohen Wert hat oder wenn der Täter der in Art. 46 Abs. 1 vorgesehenen Tat einen solchen Vorteil oder dessen Versprechung fordert (Art. 46. Abs. 3 – 423). Als Straftaten werden auch die unlautere Teilnahme an Sportwetten (Art. 4724) und die aktive und passive entgeltliche Protektion im Sport (Art. 4825) erachtet. 19
Poln. Gbl. Nr. 127, Pos. 857 mit Änderungen. Art. 46 Wer im Zusammenhang mit Sportwettbewerben, die ein polnischer Sportverband oder ein Subjekt auf Grund eines Vertrags mit einem solchem Verband oder im Auftrag dieses Verbandes organisiert, gegen ein unlauteres Verhalten, welches das Ergebnis dieses Wettbwerbs beeinflussen kann, einen Vermögens- oder persönlichen Vorteil oder das Versprechen dieses Vorteils annimmt oder solchen Vorteil oder dessen Versprechen fordert, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Minaten bis zu 8 Jahren bestraft 21 Art. 46 Mit derselben Strafe (es geht um Strafe, die in Art. 46 Abs. 1 vorgesehen ist – A. J. S.) wird bestraft, wer in Fällen nach Abs. 1 einen Vermögens- oder persönlichen Vorteil gewährt oder sein Versprechen dazu gibt. 22 Art. 46 In einem minder schweren Fall der Tat nach Abs. 1 oder 2 wird der Täter mit Geldstrafe, mit Freiheitsbeschränkungsstrafe oder mit Freicheitssstrafe bis zu zwei Jahren bestraft. 23 Art. 46 Nimmt der Täter der Tat nach Abs. 1 oder 2 einen Vermögensvorteil bedeutenden Wertes an, gewährt einen solchen oder verspricht oder fordert solchen Vorteil oder sein Versprechen, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft. 24 Art. 47 Wer in Kenntnis einer begangenen verbotenen Tat nach Art. 46 an Sportwetten teilnimmt, auf welche sich die Kenntnis bezieht oder diese Kenntnis preisgibt, damit eine andere Person an solchen Sportwetten teilnimmt, wird mit einer Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft. 25 Art. 48 Wer unter Berufung auf seinen Einfluss im polnischen Sportverband oder bei einem Subjekt, das auf Grundlage eines mit dem Verband geschlossenen Vertrages tätig ist oder bei einem Subjekt, das von ihm zur Tätigkeit berechtigt wurde oder durch Hervorrufen einer Überzeugung oder durch Bestätigung einer Überzeugung über das Bestehen solcher Einflüsse gegen die Gewährung eines Vermögens- oder persönlichen Vorteils oder das Versprechen eines solchen die Vermittlung bei der Festlegung eines bestimmten Ergebnisses von Sportwettbewerben übernimmt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu acht Jahren bestraft. 2. Ebenso wird bestraft, wer einen Vermögens- oder persönlichen Vorteil gewährt oder einen solchen verspricht im Tausch gegen Vermittlung bei der Festlegung eines bestimmten 20
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Auch wenn Handlungen, die als Sport-Korruptionsbetrug bezeichnet werden, in den Rechtssystemen einiger Länder keine gesonderten und speziellen Straftaten sind, die spezifisch mit direktem und ausschließlichem Bezug zum Sport gebildet wurden, oder wenn nicht jeder umgangsprachlich verstandene Sport-Korruptionsbetrug unter solche Straftatbestände fällt, kann der Korruptions-Sportbetrug bisweilen auch als ein anderer, allgemeiner Tatbestand einer Korruptions-Straftat qualifiziert werden, der nicht extra und mit Bezug zum Sport geschaffen wurde. Zum Beispiel, im polnischen Strafrecht können solche Taten eventuell – nach Art. 228 des Strafgesetzbuches26 – als eine Straftat der Vorteilsannahme und Bestechlichkeit oder – nach Art. 229 des Strafgesetzbuches27 – als eine Straftat der Vorteilsgewährung und Bestechung qualifiziert werden. Eine solche Qualifikation des Sport-Korruptionsbetrugs als solcher Straftaten steht jedoch unter der Bedingung (was im Sport relativ selten vorkommt), dass der Täter, der einen Vermögens- oder einen persönlichen Vorteil oder ein entsprechendes Versprechen diesbezüglich annimmt, eine eine öffentliche Funktion ausübende Person28 ist, und dies im Zusammenhang mit dieser Funktion tut, während die Gewährung eines solchen Vorteils oder ein entsprechendes Versprechen an eine eine öffentliche Funktion ausübende Person gerichtet ist. VI. Der sog. Sportbetrug als eine andere Straftat Nur, um einzelne Beispiele zu nennen, können folgende andere Handlungen, die als Sportbetrug bezeichnet werden, auch als Straftaten qualifiziert werden: 1. Die Zerstörung oder Beschädigung von Sachen, die sich als Straftat der Zerstörung oder Beschädigung oder Verursachung der Unbrauchbarkeit einer Sache
Ergebnisses von Sportwettbewerben durch rechtswidrige Einflussnahme auf das Verhalten einer eine Funktion im polnischen Sportverband ausübenden Person oder eines Subjekts, das auf Grundlage eines mit dem Verband geschlossenen Vertrages tätig ist, oder eines Subjekts, das von ihm zur Tätigkeit berechtigt wurde im Zusammenhang mit dieser Funktion. 26 Art. 228 § 1 Wer in Zusammenhang mit der Erfüllung einer öffentlichen Funktion einen Vermögens- oder persönlichen Vorteil annimmt oder sich einen solchen versprechen läßt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu acht Jahren bestraft. 27 Art. 229 § 1 Wer einer Person, die eine öffentliche Funktion ausübt, in Zusammenhang mit der Erfüllung dieser Funktion einen Vermögens- oder persönlichen Vorteil gewährt oder einen solchen verspricht, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu acht Jahren bestraft. 28 Art. 115 § 19 Eine Person, die eine öffentliche Funktion ausübt, ein öffentlicher Funktionär, Mitglied eines Selbstverwaltungsorgans ist eine Person, die in einer Organisationseinheit beschäftigt ist, welche über öffentliche Mittel verfügt, es sei denn, dass sie ausschließlich dienstleistende Funktionen ausübt, sowie eine Person, deren Rechte und Pflichten im Bereich der öfentlichen Tätigkeit durch ein Gesetz oder einen verbindlichen internationalen Vertrag bestimmt oder anerkannt sind.
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eines Dritten (geregelt im polnischen Strafrecht in Art. 288 des Strafgesetzbuches29) qualifizieren lassen; 2. Handlungen, die mit den Urkunden zusammenhängen, die etwa als Urkundenfälschung (geregelt im polnischen Strafrecht in Art. 270 des Strafgesetzbuches30), als mittelbare Falschbeurkundung (geregelt im polnischen Strafrecht in Art. 272 des Strafgesetzbuches31), als Gebrauch einer falschen Urkunde (geregelt im polnischen Strafrecht in Art. 273 des Strafgesetzbuches32) oder als Verwendung, Diebstahl oder Aneignung einer Urkunde, die die Identität eines Anderen bezeugt (Missbrauch von Ausweispapieren, geregelt im polnischen Strafrecht in Art. 275 des Strafgesetzbuches33) qualifiziert werden können.
VII. Die Idee der Schaffung eines speziellen Straftatbestands des Sportbetrugs Die oben genannten Beispiele der Bestrafung wegen Begehung von sog. Sportbetrug machen deutlich, dass eine Bestrafung in manchen Fällen zwar in Betracht kommt, allerdings sind die Möglichkeiten sehr eingeschränkt. In sehr vielen Fällen ist der sog. Sportbetrug eine Handlung, die nicht als Straftat qualifiziert werden kann, und aus diesem Grunde ist eine Bestrafung nicht möglich. Im Zusammenhang damit kann man an dieser Stelle an den schon vorhin angedeuteten Gedanken anknüpfen, der darin bestehen würde, im Strafrecht einen speziellen Straftatbestand des Sportbetrugs zu schaffen, um dadurch das Phänomen des sog. Sportbetrugs durch eine Kriminalisierung im breiteren Umfang zu erfassen. Eine solche Überlegung entspricht der Tendenz, dass rechtliche Bestimmungen – in diesem Fall auch die Bestimmungen des Strafrechts – immer mehr in das Metier des Sports eingreifen. Früher begrenzte sich die rechtliche Reglementierung des Sports auf generelle und im Sport allgemein geltende rechtliche Bestimmungen, indem Sachverhalte im Bereich des Sports von solchen Bestimmungen erfasst wurden. Im Gegenteil wurden manchmal Postulate formuliert, um – aufgrund der Sportspezifik – die Geltung 29 Art. 288 § 1 Wer eine fremde Sache zerstört, beschädigt oder gebrauchsunfähig macht, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. 30 Art. 270 § 1 Wer eine Urkunde nachmacht oder fälscht, in der Absicht, sie wie eine echte zu gebrauchen, oder wer eine solche Urkunde wie eine echte gebraucht, wird mit Geldstrafe, Freiheitsbeschränkungsstrafe oder Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. 31 Art. 272 § 1 Wer die Beurkundung der Unwahrheit erschleicht, indem er einen öffentlichen Funktionär oder eine andere zur Ausstellung von Urkunden befugte Person arglistig irreführt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft. 32 Art. 273 § 1 Wer eine Urkunde im Sinne der Art. 271 oder 272 gebraucht, wird mit Geldstrafe, Freiheitsbeschränkungsstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bestraft. 33 Art. 275 § 1 Wer eine Identitätsurkunde eines Dritten oder eine Urkunde über dessen Vermögensrechte gebraucht, stiehlt oder sich zueignet, wird mit Geldstrafe, Freiheitsbeschränkungsstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bestraft.
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und Anwendung der generell und allgemein geltenden rechtlichen Bestimmungen, die auch den Sport erfassen, auszuschließen, wobei gleichzeitig die Autonomie des Sports postuliert wurde, damit das Recht in den Bereich des Sports nicht eingreift, damit Sport „sich nach eigenen Regeln gestaltet“. Später und in der Gegenwart hat sich das Phänomen der rechtlichen Reglementierung des Sports so verstärkt, dass man spezielle rechtliche Bestimmungen zu schaffen begann, die sich speziell und direkt auf den Sport beziehen, und speziell Angelegenheiten im Sport regeln, und zwar abweichend von den Regelungen, die außerhalb des Sports gelten, oder aber, die solche Angelegenheiten im Sport regeln, die außerhalb des Sports kaum von rechtlichen Normen erfasst sind. Das Phänomen wird in immer größerem Umfang und in immer mehr Ländern registriert, allerdings in unterschiedlichem Grad. Zahlreiche Umstände veranlassen, rechtliche Bestimmungen mit speziellem und direktem Bezug zum Sport zu schaffen. Hierzu gehören unter anderem solche Faktoren wie die Verbreitung, Kommerzialisierung und Professionalisierung des Sports, und die Verknüpfungen des Sports mit andern Lebensbereichen, mit anderen Tätigkeitsbereichen des Staates, mit anderen Tätigkeitsbereichen der menschlichen Aktivität und mit vielen anderen rechtlich reglamentierten Bereichen. Ein wichtiger Faktor in diesem Zusammenhang ist, dass verschiedene negative Erscheinungen im Sport wie Doping, Korruption und Hooliganismus immer häufiger auftreten, was dazu veranlasst, dass Maßnahmen ergriffen und – auch rechtliche – Instrumente geschaffen werden sollen, die solcher Erscheinungen vorbeugen, bzw. deren Ausmaß minimalisieren. In vielen Ländern manifestiert sich diese Tendenz darin, dass nicht nur einzelne rechtliche Bestimmungen mit einem direkten und speziellen Bezug zum Sport geschaffen werden, sondern sogar ganze Gesetzeswerke. Mit speziellen rechtlichen Bestimmungen, die sich direkt und speziell auf den Sport beziehen, werden oft Angelegenheiten geregelt, wie etwa die Tätigkeit der Klubs, Vereine, Verbände und anderer Sport-Organisationen, die Organisation von Sportveranstaltungen, die Aufgaben und Tätigkeit der Organe der Regierung und der lokalen Behörden im Bereich des Sports, die Wirtschaftstätigkeit im Sport, die Arbeitsverhältnisse und andere Rechtsverhältnisse im Sport, die Finanzierung des Sports, insbesondere mit öffentlichen Mitteln, die Besteuerung von Sport, das Gesundheitswesen im Sport, die Versicherungen im Sport, die Medien im Sport, die Möglichkeiten zur Beilegung von Streitigkeiten im Sport, unterschiedliche negative Begleiterscheinungen des Sports, verschiedene Formen der Haftung im Sport, darunter insbesondere die strafrechtliche und disziplinarische Verantwortlichkeit, und andere, zumal die oben angeführte Liste keinen abschließenden Charakter hat. Das Phänomen der rechtlichen Reglementierung des Sports zeigt sich nicht nur in Form der Schaffung rechtlicher Bestimmungen im nationalen Rechtssystem der einzelnen Länder. Es werden dazu auch internationale Rechtsakte geschaffen, die in den zahlreichen Ländern gelten, die diese Akte unterzeichnet haben. Als Beispiel mögen
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die internationalen Abkommen angeführt werden, die in Bereichen gelten, wie Doping oder Sicherheit von Massensportveranstaltungen und Hooliganismus in den Sportobjekten. In diesem Zusammenhang stellt sich die bereits vorhin angedeutete Frage danach, ob zur Ausweitung der Strafbarkeit des sog. Sportbetrugs wünschenswert wäre, im Strafrecht einen speziellen Tatbestand des Sportbetrugs zu schaffen, unter den die Handlungen fallen würden, die nicht den allgemeinen Betrugstatbestand verwirklichen und auch keinen anderen Tatbestand des Strafrechts. Bis auf Einzelfälle wurde bis dato eine solches Postulat allgemein noch nicht formuliert. In Anbetracht der immer weiter fortschreitenden rechtlichen Reglementierung des Sports muss man allerdings mit dem Aufkommen solcher Vorschläge rechnen. Bezug nehmend auf diese Idee appelliere ich – allerdings zurückhaltend –, diese Idee sehr aufmerksam in Betracht zu ziehen, und dabei die notwendige Beachtung unter anderem den Grundsätzen guter strafrechtlicher Gesetzgebung zu schenken, wie: Subsidiaritätsprinzip des Strafrechts und ultima-ratio-Grundsatz, Grundsatz der Kriminalisierung von Handlungen, die solche Rechtswerte und Rechtsgüter beeinträchtigen, deren Schutz einen weitgehenden Eingriff des Strafrechtes erfordert, Grundsatz der Kompatibilität und der Kohärenz der strafrechtlichen Bestimmungen und Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Eine besondere Beachtung erfordet die Subsidiarität des Strafrechts und das Prinzip des Strafrechts als ultima ratio. In Bezug auf den sog. Sportbetrug bedeutet dies, dass eine eventuelle Strafbarkeit des sog. Sportbetrugs nur für solche Fällen in Erwägung gezogen werden könnte, in denen als Reaktion auf solche Handlungen andere Maßnahmen der Vorbeugung oder der Minimalisierung dieses Phänomens, darunter auch andere Arten rechtlicher Verantwortlichkeit, besonders die sportliche Disziplinarverantwortung, versagen. Berücksichtigt werden muss der Grundsatz, dass nur solche Rechtswerte und Rechtsgüter einen strafrechtlichen Schutz erfordern, die auch außerhalb des Sports mithilfe strafrechtlicher Bestimmungen geschützt werden. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage danach, welche Werte und Güter durch den sog. Sportbetrug beeinträchtigt werden, und ob es sich dabei tatsächlich um Werte und Güter handelt, die auch außerhalb des Sports geschützt werden, und die einen strafrechtlichen Schutz auch im Sport erfordern. Man muss bemerken, dass zwar bestimmte Formen des sog. Sportbetrugs solche Werte und Güter, wie Leben, Gesundheit, Eigentum, Glaubwürdigkeit der Urkunden und andere, die strafrechtlich geschützt sind, verletzen. In anderen Fällen beeinträchtigt Sportbetrug solche Werte und Güter nicht, sondern berüht lediglich solche Werte, deren Beeinträchtigung außerhalb des Sportes keine strafrechtliche Sanktionierung herbeiführt. Beispielsweise wird in Erwägung gezogen, ob allein die Verletzung des Prinzpis fair play zu einer strafrechtlichen Reaktion berechtigt. Diese Bedenken werden durch die Beobachtung verstärkt, dass im Falle eines strafrechtlichen Schutzes dieses Wertes konsequent alle im Sport beob-
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achteten Verletzungen desselben kriminalisiert werden müssten, sowie alle Verletzungen ähnlicher Fairness-Prinzipien, die bei anderen menschlichen Aktivitäten außerhalb des Sports gelten. Ein anderer zu beachtender Grundsatz ist die Anforderung der Kompatibilität und der Kohärenz der rechtlichen Bestimmungen. Im Zusammenhang mit der Idee der Kriminalisierung des sog. Sportbetrugs sollte demzufolge in Erwägung gezogen werden, ob ähnliche Handlungen in anderen Bereichen des menschlichen Handelns ebenfalls kriminalisiert werden. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip sollte demzufolge dazu veranlassen, die Schärfe der eventuellen strafrechtlichen Sanktionierung des sog. Sportbetrugs zu überprüfen, damit sie mit der Schwere der Bestrafung für ähnliche Handlungen, die außerhalb des Sports verübt werden, vergleichbar ist. In diesem Zusammenhang muss auch der Umstand berücksichtigt werden, dass bisweilen im Sport gegenüber derselben Person für dieselbe Tat auch eine Disziplinarstrafe verhängt wird, deren Sanktionen manchmal sehr scharf und spürbar sind. Das Zusammentreffen der sich nicht ausschließenden Arten von Strafen kann demzufolge zu einer übermäßigen Repression führen, die wiederum deren zu fordernde Verhältnismäßigkeit verletzt, und die sich in einem demokratischen Staat aus dem allgemeinen Verhältnismäßigkeitsprinzip ableiten lässt, das in Polen aufgrund des Art. 31 Abs. 3 im Zusammenhang mit Art. 2 der polnischen Verfassung Geltung besitzt. Um die oben angeführten Vorbehalte in Bezug auf die eventuelle Kriminalisierung des Sportbetrugs zusammenzufassen, sollte beachtet werden, dass eine übermäßige Kriminalisierung unerwünschter Verhaltensweisen, insbesondere deren übertrieben schwere Bestrafung, oft ein Ausdruck des naiven Glaubens an die Omnipotenz des Rechts und die Effektivität des Rechts – in diesem Fall des Strafrechts – sowie der darin vorgesehenen Bestrafung ist. Effektiver sind oft oder zumindest manchmal andere Instrumente der Reaktion auf solche Verhaltensweisen, was ebenso für den sog. Sportbetrug gilt.
Die UNESCO-Konvention gegen Doping im Sport Die Staaten als Garanten des Sportrechts Christoph Vedder1 Das nationale wie das internationale Sportrecht hat sich zu einer breit gefächerten und viele juristische Disziplinen der nationalen Rechtsordnungen übergreifenden Rechtsmaterie entwickelt. Auch das eigentliche Sportrecht, d. h. die von den Verbänden des Sports autonom gesetzten Regelwerke, sind nicht frei, sondern in ihrer Anwendung in die nationalen Rechtsordnungen eingebettet. Das gilt für die Anerkennung und Vollstreckung von Schiedsurteilen des CAS ebenso wie für die Durchsetzung der Regeln des WADA Code. Dieses von den Organisationen des Sports gesetzte Anti-Doping-Recht – ein wesentlicher Teil des genuinen „Sportrechts“ – ist elementar auf die alltägliche Durchsetzung in allen Staaten der Erde und in allen Sportarten angewiesen. Das erfolgt in einer Symbiose von Sportrecht – dem WADA-Recht – und Völkerrecht – der UNESCO-Konvention gegen Doping im Sport vom 19. 10. 2005.2 Wenn es in Doping-Verfahren zu Entscheidungen des CAS kommt, können diese im nationalen Raum auf der Grundlage der New Yorker Konvention von 19583 und deren Durchführung durch nationales Recht – in Deutschland § 1061 Abs. 1 ZPO – vollstreckt werden. Die New Yorker Konvention hat jedoch im Anti-Doping-Recht eher selten Bedeutung, da die sport-spezifischen Sanktionen Wettkampfsperre und Disqualifikation von Ergebnissen, Medaillen, Punkten und Preisen i. d. R. autonom und wirksam durch die betroffenen Sportorganisationen durchgesetzt werden. Die UNESCO-Konvention gegen Doping im Sport ist das dem WADA Code komplementäre völkerrechtliche Instrument, das inzwischen 193 Staaten in die Bekämpfung des Doping im Sport einbindet und entsprechende Verpflichtungen vorsieht. Die UNESCO-Konvention organisiert ein in den internationalen Beziehungen seltenes und intensives Zusammenwirken staatlicher und privater Stellen – hier speziell 1 Der Beitrag berücksichtigt die Rechts- und Literaturlage bis 1. 9. 2020; der WADA Code 2021 bringt für das Thema dieses Beitrags keine inhaltlichen Änderungen gegenüber dem WADA Code 2015. 2 Internationales Übereinkommen gegen Doping im Sport v. 19. 10. 2005, BGBl. 2007 II, 355; in Kraft seit 1. Februar 2007, für die Bundesrepublik seit 27. 2. 2007. 3 New Yorker Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche v. 10 Juni 1958, BGBl. 1961 II, 121; in Kraft seit 1. 6. 1959, für die Bundesrepublik seit 30. 6. 1960; 164 Vertragsparteien im Jahr 2020.
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mit den internationalen und nationalen Anti-Doping-Organisationen WADA und Nados sowie generell mit den internationalen und nationalen Sportorganisationen. Die im politischen Konsens in Deutschland so hochgehaltene Autonomie des Sports findet Grenzen. Im etablierten Sportrecht findet die UNESCO-Konvention erstaunlich wenig Aufmerksamkeit.4 Dem soll die folgende Sichtung des Inhalts und Kontexts der Konvention zur Ehren Klaus Viewegs abhelfen. Welche Konsequenzen daraus für die und in den Vertragsstaaten in concreto folgen, sei dem Leser überlassen. I. Hintergrund der UNESCO-Konvention Dass Doping global und sportartenübergreifend einheitlich auf der Grundlage des WADA Code bekämpft wird, ist heute eine Selbstverständlichkeit. Durch die UNESCO-Konvention von 2005, international in Kraft seit 1. 2. 2007, haben sich bis heute 193 Staaten verpflichtet, die Durchführung des WADA Code zu unterstützen. Ein kurzer Rückblick in die Frühzeit des Sportrechts zeigt, dass die Staaten und einschlägige internationale Organisationen von Anfang an involviert waren. 1. Anlässe und Vorgeschichte Ausgelöst durch den Boykott der Olympischen Spiele 1976 in Montreal und 1980 in Moskau wurde das Verhältnis zwischen internationalem Sport mit dem IOC an Spitze und den Staaten rechtswissenschaftlich thematisiert und Überlegungen angestellt, dieses Verhältnis zum Gegenstand einer globalen internationalen Konvention zum Schutz der Olympischen Spiele und anderer Aspekte zu machen – unter der Ägide der UNESCO als der für den Sport einschlägigen UN-Sonderorganisation.5 4 So wird die Konvention in Fritzweiler/Pfister/Summerer, Praxishandbuch Sportrecht, 4. Aufl. 2020, nur an einer einzigen Stelle überhaupt erwähnt: Summerer, S. 288; in: Adolphsen/Nolte/Lehner/Gerlinger (Hrsg.) Sportrecht in der Praxis, 2012, findet die Konvention keine Erwähnung; Nafziger, in: Nafziger/Ross (Hrsg.), Handbook on International Sports Law, 2011, S. 4, 12, und Pound/Clarke, ebd. S. 135, 139, erwähnen die UNESCO-Konvention lediglich in wenigen Zeilen; ebenso Siekmann, Introduction to International and European Sports Law, 2012, S. 13, 313; Flint/Lewis/Taylor, in: Lewis/Taylor (Hrsg.), Sport: Law and Practice, 3. Aufl. 2014, S. 135 ff., 201 f. resümieren im Zusammenhang mit Art. 22 WADA Code den Inhalt der Konvention auf einer halben Seite. . 5 Z. B. Simma, in: Bundesinstitut für Sportwissenschaft/NOK für Deutschland/MaxPlanck-Gesellschaft (Hrsg.), Olympische Leistung. Ideal, Bedingungen, Grenzen, BadenBaden 1981, S. 334 ff., dieser Band dokumentiert u. a. die Beiträge und Diskussion des rechtswissenschaftlichen Symposiums „Die Rechtsstellung der olympischen Organisation und die rechtliche Absicherung der Olympischen Spiele“ vom Mai 1981; eine internationale Konvention über die Olympischen Spiele wurde durch den 11. Olympischen Kongreß 1981 in Baden-Baden diskutiert, z. B. Beitrag Jekiel, in: NOK (Hrsg.), Der Kongreß, Baden-Baden 1982, S. 115; Vedder, The International Olympic Committee: An Advanced Non-Governmental Organization and the International Law, GYIL 1984, 233 ff., 246 ff., 254 ff.; Nafziger
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Dabei konnte auf erste Initiativen aus den 1950er Jahren und einen von der UN-Generalversammlung angeregten Entwurf einer International Convention Against Apartheid in Sports von 1980 sowie völkerrechtliche Gutachten zurückgegriffen werden.6 Es war auch die Zeit, in der sich das Sportrecht in Deutschland zu entfalten begann. Klaus Vieweg hatte daran seinen Anteil.7 Mit den Fällen Sandra Gasser, der 1988 durch das Arbitration Panel der IAAF – seit 2019 World Athletics – entschieden wurde und dann ordentliche Gerichte beschäftigte und – spektakulär – Ben Johnsons Disqualifikation während der Olympischen Spiele 1988 in Seoul wurde Doping endgültig zu einem vorherrschenden rechtlichen Feld des Sports. Bei den Olympischen Spielen 1968 in Mexiko-Stadt waren erstmalig systematisch Doping-Kontrollen durchgeführt worden; Trainings-Kontrollen werden dagegen erst seit 1990 durchgeführt. 1981 hatte der 11. Olympische Kongress den „Amateur-Paragraphen“, Regel 26 der Olympischen Charta, als Zulassungsvoraussetzung für die Teilnahme an Olympischen Spielen in der neugefassten Regel 26 durch einen „Eligibility Code“ ersetzt, der auf die Regelwerke der Internationen Sportverbände und weitere Regeln der Olympischen Charta verwies.8 Regel 29 der Olympischen Charta 1982 lautete dann schlicht: „Doping is forbidden. The IOC shall prepare a list of prohibited drugs.“
und verwies auf den Medical Code des IOC. Damit war ein generelles Verbot des Doping erreicht. Die IAAF, die wie die genannten und andere Fälle zeigen, in besonderer Weise betroffen war und in ihre Satzung entsprechende Regeln aufgenommen und 1984 – zeitgleich mit dem CAS – ein Arbitration Panel9 eingesetzt hatte, das auch
geht in seinem Werk International Sports Law, 1988, S. 25 ff. auf die frühe Rolle der UNESCO ein. 6 Simma (Fn. 5), S. 336 f. 7 Vieweg, JuS 1983, S. 825, abgedruckt in: Steiner/Walker (Hrsg.), Von „Sport und Recht“ zu „Faszination Sportrecht“, 2016, S. 11 8 Olympic Charter 1982, in Kraft ab 1. 1. 1982; durch Beschluss der 84. Session des IOC, NOK (Hrsg.), Der Kongreß, Baden-Baden 1982, S. 246; dazu Beitrag Bach und Schlusserklärung Coe, S. 116, 211; näher Vedder/Tröger, Die Rechtsqualität der IOC-Zulassungregel, in: Reuter (Hrsg.), Einbindung des nationalen Sportrechts in internationale Bezuge (Beiträge zur Herbsttagung des Konstanzer Arbeitskreises 1986), 1987, S. 1 ff.; Doping-Freiheit als Teilnahmevoraussetzung nach neuem Recht war ein Thema des von Klaus Vieweg 1982 an der Universität Münster veranstalteten Seminars „Sport und soziale Konflikte“. 9 Vedder, in: International Athletic Foundation (Hrsg.), Supplement, 1992, S. 33 ff.; Vedder, The IAAF Arbitration Panel. The Heritage of two Decades of Arbitration in DopingRelated Cases, in: Blackshaw/Siekmann/Soek (Hsrg.), The Court of Arbitration for Sport 1984 – 2004, Den Haag 2006, 266 ff.; Tarasti, Legal Solutions in International Doping Cases, 2000; ders., Personal Experience on History of Sports Law, SSLA, Artikelsamling 2020, 35.
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für Doping-Fälle zuständig war, hat Doping in einem Symposium „Sport and Law“ im Januar 1991 intensiv thematisiert.10 1991 hatte der 1984 durch das IOC gegründete CAS noch keine BerufungsSchiedsgerichtsbarkeit für Beschwerden gegen Verbandsentscheidungen – diese wurde 1994 geschaffen – und es gab daher noch kein CAS-Case Law in Doping-Sachen. Lediglich im Bereich der IAAF und einiger anderer Verbände entwickelte sich Rechtsprechung zum Doping.11 Die materiell-rechtlichen Anti-Doping-Regeln wurden vom IOC für den olympischen Bereich und von den Internationalen Sportverbänden für ihre jeweilige Sportart erlassen – durchaus unterschiedlich in Tatbeständen und Sanktionen. Da Sport eine nach den gleichen Regeln ausgeübte globale Aktivität ist, wurde der Ruf nach Harmonisierung – sportartenübergreifend und weltweit geltend – der Anti-Doping-Regeln immer lauter. Auf Initiative des IOC und der kanadischen Regierung tagte die „First Permanent Conference on Anti-Doping in Sport“ im Juni 1988 in Ottawa und verabschiedeten den Text einer „International Olympic Anti-Doping Charter“, die von den parallelen Arbeiten im Europarat inspiriert war. Dieser Konventionstext wurde im Dezember 1988 von der zweiten Conference of Ministers and Senior Officials Responsible for Sport and Physical Education der UNESCO (MINEPS) angenommen und vom Treffen der Europäischen Sportminister im Rahmen des Europarats am 1. 6. 1989 unterstützt.12 Als Reaktion auf Ben Johnsons Doping-Fall im Oktober 1988 hatte die kanadische Regierung eine Untersuchungskommission unter Vorsitz des Chief Justice of Ontario, L. Dubin, eingesetzt. In dem im Oktober 1989 erstatteten Dubin-Report werden die Rolle der IAAF und die des IOC und der Stand der Bekämpfung des Doping eingehend gewürdigt.13 Auf europäischer Ebene hat der Europarat im November 1989 das Europäische Übereinkommen gegen Doping angenommen14, und damit auch den Weg zur UNESCO-Konvention bereitet. Die Aktivitäten der UNESCO und die am Ende stehende Konvention beziehen sich ausdrücklich auf die Pionierarbeit des Europarats, der seinerseits eng in die Aktivitäten der UNESCO eingebunden war. Parallel zur
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International Athletic Foundation (Hrsg.), International Symposium on Sport and Law. Proceedings, Monaco 1991, mit Beiträgen von Armstrong, Gay und Tarasti, S. 57 ff und Vedder, S. 146 ff., und Supplement, Monaco 1992; mit einem Beitrag von Klaus Vieweg über die Sport-Rechtsprechung in Deutschland, S. 87 ff. 11 Vgl. die Nw. in Fn. 9. 12 Council of Europe, Explanatory Report to the Anti-Doping Convention, 16. 11. 1989. par. 24; Resolution der Minister vom 1. 6. 1989. 13 Dazu Armstrong (Fn. 10), S. 59 ff.: der Fall Ben Johnson sei das „Watergate“ des Sports. 14 Europäisches Übereinkommen gegen Doping v. 16. 11. 1989, BGBl. 1994 II 334; in Kraft seit 1. 3. 1990, für die Bundesrepublik seit 1. 6. 1994.
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Gründung der WADA 1999 und der Ausarbeitung des WADA Code wurde 2002 im Europarat das Zusatzprotokoll zur Anti-Doping-Übereinkunft angenommen.15 2. Die WADA und der WADA Code, Konferenz von Kopenhagen 2003 Die Initiative zur Gründung der WADA ging von IOC aus, Regierungen und Internationale Organisationen, insbesondere der Europarat,16 waren von Anfang an eng eingebunden. Der unmittelbar Startschuß ist die – in neu beginnender Zählweise – die 1. World Conference on Doping in Sport, die vom IOC einberufen vom 2.–4. 2. 1999 in Lausanne unter Beteiligung von – neben der Olympischen Bewegung IOC, IFs, NOKs und Athleten – Regierungen, Internationalen Organisationen und NGOs stattfand. In der abschließenden Lausanne Declaration on Doping in Sport vom 4.2. 199917 wird – auch von Regierungen und internationalen Organisationen – der in den Jahren zuvor vom IOC als Ersatz für den IOC-Medical Code beschlossene „Olympic Movement Anti-Doping Code“ vom 27. 11. 1998, der allerdings allein im Rahmen der Olympischen Bewegung galt, als Grundlage für die Bekämpfung des Doping angenommen.18 Dieser sieht bereits eine moderne Definition von Doping und Sanktionen vor. Zweitens wird festgehalten, dass eine „International Anti-Doping Agency“ gegründet werden und bis zu den Olympischen Spielen 2000 in Sydney arbeitsfähig sein soll. Zu diesem Zweck wird eine Arbeitsgruppe unter Beteiligung von Regierungen und internationalen Organisationen eingesetzt. Schließlich stellt die Lausanne Declaration fest, dass das IOC, die IFs und die NOKs jeweils eigene Zuständigkeiten zur Doping-Bekämpfung haben und diese in Zusammenwirken mit der International Anti-Doping Agency wahrnehmen werden. Deren erstinstanzliche Entscheidungen werden bei Olympischen Spielen dem IOC, im Übrigen den IFs oder den NOKs rechtlich zugerechnet, und Beschwerden unterliegen der Berufungs-Zuständigkeit des CAS. In der Folge der Lausanner World Conference on Doping in Sport lud der damalige IOC-Präsident den Europarat und andere internationale Organisation – die
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Zusatzprotokoll v. 12. 9. 2002, BGBl. 2007 II, 705; in Kraft seit 1. 4. 2004, für die Bundesrepublik seit 1. 5. 2008; zu den Verbindungen der UNESCO-Konvention mit der Europarats-Konvention: Evaluation of UNESCO‘s International Convention against Doping in Sport, IOS/EVS/PI/161.REV.2 v. August 2017, S. 23. 16 Ministers’ Deputies Notes on the Agenda 99/30 v. 11. 1. 1999, https://rm.coeint/ 16804d87d2. 17 www.sportunterricht.de/lksport/Declaration_e.html. 18 Der Olympic Movement Anti-Doping Code sollte zum 1. 1. 2000 in Kaft treten, für die Olympischen Spiele 2000 in Sydney gelten und den bis dahin geltenden IOC Medical Code ersetzen, Explanatory Memorandum Concerning the Application of the Olympic Movement Anti-Doping Code der IOC v. 9. 12. 1999.
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WHO, UNDCP, Interpol, die EU – ein, sich an der nunmehr „World Anti-Doping Agency“ genannten WADA zu beteiligen.19 In Vollzug der Declaration of Lausanne vom 4. 2. 1999 hat das IOC mit Wirkung vom 10. 11. 1999 die WADA als Stiftung Schweizer Rechts mit Sitz zunächst in Lausanne gegründet. Nach Zusammensetzung und privatrechtlicher Rechtsnatur ist die WADA als NGO zu qualifizieren. Zu den ersten, wesentlichen Aufgaben der WADA gehörte es, ein weltweit und sportartenübergreifend geltendes Anti-Doping-Regelwerk zu entwerfen. 2002 legte die WADA den künftigen Unterzeichnern („Signatories“) IOC, IPC, IFs, NOKs und Nados einen Entwurf vor. Dieser wurde in endgültiger Fassung im Rahmen der 2. World Conference on Doping in Sport am 5. 3. 2003 in Kopenhagen angenommen: der WADA Code 2003. Rechtlich bedeutsam ist die am 5. 3. 2003 von den Teilnehmern der Konferenz – neben den Verbänden der Olympischen Bewegung Minister und hochrangige Vertreter von Regierungen, internationale Organisationen, NGOs – angenommene Kopenhagener Erklärung.20 Darin akzeptiert („accepts“) die Konferenz den WADA Code als Grundlage für die Bekämpfung von Doping im Sport weltweit. Die Verbände der Olympischen Bewegung, die nationalen Anti-Doping-Organisationen und die Veranstalter von Wettkämpfen verpflichten sich, den Code durch formelle Verpflichtungserklärungen anzunehmen und von der Eröffnung der Olympischen Spiele 2004 in Athen an anzuwenden. Die Regierungen werden gemäß der Kopenhagener Erklärung die Aufgabe der WADA anerkennen und fördern; den WADA Code unterstützen („support“); die internationale Zusammenarbeit zur Harmonisierung ihrer Anti-Doping-Politiken und -Verfahren fortführen; eine internationale Konvention schaffen, damit der WADA Code bis zu den Olympischen Winterspielen 2006 in Turin von den Regierungen durch verfassungsgemäße und verwaltungsmäßig geeignete Maßnahmen („instruments appropriate to the constitutional and adminstrative contexts“) durchgeführt wird. Die Konferenz drängt („urges“) die Staaten, ihre Verpflichtung („commitment“) auf den WADA Code bis zur Eröffnung der Olympischen Spielen 2004 in Athen zu erklären und die Inhalte („contents“) des WADA Code vor der Eröffnung der Olympischen Winterspiele 2006 in Turin umzusetzen („implement“). Damit sind die Weichen für die UNESCO-Konvention endgültig gestellt.
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Offer to Participate in the World Anti-Doping Agency, Letter by Juan Antonio Samaranch v. 12.10. 1999 mit Statuten und Draft Mission Statement der WADA, Ministers’ Deputies CM Documents 689 v. 24. November 1999, https://rm.coe.int/16804db74b. 20 World Conference in Doping in Sport, Resolution adopted on 5 March 2003, final.
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Bereits zum 1. Januar 2009 trat eine neue Version des WADA Code in Kraft. Der Seit 1.1. 2015 geltende WADA Code 2015 wird zum 1. 1. 2021 durch den WADA Code 2021 abgelöst.21 3. Der WADA Code und die Staaten Der WADA Code ist gemäß seines Art. 23 für die dort genannten Sport- und AntiDoping-Organisationen als „Signatories“ verbindlich und diese haben den Code in ihren Regelwerken umzusetzen. Die Rolle der Staaten wird in Art. 22 des WADA Code beschrieben. Nach der Fassung des WADA Code 2003 wird – die Kopenhagener Erklärung greift das nur auf – die Bindung der Regierungen an den WADA Code („each government’s commitment to the Code“) dadurch zum Ausdruck gebracht, dass diese vor Beginn der Olympischen Spiele 2004 in Athen eine Erklärung unterzeichnen und vor Beginn der Olympischen Winterspiele 2006 in Turin zum Abschluß einer Übereinkunft kommen. Dazu wird im Kommentar zu Art. 22 ausdrücklich auf die seit Januar 2003 auf Ministerebene im Rahmen der UNESCO diskutierte Konvention hingewiesen. In Art. 22 der Fassungen des WADA Code 2009 und 2015 wird dann eine direkte Verklammerung mit der seit 2005 existierenden und 2007 in Kraft getretenen UNESCO-Konvention hergestellt: „Each government’s commitment to the Code will be evidenced by its signing the Copenhagen Declaration on Anti-Doping in Sport of 3 March 2003 and by ratifying, accepting, approving or acceding to the UNESCO Convention.“
Weiter bringen in Art. 22 WADA Code die Signatories eine Reihe von inhaltlichen Erwartungen („expectations“) an die Erklärung und die zu schließende Übereinkunft zum Ausdruck. Im WADA Code 2003 betraf das die Unterstützung nationaler AntiDoping-Programme, die Verfügbarkeit verbotener Substanzen und Methoden, die Durchführung von Trainingskontrollen durch die WADA, Nahrungsergänzungsmittel, finanzielle Sanktionen bei Verstößen gegen den WADA Code und Monitoring. Die UNESCO-Konvention hat dem dann entsprochen. Art. 22.8 WADA Code 2015 sieht – wie zuvor Art. 22. 6 WADA Code 2009 – eine einschneidende sportrechtliche Sanktion vor: Staaten, die bis zum 1. 1. 2016 nicht Vertragspartei der UNESCO-Konvention geworden sind oder nach diesem Zeitpunkt diese nicht einhalten, können von Bewerbungen um internationale Sportveranstaltungen ausgeschlossen oder ihnen solche entzogen werden; weiter sind der Entzug von Ämtern in der WADA und andere in der Olympischen Charta vorgesehene Sanktionen möglich.
21 Zur Erstreckung der UNESCO-Konvention auf die Neufassungen des WADA Code s. u. unter II. 6.
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4. Die UNESCO-Konvention Die UNESCO war seit der von ihr einberufenen World Conference of Ministers Responsible for Physical Education and Sports (MINEPS) 1976 in Paris das mit dem olympischen und dem Hochleistungssport befaßte globale zwischenstaatliche Forum.22 Nachdem die vom IOC einberufene World Conference on Doping in Sport mit der Lausanner Erklärung vom 2. 2. 1999 eine weltweite Konvention eingefordert hatte23, hat sich die UNESCO des Themas angenommen. Unmittelbar nach der Gründung der WADA am 10. 11. 1999 hat die 3. Konferenz der Ministers and Senior Officials responsible for Physical Education and Sport (MINEPS III) im Dezember 1999 in Punta del Este diese Forderung aufgegriffen. Nachdem am 12. 9. 2002 das Zusatzprotokoll zur Europarats-Konvention angenommen worden war und am 1. 1. 2004 der WADA Code 2003 in Kraft getreten war, wurde auf der MINEPS IV-Konferenz im Dezember 2004 in Athen beschlossen, eine Konvention der UNESCO auszuarbeiten, was im Laufe des Jahres 2005 geschah. Am 19. 10. 2005 hat die General Conference der UNESCO die Konvention mit 191 Stimmen einstimmig angenommen. Am 7. 6. 2006 wurde das Memorandum of Understanding mit der WADA vereinbart. Zum 1. 4. 2020 waren dann auch 193 Staaten Vertragsparteien der Konvention, darunter die USA, Russland und China sowie die Mitgliedstaaten der EU und die Schweiz. Die Konvention hat de facto universelle Geltung. 5. Folgekonferenzen Die durch die Konvention geschaffene Vertragsstaatenkonferenz tritt seit 2007 alle zwei Jahre zusammen, um die weltweite Anti-Doping-Politik weiterzuentwickeln und die Staatenberichte zu prüfen.24 Die WADA ist Beobachter. Umgekehrt nimmt die UNESCO an den World Conferences on Doping in Sport der WADA teil. Diese enge Verflechtung zeigte sich darin, dass die 7. Vertragsstaatenkonferenz am 29.–31. 10. 2019 in Paris stattfand, unmittelbar gefolgt von der 5. Welt-DopingKonferenz der WADA am 5.–7.11. 2019 in Kattowitz, die den WADA Code 2021 verabschiedet hat. II. Die Konvention und ihre Verpflichtungen 1. Zweck und völkerrechtlicher Hintergrund der Konventiion Die Konvention zielt gemäß ihres Art. 1 darauf, im Rahmen der Strategie und Programmen der UNESCO zu Leibeserziehung und Sport „die Verhütung und Bekämp22
Näheres Vedder (Fn. 5), GYIL, S. 250. Siehe oben unter I. 2. 24 Siehe unten unter II. 6. 23
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fung des Dopings im Sport zu fördern mit dem Ziel der vollständigen Ausmerzung des Dopings.“ In der Präambel wird weit ausgreifend der Kontext aufgerufen, in den die Konvention gestellt wird. Aufgabe der UNESCO ist es, „durch Bildung, Wissenschaft und Kultur zu Frieden und Sicherheit beizutragen“25. Hingewiesen wird auf die internationalen Menschenrechtsübereinkünfte, die Resolution 58/5 der UN-Generalversammlung von 2003, nach der Sport ein Mittel zur Förderung von Bildung, Gesundheit, Entwicklung und Frieden ist, und die Bedeutung des Sports für den Schutz der Gesundheit, die geistige, kulturelle und körperliche Erziehung und für die Völkerverständigung und Frieden. Speziell wird die Notwendigkeit internationaler Zusammenarbeit zur Beseitigung von Doping im Sport festgestellt und die Besorgnis über die Praxis des Doping, dessen Konsequenzen für die Gesundheit der Sportler, für den Grundsatz des Fair Play, für die Beseitigung von Betrug und die Zukunft des Sports geäußert. Damit gefährdet Doping „die ethischen Grundsätze und erzieherischen Werte“, die in der UNESCOCharta für Leibeserziehung und Sport26 und in der Olympischen Charta27 enthalten sind. Weiter wird auf die Anti-Doping-Konvention des Europarates und deren Zusatzprotokoll28 hingewiesen. Schließlich wird nach diesem völkerrechtlichen Hintergrund „bearing in mind“ auf den auf der World Conference on Doping in Sport in Kopenhagen am 5. 3. 2005 beschlossenen WADA Code und die Kopenhagener Declaration on Anti-Doping in Sport29 hingewiesen. 2. Anwendungsbereich, Verpflichtung auf den WADA Code Zur Erreichung des in Art. 1 UNESCO-Konvention definierten Ziels verpflichten sich die Vertragsstaaten in Art. 3 lit. a, angemessene Maßnahmen auf nationaler und auf internationaler Ebene zu ergreifen, „die mit den Grundsätzen des Codes vereinbar sind“. Nach der in Art. 2 Nr. 6 enthaltenen Begriffsbestimmung meint „Code“ den am 3. 3. 2003 beschlossene WADA Code. Die Verpflichtung auf den WADA Code wird allerdings in der Weise relativiert, als die zu ergreifenden Maßnahmen nur mit den „Grundsätzen“ des Code vereinbar sein müssen. 25
Die deutschsprachige Fassung des Konventionstexts, wie sie im BGBl. veröffentlicht ist, ist eine zwischen Deutschland, Österreich und der Schweiz abgestimmte Übersetzung; sie ist daher im Licht der authentischen Sprachfassungen zu verstehen; daher werden in der folgenden Analyse der Konvention teils Formulierungen verwandt, die den Inhalt der Konvention m. E. besser wiedergeben; nur wörtliche Zitate der offiziösen deutschen oder der authentischen englischen Fassung werden durch Anführungsstriche kenntlich gemacht. 26 Charter for Physical Education and Sport, www.unesco.de/infothek/dokumente/unescoerklaerungen/charta-leibeserziehung-sport.html; Neufassung 2015, www.bisp-surf.de/RE CORD/WE020170600049. 27 Fundamental Principles, Olympische Charta 2005 28 Siehe oben unter I. 1. 29 Siehe oben unter I. 2.
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In Konkretisierung der Verpflichtung auf die Grundsätze des WADA Code regelt Art. 4 das Verhältnis von Konvention und WADA Code und damit den zentralen Aspekt der Konvention. Art. 4 Abs. 1 lautet: „Um die Durchführung der Bekämpfung des Dopings im Sport auf der nationalen und internationalen Ebene zu koordinieren, verpflichten sich die Vertragsstaaten den Grundsätzen des Codes als Grundlage für die in Art. 5 dieses Übereinkommens vorgesehenen Maßnahmen. Diese Übereinkommen hindert die Vertragsstaaten nicht daran, zusätzliche Maßnahmen in Ergänzung des Codes zu ergreifen.“
Art. 5 beschreibet die von den Vertragsstaaten zu ergreifenden Maßnahmen: „Zur Erfüllung der in diesem Übereinkommen enthaltenen Verpflichtungen verpflichtet sich jeder Vertragsstaat, geeignete Maßnahmen zu ergreifen. Die Maßnahmen können Gesetze, sonstige Vorschriften, politische Maßnahmen und Verwaltungspraktiken beinhalten.“
Art. 3 bis Art. 5 sind der Kern der Konvention und verpflichten die Vertragsstaaten, auf der Grundlage der „Grundsätze“ des WADA Code „geeignete Maßnahmen“ auf nationaler und internationaler Ebene zu ergreifen in Form von Gesetzen, anderen Vorschriften oder politischen und administrativen Maßnahmen. Dadurch wird eine indirekte Bindung der Vertragsstaaten an den WADA Code geschaffen. Eine unmittelbare Verpflichtung wäre nicht möglich, da der WADA Code ein privates Regelwerk ist und gegenständlich nicht Staaten oder staatliche Behörden betrifft. Als salvatorische Klausel stellt Art. 4 Abs 2 S. 2 fest, dass „aus den Anhängen als solchen …. für die Vertragsstaaten keine völkerrechtlichen Verpflichtungen (erwachsen).“
Der WADA Code ist ein „Anhang“ zur Konvention. Damit wird allerdings nur die Selbstverständlichkeit zum Ausdruck gebracht, dass der WADA Code „als solcher“ keine völkerrechtlichen Verpflichtungen erzeugt. Es ist vielmehr die Konvention, die in differenzierter Weise Verpflichtungen zur Durchführung des WADA Code schafft. Dementsprechend regeln Art. 4 Abs. 2 und Abs. 3 das Verhältnis von Konvention und WADA Code in differenzierender Weise. Gemäß Art. 4 Abs. 2 werden der in „Anhang 1“ wiedergegebene WADA Code 2003 und „die jeweils geltenden Fassungen“ der „Anhänge 2 und 3“ – das sind der International Standard for Laboratories und der International Standard for Testing, die bei Annahme der Konvention schon von der WADA als Durchführungsregularien zum Code erlassen worden waren – „zu Informationszwecken aufgeführt und sind nicht Bestandteil“ der Konvention. Demgegenüber erklärt Art. 4 Abs. 3 die „Anlagen“ zu „Bestandteilen“ der Konvention. „Anlagen“ sind die WADA Prohibited List und die Standards for Granting Therapeutic Use Exemptions („TEU“). Beide WADA-Durchführungsregelwerke spielen bei der Begriffsbestimmung von Doping eine Rolle, wie sie in Art. 2 Nr. 3 der Konvention in Übereinstimmung mit dem WADA Code wiedergegeben wird. Art. 2 enthält 25 Begriffsbestimmungen „for the purpose of the Convention“, die „im Kontext“ des WADA Code zu verstehen sind. Bei Wiedersprüchen sind aller-
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dings gemäß Art. 2 S. 2 die Bestimmungen der Konvention maßgeblich. Die Mehrheit dieser Begriffsbestimmungen stimmt mit Definitionen im Anhang zum WADA Code überein und die in Art. 2 Nr. 3 der Konvention wiedergegebene Definition der „Anti-doping rule violation“ ist identisch mit den in Art. 2.1 bis 2.8 des WADA Code 2003 geregelten Doping-Tatbeständen. Damit wird der Kern des genuin sportrechtlichen Anti-Doping-Rechts in die Konvention überführt. Doping i. S. d. Konvention ist identisch mit Doping i. S. d. WADA Code. 3. Nationale Durchführung, Zusammenwirken mit den Organisationen des Sports Der zweite Teil der Konvention befasst sich in Art. 7 bis Art. 12 mit der Durchführung der Konvention auf nationaler Ebene. a) Inpflichtnahme der nationalen Sportorganisationen und Anti-Doping-Organisationen Art. 7 artikuliert die besondere Grundstruktur der aus der Konvention erwachsenden Verpflichtungen: „Die Vertragsstaaten stellen die Anwendung dieses Übereinkommens insbesondere durch innerstaatliche Koordinierung sicher. Um ihren Verpflichtungen aus dem Übereinkommen nachzukommen, können sich die Vertragsstaaten auf Anti-Doping-Organisationen wie auch auf für den Sport zuständige Stellen und Sportorganisationen stützen“.
Gemäß der Begriffsbestimmung in Art. 2 Nr. 2 werden damit in erster Linie die Anti-Doping-Organisationen i. S. d. WADA Code angesprochen, in Deutschland die Nada. Art. 7 verpflichtet die Vertragsstaaten, sich zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen der Sportorganisationen, vor allem der Nadas zu bedienen, sie also in die Pflicht zu nehmen – oder es andernfalls selbst zu machen. b) Anti-Doping-Gesetze, Anti-Doping-Regelwerke des Sports Art. 8 der Konvention dagegen verpflichtet die Vertragsstaaten, selbst unmittelbar tätig zu werden und Maßnahmen gegen Doping zu ergreifen. „Maßnahmen“ schließt gemäß Art. 5 S. 2 Gesetze und andere staatliche Regelungen ein. Gemäß Art. 8 Abs. 1 ergreifen die Vertragsstaaten „Maßnahmen, um die Verfügbarkeit verbotener Substanzen und Methoden und damit die Anwendung durch Athleten im Sport einzuschränken… Dazu gehören Maßnahmen, die sich gegen das Inverkehrbringen verbotener Wirkstoffe in Bezug auf Athleten richten, und damit auch Maßnahmen, die der Eindämmung der Produktion, der Verbringung, der Einfuhr, des Vertriebs und des Verkaufs abzielen.“
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Das deutsche Anti-Doping-Gesetz von Dezember 201530 nimmt, anders als das österreichische Anti-Doping-Bundesgesetz von 200731, in seinem § 1, der – für ein Gesetz ungewöhnlich – den „Zweck des Gesetzes“ beschreibt, nicht offen Bezug auf die UNESCO-Konvention. In den in §§ 2 und 3 ADG normierten Tatbeständen verweist das Gesetz für die Definition von „Dopingmittel“ und „Dopingmethode“ allerdings ausdrücklich auf die „Anlage I“ der Konvention, und damit auf die WADA-Verbotsliste in ihrer jeweiligen Fassung.32 Damit und im gesamten Kontext wird deutlich, dass das ADG der Realisierung der Verpflichtung aus Art. 8 der Konvention dient33 und eine weitere – strafrechtliche – Sanktionierung des WADA Code bewirkt.34 Die Begründung der Bundesregierung zum Gesetzentwurf stellt mehrfach ausdrücklich fest, dass die Bundesrepublik durch die UNESCO-Konvention und das Europarats-Übereinkommen gegen Doping „völkerrechtlich verpflichtet [ist], Maßnahmen zur Dopingbekämpfung zu ergreifen“, dass die Bundesrepublik die UNESCOKonvention „ratifiziert und sich damit völkerrechtlich an das Übereinkommen gebunden“ hat bzw. dass die Bundesrepublik „sich zur Umsetzung des WADC durch die Ratifikation [der UNESCO-Konvention] wie 177 andere Vertragsparteien auch verpflichtet“ hat.35 Gemäß Art. 8 Abs. 1 S. 2 sollen die nationalen gesetzgeberischen Maßnahmen auch über die auf die Innenwelt des Sports bezogenen Anwendungsberiech des WADA Code hinausgehen und z. B. auch in das WTO-Recht hineinwirken. § 2 ADG verbietet u. a. die Herstellung, den Handel, die Einfuhr von verbotenen Substanzen und Methoden. Während Art. 8 Abs. 1 direkt zu staatlichen Maßnahmen genereller Natur gegen verbotene Substanzen und Wirkstoffe verpflichtet, haben die Vertragsstaaten nach Art. 8 Abs. 2 entweder selbst Maßnahmen zu ergreifen oder – das dürfte meist einschlägig sein – haben
30
Gesetz gegen Doping im Sport v. 10. 12. 2015, BGBl. 2015 I 2210, i. d. F. v. 3. 7. 2020. Das Anti-Doping-Bundesgesetz 2007, i. d. F.v. 1. 1. 2019, BGBl. I Nr. 37/2018, stellt in § 1 Abs. 1 unter „Zielsetzungen“ fest: die UNESCO-Konvention „verpflichtet Österreich die in diesem Übereinkommen vorgesehenen Maßnahmen im Kampf gegen Doping … zu unterstützen“; das österreichische ADBG ist im Wesentlichen ein gesetzlicher Nachvollzug des WADA Code für Österreich mit einer zusätzlichen strafrechtlichen Komponente; daher gibt es nicht einen österreichischen NADA Code. 32 Siehe oben unter II. 2 33 Uhl, Das Anti-Doping Recht der Sportverbände und das staatliche Anti-Doping-Recht, 2021, Teil I C.II.2, Teil I C. III.4.b, Teil I C. IV 34 Mortsiefer, in: Lehner/Nolte/Putzke, Anti-Doping-Gesetz, 2017, § 1 Rn. 70. 35 Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung von Doping im Sport v. 13. 5. 2015, BT-Drucks. 18/4898, S. 2, 18, 24, 38. 31
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„die einschlägigen Stellen36 innerhalb ihres jeweiligen Hoheitsgebiets zu Ergreifung entsprechender Maßnahmen (zu ermutigen), um die Anwendung und den Besitz verbotener Wirkstoffe und Methoden durch Athleten im Sport zur verhüten und einzuschränken …“
Damit werden nur Sportler und allein der Sportbetrieb ins Visier genommen und der Bereich des selbstverwalteten Sports betroffen. Daher wird diese Verpflichtung in den meisten Vertragsstaaten in Form der zweiten Alternative greifen und in den Bereich der Kooperation von Staat und Sport fallen. Art. 8 Abs. 3 nimmt „die Verfügbarkeit für rechtmäßige Zwecke von Wirkstoffen und Methoden, die ansonsten im Sport verboten oder eingeschränkt verfügbar sind“ generell aus. Art. 8 Abs. 1 und Abs. 2 sehen ausdrücklich Ausnahmen für den Fall von TUEs vor. Art. 9 der Konvention dehnt den Anwendungsbereich der Verpflichtungen aus Art. 8 auf das „athlete support personnel“ – nach der Begriffsbestimmung des Art. 2 Nr. 5 der Konvention, die ihrerseits mit der des WADA Code übereinstimmt: „coach, trainer, manager, agent, team staff, official, medical or paramedical personnel working with or treating athletes participating in or preparing for sports competition“ – die eine „anti-doping rule violation“ oder eine „andere Zuwiderhandlung im Zusammenhang mit Doping im Sport“ begehen, aus. Das geht über den vom WADA Code 2003 einbezogenen Personenkreis hinaus; das ADG schließt diesen dagegen ein. Das im Anti-Doping-Recht besonders relevante Problem der Nahrungsergänzungsmittel erfährt – wie im WADA Code 2003 in Art. 10.5.2 und im WADA Code 2015 in Art. 10.5.1.2 – in Art. 10 der Konvention eine ausdrückliche, wenn auch sehr zurückhaltende Regelung. Die Vertragsstaaten haben, wo angebracht die Hersteller und Vertreiber von Nahrungsergänzungsmitteln aufzufordern, „vorbildliche Vorgehensweisen“ („best practices“) bei Vermarktung und Vertrieb von Nahrungsergänzungsmitteln einzuführen, einschließlich der „Angaben über deren analytische Zusammensetzung und die Qualitätssicherung“. Ein wesentliches Instrument im Kampf gegen Doping sind nach der Konvention Gewährung und – als Sanktion – Entzug finanzieller Mittel. Art. 11 der Konvention verpflichtet die Vertragsstaaten in drei Konstellationen zur Finanzierung der Bekämpfung des Doping bzw. zum Entzug finanzieller Mittel. Gemäß Art. 11 Abs. 1 haben die Vertragsstaaten aus ihren Haushaltsmitteln ein nationales Test-Programm über allen Sportarten hinweg finanziell zu fördern bzw. Sportorganisationen und Anti-Doping-Organisationen bei der Finanzierung von Doping-Kontrollen zu unterstützen, sei es durch direkte Subventionen oder Zuweisungen, sei es dadurch, dass die Kosten solcher Kontrollen bei der Festsetzung der diesen Organisationen gewährten Gesamtsubventionen oder -zuweisungen zu berücksichtigen. Neben der Förderung von Doping-Kontrollen sieht Art. 11 auch finanzielle Sanktionen vor. Gemäß Art. 11 Abs. 2 haben die Vertragsstaaten „Schritte zu unterneh36
„Relevant entities“.
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men“, finanzielle Unterstützung an einzelne Sportler oder „athlete support personnel“, die wegen eines Doping-Verstoßes gesperrt wurden, während die Dauer der Sperre zurückzuhalten – eine staatliche Sanktion, die die sportrechtliche Sanktion ergänzt. Ebenso haben die Vertragsstaaten gemäß Art. 11 Abs. 3 finanzielle oder andere sportbezogenen Unterstützung denjenigen Sportorganisationen bzw. Anti-DopingOrganisationen, die den WADA Code oder gemäß diesem erlassenen Anti-Doping-Regeln nicht befolgen, ganz oder teilweise zu verweigern. Von großer Tragweite für die praktische Durchführung von Doping-Kontrollen und deren Labor-Analyse sind die in Art. 12 der Konvention formulierten Verpflichtungen. Gemäß Art. 12 lit. a haben die Vertragsstaaten die Durchführung von Doping-Kontrollen durch Sportorganisationen oder Anti-Doping-Organisationen auf ihrem Hoheitsgebiet in Übereinstimmung mit dem WADA Code, einschließlich unangekündigter Kontrollen, Trainingskontrollen und Wettkampfkontrollen, zu fördern und zu erleichtern. Weiter haben die Vertragsstaaten gemäß Art. 12 lit. b die Sportorganisationen und Anti-Doping-Organisationen anzuhalten und es ihnen zu erleichtern, Vereinbarungen zu treffen, die eine Kontrolle ihrer Mitglieder durch ordnungsgemäß befugte Doping-Kontroll-Teams aus anderen Ländern erlaubt. Gemäß Art. 12 lit. c verpflichten sich die Vertragsstaaten, die Sportorganisationen und Anti-Doping-Organisationen auf ihrem Hoheitsgebiet dabei zu unterstützen, Zugang zu einem akkreditierten Doping-Kontroll-Labor zum Zweck der Doping-Analyse zu erhalten. Zusammen mit Art. 16 ergibt sich daraus die Verpflichtung dafür zu sorgen, dass Doping-Kontroll-Teams einreisen und Doping-Proben außer Landes gebracht werden können.37 4. Internationale Zusammenarbeit Art. 13 bis Art. 18 der Konvention befassen sich mit der internationalen Zusammenarbeit im Kampf gegen Doping. Gemäß Art. 13 haben die Vertragsstaaten die Zusammenarbeit zwischen Anti-Doping-Organisationen, Sportorganisationen und staatlichen Behörden auf ihrem Hoheitsgebiet mit denen im Hoheitsgebiet anderer Vertragsstaaten zu fördern und gemäß Art. 14 „den wichtigen Auftrag“ der WADA im internationalen Kampf gegen Doping zu unterstützen. Gemäß Art. 15 „unterstützen (die Vertragsstaaten) den Grundsatz“, wonach die staatlichen Behörden und die Olympische Bewegung38 den gebilligten jährlichen 37
Siehe unten unter II. 4. Nach der Begriffsdefinition in Art. 2 Nr. 15 „alle diejeningen, die sich damit einverstanden erklären, sich von der Olympischen Charta leiten zu lassen und welche die Autorität des Internationalen Olympischen Komitees anerkennen“, d. h. die Internationalen Olympischen Sportverbände, die NOKs, die Organisationskomitees Olympischer Spiele, die Athleten, Kampfrichter und Schiedsrichter, Verbände und Vereine sowie die vom IOC anerkannten Organisationen und Institutionen. 38
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„Kernhaushalt“ der WADA zu gleichen Teilen finanzieren. Neben dem Kernhaushalt sehen Art. 17 und Art. 18 die Einrichtung eines freiwilligen „Fund for the Elimination of Doping in Sport“ vor, der sich aus Beiträgen und Zuwendungen der Vertragsstaaten, staatlicher und öffentlicher Stellen und privater Einrichtungen und Personen speist. Sehr konkret und für die Kontrolle und Sanktionierung von Doping entscheidend sind die in Art. 16 niedergelegten Verpflichtungen. Einleitend wird im Chapeau des Art. 16 festgestellt, dass die Bekämpfung des Doping im Sport nur wirksam sein kann, wenn die Sportler unangekündigt getestet werden und die Proben rechtzeitig zur Analyse in Labore gebracht werden können, und daher werden die Vertragsstaaten, „wenn angebracht und in Einklang mit den innerstaatlichen Rechtsvorschriften und Verfahren“ folgendes tun. Gemäß lit. a werden sie die Aufgabe der WADA und der in Übereinstimmung mit dem WADA Code tätigen Anti-Doping-Organisationen erleichtern, die darin besteht, bei ihren Sportlern Wettkampf- und Trainings-Kontrollen in ihrem Hoheitsgebiet oder außerhalb nach Maßgabe der Rechtsvorschriften der betreffenden Gastländer durchzuführen. Von zentraler Bedeutung für die internationale Doping-Kontrolle sind die in lit. b und lit. c formulierte Verpflichtungen, den rechtzeitigen grenzüberschreitenden Verkehr ordnungsgemäß befugter Doping-Kontroll-Teams zu „Dopingkontrolltätigkeiten“ zu erleichtern, sowie zusammenzuarbeiten, um den rechtzeitigen grenzüberschreitenden Versand oder Transport so zu beschleunigen, dass deren Sicherheit und Unversehrtheit gewahrt wird. Lit. d verpflichtet die Vertragsstaaten allgemein, bei der internationalen Koordinierung von Doping-Kontrollen durch die verschiedenen Anti-Doping-Organisationen mitzuwirken und zu diesem Zweck mit der WADA zusammenzuarbeiten. Von großer Bedeutung für die internationalen Sportbeziehungen ist die in lit. g formulierte Verpflichtung der Vertragsparteien, die mit dem WADA Code vereinbaren Dopingkontrollverfahren und Results Management-Verfahren39 einschließlich der daraus resultierenden Sportsanktionen aller Anti-Doping-Organisationen gegenseitig anzuerkennen. 5. Anti-Doping-Ausbildung und -Schulung; Forschung Art. 19 bis Art. 23 der Konvention enthalten Verpflichtungen hinsichtlich der Ausbildung und Schulung für die Bekämpfung des Doping im Sport, insbesondere für Sportler und Athleten-Betreuer, die auch an der Doping-Bekämpfung beteiligt werden sollen. Art. 24 bis Art. 27 sehen die Förderung von Anti-Doping-Forschung und die Verbreitung on deren Ergebnissen vor. 39
hen.
Results Management wie in Art. 7 WADA Code 2003 und späteren Fassungen vorgese-
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6. Organe, Überwachung und Änderung der Konvention Durch Art. 28 wird eine Vertragsstaatenkonferenz als oberstes Vertragsorgan eingesetzt, und gemäß Art. 32 wird das Sekretariat der Konferenz durch den Generaldirekter der UNESCO wahrgenommen. Die WADA nimmt als „advisory organization“, das IOC, das IPC, der Europarat und das CIGEPS40 nehmen als Beobachter an der Konferenz teil. Zu den für eine Vertragsstaatenkonferenz üblichen Aufgaben gehört es u. a., die Einhaltung der Konvention auf der Basis der gemäß Art. 31 alle zwei Jahre von den Vertragsstaaten vorzulegenden Staatenberichte über die Maßnahmen, die sie ergriffen haben, um die Vorschriften der Konvention einzuhalten, zu überwachen. Änderungen der Konvention sind nach Art. 33 von der Vertragsstaatenkonferenz mit 2/3-Mehrheit anzunehmen, und die Änderungen werden dann den Vertragsstaaten zur Ratifikation vorgelegt. Für die Vertragsstaaten, die ratifiziert haben, treten die Änderungen in Kraft, wenn 2/3 der Vertragsstaaten ratifiziert haben. Damit gilt für nicht ratifizierende Vertragsstaaten die frühere Fassung der Konvention weiter. Im Blick auf die seit 2005 erfolgte Weiterentwicklung des WADA Code und der zugehörigen Durchführungsvorschriften in Form der International Standards und anderer Dokumente ist die besondere Änderungsklausel des Art. 34 bedeutsam. Art. 34 betrifft allerdings allein die „Anlagen“ („annexes“) zur Konvention. Das sind die WADA Prohibited List und der International Standard for Granting Therapeutic Use Exemptions.41 Für diese gilt das vereinfachtes Änderungsverfahren des Art. 34, das de facto zu einer automatischen Annahme der Neufassungen dieser International Standards führt; nur für ausdrücklich ablehnenden Staaten gilt die alte Fassung weiter. Für die drei „Anhänge“ („appendices“) zur Konvention – WADA Code 2003, International Standard for Laboratories, International Standard for Testing – ist kein besonderes Änderungsverfahren vorgesehen. Sie sind – anders als die beiden Anlagen – gemäß Art. 4 Abs. 2 nicht Bestandteil der Konvention, und es bedarf daher auch nicht einer Änderung der Konvention, wenn der WADA Code oder die genannten International Standards geändert oder neue geschaffen werden. Daraus läßt sich, auch wenn in der Begriffsbestimmung des Art. 2 Nr. 6 auf den WADA Code 2003 – ohne dessen Änderungen in Betracht zu ziehen – Bezug genommen wird, in einer an Sin und Zweck der Konvention orientierten Auslegung gemäß Art. 31 WVRK nur der Schluss ziehen, dass die Konvention gemäß Art. 3, Art. 4 und Art. 5 der Durchführung des WADA Code in seiner jeweils geltenden Fassung dient. Eine ungewöhnliche Regelungstechnik. Das schließt das gesamte inzwischen entstandene sekundäre Durchführungsrecht zum WADA Code wie die weiteren International Standards oder Model Rules mit ein. 40 41
Intergovernmental Committee for Physical Education and Sport der UNESCO. Siehe oben unter II. 2.
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III. Die Staaten als Garanten des WADA Code einschließlich der Sportschiedsgerichtsbarkeit Das Vorstehende hat gezeigt: In ihrer Entstehungsgeschichte und in ihrer weiteren Entwicklung sind der WADA Code und die UNESCO-Konvention zeitlich und inhaltlich miteinander verzahnt und, im Sinn eines ganzheitlichen, das Handeln der Organisationen des Sports – unter grundsätzlicher Anerkennung deren Autonomie – und die Verantwortung der Staaten für Aspekte des Sports umfassenden Regelungsansatzes, aufeinander angewiesen. Sportrecht und Konvention, d. h. Völkerrecht und ausführendes staatliches Recht, ergänzen sich komplementär. Durch die mit der UNESCO-Konvention durch deren 193 Vertragsparteien übernommenen Verpflichtungen begleitet und garantiert die Staatenwelt den WADA Code als einen zentralen Teil des durch die Organisationen des Sports autonom gesetzten genuinen „Sportrechts“. Ob durch die Konvention der WADA Code „in den Rang völkerrechtlichen Vertragsrechts“ erhoben wird42, mag dahinstehen; Art. 4 Abs. 2 S. 2 der Konvention verneint das als salvatorische Klausel ausdrücklich.43 Das ändert jedoch nichts daran, dass sich die Staaten in Art. 3 bis 5 WADA Code generell auf die „Grundsätze“ des WADA Code und in den weiteren Vertragsartikeln dazu verpflichtet haben, die Aufgaben der WADA und der internationalen wie nationalen Sport- und Anti-Doping-Organisationen durch nationale Maßnahmen und internationale Zusammenarbeit zu unterstützen. Die Bundesregierung hat in ihrer Gesetzesbegründung vom Mai 2015 deutlich gemacht, dass die Bundesrepublik „zur Umsetzung des WADC … völkerrechtlich verpflichtet“ ist.44 Die Verpflichtung zur Erleichterung der Durchführung des WADA Code schließt ein, die Sportschiedsgerichtsbarkeit zur Lösung doping-bezogener Streitigkeiten anzuerkennen und zu unterstützen. Art. 13 WADA Code regelt eingehend die Möglichkeiten von Sportlern und anderen betroffenen Individuen auf der einen und Sportorganisationen, insbesondere der WADA als Hüterin des Anti-Doping-Rechts, auf der anderen Seite, die am Ende des Ergebnismanagement-Verfahrens oder durch erstinstanzliche Anhörungsgremien oder Schiedsgerichte auf internationaler oder auf nationaler Ebene, wie das Deutsche Sportschiedsgericht, getroffenen Entscheidungen vor dem CAS anzufechten. Gemäß Art. 13.2 WADA Code ist die Schiedsgerichtsbarkeit eine ausschließliche. Die in Art. 8 WADA Code verpflichtend vorgesehenen Anhörungsgremien („Doping Hearing Panels“) sind i. d. R. nicht bereits schiedsgerichtliche Spruchkörper – werden allerdings zunehmend so ausgestaltet werden. Die Verankerung der Sportschiedsgerichtsbarkeit des CAS im WADA Code gehört zu dessen „Grundsätzen“45, auf die Staaten sich durch die UNESCO-Konvention
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Uhl (Fn. 33), Teil I C. 4.b. Siehe oben unter II. 2. 44 Siehe oben Fn. 35 und begleitender Text. 45 Enger, wohl aber nicht abschließend Mortsiefer (Fn. 34), § 1 Rn. 18.
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verpflichtet haben.46 Rechtschutzverfahren sind das notwendige Korrelat zu Sanktionsvorschriften. Das wird durch die in Art. 22 WADA Code 2015 zum Ausdruck gebrachten „expectations“47 der Unterzeichner des WADA Code an die Staaten und indirekt durch Art. 22.4 WADA Code bestätigt: „Each government will respect arbitration as the preferred means of resolving doping-related disputes, subject to human and fundamental rights and applicable national law.“
Trotz des selbstverständlichen Vorhalts vorn Menschen48- und Grundrechten und auch nationalen Gesetzesrechts resultiert aus Art. 3 bis 5 der UNESCO-Konvention i. V. m. Art. 13 WADA Code die völkerrechtliche Verpflichtung, die Sportschiedsgerichtsbarkeit in Doping-Sachen grundsätzlich anzuerkennen und im Kollisionsfall im Wege völkerrechtskonformer Auslegung soweit als möglich zu berücksichtigen. Das bringt § 11 ADG zum Ausdruck, der – deklaratorisch und sogar über Doping-Streitigkeiten hinaus – feststellt, dass Sportverbände und Sportler „als Voraussetzung der Teilnahme … an der organisierten Sportausübung Schiedsvereinbarungen über die Beilegung von Rechtsstreitigkeiten mit Bezug auf diese Teilnahme schließen (können), wenn die Schiedsvereinbarung die Sportverbände und die Sportlerinnen und Sportler in die nationale oder internationale Sportorganisationen einbinden und die organisierte Sportausübung insgesamt ermöglichen, fördern oder sichern. Das ist insbesondere der Fall, wenn mit den Schiedsvereinbarungen die Vorgaben des Welt-Anti-Doping Codes … umgesetzt werden sollen.“
Die Gesetzesbegründung der Bundesregierung dazu betont die Bedeutung der internationalen Sportschiedsgerichtsbarkeit – in der organisierten Sportausübung bewährt, weltweite Einheitlichkeit und Vermeidung divergierender Entscheidungen, schnelle Entscheidung, Spezialwissen – erachtet den so gewährten Rechtsschutz als mit dem vor staatlichen Gerichten „im Wesentlichen gleichwertig“, hält mögliche Beeinträchtigungen von Rechten der Sportler für „gerechtfertigt“ und kommt zu dem Schluss, dass der Abschluss solcher Vereinbarungen „in der Regel“ einer Prüfung am Maßstab des § 138 BGB auch unter Berücksichtigung der Grundrechte und der EMRK standhält und – bei ausländischen Schiedsvereinbarungen – mit dem deutschen ordre public vereinbar ist. Eine umfassende Inhaltskontrolle im Blick auf ein gesetzliches Verbot gemäß § 134 BGB bleibe vorbehalten.49 Entscheidend für die Zulässigkeit von Schiedsvereinbarungen ist nach § 11 ADG die in S. 2 Hs. 2 niedergelegte Bedingung, dass die Schiedsvereinbarungen die Sportverbände und die Sportler „in die … Sportorganisationen einbinden und die organisierte Sportausübung insgesamt ermöglichen, fördern und sichern.“ Damit bezieht sich der Gesetzgeber auf die Realität des nationalen und internationalen Leistungs46
Siehe oben unter II. 2 Siehe oben unter I. 3. 48 EGMR, Aff. 40575/10 und 67474/10, Mutu et Pechstein v. Suisse, Urteil v. 2. 10. 2018; endgültig nach Entscheidung v. 4. 2. 2019, http://hudoc.echr.coe.int/fre?i=001-186434. 49 Gesetzesbegründung (Fn. 35), S. 38 f. 47
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sports; Sportler und Verbände sind wechselseitig aufeinander angewiesen und solche Schiedsvereinbarungen sind die faktische Voraussetzung für die Ausübung ihres Sports durch die Sportler. Die Bundesregierung hält es – offenkundig angesichts des Falles Claudia Pechstein50 – offensichtlich für angebracht, im ADG, das der Umsetzung der UNESCO-Konvention dient, eine gesetzliche Klarstellung vorzunehmen: diese „dient insgesamt lediglich dazu, die Zweifel an der Wirksamkeit des Abschlusses von Schiedsvereinbarungen … auszuräumen.“ 51
Auch wenn der Gesetzgeber die von § 11 ADG erfassten, zur Teilnahme am organsierten Sportbetrieb notwendigen Schiedsvereinbarungen gegenüber Grundrechten nicht einfach als zulässig legaldefinieren kann, ist § 11 ADG als Ausformulierung der durch die UNESCO-Konvention übernommenen Verpflichtung in Fällen von Normenkollisionen völkerrechtskonform zu beachten. Die Staaten sind völkerrechtlich und innerstaatlich Garanten des WADA-Rechts und tragen eine rechtliche „Gewährleistungsverantwortung“52 für die Einhaltung des WADA Code durch die Organisationen des Sports auf ihrem Hoheitsgebiet. Soweit Staaten den Sport regeln oder mit staatlichen Normen in sportliche Belange eingreifen, sind die in der UNESCO-Konvention verankerten Verpflichtungen auf den WADA Code zur Geltung zu bringen. Für Deutschland bedeutet das, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen für den Sport und die Sportausübung durch die einzelnen Sportler und für die Sportpolitik an der UNESCO-Konvention auszurichten sind. Die UNESCO-Konvention zeigt darüber hinaus beispielhaft, wie die Staaten – bei Anerkennung eines genuinen autonomen Regelungsbereichs des Sports – im Sport grundlegende rechtliche Standards wie Grund- und Menschenrechte53 im Sport durchsetzen können.
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Näher Lehner, in: Lehner/Nolte/Putzke, Anti-Doping-Gesetz, § 11 Rn. 13. Gesetzesbegrüdnung (Fn. 35), S. 39. 52 Uhl (Fn. 33), Teil I C. IV. 53 Ausgelöst durch den Fall Caster Semenya: Intersection of race and gender dicrimination in sport, Report of the UNHCHR v. 15. 6. 2020, A/HRC/44/26. 51
Formstrenge, Formerleichterung und Heilung von Formmängeln, dargestellt am Beispiel von Unterschriftsmängeln bei bestimmenden Schriftsätzen im Zivilprozess Drei Fälle und ihre Lösung aus der Sicht des BGH und des BVerfG Von Max Vollkommer I. Einführung in die Problematik 1. Die Pflicht des Gerichts, auf die Beseitigung von Formfehlern hinzuwirken In erster Instanz besteht namentlich für den Zugang zum Gericht – die prozesseinleitende Handlung – Formzwang. Da aber Klagefristen bis auf wenige Ausnahmen (z. B. § 4 KSchG, bis 2007 auch § 12 Abs. 3 VVG) fehlen, können Formfehler, z. B. formfehlerhafte Klagen, jederzeit (ex nunc) geheilt werden. Beim Zugang zur höheren Instanz geht dagegen der Formzwang mit einer strengen Fristordnung einher. Hier ist der Herrschaftsbereich für Formstrenge, auch Raum für ihre Überspitzung, den Formformalismus, aber auch für die Heilung von eingetretenen oder neu entstehenden Formmängeln. Dabei kommt den Gerichten eine bedeutende Aufgabe zu. Formfehler werden – in aller Regel – nicht „bewusst“ begangen, sondern sind die Folge von Versehen des Büropersonals des Prozessbevollmächtigten oder des Anwalts selbst. Sie sind daher dem Erklärenden in aller Regel (zunächst) nicht bekannt. Umgekehrt ist dem Gericht der Formmangel von Anfang an erkennbar; anhand der Akten kann es i. d. R. auch feststellen oder doch abschätzen, ob die zu wahrende Frist noch läuft oder eine sonstige befristete Fehlerbehebung in Frage kommt. Zur Durchführung eines möglichst „fehlerfreien“ Verfahrens hat das Gesetz den Gerichten eine wichtige Rolle zugewiesen. Die Gerichte sind verpflichtet, auf die Beseitigung von Formfehlern „hinzuwirken“. Die Pflicht des Gerichts auf Hinwirkung zur Fehlerbehebung ist in den neuen Verfahrensordnungen kodifiziert (vgl. § 86 Abs. 3 VwGO; § 76 Abs. 2 FGO; § 106 Abs. 1 SGG); das trifft auch für die „Freiwillige Gerichtsbarkeit“ (vgl. § 28 Abs. 2 FamFG) und auf Teile der Familiensachen (§ 111 FamFG, ohne Nr. 1, 8 und 9) zu; im allgemeinen Zivilprozess (und Ehe- und Familienstreitsachen, vgl. § 112 FamFG) folgt die Pflicht aus den allgemeinen Grundsätzen der Verfahrensfairness und von Treu und Glauben. Die Hinwirkungspflicht zur Fehlerbeseitigung steht auf einer Stufe mit der prozessualen Fürsorge-
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pflicht und der Verpflichtung allgemein zur Rücksichtnahme gegenüber den Verfahrensbeteiligten in ihrer konkreten Situation1. Ist die Partei auf gerichtliche Fürsorge angewiesen, so dann, wenn sie in einen Formfehler verwickelt ist. Nur die Partei selbst kann die formfehlerhafte Handlung fehlerfrei wiederholen, sie korrigieren oder ergänzen. 2. Hinwirkungspflicht als Hinweispflicht Die Verpflichtung des Gerichts, auf die Beseitigung von Formfehlern „hinzuwirken“, soll die Partei in die Lage versetzen, die erforderliche Fehlerbeseitigung selbst vorzunehmen. Die „Hinwirkungs“-Pflicht ist daher zunächst auf die Erteilung von Hinweisen gerichtet; Hinweise auf den Fehler, auf die (noch) bestehende Möglichkeit einer „heilenden“ Neuvornahme oder auf die bestehenden Rechtsbehelfe (insb. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand). Der Hinweis setzt eine (rudimentäre) Fehlerkontrolle durch das Gericht in angemessener Zeit voraus. „Ein Prozessbeteiligter kann erwarten“, heißt es dazu in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu Fall 1, „dass offenkundige Versehen seinerseits, wie das Fehlen einer zur Fristwahrung erforderlichen Unterschrift, in angemessener Zeit bemerkt und als Folge der prozessualen Fürsorgepflicht innerhalb eines ordnungsgemäßen Geschäftsgangs die notwendigen Maßnahmen getroffen werden, um eine drohende Fristversäumung zu vermeiden“2. Da Fristen i. d. R. voll ausgeschöpft werden, sind die Fälle, bei denen der gerichtliche Hinweis noch vor Fristablauf erfolgt, eher selten. Ist die Frist vor dem Hinweis bereits abgelaufen (vgl. Fall 1), hat das Gericht auf die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinzuweisen. Die Wiedereinsetzung ist eines der wichtigsten Instrumente zur nachträglichen Fehlerbeseitigung innerhalb einer neu eröffneten Nachfrist (vgl. § 234 ZPO). Bei formfehlerhaften Prozesshandlungen hat die Partei zwar rechtzeitig gehandelt – etwa den Schriftsatz mit abgekürzter Unterschrift (Fall 2) oder ohne eine solche (Fall 1) eingereicht –, so dass es – scheinbar – an der Versäumung einer Frist fehlt; wegen der Formunwirksamkeit der formfehlerhaften (fristwahrenden) Handlung führt der Formmangel aber zum Fristmangel und eröffnet damit seine Behebung im Wiedereinsetzungsverfahren. Dieses sieht die „Nachholung“ der versäumten Prozesshandlung vor (§ 236 Abs. 2 Satz 2 ZPO) und ermöglicht damit eine Heilung innerhalb einer neu eröffneten Nachfrist (§ 234 ZPO). Beruht der Formfehler auch auf einem fehlerhaften Verfahren des Gerichts, führt dies im Ergebnis zu einer Erleichterung der Wiedereinsetzung wegen des Formmangels. Nach dem Grundsatz des fairen Verfahrens darf das Gericht aus eigenen oder ihm zuzurechnenden Fehlern, Unklarheiten oder Versäumnissen keine Verfahrensnachteile für die Parteien ableiten3; 1
BVerfGE 78, 123, 126. BVerfG NJW 2005, 814, 816. 3 BVerfGE 110, 339, 342. 2
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in diesem Fall sind die Anforderungen an eine Wiedereinsetzung mit besonderer Fairness zu handhaben4. Das bedeutet: Beruht die Fristversäumung auf Fehlern des Gerichts, wirkt sich ein Verschulden der Partei oder ihres Vertreters (i. d. R.) nicht mehr aus5. 3. Hinwirkungspflicht als Pflicht zur materiellrechtsfreundlichen Auslegung und Handhabung des Prozessrechts Die Pflicht des Gerichts, auf die Beseitigung von Formfehlern „hinzuwirken“, beschränkt das Gericht nicht auf die Erteilung von Hinweisen zur Vermeidung formbedingter Rechtsverluste bei noch offener Frist und zur Durchführung von Wiedereinsetzungsverfahren bei Fristversäumnissen; sie umfasst auch tatsächliche Handlungen (in der Art von Dienstleistungen), wie die Weiterleitung von beim unzuständigen Gericht eingereichten Rechtsmittelschriften an das zuständige Gericht6; vor allem aber erstreckt sich die „Hinwirkungspflicht“ auch auf den Kernbereich der richterlichen Tätigkeit, nämlich die gesamte Auslegung und Handhabung des Verfahrensrechts und die richterliche Entscheidungstätigkeit. Das Gericht hat darauf hinzuwirken, dass mit Rechtsverlusten verbundene Formalentscheidungen möglichst unterbleiben, es hat letztlich die Parteien vor einer verfassungswidrigen Verkürzung des Rechtsschutzes zu bewahren. Es geht um Fragen wie: Kann der (vielleicht selbst durch die Rechtsprechung geschaffene) formstrenge Grundsatz durch eine „Ausnahme“ – d. h. durch die Rechtsprechung – durchbrochen werden (Fall 1: „unmissverständliche Klage“)? Gilt etwa bei einer (formgerechten) Bezugnahme auf die formfehlerhafte Handlung eine Ausnahme vom Formzwang (Fall 3)? Oder kann – mit den Worten des BGH – „die Rechtsprechung zur ausnahmsweisen Wirksamkeit nicht unterzeichneter Rechtsmittelbegründungen“7 auf den Fall der fehlenden „Nachholung“ i. S. von § 236 Abs. 2 Satz 2 ZPO „übertragen“ werden (Fall 3)? Können die an eine Unterschrift zu stellenden Anforderungen in der Weise gesenkt werden, dass Verschleifungen, Verstümmelungen und auch Abkürzungen nicht schaden (Fall 2)? Ist der Zeitpunkt für die Beurteilung der Formeinhaltung allein der des Fristablaufs, oder ist auch noch nach Fristablauf eine (ergänzende?) Aufklärung möglich (Fall 2)? Ist eine „Erleichterung der Wiedereinsetzung“ unter Überwindung der formalen Schranke der „Notfrist“ möglich (Fall 1)? Die Instrumente zur Beantwortung dieser Fragen liefern die besonderen Auslegungsregeln des Prozessrechts, sie bestehen aber vor allem in den allgemeinen
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BVerfGE a. a. O. BVerfGE 93, 99, 115 f.; Zöller/Althammer ZPO, 33. Aufl., § 85 Rn. 13b; Zöller/Greger, § 233 Rn. 20. 6 BVerfGE 93, 99, 115. 7 BGH MDR 2020, 53 = NJW-RR 2020, 309. 5
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rechtsstaatlichen Verfahrensgrundsätzen, an denen sich die Rechtsprechung bei der Auslegung der Prozessnormen orientiert. In seiner Entscheidung zu Fall 1 hat das Bundesverfassungsgericht eine Auslegungsregel für die „Handhabung“ des Prozessrechts wie folgt umschrieben: Die Gerichte trifft die „Verpflichtung, das Verfahrensrecht so zu handhaben, dass die eigentlichen materiellen Rechtsfragen entschieden werden und ihnen nicht durch übertriebene Anforderungen an das formelle Recht ausgewichen wird“8. Im Zusammenhang mit der Anerkennung einer Ausnahme vom Eigenhändigkeitsgrundsatz für das „Computerfax“ verweist der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes auf seine ständige Rechtsprechung zur „dienenden“ Funktion des Prozessrechts im Verhältnis zum materiellen Recht. „Verfahrensvorschriften sind nicht Selbstzweck. Auch sie dienen letztlich der Wahrung der materiellen Rechte der Prozessbeteiligten, sollen also die einwandfreie Durchführung des Rechtsstreits unter Wahrung der Rechte aller Beteiligten sicherstellen und nicht behindern“9. Die Auslegungsgrundsätze ergeben sich namentlich aus der Rechtsschutzgarantie mit dem Recht auf einen effektiven Rechtsschutz, dem Fairnessprinzip und dem Grundsatz von Treu und Glauben. Ziel jeder Auslegung ist damit die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens. In den Worten des BVerfG: Die Regelungen des Verfahrensrechts „müssen aber mit den Belangen einer rechtsstaatlichen Verfahrensordnung vereinbar sein und dürfen den Rechtsuchenden nicht unverhältnismäßig belasten … Auch der Richter muss die Tragweite des Grundrechts auf einen effektiven Rechtsschutz beachten. Er hat das Verfahren so auszulegen und anzuwenden, dass es mit diesen Grundsätzen nicht in Widerspruch gerät“10. Damit darf der Zugang zu Rechtsschutz, insbes. zur Rechtsmittelinstanz, nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden11. Das folgende Zitat scheint eine Umschreibung der Anwendung von Treu und Glauben im Prozess zu sein; danach hat das Gericht berechenbar zu prozedieren, die Parteien genießen also Vertrauensschutz; auch im Verhältnis zum Gericht gilt das Verbot des venire contra factum proprium, auch dem Gericht obliegen Fürsorge- und Rücksichtnahmepflichten: „Der Richter muss das Verfahren so gestalten, wie die Parteien des Zivilprozesses es von ihm erwarten dürfen. Er darf sich nicht widersprüchlich verhalten … und ist allgemein zur Rücksichtnahme gegenüber den Verfahrensbeteiligten in ihrer konkreten Situation verpflichtet“12. Das Zitat ist aber die Formulierung des Anspruchs auf 8
BVerfG NJW 2005, 814, 815. GmS OGB BGHZ 144, 160, 162. Ähnlich, freilich ohne ausdrückliche Nennung des „materiellen Rechts“ als „Zweck“, Adolf Wach, Grundfragen und Reform des Zivilprozesses, 1914, S. 77. „Die Form ist nicht um ihrer selbst willen, sie ist Mittel zum Zweck der Rechtspflege“. 10 BVerfG NJW 2005, 814, 815. 11 BVerfGE 77, 275, 289; 88, 118, 123 ff.; 93, 99, 108. 12 BVerfGE 78, 123, 126; BVerfG NJW 2005, 814, 815. 9
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ein faires Verfahren durch das BVerfG. Beide Prinzipien – Verfahrensfairness und Treu und Glauben – überschneiden sich, für den Grundsatz von Treu und Glauben bedeutet das eine Aufwertung, hat er doch nun in Teilbereichen verfassungsrechtlichen Rang13. 4. Eigenhändigkeitsgrundsatz Das BVerfG kommt den Kritikern des Eigenhändigkeitsgrundsatzes14 nicht entgegen. In einem Fall von krassem Unterschriftsformalismus (Fall 1) zieht es den Eigenständigkeitsgrundsatz für Verfahren mit Anwaltszwang nicht in Zweifel und erörtert – mit bejahendem Ergebnis – eine „Ausnahme“ für Verfahren mit materiellrechtlichen Ausschlussfristen15. Auch was die Anforderungen an die eigenhändige Unterschrift betrifft, gewährt das BVerfG den Gerichten durchaus interpretatorischen Freiraum; obwohl das BVerfG die „großzügige“ Rspr. des BGH („individueller Schriftzug“) durchaus begrüßt, macht es sie im Hinblick auf die „Unabhängigkeit der Richter“ und der „Uneinheitlichkeit“ der Rspr. keineswegs zur Obergrenze zulässiger Auslegung, sondern billigt bei entsprechender Begründung auch strengere Formstandpunkte16 ; freilich darf sich das Gericht bei früherer Nichtbeanstandung der Unterschrift nicht mit seinem eigenen Verhalten in Widerspruch setzen (§ 242 BGB); eine „abrupte“ Änderung wäre unzulässig17. Die im Verkehr mit den (übrigen) Gerichten bisher nicht beanstandete Unterschrift genießt Verkehrsschutz; bei (erstmaliger) Zurückweisung kann der Unterzeichner (die Partei) mit Wiedereinsetzung rechnen (Fall 2). II. Widmung In dem folgenden Beitrag geht es um drei Problemfälle zur „prozessualen Schriftlichkeit“ aus der neueren Rspr. (seit 2004), bei denen BGH und BVerfG – sei es im selben Verfahren oder in ihrer Rspr. – zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Ich widme diesen Beitrag in herzlicher Verbundenheit meinem langjährigen Erlanger Fakultätskollegen Klaus Vieweg als Prozessualisten. Das Prozessrecht ist 13
In der Lit. wird dieser Zusammenhang i. d. R. nicht gesehen; vgl. z. B. RosenbergSchwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 18. Aufl. 2018, § 1 Rn. 40; in der Schrift von Loyal, Ungeschriebene Korrekturinstrumente im Zivilprozessrecht, 2018, mit dem Untertitel „Rechtsschutzbedürfnis und Treu und Glauben“, kommt, soweit ersichtlich, der Begriff „faires Verfahren“ (o. ä.) überhaupt nicht vor. 14 Vgl. Heinemann, Neubestimmung der prozessualen Schriftform, 2002, S. 130 f., 265 ff.; Vollkommer, „Formzwang und Formzweck im Prozessrecht“, in: Festschrift für Hagen, 1999, S. 49 ff., 69 ff.; zum Eigenhändigkeitsgrundsatz statt vieler nur BGH NJW-RR 2004, 755 als Gegenstand von Fall 1. 15 BVerfG NJW 2005, 815, 815: „unmissverständliche“ Klageerhebung. 16 BVerfGE 78, 123, 126. 17 BVerfGE a. a. O.
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sicher nicht der wissenschaftliche Schwerpunkt des Jubilars; er hat sich aber so intensiv und erfolgreich in Lehre und Forschung mit dem Zivilprozess beschäftigt, dass die obige Einordnung ohne weiteres gerechtfertigt ist. Der Jubilar ist Inhaber der venia legendi für das Verfahrensrecht. Seine akademische Ahnenreihe reicht über Rudolf Lukes18 bis Leo Rosenberg19. Nach dem Übergang zum Kurssystem in der Erlanger Fakultät war der „Grundkurs ZPO“ fester Bestandteil im Lehrprogramm von Klaus Vieweg, hinzu kam gelegentlich die Vorlesung „ZPO I“. Vieweg hat Themen prozessualen Inhalts für Dissertationen und Habilitationen ausgegeben und die entstehenden Arbeiten mustergültig betreut und gefördert. Beispielhaft genannt seien die „Komplexe Prozessführung“ (Thomas Regenfus) und „Ausländische Staaten vor deutschen Zivilgerichten“ (Sigrid Lorz). An den Promotionen der Vieweg’schen Doktoranden war ich teilweise als Zweitgutachter beteiligt. Prozessualen Fragestellungen, etwa im Beweis- und Sachverständigenrecht, ist der Jubilar mit großer Gründlichkeit nachgegangen. Unser persönliches Verhältnis war nicht auf den Austausch im dienstlich-wissenschaftlichen Bereich beschränkt20. Bald entstand schon ein kleiner Tauschhandel mit Zöller-Neuauflagen gegen laufende SpuRt-Hefte, alle mit der persönlichen Widmung des Jubilars. Legendär sind die Sommerfeste im kunstsinnigen Hause Vieweg mit seinen Skulpturen im Garten. Die Eheleute Cornelia und Klaus Vieweg entpuppten sich als das ideale Gastgeberpaar. Dem verirrten Festteilnehmer konnte es schon passieren, dass er sich plötzlich im Gebüsch „König David“ gegenübersah oder ihm eine Sonnenscheibe entgegenblinkte. Kunst war auch in den Institutsräumen Viewegs zu sehen; sie konnte später auch als Blickfang auf der Titelseite von Tagungsunterlagen wieder auftauchen. Der Jubilar muss an seinem Ehrentag ohne „ideale Gastgeberin“ an seiner Seite auskommen; seine Frau ist am 11. Oktober 2011 viel zu früh im Alter von nur 57 Jahren verstorben; ihr gilt bei dieser Gelegenheit mein stilles Gedenken.
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Als Münchner Studienanfänger des Jahrgangs WS 1952/53 bin ich Rudolf Lukes (1924 – 2004) alsbald begegnet; er war damals Wiss. Assistent am Lehrstuhl Rosenbergs, später dann Privatdozent u. a. für Zivilprozessrecht in München. Von 1959 – 1990 war Lukes Professor in Münster, dem späteren Studienort des Jubilars; in dessen Erlanger Berufungsverfahren (1990/ 91) war ich Berichterstatter. 19 Zu Leo Rosenbergs Münchner Zeit (1946 – 1963) s. näher Ulrike Gräfe, Leo Rosenberg – Leben und Wirken – 2011, S. 96 ff., 123, 326 ff. Rosenberg lehrte bis 1955 Zivilprozessrecht und Bürgerliches Recht, hauptsächlich Sachen- und Erbrecht. Die letzte – 9. – Aufl. seines Lehrbuchs des Zivilprozessrechts erschien 1961, die 5. Aufl. seiner Beweislast posthum 1965 (hrsg. von Karl Heinz Schwab). Als Rosenbergs Nachfolger kam mein Lehrer Rudolf Pohle (1902 – 1967) 1954 nach München; s. dazu Gräfe a. a. O., S. 110; Baumgärtel, ZZP 81 (1968), 1. 20 Zu der Kontroverse um die Abänderbarkeit (§ 323 ZPO) von Kapitalabfindungen gem. § 843 BGB vgl. – übereinstimmend – Staudinger/Vieweg, BGB, 2003, § 843 Rn. 37; Zöller/ M. Vollkommer, ZPO, 31. Aufl. 2016, § 323 Rn. 9; abw. 33. Aufl. 2020.
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III. Fallgestaltung und Lösung 1. Formstrenge – Verlust des Versicherungsschutzes bei Unterschriftsmangel? a) Der Fall Der Ausgangsfall21 ist eine Versicherungssache, die noch nach dem alten bis zum 31. 12. 2007 geltenden VVG zu entscheiden war. Dieses enthielt bei Ablehnung der Deckung durch den Versicherer eine materielle Klagefrist22. § 12 Abs. 3 VVG a. F. lautete: „Der Versicherer ist von der Verpflichtung zur Leistung frei, wenn der Anspruch auf die Leistung nicht innerhalb von sechs Monaten gerichtlich geltend gemacht wird. Die Frist beginnt erst, nachdem der Versicherer dem Versicherungsnehmer gegenüber den erhobenen Anspruch unter Angabe der mit dem Ablauf der Frist verbundenen Rechtsfolge schriftlich abgelehnt hat“.
Im neuen VVG fehlt es an einer entsprechenden Vorschrift. Anders als das KSchG für die Klagefrist gem. § 4 KSchG enthielt das VVG a. F. keine eigenständige Regelung der nachträglichen Zulassung der Klage (vgl. dagegen §§ 4, 5 KSchG). Die allgemeine Regelung der Wiedereinsetzung gilt – außer für bestimmte Rechtsmittel(begründungs-)fristen – nur für (als solche bezeichnete) „Notfristen“ (§§ 224 Abs. 1 Satz 2, 233 Satz 1 ZPO). Die Klagefrist gem. § 12 Abs. 3 VVG ist keine Notfrist. Auf die Frage einer „Wiedereinsetzung nach Treu und Glauben“ wird später einzugehen sein (s. unten d). Im Ausgangsverfahren forderte der anwaltlich vertretene Kläger von den beklagten Versicherungsunternehmen wegen des Verlusts seines bei diesen versicherten Schiffs die Zahlung von 1.850.000 US-Dollar. Die Beklagten lehnten dies ab und wiesen den Kläger am 23. 6. 1999 darauf hin, dass sie nach § 12 Abs. 3 Satz 1 VVG frei würden, wenn der Kläger den Anspruch nicht innerhalb von sechs Monaten gerichtlich geltend mache. Am 15. 12. 1999 ging die Klage beim LG ein. Weder das Original noch die Abschriften waren unterschrieben. Nachdem der Vertreter des Klägers unter dem 29. 12. 1999 auf das Fehlen der Unterschrift hingewiesen worden war, holte er diese am 7. 1. 2000 nach. Schon am 23. 12. 1999 war bei der Justizkasse der Eingang des Gerichtskostenvorschusses in Höhe von 42.015 DM unter Angabe des Aktenzeichens und der Parteien des Rechtsstreits gebucht worden; als Einzahler war der damalige Prozessbevollmächtigte des Klägers angegeben. Die Klage wurde nach Klärung des zuständigen Spruchkörpers am 8. 2. 2000 den Beklagten zugestellt. Diese rügten, dass die Frist nach § 12 Abs. 3 VVG (a. F.) nicht eingehalten worden sei.
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BGH NJW-RR 2004, 755; BVerfG NJW 2005, 814. BGH NJW-RR 2004, 755. Die Frage stellt sich auch für die Kündigungsschutzklage; s. meinen „Beitrag zur Lehre von den Klagefristen“ in AcP 161 (1962), S. 332 ff. 22
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Das LG gab der Klage statt, das OLG wies die Berufung der Beklagten zurück. Diese seien nicht leistungsfrei, weil trotz des Unterschriftsmangels die Klagefrist gewahrt worden sei; durch die Einzahlung des Gerichtskostenvorschusses bei der Justizkasse am letzten Tag der Frist stehe eindeutig fest, dass die Klage mit Wissen und Wollen des Prozessbevollmächtigten an das Gericht gelangt sei. b) Entscheidung des Bundesgerichtshofs Der BGH hat dagegen auf die Revision der Beklagten die Klage abgewiesen. Die rechtzeitige Einzahlung des Gerichtskostenvorschusses genüge zur Fristwahrung nicht. Der Buchung lasse sich zwar entnehmen, dass der Einzahler von der Einreichung einer Klage ausgegangen sei; eine Einzahlung durch den Prozessbevollmächtigten stehe aber nicht fest. Die Berufung auf die fehlende Fristwahrung sei nicht treuwidrig, auch wenn die Beklagten über die Absicht der gerichtlichen Geltendmachung gewusst hätten und die fehlende Unterschrift auf der Klage im Ergebnis zu keiner Verzögerung der Klagezustellung geführt haben mag. Die Entscheidung des BGH ist ein klassisches Beispiel für das Vorkommen übertriebener Formstrenge und damit Formformalismus auch in einem „materialisierten“ Zivilprozess. Der Begriff wird als Gegensatz zur Formalisierung verstanden23. Die „Materialisierung“ ist die Folge des zunehmenden Einflusses der Verfahrensgrundrechte auf den Zivilprozess. Nach der Entscheidung des BGH hat der Kläger als Folge des Unterschriftsmangels auf seiner Klage seinen Anspruch auf Rechtsschutz gegen die Beklagten in vollem Umfang verloren, damit auch die gerichtliche Prüfung und Durchsetzbarkeit ihm zustehender materieller Rechtspositionen. Eine Milderung dieses Ergebnisses durch eine nachträgliche Klagezulassung im Wege der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hat der BGH nicht ins Auge gefasst; im Hinblick auf den weiten Anwendungsbereich in den modernen Verfahrensordnungen schon bei „gesetzlichen Fristen“ (§ 60 VwGO; § 56 FGO) und „gesetzlichen Verfahrensfristen“ (§ 67 SGG24) hätte die „Notfrist“ (vgl. §§ 224 Abs. 1 Satz 2, 233 ZPO) nicht entgegenstehen müssen. c) Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Das BVerfG hat auf Verfassungsbeschwerde das Urteil des BGH aufgehoben und die Sache an ihn zurückverwiesen25. Das BVerfG sieht die Verfahrensgrundrechte auf 23 Vgl. näher Kehrberger, Die Materialisierung des Zivilprozessrechts, 2019, S. 19 ff.; i. E. str. – Im Fall 1 waren die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits geklärt, s. Fußn. 26. 24 Nach der Rspr. des BSG kommen auch materiell-rechtliche Fristen in Frage; vgl. BVerfG NJW 2005, 814, 816. 25 In der zweiten Revisionsentscheidung des BGH durch einen anderen Zivilsenat (VI. haftungsrechtlicher, statt IV. „versicherungsrechtlicher“ ZS; s. a. § 563 Abs. 1 Satz 2 ZPO, auch § 95 Abs. 2 Halbsatz 2 BVerfGG) hat der BGH (BGH, Urteil v. 14. 3. 2006 – VI ZR 335/
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ein faires Verfahren und auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. dem Rechtsstaatsprinzip durch den BGH verletzt und bescheinigt ihm eine „verfassungsrechtlich nicht mehr gerechtfertigte Verkürzung des Rechtsschutzes“26. Das BVerfG entwickelt eine eigenständige Lösung mit Fristwahrung trotz Unterschriftsmangels in Form einer sog. „unmissverständlichen Klageerhebung“ als Ausnahme (oder Erleichterung) des Eigenhändigkeitsgrundsatzes. Das BVerfG beanstandet in erster Linie, dass der BGH die Bedeutung der materiell-rechtlichen Ausschlussfrist gem. § 12 Abs. 3 VVG a. F. für den prozessualen Formzwang grundlegend verkannt habe; es beanstandet ferner, dass der BGH nach Versäumung einer Fristwahrung die Frage einer Wiedereinsetzung nicht in Betracht gezogen habe; das BVerfG rügt, dass unerörtert geblieben ist, ob durch einen frühzeitigeren Hinweis auf die fehlende Unterschrift eine Versäumung der Klagefrist hätte vermieden werden können und übt Kritik daran, dass es der BGH den Beklagten des Ausgangsverfahrens nicht verwehrt hat, sich auf den Ablauf der Frist zu berufen27. Auf die Rüge der Verfassungswidrigkeit von § 12 Abs. 3 VVG geht das BVerfG aus formellen Gründen nicht ein; es begnügt sich mit einem Hinweis auf die Reform des VVG28. Bei der Behandlung der Klagefrist gem. § 12 Abs. 3 a. F. VVG hält das BVerfG die rein prozessuale Betrachtungsweise des BGH für verfehlt. Der Fristablauf schaffe nicht (wie bei prozessualen Fristen) Rechtskraft, vielmehr geht es darum, den Anspruchsinhaber zu einer zeitnahen Prozessführung zu zwingen. Anders als Prozessfristen diene die Frist gem. § 12 Abs. 3 VVG a. F. nicht der Durchsetzung des Anwaltszwangs; sie liegt damit nicht im Allgemeininteresse, sondern im Interesse des Versicherers und der Versichertengemeinschaft; diese Besonderheit materiell-rechtlicher Ausschlussfristen dürften beim Formzwang nicht unberücksichtigt bleiben. d) Wiedereinsetzung nach Treu und Glauben Bei den unterschiedlichen Stellungnahmen der Gerichte vom LG bis zum BVerfG zum Zeitpunkt der Fristwahrung geht es im Wesentlichen um zwei Zeitpunkte, den der Einreichung der unterschriftslosen Klage (15.12.) und den der Einzahlung des Gerichtskostenvorschusses (23.12.); dabei gerät der Zeitpunkt der tatsächlichen Nachholung der Unterschrift (7.1.) und damit einer nachträglichen Klagezulassung 04 – juris) das der Zahlungsklage stattgebende Urteil des OLG aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Nach der nunmehrigen Auffassung des BGH begegnet die Bejahung der Wahrung der Klagefrist durch das OLG „auf der Grundlage der Entscheidung des BVerfG … keinen rechtlichen Bedenken“ (Tz. 9); s. dazu näher unten Fn. 29. 26 BVerfG NJW 2005, 814, 815. Es handelt sich um eine Kammerentscheidung (2. Kammer des Ersten Senats); damit waren die für das Verfassungsbeschwerde-Verfahren maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits geklärt; s. § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG. 27 BVerfG NJW 2005, 815, 815 i. V. mit NJW-RR 2004, 755. 28 BVerfG NJW 2005, 814, 815.
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ganz in den Hintergrund29. Im Zusammenhang mit einer Fristversäumung durch einen Fehler des Gerichts hätte nach Auffassung des BVerfG „Anlass bestanden, die Anforderungen an die Anwendung des § 242 BGB mit besonderer Fairness zu handhaben“30. Dies gilt indessen ganz allgemein. Im Zusammenhang mit der Wahrnehmung von Prozessfristen ist auf den Grundsatz von Treu und Glauben – und das ergänzende Fairnessprinzip – auch dann zurückzugreifen, wenn es nicht um eine gerichtlich zu vertretende Fristversäumung geht. In der Folge soll daher versucht werden, eine „Wiedereinsetzung nach Treu und Glauben“ zu entwickeln. Die Frist gem. § 12 Abs. 3 VVG a. F. beschränkt den Rechtsschutz in zeitlicher Hinsicht und ist trotz ihres materiell-rechtlichen Charakters eine gesetzliche Verfahrensfrist (wie § 67 SGG). Die Eingrenzung der Rechtsbegünstigung der Wiedereinsetzung auf die Fälle von „Notfristen“ usw. (§§ 224 Abs. 1 Satz 2, 233 ZPO) stellt eine formale Schranke dar, die vor den Grundsätzen von Treu und Glauben und dem Fairnessprinzip keinen Bestand hat. Die Situation entspricht damit der in den neuen Verfahrensordnungen (vgl. § 60 VwGO; § 56 FGO; § 67 SGG). Hätte der „Versicherungsschutz-Kläger“ – anders als die Parteien im allgemeinen Zivilprozess – nicht die Möglichkeit, sich gegen eine unverschuldete Fristversäumung zu wehren, fehlte es ihm an der „Waffengleichheit“; jedenfalls läge ein Verstoß gegen das Fairnessprinzip vor. An die Stelle der Wiedereinsetzungsfrist (§ 234 ZPO) tritt die „bewegliche Frist“ der Unverzüglichkeit (vgl. § 121 Abs. 1 BGB). Die Unterschrift unter die Klage ist 9 Tage (7.1.) nach dem Hinweis des Gerichts (29.12.) nachgeholt worden; das ist – jedenfalls bei einem Jahreswechsel – unverzüglich. Den Kläger trifft an der Fristversäumung kein Verschulden, denn er hat einen Anwalt mit der Klageerhebung beauftragt. Bei der Wahrung von Klagefristen scheidet eine Zurechnung von Vertreterverschulden aus (§ 85 Abs. 2 ZPO). Es geht um den ersten Zugang zum Rechtsschutz. Eine Rechtsschutzversagung schlechthin wegen Vertreterverschuldens wäre als Justizverweigerung für die Partei eine unzumutbare Zugangsbehinderung31. Selbst bei Anwendbarkeit von § 85 Abs. 2 ZPO wäre ein Vertreterverschulden wegen „mitursächlichen“ Fehlverhaltens des Gerichts ausgeschlossen32. Bei der 8 Tage vor Fristablauf eingereichten Klage hätte das Gericht den Kläger auf den Formmangel hinweisen müssen; wie die Vorschusseinzahlung unter Angabe des Aktenzeichens zeigt, hat eine Kontaktaufnahme zwischen 29 Dies trifft auch auf die zweite Revisionsentscheidung des BGH (BGH, Urteil vom 14. 3. 2006 – VI ZR 335/04 – juris) zu (vgl. bereits oben Fußn. 25). Die Frist sei dadurch gewahrt worden, dass der Prozessbevollmächtigte des Klägers eine – wenn auch nicht unterschriebene – Klageschrift eingereicht und nach telefonischer Aufforderung den Gerichtskostenvorschuss in Höhe von 42.015 DM am 20. 12. 1999 an die Gerichtskasse überwiesen habe (Tz. 15). 30 BVerfG NJW 2005, 814, 816. 31 Ebenso für § 4 KSchG Zöller/Althammer, ZPO, § 85 Rn. 11. Zum „Verlust des Kündigungsrechtsschutzes des Arbeitnehmers bei Versäumung der Klagefrist durch Vertreterverschulden“ s. eingehend Vollkommer, in: Festschrift für Stahlhacke, 1995, S. 599 ff. 32 Vgl. Zöller/Althammer, ZPO, § 85 Rn. 13b; s. a. BVerfG NJW 2005, 814, 816: Keine Verfahrensnachteile für die Partei bei eigenen Versäumnissen des Gerichts.
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dem Gericht und der Anwaltskanzlei stattgefunden; dabei hätte auf den Formfehler (Unterschrift) hingewiesen werden müssen33. Wie die Einzahlung des Vorschusses hätte dann auch die fehlende Unterschrift noch vor Fristende (23.12.) nachgeholt werden können. Im „Wiedereinsetzungsverfahren nach Treu und Glauben“ ist ein besonderer Antrag gem. § 233 Satz 1 ZPO nicht erforderlich; damit bedarf es auch nicht notwendig einer Entscheidung. Liegen alle Voraussetzungen für die Wiedereinsetzung aktenkundig vor, tritt mit der Nachholung der Unterschrift automatisch die Heilung – nachträgliche Fristwahrung – ein (wie § 130a Abs. 6 Satz 2 ZPO, ohne Rückwirkung). 2. Formerleichterung bei unleserlicher Unterschrift a) Der Fall Im Ausgangsfall34 hat ein Untervertreter „i. V.“ des Prozessbevollmächtigten die Berufungsbegründung als Schriftsatz der RA-Kanzlei „G/S“ unterschrieben. Unter der Unterschrift war der Name des Prozessbevollmächtigten mit „E. G. Rechtsanwalt“ maschinenschriftlich wiedergegeben. Die Unterschrift war unleserlich; ob der Schriftzug Namensbuchstaben erkennen ließ, war zweifelhaft (Vorinstanz verneinend). Auf vom Gegner geäußerte Zweifel an der Formeinhaltung hat der Prozessbevollmächtigte des Berufungsklägers den Namen des unterzeichnenden Rechtsanwalts mitgeteilt (RA H.) und darauf hingewiesen, dass RA H. als Mitglied der Bürogemeinschaft „G/S“ im Kanzleibriefbogen aufgenommen sei. Das Berufungsgericht hat die Berufung verworfen, da seiner Auffassung nach Identität und Postulationsfähigkeit des Unterzeichners der Berufungsbegründung im Zeitpunkt des Ablaufs der Berufungsbegründungsfrist nicht feststanden. Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Berufungsklägers hat der BGH den Verwerfungsbeschluss aufgehoben und die Sache an das Berufungsgericht zurückverwiesen. b) Entscheidung des Bundesgerichtshofs Der BGH kommt in Übereinstimmung mit der h. M. in Rspr. und Schrifttum (auch mit der Vorinstanz) zu dem Ergebnis, dass für eine formgültige Unterschrift „Lesbarkeit“ nicht verlangt werden kann; auch Namensbuchstaben muss die Unterschrift nicht erkennen lassen; es genügt ein individueller Schriftzug, der charakteristische Merkmale aufweist35. Da der handschriftliche Schriftzug „individuelle und entspre-
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So auch BVerfG NJW 2005, 814, 816. BGH MDR 2020, 305. 35 S. Zöller/Greger, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 130 Rn. 11; Heinemann, Neubestimmung der prozessualen Schriftform, 2002, S. 55 jeweils m. w. N.; ebenso zur strafprozessualen Revisionsbegründung gem. § 345 Abs. 2 StPO als „unterzeichneter Schrift“ Hecken/Schmuck, NJOZ 2020, 257, 259 m. w. N. 34
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chend charakteristische Merkmale“ aufwies, war im vorliegenden Fall die äußere Form der Berufungsbegründung gewahrt. In der Entscheidung geht es weiter um die Identifizierung des Unterzeichners der Berufungsbegründung als Anwalt und damit die Berufungszulässigkeit. Bei der Unterzeichnung einer Rechtsmittelbegründungsschrift gehört die Formgültigkeit der Unterschrift zu den Rechtsmittelformalien und unterliegt damit der Prüfung von Amts wegen durch das Rechtsmittelgericht (§§ 522 Abs. 1 Satz 1; 572 Abs. 2 Satz 1; 577 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Für die Frage, ob das handschriftliche Gebilde den Anforderungen an eine formgültige Unterschrift entspricht, ist nach der Rspr. des BGH „grundsätzlich auf den Zeitpunkt des Ablaufs der Begründungsfrist und die bis dahin bekannten Umstände abzustellen. Eine Klärung der Identität und Postulationsfähigkeit zu einem späteren Zeitpunkt ist nur zulässig, wenn bis zum Fristablauf klar ist, dass eine Unterschrift vorliegt, die von einem Rechtsanwalt stammt“36. Bei einer unleserlichen Unterschrift eines Untervertreters der Berufungsbegründung kommt den im Briefkopf der Anwaltskanzlei (Bürogemeinschaft, Sozietät) aufgeführten Namen der dort tätigen Rechtsanwälte als „Zuordnungs-Objekte“ entscheidende Bedeutung zu. Als besonders hilfreich erweist sich dabei, wenn Anfangsund/oder Endbuchstaben des Namens im Schriftzug wenigstens andeutungsweise erkennbar sind, die auch bei den im Briefkopf genannten Namen vorkommen. Mit Hilfe der „Zuordnungs-Methode“ gelingt es dem BGH im vorliegenden Fall, RA H. als Unterzeichner der Berufungsbegründung zu identifizieren. Die Zuordnungs-Methode beschreibt der BGH wie folgt: „Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts lässt sie (die Unterschrift) am Anfang ein ,H‘ erkennen, ein ,g‘ ist zumindest angedeutet. Damit ließ sich der Schriftzug unter Berücksichtigung des Zusatzes ,i. V.‘ bereits zum Zeitpunkt des Ablaufs der Berufungsbegründungsfrist dem im Briefkopf als Mitglied der Bürogemeinschaft aufgeführten Rechtsanwalt H., dessen Nachname mit einem ,g‘ endet, zuordnen. Von den im Briefkopf aufgeführten Rechtsanwälten kam nur Rechtsanwalt H. als Urheber des Schriftzuges in Betracht, da die Namen der übrigen dort genannten Mitglieder der Bürogemeinschaft nicht mit einem ,H‘ beginnen“37. Die Zurechnungs-Methode bei unleserlicher Unterschrift ähnelt damit eher einem Puzzle-Spiel als einer Prüfung der Rechtsmittelformalien. Es geht darum, für das individuell geformte Puzzle-Teil mit den „charakteristischen Merkmalen“ unter den RA-Namen als weiteren Puzzle-Teilen das „passende“ Anschlussstück zu finden. Folgt damit der früheren Entscheidung durch Würfelspiel38 oder Los39 nunmehr die Entscheidung durch Puzzle-Spiel?
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BGH MDR 2020, 305 Tz. 13. BGH MDR 2020, 305 Tz. 15. 38 In Rabelais’ satirischem Roman Gargantua und Pantagruel kommt es zum Freispruch des würfelnden Richters, s. die folgende Fußnote 39. Die Stelle ist, soweit ersichtlich, in der Reclam-Ausgabe nicht enthalten; s. Reclam Bibliothek, Gargantua, Pantagruel, 2013. 37
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Scheitert die Zuordnung einer unleserlichen Unterschrift zu einem der Anwaltsnamen im Briefkopf, ist bei Fehlen von sonstigen Hinweisen auf die Identität des Unterzeichners die Berufung unzulässig, und zwar auch dann, wenn die Unterschrift (tatsächlich) von einem unterbevollmächtigten Anwalt stammt. Die Versagung des Berufungsrechtsschutzes nimmt materielle Rechtsverluste in Kauf. Gegen die vom BGH bei unleserlichen Unterschriften praktizierte „ZuordnungsMethode“ bestehen Bedenken. Zwar mag sie in Einzelfällen, wie im Ausgangsverfahren, zu zutreffenden Ergebnissen führen; als allgemeines Mittel zur Identitätsfeststellung des Unterzeichners ist sie aber völlig ungeeignet. Das zeigen bereits geringfügige Änderungen des Sachverhalts gegenüber dem Ausgangsverfahren. Wären in dem „Schriftzug“ die Namensanfangs- und -endbuchstaben nicht (andeutungsweise) erkennbar gewesen (so die Vorinstanz), wäre eine Zuordnung zur dem mit „H“ beginnenden Anwaltsnamen möglicherweise ausgeschieden; selbst die Erkennbarkeit von Anfangs- und Endbuchstaben genügt für eine „Zuordnung“ nicht, wenn dies auf mehrere Anwälte zutrifft (Beispiel: Huber, Hauser, Hirmer), was etwa in Großkanzleien durchaus der Fall sein kann. Schließlich hilft die Buchstabenerkennbarkeit nicht, wenn der unterbevollmächtigte Rechtsanwalt kein im Briefkopf aufgeführtes Mitglied der Bürogemeinschaft ist. Fehlt es umgekehrt an jeder Buchstabenerkennbarkeit, dürfte eine Zuordnung zu einem bestimmten Anwalt aufs „Geratewohl“ oder „Gutglück“ hinauslaufen. Sollte der Richter bei seiner Zuordnung auf den – wie im vorliegenden Fall – als Unterzeichner namentlich feststehenden Anwalt (vgl. oben a) abstellen, liefe das auf einen Trick hinaus, der einem Richter nicht unterstellt werden darf. Der „Zuordnung“ der Unterschrift zu einem bestimmten Namen kommt keine Bestands-(Rechts-)kraft zu. Stellt sich nachträglich die Unrichtigkeit der Zuordnung heraus, kann das Puzzle-Spiel „fortgesetzt“ werden, bis alle Anwaltsnamen „verbraucht“ sind. Umgekehrt kann nach fehlgeschlagener Zuordnung die Berufung auch als unzulässig verworfen werden, selbst wenn aufgrund der nachträglich bekannt gewordenen Umstände feststeht, dass die Berufungsbegründung von einem unterbevollmächtigten postulationsfähigen Anwalt unterzeichnet worden ist. Dass der BGH so weit gehen würde, darf allerdings bezweifelt werden, da er sich Ausnahmen von seinem formstrengen Ausgangspunkt offen gehalten hat40. Dass die vom BGH zugelassene nachgeschaltete Sachaufklärung nur auf Fälle erfolgreicher Zuordnung beschränkt sein soll41, ist nicht einzusehen, sie muss allgemein gelten.
39 S. Barbara Stollberg-Rilinger, Entscheidung durch Los, in: Festschrift für Hans Vorländer, Springer, 2014, S. 63. 40 BGH MDR 2020, 305 Tz 13: „grundsätzlich“; s. a. Tz. 15 a. E. 41 So BGH MDR 2020, 305 Tz. 15 a. E.
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c) Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Das Gericht darf sich nicht widersprüchlich verhalten42. Erkennt es bei Unleserlichkeit der Unterschrift eine Formerleichterung an, darf es der Partei – zumal ohne jede Warnung – nicht das Risiko der fehlenden Identifizierbarkeit des Unterzeichners im Zeitpunkt des Fristablaufs überbürden. Die Kehrseite des Verzichts auf die Lesbarkeit der Unterschrift ist die fehlende Klarheit über die Identität des Unterzeichners bei Fristablauf. Das bedeutet, dass an der Erkennbarkeit des Unterzeichners bei Fristablauf nicht festgehalten werden kann. Es muss vielmehr eine nachträgliche Ermittlung der Person des Unterzeichners zugelassen werden. I. d. R. genügt dafür die Rückfrage beim Prozessbevollmächtigten; auch eine Befragung des Untervertreters ist zulässig. Die Frage wird sich auf eine frühere (unbeanstandete?) Verwendung der Unterschrift in der gleichen Form erstrecken. Die Rechtslage ähnelt der beim Vollmachtsmangel, der noch nachträglich mit Rückwirkung geheilt werden kann (§ 89 Abs. 2 ZPO; §§ 182 Abs. 2, 184 Abs. 1 BGB). Die Postulationsfähigkeit muss zwar bei Vornahme der Prozesshandlung vorliegen, sie ist deshalb aber kein Formerfordernis und kann auch nach Fristablauf nachgewiesen werden. Die unleserliche Unterschrift wird i. d. R. nicht vom Unterzeichner als Ausdruck der Individualität seiner Persönlichkeit erfunden43, sondern ist meist das Ergebnis von vereinfachenden Auslassungen und Kürzungen44, das Endprodukt einer jahrelangen Verschleifung und Verstümmelung als Folge der täglich abverlangten Unterschriften. Ein nicht unerwünschter Nebeneffekt ist die damit verbundene Erschwerung der Nachahmung der Unterschrift45. Der „schön geschriebene“ Name ist leichter nachahmbar als der „unleserliche“ individuelle Schriftzug. Bei der Beanstandung einer „unleserlichen“ Unterschrift ist daher die Vergangenheit zu berücksichtigen. Ist die „gleiche“ Unterschrift früher vom angegangenen Gericht nicht beanstandet worden, besteht eine Sperre gegenüber einer nachträglichen Formverschärfung46, es handelt sich um eine Art Reformatio in pejus. Ist die Unterschrift bisher unbeanstandet im allgemeinen prozessualen Verkehr verwendet worden, genießt sie Verkehrsschutz; der Unterzeichner bzw. die Partei hat einen Anspruch auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand47. Der Unterzeichner durfte bis zu einer evtl. Beanstandung davon ausgehen, dass die von ihm gebrauchte Unterschrift von den Gerichten weiter akzeptiert würde; die Fristversäumung als Folge des Formmangels ist damit unverschuldet (§ 233 ZPO). In dem (wohl theo42
BVerfGE 78, 123, 126; NJW 2014, 205 Tz. 20. Zur Unterschrift als „Persönlichkeitsäußerung“ Heinemann a. a. O., S. 295. 44 Beethoven benötigte für seine Unterschrift nur fünf Buchstaben; vgl. das Faksimile auf der 80 Cent-Briefmarke der Deutschen Post 2020: „Bthvn“; die Unterschrift (das Kürzel?) bildet den Titel auf der Innenseite des 10er Sets der Briefmarke: „1770 – 1827/BTHVN“. 45 Vgl. BGH (StS) NJW 1959, 734: „Schriftzug, … der … Nachahmung, wenn auch nicht vollständig ausschließt, so doch wesentlich erschwert“. 46 BVerfGE 78, 123, 127. 47 BVerfG NJW 1998, 1853. 43
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retischen) Fall, dass die „unleserliche“ Unterschrift beim ersten Gebrauch beanstandet wird, versagen die erörterten beiden Schutzmechanismen; eine Rechtsmittelverwerfung ist trotzdem unzulässig. Die Grundsätze für die Rechtsmittelformalien müssen sich durch ein „besonderes Maß an Gleichheit, Klarheit und innere Logik“ auszeichnen48. Daran fehlt es, wenn die Rechtsmittelzulässigkeit vom Ausgang eines Puzzle-Spiels abhängt. 3. Heilung des Formmangels durch Bestätigung von unterschriftsloser Berufungsbegründung a) Der Fall Es geht um die verkannte Heilung eines Formmangels durch nachträgliche Bestätigung. Das materielle Recht kennt eine (ex nunc) Formheilung nichtiger Rechtsgeschäfte durch Bestätigung (§§ 141 Abs. 1, 125; s. auch § 144 Abs. 1 BGB). Auch der ZPO sind Heilungsvorschriften nicht unbekannt (vgl. §§ 89 Abs. 2, 130 a Abs. 6 Satz 2, 189, 295 Abs. 1, 547 Nr 4, 579 Abs. 1 Nr 4 ZPO). Die 1. Frage für den Zivilprozess lautet: Kann bei Einreichung einer nicht unterschriebenen Berufungsbegründung der Anwalt nicht als Autor den Formfehler durch rechtzeitige Bestätigung heilen? Die Antwort ermöglicht auch eine Lösung bei der Heilung von anderen Formfehlern, etwa bei der fehlenden Nachholung der versäumten Prozesshandlung (§ 236 Abs. 2 Satz 2 ZPO). Im Ausgangsfall49 ist die nicht unterzeichnete Berufungsbegründung am letzten Tag der Frist (21. 1. 2019) beim Gericht eingereicht worden. Bereits mit Beschluss vom 7. 2. 2019 hat das OLG die Berufung ohne vorherigen Hinweis des Prozessbevollmächtigten auf den Formmangel noch vor Beginn der Wiedereinsetzungsfrist verworfen. In seinem am 14. 2. 2019 eingegangenen Wiedereinsetzungsantrag hat der Prozessbevollmächtigte ein Büroversehen (Versagen der Unterschriftskontrolle) für das Formversehen verantwortlich gemacht. Ein unterzeichneter Begründungsschriftsatz (oder wenigstens der letzten Seite mit Unterschrift) war dem Antrag nicht beigefügt. In dem Wiedereinsetzungsantrag hat der Prozessbevollmächtigte anwaltlich versichert, die Berufungsbegründung sei tatsächlich mit seinem Wissen und Willen herausgegeben worden; es habe sich nicht um einen Entwurf gehandelt. Das OLG hat nach Ablauf der Wiedereinsetzungsfrist mit Beschluss vom 25. 3. 2019 den Antrag auf Wiedereinsetzung verworfen, da der Prozessbevollmächtigte die versäumte Prozesshandlung nicht nachgeholt habe. Dem Beschluss des BGH ist nicht zu entnehmen, dass das OLG den Prozessbevollmächtigten in der noch offenen Wiedereinsetzungsfrist (bis ca. 7. 3. 2019) auf Bedenken wegen der fehlenden Nachholung der Berufungsbegründung hingewiesen hätte. Sowohl gegen die Verwerfung der
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BVerfGE 74, 228, 234; NJW 1991, 417, 418; Zöller/G. Vollkommer, ZPO, Einl Rn. 48. BGH MDR 2020, 53.
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Berufung als auch des Wiedereinsetzungsantrags hat der Kläger Rechtsbeschwerde eingelegt. Beide Rechtsmittel blieben erfolglos. b) Entscheidung des Bundesgerichtshofs Der BGH behandelt die beiden statthaften (§§ 522 Abs. 1 Satz 4, 238 Abs. 2 Satz 1 ZPO) Rechtsbeschwerden gesondert. Die Rechtsbeschwerde gegen die Verwerfung der Wiedereinsetzung wird als „unzulässig“ bezeichnet, weil keine Zulässigkeitsgründe (vgl. § 574 Abs. 2 ZPO) dargetan seien. Der BGH verkennt dabei, dass der Rechtsmittelführer der Sache nach die Anerkennung des (neuen) Heilungsgrundes der „Bestätigung“ der formfehlerhaften Handlung in einer formgerechten Erklärung erstrebt. Auch die vom BGH selbst erwogene „Übertragung“ der Rechtsprechung zur Wirksamkeit nicht unterzeichneter Rechtsmittelbegründungsschriften50 – in der Sache eine Analogie zu Rechtsprechungsgrundsätzen – soll anscheinend nicht für eine „Grundsatzbedeutung“ ausreichen. Der BGH stellt die Formzwecke der Unterschrift mustergültig dar51. Sie brauchen hier nicht nochmals wiederholt zu werden. Mit seiner Unterschrift erklärt der Unterzeichner damit gleichsam „stillschweigend“ (konkludent) in „Kurzform“, dass die Unterschriftszwecke in seiner Person erreicht sind. In seiner anwaltlichen Erklärung im Wiedereinsetzungsantrag hat der Prozessbevollmächtigte ausdrücklich in „Langform“ erklärt, dass in seiner Person die Unterschriftszwecke erreicht sind. Bestätigt der Prozessbevollmächtigte in seiner „anwaltlichen Erklärung“ die Berufungsbegründung, erklärt er ihre Genehmigung, so übernimmt er auch die Verantwortung für sie. Durch die Erklärung im Wiedereinsetzungsantrag als bestimmendem Schriftsatz wird auch die Rechtssicherheit gewahrt, denn sie ist Aktenbestandteil und folgt in der Akte in kurzem Abstand auf die nicht unterschriebene Berufungsbegründung. Der BGH prüft dann auch, ob im vorliegenden Fall eine „Ausnahme“ vom Unterschriftszwang eingreift52. Ausgangspunkt ist seine Rspr. zur ausnahmsweisen Wirksamkeit nicht unterschriebener Rechtsmittelbegründungsschriften53. Gemeint sind die von der Rspr. anerkannten Ausnahmefälle vom Unterschriftszwang, die Einreichung der nicht unterschriebenen Rechtsmittelbegründung zusammen mit vom Prozessbevollmächtigten handschriftlich beglaubigten Abschriften und die Miteinreichung von Berufungsbegründung mit einem ordnungsgemäß unterzeichneten Anoder Begleitschreiben54. Noch nicht erwähnt ist der vom BGH mit Beschluss. v. 19. 2. 2020 anerkannte weitere Fall, in dem der verantwortliche Rechtsanwalt in
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So BGH MDR 2020, 53 Leitsatz 2. BGH MDR 2020, 53 Tz 11. 52 BGH MDR 2020, 53 Tz 13. 53 BGH MDR 2020, 53 Leitsatz 2 Satz 1; Tz 12, 13. 54 Vgl. GmS OGB BGHZ 75, 340, 349; Zöller/Greger, ZPO, 33. Aufl., § 130 Rn. 11; Heinemann, Neubestimmung der prozessualen Schriftform, 2002, S. 208 ff., 210 f. 51
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einem eigenhändig unterschriebenen Schreiben vor Ablauf der Rechtsmittelfrist auf die unterschriftslose Rechtsmittelschrift Bezug nimmt55. Im vorliegenden Fall ist es nach „erstmaliger“ Form-(Frist-)versäumung bei der Einreichung der Berufungsbegründung mit Ablauf der Wiedereinsetzungsfrist ohne Einreichung einer unterschriebenen Berufungsbegründung (vgl. § 236 Abs. 2 Satz 2 ZPO) zu einer „nochmaligen“ Form-(Frist-)versäumung gekommen. Der BGH hat die „Übertragung“ seiner Rspr. zur ausnahmsweisen Wirksamkeit nicht unterzeichneter Rechtsmittelbegründungsschriften auf diesen Fall abgelehnt. Entscheidend für ihn ist, dass es nach dem „erstmaligen“ Formmangel (Rechtsmitteleinreichung) „nochmals“ zu einer „Säumnis“ der Formeinhaltung gekommen ist (fehlende „Nachholung“ der Berufungsbegründung). Wörtlich heißt es in dem Beschluss: Die „Situation unterscheidet sich von der der erstmaligen Einreichung einer Berufungsbegründung insoweit, als es die anwaltlich vertretene Partei bereits einmal versäumt hat, eine wirksame Berufungsbegründung einzureichen und auf den konkreten Mangel durch das Gericht – spätestens mit dem Verwerfungsbeschluss – hingewiesen worden ist. Dann aber ist es dem Rechtsanwalt ohne weiteres zuzumuten, die Prozesshandlung nunmehr durch Einreichung einer wirksamen, also unterzeichneten Berufungsbegründung nachzuholen und sich nicht mit Erklärungen zum eingereichten unwirksamen Begründungsschriftsatz zu begnügen“56. Die Tragfähigkeit dieser Begründung wird später zu überprüfen sein. Fehlte es damit bei Ablauf der Wiedereinsetzungsfrist an einer formgerechten „Nachholung“ der Berufungsbegründung und ist der Formmangel der eingereichten Schrift auch nicht „geheilt“, ist die Wiedereinsetzung endgültig „unzulässig“ und es verbleibt bei der Verwerfung der Berufung. Im Hinblick auf die vom OLG begangenen Verfahrensverstöße – Entscheidung vor Ablauf der Wiedereinsetzungsfrist, Verstreichenlassen der Wiedereinsetzungsfrist ohne auf Nachholung der Berufungsbegründung hinzuwirken – hätten die beiden Verwerfungsbeschlüsse gleichwohl nicht bei Bestand bleiben dürfen. Darauf ist vor der Untersuchung eines neuen Heilungstatbestandes kurz einzugehen. c) Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Der Prozessbevollmächtigte des Rechtsmittel-Klägers ging offensichtlich davon aus, mit der „bestätigenden“ Bezugnahme auf die (wenn auch ohne Unterschrift) bereits bei den Akten befindliche Berufungsbegründung alles Erforderliche i. S. einer „Nachholung“ (vgl. § 236 Abs. 2 Satz 2 ZPO) der versäumten Prozesshandlung getan zu haben. Dies war für das OLG nach der Rechts- und Interessenlage ohne weiteres erkennbar. Ein „isolierter“ Wiedereinsetzungsantrag war unzulässig und damit sinnlos. Dem Prozessbevollmächtigten kam es darauf auf, das Rechtsmittelverfahren auf der Grundlage der (zwar ohne Unterschrift) bereits eingereichten, zwischenzeit55 56
Vgl. BGH MDR 2020, 566, früher str.; vgl. Heinemann, a. a. O., S. 212 ff. BGH MDR 2020, 53 Tz. 13.
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lich von ihm als Anwalt „autorisierten“ Berufungsbegründung fortzusetzen. Im Hinblick auf die bis zum Ablauf der einmonatigen Wiedereinsetzungsfrist (§ 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO) noch zur Verfügung stehenden Zeit (ca. 3 Wochen) war das Berufungsgericht verpflichtet, den Rechtsmittelführer auf Bedenken gegen seinen Formstandpunkt hinzuweisen und die Einreichung einer formgültigen Berufungsbegründung anzuregen57. Einer solchen Anregung wäre der Rechtsmittelführer auch aller Wahrscheinlichkeit nachgekommen. Durch sein – pflichtwidriges – Schweigen und die Versagung der Wiedereinsetzung nach Fristablauf hatte das OLG den Rechtsmittelführer gleichsam „ins offene Messer“ laufen lassen. Darin liegt ein Verstoß gegen das faire Verfahren, demzufolge das OLG aus gerichtlichen Fehlern keine Verfahrensnachteile für die Parteien ableiten durfte58. Die Beschlüsse hätten daher auf die Rechtsbeschwerde aufgehoben werden müssen. Das OLG hätte den Wiedereinsetzungsantrag auch deswegen nicht zurückweisen dürfen, weil der in der fehlenden „Nachholung“ der versäumten Prozesshandlung bestehende Formmangel inzwischen „geheilt“ war. Die „Nachholung der versäumten Prozesshandlung“ muss nicht notwendig in der Einreichung eines selbständigen Schriftsatzes bestehen, sie kann vielmehr „zugleich“ im Wiedereinsetzungsantrag enthalten sein59. Entsprechendes gilt, wenn sich bei den Akten bereits ein (unterschriftsloser) Schriftsatz befindet, auf den im Wiedereinsetzungsantrag „bestätigend“ Bezug genommen worden ist; er ist damit auch ohne Unterschrift „wirksam“, der Formmangel damit „geheilt“. Die Rspr. des BGH zur ausnahmsweisen Wirksamkeit nicht unterzeichneter Rechtsmittel-(begründungs-)schriften findet auf den vorliegenden Fall durchaus Anwendung. Dabei ist vom Grundfall60 auszugehen; die in der Ausgangsentscheidung zitierten Entscheidungen61 betreffen Extremgestaltungen, bei denen die Einreichung des formfehlerhaften Schriftstücks und die genehmigende Bezugnahme des Prozessbevollmächtigten (durch die miteingereichten handschriftlich beglaubigten Abschriften bzw. durch An- und Begleitschreiben) zeitgleich zusammenfallen. Nach dem Grundfall wird die formfehlerhaft eingereichte Rechtsmittel-(begründungs-) schrift durch eine vor Fristablauf erfolgte Bezugnahme bestätigt und der Formfehler damit „geheilt“. Diese Heilungswirkung trifft auf alle fristgebundenen Prozesshandlungen bei Rechtsmittel-, Rechtsmittelbegründungs- und Einspruchsfristen zu. Im vorliegenden Fall war eine Berufungsbegründungsfrist bereits abgelaufen, so dass eine Heilung der fehlerhaft eingereichten Berufungsbegründung ausscheidet; allerdings kommt als zu wahrende Frist die Frist zur „Nachholung der versäumten Prozesshandlung“ in Frage. Der Unterschied zwischen der ursprünglichen Rechtsmittel(begründungs-)frist und der Wiedereinsetzungsfrist erscheint eine unterschiedliche 57
Vgl. auch BGHZ 122, 105 Tz. 28 (im Einzelfall offen lassend). BVerfGE 76, 123, 126; BVerfG NJW 2005, 814, 816. 59 BVerfGE 88, 118, 128 zum Einspruch. 60 Fallgestaltung in MDR 2020, 566. 61 S. BGH MDR 2020, 53 Leitsatz 2. 58
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Behandlung nicht zu rechtfertigen; auch der Umstand, dass es bei der bisherigen BGH-Rspr. um den ersten Zugang (Einreichung) geht, im Wiedereinsetzungsfall dagegen um einen bereits eingereichten Schriftsatz, dürfte keinen entscheidenden Unterschied darstellen. Anders als in den bisherigen BGH-Fällen handelt es sich allerdings nicht um einen versehentlichen Formverstoß, sondern um ein bewusstes Verstreichenlassen der Wiedereinsetzungsfrist. Auch darin liegt – entgegen dem BGH, der von einem „nochmaligen“ – also „doppelten“ Formverstoß ausgeht62 – kein beachtlicher Unterschied. Die Verschuldensfrage stellte sich (noch) nicht bei der Formwahrung, sondern erst bei der Wiedereinsetzung (§ 233 ZPO), in den Heilungsfällen also überhaupt nicht. Die Heilung von Unterschriftsmängeln setzt damit voraus: Der rechtzeitig ohne Unterschrift eingereichte Schriftsatz wird vom Anwalt noch vor dem Fristablauf durch Bezugnahme als seine persönliche Erklärung bestätigt. In diesem Fall in buchstabengetreuer Interpretation von § 236 Abs. 2 Satz 2 1. Hs. ZPO die Einreichung eines textgleichen unterschriebenen Schriftsatzes zu verlangen, liefe auf reine Förmelei hinaus63. Bei dem neuen Heilungstatbestand der „Heilung durch Bestätigung der formfehlerhaften Handlung“ handelt es sich um einen Sonderfall der „Heilung durch Zweckerreichung“; die ausdrückliche Billigung durch den Urheber steht für die Unterschrift. Der Grundsatz ist derzeit in Rspr.64 und Literatur65 noch nicht anerkannt. Der zur Wahrung des „sichersten Wegs“ verpflichtete Anwalt kann daher nicht ohne weiteres von einer Wirksamkeit der „geheilten“ formfehlerhaften Handlung ausgehen. Er muss die Rechtsauffassung des Gerichts erkunden. Auf seine Anfrage ist das Gericht verpflichtet, auf etwaige Bedenken gegen die Annahme einer „Heilung“ hinzuweisen. Schweigt es, darf der Rechtsmittelführer mit Vertrauensschutz rechnen. „Qui tacet, consentire videtur, ubi loqui potuit et debuit (!)“66
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S. BGH MDR 2020, 53 Tz. 13. Vgl. auch BVerfGE 88, 118, 127 zum Einspruch. 64 Ohne Nennung des Begriffs in der Sache abl. BGH MDR 2020, 53. Dagegen spricht der BGH im Zusammenhang mit der Heilung von Zustellungsmängeln nach § 189 ZPO ausdrücklich von einem zugrundeliegenden „Prinzip der Zweckerreichung“, vgl. BGHZ 214, 294 Tz. 38 = NJW 2017, 2472; 204, 268 Tz. 17 = NJW 2015, 1760; übernommen von ThomasPutzo/Hüßtege, ZPO, 41. Aufl. 2020, § 189 Rn. 2. 65 Stellungnahmen zur „Heilung durch Bestätigung“ fehlen bis zum Zeitpunkt des Manuskriptabschlusses; eine „Heilung durch Zweckerreichung“ wird von der h. M. abgelehnt; vgl. Rosenberg-Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 18. Aufl. 2018, § 67 Rn. 9; Thomas-Putzo/ Seiler, ZPO, 41. Aufl. 2020, § 295 Rn. 8; MünchKomm/Prütting, ZPO, 6. Aufl. 2020, § 295 Rn. 42; Musielak-Voit/Huber, 16. Aufl. 2019, § 295 Rn. 8, sämtliche gegen Vollkommer, Formenstrenge und prozessuale Billigkeit, 1973, S. 385 ff.; s. auch vorige Fn. 66 Liebs, Lateinische Rechtsregeln, 6. Aufl. 1998, Q 80, S. 193. 63
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IV. Schlussbemerkung Die Gerichte kommen ihrer Verpflichtung, auf die Beseitigung und Vermeidung von Formfehlern hinzuwirken, nur zögerlich und in beschränktem Umfang nach. Im Umgang mit den Formvorschriften finden sie oft nicht das rechte Maß, mit dem Heilungsgedanken tun sie sich schwer. Initiativen zur Hilfe bei Formfehlern sind eher selten; es besteht wenig Neigung, die Partei vor negativen Folgen eigener Verfahrensfehler zu schützen. In den Problemfällen kommen der BGH und das BVerfG jeweils zu unterschiedlichen Ergebnissen, teils im gleichen Verfahren (Fall 1), teils in ihrer Rechtsprechung (Fälle 2 und 3). Das BVerfG hat ein breites Instrumentarium zur Vermeidung von Rechtsverlusten aus Formalgründen entwickelt und bereitgestellt. Es gilt nur noch beherzt zuzugreifen. Floskelhafte Bekenntnisse zu den Verfahrensgrundrechten genügen nicht. Die prozessuale Fürsorgepflicht lässt für eine „Abschmetterfreude des Gerichts“ in einem fairen Zivilprozess keinen Raum.
Der Europäische Verein* Von Lothar Vollmer I. Einführung Ende 1991 legte die EG-Kommission den Entwurf für das Statut des Europäischen Vereins (EUV-VOE) vor.1 Dadurch soll die Europäisierung des Organisationsrechts vorangetrieben2 und den EG-Bürgern eine Organisationsform zur Verfügung gestellt werden, die ihren vereinsmäßigen Kooperationsbedürfnissen entspricht. Der EUV soll ebenso wie der BGB-Verein nicht für gewerbliche Zwecke zur Verfügung stehen, aber doch weit mehr als dieser auch wirtschaftliche Aktivitäten ermöglichen. Das wird nicht ohne weiteres deutlich, wenn der EUV als eine ,,ständige Struktur“ definiert wird, ,,deren Mitglieder ihre Kenntnisse oder Tätigkeiten entweder zu gemeinsamen Zwecken gemäß der Definition der Gemeinnützigkeit des jeweiligen nationalen Rechts des Sitzstaates des Vereins oder zur mittelbaren oder unmittelbaren Förderung der sektoralen und/oder beruflichen Interessen ihrer Mitglieder zusammenlegen“ (Art. 1 Abs. 1 EUV-VOE). Die Ausrichtung seines Statuts auf eine (auch) wirtschaftliche Zweckverfolgung ergibt sich jedoch eindeutig aus der amtlichen Begründung der Kommission3 und den Stellungnahmen des Wirtschaftsund Sozialausschusses der EG.4 Nach der Klarstellung, daß der EUV,,keinen Gewerbebetrieb“ haben und ,,primär keinen Gewinnzweck“ verfolgen darf, wird von der Kommission darauf hingewiesen, daß heutzutage fast alle Vereine ,,zwecks Verwirklichung ihrer Ziele am Wirtschaftsleben teilnehmen, indem sie planmäßig eine wirtschaftliche Haupt- oder Nebentätigkeit gegen Entgelt ausüben“.5 Und der Ausschuß stellt fest, die Kommission gehe davon aus, daß Vereine zwei ,,Basis-Funktionen“ hätten. Sie sollten fähig sein, ,,Wirtschaftstätigkeiten zu entwickeln“, und die Auf* Gekürzte Fassung des Erstabdrucks des Beitrags in ZHR 157 (1993), 373 – 399. KOM (91) 273 endg. – SYN 386 (5. 3. 1992). 2 Vgl. dazu Behrens, Die Europäisierung des Gesellschaftsrechts, GmbHR 1993, 129 ff. 3 KOM (91) 273 endg. – SYN 386, S. 2 ff. 4 Stellungnahme vom 19. 9. 1990, Die Unternehmen der ,,Economie Sociale“ und die Schaffung des europäischen Marktes ohne Grenzen, ABI. EG 90/C 332/81; Stellungnahme vom 26. 5. 1992 zum Vorschlag für eine Verordnung (EWG) des Rates über das Statut des Europäischen Vereins und zum Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Ergänzung des Statuts des Europäischen Vereins hinsichtlich der Rolle der Arbeitnehmer, ABI. EG 92/C 223/ 52. 5 KOM (89) 268 endg. – SYN 218 = BR-Drucks. 488/89 = ABI. EG Nr. C 263/14 vom 16. 10. 1989, S. 22. 1
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gabe haben, ,,die Interessen der Allgemeinheit und sektorale Aktivitäten ihrer Mitglieder im Europa der Bürger zu fördern“.6 Um tatsächlich fähig zu sein, entsprechende wirtschaftliche Tätigkeiten zu entwickeln, soll die Organisationsstruktur des EUV stärker als beim BGB-Verein an aktienrechtliche Organisationsstrukturen angenähert und ein „Verwaltungsorgan“ als zentrales Geschäftsführungsorgan vorgeschrieben werden. Außerdem soll der EUV nach EG-Bilanzrichtlinien rechnungslegungs-, prüf- und publizitätspflichtig sein und einer an das aktienrechtliche Mitbestimmungsmodell angelehnten Arbeitnehmermitbestimmung unterliegen. Der EUV weist damit in bezug auf Organisationsstruktur, Rechnungslegung und Arbeitnehmermitbestimmung vereinsuntypische kapitalgesellschaftsrechtliche Elemente auf, bei denen jedoch ein wichtiges Strukturelement, nämlich ein besonderes System der Kapitalaufbringung und -erhaltung, fehlt. Das erklärt sich daraus, daß der EUV trotz seiner u. U. weitreichenden wirtschaftlichen Aktivitäten eine ,,Personenvereinigung“ sein soll, d. h. ein Kooperationsverband, in dem der „Grundsatz vom Vorrang der Person gegenüber dem Kapital“ gilt.7 Dieser Grundsatz soll seinen Ausdruck finden ,,in spezifischen Regeln für den Eintritt, den Austritt und den Ausschluß der Mitglieder und in der Regel ein ,,Mitglied eine Stimme“, wobei das Stimmrecht an die Person gebunden ist und beinhaltet, daß es den Mitgliedern verwehrt ist, die erzielten Gewinne zu teilen und auf das Kapital des EUV zurückzugreifen“. Die skizzierte Grundkonzeption zeigt, daß der EUV ein janusköpfiges Gebilde ist, das einem teils als Idealverein, teils als Kapitalgesellschaft entgegentritt.8 Ob damit sachgerecht auf die Probleme der Vereine reagiert wird, die trotz ihrer personalistischen Organisationsgrundlagen eine umfangreiche kapitalistische Wirtschaftstätigkeit entfalten, ist eine offene Frage, die näherer Erörterung bedarf. Vorab soll jedoch die integrationspolitische Notwendigkeit dieser neuen europäischen Organisationsform behandelt werden (II.). Sie kann abschließend erst dann beurteilt werden, wenn die organisationsrechtliche Grundkonzeption des EUV (III.) näher betrachtet wurde. II. Die integrationspolitische Notwendigkeit des Europäischen Vereins Angesichts der Bedeutung der Vereine und Verbände in der modernen Industriegesellschaft9 und angesichts der Entwicklung der EG in Richtung auf eine ,,immer
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ABI. EG 92/C 223/52. KOM (91) 273 endg. – SYN 386, S. 23. 8 In diesem Sinne hat sich auch eine Minderheit des Wirtschafts- und Sozialausschusses kritisch geäußert (ABI. EG 92/C 223/56); ebenso Wiesner, AG Report 3/1992, R 67. 9 Grundlegend Leßmann, Die öffentlichen Aufgaben und Funktionen privatrechtlicher Wirtschaftsverbände, 1976, S. 45 ff.; Teubner, Organisationsdemokratie und Verbandsverfassung, 1978, S. 42 ff.; Herrmann, Interessenverbände und Wettbewerbsrecht, 1984, S. 59 ff.; Vieweg, Normsetzung und -anwendung deutscher und internationaler Verbände, 1990, S. 22 ff.; Markmann, Die Rolle der Verbände in der EG, in: Wildenmann (Hrsg.) Staatswerdung Europas?, 1991, S. 269 ff. 7
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engere Union der Völker Europas“ (Art. A Maastricht-Vertrag10) scheint die integrationspolitische Notwendigkeit eines Europäischen Vereins als einer neuen supranationalen Organisationsform außer Frage zu stehen. Bedenken ergeben sich jedoch daraus, daß die Vorschläge für andere, vergleichbare und von der EG immer wieder zum Vergleich herangezogene Organisationsformen, wie etwa das vorgeschlagene Statut einer EUAG, durchaus kontrovers diskutiert und z. T. sogar für völlig überflüssig erachtet wurden.11 1. Die europapolitischen Erwägungen Die integrations- bzw. europapolitischen Erwägungen in den amtlichen Begründungen und Stellungnahmen sind sehr allgemein gehalten. Dabei werden unterschiedliche, z. T. sogar miteinander unvereinbare Aspekte angesprochen. Die Kommission führt im wesentlichen nur an, das Statut des EUV solle ,,den Vereinen den Nutzen des Binnenmarkts ohne Grenzen in gleicher Weise wie den Aktiengesellschaften erschließen“ und dem ,,Bedürfnis nach einer über die Grenzen der einzelnen Mitgliedstaaten hinausgehenden Tätigkeit in der gesamten Gemeinschaft“ gerecht werden.12 Sie erwartet, daß der EUV,,ein lebendiges Beispiel für das Europa der Bürger sein (wird), da er die aktive Teilnahme der. Menschen am Leben der Gemeinschaft erleichtern und fördern wird“.13 Dabei wird auch auf die Notwendigkeit einer Interessenvertretung der Europäischen Vereine und Verbände gegenüber den Organen der EG hingewiesen. Ob und inwieweit man die angeführten Erwägungen für tragfähig und überzeugend hält, hängt letztlich vom jeweiligen integrationspolitischen Vorverständnis ab.14 Wer sich einen Europäischen Bundesstaat wünscht, wird den EUV für notwendig erachten. Wer dagegen die mit „Maastricht“ angestrebte Europäische Union lediglich als einen, wenn auch hochintegrierten, Staatenbund für sinnvoll hält, wird skeptisch bleiben. Gewiß: Supranationale Organisationsformen können die grenzüberschreitende Kooperation erleichtern, weil bei den Kooperationspartnern Vorbehalte gegen die sonst notwendige Wahl einer bestimmten nationalen Rechtsform wegfallen und stattdessen eine übernationale, allseits bekannte Form zur Verfügung steht. Diesen Vorteil sollte man aber ebensowenig überschätzen wie die Chance, daß europäische Organisationsformen grenzüberschreitende Diskussionen erleichtern
10 Vertrag über die Europäische Union, ABl. EG 92/C 224, S. 1; Inkrafttreten unter dem Vorbehalt der Ratifikation durch die EG-Mitgliedstaaten. 11 Vgl. dazu Kolvenbach, Die Europäische Aktiengesellschaft – eine wohlgemeinte Utopie, FS Heinsius, 1991, S. 379 ff., 383 ff.; Merkt, Europäische Aktiengesellschaft: Gesetzgebung als Selbstzweck?, BB 1992, 600; Mundorf, Europäische Aktiengesellschaft, eine Konstruktion, für die es kein Bedürfnis gibt, Handelsblatt vom 31. 12. 1991, S. 8. 12 KOM (91) 273 endg. – SYN 386, S. 23. 13 KOM (91) 273 endg. – SYN 386, S. 23. 14 Zu den möglichen institutionellen Optionen vgl. statt aller Möschel, JZ 1992, 877 ff.
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und das Denken von nationalen Sprachmustern und von anderen Vorgaben befreien.15 Wer einen europäischen Bundesstaat ablehnt, wird gegen europäische Organisationsformen im Bereich des Gesellschafts- und Vereinsrechts allein schon deshalb Vorbehalte haben, weil damit ein Rechtsangleichungsdruck verbunden sein kann, der einen erwünschten Systemwettbewerb um die beste institutionelle Lösung schwächt oder gar ausschließt.16 Der Entwurf für das Statut eines EUV wird zwar, anders als der Entwurf für das Statut einer EUAG, (noch) nicht von einem Richtlinienvorschlag zur Angleichung des nationalen Vereinsrechts begleitet und enthält somit nur einen Wahlvorschlag. Das Statut des EUV kann aber gleichwohl einen sog. ,,Katalysatoreffekt“ haben, d. h. zu einer faktischen (insbesondere: richterrechtlich vorangetriebenen) Rechtsvereinheitlichung führen.17 Das wäre, integrationspolitisch gesehen, vor allem deshalb problematisch, weil der EUV ungeachtet seiner Fähigkeit zu wirtschaftlichen Aktivitäten primär ideelle Zweckverfolgungen, etwa in den Bereichen ,,Wissenschaften, Kultur, Nächstenliebe, Philanthropie, Gesundheitswesen, Erziehungswesen usw.“ ermöglichen soll,18 und weil die Art und Weise einer solchen ideellen Zweckverfolgung weit mehr als eine gemeinsame wirtschaftliche Zweckverfolgung durch die jeweilige Geschichte und Kultur sowie durch die Traditionen der Völker bestimmt ist. Der Schutz dieser identitätsprägenden Besonderheiten gehört zu den Zielen des Unionsvertrags von Maastricht.19 Nimmt man das im Unionsvertrag angesprochene (Art. B), aber nur teilweise (Art. 3b) konkretisierte Subsidiaritätsprinzip hinzu, so ergeben sich wegen des zu erwartenden faktischen Rechtsangleichungsdrucks in der Tat nicht nur prinzipielle integrationspolitische, sondern auch grundsätzliche kompetenzielle Bedenken gegen den Versuch, den EUV als gemeinschaftsrechtliche, supranationale Rechtsform zu schaffen. 2. Die europarechtlichen Ermächtigungen a) Ermächtigung für die EUV-Verordnung Der Vorschlag für eine EUV-VO wird auf die Ermächtigungsgrundlage des Art. 100a EGV gestützt. Der allgemeine Hinweis auf einen Binnenmarktbezug genügt nicht. Entscheidend ist vielmehr, daß es beim EUV um die Verwirklichung der Freizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit geht und daß der EG-Vertrag insoweit kompetenzielle Sonderregelungen enthält. Der Aspekt der ,,Freizügigkeit“ wird in den Begründungen und Stellungnahmen nicht explizit angesprochen, liegt diesen aber implizit als Hauptargumentation zugrunde, wenn immer wieder darauf hingewiesen wird, daß der EUV primär der ide15
Näher dazu Großfeld, WM 1992, 2127. Für einen „Wettbewerb der Gesellschaftsrechtsordnungen“ auch Merkt, BB 1992, 661. 17 Vgl. Eyles, Das Niederlassungsrecht der Kapitalgesellschaften in der EG, 1990, S. 80. 18 KOM (91) 273 endg. – SYN 386, S. 3. Vgl. dort auch S. 22 (,,Bildung, Kultur, Sozialaktion oder Entwicklungshilfe“). 19 (Fn. 10), Art. F. 16
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ellen Zweckverfolgung dienen und so die Ausübung der Vereinsfreiheit als Grundrecht und Ausdruck der europäischen Unionsbürgerschaft ermöglichen soll.20 Das sind Zielvorstellungen, die im Zusammenhang mit einer Entwicklung stehen, die von der ,,Freizügigkeit der Arbeitnehmer“ zum „Europa der Bürger“ geht und in eine echte ,,Unionsbürgerschaft“ einmünden soll.21 Die entsprechenden Regelungsmaterien (Freizügigkeit) sind jedoch in Art. 100a Abs. 2 EGV ausdrücklich von der mit Mehrheitsentscheidung ausübbaren Regelungskompetenz des Art. 100a Abs. 1 EGV ausgenommen.22 Der Umstand, daß der EUV (auch) wirtschaftliche Zweckverfolgungen ermöglichen soll, führt in bezug auf Art. 100a EGVunter dem Aspekt der Freizügigkeit ebenfalls nicht weiter. Eine auf Art. 100a Abs. 1 EGV gestützte Verordnung darf Regelungsgegenstände aus dem Bereich des Art. 100a Abs. 2 EGV nur dann enthalten, wenn diese völlig untergeordnet oder nebensächlich sind.23 Das ist jedoch beim EUV nicht der Fall, weil dieser gerade umgekehrt primär ideellen Zweckverfolgungen dienen soll. Lediglich bei den Vereinen zur Förderung von sektoralen oder beruflichen Mitgliederinteressen tritt die ideelle Zweckverfolgung stärker zurück. Aber selbst hier geht es nicht primär um gewerbliche Mitgliederinteressen. Unter dem Aspekt der von der Kommission24 ferner zur Begründung herangezogenen ,,Niederlassungsfreiheit“ ergibt sich aus Art. 100a Abs. 1 EGV für den EUV ebenfalls keine eindeutige Regelungskompetenz. Unter diesem Aspekt hat die EG nach Art. 58 Abs. 2 EGV für juristische Personen des privaten Rechts, die keine Erwerbszwecke verfolgen, nicht einmal eine Richtlinienkompetenz nach Art. 54 Abs. 3 g EGV. Richtiger Ansicht nach gehören dazu die Idealvereine i. S. d. § 21 BGB.25 Kommission und Ausschuß sehen sich demgegenüber als befugt an, den in Art. 58 Abs. 2 des EWG-Vertrags verwendeten Begriff ,,Erwerbszweck“ extensiv zu interpretieren.26 Sie wollen darunter auch wirtschaftliche Tätigkeiten von Vereinen i. S. eines weiten Nebenzweckprivilegs fassen. Das erscheint jedoch nicht möglich, weil selbst durch ein weites Nebenzweckprivileg die Grenze zwischen Idealverein und Kapitalgesellschaft lediglich verschoben, aber nicht aufgehoben wird.27 Deshalb bleibt eine Richtlinienkompetenz der EG für den EUV nach Art. 54 Abs. 3 g EGV i. V. m. Art. 58 EGV fraglich und damit, wegen des faktischen mittelbaren 20
Vgl. oben zu Fn. 11 – 13. Eingehend dazu Oppermann, Europarecht, S. 563 ff. – Rdn. 1463 ff. 22 Auch nach dem Maastricht-Vertrag (a. a. O. Fn. 10) sollen Regelungen, die die Freizügigkeit (Art. 8a) und die Unionsbürgerschaft (Art. 8) betreffen, von Art. 100a Abs. 1 EGV ausgenommen bleiben und diese Ermächtigungsgrundlage nur für sonstige binnenmarktrelevante Regelungen zur Verfügung stehen. 23 Groeben/Thiesing/Ehlermann, EWG-Vertrag, 4. Aufl., Art. 100a, Rdn. 53. 24 KOM (91) 273 endg. – SYN 386, S. 21. 25 Randelzhofer, in: Grabitz, EWG-Vertrag, Art. 58, Rdn. 6. 26 ABI. EG 90/C 332/84. 27 Näher unten III. 1. a. 21
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Rechtsangleichungsdrucks, auch eine Verordnungskompetenz für eine gemeinschaftsrechtliche Wahlform nach Art. 100a Abs. 1 EGV. Aus den genannten Gründen kommt für das Statut des EUV allenfalls ein Rückgriff auf die sog. ,,Notkompetenz“ aus Art. 235 EGV in Betracht, deren Ausübung im Gegensatz zu Art. 100a Abs. 1 EGV allerdings Einstimmigkeit voraussetzt. Man sollte darin kein unzumutbares Hindernis für die Schaffung einer gemeinschaftsrechtlichen Organisationsform sehen.28 Das Einstimmigkeitsprinzip hat den großen Vorteil, daß es gemeinschaftsrechtliche Regelungen nur dort zuläßt, wo wirklich allgemeiner Konsens über die Notwendigkeit und Richtigkeit der angestrebten Maßnahmen besteht.29 b) Ermächtigung für die ergänzenden Richtlinien Aus kompetenziellen Gründen kann die EG, wenn überhaupt, nur die grundlegenden vereinsrechtlichen Organisationsstrukturen des EUV durch eine Verordnung regeln. Sie muß sich dagegen in bezug auf wichtige sonstige Organisations und Folgeprobleme im Bereich der Rechnungslegung und Besteuerung sowie der Arbeitnehmermitbestimmung mit ergänzenden Richtlinien und/oder mit Verweisungen auf das nationale Recht begnügen. Dadurch wird der EUVeine außerordentlich komplizierte Rechtsform. III. Die organisationsrechtliche Grundkonzeption des Europäischen Vereins Die organisationsrechtlichen Untersuchungen sollen klären, ob und inwieweit der EUV seiner Grundkonzeption nach vom BGB-Verein abweicht. Dadurch soll eine Grundlage für eine vergleichende rechtspolitische Bewertung erarbeitet werden. Im Mittelpunkt müssen dabei die Möglichkeiten und Grenzen einer wirtschaftlichen Vereinstätigkeit stehen. 1. Die Grundkonzeption des deutschen Vereinsrechts Das deutsche Vereinsrecht kennt nicht „den“ Verein. Es unterscheidet im Rahmen eines Trennsystems vielmehr in bezug auf die Organisationsform zwischen rechtsfähigen und nichtrechtsfähigen und in bezug auf die Zweckverfolgung zwischen ideellen und wirtschaftlichen Vereinen.
28 Selbst bei der EUAG, deren dritter, vollständig neuer Entwurf von 1989 auf Art. 100a des EWG-Vertrages gestützt wird, werden gewichtige Gründe für eine Rückkehr zu Art. 235 angeführt. Vgl. Merkt, BB 1992, 660. 29 Instruktiv Willgerodt, Einigkeit und Recht und Freiheit, in: Albeck (Hrsg.), Wirtschaftsordnung und Geldverfassung, 1992, S. 37 ff.
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a) Das Trennsystem Das BGB läßt nicht nur rechtsfähige, sondern auch nichtrechtsfähige Vereine zu (§§ 21 ff., 54, 55 ff. BGB), verweist aber für letztere aus vereinspolizeilichen Vorbehalten gegen die freie Körperschaftsbildung auf die Vorschriften über die Gesellschaft (§ 54 BGB), um so doch auf eine Anmeldung zur Eintragung hinzuwirken. Da diese Vorbehalte zum größten Teil überholt sind,30 wird der nichtrechtsfähige Idealverein heute zu Recht weitgehend wie ein rechtsfähiger Verein behandelt. Ihm wird auch das an sich nur den rechtsfähigen Vereinen zustehende Privileg einer auf das Vereinsvermögen beschränkten Haftung zugebilligt.31 Letzteres wäre jedoch bei wirtschaftlichen Vereinen aus den im folgenden darzulegenden Gründen nicht sachgerecht. Große Bedeutung hat nach wie vor die an Vereinszwecken orientierte Unterscheidung zwischen den sog. Wirtschaftsvereinen und den sog. Idealvereinen (genauer: zwischen solchen, deren Zweck auf einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb gerichtet ist, und solchen, bei denen dies nicht der Fall ist).32 Vereine, deren Zweck auf einen Geschäftsbetrieb gerichtet ist, sollen Rechtsfähigkeit und damit das Privileg der Haftungsbeschränkung allenfalls durch staatliche Verleihung erlangen können (§ 22 BGB), um ein Ausweichen vor den handelsrechtlichen Gesellschaftsformen mit beschränkter Haftung und ihren gläubiger- und anlegerschützenden Verbandsstrukturen zu vermeiden. Ein Verein, der ausschließlich zu dem Zweck gegründet wird, ein Handelsgewerbe i. S. v. § 1 HGB zu betreiben, kann deshalb nicht die Rechtsfähigkeit erlangen.33 Welche sonstigen wirtschaftlichen Vereinstätigkeiten vereinsschädlich sind, läßt sich dem Gesetz nicht unmittelbar entnehmen. Die Entscheidung muß letztlich danach getroffen werden, ob Schutzinteressen von Gläubigern, Mitgliedern oder Arbeitnehmern berührt sind34 und nach Vereinsgruppen ausdifferenziert werden.
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So Münchener Kommentar-Reuter, § 54 Rdn. 1 und 2. Reichert/Dannecker, Handbuch des Vereins- und Verbandsrechts, 5. Aufl., Einleitung, Rdn. 24 und Münchener Kommentar-Reuter, § 54 Rdn. 20, jeweils m. w. N. 32 Vgl. dazu und zum folgenden Heckelmann, AcP 179 (1979), 1 ff.; K. Schmidt, AcP 182 (1982), l ff.; Reuter, ZGR 1981, 364 ff. 33 Reichert/Dannecker, Handbuch des Vereins- und Verbandsrechts, 5. Aufl., Rdn. 118; Soergel/Hadding, 12. Aufl., §§ 21, 22 BGB, Rdn. 25. Auch ein nichtrechtsfähiger Verein wäre hier unzulässig; er müßte zumindest haftungsrechtlich wie eine Personengesellschaft behandelt werden mit der Folge einer persönlichen Einstandspflicht seiner Mitglieder (vgl. Münchener Kommentar-Reuter, § 54 Rdn. 3 a. E.). 34 Die Ansicht, daß eine schutzzweckorientierte Abgrenzung erfolgen muß, hat sich immer mehr durchgesetzt. Grundlegend K. Schmidt, AcP 182 (1982), 13 ff.; ders., Verbandszweck und Rechtsfähigkeit im Vereinsrecht, 1984; ders., Rpfleger, 1988, 45. Ebenso BGH, NJW 1983, 570 (ADAC); Soergel/Hadding, 12. Aufl., §§ 21, 22 Rdn. 7. 31
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b) Vereinsgruppen Die bei weitem größte und bedeutsamste Gruppe, an der sich auch der Gesetzgeber leitbildhaft orientiert hat, bilden die Vereine, bei denen die Mitglieder gemeinsam einen ideellen Hauptzweck verfolgen und allenfalls daneben bestimmte wirtschaftliche Aktivitäten entfalten, die der Erreichung des Hauptzwecks dienen sollen. Entsprechende wirtschaftliche Nebentätigkeiten sind zulässig. Die prinzipielle Geltung dieses sog. ,,Nebenzweckprivilegs“ ist anerkannt, seine konkrete Reichweite allerdings heftig umstritten.35 Der Streit betrifft ein zentrales Problem des deutschen Vereinsrechts, weil auch in seinem Geltungsbereich immer mehr (Groß-)Vereine zur Erreichung ihrer Hauptzwecke in einem früher kaum vorstellbaren Umfang wirtschaftlich tätig werden. Bei diesen Vereinen ist es zur Vermeidung von Schutzdefiziten unabdingbar notwendig, daß wirtschaftliche Aktivitäten, die einen bestimmten Umfang erreichen, auf Gesellschaftsformen des Handelsrechts ausgegliedert werden,36 d. h. eine entsprechende Trennung zwischen den vereinsunschädlichen und den vereinsschädlichen Aktivitäten erfolgt. Eine entsprechende Ausgliederung ist jedenfalls durch Einschaltung einer Kapitalgesellschaft möglich, weil hierbei Gläubiger- und Mitgliederinteressen ausreichend Rechnung getragen wird.37 Die wirtschaftliche Tätigkeit der Kapitalgesellschaft kann daher grundsätzlich dem Verein nicht zugerechnet werden. Die zweite große Gruppe bilden die Vereine mit (genossenschaftlichen) Hilfsfunktionen.38 Bei idealtypischer Ausprägung haben entsprechende Vereine überhaupt keinen ideellen Hauptzweck. Der Zweck des Vereins besteht vielmehr allein darin, bestimmte ideelle, berufliche oder gar gewerbliche Interessen der Mitglieder zu unterstützen. Die Tätigkeit des Vereins soll also nicht einem gemeinsamen Hauptzweck dienen, sondern nur die individuellen Interessen der Mitglieder fördern. Vereine, die nur derartige Hilfsfunktionen haben und in erheblichem Umfang wirtschaftlich tätig sind, müssen unter Schutzaspekten ebenfalls auf die Gesellschaften des Handelsrechts, insbesondere die eingetragene Genossenschaft, verwiesen werden. 2. Die Grundkonzeption des Europäischen Vereinsrechts Die EG ist bemüht, ,,ein einziges gemeinschaftliches Rechtsinstitut für sämtliche europäischen Vereine zu schaffen, um zu vermeiden, daß sich in diesem Bereich zwei Gruppen bilden“.39 Sie verfolgt dabei nicht nur in bezug auf die Rechtsform, sondern 35 Vgl. Heckelmann, AcP 179 (1979), 22 ff.; K. Schmidt, AcP 182 (1982), 26 ff.; Reichert/ Dannecker, Handbuch des Vereins- und Verbandsrechts, Rdn. 128 – 133 jeweils m. w. N. 36 Näher oben III.1.a. 37 BGH, NJW 1983, 569 (ADAC). 38 Vgl. dazu und zum folgenden Heckelmann, AcP 179 (1979), 30; K. Schmidt, AcP 182 (1982), 17 ff.; Reichert/Dannecker, Handbuch des Vereins- und Verbandsrechts, 5. Aufl., Rdn. 125 ff. 39 Stellungnahme des Ausschusses, ABI. EG 92/C 223/52.
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auch in bezug auf die Zulässigkeit wirtschaftlicher Aktivitäten stärker als das deutsche Vereinsrecht eine Einheitslösung. a) Die Einheitskonzeption Als Organisationsform soll es nur den rechtsfähigen Verein geben, der Rechtspersönlichkeit durch Eintragung in das maßgebende Register des Sitzstaats erlangt (Art. 2 EUV-VOE). Der Umstand, daß der EUV-VOE den nichtrechtsfähigen Verein nicht zuläßt, dürfte wohl weniger, wie beim BGB-Verein,40 auf vereinspolizeilichen Vorbehalten beruhen, sondern seinen Grund darin haben, daß für den EUV kapitalgesellschaftsähnliche Organisationsstrukturen vorgeschrieben sind, um ihm weitreichende wirtschaftliche Aktivitäten zu ermöglichen. Die Einhaltung der entsprechenden ,,Normativbestimmungen“ soll offenbar wie bei den Kapitalgesellschaften durch das Erfordernis der Eintragung und die damit verbundenen staatlichen Kontrollmöglichkeiten sichergestellt werden. In bezug auf die zulässigen Vereinszwecke enthält das Statut für den EUV, anders als das BGB, nicht nur negative Abgrenzungen, sondern auch positive Vorgaben. Negativ enthält das Statut ebenso wie das BGB die Bestimmung, daß der EUV „keinen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb“ haben darf (Art. 1 Abs. 2 EUV-VOE). Dieses Verbot wird durch die in Art. 1 Abs. 1 S. 2 EUV-VOE enthaltene Regelung ergänzt, die eine Aufteilung von Gewinnen unter die Vereinsmitglieder explizit ausschließt. Positiv ist bestimmt, daß der EUV nur Tätigkeiten verfolgen darf, ,,die sich aus seiner Eigenschaft als Personenvereinigung … herleiten“ (Art. 1 Abs. 2 EUV-VOE). Positiv ist in Art. 1 Abs. 1 EUV-VOE ferner angeordnet, daß der EUV nur gemeinnützige, d. h. ideelle Zwecke verfolgen oder mittelbar oder unmittelbar die sektoralen oder beruflichen Zwecke seiner Mitglieder fördern darf. Damit werden die beiden wichtigsten Vereinsgruppen angesprochen, d. h. die Vereine mit ideellen Hauptfunktionen und die Vereine mit genossenschaftlichen Hilfsfunktionen. b) Die Vereinsgruppen Für die Vereine mit ideellen Hauptfunktionen wird in Art. 1 Abs. 1 S. 2 EUVVOE klargestellt, daß sie wirtschaftliche (gewinnorientierte) Tätigkeiten entfalten dürfen, soweit die Ergebnisse dieser Tätigkeit ausschließlich der Verwirklichung der sonstigen Vereinszwecke zugute kommen. Damit wird gemeinschaftsrechtlich das Nebenzweckprivileg anerkannt. Sein Umfang wird im EUV-VOE nicht weiter konkretisiert. Aus der Begründung sowie aus dem Umstand, daß für den EUV bestimmte kapitalgesellschaftsrechtliche Strukturelemente vorgesehen sind, ergibt sich jedoch, daß das Nebenzweckprivileg grundsätzlich eine weitreichende wirtschaftliche Tätigkeit ermöglichen soll. Das Statut des EUV ist damit in der Tat stärker als das Vereinsrecht des BGB auf eine ,,Einheitslösung“ angelegt. Aufgrund einer 40
Oben III.1.a.
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vereinsrechtlichen Organisationsform, die auch vereinsuntypische, kapitalgesellschaftsrechtliche Elemente enthält, sollen neben ideellen Hauptzwecken in großem Umfang wirtschaftliche Aktivitäten möglich sein. Die nach deutschem Vereinsrecht bestehende Notwendigkeit, diese Aktivitäten u. U. teilweise auf Handelsgesellschaften auszugliedern, würde damit entfallen. Wenn in Art. 1 Abs. 1 EUV-VOE bestimmt ist, daß der EUV mittelbar oder unmittelbar die sektoralen oder beruflichen Zwecke seiner Mitglieder fördern darf, so liegt darin die gemeinschaftsrechtliche Anerkennung von Vereinen mit genossenschaftlichen Hilfsfunktionen. Es stellt sich auch hier – wie im deutschen Recht – die schwierige Frage nach der Abgrenzung zu den sonstigen genossenschaftlichen Organisationsformen des Gemeinschaftsrechts, d. h. zur EWIV und zur EUGEN. Sie kann letztlich wiederum nur schutzzweckorientiert beantwortet werden. Ergänzend ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, daß das Gewinnverteilungsgebot (Art. 1 Abs. 1 S. 2 EUV-VOE) der Errichtung von Europäischen Vereinen mit genossenschaftlichen Hilfsfunktionen keine Grenzen setzt. Erträge, die andere genossenschaftliche Organisationsformen bei der Förderung ihrer Mitglieder erzielen und an diese verteilen, gelten nicht als eine unzulässige Gewinnverteilung, sondern als eine zulässige Rückvergütung (vgl. Art. 21 EWIV-VO; Art. 52 EUGEN-VOE). Gleiches muß dann auch für den EUV mit genossenschaftlichen Hilfsfunktionen gelten. 3. Die Grundkonzeptionen im Vergleich Ein näherer Vergleich der Grundkonzeptionen zeigt, daß beide spezifische Vorund Nachteile für die jeweils wichtigsten Vereinsgruppen, d. h. die Vereine mit ideellen Haupt- und genossenschaftlichen Hilfsfunktionen, haben. a) Vor- und Nachteile der deutschen Konzeption Der Hauptvorteil der deutschen Konzeption liegt darin, daß Vereine mit ideellen Hauptfunktionen grundsätzlich völlig von kapitalgesellschaftsrechtlichen Organisationslasten frei bleiben und ihnen eine einfach zu handhabende vereinstypische Organisationsform zur Verfügung steht. Das entspricht dem Interesse der großen Masse der Vereine. Problematisch ist allerdings, daß die wirtschaftlichen Nebenzwecke u. U. doch einen erheblichen Umfang annehmen und zu entsprechenden Gefährdungen von Gläubiger-, Mitglieder- oder Arbeitnehmerinteressen führen können. Deshalb ist in der Tat eine Begrenzung der wirtschaftlichen Aktivitäten notwendig. Sachgerecht und geboten ist eine Beschränkung nach Art einer Zwei-Schrankentheorie. Wirtschaftliche Nebentätigkeiten dürften danach nur zugelassen werden, wenn sie, erstens, tatsächlich unmittelbar zur Erfüllung des Hauptzwecks notwendig und im Vergleich zu diesem von untergeordneter Bedeutung sind, und wenn sie, zweitens, auch absolut gesehen nach Art und Umfang nur zu einer verhältnismäßig geringen
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Gefährdung von Schutzinteressen führen können.41 Dabei müsste auf eine weitgehende Parallelisierung mit den Vorschriften des Steuer-, Mitbestimmungs- und Verwaltungsrechts hingewirkt werden, in denen es ebenfalls um das Verhältnis von gleichzeitiger wirtschaftlicher und nichtwirtschaftlicher Zweckbestimmung von Unternehmen geht.42 Bei einer entsprechenden (engen) Begrenzung des Nebenzweckprivilegs43 würde der Verein nicht von weitergehenden wirtschaftlichen Tätigkeiten ausgeschlossen, wenn man der Ansicht folgt, daß zumindest bei einer Ausgliederung dieser Tätigkeiten auf eine Kapitalgesellschaft keine vereinsschädliche Zurechnung erfolgt.44 b) Vor- und Nachteile der europäischen Konzeption Der Vorteil des europäischen Konzepts liegt darin, daß die gesamte Vereinstätigkeit, auch insoweit es sich dabei um wirtschaftliche Nebenzwecke oder genossenschaftliche Hilfsfunktionen handelt, weit mehr als bei der deutschen Konzeption auf der Grundlage einer einzigen Organisationsform ohne eine partielle Ausgliederung bestimmter Wirtschaftsaktivitäten auf Kapitalgesellschaften betrieben werden kann. Möglich ist dies jedoch nur um den Preis einer kapitalgesellschaftlichen Verformung des Vereins. Darin liegt zugleich der entscheidende Nachteil der europäischen Konzeption, weil alle Vereine ohne Rücksicht auf Art und Umfang ihrer wirtschaftlichen Vereinstätigkeit belastet sind und außerdem die gesamte Vereinstätigkeit unterschiedslos erfaßt wird. Das gilt auch für die organisationsrechtlichen Folgelasten im Bereich der Rechnungslegung, der Besteuerung und der Mitbestimmung. Für ,,die normalen Bedürfnisse eines Vereins sind die vorgeschlagenen Vorschriften (deshalb) viel zu umfangreich und bürokratisch und lassen das vereinsrechtliche Prinzip der Satzungsautonomie völlig außer Betracht“.45 Die europäische Konzeption kommt daher als Vorbild nur dort in Betracht, wo man sich, wie beim EUV, am Leitbild der Großvereine orientieren will und kann. Sonstige Vereine dürften von der geplanten Rechtsform in der vorgeschlagenen Fassung wohl kaum Gebrauch machen.46 Auf der anderen Seite muß klar gesehen werden, daß der EUV keineswegs so weit an eine Kapitalgesellschaft angenähert ist, daß wirtschaftliche Neben- oder Hilfstätigkeiten völlig unbegrenzt zugelassen werden könnten. Der EUV hat trotz seiner kapitalgesellschaftsrechtlichen Strukturelemente insbesondere nicht das gleiche System der Kapitalaufbringung und -erhaltung wie die handelsrechtlichen Kapitalge41 Für entsprechende Grenzen namentlich Sack, ZGR 1974, 104; Heckelmann, AcP 179 (1979), 24; K. Schmidt, AcP 182 (1982), 28. 42 Eingehend Fabricius, BetrVG-GK, 4. Aufl., § 118, Rdn. 457 – 470. 43 Notwendig erscheint insoweit ein Tätigwerden des Gesetzgebers. So namentlich K. Schmidt, AcP 182 (1982), 28 u. 55. 44 Vgl. oben zu Fn. 42. 45 So das Minderheitsvotum des Wirtschafts- und Sozialausschusses, ABI. EG 92/223/56. 46 Wie Fn. 45.
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sellschaften. In diesem Zusammenhang muß auch gesehen werden, daß bei haftungsbeschränkten Organisationen auf personalistischer Grundlage (Vereine) nicht in gleicher Weise wie bei haftungsbeschränkten Organisationen auf kapitalistischer Grundlage (Kapitalgesellschaften) damit gerechnet werden kann, daß die Mitglieder auf ein hinreichend vorsichtiges, Eigen- und Gläubigerinteressen gleichermaßen schützendes ,,unternehmerisches“ Verhalten hinwirken.47 Das macht beim EUVebenfalls eine Abgrenzung zwischen den vereinsunschädlichen und den vereinsschädlichen wirtschaftlichen Aktivitäten notwendig. Die Grenze kann im Vergleich zum BGB-Verein zwar weiter hinausgeschoben werden, weil der EUV zumindest bestimmte kapitalgesellschaftsrechtliche Strukturelemente aufweist und Grenzüberschreitungen durch vereinsschädliche Wirtschaftstätigkeiten deshalb nur zu einer geringeren Gefährdung von Schutzinteressen führen. Solche Gefährdungen können aber nicht einfach toleriert werden. Es muß daher auch bei der Konzeption des europäischen Vereinsrechts zur Vermeidung von Schutzdefiziten eine Abgrenzung zu den Wirtschaftstätigkeiten erfolgen, die nur auf der Grundlage einer handelsrechtlichen Organisationsform möglich sind. Die Abgrenzungsproblematik wird also lediglich entschärft, aber nicht beseitigt. IV. Ausblick Mit dem Entwurf für das Statut des EUV wird eine supranationale Organisationsform vorgeschlagen, deren integrationspolitische Notwendigkeit zweifelhaft ist und deren organisationsrechtliche Ausgestaltung auf erhebliche Bedenken stößt.48 Die Bedenken richten sich dagegen, daß das Statut des EUV vereinsuntypische kapitalgesellschaftsrechtliche Strukturelemente aufweist. Die damit angestrebte „Einheitslösung“, die dem EUV auch ohne eine entsprechende Ausgliederung auf Kapitalgesellschaften weitreichende wirtschaftliche Aktivitäten ermöglichen soll, erscheint nicht sachgerecht. Sie ist für die Masse der kleinen und mittleren Vereine mit zu großen Organisations- und Folgelasten verbunden und kann bei den Großvereinen trotz dieser Lasten zu Schutzdefiziten führen. Man sollte deshalb, sofern man die Notwendigkeit für den EUV als supranationale Organisationsform überhaupt bejaht, nochmals grundsätzliche Überlegungen darüber anstellen, ob es nicht besser wäre, wenn man sich stärker an einem, ggf. modifizierten, Trennsystem wie in der Bundesrepublik Deutschland orientieren würde. 47
Vgl. dazu Münchener Kommentar-Reuter, 2. Aufl., §§ 21, 22, Rn. 10. Diese Einschätzung deckt sich im Ergebnis mit der im Mai 1993 verabschiedeten Entschließung des Bundesrats zur Konkretisierung des Subsidiaritätsprinzips (BRat.-Drucks. 182/ 93). Die Vorschläge über das Statut des EUV, der EUGEN und der EUGGES werden dabei wie folgt bewertet (a. a. O., S. 34): ,,Abgesehen von Bedenken gegen die Rechtsgrundlagen sind die Vorschläge zur beabsichtigten Intensivierung der europäischen Zusammenarbeit ungeeignet. Hinsichtlich der wirtschaftlichen Bedeutung der betroffenen Unternehmen (besteht) kein Bedürfnis für eine gemeinsame Regelung.“ Der Bundesrat und das Bundeswirtschaftsministerium empfehlen deshalb die Aufhebung bzw. die Änderung der entsprechenden Verordnungsvorschläge. Konkrete Änderungsvorschläge werden allerdings nicht gemacht. 48
Kann das Anti-Doping-Gesetz Doping beenden? Von Gert G. Wagner Der vorliegende Beitrag zu Ehren Klaus Viewegs wurde von einem Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler geschrieben. Da es sich um einen Beitrag zur Ehrung eines eminenten Rechtswissenschaftlers handelt, mag das verwundern. Aber bereits die Autorenschaft dieses Beitrags wirft ein Licht auf den Wissenschaftler Klaus Vieweg, der sehr breit interessiert ist und dieses Interesse auch in der Wissenschaft produktiv umgesetzt hat. So kam es für den Autor zu einer Zusammenarbeit bei einer empirischen Erhebung zum Thema Doping bei deutschen Leistungssportlern und einer Publikation in einem von Klaus Vieweg herausgegebenen Sammelband.1 Klaus Vieweg und der Autor haben sich bei einer wissenschaftlichen Konferenz, die von dem Soziologen Günther Lüschen zum Thema Doping an der Universität von Alabama veranstaltet wurde (kurz nach den olympischen Spielen in Atlanta)2, kennengelernt. Unvergessen ist für den Autor – aber merkwürdigerweise bislang von ihm noch nie publiziert – ein konkreter Einblick, den der ehemalige Leistungsturner Vieweg ihm in die Welt des Wettkampfsports gab: im Modernen Fünfkampf war die Einnahme von Betablockern vor der letzten Disziplin am ersten Wettkampftag, dem Schießen, eine Zeit lange üblich, da die Betablocker für eine ruhige Hand sorgten. Da die Wettkämpfer anschließend keinen weiteren Wettkampf absolvieren mussten, waren sie oft – so in meiner Erinnerung die Aussage Klaus Viewegs – derart weggetreten, dass die Trainer sie zum Schießstand führen mussten. Ein klarer Fall von Doping (gleichgültig ob die Beta-Blocker auf der Dopingliste stehen oder nicht). Und dieses 1 Vgl. K. Vieweg (Hrsg.), Doping – Realität und Recht, Berlin 1998 und G. G. Wagner, Eine einfache Möglichkeit zur anreizgesteuerten Dopingbekämpfung im Hochleistungssport – Theoriegeleiteter Vorschlag und empirische Evidenz, ebda. 391 – 400, der auf eine in der „Zeitschrift für Rechtspolitik“ veröffentlichte Arbeit aufbaute (G. G. Wagner, Negative Wirkungen eines Anti-Doping-Gesetzes, ZRP 1992, 369 – 371, in Weiterentwicklung von O. Keck/ G. G. Wagner, Asymmetrische Information als Ursache von Doping im Hochleistungssport – Eine Analyse auf Basis der Spieltheorie, Zeitschrift für Soziologie, 1990, 108 – 116). Den Autor hat im übrigen die Rechtspolitik nie ganz losgelassen, vgl. dazu J. Gerberding/G. G. Wagner, Gesetzliche Qualitätssicherung für „Predictive Analytics“ durch digitale Algorithmen, ZRP 2019, 116 – 119. 2 Vorgetragen hat der Autor zusammen mit Edward Castranova (née Bird) „The Drug Diary – A Modest Proposal to End Doping in Sport“, Internationales Symposium „The Legal and Social Control of Doping in Sport“ des „Programs in Social Medicine“ der University of Alabama at Birmingham, 7. bis 10. 8. 1996. Vgl. als Ergebnisse dieser Konferenz auch Wagner, Eine einfache Möglichkeit (o. Fn. 1).
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Doping wurde ohne komplizierte Kontrollen einfach dadurch beseitigt, dass im Jahr 1984 das Schießen zur ersten Disziplin am zweiten Wettkampftag gemacht wurde. Nun gab es keinen Anreiz mehr für die modernen Fünfkämpfer, sich medikamentös ruhig zu stellen, da anschließend noch ein Querfeldeinlauf zu absolvieren war. Nachdem einige Jahre lang der ganze Wettkampf mit dem Pistolenschießen begonnen wurde (was auch den Anreiz zum Ruhigstellen zerstörte), sind seit 2009 sind Schießen und Querfeldeinlauf keine Einzeldisziplinen mehr, sondern eine Kombinationsdisziplin (Combined) – auch in diesem Modus fehlt der Anreiz, sich ruhigzustellen. Das Fünfkampf-Beispiel illustriert sehr gut den Ansatz des vorliegenden Beitrags, dessen Grundidee Ende der 80er Jahre entwickelt wurde.3 Danach sollte Doping nicht (in erster Linie) durch Verbote und Tests bekämpft werden, sondern durch das kluge Setzen von Anreizen, die Doping für den einzelnen Athleten unattraktiv machen. Abschnitt 1 definiert das Doping-Phänomen, dessen Empirie in Abschnitt 2 ausführlich dargestellt wird.4 Darauf aufbauend wird in Abschnitt 3 ein Vorschlag für ein effektives Doping-Kontroll-System jenseits der offenkundig nicht wirksamen Doping-Verbots-Listen gemacht. In Abschnitt 4 wird dann dargelegt, warum es in absehbarer Zeit – trotz aller diesbezüglicher Sonntagsreden – nicht zu einer effektiven Doping-Kontrolle kommen wird. Abschließend wird ein Hoffnungsschimmer aufgezeigt – der aber ausdrücklich nicht im deutschen Anti-Doping-Gesetz zu sehen ist. I. Dopingdefinition In Deutschland gibt es seit 2015 ein staatliches Anti-Doping-Gesetz (AntiDopG5), von dem man allerdings wenig hört. Das liegt sicherlich daran, dass es in Deutschland kaum noch Doping-Fälle gibt; Befürworter des Gesetzes sehen sich bestätigt, dass das Gesetz wirkt. Freilich gilt noch immer, dass noch immer Doping – wie im nächsten Abschnitt ausführlich dargelegt wird – mit Hilfe einer Negativ-Liste von verbo3
Keck/Wagner, Asymmetrische Information (o. Fn. 1) und dies., Ein Weg aus der DopingZwickmühle – Stellungnahme zum Beitrag „The Doping Dilemma“ von Gunnar Breivik, Sportwissenschaft 1990, 439 – 446. 4 Abschnitte 2 bis 4 sind einerseits aktualisierte und andererseits gekürzte Versionen von Kapitel 1 bis 4 in G. G. Wagner, Un-Kultur: Doping im (Hochleistungs)Sport, in: J. Rössel/ J. Roose (Hrsg.), Empirische Kultursoziologie – Festschrift für Jürgen Gerhards zum 60. Geburtstag, Wiesbaden 2015, S. 65 – 102. 5 Gesetz zur Bekämpfung von Doping im Sport vom 10. 12. 2015. Vgl. dazu z. B. NADA [Stiftung Nationale Anti Doping Agentur Deutschland], Information zum Anti-Doping-Gesetz, Bonn 2016, abrufbar unter www.nada.de, die scheibt, dass „das Gesetz … für alle Sportlerinnen und Sportler, die als Mitglied eines Testpools im Rahmen des Dopingkontrollsystems Trainingskontrollen unterliegen oder durch ihren Sport erhebliche Einnahmen erzielen“ gilt. Vgl. auch G. Risse, Funktionale Institutionen-Bildung in der Anti-Dopingpolitik der Bundesrepublik Deutschland – Akteureinflusse, Akteurkonstellationen, Akteurinteraktionen, Köln 2017, Abschnitte 3.1 bis 3.3.
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tenen Substanzen und Methoden operationalisiert wird.6 Dadurch ist alles, was von der Liste nicht erfasst wird, definitionsgemäß kein Doping. Durch Innovationen, z. B. bei Medikamenten, kann die Doping-Liste ganz einfach umgangen werden.7 Selbstverständlich gilt auch noch immer, dass bei einer entsprechenden medizinischen Indikation die Verbots-Liste nicht gilt.8 Internationale Doping-Skandale gibt es erkennbar reichlich. Es stört uns aber zumindest in Deutschland wenig, da Sportarten, die in Deutschland wirklich populär sind (wie Fußball und einige andere Mannschaftssportarten) kaum betroffen sind. Trotzdem lohnt sich nach wie vor die Analyse des Doping-Phänomens. Doping wird traditionell mit Hilfe einer Verbots-Liste (Negativ-Liste) definiert.9 Im deutschen Doping-Gesetz (AntiDopG) heißt es (§ 2) „ein Dopingmittel (ist) ein in der Anlage I des internationalen Übereinkommens vom 19. Oktober 2005 gegen Doping im Sport (…) in der vom Bundesministerium des Inneren bekannt gemachten Fassung (…) aufgeführter Stoff …“. Und in § 3 wird die Ausnahme definiert, nämlich Doping liegt nur vor, wenn keine „medizinische Indikation“ für die Anwendung eines Stoffes oder Methode vorliegt. In § 6, der Verordnungsermächtigungen enthält, wird nochmals auf „nicht therapeutische Bestimmung“ abgestellt, die Doping definiert. 6
Die insgesamt international nicht mehr zu Spitzenplätzen reichenden Leistungen deutscher Leichtathleten, Radrennfahrer und Schwimmer, diese Sportlergruppen sind immer wieder international für Doping-Skandale gut, könnte man auch als Beleg der effektiven Wirkung des deutschen Doping-Gesetzes ansehen. Allerdings sind alle drei Sportarten für Durchschnittsathleten finanziell nicht besonders attraktiv, sodass auch andere Gründe für den Niedergang dieser Sportarten in Deutschland eine Rolle spielen können. 7 Vgl, auch W. Andreff, An Economic Roadmap to the Dark Side of Sport, Vol. III: Economic Crime in Sport, Cham, 2019, Chapter 4. 8 Der Religionswissenschaftler A. Levinovitz (Natural, Boston 2020) macht darauf aufmerksam, dass das, was als „natürlich“ im Sport akzeptiert wird, mit unterschiedlichen Maßen gemessen wird: die überlangen Arme des Rekord-Schwimmers Michael Phelps wurden als „natürlich“ und die Fairness nicht verletzend akzeptiert (S. 192), während natürlich hohe Testosteron-Werte der Mittelstrecklerin Caster Semenya als unfair gegenüber anderen Frauen eingestuft wurden (S. 201 ff). 9 Ziel der „World Anti-Doping Agency“ ist „to protect the Athletes’ fundamental right to participate in doping-free sport and thus promote health, fairness and equality for Athletes worldwide“ (WADA, World Anti-Doping Code, Montreal 2009, auf: http://www.wada-ama. org/en/World-Anti-Doping-Program/Sports-and-Anti-Doping-Organizations/The-Code/, S. 11). Zu diesem Zweck führt die WADA eine umfassende Verbots-Liste. Überlagert wird die Liste von einer abstrakten Doping-Definition, die aus insgesamt drei völlig unbestimmten Rechtsbegriffen besteht, ebda. S. 32 f.: „A substance or method shall be considered for inclusion on the Prohibited List if WADA determines that the substance or method meets any two of the following three criteria: (1) Medical or other scientific evidence, pharmacological effect or experience that the substance or method, alone or in combination with other substances or methods, has the potential to enhance or enhances sport performance; (2) Medical or other scientific evidence, pharmacological effect or experience that the Use of the substance or method represents an actual potential health risk to the Athlete; (3) WADA’s determination that the Use of the substance or method violates the spirit of sport described in the Introduction to the Code.“
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II. Mittel und Methoden zur Leistungssteigerung Die Liste von „unnatürlichen“ Mitteln und Methoden, die die sportliche Leistung steigern bzw. steigern sollen, ist lang10 – und keineswegs alles ist verboten. Und man sollte für eine grundsätzliche Betrachtung von „Hilfsmitteln“ nicht nur Medikamente, sondern auch die Ausrüstung dazu zählen, darunter auch Mittel, um die Hände griffiger zu machen (so im Turnen und Handball).11 Die unnatürlichen Mittel beginnen bei Brillen und bei Sportschuhen (die DFB-Elf wurde 1954 auch wegen der Schraubstollen von Adidas FIFA-Weltmeister12) und Sportbekleidung jeder Art, so seit einiger Zeit „Funktionstextilien“.13 Auch Schaumstoff (der z. B. beim Hochsprung erst den Fosbury-Flop erlaubte) und Unterwasserlaufbänder und Kältekammern bis hin zu Eiswesten gehören zu leistungssteigernden Hilfsmitteln. Alles regelgerecht, obwohl es den Athleten einen „unnatürlichen“ Vorteil verschafft. Hinzu kommen nicht regelgerecht getunte Boote, Bobs und Schlitten (z. B. angewärmte Kufen). Inzwischen spielt der Einsatz von bildgebender Technik nicht nur im Training, sondern inzwischen sogar im Wettkampf eine Rolle. Etwa im US-amerikanischen Profibasketball, wo nicht die individuelle Leistung, wohl aber die Mannschaftstaktik auf „unnatürliche“ Art und Weise in „Realtime“ optimiert wird. „Fitness-Tracker“, die z. B. in Trikots und Schienbeinschoner eingefügt werden können, können nicht nur im Training, sondern auch während des Spiels individuelle Leistungsindikatoren übertragen. Je nach der Güte der Auswertungssoftware können dadurch unnatürliche
10 Vgl. auch Risse (o. Fn. 5), Abschnitt 3.4 und die „annual banned-substance reviews“ (zuletzt M. Thevis et al., Annual banned-substance review: analytical approaches in human sports drug testing, Drug Testing and Analysis, Vol. 12, No. 1, 2020, S. 7 – 26) des Teams um den bekannten deutschen Doping-Analytiker Wilhelm Schänzer. Für einen populärwissenschaftlichen Überblick vgl. z. B. R. Heßbrügge, In den Körper, fertig, los, in: Bild der Wissenschaft, Heft 10, 2020, S. 34 – 39. 11 Vgl. G.-P. Brüggemann, Möglichkeiten und Perspektiven der Leistungssteigerung aus biomechanischer und orthopädischer Sicht, in: K. Vieweg (Hrsg.), „Techno-Doping“, Stuttgart u. a. 2015, S. 9 – 30, F. Steinle, „Techno-Doping“ – Schutzmechanismen zu Gunsten der Athleten durch Regelwerke im Skisport, ebda. S. 31 – 46 und insbesondere den ausgezeichneten Überblick, den K. Viewegs Sammelband „Techno-Doping“, gibt – und damit die Bezeichnung seines Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Rechtsinformatik, Technik- und Wirtschaftsrecht und seinen damit formal nichts zu tun habenden Schwerpunkt zum Sportrecht (mit wiederum einem Schwerpunkt im Bereich des Dopings) zusammen bringt. 12 Vgl. für eine neue technische Entwicklung von Laufschuhen J. Römer, Neid auf Nikes Wunderschuh, 2019, auf: https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/nike-wunderschuhstreit-um-marathon-rekord-von-eliud-kipchoge-a-1293095.html und A. G. Levine, How a sneaker geek landed his dream job, one step at a time, 2017, auf: https://www.sciencemag.org/ careers/2017/12/how-sneaker-geek-landed-his-dream-job-one-step-time. 13 Dazu am Beispiel des Skispringens Hofer V. Kreisl, Das Geheimnis der Fußsohle, Süddeutsche Zeitung, Nr. 3, 4. 1. 2019, S. 27 und W. Hofer, „Leicht fliegt leichter“ (Interview mit Volker Kreisl), Süddeutsche Zeitung, Nr. 298, 27. 12. 2019, S. 31.
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Vorteile für ein Team entstehen.14 Traditionelle Mittel auf der „Systemebene“ sind z. B. im Baseball extrem gewässerter Rasen und Fixseile beim Bergsteigen. Ob Prothesen einmal so gut sein werden, dass sie nicht nur von behinderten Sportlern benutzt werden, sondern von eigentlich gesunden Athleten, die zum Beispiel Amputationen hinnehmen, um Prothesen einsetzen zu können, oder ihre Sinne künstlich verstärken lassen, ist eine offene Frage. In der Spitzenzeitschrift „Nature“ wird spekulieren, dass „genetically enhanced Olympics are coming.“ Des weiteren wird in „Nature“ wie „Science“ diskutiert, ob künftig Prothesen die sportliche Leistung steigern könnten (z. B. durch bessere Ellbogen für Werfer) und welche Rolle die Neurowissenschaft spielen könnte, um die mentale Fitness zu steigern.15 Lang ist auch die Liste von Medikamenten und medizinischen Behandlungsmethoden für Sportler, die glauben, dass diese Medikamente und Methoden die sportliche Leistung steigern. Zu nennen sind künstliche Sauerstoffzufuhr16 sowie zulässige Schmerzmittel, Beruhigungspillen (für die „ruhige Hand“, siehe die Einleitung oben) und Nahrungsergänzungsmittel („Vitamine“ wie Kreatin und Omega-3-Fettsäuren).17 Für Sportler verboten sind viele Substanzen, Medikamente und Behandlungsmethode; so u. a. Aufputschmittel (Stimulanzien wie Pervitin [„Methamphetamines“]), Entwässerungsmittel (Diuretika, um Gewichtsklassen einzuhalten) und zur
14 Im Fußball sind derartige Sensoren für den Einsatz während Wettkampf-Spielen (noch) ausdrücklich verboten. Vgl. auch R. Gugutzer, Die Fiktion des Natürlichen. Sportdoping in der reflexiven Moderne, Soziale Welt, 52. Jg. Heft 3, 2001, 219 – 238, der von der „Fiktion des Natürlichen“ im Sport spricht (vgl. auch R. Gugutzer, Doping im Spitzensport der reflexiven Moderne, in: Sport und Gesellschaft, 6. Jg. 2009, Heft 1, S. 3 – 29). 15 Vgl. im speziellen J. Enriquez/S. Gullans, Genetically enhanced Olympics are coming, in: Nature, Vol. 487, 2012, S. 297; H. Thompson, Superhuman Athlets, ebda. S. 287 – 289; G. Miller, Can Neuroscience Provide a Mental Edge?, in: Science, Vol. 321, 2008, S. 626 – 627 sowie D. Hackfort/M. Klämpfl/Y.-P. Klöppel, Mentale Fitness, in: A. Güllich/ M. Krüger (Hrsg.), Sport in Kultur und Gesellschaft, Berlin und Heidelberg 2019, S. 1 – 19; und grundsätzlich Th. Galert et al., Das optimierte Gehirn (leicht erweiterte Fassung des zuerst in „Gehirn & Geist“, 11/2009, S. 40 – 48 erschienen „Memorandum zu Chancen und Risiken des Neuroenhancements“); R. Hertwig, Neuro-Enhancement: Grenzen der Selbstoptimierung, in: Psyche im Fokus – Das Magazin der DGPPN, Ausgabe 3, 2013, S. 11 – 13; J. Mann, Cognitive enhancing drug use by students in the context of neoliberalism: cheating? Or, a legitimate expression of competitive entrepreneurialism?, in: International Journal of Drug Policy, available online 14 August 2020, 102907. Im Zusammenhang mit Cognitive Enhancement stellt Levinovitz (o. Fn. 8), S. 196, die interessante Frage, warum eigentlich die Computersimulationen, die bei Schachweltmeisterschaften im Hintergrund zur Vorbereitung der Spieler laufen, nicht als Doping angesehen werden. 16 Beim „Höhenbergsteigen“, einer hochregulierten Sportdisziplin, auf die noch einzugehen ist, gilt künstliche Sauerstoffzufuhr freilich als Doping (vgl. M. Stachura, By Fair Means: Radsport, Bergsport und das Problem der normativen Regulierung des Handelns, Berliner Journal für Soziologie, Jg. 24, 2014, S. 112 – 134). 17 In Deutschland gibt das „Kölner Zentrum für Dopingforschung“ die „Kölner Liste“ mit ausdrücklich erlaubten Nahrungsergänzungsmitteln heraus (J. Aumüller/Th. Kistner, Verdacht verdichtet, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 50, 1. 3. 2014, S. 37).
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langfristigen Leistungssteigerung „Blutdoping“ und zum Muskelaufbau, Anabolika, Hormone und Petidhormone.18 Die Liste verbotener Substanzen ist sehr lang (dazu gehören auch Substanzen, die die Benutzung von Doping-Mitteln „maskieren“). Auf der anderen Seite sind für attestierte Erkrankungen Ausnahmen möglich – wie das AntiDopG ausdrücklich festhält. Denn ohne erlaubte Ausnahmen könnten Athleten nicht gemäß dem Stand der ärztlichen Kunst behandelt werden.19 So z. B. im Falle von Asthma. Dann ist das ansonsten verbotene Kortison erlaubt. Was allerdings auffällt: unter Spitzensportlern ist der Anteil von ärztlich attestierten Asthmatikern weit überdurchschnittlich hoch.20 Auch häufig anzutreffende Schilddrüsenprobleme sind auffällig. Morgan21 weist darauf hin, dass die Unterscheidung, was als Behandlung einer Krankheit notwendig und erlaubt ist, und was als Doping gilt, eine rein „soziale Entscheidung“, d. h. die des von Menschen gemachten Regelwerks ist. Zu dem Definitionsproblem hinzu kommt das Problem, dass trotz der Bedeutung, die der Fairness im Sport beigemessen wird, das gezielte Übertreten von Regeln systematisch und integral zur Kultur des Wettkampfsport dazu gehört.22 Wenn man Glück hat, bemerkt der Schiedsrichter Regelverletzungen nicht. Und wenn er es bemerkt, wird man bestraft. Das Hinnehmen – und Einkalkulieren – von Strafen gehört zum Wettkampfsport. Für diese Behauptung, auf die unten noch näher eingegangen wird, ist ein kleiner Artikel in der New York Times23 ein Beleg: „Cheating is hardly new to Baseball.“ Berühmte Pitcher „cheated with vaselin and nail files and sandpaper“; und berühmte Schläger mit „corked bats.“ Der Autor fährt fort: „Good natured cheating. The kind that adds a little color to a game that is otherwise, well, a little boring.“ Ja, genau. Das ist wahrscheinlich auch eine der Funktionen von Fouls im allgemeinen und die Mißachtung des Doping-Verbots im besonderen. Regelverletzungen machen den Sport, die Sportberichterstattung und die Gespräche über Beides noch ein bisschen interessanter als es „sauberer“ Sport allein erreichen könnte. Und dies kreiert ein Kultur-Problem des Sports. 18 Vgl. P. Simon, „Grandioses Scheitern“ (Spiegel-Gespräch), Spiegel, Nr. 50, 2017, S. 112 – 114, hier S. 114. 19 Vgl. WADA, World Anti-Doping Code (o. Fn. 9), S. 32 f. 20 Vgl. z. B. zum Fall des umstrittenen Radrennfahrers Christopher Froome, Th. Kistner, Froomes Überdosis, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 287, 14. 12. 2017, S. 27. 21 W. J. Morgan, Athletic Perfection, Performance-Enhancing Drugs, and the TreatmentEnhancement Distinction, Journal of the Philosophy of Sport, Vol. 36, No. 2, 2009, 162 – 181, hier 167. 22 Vgl. auch M. Frenger/W. Pitsch, Abweichendes Verhalten im Sport, in: Güllich/Krüger, Sport in Kultur und Gesellschaft (o. Fn. 14), S. 1 – 20. Sehr speziell sind die Regelverletzungen von US-Präsident Donald Trump beim Golfen: nach Aussage des US-Sportjournalisten Rick Reilly betrügt Trump nicht selbst, sondern lässt den Betrug von seinem Caddy erledigen (J.-Chr. Rabe, „Klingt besser“, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 217, 19. 9. 2020, S. 22). 23 M. Farris Smith, What if Novelists Took Steroids?, in: New York Times, 11. 8. 2013, S. SR 5.
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Nun werden viele Leser denken: ja, genau, es gibt im Sport Regelverletzungen, aber genau deswegen gibt es ja auch Schiedsrichter, die Regelverletzungen unverzüglich bestrafen. Diese Überlegung verkennt aber den Kern meines Argumentes: Sportler leben gewissermaßen vom An-und-über-die-Grenze-gehen. Für sie ist es nicht unfair, eine Regel zu verletzen, da sie ja wissen, dass das bestraft werden kann und damit Fairness hergestellt wird. Und genau an dieser Stelle entsteht das grundlegende Problem des Doping-Verbots: es ist lückenhaft und so schlecht begründet, dass es aus Sicht vieler Sportler eine von vielen willkürlichen Regeln ist.24 Man geht an die Grenze des Erlaubten und – wenn man nicht erwischt wird – darüber hinaus. Für viele Sportler ist das Argument, dass Sport gesund sein soll und nicht gesundheitsschädlich, schwer nachzuvollziehen. Sie merken tagtäglich beim Training und bei ihren Wettkämpfen, dass beim Hochleistungs-Sport die Gesundheit keineswegs im Mittelpunkt steht. Und die Lückenhaftigkeit des Doping-Verbots in Form der Verbots-Liste kennen sie auch; ja, sie erleiden sie. Wie auch immer man das Doping-Verbot begründet: umgesetzt wird es auf eine äußerst einfache Art und Weise, die jedoch den Nachteil hat, dass sie viele der genannten Probleme einfach ignoriert – und gleichzeitig neue Probleme schafft: als verbotene „Doping-Mittel“ werden im Sport tatsächlich oder vermeintlich leistungssteigernde Substanzen und Maßnahmen deklariert, die nicht medizinischen Zwecken dienen und deswegen im sportlichen Regelwerk verboten werden, d. h. auf die „Doping-Verbots-Liste“ gesetzt werden.25 Begründet wurde die Auswahl der Medikamente und Mittel auf der Dopingliste in erster Linie mit Gesundheitsschädigungen durch Doping. Hier entsteht nun aber das zentrale Problem der tautologischen Doping-Definition „Doping ist was auf der Doping-Liste steht“: wenn man nur das nicht einnehmen darf, was auf der Verbotsliste steht, dann bedeutet das, dass das, was nicht auf der Verbots-Liste steht, erlaubt ist, z. B. große Mengen von Aspirin einnehmen oder sogenannte Nahrungsergänzungsmittel konsumieren! „Nahrungsergänzungsmittel“ sind natürliche Substanzen, die man auch zu sich nehmen könnte, wenn man riesige Mengen an Gemüse und Fleisch zu sich nehmen würde. Diese Mengen könnte man aber niemals essen. Ist das Schlucken von konzentrierten natürlichen Stoffen nicht auch Doping? 24 Wie inkonsistent die ganze Argumentation ist, zeigt unfreiwillig jüngst B. Kayser, Why are placebos not on WADA’s Prohibited List?, in: Performance Enhancement & Health, Vol. 8, No. 1, 2020, 100163, der argumentiert, dass auch Placebos – obwohl nicht gesundheitsschädlich – auf die Verbots-Liste gehörten, da sie – wenn sie wirksam sind – gegen den Spirit des Sports verstoßen. 25 Vgl. für einen knappen Überblick N.R. Ziebarth, Die Symbiose von gesundheitsförderndem und gesundheitsgefährdendem Verhalten: Sport und Doping, in: M. Erlinghagen/ K. Hank/M. Kreyenfeld (Hrsg.), Innovation und Wissenstransfer in der empirischen Sozialund Verhaltensforschung – Festschrift für Gert G. Wagner zum 65. Geburtstag, Frankfurt und New York, 2018, S. 293 – 314.
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Und die Verbots-Liste signalisiert sehr deutlich: was nicht nachgewiesen werden kann, ist faktisch auch erlaubt. Dabei muss man wissen, dass „Anti-Doping-Labors“ den Urin der Athleten nur auf bekannte Substanzen untersuchen. Wer also ein weniger bekanntes Mittel nutzt, kann nahezu risikolos dopen. Auch die indirekte Methode des Nachweises, die nicht die Substanz selbst nachweist, sondern deren Spuren im individuellen biochemischen Profile (Blutprofil bzw. „Biologischer Pass“) bezieht sich am Ende auf verbotene Substanzen26 und es müssen Grenz- bzw. Normwerte festgelegt werden, die angeben, ab welchem Messwert ein Verdacht besteht bzw. man von Doping ausgehen sollte oder muss. Damit beantwortet sich die Frage: warum gibt es nach wie vor Doping im (Hochleistungs)Sport, obwohl in der veröffentlichten Meinung, von Sportverbänden und der Politik Doping verachtet wird und als absolut bekämpfenswert gilt, nahezu von selbst: Alles spricht dafür, dass Doping untrennbar zum System und zur Un-Kultur des Wettkampfsports gehört. Wie Savulescu et al. schreiben: „Performance enhancement is not against the spirit of sport; it is the spirit of sport“.27 Faktisch wird Doping vom gesamten Sportsystem wie den meisten Zuschauern toleriert. Das Sportsystem ist offensichtlich nicht gewillt, sich von der Dopingliste zu verabschieden, obwohl sie offenkundig ihr Ziel nicht erreicht und sogar noch die Anti-Doping-Kultur, ohne die ein Doping-Verbot nicht funktionieren kann, systematisch unterhöhlt. Es liegt nahe zu fragen, warum dies der Fall ist? Vieles spricht dafür, dass der organisierte Sport und die meisten Sportjournalisten in den vielen Doping-Skandalen kein wirkliches Problem sehen.28 Schließlich gründet der Sport auf der Un-Kultur des An- und Über-die-Grenze-Gehens. Die meisten Zuschauern werden davon gut unterhalten („Good natured cheating. The kind that adds a little color to a game that is otherwise, well, a little boring“). Der ehemalige
26 Vgl. z. B. P.-E. Sottas et al., The Athlete Biological Passport, in: Clinical Chemistry, Vol. 57, No. 7, 2011, S. 969 – 976, J. Mazanov/J. Connor, Rethinking the management of drugs in sport, International Journal of Sport Policy, Vol. 2, No. 1, 2010, 49 – 63, hier 59. 27 J. Savulescu/B. Foddy/M. Clayton, Why we should allow performance enhancing drugs in sport, British Journal of Sports Medicine, Vol. 38, 2004, 666 – 670, hier 670. Vgl. jüngst z. B. auch J. J. Prinsloo/T. G. Pelser/P. S. Radikonyana, Marketing evolution of performance enhancing drugs in professional cycling, in: Proceedings of the 54th International Academic Virtual Conference, Prag 2020, doi: 10.20472/IAC.2020.054.021. und die international vergleichende empirische Studie K. Erickson et al., Substance use in university sport: A crossnational study of student-athlete substance use behaviors and perceived responses to witnessing substance use, in: Performance Enhancement & Health, Vol. 7, Issues 1 – 2, 2019, 100151. 28 Vgl. jüngst Th. Zandonai/D. Holgado, Doping in tennis, where we are and where we should be going?, in: Performance Enhancement & Health, Vol. 7, Issues 3 – 4, 2020, 100157. Was keineswegs ausschließt, dass es innerhalb der Funktionärs- und Journalistengruppen einzelne Personen gibt, die sich auf die Anprangerung des Dopings spezialisiert haben (siehe auch das im Text stehende Boelsen-Zitat).
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Sportjournalist (mit Spezialisierung Radsport) Helmer Boelsen hat die professionelle Ignoranz der Berichterstatter als 88jähriger zugegeben und öffentlich gemacht.29 Boelsen schreibt: „Liebe macht blind. Das weiß man in meinem Alter. Also muss ich auch zugeben, dass ich Doping lange Zeit toleriert habe, zumal es jahrzehntelang nicht verboten war. Ich hatte nichts gegen Mittel wie Amphetamine und Ephedrin. (…) Ich habe Doping bis Mitte der 60er Jahre hingenommen und ich habe ungern darüber geschrieben. 1999 sagte ich einem jungen Kollegen, den ich in die Tour einführte: ,Ich mache Rennberichte und Kommentare, und Du schreibst über anstehende Doping-Fälle‘.“ III. Wie könnte man Doping wirksam bekämpfen? Analysiert man Doping entscheidungstheoretisch (mit Hilfe der sogenannten „Spieltheorie“),30 dann kommt man zu einer unbequemen Erkenntnis. Wenn es wirksames Doping gibt, das nicht verboten ist oder nicht entdeckt werden kann, dann ist derjenige Athlet im Nachteil, der nicht dopt. Da kein Athlet sicher sein kann, dass alle anderen auch nicht dopen, ist es für diejenigen Athleten, die siegen wollen, sinnvoll sich „sicherheitshalber“ zu dopen. Und wenn diese Dopingpraktiken gesundheitsschädlich sind, dann müssen alle Athleten Gesundheitsrisiken in Kauf nehmen, die nicht notwendig wären, wenn es wirksame Doping-Verbote gäbe. Oder – noch besser – eine von allen Athleten akzeptierte Moral bzw. Kultur, dass „man nicht dopt.“ Dass dieses Dilemma keine reine Theorie ist, wurde oben gezeigt. Und es wurde in Abschnitt 2 gezeigt, dass die konventionelle Verbots-Liste ebensowenig das Problem lösen kann wie „Blutprofile“, d. h. indirekte Nachweis- bzw. – präziser – Verdachtsmethoden. Um eine wirksame Anti-Doping-Strategie zu finden, sollte man sich zuerst einmal noch einmal klar machen, was Doping, verglichen mit anderen Problemen im Sport, z. B. biologische Ungleichheit und Fouls im Wettkampf, so ärgerlich macht? Die mit Doping verbundene Unfairness kann kein grundsätzliches Problem sein, denn – wie in Abschnitt 2 gezeigt – vieles im Sport ist unfair. So die individuellen
29 H. Boelsen, Mon Amour – Der Journalist und Buchautor Helmer Boelsen über seine Beziehung zur Tour de France (aufgezeichnet von Arno Hecker und Rainer Seele), in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 147, 28. 6. 2013, S. 28. 30 Für einen Überblick s. C. Dietmann, Kann denn Siegen Sünde sein? Die Ökonomik des Dopings am Beispiel des Radsports, Jena 2008: abrufbar unter https://www.econstor.eu/bitst ream/10419/43698/1/633741558.pdf. Vgl. auch F. Daumann, Die Ökonomie des Dopings, Hamburg 2008 und E. Emrich et al., Ökonomische Theorien des Doping-Phänomens, in: Güllich/Krüger, Sport in Kultur und Gesellschaft (o. Fn. 14), S. 1 – 13.
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körperlichen und sonstigen Voraussetzungen (also Trainingsmöglichkeiten und Material) und Fehler durch Schiedsrichter.31 Wahrscheinlich ist die Un-Natürlichkeit des Dopings für diejenigen Sportfans, die gegen Doping sind, der ausschlaggebende Grund.32 Allerdings trägt dieses Argument angesichts vielerlei technischer Hilfsmittel33 und der Leistungsunterstützung der Sportmedizin nicht weit.34 Das besonders Ärgerliche am Doping dürfte sein, dass es von Konkurrenten und den Zuschauern nicht beobachtet werden kann. Alle anderen Elemente der Unfairness können gut (natürliche Unterschiede im Körperbau und etwa Schiedsrichterfehler) oder halbwegs gut (etwa Material und Trainingsmöglichkeiten) beobachtet werden. Hier sei die Hypothese aufgestellt, dass erst durch die Intransparenz des Dopings ein starkes Gefühl von Unfairness entsteht und der „Geist des Sports“ – wie ihn die WADA in ihrer Doping-Definition beschwört – verletzt wird. Die eigentliche Frage ist also, wie kann man diese Intransparenz beseitigen, wenn Doping „an sich“ zum Sport gehört, der nämlich Findigkeit beim An-die-Grenze-gehen und beim Über-dieGrenze-gehen belohnt. Um das Problem der Definitionslücke von Doping zu lösen und gleichzeitig Fairness durch Transparenz herzustellen35 haben Otto Keck und Gert G. Wagner vor 30 Jahren36 erstmals vorgeschlagen, die Doping-Verbotsliste abzuschaffen und stattdessen einen Medikamentenpass einzuführen, in den jeder Athlet alle Medikamente und Therapien, die er benutzt, eintragen muss. Der Inhalt dieses Passes muss regelmäßig veröffentlicht werden. Dieses System wäre keine naive Freigabe des Dopings, denn es gäbe auch Doping-Strafen. Nämlich dann, wenn einem Athleten nachgewiesen wird, dass er ein Medikament genommen oder eine Therapie erhalten hat, die er nicht im Medikamentenpass deklariert hat. Es würde also umfassend, deutlich weiter als heutzutage, auf Medikamente und Nahrungsergänzungsmittel getestet werden. 31 Vgl. auch U. Wiesing, Should Performance-Enhancing Drugs in Sport be Legalized under Medical Supervision?, in: Sports Medicine, Vol. 41, No. 2, 2011, 167 – 176. 32 Vgl. z. B. W. J. Morgan, Athletic Perfection (o. Fn. 20),162. 33 Vgl. K. Vieweg, „Techno-Doping“ – Regelungs- und Durchsetzungsmöglichkeiten der Sportverbände, in: K. Vieweg (Hrsg.), „Techno-Doping“ (o. Fn. 11), S. 47 – 64. 34 Vgl. D. Birnbacher, Doping und ärztliche Ethik, Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin, 64. Jg., Nr. 3, 2013, 73 – 76, hier 74. 35 Vgl. zur allgemeinen „Transparenz der Hilfsmittel“ Stachura (o. Fn. 16), 128, der – explizit bezugnehmend auf E. J. Bird/G. G. Wagner, Sport as a Common Property Resource – A Solution to the Dilemmas of Doping, Journal of Conflict Resolution, Vol. 41, No. 6, 1997, 749 – 766 – dadurch „normative Innovationen“ in den Regeln des Leistungs- und Wettkampfsports erwartet. 36 Keck/Wagner, Asymmetrische Information (o. Fn. 1); Ein Weg aus der Doping-Zwickmühle (o. Fn. 3).
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Mit diesem System wäre der perverse Anreiz ausgeschaltet, den die Doping-Verbotsliste erzeugt: „was nicht auf der Liste steht ist erlaubt. Wer findig ist, der geht mit Sicherheit straffrei aus.“ Das neue System würde Findigkeit bestrafen, wenn sie verheimlicht wird. Und wer neue (und alte) Medikamente und/oder Therapien deklariert, den würden die Zuschauer – wenn die Introspektive der Doping-Kritiker zum „Geist des Sportes“ stimmt und Sportphilosophen und die WADA recht haben – nicht mögen. Fairness wäre hergestellt. Ob das neue System im Hinblick auf die Minimierung von Gesundheitsrisiken von Sportlern wirken würde, hinge ganz entscheidend von den Zuschauern ab. Wenn die Zuschauer Doping nicht mögen, weil es gesundheitsschädlich ist (wie der Mainstream der Sportwissenschaftler und -kommentatoren behauptet), dann wird der Medikamentenpass zu einem Rückgang des Medikamenteneinsatzes im Sport führen. Freilich: wenn die Zuschauer Doping gegenüber indifferent bzw. ignorant sind, dann wird der Medikamentenpass gesundheitliche Probleme durch Medikamentenmissbrauch nicht grundsätzlich zurückführen (sondern nur Fairness durch Transparenz herstellen). Für die zweite Annahme, nämlich die Ignoranz der Zuschauer, spricht zur Zeit vieles. Und die kritischen Stimmen von Intellektuellen, die ohnehin sich Sport nicht ansehen, spielen keine Rolle, da die Athleten von diesen Kritikern ohnehin nicht leben! Die Empirie lehrt: Sportfans schauen sich so ziemlich alles an, was Spannung verspricht und bei dem die „eigenen“ Athleten siegen.37 Dass zeitweise die Tour de France-Fernsehübertragungen in Deutschland wenig Zuschauer hatten, muss ja nicht nur an Dopingskandalen, sondern könnte auch am Hinterherfahren deutscher Rennfahrer gelegen haben. Aber selbst dann, wenn der Medikamentenpass mangels Interesse der Zuschauer an einem sauberen („dopingfreien“) Sport Doping nicht grundsätzlich einschränken würde, könnte er immerhin dafür sorgen, dass im Interesse der Aktiven vernünftiger, d. h. weniger gesundheitsschädlich, gedopt wird, da ja nicht mehr heimlich experimentiert werden müsste, sondern qualifizierte Ärzte die Athleten mit Medikamenten und Therapien, die möglichst wenige gesundheitsschädlich Nebenwirkungen haben, unterstützen könnten.38 Das liegt im ureigenen Interesse der Athleten und ihrer Familien und – wenn man Sportfunktionären glaubt – auch im Interesse des organisier37
G. G. Wagner/N. R. Ziebarth, Inevitable? Doping attitudes among Berliners in 2011: The role of socialist state socialisation and athlete experience, The European Journal of Public Health, 2016, doi: 10.1093/eurpub/ckw0462016, zeigen dies am Beispiel Ost- und Westberlins empirisch. 38 Der strafrechtlich angeklagte Ex-Skilangläufer Johannes Dürr betont ausdrücklich. wie professionell er sich bei seinem Doping-Arzt behandelt fühlte, im Gegensatz zum DopingDilettantismus seines Trainers (vgl. M. Fiedler, 5000 Euro für das Doping-Komplettpaket, auf: Spiegel Online, 30. 9. 2020; auch C. Catuogno, Die Maschinen brummen anderswo, auf: SZ.de, 2. 10. 2020). Wenn Levinovitz’ (o. Fn. 8), S. 193, These stimmt, dass die meisten Menschen „Natürlichkeit“ im Leistungssport mit „gesund und sicher“ gleichsetzen, würde der Medikamentenpass einen Anreiz für natürliche Sportausübung darstellen.
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ten Sports, der Gesundheitsschäden nur aufgrund des sportlichen Regelwerkes akzeptiert, nicht aber aufgrund von Doping. Nicht zuletzt bestände die Chance, dass durch die von den vielen einzelnen Medikamentenpässen der Athleten hergestellte Transparenz mittel- und langfristig sich die Zuschauer so vom Hochleistungssport abgestoßen fühlen könnten,39 dass sich innerhalb der Athletenschaft eine Anti-Doping-Kultur entwickelt.40 Das skizzierte System sowie ein Vorschlag von Julian Savulescu41 hatten bislang keinerlei Chance auf Verwirklichung, obwohl in der wissenschaftlichen Literatur immer wieder grundsätzlich zustimmend darauf hingewiesen wird.42 Einen Überblick über die Kritik gibt Risse.43 Aus Sicht des Autors des vorliegenden Beitrags ist die sachlich sinnvollste Kritik am Vorschlag eines obligatorischen Medikamentenpasses die des Datenschutzes: Athleten würden in der Tat zu „gläsernen Menschen“, da der Medikamentenpass 39 Vgl. zur Notwendigkeit von Transparenz die spieltheoretische Analyse von B. Buechel/ E. Emrich/S. Pohlkamp, Nobody’s innocent: the role of customers in the doping dilemma, MPRA Paper No. 44627, Hamburg und Saarbrücken 2013, abrufbar unter: http://mpra.ub.unimuenchen.de/44627/, und ihre Forderung nach der Veröffentlichung aller Doping-Tests S. 18. Wobei die Autoren in einer interessanten kurzen Diskussion die Frage offen lassen, ob nur aggregierte Statistiken oder personenbezogene Test-Ergebnisse veröffentlicht werden sollten. 40 Vgl. dazu auch Andreff (o. Fn. 7), S. 110 ff. 41 Für eine wirksame Beseitigung der durch Sport verursachten Gesundheitsschäden wurde 2004 vom Oxforder Philosophieprofessor Julian Savulescu ein Vorschlag vorgelegt, den er mit verschiedenen Ko-Autoren mehrfach publiziert hat (vgl. z. B. Savulescu et al., Why we should allow … [o. Fn. 27], B. Foddy/J. Savulescu, Ethics of Performance Enhancement in Sport: Drugs and Gene Doping, in: A.E. Ashcroft et al. (eds.), Principles of Health Care Ethics, 2nd ed. London 2007, S. 511 – 519.). Aber auch dieser Vorschlag wurde weder in der SportLiteratur noch von den Sportverbänden konstruktiv diskutiert. Die Autoren-Teams schlagen vor, dass der Gesundheitsschutz von Athletinnen und Athleten ernst genommen wird und für die relevanten Körper-Charakteristika, z. B. den Testosteron-Spiegel, aus medizinischer Sicht Höchstwerte definiert werden. Wer den Höchstwert übersteigt, der bekommt eine Schutzsperre auferlegt (Savulescu et al., [o. Fn. 27], 668). Es wurde dabei nicht gefragt, warum der Höchstwert überstiegen wurde. Wenn dies genetisch bedingt ist und nicht behandelt werden kann, dann wird ein Athlet auf Dauer vom Leistungssport ausgeschlossen, da dies für ihn medizinisch zu gefährlich ist. Es wäre natürlich kein einfaches System, sondern es müssten – wie beim im Text vorgestellten Medikamentenpass – alle Athletinnen und Athleten, sinnvollerweise auch Kinder und Jugendliche, die Leistungssport betreiben, ständig getestet werden. Es wäre also ein System, das weit weg wäre von einer Freigabe von Doping (vgl. auch Wagner, Un-Kultur [o. Fn. 4], 2015). Es würden auch keine „sicheren Medikamente“ definiert werden, sondern ausschließlich „sichere Körper-Grenzwerte“. Savulescu und Ko-Autoren fassen ihr Konzept griffig zusammen: „Test for health, not drugs.“ Levinovitz’ ([o. Fn. 8], S. 193) Vorschlag „Gesundheit und Sicherheit“ von Athleten in den Mittelpunkt zu stellen (anstatt Natürlichkeit) ist mit dem Ansatz von Savulescu kompatibel. Stefan Hornbostel hat den Autor darauf aufmerksam gemacht, dass ein solches System den Regeln im Automobilrennsport entsprechen würde, bei dem für die Rennwagen Grenzwerte für die Leistungsfähigkeit vorgegeben werden. 42 Für einen Überblick vgl. z. B. Dietmann (o. Fn. 30) und in letzter Zeit Andreff (o. Fn. 7). 43 Risse (o. Fn. 5), Abschnitt 2.5.
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ja veröffentlicht werden würde, um zu wirken. Aber niemand wird gezwungen, Wettkampf-Athlet zu werden und viele Athletinnen und Athleten entblößen sich (teilweise im direkten Wortsinne) heute schon in Boulevard-Zeitungen und bunten TV-Sendungen. Die testweise eingeführten Blut-Pässe der Radprofis (die allerdings nicht veröffentlicht werden) zeigen auch, dass Leistungssportler vieles hinnehmen, was normale Bürgerinnen und Bürger niemals akzeptieren würden. Und die betroffenen Athleten weisen immer wieder darauf hin, dass die Rund-um-die-Uhr-Meldepflicht an das Online-Meldesystem „ADAMS“ zwecks jederzeitiger Auffindbarkeit für Doping-Kontrollen weit über das Maß an Daten-Offenlegung hinausgeht, was normale Bürgerinnen und Bürger akzeptieren würden.44 IV. Was hilft? Das Anti-Doping-Gesetz oder ein Kulturwandel? Das in Deutschland geltende Anti-Doping-Gesetz wird mit großer Sicherheit nicht zur Ausrottung der Doping-Unkultur führen. Denn wenn von Staats wegen Doper bestraft werden, dann müssen die Beweise hieb- und stichfest sein („im Zweifel für den Angeklagten“). Insofern könnte das deutsche Anti-Doping-Gesetz ein hoher Anreiz und der beste Schutz für innovatives Doping sein.45 Die Befürworter des Anti-Doping-Gesetz übersehen die dynamischen Anreizwirkungen eines Gesetzes. Es enthält eine abgegrenzte Liste verbotener Therapien und Substanzen und medizinisch indizierte Ausnahme-Regeln, damit kranken Athleten keine wirksamen Therapien und Medikamente vorenthalten werden müssen.46 Und in der Tat: die Liste des Verbotenen ist kurz (denn ein Gesetz impliziert ja Gerichtsfestigkeit seiner Regelungen!). Und das Gesetz und seine Listen wird mit großer Wahrscheinlichkeit nur selten modifiziert werden; nicht zuletzt da jede gesetzliche Veränderung durch die Anhörungsmaschinerie (mit allen der dann artikulierten unterschiedlichen Interessen) des Bundestages gehen muss. Im Ergebnis ist jede Menge Raum und ein gewaltiger Anreiz zur Neuentwicklung von Therapien und Substanzen gegeben. Denn es ist ja klar: alles was vom Gesetz nicht verboten ist, ist erlaubt! Hinzu kommen die Interessen von Zuschauern, Sportveranstaltern 44 WADA, ADAMS User Guide – Benutzerhandbuch für Athleten, Montréal 2007, abrufbar unter http://www.jjvoe.at/content/index.php?option=com_docman&task=doc_view&gid= 22&Itemid=125. 45 Vgl. auch K. Music, The Undesirable Consequences of Doping Regulations: Why Stricter Efforts Might Strengthen Doping Incentives, Journal of Sports Economics, 2019, 1 – 23. 46 Da einzelne Sportler bislang selten angeklagt wurden, ist noch unklar, wie die Rechtsprechung mit dem Problem umgehen wird, dass Dopingtests – wie alle medizinischen Tests – nicht hundertprozentig zuverlässig sein können. W. Pitsch, Dopingkontrollen zwischen Testtheorie und Moral, in: E. Emrich/W. Pitsch (Hrsg.), Sport und Doping, Berlin 2009, S. 95 – 114, zeigt, dass nur eine A-Probe zu Recht nicht ausreicht, um einem Sportler Doping zu unterstellen. Aber auch wenn A- und B-Probe einen Doping-Verstoß anzeigen, bleibt noch eine kleine Wahrscheinlichkeit, dass es sich um „false positive“-Resultat handelt.
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und Medien, die alle – in unterschiedlicher Weise – vom Doping profitieren. Es ist deswegen unwahrscheinlich, dass die Doping-Un-Kultur durch ein (gesetzliches) Doping-Verbot überwunden werden wird.47 Ausgangspunkt der abschließenden Überlegungen,48 wie trotz gegenwärtig aller gegenteiliger Interessen Sportverbände vielleicht doch ein Interesse an einer wirksamen Doping-Bekämpfung entwickeln könnten, ist der vom Oxford-Philosophen Julian Savulescu klar ausgesprochene Befund: „Performance enhancement is not against the spirit of sport, it is the spirit of sport“.49 Muss man aber wirklich so pessimistisch sein? Walter weist zu Recht darauf hin, dass empirische Untersuchungen von Verhaltensökonomen zeigen, dass in (fast) jedem von uns Fairness als Verhaltensnorm angelegt ist.50 Deswegen schlussfolgert Walter, dass „Erziehung zum kooperativen Verhalten“ auch bei Wettkampsportlern möglich sein sollte.51 Dem ist zuzustimmen – aber dann ist erst recht die Herstellung von Transparenz – wie oben skizziert – entscheidend. Wenn Athleten nicht beobachten können, was ihre Konkurrenten mit sich machen (lassen), dann ist kooperatives Verhalten definitionsgemäß nicht möglich. Genau an dieser Stelle würde der obligatorische Medikamentenpass ansetzen.52 Ein normengenerierender Prozess53 ist auch deswegen wichtig, weil auf absehbare Zeit sich die meisten Staaten bzw. Sportverbände dieser Welt keine Doping-KontrollSysteme leisten können, die so aufwendig sind wie das bestehende System in Deutschland. Oder gar so aufwendig wären wie das hier vorgeschlagenen Systeme eines Medikamentenpasses, der ja extrem viele Doping- bzw. Gesundheits-Kontrollen erfordern würden. Es ist deswegen wichtig, dass bei internationalen Wettkämpfen ein Konsens unter den Athletinnen und Athleten hergestellt wird, dass „Sportler nicht dopen.“
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Die folgende Beobachtung ist kein Beweis für diese These, aber zumindest ein Hinweis: Durch weltweit stattgefundene durch Covid-19 bedingte „Lockdowns“ gab es 2020 oft monatelang keine effektiven Doping-Kontrollen und danach schwer erklärbare Weltrekorde im Langstreckenlauf; vgl. z. B. o. V., Wunderschuh, Mut oder Doping? Die Rekorde fallen, die Leichtathletik rätselt, 2020, auf: https://www.n-tv.de/sport/Die-Rekorde-fallen-die-Leichtathle tik-raetselt-article22112709.html. 48 Vgl. auch bereits V. Röhricht/K. Vieweg (Hrsg.), Doping-Forum – Aktuelle rechtliche und medizinische Aspekte, Stuttgart 2000. 49 Savulescu et al. (o. Fn. 27), 670. 50 S. Walter, Können auch egoistische Sportler fair sein?, in: Sport und Gesellschaft, 5. Jg., Heft 3, 2008, 251 – 275. 51 Ebda. 271. 52 Dessen Idee (radikale Transparenz, doch kein striktes Verbot) im Höhenbergsteigen bereits verwirklicht ist, wo auch Betrugsfälle bereits aufgedeckt wurden (Stachura [o. Fn. 16], 119, Fn. 6). 53 Vgl. auch L. D. Bowers/R. Paternoster, Inhibiting doping in sports: deterrence is necessary, but not sufficient, in: Sport, Ethics and Philosophy, Vol. 11, No. 1, 2017, 132 – 151.
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Barkoukis et al.54 sehen einen Ansatz auf der Ebene der Sportler, für die „during the very early stages of an athlet’s engagement in sports“, also im Kindheits- und Jugendalter, die Bedeutung von „internal rewards“ gegenüber „external rewards“ gesteigert werden müsste, um die machiavellistische Siegermentalität im Sport zu brechen. Dieses Szenario hört sich heutzutage utopisch an. Freilich könnte es einen Weg hin zu dieser Lösung geben. Auch dieser Weg beruht voll und ganz auf der in diesem Beitrag vorgeschlagenen radikalen Transparenz bezüglich Medikamenten- und Therapie-Gebrauch im (Hoch)Leistungssport.55 Bei einigen Sportarten in Deutschland, so z. B. bei der Leichtathletik, hat man den Eindruck, dass die Überwindung der Doping-Un-Kultur aufgrund ausbleibenden Nachwuchses bereits auf dem Weg ist. Für Sportfunktionäre ist dies ein schwer zu begehender Weg; aber für den sich verweigernden Nachwuchs ein umso leichter zu beschreitender Weg. Ich behaupte: je mehr Transparenz über die Gesundheitsrisiken des (Hoch)Leistungssports hergestellt wird, und dabei wären Blut- und Medikamentenpässe äußerst hilfreich, um so schneller werden sich die dauerhaft positiven Wirkungen ausbleibenden Nachwuchses einstellen. Die in diesem Beitrag angestellten Überlegungen führen unschwer wieder zurück zur eingangs erzählten Geschichte über den Modernen Fünfkampf. Das Medikamenten-Doping-Problem bei der Schießdisziplin wurde durch eine Regeländerung, die an den Eigeninteressen der Fünfkämpfer ansetzte, zum Verschwinden gebracht. Ökonomen sprechen bei so einem Ansatz von einer „anreizkompatiblen“ Lösung bzw. Regulierung. Vieles spricht dafür, dass auch das Doping-Problem insgesamt nur durch eine solche Lösung beseitigt werden kann.56 Leider wissen wir bislang nur, dass die Doping-Verbots-Liste nicht anreizkompatibel wirkt, sondern ganz im Gegenteil Doping-Innovationen befördert und eine Doping-Un-Kultur systematisch aufrecht erhält. Mit einem obligatorischen Medikamentenpass würde Anreizkompatibilität hergestellt – aber ein Konzept, dass über 30 Jahre lang keine (sport)politische Chance auf Verwirklichung hatte, ist offenkundig auf einer Meta-Ebene auch nicht anreizkompatibel.
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V. Barkoukis et al., Motivational and sportspersonship profiles of elite athletes in relation to doping behavior, in: Psychology of Sport and Exercise, Vol. 12, 2011, 295 – 212, hier 211. 55 Vgl. auch K. van de Ven et al., Human enhancement drugs and new(?) research directions, in: Performance Enhancement & Health, Vol. 7, Issues 3 – 4, 2020, 100160. 56 Immer wieder wird in der Doping-Literatur auch über Änderungen bei den Preisgeldern nachgedacht. Jüngst haben D. Westmattelmann et al., Money matters: The impact of prize money on doping behavior, in: Sport Management Review, Vol. 23, No. 4, 2020, 688 – 703, Simulationsstudien zu weniger gespreizten Preisgeldern vorgelegt, wodurch der Anreiz zum Gewinnen reduziert würde – wenn Athleten rein ökonomisch rational handeln würden, sei angemerkt.
Die Rechtsfolgen eines unwirksamen Zwangsabstiegs Von Wolf-Dietrich Walker I. Ursachen und Vollzug eines Zwangsabstiegs Ob und unter welchen Voraussetzungen ein Verein im Mannschaftssport, hier erörtert am Beispiel eines Fußballvereins, unabhängig vom sportlichen Erfolg in die nächsttiefere Liga absteigen muss, richtet sich nach dem Recht des zuständigen Verbandes. So ergibt sich aus Art. 6 Nr. 3 lit. h) des FIFA-Disziplinarreglements (2019), dass bei dem Verstoß eines Vereins gegen Bestimmungen des FIFA-Regelwerks als Disziplinarmaßnahme ein Zwangsabstieg in eine tiefere Spielklasse verhängt werden kann. Auch die Regelwerke der nationalen Fußballverbände enthalten Bestimmungen, die in der Sache zu einem Zwangsabstieg führen, selbst wenn dieses Wort nicht genannt ist. Gem. § 10 Nr. 2 DFL-Lizenzierungsordnung scheidet ein Verein, dem die für die Teilnahme am Spielbetrieb der Bundesliga oder der 2. Bundesliga erforderliche Lizenz (zum Beispiel wegen Pflichtverletzungen aus dem Lizenzvertrag, § 10 Nr. 2 lit. b) DFL-Lizenzierungsordnung) entzogen wurde, am Ende der Spielzeit aus der Bundesliga oder der 2. Bundesliga aus. Schließlich bedeutet es in der Sache einen Zwangsabstieg, wenn die Lizenz, die immer für die Dauer einer Spielzeit gilt (§§ 1 Nr. 4, 10 Nr. 1 lit. a) DFL-Lizenzierungsordnung), dem Verein für die nächste Spielzeit nicht erteilt wird, weil dieser zwar die sportlichen, aber nicht die rechtlichen, infrastrukturellen oder finanziellen Kriterien (wirtschaftliche Leistungsfähigkeit) erfüllt. Für die Ligen unterhalb des Lizenzbereichs gibt es entsprechende Regelungen in den Satzungen der Regional- und Landesfußballverbände zur Erteilung und Entziehung der Spielerlaubnis sowie den daraus resultierenden Folgen. Aus der Vergangenheit seien folgende spektakuläre und medial intensiv begleitete Fälle von Zwangsabstiegen erwähnt: - Im Jahr 2012 sprach die Disziplinarkammer der FIFA den Zwangsabstieg des zum Norddeutschen Fußballverband gehörenden Vereins SV Wilhelmshaven aus.1 Der Verein spielte damals in der Regionalliga Nord. Er hatte sich geweigert, eine im FIFA-Transferreglement vorgesehene Ausbildungsentschädigung in Höhe von 157.500 Euro an einen Fußballverein aus Argentinien zu zahlen, von dem er einen 20-jährigen Fußballspieler verpflichtet hatte. Der Norddeutsche Fußballver1 Siehe den Sachverhalt bei OLG Bremen vom 30. 12. 2014 – 2 U 67/14, SpuRt 2015, 74. Zur Unwirksamkeit dieses Zwangsabstiegs BGH vom 20. 9. 2016 – II ZR 25/15, SpuRt 2017, 25 m. Anm. Korff, EWiR 2017, 39, Anm. Wagner, NJW 2017, 402 und Anm. Walker, LMK 2016, 384727.
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band hat den von der FIFA-Disziplinarkommission ausgesprochenen Zwangsabstieg zum Ende der Spielzeit 2013/14 verfügt. - Im Jahr 2016 folgte für den TSV 1860 München nach seinem sportlichen Abstieg aus der 2. Bundesliga in die 3. Liga der Zwangsabstieg in die Regionalliga Bayern. Der Verein hatte seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit nicht fristgerecht nachgewiesen.2 - Der Hamburger SV war zwar nicht von einem Zwangsabstieg betroffen. Aber nach Aussagen des früheren Vereinspräsidenten bestand im Jahr 2018 die konkrete Gefahr eines Zwangsabstiegs wegen mangelnder Liquidität.3 - Aus dem ausländischen Fußball ist insbesondere der Zwangsabstieg des italienischen Spitzenvereins Juventus Turin bekanntgeworden. Der Verein musste nach einem Manipulationsskandal im Jahr 2006 den Gang in die Serie B antreten. Er hatte nach den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Turin über mehrere Jahre Einfluss auf Schiedsrichteransetzungen und -entscheidungen genommen.4 Solche Fälle eines Zwangsabstiegs kommen zwar nicht häufig vor. Sie sind aber auch gegenwärtig im deutschen Fußball vorstellbar. Jedenfalls gab es im Zusammenhang mit einer möglichen coronabedingten vorzeitigen Beendigung der Spielzeit 2019/20 Pläne der DFL zu einem Zwangsabstieg derjenigen Vereine, die im Zeitpunkt des Spielzeitabbruchs auf einem Abstiegsplatz standen.5 Darüber gab es von Anfang an Streit, weil die betroffenen Vereine sich bis zur regulären Beendigung der Spielzeit sportlich noch hätten „retten“ können, wie es dem Bundesligaverein SV Werder Bremen auch tatsächlich gelungen ist. II. Nichtigkeit eines Zwangsabstiegs Ein Zwangsabstieg ist nichtig, wenn er von dem zuständigen Gremium des Verbands beschlossen wurde, obwohl die Voraussetzungen dafür nicht vorlagen. Das kann darauf beruhen, dass in der Satzung des Verbands die Möglichkeit, als Sanktion oder Disziplinarmaßnahme den Zwangsabstieg eines Mitgliedvereins anzuordnen, nicht hinreichend verankert ist und es auch an einer wirksamen rechtsgeschäftlichen
2 Welt Sport vom 2. 6. 2017 unter https://www.welt.de/sport/article165208934/Ein-Traditi onsverein-faellt-ins-Bodenlose.html (zuletzt abgerufen am 27. 7. 2020). 3 Siehe Focus Online vom 13. 2. 2018 unter https://www.focus.de/sport/fussball/bundesli ga1/hamburger-sv-in-der-krise-ex-boss-hoffmann-fuerchtet-zwangsabstieg-der-hsv-wird-lizenz probleme-bekommen_id_8459137.html (zuletzt abgerufen am 27. 7. 2020). 4 FAZ.net vom 25. 7. 2006 unter https://www.faz.net/aktuell/sport/fussball/italienischer-fuss ballskandal-zwangsabstieg-fuer-juventus-lazio-und-ac-florenz-1356988.html (zuletzt abgerufen am 27. 7. 2020). 5 FR vom 14. 5. 2020 unter https://www.fr.de/sport/fussball/saisonabbruch-streit-ueberzwangsabstieg-bundesliga-zr-13761691.html (zuletzt abgerufen am 27. 7. 2020).
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Unterwerfung des Mitgliedvereins fehlt.6 Ferner kann der Beschluss des zuständigen Verbandsorgans über einen Zwangsabstieg auf der fehlerhaften Beurteilung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit eines Klubs oder der unzutreffenden Annahme einer Pflichtverletzung aus dem Lizenzvertrag beziehungsweise aus dem Verbandsregelwerk beruhen. Bei einer pandemiebedingten vorzeitigen Beendigung einer Spielzeit mit Zwangsabstieg der zu diesem Zeitpunkt auf den Abstiegsplätzen platzierten Vereine ist bisher nicht sicher geklärt, ob diese Zwangsabstiege einer rechtlichen Prüfung standhalten würden, wenn die betroffenen Klubs bei regulärer Beendigung der Spielzeit den Klassenerhalt auf sportlichem Wege noch hätten erreichen können. Als im Frühjahr 2020 bekannt wurde, dass die DFL eine coronabedingte Beendigung der Spielzeit erwogen hat, haben jedenfalls die damals in der Bundesliga letztplatzierten Vereine SC Paderborn 07 und SV Werder Bremen Widerstand angekündigt und dafür auch Unterstützung namhafter anderer Vereine erhalten.7 III. Schadensersatz bei nichtigem Zwangsabstieg Ein Zwangsabstieg hat für die betroffenen Vereine zumindest für eine Spielzeit neben der sportlichen Abwertung auch gravierende wirtschaftliche Einbußen zur Folge. Die Einnahmen aus TV-Übertragungsgeldern, Ticketverkäufen und Merchandising verringern sich, Sponsoren springen möglicherweise ab, Leistungsträger verlassen vielleicht den Verein. Dadurch beschleunigt sich der sportliche Niedergang, was zu weiteren wirtschaftlichen Einbußen führt. Für den Verein besteht die Gefahr, in eine Abwärtsspirale nach unten zu geraten. Der SV Wilhelmshaven ist beispielsweise nach seinem vom Norddeutschen Fußballverband verfügten Zwangsabstieg aus der Regionalliga bis in die 7. Liga „durchgereicht“ worden.8 Der italienische Klub Juventus Turin soll für seinen Zwangsabstieg im Jahr 2006, der aufgrund des sofortigen Wiederaufstiegs mit Rückkehr in die Champions League nur eine Spielzeit dauerte, vom italienischen Fußballverband eine Entschädigung von 581 Millionen Euro gefordert haben.9 Wenn ein Verein wegen eines zu Unrecht verfügten und damit nichtigen Zwangsabstiegs Schadensersatz verlangt, ist insbesondere zu prüfen, welche Anspruchs6 BGH vom 20. 9. 2016 – II ZR 25/15, SpuRt 2017, 25 Rn. 25 (SV Wilhelmshaven). Zur Notwendigkeit einer satzungsmäßigen oder rechtsgeschäftlichen Bindung von Vereinsmitgliedern an Sanktionsvorschriften übergeordneter Verbände siehe Heermann, ZIP 2017, 253; Stöber, NZG 2017, 95; Walker, NZG 2017, 1241. 7 Deichstube vom 16. 5. 2020 unter https://www.deichstube.de/news/werder-bremen-ab stieg-saisonabbruch-bundesliga-dfl-plan-fc-bayern-coronavirus-dfl-zr-13760813.html (zuletzt abgerufen am 27. 7. 2020). 8 Zur Chronologie das Falles SV Wilhelmshaven siehe Kicker vom 20. 5. 2020 unter https:// www.kicker.de/660724/artikel (zuletzt abgerufen am 27. 7. 2020). 9 Siehe sport1.de vom 22. 11. 2018 unter https://www.sport1.de/internationaler-fussball/se rie-a/2016/11/zwangsabstieg-juventus-turin-verlangt-581-millionen-entschaedigung (zuletzt abgerufen am 27. 7. 2020).
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grundlage dafür in Betracht kommt, gegen wen sich der Anspruch richtet und welchen Inhalt der Anspruch hat. 1. Anspruchsgrundlage Als Anspruchsgrundlage kommt § 280 Abs. 1 BGB in Betracht. Das dafür erforderliche Schuldverhältnis ist das Mitgliedschaftsverhältnis zwischen dem Verein und dem für die Anordnung des Zwangsabstiegs zuständigen Verband.10 Jedes Vereinsmitglied hat Anspruch darauf, dass der Vorstand des Vereins seine Mitgliedschaftsrechte nicht verletzt.11 Eine Pflichtverletzung des Verbands liegt vor, wenn dieser einen nichtigen Beschluss seines Präsidiums/Vorstands über den Zwangsabstieg eines Mitgliedsvereins umsetzt. Der Verband haftet gem. § 31 BGB für die Pflichtverletzung seiner Organe. Ferner liegt in der Verletzung des Mitgliedschaftsrechts des betroffenen Vereins die Verletzung eines sonstigen Rechts im Sinne von § 823 Abs. 1 BGB,12 so dass ein Schadensersatzanspruch auch auf § 823 Abs. 1 BGB gestützt werden kann.13 Als weiteres verletztes sonstiges Recht kommt schließlich das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb in Betracht.14 Die dafür erforderliche Betriebsbezogenheit des Eingriffs15 liegt vor; denn der Zwangsabstieg zielt gerade darauf ab, dass der Verein seine gewerbliche Tätigkeit in der bisherigen Liga nicht mehr ausüben kann. Allerdings hat eine Haftung wegen Verletzung des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb subsidiären Charakter. Sie kommt nur dann in Betracht, wenn kein anderes Recht oder Rechtsgut im Sinne von § 823 BGB verletzt wurde und deshalb eine Schutzlücke besteht.16
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Zu diesem Mitgliedschaftsverhältnis siehe etwa BGH Hinweisbeschluss vom 10. 12. 2019 – II ZR 417/18, SpuRt 2020, 185 (186); BGH vom 20. 9. 2016 – II ZR 25/15, SpuRt 2017, 25 Rn. 25 m. Anm. Korff, EWiR 2017, 39 und Anm. Walker, LMK 2016, 384727. 11 BGH vom 6. 2. 1984 – II ZR 119/83, NJW 1984, 1884. 12 BGH vom 12. 3. 1990 – II ZR 179/89, NJW 1990, 2877 (2878); MüKoBGB/Wagner, 7. Aufl. 2017, § 823 Rn. 306. 13 OLG Bremen vom 30. 11. 2018 – 2 U 44/18, NJOZ 2019, 1340 unter II. 2. a). 14 OLG Bremen vom 30. 11. 2018 – 2 U 44/18, NJOZ 2019, 1340 unter II. 2. a). 15 BGH vom 9. 12. 2014 – VI ZR 155/14, NJW 2015, 1174 Rn. 20; BGH vom 6. 2. 2014 – I ZR 75/13, ZIP 2014, 1591 (1592); BGH vom 15. 5. 2012 – VI ZR 117/11, NJW 2012, 2579 Rn. 21; BGH vom 14. 10. 2008 – VI ZR 36/08, NJW 2009, 355 Rn. 5; MüKoBGB/Wagner (Fn. 12), § 823 Rn. 323; Brox/Walker, Besonderes Schuldrecht, 44. Aufl. 2020, § 45 Rn. 20. 16 BGH vom 6. 2. 2014 – I ZR 75/13, ZIP 2014, 1591 (1592); BGH vom 22. 12. 1961 – I ZR 157/59, BGHZ 36, 252 (257); MüKoBGB/Wagner (Fn. 12), § 823 Rn. 326; Brox/Walker, Besonderes Schuldrecht (Fn. 15), § 45 Rn. 18.
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2. Anspruchsgegner Mit der Anspruchsgrundlage steht auch fest, gegen wen sich der Anspruch richtet. Das ist derjenige Verband, der den Zwangsabstieg anordnet und damit die Pflichtverletzung nach § 280 Abs. 1 BGB und die Verletzung eines sonstigen Rechts nach § 823 Abs. 1 BGB begeht. Im Fall des SV Wilhelmshaven war das der für die Regionalliga Nord zuständige Norddeutsche Fußballverband. Das gilt auch dann, wenn der ausführende Verband mit der Umsetzung des Zwangsabstiegs die Vorgabe eines übergeordneten Verbands (im Fall SV Wilhelmshaven des DFB und der FIFA) umsetzt.17 3. Anspruchsvoraussetzungen Beide Anspruchsgrundlagen setzen neben der Pflicht- bzw. Rechts(gut)verletzung ein Verschulden des Anspruchsgegners sowie eine haftungsausfüllende Kausalität zwischen der Pflicht- oder Rechts(gut)verletzung und dem eingetretenen Schaden voraus. a) Verschulden Das nach § 280 Abs. 1 S. 2 BGB widerleglich vermutete, nach § 823 Abs. 1 BGB aber positiv festzustellende Verschulden dürfte in aller Regel in Form der Fahrlässigkeit des Verbandes bzw. seiner Organe (§ 31 BGB) bei dem nichtigen Beschluss über einen Zwangsabstieg vorliegen. Der Verband wird sich kaum auf einen unvermeidbaren Rechtsirrtum berufen können. Dieser liegt nach ständiger Rechtsprechung18 regelmäßig nur dann vor, wenn der Schädiger die Rechtslage unter Einbeziehung der höchstrichterlichen Rechtsprechung sorgfältig geprüft hat und bei Anwendung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt auch mit einer anderen Beurteilung durch die Gerichte nicht zu rechnen brauchte. Ein solcher Ausnahmefall ist etwa dann anzunehmen, wenn der Schuldner eine gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung für seine Auffassung in Anspruch nehmen konnte, für deren spätere Änderung keine Anhaltspunkte vorlagen. Allein das Vorliegen einer zweifelhaften Rechtslage reicht dafür nicht aus.19 b) Haftungsausfüllende Kausalität Der anspruchsberechtigte Verein kann nur denjenigen Schaden ersetzt verlangen, der auf dem Zwangsabstieg beruht. Diese haftungsausfüllende Kausalität ist in sol17
Vgl. BGH vom 20. 9. 2016 – II ZR 25/15, SpuRt 2017, 25 Rn. 26 ff. m. Anm. Korff, EWiR 2017, 39 und Anm. Walker, LMK 2016, 384727. 18 BGH vom 11. 6. 2014 – VIII ZR 349/13, NJW 2014, 2717 Rn. 34 ff. m. w. N.; BGH vom 30. 4. 2014 – VIII ZR 103/13, BGHZ 201, 91 Rn. 23 ff. 19 BGH vom 13. 10. 2015 – II ZR 23/14, ZIP 2015, 2217, Rn. 37 f.
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chen Fällen problematisch, in denen der Verein auch aus sportlichen Gründen abgestiegen wäre.20 In dieser Situation befand sich der SV Wilhelmshaven, der am Ende der Spielzeit 2013/14, als der Zwangsabstieg wirksam wurde, in der Regionalliga Nord auf einem Abstiegsplatz stand.21 Zudem konnte er die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Spielberechtigung für die Regionalliga in der Spielzeit 2014/15 nicht nachweisen, weil sich ein Hauptsponsor zurückgezogen hatte.22 Deshalb hat das LG Bremen in erster Instanz die Klage des SV Wilhelmshaven auf Wiedereingliederung in die Regionalliga mangels Kausalität des Zwangsabstiegs als unbegründet abgewiesen.23 Ob die hypothetische Kausalität des sportlichen Abstiegs und der weggefallenen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit nach Sinn und Zweck des Schadensersatzrechts die haftungsausfüllende Kausalität zwischen Anordnung des Zwangsabstiegs und dem Ausscheiden aus der Regionalliga Nord zum Ende der Spielzeit 2014/15 ausschließt, ist zweifelhaft.24 Die sportliche Schwächung des SV Wilhelmshaven zum Saisonende beruhte nämlich möglicherweise gerade auf dem schon im Laufe der Spielzeit verfügten Zwangsabstieg und dem dadurch herbeigeführten Verlust der Moral und Motivation der Mannschaft. Auch der Wegfall der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit aufgrund des Ausstiegs des Hauptsponsors lässt sich möglicherweise auf die Anordnung des Zwangsabstiegs zurückführen. Angesichts der Beweislast des in Anspruch genommenen Verbands für die hypothetische Kausalität einer anderen (Reserve-) Ursache25 lässt sich die haftungsausfüllende Kausalität des angeordneten Zwangsabstiegs jedenfalls nicht ohne Weiteres verneinen. Im Fall des SV Wilhelmshaven haben der BGH26 und das OLG Bremen27 die Frage nach der haftungsausfüllenden Kausalität ausdrücklich offengelassen, weil sie die auf Wiedereingliederung in den Spielbetrieb der Regionalliga Nord gerichtete Klage aus anderen Gründen abgewiesen haben. 20 Das kann nur dann ausgeschlossen werden, wenn der Verein bei Verhängung des Zwangsabstiegs sportlich bereits „gerettet“ war oder zumindest auf einem gesicherten Mittelfeldplatz einen beruhigenden Abstand zu den Abstiegsplätzen hatte. Das konnte aber offenbar im Fall des SV Wilhelmshaven nicht vorgetragen werden (siehe dazu die Angaben bei becklink 2016364). 21 Siehe Sachverhalt bei BGH Hinweisbeschluss vom 10. 12. 2019 – II ZR 417/18, SpuRt 2020, 185. 22 Siehe nochmals Sachverhalt bei BGH Hinweisbeschluss vom 10. 12. 2019 – II ZR 417/ 18, SpuRt 2020, 185. 23 Siehe den Hinweis in den Entscheidungsgründen bei OLG Bremen vom 30. 11. 2018 – 2 U 44/18, NJOZ 2019, 1340. 24 Zur Berücksichtigung von Reserveursachen siehe Brox/Walker, Allgemeines Schuldrecht, 44. Aufl. 2020, § 30 Rn. 17 ff.; MüKoBGB/Oetker, 8. Aufl. 2019, § 249 Rn. 209 ff. 25 BGH Hinweisbeschluss vom 10. 12. 2019 – II ZR 417/18, SpuRt 2020, 185 (187); BGH vom 31. 5. 2016 – VI ZR 305/15, NJW 2016, 3785 Rn. 9; MüKoBGB/Oetker (Fn. 24), § 249 Rn. 224. 26 BGH Hinweisbeschluss vom 10. 12. 2019 – II ZR 417/18, SpuRt 2020, 185 (187). 27 OLG Bremen vom 30. 11. 2018 – 2 U 44/18, NJOZ 2019, 1340.
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4. Inhalt des Anspruchs Wenn alle Voraussetzungen für einen Schadensersatzanspruch des Vereins gegen seinen Verband vorliegen, stellt sich die Frage nach dem Inhalt des Anspruchs. a) Naturalrestitution Gem. § 249 Abs. 1 BGB ist ein Schadensersatzanspruch grundsätzlich auf Naturalrestitution gerichtet. Der Verband hat danach den Zustand herzustellen, der bestehen würde, wenn der zum Ersatz verpflichtende Umstand (Zwangsabstieg) nicht eingetreten wäre. aa) Wiedereingliederung in die frühere Liga Ohne den Zwangsabstieg hätte der Verein, wenn man seine fortbestehende sportliche Qualifikation und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit unterstellt, jedenfalls in der folgenden Spielzeit am Wettbewerb der bisherigen Liga teilgenommen. Aber eine Wiedereingliederung des SV Wilhelmshaven in die Regionalliga für die Spielzeit 2014/15 ist schon wegen Zeitablaufs nicht möglich.28 Der Verbleib in der Liga auch in der darauffolgenden Spielzeit kann mangels Nachvollziehbarkeit des hypothetischen Spielzeitverlaufs nicht dargelegt werden. Erst recht lässt sich – wie im Fall des SV Wilhelmshaven – nicht darlegen, dass der Verein auch sechs Jahre nach dem Zwangsabstieg noch die sportlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Teilnahme am Spielbetrieb in der früheren Liga erfüllen würde, wenn er damals nicht zwangsweise abgestiegen wäre.29 Deshalb wäre eine Wiedereingliederung in die frühere Liga ein Aliud gegenüber der Naturalrestitution, was aber als eine Form von Überkompensation30 nach § 249 Abs. 1 BGB nicht verlangt werden kann. Aus diesem Grund hat auch der BGH nach dem LG Bremen und dem OLG Bremen in seiner Revisionsentscheidung einen Anspruch des SV Wilhelmshaven auf Wiedereingliederung in die Regionalliga Nord überzeugend abgelehnt.31 Selbst wenn dargelegt werden könnte, dass der Verein ohne den Zwangsabstieg auch jetzt noch in seiner früheren Liga spielen würde, wäre dem in Anspruch genommenen Verband eine solche Wiedereingliederung rechtlich unmöglich.32 Die Erteilung einer Lizenz oder einer Spielberechtigung für eine bestimmte Liga erfolgt immer nur für das jeweilige Spieljahr (siehe etwa §§ 1 Nr. 4, 10 Nr. 1 lit. a) DFL-Lizenzierungsordnung sowie Anhang 1 Nr. 2.1 zur Spielordnung des Norddeutschen Fußballverbands). Sie ist verbandsrechtlich an sportliche und andere, insbesondere 28
BGH Hinweisbeschluss vom 10. 12. 2019 – II ZR 417/18, SpuRt 2020, 185 (188). BGH Hinweisbeschluss vom 10. 12. 2019 – II ZR 417/18, SpuRt 2020, 185 (187). 30 OLG Bremen vom 30. 11. 2014 – 2 U 44/18, NJOZ 2019, 1340 unter II 2 b. 31 BGH vom 24. 4. 2020 – II ZR 417/18, SpuRt 2020, 189 unter Bezugnahme auf seinen ausführlich begründeten Hinweisbeschluss vom 10. 12. 2019 – II ZR 417/18, SpuRt 2020, 185. 32 OLG Bremen vom 30. 11. 2018 – 2 U 44/18, NJOZ 2019, 1340 unter II 2 b. 29
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wirtschaftliche Voraussetzungen geknüpft, die der Sicherung des Wettbewerbs dienen. Im Fall SV Wilhelmshaven ergeben sich diese Voraussetzungen aus § 6 Abs. 1 der Spielordnung des Norddeutschen Fußballverbands in Verbindung mit den Anhängen 1 bis 4 dieser Spielordnung. Wenn der zwangsweise abgestiegene Verein wie der SV Wilhelmshaven in der Zwischenzeit von der Regionalliga in die 7. Liga „durchgereicht“ wurde, erfüllt er diese Voraussetzungen für die Regionalliga jetzt nicht mehr. Eine Wiedereingliederung in die frühere Liga wäre deshalb verbandsrechtlich nicht möglich, selbst wenn dem Grunde nach ein solcher Anspruch bestehen würde. bb) Eingliederung in die nächsthöhere Liga Eine Eingliederung des zwangsweise abgestiegenen Vereins in die nächsthöhere Liga, im Fall des SV Wilhelmshaven also ein „Zwangsaufstieg“ von der Bezirksliga in die Landesliga, scheidet ebenfalls aus verschiedenen Gründen aus.33 Erstens wäre auch das keine Naturalrestitution; denn die Teilnahme am Spielbetrieb der nächsthöheren Liga ist nicht der Zustand, der ohne den Zwangsabstieg bestehen würde. Zweitens fehlt es an den verbandsrechtlichen Voraussetzungen zumindest im Hinblick auf die sportliche Qualifikation, um eine Spielberechtigung für die nächsthöhere Liga zu erhalten. Drittens wäre der Antragsgegner für die Erteilung einer Spielerlaubnis in der nächsthöheren Liga möglicherweise gar nicht zuständig. Im Fall des SV Wilhelmshaven könnte nicht der für den Zwangsabstieg verantwortliche Norddeutsche Fußballverband eine Spielerlaubnis für die Landesliga erteilen, sondern allenfalls der Niedersächsische Fußballverband. Das ist nämlich derjenige Landesverband im Norddeutschen Fußballverband, der die Spielberechtigung für die Landesliga erteilt, in die der SV Wilhelmshaven einzugliedern wäre. Der Niedersächsische Fußballverband ist aber nicht der richtige Anspruchsgegner. b) Geldersatz Somit bleibt nur ein Schadensersatzanspruch, der auf Geldzahlung gerichtet ist. Da die Naturalrestitution, nämlich die Eingliederung in den Spielbetrieb der früheren Liga für die Spielzeit nach dem Zwangsabstieg, schon wegen Zeitablaufs nicht möglich ist, hat der Verband den zwangsweise abgestiegenen Verein in Geld zu entschädigen (§ 251 Abs. 1 BGB). Die Schwierigkeit liegt hier in der Bemessung des ersatzfähigen Schadens. Der in Geld messbare Vermögensschaden des Vereins hängt von der hypothetischen sportlichen und wirtschaftlichen Entwicklung ohne den Zwangsabstieg ab. Diese Entwicklung ist aber ungewiss. Folglich lässt sich auch die Höhe des Schadens nicht bestimmen. Für die Schadenshöhe ist der geschädigte Verein darlegungs- und beweispflichtig.34 Zwar mögen einzelne Schadenspositionen unter Um33 Ebenso Orth vom 22. 9. 2016 unter https://www.janforth.de/sv-wilhelmshaven-die-vor laeufigen-faq/ (zuletzt abgerufen am 27. 7. 2020). 34 MüKoBGB/Oetker (Fn. 24), § 249 Rn. 480.
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ständen bestimmbar sein. Dabei ist etwa an weggefallene Sponsorengelder zu denken, wenn Sponsoren nachweislich wegen des Zwangsabstiegs ihr Engagement zurückgezogen haben. Aber wie die Entwicklung der Einnahmen vor allem aus TVÜbertragungsgeldern, Ticketverkäufen und Merchandising sowie die Entwicklung der Ausgaben hypothetisch verlaufen wäre, dürfte sich im Zweifel nicht einmal nach § 287 ZPO schätzen lassen. IV. Fazit Das Fazit fällt für die von einem nichtigen Zwangsabstieg betroffenen Vereine ernüchternd aus. In sportlicher Hinsicht lässt sich der Zwangsabstieg nicht durch Wiedereingliederung in die frühere oder jedenfalls eine höhere Liga rückgängig machen. Ein auf Geldzahlung gerichteter Schadensersatzanspruch steht dem Verein schon dem Grunde nach nur dann zu, wenn er die haftungsausfüllende Kausalität zwischen dem Zwangsabstieg und seiner jetzigen, schlechteren Vermögenslage darlegen kann. Aber selbst dann führt der Schadensersatzanspruch kaum zu einem angemessenen Ausgleich, weil die Höhe des ersatzfähigen Vermögensschadens, der gerade durch den Zwangsabstieg verursacht wurde und nicht auch aus anderen Gründen entstanden wäre, kaum substantiiert dargelegt werden kann. Deshalb spricht viel dafür, dass Verein und Verband nach einer einvernehmlichen Lösung suchen. Diese könnte in einer pauschalen finanziellen Entschädigung des Vereins liegen, mit deren Hilfe dieser die Grundlage für einen sportlichen Wiederaufstieg schaffen kann.35 Ganz ungewöhnlich sind solche pauschalen Entschädigungen für ein im Verantwortungsbereich des Verbands liegendes schadensersatzrelevantes Verhalten nicht. So soll etwa der Hamburger SV zum Ausgleich dafür, dass er im Rahmen des DFB-Pokals ein Spiel gegen den SC Paderborn 07 aufgrund von mehreren bewusst falschen Entscheidungen des damaligen Schiedsrichters Robert Hoyzer verloren hatte, als Entschädigung vom DFB einen Betrag von 500.000 Euro sowie die Einnahmen von etwa 1,5 Millionen Euro aus einem Länderspiel der deutschen Nationalmannschaft erhalten haben, das im Volksparkstadion in Hamburg ausgetragen wurde.36
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Zu dieser Möglichkeit schon Walker, LMK 2016, 384727. So die Angaben bei Wikipedia zu „Fußball Wettskandal 2005“ unter https://de.wikipedia. org/wiki/Fußball-Wettskandal_2005 (zuletzt abgerufen am 24. 7. 2020). 36
Die Coronakrise und das öffentliche Recht Anlass zum Nachdenken über Begriffe und Grundsätze Von Heinrich de Wall Die Corona-Pandemie und die Versuche, ihr Herr zu werden, stellen das Rechtssystem vor große Herausforderungen. Das gilt nicht nur für die Anwendung des Infektionsschutzrechts durch die Verwaltung, die unmittelbar mit der Bewältigung der Krise beschäftigt ist. Vielmehr gibt es, wie bereits schnell nach dem Ausbruch der Pandemie deutlich wurde, Anlass, grundsätzlicher nachzudenken und auch nach erforderlichen Anpassungen der rechtlichen Grundlagen für die nötigen Maßnahmen zu fragen. Die sehr rasch nach Ausbruch der Krise erforderlich gewordene und durchgeführte Änderung des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) ist ein Beispiel dafür. Solchen Reflektions- und gegebenenfalls Änderungsbedarf gibt es nicht nur, aber vor allem im öffentlichen Recht. Das ist schon deshalb evident, weil vielfältige Maßnahmen zur Bewältigung der Krise von Behörden auf öffentlich-rechtlicher Grundlage, insbesondere dem IfSG, angeordnet wurden. Die Krise ist die Stunde der Exekutive – und sie gibt Anstoß, besonders über das Recht eben dieser Exekutive nachzudenken. Die Fragestellungen sind vielfältig. Auch dies ist bereits früh deutlich geworden und wurde auch thematisiert.1 Zu den Auswirkungen der Krise gehört, dass Maßnahmen, die im Normalfall der Gesetzgeber zu regeln berufen ist, durch Verordnung oder gar durch Allgemeinverfügung angeordnet wurden. Dazu gehört auch, dass der Verwaltungsrechtsschutz sich in noch größerem Maße als ohnehin schon auf den Eilrechtsschutz verlagert hat – Ergebnis der ebenso weitreichenden wie kurzfristig angeordneten und angesichts sich wandelnder Erkenntnisse und Entwicklungen in rascher Folge befristeten und geänderten Bestimmungen. Eine wichtige Frage, die als Erkenntnis aus der Krisenbewältigung aufzuwerfen und zu diskutieren sein wird, ist u. a., wie die Interessen von mit der Kinderbetreuung „belasteten“ Familien, von Kindern selbst, insbesondere Schülern, und von Alten- und Pflegebedürftigen nicht nur materiell besser berücksichtigt werden, sondern auch durch Repräsentanz in den politischen und Verwaltungsverfahren deutlicher zur Geltung gebracht werden können.2 Es gibt also genügend Anlass zum Nachdenken. Dabei sei freilich die Einschät1
Treffend ist die Formulierung, dass das Verwaltungsrecht sich im Krisenmodus befindet, s. Siegel, Verwaltungsrecht im Krisenmodus, NVwZ 2020, 577. 2 Es ist jedenfalls bezeichnend, dass die zuständige Bundesministerin nicht zum sogenannten („kleinen“) Coronakabinett gehörte, obwohl die von ihr politisch besonders zu Be-
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zung vorausgeschickt, dass die politische und exekutive Handhabung der Pandemie bisher bemerkenswerte Qualität aufweisen. Insbesondere ist die Besonnenheit hervorzuheben, mit der Politik und Verwaltung agiert haben. Von Versuchen, die Krise zur eigenen Profilierung zu nutzen, von aktionistischer Überreaktion oder von voreingenommener Leugnung der Erkenntnisse von Wissenschaft und Praxis der beteiligten Disziplinen war bei den verantwortlich Handelnden erfreulich wenig zu bemerken. Von den zahlreichen Fragen, die sich in diesem Zusammenhang für das öffentliche Recht stellen, möchte ich zwei herausgreifen: Anlass zum Nachdenken über verfassungs- und verwaltungsrechtliche Begriffe und deren Verständnis – und gegebenenfalls über Änderungen der rechtlichen Grundlagen – bieten die Ausgangsbeschränkungen und Quarantänen oder, im neuen Sprachgebrauch des IfSG „Absonderungen“, die im Zusammenhang mit der Coronakrise angeordnet wurden. Das gilt insbesondere, wenn man sich vor Augen führt, dass „Ausgangssperren“ in der Vergangenheit als mit der Rechtsordnung in Deutschland unvereinbar eingestuft wurden.3 Angesichts der großen Bedeutung, die der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht nur in gerichtlichen Entscheidungen, sondern auch in der öffentlichen Diskussion gespielt hat und nach wie vor spielt, soll auch über diesen Grundsatz und seine Anwendung nachgedacht und auf Besonderheiten der Coronadiskussion hingewiesen werden. I. „Lockdown“, Ausgangsbeschränkungen und Quarantänen 1. Ausgangsbeschränkungen als Freiheitsbeschränkungen? Die Länder haben mit unterschiedlichen, aber im Ergebnis ähnlich wirkenden Maßnahmen versucht, durch einen „Lockdown“ des öffentlichen Lebens die Ausbreitung des Coronavirus’ einzudämmen. Während die meisten Länder durch auf §§ 28, 32 IfSG gestützte Verordnungen – vorbehaltlich von Ausnahmen – die Kontaktaufnahme von Bürgern untereinander untersagt haben, haben andere Bundesländer auf derselben Grundlage Ausgangsbeschränkungen verhängt: Danach war es den Bürgern untersagt, ihre Wohnung zu verlassen. Freilich waren auch davon von vornherein Ausnahmen vorgesehen: Zur Berufsausübung, zum Einkaufen, zu „Sport und Bewegung an der frischen Luft“ sowie aus anderen triftigen Gründen durfte die Woh-
denkenden zu den Hauptleidtragenden der Maßnahmen gehörten. – Das kleine Coronakabinett besteht aus Bundeskanzlerin, Bundesforschungsministerin, Bundesinnenminister, Außenminister, Gesundheitsminister, Verteidigungsministerin und Kanzleramtschef, s. Deutsches Ärzteblatt, 2. April 2020 (https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/111660/Bundesregierungmit-neuer-Arbeitsstruktur, 28. 7. 2020). 3 Wittreck, Freiheit der Person, in: Josef Isensee/ Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 2009, § 151 Rdnr. 20.
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nung verlassen werden.4 Diese Ausgangsbeschränkungen werfen spezifische juristische Probleme auf, insbesondere im Hinblick auf Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG, dem Grundrecht der Freiheit der Person, und auf die dieses Grundrecht sichernden Regelungen des Art. 104 GG: den besonderen Gesetzesvorbehalt in Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG sowie den Richtervorbehalt des Art. 104 Abs. 2 GG. Aus dem Zusammenhang dieser Vorschriften ergibt sich, dass „Freiheit der Person“ i. S. v. Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG deren körperliche Bewegungsfreiheit meint. Wenig überzeugend erscheint es, diese Ausgangsbeschränkungen als Freiheitsentziehungen im Sinne des Art. 104 Abs. 2 GG zu behandeln.5 Der Vergleich eines mit großzügigen Ausnahmen versehenen Verbots, die eigene Wohnung zu verlassen – bei dem sowohl tägliche Spaziergänge als auch der Gang zum täglichen Einkauf ebenso gestattet waren wie das Aufsuchen der Arbeitsstätte – mit einer Freiheitsentziehung in einer Haftanstalt oder im polizeilichen Gewahrsam, dem Standardfall des Art. 104 Abs. 2 GG, sollte eigentlich ausreichen, um zu erkennen, dass die Ausgangsbeschränkungen und der Freiheitsentzug im Sinne des Art. 104 Abs. 2 GG wenig miteinander zu tun haben.6 Jeder Strafgefangene würde sich nach den Entfaltungsmöglichkeiten der Ausgangsbeschränkungen sehnen. Demgemäß geht auch eine Argumentation fehl, nach der wegen der (vermeintlichen) Nähe der Ausgangssperre zur Freiheitsentziehung die Frist für die Einschaltung des Richters nach Art. 104 Abs. 2 GG ein Hinweis auf die höchst zulässige Dauer einer solchen Maßnahme sein soll.7 Sie verkennt, dass diese Frist dem Richtervorbehalt dient und ihn sichert, aber keinen Bezug zur zulässigen Dauer der Freiheitsentziehung hat. Über die Bestimmung des Schutzbereiches des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG und über die Abgrenzung der unterschiedlichen Arten von Eingriffen in die Freiheit der Person – der bloßen Freiheitsbeschränkung einerseits und der Freiheitsentziehung andererseits – bestehen freilich erhebliche Unsicherheiten und Diskussionen.8 Das Bundesverfassungsgericht hat in einer schon älteren Entscheidung einen Eingriff in das Grundrecht der körperlichen Bewegungsfreiheit vom unmittelbaren Zwang abhängig gemacht, mit dem die Bewegungsfreiheit eingeschränkt wird: Danach schützt Art. 104 GG „die körperliche Bewegungsfreiheit vor Verhaftung,
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S. z. B. § 1 Abs. 4 u. 5 der Bayerischen Verordnung über eine vorläufige Ausgangsbeschränkung anlässlich der Corona-Pandemie vom 24. 3. 2020 (https://www.verkuendung-bay ern.de/files/baymbl/2020/130/baymbl-2020-130.pdf (30. 7. 2020). 5 Schmitt, Die Verfassungswidrigkeit der landesweiten Ausgangsverbote, NJW 2020, 1626 (1627); s. a. Wittreck (Fn. 4), Rn. 20. 6 S. a. Ziekow, Die Verfassungsmäßigkeit von sogenannten „Ausgangssperren“ nach dem Bundesinfektionsschutzgesetz, DVBl. 2020, 732 (734). 7 Schmitt (Fn. 5), S. 1627, 1629. 8 S. dazu z. B. Wittreck (Fn. 4), Rn. 17 ff.; Gusy, Christoph, in: Hermann v. Mangoldt/ Friedrich Klein/Christian Starck (Hrsg.), GG Kommentar, 7. Aufl. 2018, Art. 104 Rn. 17 ff.; Radtke, Henning, in: Volker Epping/Christian Hillgruber (Hrsg.), Beck’scher Online Kommentar zum GG, 43. Edition Stand: 01. 12. 2019, Art. 104 Rn. 1 – 5.
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Festnahme und ähnlichen Eingriffen, also vor unmittelbarem Zwang“9. Entschieden wurde darüber, ob die Vorladung zu einem Verkehrsunterricht nach § 6 StVO Grundrechte verletze, insbes. mit Art. 104 Abs. 1 GG vereinbar sei. „Durch die Vorladung zu einem Verkehrsunterricht wird“, so das Bundesverfassungsgericht, „in die körperliche Bewegungsfreiheit nicht mit unmittelbarem Zwang eingegriffen. Erst die zwangsweise Vorführung oder die Verurteilung zu einer Haftstrafe wegen der Nichtbeachtung der Vorladung wäre ein solcher Eingriff und dürfte nach Art. 104 Abs. 1 GG nur auf Grund eines förmlichen Gesetzes geschehen“.10 Eingriffe in die körperliche Bewegungsfreiheit liegen danach also nur dann vor, wenn die Bewegungsfreiheit von unmittelbarem staatlichen Zwang bedroht wird. Nur in solchen Fällen soll der Gesetzesvorbehalt des Art. 104 Abs. 1 GG eingreifen. Die Unterscheidung zwischen einer solchen bloßen Beschränkung der körperlichen Bewegungsfreiheit und der Freiheitsentziehung erfolgt dann auf der Grundlage der erhöhten Eingriffsintensität letzterer, die sowohl in zeitlicher, also auch in räumlicher und sachlicher Ebene bestehen muss. Eine Freiheitsentziehung liegt danach dann vor, „wenn die tatsächlich und rechtlich gegebene körperliche Bewegungsfreiheit der Person nach allen Seiten hin aufgehoben wird“,11 und zwar für eine nicht nur kurzfristige Dauer.12 Diese Begriffsbestimmungen werden nun im einschlägigen Schrifttum zum Teil befürwortet, zum Teil aber auch durch andere Abgrenzungen ersetzt, etwa indem darauf abgestellt wird, dass eine Beschränkung der Bewegungsfreiheit dann keine Freiheitsentziehung sei, wenn sie der Durchsetzung einer anderen staatlichen Maßnahme dient, etwa der der Schulpflicht oder der Vorführung vor Gericht.13 Nach diesem Kriterium könnten Ausgangsbeschränkungen allerdings als Freiheitsentziehung zu bewerten sein – denn sie dienen ja nicht der Durchsetzung einer anderen staatlichen Maßnahme, sondern gerade dazu, dass die Menschen ihre Wohnung nicht oder möglichst wenig verlassen. Indes wird auch nach dieser Auffassung zusätzlich verlangt, dass die Möglichkeit, den Aufenthaltsort zu verlassen, ausgeschlossen wird.14 Unter Heranziehung der verfassungsgerichtlichen Kriterien wird man zu dem Ergebnis gelangen, dass die durch einige Bundesländer angeordneten Ausgangsbeschränkungen selbst allenfalls „einfache“ Beschränkungen der Freiheit der Person sind, wenn man sie angesichts des Fehlens unmittelbaren Zwangs der Anordnung im Verordnungswege überhaupt als Eingriff in die Freiheit der Person werten möchte. Jedenfalls handelt es sich nicht um Freiheitsentziehungen. Denn die körperliche Bewegungsfreiheit wird nicht nach allen Seiten hin (vollständig) aufgehoben, wenn man zu unterschiedlichen Zwecken seine Wohnung verlassen darf. Diese Maßnah9
BVerfGE 22, 21 (26), s. a. BVerfG, NJW 2018, 2619 Rn. 65. BVerfGE 22, 21 (26). 11 BVerfGE 94, 166 (198); 105, 239 (248). 12 BVerfGE 105, 239 (250), BVerfG, NJW 2018, 2619 Rn. 67. 13 S. etwa Gusy (Fn. 8), Art. 104 Rn. 23 f. 14 Gusy (Fn. 8), Art. 104 Rn. 23. 10
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men unterliegen daher, abgesehen von dem allgemeinen Grundrechtsschranken, nicht dem Richtervorbehalt des Art. 104 Abs. 2, sondern allenfalls dem besonderen Gesetzesvorbehalt des Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG. Ob diesem durch §§ 28, 30, 32 IfSG in hinreichender Bestimmtheit genügt wird, soll hier nicht weiter problematisiert werden. 2. Quarantäne als Freiheitsentzug? Auch bei Berücksichtigung der engen Bestimmung des Anwendungsbereichs der besonderen Anforderungen an freiheitsentziehende Maßnahmen im Sinne von Art. 104 Abs. 2 GG durch das Bundesverfassungsgericht, wonach nur die mit unmittelbarem Zwang bewirkte Aufhebung der körperlichen Bewegungsfreiheit nach allen Seiten hin und für mehr als eine geringe Zeitspanne eine Freiheitsentziehung ist, geben aber andere Maßnahmen der letzten Monate zu denken – nämlich die auf der Grundlage von § 28 IfSG oder § 30 IfSG angeordneten Quarantänen bzw. „Absonderungen“ für Infektionsverdächtige.15 Bei solchen Quarantänen wird demjenigen, bei dem der Verdacht einer Infektion mit dem Coronavirus besteht, für eine bestimmte Zeit (angeordnet werden etwa durch die entsprechende Bayerische Rechtsvorschrift bis zu 14 Tagen16) untersagt, seine Wohnung zu verlassen und innerhalb der Wohnung Kontakt mit anderen aufzunehmen. Zwar ist immerhin ein Aufenthalt im Garten oder auf dem Balkon einer Wohnung gestattet.17 Aber man wird wohl doch zu der Einschätzung kommen müssen, dass mit einer solchen Maßnahme die körperliche Bewegungsfreiheit nach allen Seiten hin aufgehoben werden soll und dies auch für eine erhebliche Dauer. Zwar scheint es zunächst für die Einstufung als Freiheitsentziehung am unmittelbaren Zwang zu fehlen. Jedenfalls bei der Vollstreckung einer Quarantäneanordnung mit körperlichen Zwangsmitteln würde aber eine Freiheitsentziehung vorliegen – die mit unmittelbarem staatlichen Zwang durchgesetzte Aufhebung der körperlichen Bewegungsfreiheit nach allen Seiten hin über einen erheblichen Zeitraum. Auch § 30 Abs. 2 IfSG folgt dieser Begriffslogik. Danach ist derjenige, der einer seine Absonderung betreffenden Anordnung nicht nachkommt, „zwangsweise durch Unterbringung in einem abgeschlossenen Krankenhaus oder einem abgeschlossenen 15 Auch insofern soll auf die einfachrechtliche Frage nicht eingegangen werden, ob angesichts der Systematik der (äußerst unübersichtlichen) §§ 28, 30 Abs. 1, und Abs. 2 IfSG für eine Quarantäne bzw. „Absonderung“ § 28 IfSG überhaupt als Grundlage in Frage kommt. Wenn man das mit guten Gründen verneint, käme die zwangsweise Durchführung einer Quarantäne nur auf der Grundlage von § 30 Abs. 2 IfSG und daher nur in einem Krankenhaus oder in einer anderen geeigneten abgeschlossenen Einrichtung in Betracht. 16 Nr. 2.1.1 der Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege vom 7. 5. 2020, Az. G54e-G8390-2020/1277-1, geändert durch Bekanntmachung vom 25. 6. 2020, Az. GZ6a-G8000-2020/122-383 und durch Bekanntmachung vom 29. 7. 2020, Az. G7VZ8000 – 2020/122 – 487 (https://www.stmgp.bayern.de/wp-content/uploads/2020/07/ 2020_07_30_konsolidierte_lesefassung_av_isolation_von_kontaktpersonen.pdf) (30. 7. 2020). 17 S. Nr. 2.3 der in Fn. 16 genannten Bekanntmachung.
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Teil eines Krankenhauses abzusondern. (…) Das Grundrecht der Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 Grundgesetz) kann insoweit eingeschränkt werden. Buch 7 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit gilt entsprechend.“ Die zwangsweise Durchsetzung einer Absonderung wird hier als Freiheitsentziehung behandelt und konsequenterweise die Anwendbarkeit der Vorschriften des FamFG über das Verfahren in Freiheitsentziehungssachen angeordnet, die den Richtervorbehalt des Art. 104 Abs. 2 GG umsetzen. Nun haben Fernsehbilder zu an verschiedenen Orten über größere Wohngebäude für alle Einwohner angeordneten Quarantänen, etwa in Göttingen, durchaus den Eindruck vermittelt, dass diese Maßnahmen mit unmittelbarem Zwang durchgesetzt wurden. So waren Absperrungen zu sehen und Polizeibeamte, die das Ausbrechen von Personen aus ihren Wohnungen verhinderten. Legt man diese, zugegeben durch die Brille der Fernsehberichterstattung gesehene, Beobachtung zugrunde, ist eine Einstufung dieser Maßnahmen als Freiheitsentziehungen keineswegs abwegig. Die mit unmittelbarem Zwang durchgesetzte Vollziehung einer amtlich angeordneten Quarantäne wird man als Freiheitsentziehung einstufen müssen. 3. Richtervorbehalt für Zwangsquarantäne? Dies hätte zur Folge, dass für sie der Richtervorbehalt des Art. 104 Abs. 2 GG anwendbar ist, sodass unverzüglich die richterliche Entscheidung über Zulässigkeit und Fortdauer herbeizuführen wäre. Dieses Ergebnis ist bei einem möglichen massenweisen Anfall von entsprechenden mit unmittelbarem Zwang durchgesetzten Quarantäneanordnungen, ausgesprochen unpraktisch. Denn dann müsste, wenn alle Bewohner eines größeren Wohnblocks dazu gezwungen werden sollen, ihre Wohnungen nicht zu verlassen und dafür auch Polizeibeamte vor Ort eingesetzt werden, für jeden Bewohner eine richterliche Anordnung eingeholt werden. Dies ließe sich nur umgehen, wenn man die häusliche Quarantäne aus dem Begriff der Freiheitsentziehung ausschließen würde – oder indem man das Grundgesetz ändert. Als Kriterien des begrifflichen Ausschlusses der Quarantäne von der Freiheitsentziehung käme freilich allenfalls in Betracht, dass man Maßnahmen, die in der eigenen Wohnung des Betreffenden stattfinden, nicht als Freiheitsentziehung betrachtet. Das ist wenig überzeugend. Der in anderen Rechtsordnungen geläufige, staatlich angeordnete Hausarrest wird nämlich zum einen zu Recht als Freiheitsentziehung angesehen.18 Überdies würde es dem Gesetzgeber die Möglichkeit verschaffen, einseitige Beschränkungen der Bewegungsfreiheit ohne obligatorische gerichtliche Kontrolle zu ermöglichen und damit rechtsstaatliche Grundstandards für Einschränkungen der Freiheit der Person aufzugeben. Diskussionswürdig erscheint es demgegenüber, die Europäische Menschenrechtskonvention zum Maßstab für eine Änderung des Grundgesetzes zu nehmen. 18 Zur EMRK siehe Meyer-Ladewig/Harrendorf/König, in: Jens Mayer-Ladewig/Martin Nettesheim/Stefan v. Raumer (Hrsg.), EMRK, Handkommentar, Art. 5 Rn. 10.
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Nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. e, Abs. 4 EMRK kann eine „Freiheitsentziehung mit dem Ziel, eine Verbreitung ansteckender Krankheiten zu verhindern“ rechtmäßig sein, und zwar ohne dass sie dem Art. 104 Abs. 2 GG entsprechenden strengen Richtervorbehalt des Art. 5 Abs. 3 EMRK unterworfen ist. Allerdings hat nach Art. 5 Abs. 4 EMRK der Betroffene „das Recht zu beantragen, dass ein Gericht innerhalb kurzer Frist über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung entscheidet und (seine) Entlassung anordnet, wenn die Freiheitsentziehung nicht rechtmäßig ist“. Im Unterschied zu Art. 104 Abs. 2 GG ist also eine richterliche Entscheidung nicht ausnahmslos nötig, sondern muss nur auf Antrag erfolgen. Außerdem ermöglicht die verlangte „kurze Frist“19 größere Flexibilität als die strenge Vorschrift des Art. 104 Abs. 2 GG, wonach eine richterliche Entscheidung unverzüglich, spätestens aber am Tage nach dem „Ergreifen“ der Person erfolgen muss. Es erscheint mir diskutierenswert, Art. 104 Abs. 2 GG entsprechend zu ergänzen, um gegenüber einer Vielzahl von Personen Maßnahmen, die Freiheitsentziehungen beinhalten, zu ermöglichen und im Zweifel zwangsweise durchsetzen zu können, wenn dies erforderlich ist, um die Verbreitung ansteckender Krankheiten zu verhindern. Man könnte das Grundrecht der Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG zum Schutz vor dem Missbrauch solcher Maßnahmen auch verfahrensmäßig absichern, indem man sie von der vorherigen Feststellung einer entsprechenden epidemischen Lage durch das Parlament nach Vorbild von § 5 IfSG abhängig macht. Leider hat aber die Corona-Krise auch verdeutlicht, dass man zwar auf die Vernunft des weit überwiegenden Teils der Bevölkerung setzen kann, dass aber auch eine nicht unerhebliche Zahl von Bürgern die erforderliche Vernunft und Solidarität mit den Mitmenschen nicht aufzubringen bereit ist. Dagegen vorzubauen und für die Durchsetzungsfähigkeit von Quarantänemaßnahmen die erforderlichen rechtlichen Weichen zu stellen, scheint mir nur vernünftig zu sein. II. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zwischen rechtsstaatlichem Individualrechtsschutz und Besserwisserei? Nicht nur in zahlreichen Gerichtsentscheidungen, die, meistens im einstweiligen Rechtschutz, zur Rechtmäßigkeit der Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus’ ergangen sind, hat der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Grenze staatlichen Handelns entscheidende Bedeutung.20 Vielmehr spielt er auch in der öffentlichen Diskussion um die Corona-Schutzmaßnahmen eine herausragende Rolle. Dabei 19 So sind im Fall Herz/Deutschland, EGMR 12. 6. 2003 – 44672/98; Rn. 73 elf Tage als unbedenklich angesehen worden, s. Meyer-Ladewig/Harrendorf/König (Fn. 18), Art. 5 Rdnr. 102. 20 Siehe etwa BVerfG, Beschl. vom 10. April 2020 – 1 BvQ 28/20, Rn. 14; BayVGH, NVwZ 2020, 632 (Nr. 15, 25); OVG Berlin-Brandenburg NJW 2020, 1752; OVG NW, Beschl. vom 6. 7. 2020 – 13 B 940/20.NE (Pressemitteilung vom 6. 7. 2020); VG Regensburg, Beschl. v. 17. 6. 2020 – RO 14 S. 20.1002, S. 10 ff.
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versteht es sich nahezu von selbst, dass in der öffentlichen, nicht juristischen Diskussion der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht in seinem spezifisch juristischen Sinn mit seinen differenzierten Prüfungspunkten und Entscheidungskriterien verwendet wird, sondern vielmehr der vermeintlichen Rationalisierung von Gefühlslagen dient. Dass auch in juristischen Diskursen bisweilen manches an juristischer Substanz durch Überspitzungen, sich von dem eigentlich Gemeinten verselbständigende Formulierungen und rhetorischen Girlanden verdeckt wurde, ist angesichts der beispiellosen und unsicheren Sach- und Erkenntnislage und der Schwere der ergriffenen Maßnahmen verständlich. Hier soll nicht zu einzelnen mehr oder weniger geglückten Äußerungen über Verhältnismäßigkeiten und Unverhältnismäßigkeiten der Corona-Maßnahmen Stellung genommen werden.21 Vielmehr möchte ich auf einige Eigenarten und Konsequenzen der Diskussion hinweisen. Typischerweise erfolgt die Prüfung, ob eine staatliche Maßnahme dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügt, in vier Punkten: Zuerst wird danach gefragt, ob sie einen legitimen Zweck verfolgt, sodann ob sie zur Förderung dieses Zweckes geeignet ist, drittens ob sie von mehreren gleich geeigneten Mitteln dasjenige ist, das den geringstmöglichen Eingriff in die Rechte der Betroffenen enthält, und ob die Schwere der mit der Maßnahme bewirkten Beeinträchtigung nicht außer Verhältnis zum erstrebten Zweck steht. Einzelheiten der Formulierung dieser einzelnen Prüfungspunkte, die unter den Schlagworten Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne oder Angemessenheit zusammengefasst werden, sollen hier nicht diskutiert werden. Allerdings sei darauf hingewiesen, dass für die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne bewusst die negative Formulierung gewählt wurde, wonach eine Maßnahme dann dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entspricht, wenn sie nicht außer Verhältnis zum erstrebten Zweck steht. Diese negative Formulierung verdeutlicht nämlich, dass es nicht darum gehen kann, bei der Überprüfung einer Maßnahme die eigene Einschätzung an die Stelle der für die Anordnung berufenen Behörde zu stellen, sondern, dass diese Maßnahme nur dann aufzuheben ist, wenn sich deren Bewertung als nicht vertretbar erweist. Das ist umso wichtiger angesichts von Anordnungen, die auf eine unsichere Faktenlage und auf Prognosen der weiteren Entwicklung gestützt werden müssen, wie das in der Corona Pandemie der Fall war und nach wie vor ist. Auf diese Weise wird verhindert, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zum Instrument der Besserwisserei mutiert, das rechtmäßiges behördliches Handeln zum Glücksspiel werden lässt. Glücklicherweise ist die Rechtsprechung dieser Gefahr nicht erlegen, sondern haben die Gerichte den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz mit der nötigen Zurückhaltung angewendet, der den handelnden Behörden den nötigen Entscheidungsspielraum belässt.
21
Siehe dazu etwa Hase, Corona-Krise und Verfassungsdiskurs, JZ 2020, 697 (699 ff.).
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1. Beurteilungsspielraum nicht nur beim Gesetzgeber Eine der Begründungen für die richterliche Zurückhaltung bei der Bewertung der behördlichen Maßnahmen bestand in der zutreffenden Aussage, dass den Behörden bei der Einschätzung der Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit der Maßnahme ein Beurteilungsspielraum bzw. eine Einschätzungsprärogative zukomme.22 Dieser wurde nicht auf den parlamentarischen Gesetzgeber beschränkt, wo zu seiner Begründung auch die besondere demokratische Legitimation des Parlaments angeführt werden kann. Richtig wurde gesehen, dass auch dem Verordnungsgeber ein solcher Einschätzungsspielraum zukommt.23 Dabei ist in Rechnung zu stellen, dass die Verordnungskompetenz im Infektionsschutzgesetz dem Verordnungsgeber die Befugnis zu einschneidenden Maßnahmen für den Krisenfall einräumt, die im Normalfall der Gesetzgeber treffen würde, aber im Krisenfall nicht hinreichend rasch treffen kann. Die erforderliche Bindung des Verordnungsgebers kann und muss durch die hinreichende Bestimmtheit der Verordnungsermächtigung nach Inhalt, Zweck und Ausmaß i. S. v. Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG gewährleistet werden. Für die Einschätzung der Sachlage im konkreten Krisenfall und die zu deren Bewältigung erforderlichen Maßnahmen muss aber der Verordnungsgeber ebenso eine Einschätzungsprärogative haben, wie sie dem Gesetzgeber zugebilligt wird, an dessen Stelle er handelt und handeln muss. Aber auch bei Einzelmaßnahmen oder Allgemeinverfügungen kann die Rechtmäßigkeit einer Maßnahme nicht davon abhängen, dass das Gericht im Nachhinein die Einschätzung der handelnden Behörde durch seine eigene ersetzt. Da es sich bei den betreffenden Maßnahmen um Ermessensentscheidungen handelt, sind sie eben auch nur auf die Einhaltung der Grenzen des Ermessens nachprüfbar und wäre es nicht überzeugend, auf dem Wege einer strikten Interpretation des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes das durch den Gesetzgeber eingeräumte Ermessen zu beseitigen. Zwar ist man hinterher immer schlauer und sind die Gerichte in der bequemen Position, später urteilen zu dürfen. Die Entscheidungsmöglichkeiten der Verwaltung an der Elle der späteren besseren Erkenntnis zu messen, würde die Gefahrenabwehr im Allgemeinen und eine effektive Bekämpfung der Pandemiegefahren im Besonderen erheblich beeinträchtigen. Die Gerichte sind, wie gesagt, den Fallstricken bei der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes entgangen und haben Vernunft walten lassen, ohne ihre Aufgabe des rechtsstaatlichen Individualrechtschutzes zu vernachlässigen. In diesem Sinne haben sie auch die Grenzen des Verwaltungshandelns mit Augenmaß verdeutlicht.
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Siehe etwa BayVGH, BayVBl. 2020, 485; OVG Berlin-Brandenburg, NJW 2020, 1752; Ziekow (Fn. 6), 738. 23 Siehe etwa BayVGH BayVBl. 2020, 486 (N. 23); OVG Berlin-Brandenburg, NJW 2020, 1752; Ziekow (Fn. 6), 738.
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2. Einzelfälle und -aspekte So ist es überzeugend, dass bei Anordnungen mit erheblicher Eingriffsintensität, aber auf unsicherer Erkenntnisgrundlage, die fortlaufende Überprüfung der behördlichen Maßnahmen und ihre Befristung gefordert werden.24 Allerdings ist auch dabei zu bedenken, dass die Befristung sich notwendigerweise aus ex-ante Perspektive an Prognosen über die Geschwindigkeit der Entwicklung und der daraus zu ziehenden Erkenntnisse orientiert, wie sie in der Vergangenheit gewonnen worden sind. Wenn etwa nach den zugrundeliegenden medizinischen Erkenntnissen zu erwarten ist, dass zwischen dem Zeitpunkt einer möglichen Infektion und der endgültigen Erkenntnis, ob diese Infektion tatsächlich stattgefunden und zur Erkrankung geführt hat, bis zu 14 Tagen liegen können, so liegt eine Befristung der Maßnahmen von mindestens 14 Tagen nahe. Ob angesichts dessen die Aufhebung einer Corona-bedingten Verordnung zwei Tage vor Ablauf der in der betreffenden Maßnahme selbst angeordneten Frist von insgesamt 14 Tagen (ursprünglich 7 Tage, um 7 Tage verlängert) tatsächlich geboten war,25 darüber mag man streiten. Zu beachten ist auch, dass zwischen der auf die individuellen Rechte abstellenden Perspektive des Verwaltungsrechtsschutzes und derjenigen der die Allgemeinheit in den Blick nehmenden Schutzmaßnahmen Spannungslagen entstehen können. So ist es durchaus nachvollziehbar, wenn Gerichte in besonderen Konstellationen bei Kindertageseinrichtungen wegen der erheblichen Beschränkung der betroffenen Rechte einerseits und der Tatsache, dass die weit überwiegende Zahl von Kindern von Ausnahmeregeln erfasst und begünstigt ist, den den Kläger betreffenden Ausschluss vom Kindergarten als unverhältnismäßig aufheben.26 Dabei muss allerdings auch beachtet werden, ob solche den Individualinteressen gerecht zu werden versuchende Entscheidungen nicht Rückwirkungen auf die Stimmigkeit des Konzepts des Normgebers insgesamt haben. So ging es beispielsweise bei den Maßnahmen, die den Betrieb von Kindergärten eingeschränkt haben und aufgrund derer zahlreiche Kinder ihre Tageseinrichtung nicht besuchen durften, auch um den Schutz des Kindergartenpersonals, das möglicherweise gerade wegen der Auswirkungen der Corona-Pandemie nicht mehr in ausreichendem Maße zur Verfügung steht. Dabei kann die Verwaltungsbehörde, insbesondere wenn es um Verordnungen oder großflächige Allgemeinverfügungen geht, nicht die örtlichen Verhältnisse der einzelnen Einrichtungen im Blick haben. Ohne dass die Richtigkeit der Ergebnisse im Einzelfall angezweifelt werden muss, sollte doch bei der Beurteilung von Maßnahmen, die in ein Gesamtkonzept eingebettet sind und eine große Zahl von Betroffenen umfassen, die Rückwirkung der Aufhebung einer Einzelmaßnahme, wie dem Zutrittsverbot zu einer Kindertageseinrichtung, auf das behördliche Gesamtkonzept berücksichtigt werden.
24 BVerfG, Beschl. vom 10. 4. 2020 – 1 BvQ 28/20 –, Rn. 14; BayVGH, NVwZ 2020, 632 (Nr. 25). 25 OVG Münster, Beschl. vom 6. 7. 2020 (Fn. 20). 26 VG Regensburg, Beschl. vom 17. 6. 2020 – RO 14 S. 20.1002, S. 15 ff.
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Schließlich sollte gegenüber verständlichen Forderungen nach möglichst zielgenauen Maßnahmen27 auch darauf hingewiesen werden, dass die auf Strukturentscheidungen des Gesetzgebers beruhende Verwaltungsgliederung mit festgelegten, sachlichen und örtlichen Zuständigkeitsbereichen Maßnahmen für den jeweiligen (gesamten) Zuständigkeitsbereich der Behörden nahelegen. So sind die Länder auf der unteren Verwaltungsebene im Regelfall in Landkreise und kreisfreie Städte gegliedert und bezieht sich die Zuständigkeit der Behörden eben auf diese Einheiten. Dass bei unklarer Sachlage eine Behörde eine Maßnahme für diesen ihren gesamten Zuständigkeitsbereich erlässt, ist im Grundsatz nicht zu kritisieren. Auch die damit verbundene eigene Rationalität der Maßnahmen ist gegenüber einer Atomisierung von Entscheidungen auf untergeordnete und kleinere Räume in Rechnung zu stellen. Hier wurden nur zwei von vielen Bereichen angerissen, in denen die Maßnahmen zur Bewältigung der Coronakrise Rechtsfragen aufgeworfen haben. Sie zeigen, dass Verfassung, Gesetz und Rechtsanwendung nicht alle tatsächlichen Entwicklungen und Krisen vorhersehen können und dass daraus der Stimmigkeit von Maßnahmen, aber auch der zugrundeliegenden Normen natürliche Grenzen gesetzt sind. Das ist unvermeidlich. Daher sollte der Betrachter es vermeiden, allzu schneidig über vermeintliche Fehler bei der Rechtsetzung und -anwendung zu urteilen. Die Coronakrise hat auch gezeigt, dass das System des Verwaltungsrechtsschutzes wirksame Instrumente dagegen vorhält, dass die Handelnden sich allzu forsch über Bürgerrechte hinwegsetzen. Allerdings haben die Behörden auch keine Tendenz erkennen lassen, dass sie solches bewusst getan haben. Insofern besteht Anlass zu Zufriedenheit über das Funktionieren des Rechtssystems, aber auch Anlass, über Fortentwicklungen und Korrekturen des Rechts nachzudenken.
27 BVerfG, Beschl. vom 10. 4. 2020 – 1 BvQ 28/20 -, Rn. 14; OVG Münster, Beschl. vom 6. 7. 2020 (Fn. 20).
Der Profifußballspieler – ein „normaler“ Arbeitnehmer?1 Von Stephan Weth I. 70 Jahre Klaus Vieweg. Was zeichnet unseren Jubilar aus? Diese Frage zu beantworten, ohne über die legendären Sommerfeste zu sprechen, scheint undenkbar. Manch einem wird es so ergehen wie mir. Über viele Jahre war ein Höhepunkt des Sommers die Einladung zu Cornelia und Klaus Vieweg nach Bräuningshof zu einer Feier, die sehr viele ganz unterschiedliche Charaktere nicht nur aus Erlangen und Umgebung, sondern aus der gesamten Bundesrepublik zusammengebracht hat, die Gelegenheit gab, neue Leute kennenzulernen, Bekannte wiederzusehen, sich auszutauschen und ausgelassen zu feiern. Herausragend die große Gastfreundschaft; sie scheint mir Ausdruck der Begabung und des Bemühens des Jubilars, Menschen zusammenzuführen und Kollegialität zu fördern. Nie werde ich die Freundlichkeit vergessen, mit der Klaus Vieweg mich als neuen Kollegen in Erlangen empfangen und unterstützt hat. Das ist nun viele Jahre her und wer den Jubilar über die Jahre beobachten konnte, ist beeindruckt von der Bandbreite seiner Interessen, die von der Rechtswissenschaft über die Kunst – er stellt selbst Skulpturen her – bis hin zum Sport – er war in seiner Jugend begeisterter Turner – reicht. Die vom Rechtswissenschaftler Vieweg bearbeiteten Themen sind vielfältig; viele Veröffentlichungen behandeln das Sportrecht, das auch den folgenden Beitrag angeregt hat. II. 1. „Die Sportwelt ist eine Querschnittsmaterie und Querschnittsmaterien faszinieren“,2 so hat es Klaus Vieweg unter dem Titel „Faszination Sportrecht“ formuliert und dort auch die Frage beantwortet, warum wir Sportrecht brauchen: „Sport ist ein Massenphänomen geworden. Er bewegt und fasziniert die Menschen. Doch warum Sportrecht? – Soll die schönste Nebensache der Welt nicht besser dem Zugriff der Juristen entzogen sein? Werden Sport und Spiel nicht massiv gestört, wenn Justitia Einzug hält? – Das war jahrzehntelang vorherrschende Meinung und wird von 1
Meinem Mitarbeiter Karl Christian Albert danke ich für die tatkräftige Unterstützung. Vieweg, Faszination Sportrecht – Online Ausgabe, 3. Auflage (Stand 01. 09. 2015), S. 3 f., http://www.irut.de/Forschung/Veroeffentlichungen/OnlineVersionFaszinationSportrecht/Faszi nationSportrecht.pdf. 2
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einigen Sportakteuren immer noch so gesehen.“3 Aber so führt der Autor sodann völlig zu Recht aus: „Sport ist heute kein rechtsfreier Raum mehr. Die (ideellen und wirtschaftlichen) Interessen aller Beteiligten wiegen zu schwer, als dass sie einer rechtlichen Würdigung vollends entzogen werden könnten. Durch die Globalisierung und Professionalisierung einerseits sowie Kommerzialisierung und Medialisierung andererseits ist ein Raum geschaffen worden, in dem eine Konfliktbewältigung nicht mehr ausschließlich durch Selbstregulierungsmechanismen erreicht werden kann.“4 2. „Geltendes Arbeitsrecht und Profifußball vertragen sich – so sehen es Vereine und Verbände – nicht“, konstatiert Urban-Crell in einem Beitrag unter dem Titel „Profifußball und Arbeitsrecht – zwei Welten prallen aufeinander“.5 Die Befürchtung, Profifußball und Arbeitsrecht würden sich nicht vertragen, wäre nur dann von Belang, wenn auf Profifußballer das Arbeitsrecht anwendbar wäre und – falls dies zu bejahen wäre – wenn das Arbeitsrecht zur Regelung des Rechtsverhältnisses zwischen Profifußballer und Verein kein geeignetes Regelungskonzept zur Verfügung stellen und die Besonderheiten des Profifußballers nicht ausreichend berücksichtigen könnte. 3. Zunächst soll der Frage nachgegangen werden, ob Profifußballer Arbeitnehmer sind und damit das Arbeitsrecht auf sie anwendbar ist. a. Was den Status von Fußballspielern betrifft, so bestimmt die Spielordnung des DFB: § 8 Status der Fußballspieler „Der Fußballsport wird von Amateuren und Berufsspielern (Nicht-Amateuren) ausgeübt. Als Berufsspieler gelten Vertragsspieler und Lizenzspieler. Die Begriffe Amateur und Berufsspieler gelten für männliche und weibliche Spieler. 1. Amateur ist, wer aufgrund seines Mitgliedschaftsverhältnisses Fußball spielt und als Entschädigung kein Entgelt bezieht, sondern seine nachgewiesenen Auslagen und allenfalls einen pauschalierten Aufwendungsersatz bis zu EURO 249,99 im Monat erstattet erhält. 2. Vertragsspieler ist, wer über sein Mitgliedschaftsverhältnis hinaus einen schriftlichen Vertrag mit seinem Verein abgeschlossen und über seine nachgewiesen Auslagen hinaus (Nr. 1) Vergütungen oder andere geldwerte Vorteile von mindestens EURO 250,00 monatlich erhält. […] 3. Lizenzspieler ist, wer das Fußballspiel aufgrund eines mit einem Lizenzverein oder einer Kapitalgesellschaft geschlossenen schriftlichen Vertrages betreibt und durch Abschluss eines schriftlichen Lizenzvertrages mit der DFL Deutschen Fußball Liga zum Spielbetrieb zugelassen ist. […]“ 3
Vieweg, Faszination Sportrecht – Online Ausgabe, 3. Auflage (Stand 01. 09. 2015), S. 3, http://www.irut.de/Forschung/Veroeffentlichungen/OnlineVersionFaszinationSportrecht/Fas zinationSportrecht.pdf. 4 Vieweg, Faszination Sportrecht – Online Ausgabe, 3. Auflage (Stand 01. 09. 2015), S. 79, http://www.irut.de/Forschung/Veroeffentlichungen/OnlineVersionFaszinationSportrecht/Faszi nationSportrecht.pdf. 5 Urban–Crell, DB 2015, 2396.
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Die arbeitsrechtliche Einordnung der Amateure und die Einordnung der Lizenzspieler ist zu Recht als unproblematisch bezeichnet worden.6 Amateure sind keine Arbeitnehmer, wohingegen Lizenzspieler nach ständiger Rechtsprechung Arbeitnehmer sind, was in neueren Entscheidungen nicht mehr problematisiert wird.7 Die Lizenzspieler schließen also, wie sich aus § 8 Nr. 3. der Spielordnung des DFB ergibt, zwei Verträge, einen Lizenzvertrag mit dem DFL Deutsche Fußball Liga e. V. (DFL e. V.) und einen Vertrag mit ihrem Club. Durch den Lizenzvertrag erhält gem. dessen § 18 der Spieler den Status eines Lizenzspielers und damit die Berechtigung, die Vereinseinrichtungen des DFL e. V., nämlich die Bundesliga und die 2. Bundesliga, zu benutzen, insbesondere als Spieler bei einem Club der Lizenzligen an den Spielveranstaltungen teilzunehmen. Der zweite Vertrag, den die Lizenzspieler abschließen, ist der Vertrag mit ihrem Club. Dieser Vertrag ist – heute weitgehend unbestritten – ein Arbeitsvertrag; auf die Gründe für diese Einordnung soll im Folgenden kurz eingegangen werden. b. Gem. § 611a Abs. 1 S. 1 BGB wird der Arbeitnehmer im Dienste eines anderen zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet. Die persönliche Abhängigkeit des zur Dienstleistung Verpflichteten vom Dienstberechtigten ist maßgebliches Kriterium des Arbeitsvertrages.9 Was genau unter persönlicher Abhängigkeit zu verstehen ist, wird in der Akzentuierung durchaus unterschiedlich gesehen. Weitgehende Einmütigkeit herrscht aber darüber, dass „mögliche Indizien“10 der persönlichen Abhängigkeit die Weisungsgebundenheit des Arbeitnehmers in zeitlicher, örtlicher und fachlicher Hinsicht11 sowie andererseits die Eingliederung des Arbeitnehmers in die Organisation des Arbeitgebers (betriebliche Eingliederung)12 sind. Weisungsrecht und betriebliche Eingliederung stehen nebeneinander und formen den Begriff der persönlichen Abhängigkeit als Wesensmerkmal des Arbeitnehmers weiter aus.13 c. Die Arbeitsleistung im Sport – so liest man im Praxishandbuch Sportrecht – werde im Einzelnen geprägt durch das Direktionsrecht, insbesondere durch Weisungen, überwiegend durch die Trainer, aber auch durch weitere Beauftragte des Arbeit-
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Reinecke, NJW 2018, 2081, 2082. So zu Recht Reinecke, NJW 2018, 2081, 2082; vgl. dazu nur die Entscheidung des BAG zur Zulässigkeit der Befristung eines Lizenzspielers der 1. Fußball-Bundesliga nach § 14 I 2 Nr. 4 TzBfG, BAG 16. 01. 2018 – 7 AZR 312/16, NJW 2018, 1992. 8 Vgl. dazu Anhang I der DFL-Lizenzordnung Spieler (LOS). 9 HWK/Thüsing, 9. Auflage 2020, § 611a BGB, Rn. 47. 10 HWK/Thüsing, 9. Auflage 2020, § 611a BGB, Rn. 47. 11 HWK/Thüsing, 9. Auflage 2020, § 611a BGB, Rn. 47; vgl. auch ErFK/Preis, 20. Auflage 2020, § 611a BGB, Rn. 32. 12 HWK/Thüsing, 9. Auflage 2020, § 611a BGB, Rn. 47, 54; vgl. auch ErFK/Preis, 20. Auflage 2020, § 611a BGB, Rn. 41. 13 HWK/Thüsing, 9. Auflage 2020, § 611a BGB, Rn. 54. 7
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gebers, wie z. B. Manager.14 Das ist ebenso richtig, wie sehr pauschal. Ein Blick in den Muster-Lizenzspielervertrag15 der DFL Deutsche Fußballiga zeigt zunächst, dass im Vertrag selbst davon ausgegangen wird, es handele sich um einen Arbeitsvertrag. So heißt es etwa in Teil J. 2. des Mustervertrages: „Alle Ansprüche aus diesem Spielervertrag und solche, die mit dem Arbeitsverhältnis in Verbindung stehen […] müssen innerhalb von sechs Monaten […] geltend gemacht werden. Im Falle der Beendigung des Arbeitsverhältnisses sind diese Ansprüche innerhalb von drei Monaten nach Fälligkeit in Textform geltend zu machen.“ In Teil E. 2. (Nr. 1) findet sich die Formulierung: „Soweit die betreffenden Rechte dem Club nicht bereits aufgrund des durch den Spielervertrag begründeten Arbeitsverhältnisses ohnehin zustehen […]“. Eine inhaltliche Betrachtung des Mustervertrages zeigt sodann, dass es sich in der Tat um einen Arbeitsvertrag handelt. Gem. Teil A. 1. des Mustervertrages heißt es u. a.: „Um wirtschaftlich und sportlich erfolgreich zu sein, muss der Club einen leistungsfähigen Kader unterhalten. Zu diesem Zweck wird der Spieler seine ganze Arbeitskraft in den Club einbringen und dem Club ermöglichen, seine Leistungen umfassend zu vermarkten.“ Was die Arbeitsleistung betrifft, so regelt Teil D. 9. des Mustervertrages das Weisungsrecht des Clubs. Die Klausel lautet: „Fußballerfolg ist Teamerfolg. Der Spieler ist bereit, auf Anordnung des Clubs seine persönlichen Wünsche oder Vorstellungen im Interesse des gemeinsamen Erfolges des Clubs unterzuordnen. Einsatz und Tätigkeit des Spielers werden nach Art und Umfang von dem geschäftsführenden Organ des Clubs oder von den von ihm Beauftragten – insbesondere dem Trainerteam – bestimmt. Der Spieler wird im Rahmen des Arbeitsverhältnisses die Weisungen aller mit Weisungsbefugnis ausgestatteten Personen befolgen.“ Bezüglich des Weisungsrechts finden sich sodann an anderen Stellen des Mustervertrages weitere Einzelheiten. So muss der Spieler – um Beispiele zu geben – „an jedem Training, gleich ob allgemein vorgesehen oder besonders angeordnet“ aktiv teilnehmen. Er ist auf „Anweisung verpflichtet, an Spielen oder am Training einer anderen Mannschaft des Clubs teilzunehmen“ (Teil D. 1 Nr. 2. des Mustervertrages). Der Spieler muss sich „den sportmedizinisch oder sporttherapeutisch indizierten Maßnahmen, die durch vom Club beauftragte Personen angeordnet werden, umfassend unterziehen“ (Teil D. 2. Nr. 1c des Mustervertrages). Was die Eingliederung in die Organisation des Arbeitgebers (i. S. der Nutzung der Betriebsmittel des Arbeitgebers) betrifft, ist in Teil D. 1. Nr. 5 des Mustervertrages bestimmt, dass der Spieler bei bestimmten Veranstaltungen und auf Reisen „die vom Club gestellte Kleidung (Spielkleidung, Clubanzüge, Reisekleidung, Trainings- und Spielschuhe sowie alle sonstigen Bekleidungs- und Ausrüstungsgegenstände) mit 14
Fritzweiler, in: Fritzweiler/Pfister/Summerer, Praxishandbuch Sportrecht, 4. Auflage 2020, 4. Kapitel, Rn. 28. 15 Abgedruckt im Anhang 2 in: Fritzweiler/Pfister/Summerer, Praxishandbuch Sportrecht, 4. Auflage 2020.
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der darauf vom Club angebrachten Werbung entsprechend der jeweiligen Weisung des Clubs tragen“ wird. Was die Eingliederung in die Organisation des Arbeitgebers (i. S. der Zusammenarbeit mit anderen Mitarbeitern des Vereins) betrifft, so ergibt sich schon aus der Natur des Fußballes als Mannschaftssport, dass der Spieler mit anderen Spielern sowie mit sonstigen Mitarbeitern des Vereins, wie etwa Trainern, Vereinsärzten, Physiotherapeuten und Verwaltungsmitarbeitern zusammenarbeiten muss. Im Musterarbeitsvertrag findet sich etwa die Klausel, dass der Spieler bei „Verletzung oder Krankheit unverzüglich bei dem Clubarzt oder einem vom Club beauftragten Arzt vorstellig werden“ muss (Teil D. 2. Nr. 1b). Das Vertragsverhältnis des Lizenzspielers ist also durch die Weisungsgebundenheit des Spielers in zeitlicher, örtlicher und fachlicher Hinsicht und durch die Eingliederung des Spielers in persönlicher und materieller Hinsicht in die Organisation des Clubs gekennzeichnet und damit Arbeitsverhältnis. 4. Nachdem nun begründet worden ist, dass der Lizenzspieler Arbeitnehmer ist, stellt sich die Frage, ob er als „normaler“ Arbeitnehmer anzusehen ist, oder ob sein Arbeitsverhältnis so untypisch ist, dass das Arbeitsrecht die Besonderheiten dieses Arbeitsverhältnisses nicht ausreichend berücksichtigt und daher ungeeignet ist, die Rechtsprobleme der Profifußballer zu ordnen. a. Zu den Besonderheiten des Arbeitsverhältnisses des Lizenzspielers findet sich instruktives Anschauungsmaterial in den obergerichtlichen Entscheidungen zum Fall des Mainzer Torhüters Heinz Müller. Konkret ging es um die Frage, ob sein Arbeitsvertrag wirksam befristet war. Ausgangspunkt war § 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 TzBfG, wonach ein sachlicher Grund für die Befristung vorliegt, wenn die Eigenart der Arbeitsleistung die Befristung rechtfertigt. Zum Begriff der „Eigenart der Arbeitsleistung“ hat das BAG ausgeführt, es sei nicht jegliche Eigenart der Arbeitsleistung geeignet, die Befristung eines Arbeitsverhältnisses zu rechtfertigen. Nach der dem TzBfG zugrunde liegenden Wertung sei das unbefristete Arbeitsverhältnis der Normalfall und der befristete Vertrag die Ausnahme. Daher könne die Eigenart der Arbeitsleistung die Befristung eines Arbeitsvertrages nur dann rechtfertigen, wenn die Arbeitsleistung Besonderheiten aufweise.16 Wann aber weist die Arbeitsleistung Besonderheiten auf? Insofern hatte das LAG Rheinland-Pfalz im genannten Fall ausgeführt: „Da jede Arbeitsleistung Besonderheiten aufweist, verbietet sich eine weite Auslegung des Merkmals der Eigenart der Arbeitsleistung. Es muss sich daher um eine vertragstypische, die jedem Arbeitsverhältnis inne wohnende Besonderheit in einem außergewöhnlichen Maß übersteigende Eigenart handeln, wobei jedoch auch branchenspezifische Merkmale bzw. Gesichtspunkte zu berücksichtigen sind“.17 16 17
BAG, 16. 01. 2018 – 7 AZR 312/16, NJW 2018, 1992 (1993), Rn. 16. LAG Rheinland-Pfalz, 17. 02. 2016 – 4 Sa 202/15, NZA 2016, 699 (700).
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Wichtig ist der Hinweis des LAG, jede Arbeitsleistung weise Besonderheiten auf. Das ist letztlich das Ergebnis der gänzlich unterschiedlichen Fallgestaltungen, die von den Arbeitsverträgen eingefangen werden müssen. Es ist die Bandbreite sowohl ganz unterschiedlicher Berufe als auch ganz unterschiedlicher Tätigkeiten abzudecken, die von ganz einfachen Tätigkeiten, die ohne Ausbildung ausgeübt werden können bis hin zu hochqualifizierten Tätigkeiten reichen, die nur mit spezieller Ausbildung und großer Erfahrung ausgeübt werden können. Weist aber letztlich jede Arbeitsleistung Besonderheiten auf, so leuchtet es unmittelbar ein, dass die Besonderheiten, die im Rahmen des § 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 TzBfG eine Rolle spielen können, spezieller Natur sein müssen. Das BAG ist aber insoweit nicht der Auffassung des LAG gefolgt, es müsse sich um eine „die jedem Arbeitsverhältnis inne wohnende Besonderheit in einem außergewöhnlichen Maß übersteigende Eigenart handeln“. Diese Anforderung des LAG scheint deshalb durchaus problematisch, weil im Einzelfall schwer festzustellen sein wird, ob diese Voraussetzungen vorliegen. Das BAG geht in seiner Entscheidung vom 16. 01. 2018 davon aus, dass die Arbeitsleistung Besonderheiten aufweisen muss, „aus denen sich ein berechtigtes Interesse der Parteien, insbesondere des Arbeitgebers ergibt, statt eines unbefristeten nur ein befristetes Arbeitsverhältnis abzuschließen. Diese besonderen Umstände müssen das Interesse des Arbeitnehmers an der Begründung eines Dauerschuldverhältnisses überwiegen. Der Sachgrund des § 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 TzBfG erfordert daher eine Abwägung der beiderseitigen Interessen, bei der auch das Bestandsschutzinteresse des Arbeitnehmers angemessen zu berücksichtigen ist“.18 Im konkreten Fall hat das BAG die Besonderheit der Arbeitsleistung insbesondere darin gesehen, dass ein Lizenzspieler der 1. Bundesliga naturgemäß nicht dauerhaft sportliche Höchstleistungen bis zum Rentenalter, sondern nur für eine vorneherein begrenzte Zeit erbringen könne. Der Grundsatz, dass das unbefristete Arbeitsverhältnis der Normalfall und das befristete Arbeitsverhältnis die Ausnahme sei, gehe von der Annahme aus, dass ein Arbeitnehmer im Regelfall seinen Beruf bzw. seine Tätigkeit dauerhaft bis zum Rentenalter ausüben könne und der Arbeitsvertrag daher eine dauerhafte Existenzgrundlage bilden solle. Das sei bei einem Lizenzfußballspieler der 1. Bundesliga nicht der Fall. Während ein Arbeitnehmer üblicherweise unter angemessener Ausschöpfung seiner persönlichen Leistungsfähigkeit arbeiten müsse (individuelle Normalleistung), würden im kommerzialisierten und öffentlichkeitsgeprägten Spitzenfußball von dem Lizenzspieler sportliche Höchstleistungen erwartet und geschuldet. Aus der typischerweise fehlenden Möglichkeit eines Lizenzfußballspielers, die vertraglich geschuldete, für den Profifußballsport unerlässliche Höchstleistung dauerhaft erbringen zu können, resultiere ein berechtigtes Interesse der Vertragsparteien daran, statt eines unbefristeten Dauerarbeitsverhältnisses ein befristetes Arbeitsverhältnis zu begründen.19
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BAG, 16. 01. 2018 – 7 AZR 312/16, NJW 2018, 1992 (1993), Rn. 16. BAG, 16. 01. 2018 – 7 AZR 312/16, NJW 2018, 1992 (1993), Rn. 18.
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Die Entscheidung des BAG zeigt, dass das Arbeitsrecht durchaus den Besonderheiten von Arbeitsverhältnissen Rechnung trägt, hier durch die gesetzliche Norm des § 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 TzBfG. Der Gesetzgeber hat mit dieser Norm m. E. angemessen auf die Besonderheiten des Arbeitsverhältnisses des Profifußballers reagiert. b. Neben den gesetzlichen Normen, die Besonderheiten der Arbeitsverhältnisse einfangen, ist es die Vertragsfreiheit, die es den Vertragsparteien ermöglicht, angemessen auf die Besonderheiten eines einzelnen Arbeitsverhältnisses zu reagieren. Schaut man in den Musterlizenzspielervertrag der DFL Deutsche Fußball Liga GmbH, finden sich dort eine Reihe von Klauseln, die m. E. Ausdruck der Besonderheit des Lizenzspielervertrages sind. Dies sind neben der Befristung des Vertrages etwa - die Unterwerfung des Spielers in Teil A. 2. des Mustervertrages unter verschiedene Statuten, Ordnungen und Reglements bestimmter Verbände (z. B. DFL, DFB, FIFA, UEFA), - das Verbot für den Spieler, bestimmte Sportwetten abzuschließen (Teil D. 4. des Mustervertrages), - Vermarktungsleistungen für den Club zu erbringen (Teil D. 8. des Mustervertrages), - dass ein wichtiger Grund zur Kündigung des Vertragsverhältnisses vorliegt, wenn die Lizenz des Spielers entzogen worden ist, weil eine Voraussetzung für ihre Erteilung weggefallen ist oder der Spieler gegen seine Pflichten als Lizenzspieler schuldhaft verstoßen hat (Teil H 2. des Mustervertrages), - dass ein wichtiger Grund zur Kündigung des Vertragsverhältnisses vorliegt, wenn der Spieler seine Lizenz zurückgegeben hat (Teil H. 2. des Mustervertrages). Man mag nun darüber streiten, ob die genannten Klauseln wirklich Besonderheiten des Arbeitsverhältnisses regeln. Wichtig ist hier aber, dass selbst dann, wenn man diese Klauseln als Besonderheiten des Arbeitsverhältnisses ansehen wollte, aus meiner Sicht keinerlei Anhaltspunkte dafür zu sehen sind, dass das Arbeitsrecht nicht in der Lage wäre, ein geeignetes Regelungskonzept zur Bewältigung der durch diese Klauseln aufgeworfenen Probleme zur Verfügung zu stellen. Insbesondere scheint das Arbeitsrecht in der Lage, insoweit einerseits den Schutz des Arbeitnehmers, hier also des Spielers, sicherzustellen und andererseits den berechtigten Interessen des Arbeitgebers Rechnung zu tragen. c. Eine weitere Besonderheit des Arbeitsvertrages der Lizenzspieler könnte deren Vergütung sein. Es stellt sich die Frage, welche Bedeutung ihr im vorliegenden Zusammenhang zukommt. Das LAG Rheinland-Pfalz hat insoweit bei Prüfung der Wirksamkeit der Befristung des Arbeitsvertrages des Mainzer Torhüters Heinz Müller ausgeführt: „Nicht gänzlich unberücksichtigt bleiben kann auch die typischerweise außergewöhnliche Höhe der im Profifußball an die Lizenzspieler gezahlten Vergütung. Diese soll sich in der 1. Bundesliga auf durchschnittlich 1,5 Mio. EURO
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jährlich belaufen […]. Zwar kann der Befristungsschutz eines Arbeitnehmers nicht abgekauft werden. Vor dem Hintergrund, dass die dem TzBfG zugrunde liegende EU-RL 1999/70/EG insbesondere den Zweck verfolgt, die Situation schwacher und damit sozial schutzbedürftiger Arbeitnehmer zu verbessern und die Entstehung eines Prekariats von stets nur befristet angestellten Arbeitnehmern zu verhindern, verschieben die außergewöhnlich hohen Vergütungen der Berufsfußballspieler jedoch im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung durchaus den Bewertungsmaßstab bei der Anwendung des § 14 TzBfG.“20 Das BAG hat in seiner Entscheidung des genannten Falles diese Überlegungen des LAG Rheinland-Pfalz nicht aufgegriffen. Es gibt aber – gerade in jüngster Zeit – eine heftige Diskussion über die Frage, ob Gehaltsobergrenzen für Profifußballspieler (sogenannte Salary Caps) eingeführt werden sollen. Durch diese Gehaltsobergrenze soll der Betrag begrenzt werden, den ein Sportverein für Spielergehälter ausgeben darf. Ziel ist, die Chancengleichheit zwischen den Vereinen zu erhöhen. Finanzstärkere Vereine sollen nicht durch Zahlung höherer Gehälter einen Wettbewerbsvorteil erlangen. Der Ausuferung von Spielergehältern soll entgegengewirkt und die Vereine dazu veranlasst werden, wirtschaftlich vernünftig zu handeln. Gehaltsobergrenzen können so ausgestaltet werden, dass entweder das Gehalt der einzelnen Spieler oder die Gesamtsumme, die ein Verein für Spielergehälter ausgeben darf, begrenzt wird.21 Es werden absolute und relative Gehaltsobergrenzen unterschieden. Bei den absoluten Gehaltsobergrenzen findet eine Begrenzung der kumulierten Gehälter eines Kaders, welche für alle Teilnehmenden am Wettbewerb gleichermaßen gilt und nach oben hin nicht überschritten werden darf, statt. Die relativen Gehaltsobergrenzen sehen dahingegen individuelle, etwa am Jahresumsatz der jeweiligen Vereine orientierte Summen vor, die für die Spielergehälter aufgewandt werden dürfen.22 Bei der Diskussion um Gehaltsobergrenzen handelt es sich nicht um eine Diskussion, die auf den Profisport begrenzt ist. Diese Diskussion findet auch im Gesellschaftsrecht statt. Hier stellt sich die Frage, ob und ggf. wie die Vergütung von Aufsichtsräten und Vorständen begrenzt werden kann.23
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LAG Rheinland-Pfalz, 17. 02. 2016 – 4 Sa 202/15, NZA 2016, 699, 702. Vgl. zum Ganzen: Ausarbeitung des wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages, Möglichkeit von Gehaltsobergrenzen im Fußball für Spieler und Berater sowie Deckelung von Ablösesummen, WD 10 – 3000 – 031/20, S. 4, https://www.bundestag.de/resource/ blob/707918/dd648d95bc3f3a0f092e289243ad3ae7/WD-10-031-20-pdf-data.pdf (zuletzt abgerufen am 2.11.20). 22 Ausarbeitung des Fachbereichs Europa des Deutschen Bundestages, Vereinbarkeit der Einführung von Gehaltsobergrenzen im europäischen Profifußball mit dem Unionsrecht, PE 6 – 3000 – 060/20, S. 5, https://www.bundestag.de/resource/blob/707916/df542d2244ccca08269 bea3775ac79e1/PE-6-060-20-pdf-data.pdf (zuletzt abgerufen am 2.11.20), m. w. N. 23 Habersack, NZG 2018, 127 ff. 21
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Letzteres zeigt, dass überdurchschnittliche Vergütung und die Frage, ob diese begrenzt werden soll und wie dies geschehen kann, keine Besonderheit des Lizenzspielervertrages ist. III. Ist nun nach alledem das Arbeitsverhältnis des Lizenzspielers ein „normales“ oder ein untypisches? Das liegt im Auge des Betrachters und diese Frage wird daher unterschiedlich beantwortet werden. Allerdings weist das Arbeitsverhältnis des Lizenzspielers die oben beschriebenen Besonderheiten auf. Das Arbeitsrecht scheint durchaus geeignet, diesen Besonderheiten Rechnung zu tragen. Es ist also zu konstatieren, dass geltendes Arbeitsrecht und Profifußball sich sehr wohl vertragen. Daher besteht kein Anlass, das Recht des Profifußballers weg vom Arbeitsrecht in einem neu zu schaffenden „Recht des Profisports“ zu regeln. Richtig bleibt aber auch der Appell des Jubilars, der da lautet: „Bei allem Regelungsbedürfnis darf jedoch der Blick für das Sporttypische – die im Grundsatz unentziehbare Vereins- und Verbandsautonomie – nicht verloren gehen. Der Sport muss staatlichem Recht dort Einhalt gebieten, wo er selbst die sachgerechteren und effektiveren Lösungen bereitstellt. So sind das Aufstellen von Sportregeln sowie die Sanktionierung von Regelverstößen als urtypische Aufgaben allein dem Sport vorbehalten. Als Ziel kann daher eine ausgewogene – als fair empfundene – Balance zwischen Selbstregulierung und Verrechtlichung ausgegeben werden“.24
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Vieweg, Faszination Sportrecht, Online-Ausgabe, 3. Auflage (Stand: 01. 09. 2015), S. 79.
Wege und Irrwege zur Gerechtigkeit* Von Reinhold Zippelius Fragen nach Gerechtigkeit begleiten uns durch das Leben – mitunter als Betroffene, häufiger noch als Zuschauer des Spieles: Welcher Lohn ist gerecht? Welcher Preis einer Ware und welcher Schadensersatz ist angemessen? Wie sind die Steuerlasten gerecht zu verteilen und wie die Sozialleistungen? Sollen Sterbehilfe, Schwangerschaftsabbruch oder gentechnische Manipulationen strafbar sein? Welches ist die gerechte Strafe für einen Mord? Doch auf welchen Wegen wir auch nach allgemeingültigen Aussagen über die Gerechtigkeit suchen: Der kritische Verstand führt uns immer wieder an die Grenzen solchen Bemühens. I. Das Gewissen als letztzugängliche Grundlage ethischer Entscheidungen Das Richtmaß für die Ordnung des Zusammenlebens war während langer historischer Epochen autoritativ vorgegeben: vor allem in Religionen oder quasi-religiösen Weltanschauungen, die von den Einzelnen nicht kritisch in Frage zu stellen waren. In solchen Weltanschauungen fanden wichtige Normen des Rechts und der Moral ihren Platz und ihre Rechtfertigung. Aus ihnen wurden diese Normen oft abgeleitet und interpretiert. Und in manchen Weltteilen ist das heute noch der Fall. Das Vertrauen in autoritativ vorgegebene Weltorientierungen wurde aber in Europa zu Beginn der Neuzeit durch religiös aufgeheizte Bürgerkriege erschüttert. Es war die Zeit der Hugenottenkriege in Frankreich, des Dreißigjährigen Krieges in Deutschland und des Aufbegehrens der Puritaner in England – eine Zeit, in der unterschiedliche theologische und moralische „Wahrheiten“ mit einem Absolutheitsanspruch präsentiert wurden und zu blutigen Auseinandersetzungen führten. Damals breitete sich die Skepsis gegen heteronome Moralen aus. Es wuchs die Einsicht, dass unter keiner Fahne so viele Grausamkeiten verübt, Bevölkerungen ausgerottet und vergewaltigt werden, wie unter den Fahnen angeblich unverrückbarer Wahrheiten und Heilslehren, und Thomas Hobbes äußerte sein tiefes Misstrauen gegen die „zwitterhaften Lehrsätze der Moralphilosophie“, die zur Ursache des Streitens und Mordens werden.1 Man begann zu begreifen, dass die Anmaßung der Gottähnlichkeit: zu wissen, was gut und böse ist – die tiefe Symbolik des Sündenfalles – auch * Neuabdruck der im Jahr 2003 von der Akademie der Wissenschaften Mainz im Verlag Franz Steiner, Stuttgart, erschienen Abhandlung. Die Orthographie wurde angepasst. 1 Hobbes, De cive, Vorwort.
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auf der Geschichte der Menschheit lastet. Hinzu kam, dass zu jener Zeit fremde Kulturen entdeckt und erschlossen wurden. Auch andere Hochkulturen rückten nun durch die Intensivierung von Handel und Verkehr mehr als bisher in das öffentliche Bewusstsein. Die augenfällige Vielfalt möglicher Weltanschauungen drängte einen Kulturvergleich auf. Die Ringparabel in Lessings „Nathan“ brachte die Skepsis gegen den Alleingeltungsanspruch von Religionen zum Ausdruck. Am Ende fand der Einzelne sich auf sein eigenes Urteil und Gewissen zurückgeworfen. Diese Verunsicherung ließ sich ins Positive wenden. Der Entschluß, sich auf sein eigenes Urteil zu verlassen, erschien Kant als der entscheidende Schritt zur Mündigkeit des Menschen: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung“.2 So wurde für Kant das Gewissen des Einzelnen zur letzten Instanz, zu der unser Bemühen um moralische Einsicht vordringen kann: Kant verglich das Gewissen mit einem inneren Gerichtshof: Der praktische Verstand gebe die Regel; über „die innere Zurechnung einer Tat, als eines unter dem Gesetz stehenden Falles“ befinde die Urteilskraft; auf diese Beurteilung folge ein Vernunftschluss, der wie ein Gerichtsspruch die Handlung verurteile oder den Handelnden losspreche. Dieses Bewusstsein eines inneren Gerichtshofes im Menschen, vor welchem die Gedanken einander verklagen oder entschuldigen, sei das Gewissen.3 Das Gewissen sei mithin „die sich selbst richtende moralische Urteilskraft“.4 – Soweit Kant. Ob verschiedene Komponenten des moralischen Bewusstseins in genau dieser von Kant beschriebenen Weise zu unterscheiden und zueinander in Beziehung zu setzen sind, kann aber dahingestellt bleiben. Zwei Aussagen verdienen jedoch festgehalten und näher untersucht zu werden: Erstens, unsere moralischen Urteile können nicht über unser Gewissen, also Bewußtsein, hinausgreifen, zweitens, solche Urteile sind in rational strukturierten Erwägungen zu gewinnen. Bleiben wir zunächst bei der ersten Aussage: Ein absolut gültiges Naturrecht, ein ideales „Ansichsein“ der Werte5 und eine „an sich“ gültige Wertrangordnung6 mögen 2
Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? 1784. Kant, Die Metaphysik der Sitten, Tugendlehre, 1797, § 13; zum Bild der „richtenden Vernunft“ als grundlegendem Paradigma in der Philosophie Kants vgl. Kaulbach, Vernunft und Konfliktlösung, Universitas 1983, S. 277 ff. 4 Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 2. Aufl. 1794, S. 288. 5 Hartmann, Ethik, 3. Aufl. 1949, Kap. 16, 29e; Hartmann, Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis, 4. Aufl. 1949, Kap. 5e, h, i. 3
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zwar denkbar sein; doch könnten wir von ihnen nur wissen, was unser Gewissen uns von ihnen vermittelt. Mit anderen Worten: Ein „Durchgriff“ durch unsere Bewusstseinsinhalte auf eine „an sich“ bestehende Gerechtigkeit kann nicht gelingen. Insbesondere gäbe es kein Kriterium dafür, wann und inwiefern die aktuelle Gerechtigkeitseinsicht mit an sich gültigen Prinzipien der Gerechtigkeit übereinstimmt oder von ihnen abweicht. Oder, wie Kant sagte: Es wäre sinnlos, ein „an sich“ bestehendes Objekt mit der Erkenntnis von diesem Objekt vergleichen zu wollen, weil man von einem Objekt immer nur das wissen kann, was man von ihm erkennt.7 Kurz: Was unser Gewissen nach bestmöglichem Vernunftgebrauch für gerecht befindet, bildet die letzte Grundlage, zu der unser Bemühen um Gerechtigkeit vordringen kann. Das impliziert aber erstens nicht, dass jedermanns Gewissen sich „autonom“ alle Inhalte seiner moralischen Einsichten schaffe. Vielmehr handelt es sich in unseren moralischen Urteilen oft nur um ein Billigen oder Missbilligen von Vorstellungen und Normen, die dem individuellen Gewissen zur Prüfung vorgelegt werden.8 Zweitens sind die Gerechtigkeitsvorstellungen, die wir nach bestem Gewissen für richtig halten, nicht rein formaler Natur. Vielmehr fällt oder bestätigt das Gewissen – oft innerhalb rationaler Erwägungsstrukturen – auch Werturteile. So sagen wir z. B.: Es sei billig, einen vorsätzlich angerichteten Schaden zu ersetzen, oder: Es sei ungerecht, jemanden an einem Vertrag festzuhalten, der mit vorgehaltener Pistole erzwungen wurde, oder: Es sei ungerecht, einen schuldlos Handelnden zu bestrafen. Indem wir in solcher Weise ein Verhalten bewerten, also billigen oder missbilligen, drücken wir aus, dass wir das gebilligte dem missbilligten Verhalten vorziehen, etwa das gerechte dem ungerechten, das besonnene dem unbesonnenen, das taktvolle dem taktlosen Verhalten. Dass wir vor allem bewerten, wenn wir moralisch urteilen, hat die materiale Wertethik überzeugend dargetan.9 Es war aber, wie gesagt, unergiebig, mit dieser einfachen Feststellung eine Theorie „an sich seiender“ absoluter Werte zu verbinden. Ist das individuelle Gewissen die letzte uns zugängliche moralische Urteilsinstanz und damit Geltungsgrundlage unserer moralischen Urteile, so heißt das auch, dass jeder eine dem anderen gleichzuachtende moralische Instanz ist. Diese Vorstellung von der gleichberechtigten moralischen Kompetenz aller führt für den Bereich des Staates und des Rechts zu dem demokratischen Anspruch, dass alle in einem freien Wettbewerb der Überzeugungen auch über die Fragen des Rechts und der Gerechtigkeit mitbestimmen und mitentscheiden sollten. Dem ethischen Autonomiegedanken 6
Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 4. Aufl. 1954, S. 108, 317 ff. 7 Kant, Logik, 1800, Einl. VII. 8 Schon bei Kant findet sich der Gedanke, daß z. B. Rechtsnormen neben ihrer Rechtsgeltung zugleich moralische Geltung erlangen können, wenn sie aus Gewissensgründen gutgeheißen und aus bloßem Pflichtbewusstsein befolgt werden: Kant, Die Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, 2. Aufl. 1798, S. 16. 9 So vor allem Scheler (Fn. 6); dazu Zippelius, Rechtsphilosophie, 4. Aufl. 2003, §§ 19 I, II, 20 I.
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Kants korrespondiert für den politischen Bereich die Idee der Demokratie: Es ist der – idealisierende – Leitgedanke Rousseaus, dass auch in der politischen Gemeinschaft jeder „nur sich selbst gehorchen“ solle10 und – etwas realistischer – dass „das Volk, das den Gesetzen unterworfen ist, auch ihr Urheber“ sein muss.11 In unseren Tagen hat Habermas das so ausgedrückt: In einer „emanzipierten Gesellschaft, die die Mündigkeit ihrer Glieder realisiert hätte“, würden nicht mehr autoritative Überlieferungen herrschen. Vielmehr solle sich hier „die Kommunikation zu dem herrschaftsfreien Dialog aller mit allen“ entfalten.12 Eine Moral, die auf solche herrschaftsfreien Diskurse gegründet sei, sichere „die Allgemeinheit der zulässigen Normen und die Autonomie der handelnden Subjekte“. Nur solche Normen, auf die sich alle Beteiligten zwanglos geeinigt haben (oder sich einigen würden, wenn sie in vernünftige Verhandlungen einträten), dürften in einer herrschaftsfreien Gemeinschaft gelten.13 Doch die Hoffnung auf eine herrschaftsfreie Gemeinschaft, in der nurmehr „der eigentümlich zwanglose Zwang des besseren Arguments“14 gälte, erweist sich als eine Utopie. Schon ein kurzer Blick auf den rechtlichen und politischen Alltag belehrt darüber, dass viele Meinungsverschiedenheiten nicht restlos mit Argumenten ausdiskutierbar sind. Das gilt z. B. für die Meinungsverschiedenheiten über den friedlichen Einsatz von Atomenergie, über die Zulässigkeit des Schwangerschaftsabbruchs, über die Grenzen zulässiger Euthanasie, über die Steuergerechtigkeit oder über den gerechten Lohn: In diesen wie in anderen Fällen reicht der von Habermas genannte „eigentümlich zwanglose Zwang des besseren Arguments“ nicht aus, um darauf eine herrschaftsfreies Zusammenleben zu gründen. Wohl aber können wir auch über Gerechtigkeitsvorstellungen und politische Ziele vernünftig miteinander reden und in begrenztem Umfang einig werden.
II. Die Überwindung der Subjektivität im Konsens Auch wenn Einsichten eine subjektive Grundlage haben, kann man sich mit anderen über die Übereinstimmung solcher Einsichten verständigen und vergewissern. Diese Übereinstimmung muss nicht Allgemeingültigkeit beanspruchen, sondern wird oft nur einen geringeren Grad von Konsensfähigkeit erreichen, etwa jenen Gewissheitsgrad, mit dem sich Aristoteles bei Gegenständen dialektischer Erörterung begnügen wollte. Diese solle von wahrscheinlichen Sätzen handeln: die „allen oder den meisten oder den Weisen und von den Weisen entweder allen oder den meisten oder den angesehensten glaubwürdig erscheinen, ohne (für die gemeine Mei10
Rousseau, Contrat social, I 6. Rousseau (Fn. 10), II 6. 12 Habermas, Technik und Wissenschaft als Ideologie, 8. Aufl. 1976, S. 164. 13 Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, 1973, S. 125; vgl. S. 148 f., 153. 14 Habermas, in: Habermas/Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie? 1971, S. 137. 11
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nung) unglaubwürdig zu sein“.15 Zumal in ethischen Untersuchungen müsse man sich mit „demjenigen Grad von Bestimmtheit bescheiden, den der gegebene Stoff zulässt“.16 Auch Aussagen über die Gerechtigkeit gelangen oft nicht über einen mehr oder minder hohen Gewissheitsgrad des „Meinungsmäßigen“ hinaus. So gründet sich auch das Recht in seiner Gerechtigkeitskomponente auf bloße Plausibilität. In dieser begrenzten Weise kann aber die Subjektivität in der Verständigung mit anderen Menschen überwunden werden. Dieser Gedanke ist – ungeachtet der unterstellten Erkenntnistheorie – immer wieder zur Grundlage menschlicher Weltorientierung gemacht worden. So findet sich bei Schleiermacher die Vorstellung, dass unser Wissen sich in der Übereinstimmung der Denkenden untereinander erweisen müsse, und diese Übereinstimmung könne nur durch einen „Austausch des Bewusstseins“ ans Licht gebracht werden.17 Ludwig Feuerbach schrieb, „nicht allein, nur selbander kommt man zu Begriffen, zur Vernunft überhaupt … Was ich allein sehe, daran zweifle ich; was der andere auch sieht, das erst ist gewiß“.18 Auch in der Philosophie von Jaspers bildet die Kommunikation mit anderen Menschen die Grundlage für die Vergewisserung.19 Auf dieser Grundlage ist nun die Konsensfähigkeit von Gerechtigkeitsvorstellungen zu untersuchen. Denn auf Gerechtigkeitsvorstellungen, die ihre letzte Rechtfertigung in individuellen Gewissensentscheidungen haben, lässt sich eine Gemeinschaftsordnung nur dann gründen, wenn es gelingt, die Subjektivität zu überwinden und in Gerechtigkeitsfragen Entscheidungen zu treffen, die in der Rechtsgemeinschaft eine mehr oder minder breite Konsensbereitschaft finden. Wie konsensfähige Rechtsgrundsätze an Hand konkreter Entscheidungen herausgebildet werden können, lässt sich am Beispiel des römischen und des englischen Rechts zeigen – der beiden bedeutendsten Rechtsordnungen, die wir kennen. Beide sind in ihren wichtigsten Teilen als „Fallrecht“ entstanden. Das geschah in der Weise, dass man – gleichsam in einem experimentierenden Denken – Antworten auf Gerechtigkeitsfragen suchte, die der Alltag aufwarf. Dabei wurden verschiedene Elemente der Entscheidungsfindung sichtbar, die schon in unseren bisherigen Überlegungen eine Rolle spielten: Wir finden rational strukturierte Erwägungen und Bewertungen. Und wir finden das Konsensprinzip. Es gibt viele Wege, rechtliche Erwägungen rational zu strukturieren.20 Rational strukturiert ist insbesondere das römischrechtliche „a similibus ad similia procede15
Aristoteles, Topik 100 a, b, 104 a. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1094 b; vgl. H. Kuhn, in: Zeitschr. f. Politik 1965, S. 101 ff. 17 Schleiermacher, Dialektik, hrsg. v. R. Odebrecht, 1942/1976, S. 154 ff., 371 ff., 458. 18 Feuerbach, Grundsätze der Philosophie der Zukunft, 1843 (ed. Suhrkamp, 1975), § 41 (§ 42). 19 Jaspers, Einführung in die Philosophie, 20. Aufl. 1980, S. 25 ff., 119 f. 20 Zippelius, Das Wesen des Rechts, 5. Aufl. 1997, Kap. 8, 11c; Zippelius, Juristische Methodenlehre, 8. Aufl. 2003, §§ 10, 11. 16
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re“21 und das englische „reasoning from case to case“. Hier handelt es sich um eine Strukturierung durch vergleichendes Denken: Zunächst sind begrifflich die Gemeinsamkeiten und die wesentlichen Unterschiede der verglichenen Fälle herauszuarbeiten – dies ist das angelsächsische „distinguishing“ – und es ist darzulegen, aus welchen nachvollziehbaren Gründen der eine Fall dem anderen gleich oder aber ungleich zu bewerten ist.22 Ein anderer Weg, Entscheidungen über Gerechtigkeit rational „aufzubereiten“ sind Entscheidungsanalysen. Sie legen die Vielfalt der Interessen offen, die von einer Entscheidung betroffen sind, auch das Gewicht dieser Interessen und den Grad und die Wahrscheinlichkeit ihrer Betroffenheit. Eine rationale Strukturierung juristischer Erwägungen vollzieht sich ferner durch die Kriterien der Gesetzesauslegung. Diese hat unter den möglichen Wortbedeutungen, die im Bedeutungshorizont von Gesetzesworten liegen, eine begründete Auswahl zu treffen. Diese Auswahl bezieht ihre Argumente insbesondere aus den Forderungen, den Gesetzeszweck zu verwirklichen und logische und teleologische Widersprüche in der Rechtsordnung zu vermeiden. Einer rationalen und insbesondere distanzierten Interessenregulierung dient es ferner, wenn staatliches Handeln nach generellen Regeln – nach dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit – geschieht. Auch institutionelle und prozessuale Sicherungen einer offenen und ausgewogenen Argumentation23 stehen im Dienst einer rationalen Entscheidungsfindung. Neben der rationalen Strukturierung der rechtlichen Erwägungen spielt die Konsenssicherung eine wichtige Rolle. Rechtliche Entscheidungen sollen nicht nur innerhalb der Fachtradition, sondern in einer Demokratie auch mehrheitlich konsensfähig sein. Innerhalb der Fachtradition wird Konsensfähigkeit insbesondere im „reasoning from case to case“ gesucht, aber auch sonst, wenn geprüft wird, ob eine Entscheidung mit vergleichbaren Vorentscheidungen vereinbar ist und ob sie darüber hinaus auch mit den Gerechtigkeitsvorstellungen der gewachsenen Rechtsordnung in Einklang steht, also „systemgerecht“ ist. In einer repräsentativen Demokratie sollen rechtliche Entscheidungen auch für die Mehrheit des Volkes konsensfähig sein, diese also überzeugen können.24 Hinter 21 Digesten 1, 3, 12; Jakobs, De similibus ad similia bei Bracton und Azo, Ius commune, Sonderheft 87, 1996; Siems, Die Analogie als Wegbereiterin zur mittelalterlichen Rechtswissenschaft, in: Festschrift f. W. Goez, 2001, S. 143 ff. 22 Zur Methode des „distinguishing“ etwa MacCormick, Legal Reasoning and Legal Theory, 1978, S. 185 f., 219 ff. 23 Vor allem der Grundsatz des rechtlichen Gehörs, die Öffentlichkeit der Entscheidungsverfahren und überhaupt die Gewährleistungen eines „fair play“. Um unsachlichen Entscheidungen vorzubeugen, sind neutrale Entscheidungsinstanzen, also Gerichte und andere Organe eines Repräsentativsystems, zu schaffen, die nicht in den Interessenkonflikten engagiert sind, über die sie entscheiden. 24 Ausführlich dazu Zippelius, Recht und Gerechtigkeit in der offenen Gesellschaft, 2. Aufl. 1996, Kap. 11.
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dieser Forderung nach mehrheitlicher Akzeptanz steht in der repräsentativen Demokratie erstens der Gedanke demokratischer Legitimität und zweitens ein sehr realer Zwang. Diesen spürt am deutlichsten der Gesetzgeber: Regierungen und Parlamentsmehrheiten müssen schon mit Blick auf die kommenden Wahlen anstreben, dass der überwiegende Teil der von ihnen getroffenen Entscheidungen für den überwiegenden Teil der Bevölkerung akzeptabel ist. Aber auch die hohen Gerichte stehen für den Anteil an der Rechtsentwicklung, der ihnen zukommt, unter einem „Legitimationsdruck“ gegenüber der Rechtsgemeinschaft: Die hohe Gerichtsbarkeit hat eine wichtige „Pfadfinderrolle“ nicht nur für die Rechtsprechung, sondern auch für die parlamentarische Gesetzgebung – aber nur dann, wenn ihre Entscheidungen die Öffentlichkeit überzeugen. Kurz, aufs große Ganze gesehen ist das System der repräsentativen Demokratie darauf angelegt, in rationalen und distanzierten Erwägungen Rechtsgrundsätze hervorzubringen, die nicht nur innerhalb der „Fachtradition“, sondern auch für die Rechtsgemeinschaft mehrheitlich konsensfähig sind. Auch das System der rechtsstaatlichen repräsentativen Demokratie kann aber nicht gewährleisten, dass die Rechtsentwicklung sich ausschließlich gewissensbestimmt vollzieht. Bei der Rechtsbildung kommen auch andere Faktoren zur Wirkung: vor allem Interessen und Machtverhältnisse, oft auch vordergründige, manipulierte Anschauungen und Stimmungen. Die rechtsstaatlichen Strukturen können jedoch dazu beitragen, dass der Anteil sachfremder Einflüsse vermindert wird, dass also in Gerechtigkeitsfragen die Suche nach Konsens kultiviert, in die Bahnen gewissenhafter, vernünftiger Erwägungen gelenkt und dem Gerechtigkeitssinn der Mehrheit angenähert wird. Darin liegt insbesondere eine wichtige Funktion der hohen Gerichte, zumal der Verfassungsgerichte. Wenn die öffentliche Meinungsbildung für Auseinandersetzung und Kritik offengehalten wird, kann auch sie für Korrekturen sorgen. Doch auch wenn man von den Faktoren absieht, die von der Gerechtigkeitsfrage ablenken, bleiben in dieser Gerechtigkeitsfrage selbst oft Meinungsverschiedenheiten bestehen, die rational nicht restlos lösbar sind. Einer Einigung sind insbesondere dadurch Grenzen gesetzt, dass Gerechtigkeitsentscheidungen regelmäßig Interessenabwägungen einschließen und dass wir die verschiedenen Interessen unterschiedlich gewichten. Denken wir z. B. an den Streit, ob und unter welchen Bedingungen ein Schwangerschaftsabbruch erlaubt werden solle. Weitgehende Einigkeit wird hier darüber bestehen, dass das Selbstbestimmungsrecht der Mutter, für sich allein genommen, achtenswert ist; gleiches gilt für das ungeborene Leben. Schwierigkeiten bereitet die Frage, wie die Güter im Kollisionsfall gegeneinander abzuwägen sind, wie hoch hier also jedes der beiden Güter zu gewichten ist: Darüber gehen die Meinungen auseinander. Dass in Interessenabwägungen oft Meinungsverschiedenheiten bestehen, liegt also daran, dass wir die kollidierenden Güter unterschiedlich hoch bewerten. Diese unterschiedlichen Präferenzen sind vermutlich zu einem Teil anlagebedingt,
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zu einem anderen Teil durch die äußeren Lebensumstände mitbestimmt. Insbesondere prägen die kulturbedingten Leitideen, in deren Umfeld der Einzelne aufwächst, oft seine persönlichen Wertungsdispositionen. Auch Stand und Beruf können diese Präferenzen beeinflussen. Rudolf von Jhering meinte, wir nähmen insbesondere solche Dinge wichtig, die Lebensbedingungen unseres Berufes sind.25 Aber auch einzelne Erlebnisse bestimmen die persönliche Wertungsdisposition mit. Erleben wir z. B. eine entwürdigende Ungleichbehandlung oder Verletzung der Meinungsfreiheit, so kann das dazu führen, dass dadurch das Gefühl für den Wert der Gleichbehandlung oder der Meinungsfreiheit geschärft wird. Kurz, wir haben unterschiedliche Wertungsdispositionen;26 und sie werden es wohl für immer verhindern, dass wir über die Lösung aller Gerechtigkeitsfragen restlos einig werden. Das Ergebnis dieser Überlegungen lautet also: Um den praktisch nötigen Bestand an verhaltensregelnden Normen zu erhalten, muss es genügen, Gerechtigkeitsentscheidungen auf der Grundlage eines – kultivierten – mehrheitlichen Konsenses zu treffen. Gerechtfertigt wird solches Vorgehen durch Gründe praktischer Legitimität: Es sind dies Gründe der Demokratie, der Effizienz des Rechts und der Orientierungssicherheit. Das „demokratische“ Argument lautet: Auf diese Weise wird das erreichbare Höchstmaß bürgerlicher Selbstbestimmung respektiert; der individuellen Autonomie – dem persönlichen Rechtsgewissen – wird hierdurch die größtmögliche Chance eröffnet, sich auch in den politisch-rechtlichen Bereich hinein zur Geltung zu bringen. Das Argument der Effizienz lautet: Rechtliche Normen haben dann die besten Aussichten, allgemeinen Rechtsgehorsam zu finden, wenn sie für möglichst viele akzeptabel sind, womöglich den Bahnen der herrschenden Sozialmoral folgen. Schließlich dient es auch der normativen Orientierungsgewissheit in einer Gemeinschaft, wenn die Bürger sich darauf verlassen dürfen, dass Verhaltensweisen, welche die mehrheitlich konsensfähige Sozialmoral billigt oder missbilligt, auch vom Recht in gleicher Weise behandelt werden. Diese Gründe rechtfertigen es, die Gerechtigkeitsentscheidungen einer offenen Gesellschaft auf die gleichberechtigten Überzeugungen der Bürger und – faute de mieux – auf die breitestmögliche Übereinstimmung dieser Überzeugungen zu gründen. III. Hintergründe des Rechtsgefühls Die im individuellen Gewissen gegründeten Gerechtigkeitsurteile bilden also Anfang und Ende unserer Gerechtigkeitseinsicht. Gleichwohl möchten wir wissen, was hinter dem „Rechtsgefühl“ steckt. Was sind die Hintergründe unserer Bewertungen? Mit dieser Frage betritt man aber das Gebiet der Spekulationen. Diese können allenfalls dazu beitragen, unsere Gewissensurteile zu erklären; sie können diese selbst aber nicht außer Kraft setzen.
25 26
V. Jhering, Der Kampf ums Recht, 20. Aufl. 1921. Spranger, Lebensformen, 8. Aufl. 1950, S. 121 ff.
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Manches spricht dafür, dass die Bewertungen, die in unseren moralischen Urteilen mit enthalten sind, in beträchtlichem Umfang durch Traditionen oder durch andere äußere Umstände bedingt sind; dafür spricht insbesondere die Verschiedenheit und tiefgreifende Wandelbarkeit der je vorherrschenden Sozialmoralen. Andererseits finden wir aber auch merkwürdige Übereinstimmungen – gleichsam moralische Konstanten – in den verschiedenen Kulturen. Das legt die Annahme nahe, dass bestimmte Elemente der Sozialmoral schon in der Natur des Menschen begründet sind. 1. Angeborene Verhaltensmuster und Wertungsdispositionen Die zuletzt genannte Frage sucht nach den biologischen Grundlagen unserer Verhaltensmuster und der damit zusammenhängenden Neigung, Verhalten zu bewerten: Die Suche nach angeborenen Verhaltsmustern ist heute das Thema der Soziobiologie.27 Diese ging von der Erfahrung aus, dass das Zusammenleben der Tiere durch angeborene, oft sehr komplexe Verhaltensmuster geregelt wird. Das ließ vermuten, dass im Laufe der Evolution solche Verhaltensmuster herausgezüchtet wurden, die eine lebens- und arterhaltende Funktion hatten. Und es erschien plausibel, dass auch in der Biologie des Menschen bestimmte Verhaltensdispositionen angelegt sind, die Anteil daran haben, das menschliche Sozialverhalten zu regeln. Auch liegt es nahe, dass solche angeborenen Verhaltensdispositionen subjektiv als Wertungsdispositionen in Erscheinung treten. In diesen lassen sich also bruchstückhafte Elemente unserer Moral und damit auch unseres „Rechtsgefühls“ vermuten.28 Hier lag für Konrad Lorenz „die Rückseite des Spiegels“: „Wenn wir finden, daß gewisse Bewegungsweisen und gewisse Normen des sozialen Verhaltens allgemein menschlich sind, d. h., daß sie sich bei allen Menschen aller Kulturen in genau gleicher Form nachweisen lassen, so dürfen wir mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit annehmen, daß sie phylogenetisch programmiert und erblich festgelegt sind.“29 Unter den Verhaltensmustern, die das Zusammenleben von Tieren regeln,30 finden wir solche, die sich auf die Produktion und Aufzucht eines lebenstauglichen Nachwuchses auswirken. Zu ihnen gehören die Auslesekämpfe der Männchen um die Weibchen, unterschiedliche Schemata der Inzestvermeidung, vor allem aber der mütterliche Schutz- und Pflegetrieb gegenüber den eigenen Jungen. Bei rudelweise lebenden Tieren findet sich auch eine Aggressionshemmung und Schutzhaltung gegen27
Wilson, Sociobiology, 1975. Zippelius (Fn. 9), §§ 8 I, 19 IV 1. 29 Lorenz, Die Rückseite des Spiegels, Taschenbuchausgabe 1977, S. 228. 30 Kummer, Sozialverhalten der Primaten, 1975; Wilson (Fn. 27); Lorenz, Das Wirkungsgefüge der Natur und das Schicksal des Menschen, 1978; Wilson, Biologie als Schicksal, (engl. 1978) dt. 1980; Schmidt, Verhaltensforschung und Recht, 1982; Gruter/Rehbinder (Hrsg.), Der Beitrag der Biologie zu Fragen von Recht und Ethik, 1983; Eibl-Eibesfeldt, Die Biologie des menschlichen Verhaltens, 1984, 3. Aufl. 1995; Gruter, Rechtsverhalten, 1993; A. Paul, Von Affen und Menschen, 1998. 28
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über anderen Jungtieren des gleichen Rudels; auch sie dient regelmäßig einer verwandten „Erbmasse“. Wahrscheinlich entstammen diesem biologischen Funktionsbereich auch einige elementare Motivationen menschlichen Verhaltens. Dass die „Mutterliebe“ eine biologische Funktion und Wurzel hat, liegt auf der Hand; ihr entspricht die hohe Wertung, die sie erfährt. Auch Inzesttabus und die Schutzhaltung und Aggressionshemmung gegenüber Kindern, auch gegenüber den Kindern anderer Gruppenmitglieder, könnten genetisch verankert sein. Daneben finden sich „energiesparende“ Verhaltensmuster. Ihr generelles Schema kann man wie folgt umschreiben: Bestimmte Positionen – der Besitz eines Reviers, der Besitz eines Weibchens, die Rangstellung innerhalb der Gruppe – werden ausgekämpft. Die einmal ausgekämpfte Position wird dann aber von den Konkurrenten einstweilen respektiert. Auf diese Weise wird der soziale Frieden nicht permanent in Frage gestellt. Es liegt nahe, dass Individuen und Gruppen, die sich an dieses Schema halten, einen Selektionsvorteil gegenüber Gruppen mit ständig streitenden Konkurrenten haben. Allerdings handelt es sich hier regelmäßig nur um einstweilige Konfliktsregelungsmuster, die in Abständen immer wieder einmal in Frage gestellt werden und dann von neuem ausgekämpft werden. Auch hier könnte von der Biologie her einiges für unser Verhalten und unsere Wertungen vorgeformt sein. So finden wir wohl in allen Kulturen dauerhafte Bindungen der Geschlechter in verschiedenartigen Eheformen, die Respektierung wenigstens eines minimalen privaten Besitzes und das Akzeptieren mindestens informeller und zeitweiliger Führungsstrukturen. Selbst bei Kommunarden, die in jüngster Vergangenheit eine Frauen- und Gütergemeinschaft in ihr ideologisches Programm schrieben, haben sich faktisch immer wieder informelle Paarbindungen hergestellt, und auch privater Besitz, etwa an Sachen des persönliche Gebrauchs oder an einem persönlichen Schlafplatz, wurde hier regelmäßig beansprucht und von den anderen Gruppenmitgliedern respektiert.31 Vieles bleibt aber unbestimmt: Ungewiss ist oft schon, welche Dispositionen überhaupt in unserer natürlichen Anlage stecken, unsicher ist vor allem, mit welcher Motivationskraft angeborene Verhaltens- und Wertungsdispositionen in uns wirksam sind. Fast ganz auf Vermutungen angewiesen bleibt man hinsichtlich solcher Verhaltensdispositionen, die vielleicht in der spezifischen Lebenssituation der Hominiden und der frühen Menschheitsentwicklung „herausgezüchtet“ wurden, also in den Jahrhunderttausenden eines wahrscheinlich in Kleingruppen verbrachten Jäger- und Sammlerdaseins.32 In diesem Zeitraum hat sich wohl jene Kooperationsfähigkeit der Menschen entwickelt, die durch Kommunikation und gemeinsame, handlungsleitende Vorstellungen vermittelt ist. Im Zusammenhang damit wurde möglicherweise auch der Grund für die Indoktrinierbarkeit und Fanatisierbarkeit der Menschen gelegt; diese konnte einst eine wirksame Voraussetzung für engagierte Gruppenunternehmungen bilden, und sie scheint heute noch in Kriegen und Veranstaltungen des Massenzeitalters in atavistisch anmutender Weise hervorzubrechen. 31 32
Mehnert, Jugend im Zeitbruch, 1976, S. 283 ff. Vgl. Wilson (Fn. 27), S. 565 ff.
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Doch sollte man nicht allzu schnell kühne Hypothesen aufstellen. Die Vielgestaltigkeit der bei Naturvölkern gefundenen Verhaltensmuster33 mahnt auch hier zur Vorsicht. Die Unsicherheit über die biologischen Grundlagen der Sozialmoral verstärkt sich noch, wenn wir bedenken, dass die biologisch vorgegebenen Verhaltensneigungen sich nicht zu einer kompletten und funktionsfähigen Verhaltensordnung einer urbanisierten Gemeinschaft zusammenfügen. Die fragmentarischen, naturbedingten Motivationen mussten daher vielfältig kulturell „überformt“ und durch kulturell geschaffene Institutionen ergänzt wurden. Sie bedurften auch normativer Korrekturen.34 Und wer wollte die angeborenen Anteile einer Sozialmoral von den kulturbedingten unterscheiden? 2. Erlernte Verhaltensnormen und Wertungen Die Soziobiologie kann also das Rechtsgefühl nicht zureichend erklären. Doch auch die Kulturwissenschaft vermag das nicht: Gewiss spielen kulturelle Traditionen eine wichtige Rolle bei der Herausbildung der Verhaltensnormen und Wertungen, die in einer Gemeinschaft vorherrschen: Wir wachsen in die Verhaltensmuster und Wertungen unseres angestammten Lebensbereiches hinein; diese werden hierdurch zu Selbstverständlichkeiten unseres Verhaltens und Wertens. Wir verinnerlichen weitgehend die Erwartungen, denen wir uns in unserer sozialen Umwelt gegenübersehen.35 Doch können Traditionen nicht in einem unendlich fortschreitenden Regress in Traditionen aufgelöst werden. Wo also haben die Traditionen selbst ihre Ursprünge? Verhaltensregeln und ihnen entsprechende Wertungen können aus Gewohnheiten des Zusammenlebens entstanden sein, mit denen sich alltägliche Bedürfnisse auf zweckmäßige Weise befriedigen ließen. Sie können auch den Lehren von Religionsstiftern oder Philosophen entsprungen sein, wie in den Fällen der buddhistischen, der konfuzianischen, der christlichen und der mohammedanischen Moral. Auch das gesetzte Recht kann durch seine Verhaltensregeln das Rechtsgefühl prägen und „erziehen“. In diesen komplexen Vorgängen, in denen sich eine Sozialmoral bildet, wird neben anderen Faktoren vermutlich auch ein ursprüngliches Bemühen um eine gerechte und billige Ordnung wirksam. Noch deutlicher wird dies bei einem Wandel der Traditionen. Solcher Traditionswandel vollzieht sich oft in Auseinandersetzungen individu33 Vgl. Westermarck, Ursprung und Entwicklung der Moralbegriffe, Bd. I, 1907, S. 279 ff.; Eibl-Eibesfeldt, Krieg und Frieden, 1975, insbesondere S. 145 ff. 34 So mochte etwa eine entschiedene Aggressionsbereitschaft in wildlebenden Kleingruppen überlebensfreundlich sein; in einer urbanisierten Gemeinschaft wäre sie das nicht. Entsprechendes würde für ein ungehemmtes Ausleben des Fortpflanzungstriebes gelten. Zippelius (Fn. 9), §§ 8 II, 19 IV 1. 35 V. Jhering, Der Kampf ums Recht und andere Aufsätze, hrsg. v. Rusche, 1965, S. 417 f.; Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts, 3. Aufl. 1967, S. 51, 63.
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ellen Gerechtigkeitsempfindens mit den Traditionen. Zumal bei Reformen und an revolutionären Wendepunkten der politischen und moralischen Entwicklung findet sich oft ein gehäuftes Aufbegehren des Gewissens gegen die Tradition. Kurz, das Gerechtigkeitsempfinden selbst ist wohl schon in den Ursprüngen, besonders aber bei den Wandlungen der Traditionen als ein konstitutives Element wirksam. Darum kann es selbst nicht ausreichend aus Traditionen erklärt werden. Der Ertrag der beiden Versuche, das Rechtsgefühl zu hinterfragen, ist erwartungsgemäß bescheiden: Der soziobiologische und der kulturgeschichtliche Ansatz haben nur sehr unvollkommene Erklärungen geliefert, und der Jurist ist nicht viel klüger als vorher. Auf die Frage nach dem Zugang zur Gerechtigkeit bleibt also nur die schon zuvor gefundene Antwort: IV. Der sokratische Weg Der Weg zur Gerechtigkeit erweist sich als ein mühsamer Weg von „trial and error“. Auf diesem Wege werden Vorstellungen über gerechte Problemlösungen in rational strukturierten Erwägungen und Bewertungen gewonnen. In diesen werden Problemlösungen entworfen, überprüft und immer wieder auch korrigiert.36 Die darin enthaltenen Gerechtigkeitsurteile haben ihre letzte Legitimation in konsensfähigen Entscheidungen, die nach bestmöglicher Einsicht des Gewissens – oft eines richterlichen Gewissens – getroffen werden. In dieser Weise wird im Laufe der Rechtsgeschichte ein Bestand mehrheitlich konsensfähiger Gerechtigkeitsvorstellungen traditionsbildend entwickelt und zu einem Teil der Kultur. In diesem Geschehen spielt der Jurist eine wichtige Rolle. Fortwährend ist er herausgefordert, rationale Antworten auf Fragen des Rechts und der Gerechtigkeit suchen zu müssen, ohne ganz an ein Ende zu gelangen. So findet sich auch die Jurisprudenz auf dem Erkenntnisweg, den – im Grundsatz – einst Xenophanes37 und Sokrates betraten. Es ist der Weg, den auch das Horazische „sapere aude“ bezeichnet: In seinem Doppelsinn fordert es den Mut, auf die Fragen, welche das Leben uns aufgibt, rationale Antworten zu suchen, sich dabei aber immer bewusst zu bleiben, dass solche Antworten oft fragwürdig und ein Wagnis sind.
36 37
Dazu Zippelius, Die experimentierende Methode im Recht, Akad.-Abh. Mainz, 1991. Heitsch, Xenophanes und die Anfänge kritischen Denkens, Akad.-Abh. Mainz, 1994.
Schriftenverzeichnis von Klaus Vieweg I. Selbstständige Schriften und umfangreiche Beiträge in Sammelwerken 1.
Gefahren und Gefahrenbeurteilungen in der Rechtsordnung Großbritanniens, in: R. Lukes (Hrsg.), Gefahren und Gefahrenbeurteilungen im Recht, Bd. III, Köln/Berlin/ Bonn/München 1980, S. 1 – 188.
2.
Wirtschaftsförderung in Mexiko – Die staatlichen Finanzierungsfonds (zusammen mit R. Ulrichs, hrsg. von der Deutsch-Mexikanischen Industrie- und Handelskammer), MexikoStadt 1981, 58 S.
3.
Arbeitsrecht in Mexiko (zusammen mit G.-J. Scholz, hrsg. von der Deutsch-Mexikanischen Industrie- und Handelskammer), Mexiko-Stadt 1981, 61 S.
4.
Atomrecht und technische Normung (Dissertation Münster), Berlin 1982, 279 S.
5.
Jurastudium und Wahlstation im Ausland (hrsg. zusammen mit B. Großfeld), Münster 1986, 195 S.
6.
Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen in ausgewählten EG-Staaten (zusammen mit R. Lukes u. E. Hauck), Berlin 1986, 526 S.; S. 111 – 159 (Bericht Dänemark), S. 227 – 290 (Bericht Großbritannien), S. 291 – 334 (Bericht Irland), S. 461 – 526 (Bericht Niederlande).
7.
Normsetzung und -anwendung deutscher und internationaler Verbände – Eine rechtstatsächliche und rechtliche Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der Sportverbände (Habilitationsschrift Münster), Berlin 1990, 386 S.
8.
JuS-Auslandsstudienführer – Jurastudium und Wahlstation im Ausland (hrsg. zuammen mit B. Großfeld) 2. Aufl., München 1991, 198 S.
9.
Sponsoring im Sport (Hrsg.), Stuttgart/München/Hannover/Berlin/Weimar/Dresden 1996, 91 S.
10.
Doping – Realität und Recht (Hrsg.), Berlin 1998, 420 S.
11.
Beiträge zum Wirtschafts-, Europa- und Technikrecht – Festgabe für Rudolf Lukes zum 75. Geburtstag (hrsg. zusammen mit W. Haarmann), Köln/Berlin/Bonn/München 2000, 262 S.
12.
Das Sportereignis – Ökonomische und rechtliche Fragen der Sportübertragungsrechte (Hrsg.), Stuttgart/München/Hannover/Berlin/Weimar/Dresden 2000, 53 S.
13.
Doping-Forum – Aktuelle rechtliche und medizinische Aspekte (hrsg. zusammen mit V. Röhricht), Stuttgart/München/Hannover/Berlin/Weimar/Dresden 2000, 215 S.
14.
Vermarktungsrechte im Sport (Hrsg.), Berlin 2000, 180 S.
15.
Rechtsschutz der Athleten gegenüber dem internationalen Sportverband im Hinblick auf Werberechte, in: K. Vieweg (Hrsg.), Vermarktungsrechte im Sport, Berlin 2000, S. 95 – 180.
16.
Techniksteuerung und Recht – Referate und Diskussionen eines Symposiums an der Universität Erlangen-Nürnberg (Hrsg.), Köln/Berlin/Bonn/München 2000, 340 S.
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Schriftenverzeichnis von Klaus Vieweg
17.
juris Praxiskommentar, Band 1 – Allgemeiner Teil (Hrsg.) Onlineversion 1. Aufl. 2002; 2. Aufl. 2004; 3. Aufl. 2006; 4. Aufl. 2008; 5. Aufl. 2010; 6. Aufl. 2012; 7. Aufl. 2014; 8. Aufl. 2017; 9. Aufl. 2020; Printversion Saarbrücken, 2. Aufl. 2005, 1245 S.; 3. Aufl. 2007, 1318 S.; 4. Aufl. 2009, 1412 S.; 5. Aufl. 2010, 1464 S.; 6. Aufl. 2012, 1645 S.; 7. Aufl. 2014, 1558 S.
18.
Spektrum des Technikrechts – Referate eines Symposiums aus Anlaß des 10jährigen Bestehens des Instituts für Recht und Technik in Erlangen (Hrsg.), Köln/Berlin/ Bonn/München 2002, 339 S.
19.
Staudinger, Neubearbeitung 2002 §§ 840 – 843, 848 – 853, Berlin 2002; Neubearbeitung 2007 §§ 840 – 843, 848 – 853, Berlin 2007; Neubearbeitung 2015 §§ 840 – 843, 848 – 853, Berlin 2015.
20.
Produkthaftungsrecht, in: M. Schulte (Hrsg.), Handbuch des Technikrechts, Berlin/Heidelberg/New York/Hong Kong/London/Mailand/Paris/Tokio 2003, 2. Aufl. 2011 (hrsg. von M. Schulte/R. Schröder), S. 337 – 383.
21.
Spektrum des Sportrechts – Referate zweier Gemeinschaftstagungen der Universitäten Erlangen und Tübingen im Deutschen Olympischen Institut, Berlin (Hrsg.), Berlin 2003, 412 S.
22.
Sachenrecht – Lehrbuch (zusammen mit A. Werner), Köln/Berlin/Bonn/München 2003, 602 S.; 2. Aufl. 2005, 658 S.; 3. Aufl. 2007, 664 S.; 4. Aufl. 2010, 630 S.; 5. Aufl. 2011, 650 S.; 6. Aufl. München 2013, 667. S; 7. Aufl. München 2015, 671 S., 8. Aufl. München 2018, 671 S.
23.
Sachenrecht – Casebook (zusammen mit A. Röthel), Köln/Berlin/Bonn/München 2003, 283 S.; 2. Aufl. (Fälle zum Sachenrecht – Ein Casebook), München 2012, 255 S.; 3. Aufl., München 2014, 259 S.; 4. Aufl., München 2017, 261 S.
24.
Sachenrecht – Examinatorium (zusammen mit A. Neumann u. Th. Regenfus), Köln/Berlin/Bonn/München 2003, 269 S.; 2. Aufl. 2011 (zusammen mit Th. Regenfus), München 2011, 323 S.
25.
Gegenwartsfragen des Sportrechts – Ausgewählte Schriften von Udo Steiner (hrsg. zusammen mit P. J. Tettinger), Berlin 2004, 260 S.
26.
Recht der Wirtschaft und der Arbeit in Europa – Gedächtnisschrift für Wolfgang Blomeyer, (hrsg. zusammen mit R. Krause u. W. Veelken), Berlin 2004, 891 S.
27.
Risiko – Recht – Verantwortung, Erlanger Symposium am 9./10. Juli 2004 (Hrsg.), Köln/ Berlin/Bonn/München 2006, 554 S.
28.
Sportstätten – Finanzierung, Vermarktung, Vergaberechtliche Probleme (hrsg. zusammen mit M. Schimke), Stuttgart 2004, 64 S.
29.
Festschrift für Volker Röhricht zum 65. Geburtstag – Gesellschaftsrecht, Rechnungslegung, Sportrecht (hrsg. zusammen mit G. Crezelius und H. Hirte), Köln 2005, 1306 S.
30.
Perspektiven des Sportrechts, Referate der vierten und fünften Interuniversitären Tagung Sportrecht (Hrsg.), Berlin 2005, 308 S.
31.
Lizenzerteilung und -versagung im Sport (Hrsg.), Stuttgart 2006, 75 S.
32.
Prisma des Sportrechts, Referate der sechsten und siebten Interuniversitären Tagung Sportrecht (Hrsg.), Berlin 2006, 371 S.
33.
Sachverständigenanhörung durch den Sportausschuss des Deutschen Bundestages, 17. Sitzung vom 27. September 2006, Protokoll Nr. 16/17.
34.
Legal Comparison and the Harmonisation of Doping Rules and Regulations – Pilot Study for the European Commission (hrsg. zusammen mit R. Siekmann), Berlin 2007, 705 S.
Schriftenverzeichnis von Klaus Vieweg
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Schiedsrichter und Wettkampfrichter im Sport (hrsg. zusammen mit Chr. Krähe), Stuttgart/München/Hannover/Berlin/Weimar/Dresden 2008, 69 S.
36.
Facetten des Sportrechts – Referate der achten und neunten Interuniversitären Tagung Sportrecht (Hrsg.), Berlin 2009, 250 S.
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Digitale Daten in Geräten und Systemen (hrsg. zusammen mit H. Gerhäuser), Köln 2010, 267 S.
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Faszination Sportrecht, Online-Publikation abrufbar unter http://www.irut.de/Forschung/ Veroeffentlichungen/OnlineVersionFaszinationSportrecht/FaszinationSportrecht.pdf; Neubearbeitung 2010. Neubearbeitung 2015.
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The Appeal of Sports Law, Online-Publikation abrufbar unter http://www.irut.de/For schung/Veroeffentlichungen/OnlineVersionFaszinationSportrecht/FaszinationSportrecht Englisch.pdf; Neubearbeitung 2010. Ebenda sind abrufbar die französische, ungarische, polnische, türkische und chinesische Übersetzungen von „Faszination Sportrecht“.
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Akzente des Sportrechts – Referate der zehnten und elften Interuniversitären Tagung Sportrecht (Hrsg.), Berlin 2012, 302 S.
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Sports Law Germany (zusammen mit A. Krause), in: International Encyclopaedia of Laws, Alphen aan den Rijn 2013, 279 S.
42.
Lex Sportiva – Referate der 12. Interuniversitären Tagung Sportrecht (Hrsg.), zweisprachiger Band, Berlin 2015, englischer Teil 252 S., deutscher Teil 184 S.
43.
„Techno-Doping“ (Hrsg.), Stuttgart/München/Hannover/Berlin/Weimar/Dresden 2015, 65 S.
44.
Impulse des Sportrechts – Referate der 13. und 14. Interuniversitären Tagung Sportrecht (Hrsg.), Berlin 2015, 319 S.
45.
Inspirationen des Sportrechts – Referate der 15. und 16. Interuniversitären Tagung Sportrecht (Hrsg.), Berlin 2016, 331 S.
46.
Festgabe Institut für Recht und Technik (Hrsg.), Köln 2018, 517 S.
47.
Wirtschaftsrecht – Grundlagen (hrsg. zusammen mit M. Fischer), Baden-Baden 2019, 482 S.
48.
Rechtsfragen der Digitalisierung im Sport (Hrsg.), Stuttgart/München/Hannover/Berlin/ Weimar/Dresden 2020, 61 S.
49.
Erlanger Sportrechtstagungen 2018 und 2019 (Hrsg.), Berlin 2020, 277 S.
1.
Der Schülersportunfall – Rechtsfolgen für den Lehrer, Sportunterricht 1979, S. 449 – 453 und 1980, S. 1721.
2.
Diskussionsbericht, in: R. Lukes (Hrsg.), Gefahren und Gefahrenbeurteilungen im Recht, Bd. I, Köln/Berlin/Bonn/München 1980, S. 177 – 201.
3.
Gefahren und Gefahrenbeurteilungen in der Rechtsordnung Großbritanniens (Vortrag), in: R. Lukes (Hrsg.), Gefahren und Gefahrenbeurteilungen im Recht, Bd. I, Köln/Berlin/Bonn/München 1980, S. 103 – 116.
4.
Antizipierte Sachverständigengutachten – Funktion, Verwertungsformen, rechtliche Bedeutung, NJW 1982, S. 2473 – 2476.
II. Aufsätze, Beiträge, Vorträge, Berichte und Buchbesprechungen
814 5.
Schriftenverzeichnis von Klaus Vieweg Der Kerntechnische Ausschuß (KTA) – Rechtliche Einordnung und deren Bedeutung für die Normungspraxis, Energiewirtschaftliche Tagesfragen 1983, S. 43 – 48.
6.
Zur Einführung: Sport und Recht, JuS 1983, S. 825 – 830.
7.
Besprechung von J. F. Baur, Vertragliche Anpassungsregelungen – dargestellt am Beispiel langfristiger Energielieferungsverträge, Energiewirtschaftliche Tagesfragen 1984, S. 654 f.
8.
Die gerichtliche Nachprüfung von Vereinsstrafen und -entscheidungen, JZ 1984, S. 167 – 173.
9.
Berichte Dänemark, Vereinigtes Königreich von Großbritannien und Nordirland, Irland und Niederlande, in: R. Lukes, Die Rechtsvorschriften und die Verwaltungspraxis in den Mitgliedstaaten der EG und bei der EG-Kommission in bezug auf den Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen, Dortmund 1985, S. 12 – 28, 50 – 63, 64 – 73 und 100 – 117.
10.
Gleichschaltung und Führerprinzip – Zum juristischen Instrumentarium der Organisation des Sports im Dritten Reich, in: P. Salje (Hrsg.), Recht und Unrecht im Nationalsozialismus, Münster 1985, S. 244 – 271.
11.
Technische Normung und Produzentenhaftung/Verbraucherschutz, in: R. Scholz (Hrsg.), Wandlungen in Technik und Wirtschaft als Herausforderung des Rechts, Köln 1985, S. 128 – 143.
12.
Der Kohlepfennig und das EG-Subventionsrecht (zusammen mit F.-J. Schöne), Energiewirtschaftliche Tagesfragen 1986, S. 438 – 443.
13.
Sport und Umwelt – rechtliche Implikationen des Konflikts, Sportwissenschaft 1986, S. 148 – 166.
14.
Juristische Ausbildung im Ausland, JuS 1987, S. 1002 – 1007.
15.
Sportanlagen und Nachbarrecht, JZ 1987, S. 1104 – 1112.
16.
Verbraucherschutz durch technische Normen und vergleichende Warentests, NJW 1987, S. 2726 f.
17.
Zur Inhaltskontrolle von Verbandsnormen, in: H. Leßmann/B. Großfeld/L. Vollmer (Hrsg.), Festschrift für Rudolf Lukes, Köln/Berlin/Bonn/München 1989, S. 809 – 823.
18.
Besprechung der Schriftenreihe „Recht und Sport“, im einzelnen folgender Bände: E. Scheffen (Hrsg.), Haftung und Nachbarschutz im Sport; W. Grunsky (Hrsg.), Werbeträger und Sportvermarktung; E. Reschke (Hrsg.), Sport als Arbeit; W. Schild (Hrsg.), Rechtliche Fragen des Dopings; P. J. Tettinger (Hrsg.), Subventionierung des Sports; D. Reuter (Hrsg.), Einbindung des nationalen Sportrechts in internationale Bezüge, Sportwissenschaft 1989, S. 438 – 444 und 1990, S. 90 – 97.
19.
Book Review J. A. R. Nafziger, International Sports Law, The International Lawyer 1990, S. 860 – 862.
20.
Besprechung von F. van Look, Vereinsstrafen als Vertragsstrafen, WM 1991, S. 210 f.
21.
Datenschutz und EG-Binnenmarkt, in: H. Corsten/L. Schuster/B. Stauss (Hrsg.), Die soziale Dimension der Unternehmung, Berlin 1991, S. 207 – 224.
22.
Doping und Verbandsrecht, NJW 1991, S. 1511 – 1516.
23.
Judicial Review of Sport Related Decisions in Germany, in: International Athletic Foundation (ed.), Supplement Sport & Law, Supplement to the Official Proceedings of the IAF Symposium on Sport & Law Monte Carlo, 31 Jan – 2 Feb 1991, p. 87 – 97.
Schriftenverzeichnis von Klaus Vieweg
815
24.
Technische Normen im EG-Binnenmarkt, in: P. C. Müller-Graff (Hrsg.), Technische Regeln im EG-Binnenmarkt, Baden-Baden 1991, S. 57 – 78.
25.
Doping und Verbandsrecht – Zum Beschluß des DLV-Rechtsausschusses im Fall Breuer, Krabbe, Möller, NJW 1992, S. 2539 f.
26.
Sport and Law of Sport in a Federal System – The Situation in the Federal Republic of Germany, in: Illustre College d’Avocats de Barcelona/Generalitat de Catalunya (ed.), Congrés International del Dret Il’Esport, Barcelona 26, 27 i 28 de març de 1992, S. 92 – 103.
27.
Sport and Law of Sport in a Federal System – The Situation in the Federal Republic of Germany, International Sports Law Review (Pandektis) 1992, p. 215 – 230.
28.
Anmerkung zu BGH, Urteil vom 29. 4. 1993 – IX ZR 215/92 (Anwendbarkeit des § 419 BGB auf die Liquidationstreuhand), JR 1994, S. 108 – 110.
29.
Embryonenschutzgesetz und Vertragsrecht, in: W. Küper/J. Welp (Hrsg.), Beiträge zur Rechtswissenschaft – Festschrift für Walter Stree und Johannes Wessels zum 70. Geburtstag, Heidelberg 1993, S. 981 – 995.
30.
Nachbarrecht und Naturschutz, NJW 1993, S. 2570 – 2577.
31.
Normas técnicas europeias e nacionais no mercado interno da Comunidade Europeia, in: Revista de Direito e Economia, Anos XVI a XIX 1990 a 1993, S. 323 – 346.
32.
Recht und Risiko, in: GSF-Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit (Hrsg.), mensch + umwelt, 8. Ausgabe, Neuherberg März 1993, S. 47 – 52.
33.
Sponsoring and Sports Law, in: D. Panagiotopoulos (ed.), The Science of Sports Law – Proceedings of the 1st International Congress on Sports Law, Athens 1993, p. 176 – 188.
34.
Teilnahmerechte und -pflichten der Vereine und Verbände, in: E. Deutsch (Hrsg.), Teilnahme am Sport als Rechtsproblem, Heidelberg 1993, S. 23 – 47.
35.
Zur Einführung: Technik und Recht, JuS 1993, S. 894 – 898.
36.
Legal problems of doping control – the German experience, Pandektis Vol. II, No 3 1994.
37.
Produktbezogener Umweltschutz und technische Normung, in: Jahrbuch des Umweltund Technikrechts 1994, Heidelberg 1994, S. 509 – 543.
38.
Sponsoring und Sportrecht (Teil I), SpuRt 1994, S. 6 – 10.
39.
Sponsoring und Sportrecht (Teil II), SpuRt 1994, S. 73 – 77.
40.
Tagungsbericht 2. Internationaler Kongreß zum Sportrecht, SpuRt 1994, S. 68 f.
41.
Zur Bedeutung der Interessenabwägung bei der gerichtlichen Kontrolle von VerbandsZulassungsentscheidungen, in: Führungs- und Verwaltungs-Akademie Berlin des Deutschen Sportbundes (Hrsg.), Verbandsrecht und Zulassungssperren, Frankfurt/M. 1994, S. 36 – 49.
42.
Anerkannte Regeln der Versicherungsmathematik aus der Sicht der Rechtswissenschaft, in: J. Basedow/E. Schwark/H.-P. Schwintoswki (Hrsg.), Informationspflichten, Europäisierung des Versicherungswesens, Anerkannte Grundsätze der Versicherungsmathematik, Versicherungswissenschaftliche Studien (2. Band), Baden-Baden 1995, S. 163 – 178.
43.
Blut und/oder Urin zum Nachweis von Dopingsubstanzen – Ergebnisse juristischer Gutachten (zusammen mit K. Kühl und P. J. Tettinger), SpuRt 1995, S. 188 – 191.
44.
Disziplinargewalt und Inhaltskontrolle – Zum „Reiter-Urteil“ des Bundesgerichtshofs, SpuRt 1995, S. 97 – 101.
816
Schriftenverzeichnis von Klaus Vieweg
45.
Doping Control – a legal analysis of the German situation, Paper presented to the international symposium on doping in sport and its legal and social control, Birmingham, Alabama, 1996.
46.
Konvergenz oder Divergenz öffentlich-rechtlichen und privatrechtlichen Immissionsschutzes? – Zur Problematik des Lärmschutzes bei nicht genehmigungsbedürftigen Anlagen i. S. v. §§ 22 ff. BImSchG – (zusammen mit A. Röthel), DVBl. 1996, S. 1171 – 1181.
47.
Sponsoring und internationale Sportverbände, in: K. Vieweg (Hrsg.), Sponsoring im Sport, Stuttgart/München/Hannover/Berlin/Weimar/Dresden 1996, S. 53 – 90.
48.
The Law of Torts, in: W. Ebke/M. W. Finkin (eds.), Introduction to German Law, The Hague/London/Boston 1996, p. 197 – 226.
49.
Zivilrechtliche Beurteilung der Blutentnahme zum Zwecke der Dopingkontrolle, in: Bundesinstitut für Sportwissenschaft (Hrsg.), Blut und/oder Urin zur Dopingkontrolle, Schorndorf 1996, S. 89 – 126.
50.
Arbeitskreis Rechtsfragen – Vertragsgestaltung, Werbung, Steuern – des 5. Symposiums der Deutschen Olympischen Gesellschaft, in: N. Wolf/A. Krumpholz/Deutsche Olympische Gesellschaft (Hrsg.), „Sponsored by …“ – Sport trifft Wirtschaft, Frankfurt/M. 1997, S. 57 – 59 u. Anhang.
51.
Athleteninteresse und mögliche Konflikte in Verein und Verband – Ein Beitrag zur aktuellen Diskussion sogenannter Athletenvereinbarungen (zusammen mit I. Hannamann), in: Führungs- und Verwaltungs-Akademie Berlin des Deutschen Sportbundes (Hrsg.), Akademieschrift 49: Rechte der Athleten, Frankfurt/M. 1997, S. 43 – 56.
52.
Besprechung von Martin Schimke, Sportrecht, SpuRt 1997, S. 71.
53.
Innehabung und Durchsetzung sponsoringrelevanter Rechte – Das Dilemma der Athleten im kommerzialisierten Sport, in: Württembergischer Fußballverband (Hrsg.), Sponsoring im Sport, Stuttgart 1997, S. 22 – 55.
54.
Produktrückruf als Instrument präventiven Verbraucherschutzes – Bisherige Rechtslage und Änderungen nach Inkrafttreten des Produktsicherheitsgesetzes (zusammen mit C. Schrenk), in: JURA 1997, S. 561 – 569.
55.
Reaktionen des Rechts auf Entwicklungen der Technik, in: M. Schulte (Hrsg.), Technische Innovation und Recht – Antrieb oder Hemmnis?, Heidelberg 1997, S. 35 – 54.
56.
Auswirkungen des Europarechts auf den Sport – Europaweite Ausschreibung und Vergabe von Bau- und Architektenleistungen sowie Zulässigkeitsgrenzen kommunaler Subventionierung, in: Europäische Akademie des Sports (Hrsg.), Akademieschriften Bd. 12: Lokale und kommunale Sportstrukturen in Europa, Velen 1998, S. 110 – 121.
57.
Grundinformationen zur Dopingproblematik, in: K. Vieweg (Hrsg.), Doping – Realität und Recht, Berlin 1998, S. 21 – 35.
58.
Dopingvermeidung und Verbandsrecht – Regelkreismodell, Ergebnisse und Analyse einer explorativen Erhebung, in: K. Vieweg (Hrsg.), Doping – Realität und Recht, Berlin 1998, S. 113 – 133.
59.
Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Hamburg verleiht Ehrendoktorwürde an Volker Röhricht, SpuRt 1998, S. 218.
60.
Inline-Skating – Rechtstatsachen, Rechtslage und Reformbedarf, NZV 1998, S. 1 – 7.
61.
Soziale und wirtschaftliche Machtpositionen im Sport – Rechtstatsächliche Situation und (kartell)rechtliche Grenzen (zusammen mit I. Hannamann), in: Württembergischer Fußballverband (Hrsg.), Sport, Kommerz und Wettbewerb, Stuttgart 1998, S. 49 – 83.
Schriftenverzeichnis von Klaus Vieweg
817
62.
Sponsorship, International Sports Associations and Litigation – From the Perspective of German Law, in: Nottingham Law Journal, Volume 7, 1998, p. 53 – 60.
63.
Basic Freedoms and Autonomy in Sport – From the Perspective of German and European Law, in: D. Panagiotopoulos (Hrsg.), TO AhKHTIKO DIKAIO STON 218 AIYNA: AhKHTIKH DPASTHPIOTHTA KAT‘ E@ACCEKMA, AhHNA 1999, S. 166 – 187. Auch abgedruckt in: D. Panagiotopoulos (ed.), Sports Law (Lex Sportiva) in the World, Athens-Komotini 2004, p. 285 – 305.
64.
Besprechung von J. Fritzweiler, B. Pfister und T. Summerer, Praxishandbuch Sportrecht, NJW 1999, S. 629.
65.
Das Bosman-Urteil und seine Folgewirkungen für den Sport in Europa, in: D. H. Jütting (Hrsg.), Sportvereine in Europa zwischen Staat und Markt, Münster 1999, S. 114 – 133.
66.
Der verständige Durchschnittsmensch im privaten Nachbarrecht – Zur Wesentlichkeit i. S. des § 906 BGB (zusammen mit A. Röthel), NJW 1999, S. 969 – 975.
67.
Die Unbestimmtheit des § 906 BGB – Ein Beitrag zum Thema Sprache und Recht, in: W. Ebke/U. Hübner (Hrsg.), Festschrift für Bernhard Großfeld zum 65. Geburtstag, Heidelberg 1999, S. 1251 – 1267.
68.
Europaweite Ausschreibung und Vergabe beim Sportstättenbau – Zur Neukodifikation des Vergaberechts in den §§ 97 ff. GWB (zusammen mit F. Oschütz), SpuRt 1999, S. 45 – 49.
69.
Rechtsprobleme des Dopings, Leistungssport 1999, S. 29 – 31.
70.
Technik und Recht, in: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften /Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaft (Hrsg.), Beiträge zum Arbeitssymposium des Konvents für Technikwissenschaften (KTW) „Technik und Technikwissenschaften – Selbstverständnis, Gesellschaft, Arbeit“, Berlin/Düsseldorf 1999.
71.
Round Table: The International Regulation of Doping in Sports – Towards Harmonization?, SpuRt 2000, S. 43 – 44.
72.
Technik und Recht, in: K. Vieweg/W. Haarmann (Hrsg.), Beiträge zum Wirtschafts-, Europa- und Technikrecht – Festgabe für Rudolf Lukes zum 75. Geburtstag, Köln/Berlin/ Bonn/München 2000. S. 199 – 213.
73.
Zur Einführung: Aktuelle Probleme des Dopings, in: K. Vieweg/V. Röhricht (Hrsg.), Doping-Forum – Aktuelle rechtliche und medizinische Aspekte, Stuttgart/München/Hannover/Berlin/Weimar/Dresden 2000, S. 13 – 16.
74.
Basic Freedoms and Autonomy in Sport – From the Perspective of German and European Law, in: Pandektis – International Sports Law Review 2001, p. 5 – 23.
75.
Besprechung von H. R. Horst, Rechtshandbuch Nachbarrecht, NJW 2001, S. 1552 – 1553.
76.
Sicherheitsgesetzbuch als Instrument zur Straffung des Technikrechts?, in: TÜV Saarland-Stiftung (Hrsg.), Congress Documentation of the World Congress Safety of Modern Technical Systems, Köln 2001, S. 473 – 478.
77.
The Legal Autonomy of Sport Organisations and the Restrictions of European Law, in: A. Caiger/S. Gardiner (eds.), Professional Sport in the European Union: Regulation and ReRegulation, The Hague 2001, S. 83 – 106.
78.
10 Jahre Institut für Recht und Technik – Entstehung, Aufgaben und Perspektiven, in: K. Vieweg (Hrsg.), Spektrum des Technikrechts – Referate eines Symposiums aus Anlaß des 10jährigen Bestehens des Instituts für Recht und Technik in Erlangen, Köln/Berlin/Bonn/ München 2002, S. 3 – 7.
818
Schriftenverzeichnis von Klaus Vieweg
79.
Aktualne problemy zwalczania dopingu w sporcie, in: Kultura Fizyczna, Heft 5-6, 2002, S. 25 – 29.
80.
Besprechung von M. Kloepfer, Kommunikation – Technik – Recht, Schriften zum Technikrecht Bd. 6, Berlin 2002, DVBl 2003, S. 1046 f.
81.
Kommentierung der §§ 90 – 103 BGB, in: M. Herberger/M. Martinek/H. Rüßmann/ St. Weth (Hrsg.), juris PraxisKommentar BGB (Online-Version Dezember 2002; Neubearbeitungen: Juni 2004, Juni 2006, Juli 2008, Juni 2010, Juni 2012, Juni 2014, Mai 2017, Mai 2020 [zusammen mit S. Lorz]); Printversion Bd. 1 Allgemeiner Teil, Saarbrücken 2005, S. 331 – 387; Saarbrücken 2007, S. 345 – 406; Saarbrücken 2009, S. 359 – 420; Saarbrücken 2010, S. 361 – 423; Saarbrücken 2012, S. 403 – 470; Saarbrücken 2014, S. 386 – 450.
82.
Kommentierung des § 253 BGB, in: M. Herberger/M. Martinek/H. Rüßmann/St. Weth (Hrsg.), juris PraxisKommentar BGB (Online-Version Dezember 2002; Neubearbeitungen: Juni 2004, Juni 2006, Juli 2008, Juni 2010 [zusammen mit S. Lorz], Juni 2012 [zusammen mit S. Lorz], Juni 2014 [zusammen mit S. Lorz]), Oktober 2014 [zusammen mit S. Lorz], Februar 2020 [zusammen mit S. Lorz]); Printversion Bd. 2.1. Schuldrecht, Saarbrücken 2004, S. 136 – 168; Saarbrücken 2006, S. 150 – 183; Saarbrücken 2008, S. 153 – 187; Saarbrücken 2010 (zusammen mit S. Lorz), S. 160 – 197; Saarbrücken 2013 (zusammen mit S. Lorz), S. 163 – 201; Saarbrücken 2015 (zusammen mit S. Lorz), S. 165 – 202.
83.
The Definition of Doping and the Proof of a Doping Offence (zusammen mit C. Paul), International Sports Law Journal, 2002 S. 2 – 6.
84.
The Harmonisation of Anti-doping Rules and Regulations – Different Approaches on the Basis of a Cybernetic Model, in: Pandektis – International Sports Law Review 2002, p. 343 – 351.
85.
Verbandsautonomie und Grundfreiheiten (zusammen mit A. Röthel), ZHR 2002, S. 6 – 34.
86.
Divergence and Harmony in Sports Law – The Example of Anti-Doping Rules and Regulations –, in: D. C. Umbach/C. Vedder (Hrsg.), Sportgerichtsbarkeit und Sanktionen, Heidelberg/New York 2003, S. 93 – 106.
87.
L’harmonisation des règlements antidopage – approches différentes basées sur un modèle cybernéticien, in: The Human Rights Training Institute of the Paris Bar Association, Sport et Garanties Fondamentales, Violences – Dopage, Paris 2003, p. 419 – 427.
88.
The Harmonisation of Anti-doping Rules and Regulations – Different Approaches on the Basis of a Cybernetic Model, in: The Human Rights Training Institute of the Paris Bar Association, Sports and Fundamental Guarantees. Assault – Doping, Paris 2003, p. 429 – 437. Auch abgedruckt in: D. Panagiotopoulos (ed.), Sports Law (Lex Sportiva) in the World, Athens-Komotini 2004, p. 412 – 421.
89.
Le dopage et l‘affaire Krabbe – Le contrôle juridictionnel des décisions „sportives“ en Allemagne, in: The Human Rights Training Institute of the Paris Bar Association, Sport et Garanties Fondamentales, Violences – Dopage, Paris 2003, p. 553 – 569.
90.
Doping and the Krabbe Cases – The Legal Review of „Sports Decisions“ in Germany, in: The Human Rights Training Institute of the Paris Bar Association, Sports and Fundamental Guarantees. Assault – Doping, Paris 2003, p. 571 – 587.
91.
Vertikale Nachbarschaft im öffentlichen Recht und im Zivilrecht, in: H. de Wall/M. Germann (Hrsg.), Bürgerliche Freiheit und Christliche Verantwortung – Festschrift für Christoph Link zum siebzigsten Geburtstag, Tübingen 2003, S. 985 – 1001.
92.
Besprechung von M. Kloepfer, Umweltrecht, 3. Aufl., München 2004, JZ 2005, S. 516.
Schriftenverzeichnis von Klaus Vieweg
819
93.
Beweisverträge als Instrument privatautonomer immissionsgeprägter Nachbarkonflikte, in: Jahrbuch Umwelt- und Technikrecht 2004, Berlin 2004, S. 351 – 375.
94.
Die Europäische Genossenschaft (SCE) – Initialzündung für eine Reform der eingetragenen Genossenschaft?, in: R. Krause/W. Veelken/K. Vieweg (Hrsg.), Recht der Wirtschaft und der Arbeit in Europa – Gedächtnisschrift für Wolfgang Blomeyer, Berlin 2004, S. 525 – 548.
95.
Kommentierung der §§ 873 – 882 BGB, in: M. Herberger/M. Martinek/H. Rüßmann/ St. Weth (Hrsg.), juris PraxisKommentar BGB (Online-Version Stand: Juni 2004, Neubearbeitung Juni 2006, Juli 2008, Juni 2010, Juni 2012, Juni 2014, Juni 2017, ab Dezember 2020 zusammen mit S. Egger); Printversion Bd. 3 Sachenrecht, Saarbrücken 2005, S. 34 – 81; Saarbrücken 2007, S. 37 – 85; Saarbrücken 2009, S. 38 – 86; Saarbrücken 2010, S. 40 – 92; Saarbrücken 2013, S. 43 – 99; Saarbrücken 2014, S. 45 – 102.
96.
Kommentierung der §§ 906, 907 BGB (ab 2006 zusammen mit T. Regenfus), in: M. Herberger/M. Martinek/H. Rüßmann/St. Weth (Hrsg.), juris PraxisKommentar BGB (OnlineVersion Stand: Juni 2004, Neubearbeitung Juni 2006, Juli 2008, Juni 2010, Juni 2012, Juni 2014, Juni 2017, Juli 2020); Printversion Bd. 3 Sachenrecht, Saarbrücken 2005, S. 219 – 270; Saarbrücken 2007, S. 237 – 291; Saarbrücken 2009, S. 241 – 296; Saarbrücken 2010, S. 264 – 321; Saarbrücken 2013, S. 295 – 360; Saarbrücken 2014, S. 300 – 365.
97.
Kommentierung der §§ 946 – 952 BGB, in: M. Herberger/M. Martinek/H. Rüßmann/ St. Weth (Hrsg.), juris PraxisKommentar BGB (Online-Version Stand: Juni 2004, Neubearbeitung Juni 2006, Juli 2008, Juni 2010, Juni 2012, Juni 2014, Juni 2017, ab Juli 2020 zusammen mit S. Lorz [§§ 946 – 950, 952] und T. Regenfus [§951]); Printversion Bd. 3 Sachenrecht, Saarbrücken 2005, S. 413 – 467; Saarbrücken 2007, S. 454 – 509; Saarbrücken 2009, S. 457 – 515; Saarbrücken 2010, S., 498 – 556; Saarbrücken 2013, S. 557 – 621; Saarbrücken 2014, S. 565 – 629.
98.
Staatliches Anti-Doping-Gesetz oder Selbstregulierung des Sports, SpuRt 2004, S. 194 – 197.
99.
Technik und Recht im Wechselspiel, uni.kurier.magazin 105 (Magazin der FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg), 2004, S. 42 – 43.
100. The Definition of Doping and the Proof of a Doping Offence (an Anti-Doping Rule Violation) under Special Consideration of the German Legal Position, Marquette Sports Law Review, Vol. 15 (Fall 2004) No. 1, p. 37 – 48. 101. Unfallrisiken im Sport und Versicherung, in: P. Bork, T. Hoeren, P. Pohlmann (Hrsg.), Recht und Risiko – Festschrift für Helmut Kolhosser zum 70. Geburtstag, Band I Versicherungsrecht, Karlsruhe 2004, S. 377 – 389. 102. Vergaberecht – Entwicklungen, Probleme, Perspektiven, in: M. Schimke/K. Vieweg (Hrsg.), Sportstätten – Finanzierung, Vermarktung, Vergaberechtliche Probleme, Stuttgart 2004, S. 45 – 64. 103. Fairness and Sports Rules and Regulations – A Contribution to the Problem of „Field of Play“ Decisions, in: D. Panagiotopoulos (ed.), Sports Law – Implementation and the Olympic Games, Athens 2005, p. 207 – 224. 104. Fairness und Sportregeln – Zur Problematik sog. Tatsachenentscheidungen im Sport, in: G. Crezelius/H. Hirte/K. Vieweg (Hrsg.), Festschrift für Volker Röhricht zum 65. Geburtstag – Gesellschaftsrecht, Rechnunglegung, Sportrecht, Köln 2005, S. 1255 – 1275. 105. Schadensersatzrecht, in: M. Martinek/P. Sellier (Hrsg.), Staudinger Eckpfeiler des Zivilrechts, Berlin 2005, S. 365 – 404; 2. Aufl. Berlin 2008, S. 395 – 436; 3. Aufl./Neubearbeitung 2011, Berlin 2010, S. 469 – 512; 4. Aufl./Neubearbeitung 2012/2013, Berlin 2012, S. 521 – 565; 5. Aufl./Neubearbeitung 2014/2015, Berlin 2014, S. 653 – 699; 6. Aufl./
820
Schriftenverzeichnis von Klaus Vieweg Neubearbeitung 2018, Berlin 2018, S. 549 – 596; 7.Aufl./Neubearbeitung 2020 (zusammen mit S. Lorz), Berlin 2020 S. 549 – 598.
106. Sponsoring und Olympische Spiele, in: N. Klamaris/A. Bredimas/A. Malatos (eds.), Olmypic Games and the Law (in Greek), Athens 2005, p. 255 – 265 (griechische Fassung: p. 267 – 273). 107. Verbandsrechtliche Diskriminierungsverbote und Differenzierungsgebote, in: Württembergischer Fußballverband e. V. (Hrsg.), Minderheitenrechte im Sport, Baden-Baden 2005, S. 71 – 89. 108. Volker Röhricht zum 65. Geburtstag (zusammen mit G. Crezelius und H. Hirte), GmbHR 2005, S. 651 – 652. 109. Bans on Discrimination and Duties to Differentiate in the German Law of Sports Organizations, in: The International Sports Law Journal 2006, p. 96 – 100. 110. Besprechung von H. R. Horst, Rechtshandbuch Nachbarrecht, 2. Aufl., Münster 2006, NJW 2007, S. 1861. 111. Die Bedeutung des Bauplanungsrechts für die Auslegung und Anwendung des § 906 BGB (zusammen mit T. Regenfus), in: M.-E. Geis/D. C. Umbach (Hrsg.), Planung – Steuerung – Kontrolle, Festschrift für Richard Bartlsperger zum 70. Geburtstag, Berlin 2006, S. 405 – 425. 112. Schadensteilung bei Haftung von Nebentätern und Mitverantwortung des Geschädigten – Anmerkung zu BGH, Urteil vom 13. 12. 2005 (zusammen mit T. Regenfus), LMK 2006, 178319. 113. Zur Einführung: Probleme und Tendenzen des Lizenzierungsverfahrens (zusammen mit A. Neumann), in: K. Vieweg (Hrsg.), Lizenzerteilung und -versagung im Sport, Stuttgart 2006, S. 9 – 24. 114. Die Auswertung von Fahrzeugdaten bei der Unfallanalyse – Rechtliche Grundlagen und Grenzen, in: Deutsche Akademie für Verkehrswissenschaft e. V. (Hrsg.), 45. Deutscher Verkehrsgerichtstag 2007, Hamburg 2007, S. 292 – 307. 115. Gebrauchs- und Betriebsanleitungen im Kaufrecht, in: M. Kloepfer (Hrsg.), Gebrauchsund Betriebsanleitungen in Recht und Praxis, Berlin 2007, S. 33 – 52. 116. Nachbarrechtlicher Ausgleichsanspruch für Schäden an beweglichen Sachen des Grundeigentümers, Anmerkung zu BGH, Urteil vom 1. 2. 2008 (zusammen mit T. Regenfus), LMK 2008, 261371. 117. Sports Rules and „Field of Play“ Decisions – Can the Fairness Principle be applied?, in: R. Marti/M. Gosh-Schellhorn (Hrsg.) Jouer selon les Règles du jeu/Playing by the Rules of the Game/Spielen nach den Spielregeln, Münster 2008, S. 93 – 113. 118. Tatsachenentscheidungen im Sport – Konzeption und Korrektur, in: Chr. Krähe/K. Vieweg (Hrsg.), Schiedsrichter und Wettkampfrichter im Sport, Stuttgart/München/Hannover/Berlin/Weimar/Dresden 2008, S. 53 – 67. Gliederung und Zusammenfassung auch in: Württembergischer Fußballverband e. V. (Hrsg.), Der Schiedsrichter im Spannungsfeld zwischen Anforderung und Überforderung – oder: Die Fehlbarkeit des Schiedsrichters als Rechtsproblem, Baden-Baden 2009, S. 77 f. 119. Haftungsrecht, in: M. Nolte/J. Horst (Hrsg.), Handbuch Sportrecht, Schondorf 2009, S. 121 – 151. 120. Gleichbehandlung im Sport – Grundlagen und Grenzen (zusammen mit A. Müller), in: G. Manssen/M. Jachmann/C. Gröpl (Hrsg.), Nach geltendem Verfassungsrecht, Festschrift für Udo Steiner zum 70. Geburtstag, Stuttgart u. a. 2009, S. 888 – 908.
Schriftenverzeichnis von Klaus Vieweg
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121. Online-Veröffentlichung von Verbandssanktionen aus rechtlicher Sicht (zusammen mit C. Röhl), SpuRt 2009, S. 192 – 195. 122. Thesen zum Problemfeld technische Sicherheit aus juristischer Sicht, in: P. Winzer/E. Schnieder/F.-W. Bach (Hrsg.), Sicherheitsforschung – Chancen und Perspektiven, acatech DISKUTIERT, Berlin u. a. 2009, S. 117 – 129. 123. Sicherheits- und Risikoterminologie im Spannungsfeld von Technik und Recht (zusammen mit T. Regenfus), in: P. Winzer/E. Schnieder/F.-W. Bach (Hrsg.), Sicherheitsforschung – Chancen und Perspektiven, acatech DISKUTIERT, Berlin u. a. 2009, S. 131 – 144. 124. Sportschiedsgerichtsbarkeit in Polen und Deutschland (zusammen mit M. Kedzior), in: J. C. Joerden/U. Scheffler/A. Sinn/G. Wolf (Hrsg.), Vergleichende Strafrechtswissenschaft, Frankfurter Festschrift für Andrzej J. Szwarc zum 70. Geburtstag, Berlin 2009, S. 605 – 624. 125. Zur Europäisierung des Vereins- und Verbandsrechts, in: I. Saenger/W. Bayer/E. Koch/T. Körber (Hrsg.), Gründen und Stiften, Festschrift zum 70. Geburtstag des Jenaer Gründungsdekans und Stiftungsrechtlers Olaf Werner, Baden-Baden 2009, S. 275 – 287. 126. Vormitgliedschaftliche Rechtsverhältnisse eingetragener Vereine, in: M. Martinek/P. Rawert/B. Weitemeyer (Hrsg.), Festschrift für Dieter Reuter zum 70. Geburtstag am 16. Oktober 2010, De Gruyter 2010, S. 395 – 411. 127. Zur zivilrechtlichen Haftung der Veranstalter und Ausrichter satzungsgemäßer Sportwettkämpfe (zusammen mit C. Röhl), SpuRt 2010, S. 56 – 60. 128. Anmerkung zum Urteil des BGH vom 19. 07. 2010, II ZR 23/09 (OLG Oldenburg), NZG 2010, 1112 (Bemessung des Vereinsbeitrags nach Vorjahresumsatz keine Grundsatzentscheidung), (zusammen mit A. Werner), LMK 2011, 313895. 129. Anti-Discrimination Law and Policy (zusammen mit S. Lettmaier), in: J. Nafziger/S. F. Ross (eds.), Handbook on International Sports Law, Cheltenham (UK)/Northampton (USA) 2011, pp. 258 – 293. 130. Sportunfälle und zivilrechtliche Haftung, in: K.-H. Schneider/S. Luzeng (Hrsg.), Tagungsband Deutsch-Chinesischer Sportrechtskongress 15. bis 20. Oktober 2010 in Bonn, Berlin 2011, S. 15 – 24: chinesische Übersetzung ebenda. 131. „Sachverständigen-Recht“ am Beispiel des Sicherheitsrechts, in: C. Bumke/A. Röthel (Hrsg.), Privates Recht, Tübingen 2012, S. 69 – 78. 132. Sport und Medien – Entwicklungen im Spannungsfeld von Technik, Wirtschaft und Recht, in: K. Möseneder (Hrsg.), Erlanger Forschungen Reihe A, Geisteswissenschaften, Band 124/125, Klimawandel. Mediengesellschaft, Erlangen 2012, S. 111 – 128. 133. Technische Sicherheit im Digitalen Zeitalter, in: A. Klees/K. Gent (Hrsg.), Energie – Wirtschaft – Recht, Festschrift für Peter Salje, Köln 2012, S. 439 – 457. 134. Legal Issues of „Techno Doping“, thinkSPORT (ed.: Sport & Recreation South Africa), vol. 2 no. 3, November 2013, pp. 52 – 56. 135. Lex sportiva und Fairness-Prinzip (zusammen mit P. Staschik), SpuRt 2013, S. 227 – 234. 136. Techno-Doping – Legal Issues Concerning a Nebulous and Controversial Phenomenon, in: D. P. Panagiotopoulos/W. Xiaoping (eds.), Sports Law – Structures, Practice, Justice, Sports Science and Studies, Athens 2013, pp. 115 – 128. 137. Techno-Doping – Legal Issues Concerning a Nebulous and Controversial Phenomenon, in: The Publication Committee of Festschrift für Professor Dr. Kee-Young YEUN on the
822
Schriftenverzeichnis von Klaus Vieweg Occasion of His 60th Birthday (eds.), New Prospects of Sports Law, Seoul 2013, pp. 255 – 273.
138. Lex Sportiva and the Fairness Principle, in: International Sports Law Review Pandektis, 3 – 4, 2014, Volume 10, p. 382 – 394. 139. Schul- und Universitätssport in Deutschland – Realität und Recht, in: The Journal of Sports & Entertainment Law (Vol. 17 No. 1), 2014.2, edited by The Korean Association of Sports & Entertainment Law Inc., pp. 11 – 28 (deutsche Fassung) und pp. 29 – 46 (koreanische Fassung). 140. Das Ehrenamt unter Verantwortungsdruck (zusammen mit H. Kudlich), SpuRt 2015, S. 138 – 143. 141. Risk and the Regulatory State – Various Aspects Regarding Safety and Security in the Fields of Technology and Health, in: H. Micklitz/T. Tridimas (eds.), Risk and EU Law, Cheltenham, UK/Northampton, MA/USA 2015. 142. „Techno-Doping“ – Regelungs- und Durchsetzungsmöglichkeiten der Sportverbände, in: K. Vieweg (Hrsg.), „Techno-Doping“ – Leistungssteigerung durch technische Hilfsmittel aus naturwissenschaftlicher und juristischer Perspektive, Stuttgart u. a. 2015, S. 47 – 64. 143. The Decisions of Sports Physicians from a Legal Perspective, in: D. Panagiotopoulos (ed.), SPORTS LAW, 22 Years I. A.S.L., Lex Sportiva – Lex Olympica and Sports Jurisdiction, Athens 2015, p. 203 – 214. 144. Discrimination issues and related law (zusammen mit James A.R. Nafziger), in: M. Barry/ J.Skinner/T. Engelberg (eds.), Research Handbook of Employment Relations in Sport, Cheltenham, UK, Northampton, MA, USA 2016, p. 272 – 294. 145. Tribute to Lucio Colantuoni – Lex Sportiva and the Jurisdiction of CAS, in: Lex Sportiva Journal Vol. IV, Issue 1 – 2, 2016, p. 7 – 19. 146. 25 Jahre Institut für Recht und Technik, in: K. Vieweg (Hrsg.), Festgabe Institut für Recht und Technik, Köln 2017, S. 175 – 182. 147. Common and Conflicting Interests of Athletes and Sport Organizations from a German Legal Point of View, in: Rassengna di diritto ed economia dello sport, Anno XII n. 2/2017, p. 538 – 542. 148. Legal Problems of Mega Events – Ideas for a Curriculum of a Summer School in Sport Law, in: Russian International Olympic University/International Association of Sports Law (eds.), Mega Events in Sport: Legal Environment, Sochi (Russia) 2017, p. 41 – 47. 149. Wearables – Segen oder Fluch?, SpuRt 2017, S. 133. 150. Sicherheit – Begriffe, Szenarien, Verantwortlichkeiten und Entscheidungsprozesse aus juristischer Sicht, in: J. Beyerer/P. Winzer (Hrsg.), Beiträge zu einer Systemtheorie Sicherheit, München 2018, S. 97 – 106. 151. Verbandsverantwortung für Sportschäden, SpuRt 2018, S. 200 – 204. 152. Professor Dr. Udo Steiner zum 80. Geburtstag, SpuRt 2019, S. 242. 153. Rechtsfragen der technischen Entwicklung – insbes. der Digitalisierung – im Sport, in: A. Szwarc (Hrsg), Sport i prawo 19, S. 315 – 328. 154. Sportdaten nutzen, schützen und sichern, SpuRt 2019, S. 189. 155. Zur Einführung: Wirtschaftsrecht (zusammen mit T. Regenfus), in: K. Vieweg/M. Fischer (Hrsg.), Wirtschaftsrecht – Grundlagen, Baden-Baden 2019, S. 31 – 36. 156. Kartellrecht (zusammen mit S. Egger), in: K. Vieweg/M. Fischer (Hrsg.), Wirtschaftsrecht – Grundlagen, Baden-Baden 2019, S. 193 – 236.
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157. Wettbewerbsrecht (zusammen mit S. Egger), in: K. Vieweg/M. Fischer (Hrsg.), Wirtschaftsrecht – Grundlagen, Baden-Baden 2019, S. 237 – 262. 158. Gewerblicher Rechtsschutz (zusammen mit I. Hannamann), in: K. Vieweg/M. Fischer (Hrsg.), Wirtschaftsrecht – Grundlagen, Baden-Baden 2019, S. 311 – 350. 159. Urheberrecht (zusammen mit A. Moser), in: K. Vieweg/M. Fischer (Hrsg.), Wirtschaftsrecht – Grundlagen, Baden-Baden 2019, S. 351 – 378. 160. Ausschluss und Suspendierung nationaler durch internationale Sportverbände, in: K. Vieweg (Hrsg.), Erlanger Sportrechtstagungen 2018 und 2019, Berlin 2020, S. 85 – 102. 161. Rechtsfragen der Digitalisierung im Kampf- und Schiedsrichterwesen, in: K. Vieweg (Hrsg.), Rechtsfragen der Digitalisierung im Sport, Stuttgart 2020, S. 21 – 32. 162. Sportdaten – Systematisierung für Schutz und Sicherheit, SpuRt 2020, S. 163 – 168. 163. „Smart Contracts“ im Kontext der Entwicklungen von Technik, Wirtschaft und Recht, in: S. Omlor (Hrsg), Festschrift für Michael Martinek zum 70. Geburtstag, München 2020, S. 793 – 804. 164. Legal Issues Arising From Technological Developments – In Particular, Digitalisation In Sport, in: Pandektis – International Sports Law Review Vol. 13, 1 – 2 (2020), p. 30 – 37.
III. Schriftenreihen und Zeitschriften 1.
Mitherausgeber der Schriftenreihe „Recht und Sport“ ab Band 20 (1996) (bisher 30 Bände).
2.
Mitherausgeber der Schriftenreihe „Beiträge zum Sportrecht“ ab 1998 (bisher 60 Bände).
3.
Mitherausgeber der Schriftenreihe „Recht – Technik – Wirtschaft“ ab Band 94 (2004) (bisher 19 Bände).
4.
Mitherausgeber der Schriftenreihe „Erlanger Juristische Abhandlungen für Anwaltsrecht und Anwaltspraxis“ ab 2006 (bisher 5 Bände).
5.
Mitherausgeber der Schriftenreihe „Schriften zum Vereins- und Stiftungswesen“ ab 2009 (bisher 7 Bände).
6.
Mitherausgeber von SpuRt – Zeitschrift für Sport und Recht ab 1. Jahrgang 1994.
7.
Member of the Editorial Board: Pandektis – International Sports Law Review ab 1. Jahrgang 1992.
8.
Member of the Editorial Board /Advisory Board: The International Sports Law Journal ab 1. Jahrgang 2000.
9.
Mitglied des Beirats: Zeitschrift zum Stiftungswesen ab 1. Jahrgang 2003 (ab 8. Jahrgang 2010 Zeitschrift für Stiftungs- und Vereinswesen) bis 11. Jahrgang 2013.
Autorenverzeichnis Arnold, Stefan, Dr. jur., LL. M. (Cambridge), Professor an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Beck, Susanne, Dr. jur., LL. M. (LSE), Professorin an der Leibniz Universität Hannover. Caspers, Georg, Dr. jur., Professor an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Ebke, Werner, Dr. jur., Dr. h. c. mult., LL. M. (Berkeley), Professor em. an der Universität Heidelberg. Egger, Sebastian, Dr. jur., Notarassessor, München. Fischer, Michael, Dr. jur., Professor an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Förster, Jutta, Dr. jur., Vorsitzende Richterin am Bundesfinanzhof, Honorarprofessorin an der Universität Osnabrück. Forschner, Maximilian, Dr. phil., Professor em. an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Gerhäuser, Heinz, Dr.-Ing., Professor em. an der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg. Grundmann, Stefan, Dr. jur. Dr. phil., LL. M. (Berkeley), Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin. Grunewald, Barbara, Dr. jur., Professorin em. an der Universität zu Köln. Gundel, Jörg, Dr. jur., Professor an der Universität Bayreuth. Gutzeit, Martin, Dr. jur., Professor an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Hager, Johannes, Dr. jur., Professor em. an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Hauck, Ernst, Dr. jur., Honorarprofessor an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Vorsitzender Richter am Bundessozialgericht a. D. Heermann, Peter W., Dr. jur., LL. M. (Wisconsin), Professor an der Universität Bayreuth. Hölscheidt, Sven, Dr. jur., apl. Professor an der Freien Universität Berlin, Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages. Hoevels, Niloufar, Dr. jur., Rechtsanwältin, Nürnberg. Hoffmann, Jochen, Dr. jur., Professor an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Jahn, Matthias, Dr. jur., Professor an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, Richter am Oberlandesgericht. Klamaris, Nikolaos K., Dr. jur., Dr. h. c., Professor em. an der Nationalen und Kapodistria Universität Athen.
826
Autorenverzeichnis
Krause, Rüdiger, Dr. jur., Professor an der Georg-August-Universität Göttingen. Kudlich, Hans, Dr. jur., Professor an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Lenk, Hans, Dr. phil. Dr. h. c. mult., Professor em. am Karlsruher Institut für Technologie. Lettmaier, Saskia, Dr. phil., B. A. (Oxford), LL. M., S. J. D. (Harvard), Professorin an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Richterin am Oberlandesgericht. Link, Christoph, Dr. jur. Dr. h. c. mult., Professor em. an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Lorz, Sigrid, Dr. jur., Professorin an der Universität Greifswald. Martinek, Madeleine, Dr. jur., LL. M. (Göttingen), LL. M. oec. (Nanjing), Abteilungsleiterin der Auslandshandelskammer China, Beijing. Martinek, Michael, Dr. jur., Dr. rer. publ., Dr. h. c. mult., M.C.J. (New York), Professor em. an der Universität des Saarlandes. Mertens, Bernd, Dr. jur., Professor an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Müller, Anne, Regierungsdirektorin, Landratsamt Erlangen-Höchstadt. Nafziger, James A. R., J. D., Professor an der Willamette Universität in Salem (USA). Nolte, Martin, Dr. jur., Professor an der Deutschen Sporthochschule Köln. Regenfus, Thomas, Dr. jur., apl. Professor an der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg, Richter am Oberlandesgericht. Röhl, Christoph, Dr. jur., Notar, Hauzenberg. Rohe, Mathias, Dr. jur., Dr. h. c., M. A., Professor an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Rudkowski, Lena, Dr. jur., Professorin an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Saar, Stefan, Dr. jur., Professor em. an der Universität Potsdam. Salje, Peter, Dr. jur., Dr. rer. pol., Professor em. an der Leibniz Universität Hannover. Scherrer, Urs, Dr. jur. utr., Professor an der Hochschule Schaffhausen. Schimke, Martin, Dr. jur., LL. M. (Leuven), Honorarprofessor an der Hochschule Fresenius in Köln, Rechtsanwalt. Schulte, Martin, Dr. jur., Professor an der Technischen Universität Dresden. Sieghörtner, Robert, Dr. jur., LL. M. (Sydney), EMBA (Münster), Honorarprofessor an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Notar. Spengler, Hans-Dieter, Dr. jur., Professor an der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg. Stamm, Jürgen, Dr. jur., Professor an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Steiner, Udo, Dr. jur., Professor em. an der Universität Regensburg, Richter des Bundesverfassungsgerichts a. D. Steinle, Franz, Dr. jur., Präsident des Oberlandesgerichts Stuttgart a. D.
Autorenverzeichnis
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Stewing, Clemens, Dr. jur., Honorarprofessor an der Leibniz Universität Hannover, Rechtsanwalt. Streinz, Rudolf, Dr. jur., Professor em. an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Streng, Franz, Dr. jur., Dr. h. c., Professor em. an der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg. Szwarc, Andrzej J., Dr. hab., Dr. h. c., Professor em. an der Adam-Mickiewicz-Universität Posen, Richter am polnischen Staatsgerichtshof a. D. Vedder, Christoph, Dr. jur., Professor em. an der Universität Augsburg, Rechtsanwalt. Vollkommer, Max, Dr. jur., Professor em. an der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg. Vollmer, Lothar, Dr. jur., Professor em. an der Universität Hohenheim. Wagner, Gert G., Dr. rer. oec., Dr. rer. pol. h. c., Professor em. an der Technischen Universität Berlin. Walker, Wolf-Dietrich, Dr. jur., Professor an der Justus-Liebig-Universität Gießen. de Wall, Heinrich, Dr. jur., Professor an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Weth, Stephan, Dr. jur., Professor an der Universität des Saarlandes. Zippelius, Reinhold, Dr. jur., Dr. h. c., Professor em. an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.