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German Pages 199 Year 1977
Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung
Band 40
Recht, Rechtsleben und Gesellschaft Von
Karl N. Llewellyn Aus dem Nachlaß herausgegeben von
Manfred Rehbinder
Duncker & Humblot · Berlin
KARL N. LLEWELLYN
Recht, Rechtsleben und Gesellschaft
Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung Herausgegeben von Ernst E. Hirsch und Manfred Rehbinder
Band 40
Recht, Rechtsleben und Gesellschaft Von
Karl N. Llewellyn
Aus dem Nachlab herausgegeben von Manfred Rehhinder
DUNCKER & HUMBLOT I BERLIN
Alle Rechte vorbehalten & Humblot, Berlln 41 Gedruckt 1977 bei Buchdruckerei A. Sayffaerth - E. L. Krohn, Berlln 61 Printed in Germany
© 1977 Duncker
ISBN 8 428 08960 2
Inhalt Einleitung des Herausgebers ..........................................
7
Vorwort ..............................................................
19
Erster Teil
Vber eine Erfahrungswissenschaft des Rechtslebens Erstes Kapitel: Wesen und Wert einer Seinswissenschaft vom Rechtsstoff
29
Zweites Kapitel: Der Beobachtungsstoff der Rechtssoziologie: das "Trecht"
41
Drittes Kapitel: Rechtssatz und Beständigkeit beim Richten ............
51
Methodologische Anhänge.. ... .. .. . .. .. .. . .. . ... . .. . .. . . ... . .... ... . ...
67
A. Sozialwissenschaften, Geisteswissenschaften und Behaviorismus ......
67
B. Gefühlsbetonte Bemerkungen über den "wahren" Begriff des Rechts
69
Zweiter Teil
Gesellschaft, Ordnung und Trecht Viertes Kapitel: Ordnung und Gesellschaft: die Handlen ................
77
Fünftes Kapitel: Spielraum und Normen: das Rechtsgefühl
95
Sechstes Kapitel: Ganzheit und Molekül: die Einrichtungen
113
Siebentes Kapitel: Beispiel für eine Ganzheit: die Ehe .................. 130 Achtes Kapitel: Ganzheit und Gestaltung .............................. 167
6 Methodologische Anhänge
Inhalt 188
C. Naturumwelt, Veranlagung und Kulturlehre ........................ 188 D. Gesellschaft und staat: Einheit oder Vielheit? ........................ 191
Einleitung des Herausgebers Als mir Rene König die posthum erschienene Jurisprudence von Karl N. Llewellyn zur Besprechung in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie anvertraute, stieß ich auf einen amerikanischen Rechtssoziologen von ungewöhnlichem Format, der damals selbst in der Literatur seines Heimatlandes in seiner Bedeutung als Rechtssoziologe kaum hinreichend erkannt war. Daraus entstand meine Abhandlung "Karl N. Llewellyn als Rechtssoziologe"t, in der ich versuchte, aus Bruchstücken seines umfangreichen, aber unsystematischen Werkes das System einer Rechtssoziologie zusammenzustellen und gegen Kritiker von Llewellyn zu verteidigen. Dabei hat mich zunächst weniger die soziologische Erforschung der Rechtspflege interessiert, ein deutlicher Schwerpunkt seines Werkes, als seine Lehre von den sozialen Funktionen des Rechts, die er im Rahmen seiner Zusammenarbeit mit dem Anthropologen E. A. Hoebel bei der Erforschung des Rechts der Cheyenne-Indianer entwickelt hatte. Diesen Aspekt habe ich dann später in der Festschrift für Rene König ausführlicher behandelt 2 • Es war daher für mich eine besondere Freude, als kurz darauf eine groß angelegte Studie von William Twining, eines Schülers von Llewellyn, erschien, in der erstmals in voller Breite auf die überragende Bedeutung dieses Wissenschaftlers aufmerksam gemacht wurde 3 • Gibt es doch keine Persönlichkeit der amerikanischen Rechtsliteratur, deren Ausstrahlung derart facettenreich, leuchtend und lebendig ist wie die von Karl Llewellyn: "The only American ever to have been awarded the Iron Cross; the most fertile and inventive legal scholar of his generation; legal theory's most colourful personality since Jeremy Bentham; the only common lawyer known to have collaborated successfully with an anthropologist on a major work; a rare example of a law-teacher poet; the chief architect of the most ambitious common law code of recent times; the most romantic of legal KZfSS 18 (1966), S. 532 - 556. M. Rehbinder: Die gesellschaftlichen Funktionen des Rechts, in: Soziologie, FS Rene König, 1973, S. 354 - 368. Auch habe ich eine seiner bedeutenden früheren Abhandlungen in deutscher Übersetzung in einen rechtssoziologischen Sammelband aufgenommen, vgl. Llewellyn: Eine realistische Rechtswissenschaft - Der nächste Schritt, in: Ernst E. Hirsch / M. Rehbinder: Studien und Materialien zur Rechtssoziologie, 1967, S. 54 - 86. 3 William Twining: Karl Llewellyn and the Realist Movement, London 1973, vgl. auch meine Besprechung in ARSP 61 (1975), S. 597 - 598. 1
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Einleitung des Herausgebers
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l'ealists, the most down-to-earth of legal theorists; the most ardently evangelical of legal sceptics; the most unmethodical of methodologists; and least controvertible of claims, the possessor of one of the most exotic pro se styles in alllegalliterature4." Bereits zu Beginn meiner Beschäftigung mit Llewellyn interessierte mich seine "deutsche Vergangenheit", die sich vielfältig, besonders in seinen rechtssoziologischen Arbeiten niedergeschlagen hat. Ernst E. Hirsch beschrieb mir den lebhaften Eindruck, den Llewellyn im Jahre 1931 bei einem Gastvortrag in Frankfurt/M. hinterlassen hatte 5 , und ich lernte in Berlin einen Jugendfreund von Llewellyn, Herrn Ministerialrat a. D. Hans Lachmund, kennen, der mir vieles aus dem Leben von Llewellyn, insbesondere aus seiner Schulzeit in Schwerin, aber auch von seinen bei den Gastsemestern in Leipzig berichten konnte. Lachmund war es auch, der mir erzählte, daß Llewellyns Freude an originellen Wortschöpfungen selbst vor dem Deutschen nicht haltmachte, und wie enttäuscht er z. B. gewesen sei, daß das Wort "Trecht" als Bezeichnung für das tatsächliche (lebende) Recht bei seinen Leipziger Studenten auf keine Gegenliebe stieß. Da die Leipziger Vorlesungen des Wintersemesters 1928/29 über amerikanisches Richterrecht publiziert worden waren 6 , nahm ich an, daß die Vorlesungen des Wintersemesters 1931/32 nicht schriftlich ausgearbeitet wurden, zumal Llewellyn in seinen Veröffentlichungen nie auf sie eingegangen ist. Zu meiner großen Überraschung fand ich nun aber bei Twining (S. 561) den Hinweis, daß neben den 246 veröffentlichten Werken Llewellyns sich im literarischen Nachlaß auch fast ebensoviele unveröffentlichte Manuskripte befänden, darunter ein Manuskript aus dem Jahre 1932 mit dem Titel "Recht, Rechtsleben und Gesellschaft". Bei meinem nächsten Studienaufenthalt in den USA setzte ich mich daher mit Gerhard Casper von der Chicago Law School in Verbindung, um einen Einblick in dieses Manuskript zu erhalten. Dieser mußte mich aber zunächst nach Deutschland zurückverweisen; denn der deutschsprachige Nachlaß lagerte im Hamburger Max-PlanckInstitut bei Ulrich Drobnig, der bei der Publikation von Twining mitgearbeitet hatte und die Unterlagen noch im Hinblick auf die Beteiligung Llewellyns an den Arbeiten zur Vereinheitlichung des internaSo Twining, S. IX. Im literarischen Nachlaß von Llewellyn, der in der Chicago Law School lagert, befinden sich zwei Briefe von Ernst E. Hirsch an Llewellyn. Einer davon, 1935 aus der Emigration in Instanbul geschrieben, ist abgedruckt in liber amicorum Ernst E. Hirsch, Amriswiler Bücherei 1977, S. 45 f. 8 Kar! N. Llewellyn: Präjudizienrecht und Rechtsprechung in Amerika. Eine Spruchauswahl mit Besprechung. Zwei Teile in einem Bande. Verlag Theodor Weicher, Leipzig 1933; vgl. dazu die Besprechungen von Wüstendörfer in RabelsZ 7 (1933), S. 739 - 742, und v. Mangoldt in ARWPh 27 (1934), 4
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S. 304 - 307.
Einleitung des Herausgebers
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tionalen Kaufrechts auswertete. Drobnig übergab mir die umfangreichen Unterlagen zum Rücktransport in die USA, und ich sah nun, was ich erwartet hatte: es handelte sich um ein vollständiges Manuskript der Leipziger Vorlesungen über Rechtssoziologie, die Llewellyn dort in einer einstündigen Lehrveranstaltung für Hörer aller Fakultäten im Wintersemester 1931/32 gehalten hatte7 • Bei der Durchsicht der übrigen Unterlagen fand ich in der Korrespondenz dann auch den Grund, warum dieses Manuskript, das Llewellyn selbst in einem Vermerk auf dem Inhaltsverzeichnis als publikationsreif bezeichnet hat, damals nicht veröffentlicht wurde. Die Leipziger Fakultät hatte bereits für die Publikation des "Präjudizienrechts" einen Zuschuß von RM 4000,- geleistet und sah sich seinerzeit zur Leistung weiterer Druckkostenzuschüsse außerstande. Ohne einen Zuschuß aber war damals eine Publikation nicht zu bewerkstelligen, da die Wirtschaftskrise die wissenschaftlichen Verlage besonders hart getroffen hatte. Wie bekannt, mußte z. B. Mitte der zwanziger Jahre der Verlag Duncker & Humblot aus wirtschaftlichen Gründen die Drucklegung des Nachlaßwerkes von Eugen Ehrlich ablehnen, das dieser als zweiten Teil seiner Grundlegung konzipiert hatte. Das Manuskript wurde an den Nachlaßverwalter zurückgesandt und ist seitdem verschollen8 • Nach Absagen mehrerer Verlage und trotz Einschaltung von deutschen Kollegen hat auch Llewellyn seinerzeit die Publikation zurückstellen müssen und damit war auch sein Manuskript bis heute "verschollen". Um nun diese Leipziger Vorlesungen besser zu verstehen und in das Gesamtwerk Llewellyns einordnen zu können, ist es nützlich, noch einmal kurz auf sein Leben und Werk einzugehen9 • Karl Nickerson Llewellyn wurde am 22. Mai 1893 in Seattle (Washington) geboren und verbrachte seine Jugend in Brooklyn (New York). Er ist entgegen manchen Annahmen nicht deutscher Abstammung. Sein Vater, von Beruf Kaufmann, war Amerikaner der ersten Generation und stammte von Einwanderern aus Wales ab. Seine Mutter, von Beruf Lehrerin, kam aus einer alteingesessenen Familie aus Neu-England. Da er bereits mit 16 Jahren die High School in Brooklyn absolviert hatte und für den Eintritt in das College der Yale University noch zu jung war, ermöglichte ihm sein Vater im Jahre 1909 einen Deutschlandaufenthalt, um die Kultur der Alten Welt kennenzulernen. 7 Mißverständlich die Darstellung von Twining, S. 107, nach der es sich um eine Erweiterung einer seiner lectures zu einem Buch handeln soll. Bei dem Manuskript befinden sich zwei Ausschnitte aus Leipziger Tageszeitungen, in denen diese Vorlesung als wöchentlich einstündig angekündigt wurde. Die Erweiterung besteht lediglich aus dem Vorwort und einigen handschriftlichen Einschüben und Anmerkungen. 8 Vgl. meine Einleitung zu Eugen Ehrlich: Recht und Leben, 1967, S. 7. 9 Die ausführlichste Darstellung findet sich jetzt bei Twining (N. 3).
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Einleitung des Herausgebers
Er besuchte das Realgymnasium in Schwerin10 und blieb dort von der Obersekunda bis zum Abitur im Frühjahr 1911. Er kam bereits mit ausreichenden Deutschkenntnissen nach Schwerin und beherrschte das Deutsche bald perfekt einschließlich des mecklenburger Platt. Nach dem deutschen Abitur studierte er zunächst im Sommersemester 1911 in Lausanne und begann dann im September 1911 mit dem Besuch des College der Yale University. Auf Betreiben seines Schulfreundes Hans Lachmund, der ihm riet, ihm für ein Semester nach Paris zu folgen und dort die rechtssoziologischen Vorlesungen von Rene Worms zu hören, kam er im Frühjahr 1914 an die Sorbonne. Dort wurde er vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges überrascht, schlug sich zur deutschen Grenze durch und trat als Freiwilliger in das deutsche Heer ein. Als Motiv dafür hatte ich zunächst vermutet, Llewellyn sei von der allgemeinen Kriegsbegeisterung erfaßt gewesenl1 • Später schrieb mir jedoch Hans Lachmund: "Er ist meines Erachtens 1914 nicht ,von der allgemeinen Kriegsbegeisterung erfaßt' gewesen. Ich habe über Karl LIewellyns Teilnahme am Kriege mit ihm schon 1914 und 1915, dann später mit ihm und seiner ersten Frau in Schwerin ... gesprochen. Ich erinnere mich sehr deutlich daran, daß er mir sagte, er sei nicht in den Krieg gezogen, weil er die deutsche Sache für gerecht gehalten habe. Mein Eindruck damals und später war, daß seine Bindung an das junge Mädchen, mit dem er damals so gut wie verlobt war und das aus einer sehr ,national' gesinnten Familie stammte, und der Wunsch, ,dabeigewesen zu sein', die Lust am großen Abenteuer, die entscheidenden Motive gewesen sind. Bei unserer sehr engen Freundschaft glaube ich, daß ich die Dinge richtiger sehen konnte und sah, als manche ihm ferner stehenden Menschen. Daß Karl LI. freilich auch in seinen Anschauungen geschwankt hat (und wieder schwanken würde!), war die Meinung seiner ersten Frau, die sich in diesem Sinne 1927 in Schwerin auf einem langen Spaziergang zu mir geäußert hat. ce
Im November 1914 wurde Llewellyn dann bei Ypres (Flandern) schwer verwundet, erhielt das Eiserne Kreuz 2. Klasse und wurde zum Gefreiten ernannt. Nach dreimonatigem Aufenthalt in einem süddeutschen Lazarett wurde er auf energisches Betreiben der Eltern gegen seinen Willen aus dem Heer entlassen und kehrte im März 1915 in die USA zurückt!. 10 Die Wahl von Schwerin beruhte auf einem Zufall. Llewellyns Vater war in einem Drugstore mit einem Deutsch-Amerikaner ins Gespräch gekommen und hatte ihm erzählt, daß er seinen Sohn in Deutschland oder Frankreich weiter ausbilden lassen wollte. Der Gesprächspartner wies auf seinen Bruder in Schwerin hin. Bei diesem hat Llewellyn dann während seiner Schweriner Zeit gewohnt. 11 N. 1, S. 532. 12 Näheres über Llewellyns Kriegsteilnahme bei Twining, S. 479 - 487. Mit der Rückkehr wurde auch seine Verlobung mit der Schwerinerin Else Hagen gelöst, die er nach seiner Verwundung eingegangen war; denn deren Eltern verlangten, er solle in Deutschland bleiben.
Einleitung des Herausgebers
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Noch im selben Jahr beendete er in Yale das College mit dem B. A. und begann mit dem Studium der Rechte. Von 1916 bis 1919 war er Chefredaktor des angesehenen Yale Law Journal. Von seinen Lehrern beeinflußten ihn neben Hohfeld am nachdrücklichsten der SchuldrechtIer Corbin, den er später seinen father in the law nannte. 1918 erwarb er den Bachelor of Laws, 1919 wurde er Lehrbeauftragter für Handelsrecht und bestand das Rechtsanwaltsexamen für Connecticut, 1920 erhielt er den Jurum Doctor. Von 1920 bis 1922 war er als Spezialist für Handelsrecht in der Rechtsanwaltsfirma Shearman and Sterling (New York) als Rechtsberater der National City Bank tätig. 1922 wurde er zum assistent professor und 1923 zum associate professor an der Yale Law School ernannt. Da er 1924 in erster Ehe die New Yorkerin Elizabeth Sanford heiratete, wechselte er 1925 zur Columbia Law School über, die ihn 1927 zum ordentlichen Professor ernannte. 1930 übernahm er dort den vom Industriellen Betts neu geschaffenen Lehrstuhl, den er bis zu seinem Weggang von der Columbia Law School im Jahre 1951 bekleidete. Von 1925 bis 1930 war Llewellyn im wesentlichen mit zwei Aufgaben beschäftigt, nämlich mit Reformgesetzgebung und mit der Erarbeitung neuartigen Unterrichtsmaterials im Handelsrecht. Von 1926 bis 1951 war er Vertreter des Staates New York bei der National Conference of Commissioners on Uniform State Laws und im Rahmen der Columbia Law School und ihrer damaligen Diskussionen um eine CurriculumReform 13 erarbeitete er das heute noch bekannteste und erste der dort publizierten Casebooks, seine Cases and Materials on the Law of Sales, Chicago 1930. Es waren trotz aller Erfolge Jahre voller Krisen. 1928 führte der Streit in seiner Fakultät zwischen den Anhängern einer quantifizierenden Rechtsempirie, den Scientists, und den Anhängern einer soziologischen Jurisprudenz, den Prudents, zum Auszug der führenden Köpfe aus der Fakultät. Llewellyn bekannte sich zu den Prudents und blieb. Das Scheitern seiner ersten Ehe, die 1930 geschieden wurde, bewog ihn aber, mit Hilfe der Carnegie-Stiftung als Austauschprofessor nach Deutschland zu gehen. Im Wintersemester 1928/29 hielt er in Leipzig ein Praktikum über Aufbau und Praxis des amerikanischen Case Law, aus dem sein Präjudizienrecht und Rechtsprechung in Amerika (Leipzig 1933) entstand. Seit 1929 hielt er an der Columbia Law School auch die Einführungsvorlesung für Erstsemester. Daraus entstand das Buch The Bramble Bush. On Our Law and its Study (New York 1930), dessen 1951 erschienene 2. Auflage ein juristischer Bestseller wurde. In diese Zeit fällt auch seine scharfe Auseinandersetzung mit Roscoe Pound, dem Vater der 13 Vgl. M. Rehbinder: Entwicklung und gegenwärtiger Stand der Rechtstatsachenforschung in den USA, 1970, S. 13 -17.
Einleitung des Herausgebers
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sociological jurisprudence, in der er sich als Wortführer und überzeugendster Vertreter des legal realism profilierte 14 • Während seines ersten Gastsemesters in Leipzig hatte er sich stark mit Eugen Ehrlich und Max Weber beschäftigt. Er faßte daher den Plan, auf der Grundlage des legal realism eine systematische Rechtssoziologie zu schreiben, und beantragte mit dieser Begründung ein zweites Gastsemester in Leipzig. In einem Rechenschaftsbrief gegenüber der Carnegie-Stiftung mußte er jedoch bekennen, daß er dieses Ziel nicht erreichen konnte. Im Nachlaß findet sich ein deutschsprachiges Manuskript mit dem Titel "Das Recht in der Gesellschaft", in dem er den Gedankengang einer systematischen Rechtssoziologie zu schildern angefangen und nach 80 Seiten abgebrochen hat. Stattdessen wollte er nun seine Rechtssoziologie-Vorlesung veröffentlichen, die er im Wintersemester 1931/32 in Leipzig gehalten hat. Dieses zweite Gastsemester brachte ihm wiederum eine Fülle von Anregungen. Er knüpfte engere persönliche Kontakte u. a. mit Nußbaum, Kantorowicz, Koschaker, Jahrreis, Mitteis, dem Kriminologen Exner und dem Soziologen Hans Freyer. Ernst Rabellud ihn nach Berlin ein und gewann ihn als Berater für die Arbeiten zur Vereinheitlichung des Kaufrechts im International Institute for the Unification of Law. Er hielt Gastvorträge an einer Reihe von Universitäten, darunter Frankfurt/M., Heidelberg, Bonn, Freiburg, Berlin, Breslau, Kiel und Jena, die großen Anklang fanden und im Falle von Frankfurt zur Anfrage wegen der Übernahme eines Lehrstuhls führten 15 • In die USA zurückgekehrt, heiratete er 1933 die Soziologin Emma Corstvet, die an der Yale University lehrte und dort Mitarbeiterin des Rechtssoziologen Underhill Moore war. Seine Tätigkeit verteilte sich auf drei Schwerpunkte. Er setzte sich für die Arbeit der American Civil Liberties Union ein, deren Direktor er für einige Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wurde, und förderte Untersuchungen der Rechtsanwaltschaft, insbesondere mit dem Ziel, die Rechtspflege für Unterprivilegierte zu verbessern. Daraus entstand die Legal Aid Society, die er ebenfalls nach dem Krieg für einige Zeit leitete. Eine politische Kandidatur wurde aber von der Gegenseite durch Hinweis auf seine Bindungen an Deutschland verhindert, u. a. mit der fettgedruckten Schlagzeile "The Emperor's Sergeant". Ferner förderte er seit 1933 den jungen Anthropologen E. Adamson Hoebel und begann mit ihm im Jahre 1935 die Erforschung des Rechts der Cheyenne-Indianer16 • Daraus entstand 14
Vgl. A Realistic Jurisprudence - The Next Step, Columbia Law Review
30 (1930), S. 431 - 465; Some Realism about Realism, Harvard Law Review 44 (1931), S. 1222 - 1264.
16 Zwei seiner Vorträge wurden veröffentlicht: über den Rechtsunterricht in den Vereinigten Staaten, in JheringsJb 79 (1928/29), S. 233 - 266, und Die deutsche Justiz vom Standpunkt eines amerikanischen Juristen, JW 1932,
S. 556 f.
Einleitung des Herausgebers
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ein klassisches Werk der Rechtsanthropologie: The Cheyenne Way. Conflict and Case Law in Primitive Jurisprudence (Norm an 1941, Nachdruck 1961). Von 1937 bis 1952 schließlich widmete er seine Hauptkraft der Ausarbeitung des Uniform Commercial Code in allen seinen Stadien. Obwohl dieses bedeutende Gesetzgebungswerk das Ergebnis erfolgreicher Teamarbeit war, hat Llewellyn als Chefredaktor das Ganze derart geprägt, daß er mit vollem Recht als Vater des amerikanischen Handelsgesetzbuches bezeichnet wird. Seine Hauptmitarbeiterin war seine Schülerin Soia Mentschikoff 17, die sich bereits in der Praxis einen Namen als Handelsrechtlerin gemacht hatte und die er 1946 nach seiner Scheidung von Emma Corstvet heiratete. Mit ihr zusammen nahm er 1951 einen Ruf an die Law School der University of Chicago an und blieb dort bis zu seinem Tode. Frau Professor Mentschikoff Llewellyn ist seit einigen Jahren Dekan der Law School der University of Miami (Florida). Nach der Publikation des Cheyenne Way begann Llewellyn zusammen mit Hoebel mit der Erforschung eines weiteren Indianervolkes, der Pueblo Indians in New Mexico. Während bei den Cheyenne die Arbeitsteilung so ausgesehen hatte, daß Llewellyn das theoretische Fundament und Hoebel die empirischen Daten lieferte, so daß Llewellyn sich lediglich 10 Tage im Sommer 1935 an der Feldarbeit beteiligte, verbrachte er diesmal 5 Sommerferien, nämlich 1945 bis 1949 und 1951 zusammen mit Hoebel, Corstvet und Mentschikoff in New Mexico. Wissenschaftliche Feldarbeit war jedoch nicht seine Sache. Er gab vielmehr den Pueblos bald praktische Hilfe in Rechtsdingen und legte ihr Recht für den praktischen Gebrauch in einigen Codices nieder. Das geplante Werk wurde nicht vollendet. Llewellyn entwarf lediglich einen Plan für eine vergleichende Untersuchung des Rechts der Pueblo und des Sowjetrechts als Beispiele zweier autoritärer Rechtssysteme und entwickelte als rechtlichen Idealtyp das Vater-Modell der Rechtspflege (parental model of law-government). In den vierziger Jahren nahm Llewellyn auch verstärkten Anteil an den Arbeiten der Association of American Law Schools, deren Präsident er 1949/50 wurde, und in der er sich insbesondere für eine Erweiterung des Rechtsunterrichts von der Tätigkeit des Richters auf alle juristischen Arbeitstechniken einsetzte18• 18 Näheres über diese Zusammenarbeit bei W. Twining: Law and Anthropology: A Ca se Study in Inter-disciplinary Collaboration, in Law & Society Review 7 (1973), S. 561 - 583. 17 Vgl. deren Schilderung: The Uniform Commercial Code, in RabelsZ 30 (1966), S. 403 - 413. 18 Vgl. The Place of Skills in Legal Education, Columbia Law Review 45 (1945), S. 345 - 391.
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Einleitung des Herausgebers
Die Jahre an der Chicago Law School waren dann schwerpunktmäßig der Rechtssoziologie gewidmet. Hier erarbeitete er sein Hauptwerk, die Studie über die Rechtspflege in der Appellationsinstanz: The Common Law Tradition - Deciding Appeals, Boston/Toronto 1960. Diesem umfangreichen Werk sollte eine systematische Rechtssoziologie folgen, für die sich im Nachlaß umfangreiche Vorarbeiten befinden, insbesondere die Unterrichtsmaterialien und Tonbandaufzeichnungen seiner Vorlesung Law in Our Society. Für das Wintersemester 1962/63, nach seiner für Juli 1962 vorgesehenen Emeritierung, hatte er Einladungen zu rechtssoziologischen Vorlesungen in Freiburg/Br. und Hamburg angenommen und wollte hier mit der Ausarbeitung beginnen. Zur Vorbereitung dieses Unternehmens stellte er einen Sammelband bisheriger rechtssoziologischer Publikationen zusammen, seine Jurisprudence. Realism in Theory and Practice, Chicago 1962. Kurz nach der Niederschrift des Vorwortes, am 13. Februar 1962, ist er infolge eines Herzanfalls verstorben. Rückblickend lassen sich sechs Gebiete feststellen, auf denen Llewellyn Wesentliches geleistet hat. Sein Casebook über Kaufrecht war zwar zu umfangreich und für die damalige Zeit zu "originell", um im Rechtsunterricht große Verbreitung zu finden. Es hat aber nachweislich Unterrichtsstil und Veröffentlichungen vieler Rechtsprofessoren stark beeinflußt und ist heute noch das bekannteste Ergebnis des ColumbiaExperiments, in dem die bloße Aneinanderreihung von Rechtsfällen, die seit der Einführung der Case Method durch Langdell in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts üblich war, durch Äußerung eigener Lehrmeinungen und Kritik der Entscheidungen unterbrochen wurde. Llewellyns Kommentare enthielten vieles, was später im Uniform Commercial Code seinen Niederschlag fand, und manche Bemerkungen im Sinne des legal realism. Auch sein Einsatz für die Erweiterung des Rechtsunterrichts auf die Techniken des gesamten Rechtspersonals hat manche Impulse ausgelöst, auch wenn hier vieles noch zu wünschen übrig bleibtl9 • Bedeutend war ferner sein Einsatz für die Verbesserung der Rechtspflege für Unterprivilegierte. Bahnbrechend war sein Beitrag zur Rechtsanthropologie, in dem er die Fallrechtsmethode auf die Erforschung eines primitiven Rechts anwenden und das Recht der Cheyenne auf der Grundlage von 53 Konfliktsfällen erforschen ließ. Am bekanntesten ist seine Rolle als Vater des amerikanischen Handelsgesetzbuchs20 • Seine bedeutendsten Beiträge liegen aber in der Rechtssoziologie21 • 19 Vgl. die Diskussionen in E. Kitch (ed.): Clinical Education and the Future of the Law School, 1970. 20 Vgl. als Vorarbeit seine Geschichte des Kaufrechts, die er in vier Artikeln veröffentlicht hat: On Warranty of Quality and Society, pts. 1 + 2, Columbia Law Review 36 (1936), S. 699 ff., 37 (1937), S. 341 ff.; Across Sales
Einleitung des Herausgebers
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In der Rechtssoziologie arbeitete Llewellyn entsprechend dem Titel seines letzten Buches vorwiegend an der Einbeziehung der Sozialwissenschaften in Theorie und Praxis der Rechtswissenschaft. Die soziologische Methode der Rechtswissenschaft nannte er Rechtsrealismus (legal realism). Hier interessierte ihn vor allem die Rechtsfindung durch Richterspruch. Er untersuchte sie empirisch auf der Ebene des Revisionsgerichts. Bereits in seiner deutschsprachigen Vorstudie beschrieb er seine Absicht wie folgt: "Diese Studie will in erster Linie beobachtend-darstellerisch sein, sie will das amerikanische Präjudizienrecht vor dem Revisionsgericht so bringen, wie sie ist, das Betrübende ebenso wie das Erfreuliche. Was an dogmatischen Richtungen in Erscheinung tritt, soll wahrgenommen, etwas auf seine Entstehung hin untersucht, vor allem aber in seiner Auswirkung vorgeführt werden 22." "Ich wüßte auch nichts, was einen größeren Verdienst der Rechtssoziologie bedeutete, als die Klärung gerade dieser Frage - der ja überhaupt nicht beizukommen gewesen wäre, wenn man die herrschende präjudizienrechtliche Dogmatik nicht mit aller Skepsis daraufhin untersucht hätte, ob und inwieweit sie dem tatsächlichen Gang und Ausgang der Entscheidungen entspricht. Das Entscheidungswesen aber, nicht die vermeintliche Dogmatik ist das, was bei einer Kritik des Präjudizienwesens zur Besprechung und Bewertung wirklich vorliegt23 ." In seinem Werk The Common Law Tradition werden in geschichteter Zufallsauswahl 600 veröffentlichte Entscheidungen von 12 einzelstaatlichen Revisionsgerichten aus den Jahren 1957 bis 1959 ausgewertet. 64 Techniken der Argumentation werden beschrieben und zwei Idealtypen zugeordnet, nämlich dem sog. Formal Style, einer mit "juristischer Logik" arbeitenden Begriffsjurisprudenz, und dem sog. Grand Style, der Methode soziologischer Jurisprudenz. Dabei wird festgestellt, daß die notwendige Berechenbarkeit richterlicher Entscheidungen bei soziologischer Jurisprudenz eher gewährleistet ist als bei "juristischer Logik". Wenn auch der größte Teil des Buches "beobachtend-darstellerisch" ist, so mündet die Untersuchung doch in methodische Anweisungen, wie sich alle am Gerichtsgeschehen Beteiligten rollengemäß zu verhalten haben, damit der Grand Style der Rechtspflege gewährleistet ist. Llewellyn bietet also nicht nur ein Bild des court in action, sondern zugleich eine (realistische) juristische Methodenlehre. Das Buch enthält - wenn auch auf die Revisionsinstanz beschränkt - die Darstellung dessen, was Llewellyn in seiner Lehre von on Horseback, Harvard Law Review 52 (1939), S. 725 ff.; The First Struggle to Unhorse Sales, Harvard Law Review 52 (1939), S. 874 ff. 21 Roscoe Pound bezeichnete Llewellyns Arbeiten als "the most basic and thoroughly thought out sociological theory of law which has yet appeared", Sociology of Law, in Gurvitch / Moore (ed.): Twentieth Century Sociology, New York 1945, S. 297 - 341, 340. 22 Präjudizienrecht und Rechtsprechung in Amerika, 1933, S. VII. 23 Ebd. S. 110.
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Einleitung des Herausgebers
den sozialen Funktionen des Rechts die juristic method (die Rechtspflege) nennt24 • Die Lehre von den sozialen Funktionen des Rechts, den law-jobs, die er für die Zwecke der Erhebung des Rechts der Cheyenne entwickelte und in mehreren Fassungen veröffentlichte 25 , bildet seinen wichtigsten Beitrag zur theoretischen Rechtssoziologie. Sie darf nicht als System empirisch überprüfbarer Aussagen mißverstanden werden, sondern ist ein Werkzeug für funktionale Analyse 28 • Eine systematische Rechtssoziologie, das geplante Werk Law in Our Society, wurde nicht mehr vollendet. Um so erfreulicher ist es, daß seine deutsche Vorlesung von 1931/32 nunmehr veröffentlicht werden kann. Sie ist eine Einführungsvorlesung, gehalten zu einer Zeit, als die Rechtssoziologie weiten Kreisen unbekannt, geschweige denn als Lehr- und Prüfungsfach anerkannt war. Manches ist daher ein werbender Appell für heute Selbstverständliches. Das meiste hingegen ist heute so aktuell wie damals. Den deutschen Leser mag vielleicht der Stil überraschen, der hier im Deutschen ebenso, wenn auch weniger bizarr in Erscheinung tritt wie in den amerikanischen Veröffentlichungen. Llewellyn war mit den Worten Max Rheinsteins 27 ein "Mann, der im innersten Grunde Künstler war und dem die tiefsten Einsichten in Probleme des Rechts und der Gesellschaft sich aus der Betrachtung von Werken der bildenden Kunst ergaben". Er war Spezialist für gotische Architektur28 und verfaßte eine Fülle von Gedichten29 • Wäre es nach seinem Wunsch gegangen, so wäre "Recht, Rechtsleben und Gesellschaft" der erste Teil eines zweibändigen Werkes geworden, das den Titel "Der Webstuhl des Rechts" tragen 24 Eine kurze Zusammenfassung der Common Law Tradition findet sich bei Norbert Reich: Sociological Jurisprudence und Legal Realism im Rechtsdenken Amerikas, 1967, S. 97 f., eine hervorragende im Umfang von 25 Druckseiten bei Becht, Washington University Law Quarterly 1962, S. 5 ff. 25 Kap. 10 und 11 von The Cheyenne Way, 1941; The Normative, the Legal, and the Law Jobs: The Problem of Juristic Method, Being also in Effort to Integrate the "Legal" into Sociological and Political Theory, in Yale Law Journal 49 (1940), S. 1355 - 1400; My Philosophy of Law. Credos of Sixteen American Scholars (ed. by Kocoureck), 1941, S. 178 -197 (183 ff.); Law and the Social Sciences - Especially Sociology, in Harvard Law Review 62 (1949), S. 1286 ff. 28 Vgl. Twining, S. 182. 27 RabelsZ 28 (1964), S. 328. Eine gute Schilderung des Charakters von Llewellyn findet sich in der Rezension von William L. Prosser, in Journal of Legal Education 13 (1961), S. 431. 28 Kurz vor seinem Tode hat er den drohenden Abbruch der vom Kriege geschädigten Wismarer St. Marienkirche verhindern können, indem er eine Reihe angesehener Männer aus verschiedenen Teilen der Welt zu einem Protest beim Oberbürgermeister von Wismar (Mecklenburg) veranlaßte, vgl. Twining, S. 90. 29 Vgl. Jurisprudence, S. 166, 214, 506; RabelsZ 27 (1962), S. 605; sowie die Gedichtbände Put in this Thumb und Beach Plums, beide New York / London 1931.
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Einleitung des Herausgebers
sollte. Für den zweiten Teil hatte er .gemäß dem von ihm entworfenen Inhaltsverzeichnis den Titel "Die Weber" vorgesehen. Bei den Webern dachte er an diejenigen, deren Tätigkeit er dann später so eingehend in seinem magnum opus, The Common Law Tradition - Deciding Appeals geschildert hat. Das vorliegende Buch kann und sollte daher im Zusammenhang mit diesem Werk gelesen werden. Es versteht sich von selbst, daß ich stilistische Korrekturen des Manuskriptes auf ein Minimum beschränkt habe, um die auch im Deutschen häufig zum Durchbruch gelangende originelle Sprechweise Llewellyns nach Möglichkeit zu erhalten. Mein besonderer Dank gilt Frau Professor Mentschikoff Llewellyn für ihre Einwilligung zur Publikation des Manuskriptes. Zürich, im Juli 1976
Manfred Rehbinder
Vorwort Diese Vorlesungen gehen aus einem Kolleg hervor, das ich die Ehre hatte, im Wintersemester 1931/32 an der Leipziger Rechtsfakultät als Gastprofessor zu lesen. Sie beabsichtigen keineswegs, eine Systematik des Stoffes zu bieten1 • Eine logisch-geschlossene Systematik, welche sich 1 Methodologischer Exkurs: "System" kann heißen: (1) eine vorgefundene Tatbefundmasse, in welcher man genügend Einheit oder Organisation zu erblicken glaubt, um von einer Einheit reden zu können (der menschliche Körper als ein physiologisches System; die kapitalistische Kultur usw.). Oder (2) ein geordneter sachgetreuer Bericht über das bis dato Gewußte auf einem Gebiete (z. B. in der beschreibenden Botanik). In diesem Sinne ist etwa ein System der Vorgeschichte denkbar. Oder (3) ein logisch vollkommener und geschlossener Gedankenbau. In diesem Sinne zeigt die Mathematik verschiedene Systeme auf. Die Misere der Sozialwissenschaften liegt in der unverantwortlichen Verschmelzung dieser grundverschiedenen Begriffe. Vor allem in der Verschmelzung von (2) und (3). Ich behaupte ohne Zögern, daß uns bis jetzt die Kenntnisse abgehen, und zwar in jeder Sozialwissenschaft, um ein System im Sinne von (2) herzustellen, das "das" System im Sinne von (1) wiedergäbe. Noch viel nachdrücklicher behaupte ich, daß uns sowohl die Kenntnisse als auch bis jetzt die Gestaltungskraft abgehen, um gleichzeitig ein System im Sinne von (2) und (3) in irgendeiner Sozialwissenschaft zu errichten. Ein logisch kunstgerecht haltbarer und geschlossener Bau wird die Tatbefunde entstellen. Ein geordneter sachgetreuer Bericht wird sich an den Prinzipien der logischen Architektur versündigen. Wer das nicht eingesehen hat, baut ein Zwitterding, das weder logisch noch sachgetreu ist. Max Webers Einsicht drückt sich nirgends stärker aus, als wenn er - gerade beim bewußten logischen Bauen - ausdrücklich anerkennt: Faktoren, die er von seinem logischen Bau der Soziologie ausschließe, könnten doch mindestens die gleiche soziologische Tragweite haben, wie die, die er mit einbeziehe. Man finde mir aber in dieser Hinsicht einen zweiten Max Weber! Nein, die Logik hat über die Philosophie ihren Fluch verhängt, und die Philosophie den ihren über die Soziallehren. Obgleich die Philosophie lebensgetreu sein will, hat sie noch immer gleichzeitig logisch folgerichtig zu scheinen, und hat gleichzeitig ein Vollständiges bieten zu wollen. Musterbild der Folgerichtigkeit ist jene Mathematik, die eben keine Verantwortlichkeit irgendwelchen Tatsachen gegenüber hat. Sind die Kenntnisse 300 Jahre lang gehortet und präzisiert, kann man in der Physik bescheidene Anfänge machen, um sich diesem Traumideal zu nähern. Selbst dort will es jedoch nicht gelingen, wie die neueren Physiker wieder erkennen. In den Sozialwissenschaften fehlen zugleich Quantum und Präzision unserer Kenntnisse. Weshalb denn dieses kindische Weiterspielen mit einer Pseudologik und mit der Vorspiegelung eines "Vollständigen"? Wie kommt es, daß die "Logiker" der Sozial"wissenschaften" so grundsätzlich die Urgrundsätze der Logik unterschlagen: genaue, scharf begrenzte, unverrückbare Begriffsbestimmungen; rigorose und ausdrückliche Aufstellung jedes Postulats; unverweigerlicher Ausschluß jedes zweideutigen Mittelgliedes; Schlußfolgerung aus Postulat und Begriff in souveräner Unbekümmertheit darum, ob der Schluß entfernte Verwandtschaft mit der Lebenserfahrung hat. Das verlangt eine Logik, die
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auf belegte Tatsachen aufbaute, wird noch lange ausbleiben müssen so lange, bis die benötigten Forschungsergebnisse zu haben sind. Eine "Systematik" aber, welche Tatbefunde mit Phantasiegebilden ersetzt, ist in einer Seinsstoffbetrachtung nicht am Platze. Hier liegt also im Grunde nur eine Einleitung, eine Fragestellung vor - ein Versuch, etwas aus den bestehenden Tatbefunden, den bestehenden Problemen so zusammenzustellen, daß die Bedeutung und das Verheißungsvolle der seinswissenschaftlichen Arbeitsweise beleuchtet wird. Phantasiegebilde bleiben dabei natürlich nicht aus; nur hege ich die Hoffnung, daß sie sich auch als solche offen bekennen, sich nicht etwa als fundierte "Theorien" vorgeben, daß sie also durch die ganzen Ausführungen hindurch als versuchsweise aufgestellte Hypothesen gewagter Art erscheinen - denen wohl jahrelange unsystematische Beobachtung und gelegentliche Forschungsergebnisse zugrunde liegen, die aber in keiner ordentlichen Naturwissenschaft den Namen gar einer anständigen Hypothese beanspruchen könnten. Eine solche Einschränkung der gewollten Tragweite der Behauptungen ist doppelt am Platze, wenn es sich nicht nur um ein geradezu unerforschtes Gebiet handelt, sondern auch dazu um eine Darstellung, welche auf Belege verzichtet. Zitiert man zur Rechtssoziologie z. B. Ehrlich oder Max Weber, so zitiert man fast durchweg keinen Tatbefundbeleg, sondern nur die Einsichten eines genialen Denkers, welche sich jedoch auf Tatbefunde stützen, die meist nicht einmal angegeben, fast sicherlich nur teilweise überprüft, ganz sicher nicht wissenschaftlich vor der Zufallsauswahl oder vor dem Übersehen der Gegenfälle gesichert waren. Aus solchen Vorarbeiten läßt sich wohl eine Einstellung, eine Arbeitsmethodik, ein hoffnungsvoller neuer Standpunkt gewinnen, doch keine "Theorie". Was Soziologen wie Rechtssoziologen allzu selten in Erwägung zu ziehen scheinen. Ein öO~ ltOÜ a'tw haben wir wohl; bevor man aber diese soziale Welt verrückt, hat man seine Jahrhunderte am Hebel bau dranzugeben. Das Hebelbauen ist schon im Gange. Es wächst langsam eine monographische Literatur heran. "Rechtstatsachenforschung" kann als Hinweis dienen. Andererseits ist selbst das Herangehen an eine solche beobachtungswissenschaftliche Betrachtung für das Rechtsleben von unmittelbarer Wichtigkeit und unmittelbarem Vorteil, und mein eigener Ansatz uneine Logik sein will. Und das bringt der Sozialwissenschaftler nicht auf - es sei denn der mathematische Ökonom. Das Ideal der Logik unterbindet eben die Selbstkritik. Das gleichzeitig vorschwebende Ideal der Tatsachendarstellung entzieht indessen der logischen Folgerichtigkeit den Tatendrang. Das Ideal des Vollständigen schmeichelt der Pseudologik und blendet gleichzeitig den eigentlichen Blick für Tatbefunde. Solange es bei der sozialwissenschaftlichen "Systematik" so bestellt ist, verzichte ich lieber auf das Wort "System".
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terscheidet sich wohl hinreichend von den jetzt zugänglichen, um die Veröffentlichung einer neuen Einführung zu rechtfertigen. Sofort klarzustellen ist, daß die Vorlesungen " Recht " im ortsüblichen Sinne überhaupt nicht behandeln wollen. Wenn "Recht" auch im Titel dieses Buches erscheint, so nur, weil ich fest glaube, daß das Studium des Rechtslebens auch dem normativen Recht zugute kommt, ja: für seine vernünftige Setzung und Handhabung unentbehrlich ist. Die Vorlesungen haben es aber allein mit dem Rechtsleben der Menschen in der modernen Gesellschaft zu tun, mit rechtsbezogenem Menschenhandeln und Menschentun, wobei Geisteszustände, seelische und soziale Werte und WerteinsteIlungen allein als Teile, beobachtbare Teile von lebenden Menschen in der lebenden Seinswelt in Frage kommen sollen. Ob solches nun "Recht" oder auch "Soziologie" heißen darf, hat für mich im Augenblick wenig Interesse. Ob es den Gegenstand einer "eigenen" Wissenschaft bildet oder bilden kann und ob das Ergebnis eine "Wissenschaft" ist, desgleichen. Was ohne weiteres einleuchten müßte, ist, daß ein Studium des Rechtslebens, seines Wesens und seiner Auswirkungen unmittelbar von regstem Interesse ist und mittelbar die Aussicht hat, sowohl praktische Probleme, wie das Wesen der Gesellschaft überhaupt, zu beleuchten. Nicht apriori, sondern anhand von Ergebnissen rechtfertigt sich die Arbeit auf einem gegebenen Wissensgebiet; und die Wissenschaftstheorie hat nicht etwa zur Aufgabe, Untersuchungen der Art oder dem Stoff nach den Riegel vorzuschieben, sondern sie hat die gegenwärtigen Kenntnisse säuberlich haushälterisch zu ordnen oder aufgrund des Nachsinnens über diese, ihre Werte und Mängel dann Möglichkeiten neuer Schlüsse oder Untersuchungsrichtungen aufzuzeigen. Meine "Vorfragen" nach dem Wert einer Seinsbetrachtung des Rechtslebens sollen also der eigentlichen Vorfrage gelten: Gibt es hier etwas Wissenswertes? Nur wenn man diese Vorfrage bejaht, und zwar mit hinreichendem Grunde, öffnet sich die zweitstufige "Vorfrage", wie man die gewonnenen Kenntnisse wissenschaftstheoretisch unterzubringen hat. Ich beanspruche also für diese Ausführungen keine Unterkunft beim "Recht", auch keine bei der "Soziologie"; ich beanspruche für sie nur die Erkenntnis, daß hier manches sehr Wissenswerte vorliegt und weiter angebahnt wird. Es gilt, die Tatbefunde möglichst objektiv zu beschauen, ihre Bedeutung möglichst objektiv zu besprechen. Von Zeit zu Zeit kommen selbstverständlich meine eigenen sozialpolitischen Wertungen zum Ausdruck; dann aber, wie ich hoffe, immer als solche gekennzeichnet und nie in solcher Gestalt, daß sie mit einer etwaigen Darstellung des aktuell als herrschend oder gegeben Vorgefundenen zu verwechseln wären. Andererseits zeigt sich auch auf der Beobachtungsseite und auf Seite vor allem der Wertungen des Beob-
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achtenden eine unvermeidliche Verzerrung durch meine persönlichen Werteinstellungen und hauptsächlichsten Interessen. Dagegen gibt es kein Mittel. Man kann ja nur mit den gegebenen Geisteswerkzeugen arbeiten. Dem Leser kann aber der Erfahrungswissenschaftler mindestens zum Teil ein Mittel in die Hand geben, um solche allerdings von ihm selber nicht auszuschaltenden Verzerrungen schneller zu erkennen und an ihnen die nötigen Korrekturen vorzunehmen. Man kann es mindestens versuchen, seine eigenen Grundeinstellungen im voraus darzulegen, so daß die wahrscheinlichsten Verschiebungen der Perspektive angedeutet werden. Grundlegend ist hier vor allem das Streben nach einer naturwissenschaftlichen Arbeitsmethode. Damit will nicht behauptet werden, daß eine Naturwissenschaft des Gebietes zu erzielen ist. Gerade diese Frage ist nur aposteriori zu bejahen; sie ist aber auch überhaupt "prinzipiell" nicht zu verneinen. Vorläufig bleibt zu erproben, wie weit man auf diesem Wege kommen kann, und ob der Versuch, beharrlich auf diesem Wege fortzuschreiten, nicht manches an den Tag befördert, was sonst verborgen bliebe. Mit der naturwissenschaftlichen Arbeitsmethodik will auch kein Verzicht auf Bezugnahme auf Geisteszustände, Gefühle, Motivationen, Ideale, geistige Einstellungen und dgl. ausgesprochen werden, sondern nur (1), daß objektiv wahrnehmbares Handeln immer an zentraler Stelle stehen soll, und (2), daß hypothetisch angenommene Hilfsvorstellungen stets als solche anerkannt zu bleiben haben. Letzteres wird mir selbstverständlich nicht durchgehend gelingen. Der Versuch aber ist für solche Arbeitsmethodik unentbehrlich. Grundlegend ist zweitens die Durchführung von Molekular-, von Kleinuntersuchungen in erster Linie und von Gesamtheitsuntersuchungen erst in zweiter Linie. Erst mikroskopisch, dann makroskopisch soll das Verfahren sein. Nicht etwa, weil Ganzheit oder Wirkungen der Ganzheit abgeleugnet werden, sondern weil kleine Ganzheiten schneller faßbar, leichter zu beobachten sind als große. Auch und besonders, weil schon der gesunde Menschenverstand mit den größeren Ganzheiten einigermaßen umzugehen weiß und deshalb deren gesunder Einfluß auf Beobachtung und Denken von selbst und ohne besondere Beschäftigung mit ihnen zum Teil angenommen werden kann2 • Wohingegen die kleineren Erscheinungen im Rechtsleben viel weniger Beachtung gefunden haben, und ihre Untersuchung dann auch neues Licht auf die größeren werfen kann. ! An dieser Stelle des Manuskripts hat Llewellyn in späteren Jahren einen Irrtum und Widerspruch zur Feststellung auf S. 33 notiert, daß die Gegenwartsbezogenheit der Praxis oft den Blick für die großen Entwicklungstendenzen verstellt. Er schrieb den Namen Rosenstock an den Rand sowie die Bemerkung: contrast: the higher order wholes (Toynbee etc.) completely transcending and reilluminating "common sense" (M. R.).
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Grundlegend ist drittens eine möglichst vollkommen pragmatische Einstellung gegenüber dem zu beobachtenden Stoff. Begriffe werden durchweg als zweckbedingte, sonst willkürliche, nur dem Untersuchungserfolg verantwortliche Werkzeuge betrachtet. Hiermit will wieder nicht gesagt werden, daß es keine eigentliche Wesenhaftigkeit da draußen geben kann. Im Gegenteil. Mir scheint, daß jeder Versuch, naturwissenschaftlich ans Werk zu gehen, etwas an Form, Beständigkeit, Wesenhaftigkeit in dem beobachteten Stoffe als Arbeitshypothese voraussetzt. Ich möchte aber sehr stark den Unterschied zwischen einer solchen logischen Voraussetzung und einer Ergebnisvoraussetzung betonen. Der Naturwissenschaftler nimmt nicht an, daß solche gefestigte Wesenhaftigkeit da ist, sondern nur, daß sie da sein kann. So auch ich, hinsichtlich der Gesellschaft. Ganzheit ist nicht anzunehmen, sondern erst zu erschauen. Gleichzeitig ist zu erkennen, daß jeder Begriff das Daseiende verstellen, umgestalten, meinetwegen verhunzen wird. Dem Wesen des Stoffes wird kein Begriff gerecht. Wohl erkenne ich an, daß die bisherigen Untersuchungen uns in dem Glauben befestigen können: irgendwelche Form müsse in dem rohen Dasein des gesellschaftlichen Lebens stecken. Sonst wären wir wohl nicht schon zu Forschungsresultaten gekommen, die brauchbar sind. Daß aber die seitens der Wissenschaftler aufgestellten Begriffe durch ihre jeweiligen Forschungsprobleme, vor allem durch die Gestaltung des sie selbst gestaltenden Sprach- und Kulturguts bedingt worden sind, scheint mir auf der Hand zu liegen. Wer also mit seinem Begriff "den" Sinn irgendeiner Erscheinung zu erfassen vermeint, erfaßt vielmehr nur einen Sinn, welcher (wenn er 'tüchtig arbeitet) für ihn und viele andere zur Zeit einen sehr brauchbaren Sinn darstellt. Zweck- und kulturbedingt bleibt sein Begriff doch. Sollte es einem je gelingen, mal "den" Sinn eines Stückes des rohen Daseins in einen Begriff zu bringen, so wird doch ihm und uns die Möglichkeit trotz allem fehlen, zu wissen, daß er nicht wieder nur einen dieser zwar höchst brauchbaren, jedoch völlig zeit- und zielgestalteten Begriffe hervorgezaubert habe. Diese Einstellung ist deswegen für die wissenschaftliche Betrachtung jeder gesellschaftlichen Erscheinung grundlegend, weil jede vermeintliche "Einheit" oder "Ganzheit" oder "Sachverhalt" oder "Natur der Sache" oder "Einrichtung" oder "Erscheinung" oder "Prozeß" nur mit Hilfe der rücksichtslosen Willkür zur Denkeinheit gestaltet werden kann. Grenzen gibt es im Leben eben nie. Die Übergangsflügel sind breit und auch chaotisch. Der Zweck bedingt also und der Erfolg rechtfertigt die Begriffsbildung - wenn diese, wie hier, die Aufgabe hat, Tatbefunden gerecht zu werden. Wieder muß man den Unterschied zwischen logischer und Ergebnisvoraussetzung unterstreichen. Wohl ist irgendein "Teil" ohne eine "Ganzheit", von der er Teil ist, nicht zu denken; damit erweist sich
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noch lange nicht das Vorhandensein dieser Ganzheit (oder irgendeiner Ganzheit) in dem rohen Dasein außerhalb des Kopfes des Denkers. Ebenfalls muß man unterstreichen, (1) daß die Erkenntnis einer gegebenen Tatsache nicht die ethische Billigung derselben einschließt; (2) daß der wissenschaftliche Wertverzicht nie und nimmer aussagen will, daß der Wissenschaftler in seinem Handeln und Leben als Mensch einen solchen Wertverzicht vorzunehmen hat oder vornimmt. "Wo das Wissen aufhört, geht der Glaube an." Daß ich noch nicht wissenschaftlich wem, entbindet mich der Pflicht des heutigen Handeins nicht. Daß ich in einem Kapitel oder Buch mich der Aufgabe des Sehens mit ganzem Herzen widme, heißt nicht, daß ich nicht in einem anderen die Wichtigkeit des Gestaltens würdigen kann. Aus dem Vorstehenden ergibt sich dann ein Anderes: Die "Vorgänge", die "Gebilde" und was da sonst an Abstraktionen hier entwickelt wird, die sollen durchaus nicht als "reine" Formen der Vergesellschaftung noch von deren Werden gelten. Sie sollen allein als Verallgemeinerungen dienen, welche annähernd induktiv gewonnen werden, welche notwendigerweise dem geschichtlich bedingten, einmaligen Betrachtungsstoff teilweise fremd, teilweise untreu sind; welche aber zweckmäßig und zu rechtfertigen sind, sofern sie diesen einmaligen Stoff veranschaulichen oder dazu führen, ihn besser zu handhaben. Sie beanspruchen auch keine Allgemeingültigkeit, wollen nicht semper et ubique zutreffend sein. Sie suchen das Hier und Heute zugänglicher zu machen. Einmalige chaotische Buntheit, in der sich doch für jeden etwas Typisches, Sichwiederholendes finden läßt: Das ist die Gesellschaft, das ist unsere Gesellschaft. Dementsprechend sind meine Begriffe zu verstehen. Allerdings habe ich zeitweise nicht vor einer anderen Art der Begriffsbildung, der des Idealtypus, zurückgescheut. Eigentlich stellt der Idealtypus aber nur einen Grenzfall des nie ganz naturgetreu zu gewinnenden Induktivbegriffes dar: der Idealtypus abstrahiert nur rücksichtsloser, gibt mehr, gibt vielleicht alles an Seinsgehalt preis, um dann als Denkpol und nicht so sehr als Sammelkorb der Gliederung zu helfen. Ein Idealtypus stellt ein ideelles Höchstmaß einer bestimmten Eigenschaftsgruppierung dar, welches gegen ein davon verschiedenes ideelles Höchstmaß einer anderen Eigenschaftsgruppierung spielt, um die wirklichen Erscheinungsformen dann gewissermaßen durch deren Längen- und Breitengrad zu ordnen. Wichtig ist dann nur, solche Abmessungs- und Richtpolbegriffe von den Sammelkorbbegriffen üblicher Art ausdrücklich zu unterscheiden. Grundlegend ist endlich, daß die empiristischen Voraussetzungen der hier vertretenen Arbeitsmethodik den einen Zweck haben, und nur den einen: haltbares, brauchbares Wissen (nicht Wert" erkenntnisse"), haltbare, brauchbare Wissenszusammenhänge zu erzielen. Wobei "haltbar"
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und "brauchbar" sich aber auf zeitbedingte Haltbarkeit und Brauchbarkeit beziehen. Solches Wissen ist durch seine empiristischen Voraussetzungen auch für solche nicht entwertet, die den Empirismus philosophisch verwerfen. Auch hat sich solches Wissen nicht als umfassende Erkenntnis des betrachteten Stoffes vorzugeben. Der vernünftige Pragmatiker oder Empiriker bildet sich nicht ein, ohne Philosophie zur Wahrheit zu gelangen. Gerade als Empiriker oder Pragmatiker ist er sich der Unmöglichkeit bewußt, mit seinen Mitteln eine umfassende Erkenntnis zu erzielen. Er rechtfertigt lediglich für die Arbeit auf dem Gebiet, das ihn am meisten interessiert, gewisse philosophische Voraussetzungen - und zwar, weil diese bisher Greifbares erzielt haben und auch das Denken auf anderen Gebieten mächtig förderten. Er nimmt für seine diesbezügliche Arbeit in Kauf, daß ihm infolge dieser Voraussetzungen Grenzen gezogen sind. Will er über diese Grenzen hinaus, so stellt er an sich die Forderung, dieses dann auch, und zwar laut, dem Leser kundzutun: ein Wechsel in den Voraussetzungen soll sich im Laufe einer Besprechung offen, nicht heimlich vollziehen. Diese und andere Voraussetzungen der Arbeitsweise werden in den "Methodologischen Anhängen" weiter ausgeführt, die im Inhaltsverzeichnis angegeben sind. Das Obenstehende soll selbstverständlich keine Begründung, erst recht nicht eine Ergründung der dargestellten GrundeinsteIlungen bieten. Zweck ist allein, diese nach Möglichkeit schon im voraus ans Tageslicht zu bringen. Denn GrundeinsteIlungen - wie untreu man ihnen in der Arbeit auch werden kann und wird - bleiben nicht ohne verhängnisvollen oder verheißungsvollen Einfluß auf die Arbeit. Vor allem diktieren sie das Sehen. Was man als "offensichtlich" dartut, baut sich auf der eigenen GrundeinsteIlung auf. Der Leser hat mithin guten Anspruch, daß, wenn es um "Tatbefunde" geht, die Bedingungen ihres "Wahrgenommenseins" schon im voraus und unverhohlen angegeben werden. Solche Bedingungen beschränken sich aber nicht auf die methodologischen Voraussetzungen des "Beobachters". Persönliches geht auch nicht ohne sein gehöriges Entstellungsvermögen ab. Also: Persönliches. Ich bin im anglo-amerikanischen Spruchrecht, vor allem im handelsrechtlichen Bereich, groß geworden, und zwar nicht ohne anhaltende Beschäftigung mit unseren Gesetzen im Handelsrecht. Als Anwalt und als Wissenschaftler war ich weit mehr in der Beratung als vor Gericht tätig. Im Prozeßrecht, im Bodenrecht und im Staatsrecht sind meine Kenntnisse besonders mangelhaft. Abstand und Beobachtungskorrektur habe ich vor allem mit Hilfe von Ausflügen in mir von Hause aus fremde Kulturgebiete zu gewinnen versucht: in die Ethnologie, in die Volkswirtschaft, in die Betriebswissenschaft, in die Soziologie, in die
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Psychologie, auch gelegentlich in die Rechtswissenschaft Europas und in die Rechtsgeschichte. Das alles als Liebhaber, nicht als Fachmann. Dazu kommen verschiedene gefühlsmäßige Einstellungen, welche auf die Auswahl und Betonung des Stoffes haben wirken müssen: Auflehnung gegen die Autorität, gegen die Überlieferung, gegen die Orthodoxie in der Wissenschaft; eine starke Unzufriedenheit mit der gegebenen Verteilung des Volksvermögens; ein eingewurzelter Glaube an die Notwendigkeit einer rationalen, dem Zweck angepaßten Menschenlenkungs-Technik, bevor irgendwelche Reform, und sei sie noch so dringend, Aussicht auf Erfolg hätte; ein wohl sehr übertriebener Glaube an das gesellschaftliche Gestaltungsvermögen einer kundig gewordenen, schaffensfreudigen Jugend. Endlich ein nicht mehr modernes Beharren in dem Glauben, daß ein starker Anteil von Denk-, Rede- und Handlungsfreiheit für die dauernde Gesundheit einer Gesellschaft unentbehrlich ist. Wobei ich mir allerdings nicht einbilde, daß irgendein bestimmtes Maß von Nichtgeregeltsein in dieser Hinsicht "die" benötigte Freiheit darstellt; ich neige nur dazu, das Maß jeweils immer ein bißchen reichlicher gestalten zu wollen. Bestätigend für die in den Vorlesungen eingenommenen Standpunkte scheint mir weit mehr als aller angeführter Stoff zu sein, daß sie zwar aus oben angegebenen Voraussetzungen hervorgingen, sich jedoch später mit den - doch ganz anderem Boden entsprossenen - Gedanken Ehrlichs, dann des Soziologen und Staatswissenschaftlers Spykman, endlich und besonders Max Webers so ziemlich übereinstimmen konnten. Wenn sich wesensähnliche Gedankengänge mindestens viermal nachweisbar in relativer Unabhängigkeit, aus vier sehr verschiedenen Tatsachenunterlagen entwickeln, kann man schon hoffen, auf eine nutzenbringende Bahn geraten zu sein. Mein eigenes Nachsinnen über solche Fragen geht auf einen Vortrag zurück, zu dem ich schon in der Studentenzeit von einem Kreise Mitstudenten aus anderen Fakultäten verdonnert wurde: "Weshalb ist der Juristenstand denn nicht sofort aufzuhängen?" Mit teuflischer Geschicklichkeit entzogen sie dem Opfer die wohlbekannte Standsicherheit des Rechts. Die Leute und ihr Handeln wurden angeklagt. Und die Verteidigung der Rechtsleute ist auch, wenn man gewissenhaft, sachlich und unvoreingenommen sein will, für einen Unerfahrenen nicht allzu einfach. Mit reiferen Jahren kommt vielleicht die Einsicht, kommt sicherlich Geduld. Vielleicht käme diesen Vorlesungen eigentlich besser jene alte Jugendbetitelung zu; doch habe ich mindestens versucht, die Ausführungen nicht als die eines Verteidigers, sondern vielmehr als die eines Gerichts zu bringen. Und sollte das Urteil auch auf "schuldig" lauten, so ist die beantragte Strafe schon aus staatspolitischen
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Gründen nicht anzuerkennen: wir kommen eben ohne diese Leute gar nicht aus. Eine "Einführung" muß schon den wissenschaftlichen Apparat entbehren. Sie muß sich auch dementsprechend, und wie schon angedeutet, in ihren Ansprüchen eine ausgeprägte wissenschaftliche Bescheidenheit aufzwingen. Sie beweist nichts, sie belegt nur wenig. Sie hofft, ein Gebiet lediglich zu erschließen, nicht zu erforschen. Sie reiht sich den Essays, nicht den Lehrbüchern oder Monographien an. Wenn dem schon so sein mußte, dann bin ich auch lieber beim Vortragsstil geblieben. Ihm wohnt eine Zugänglichkeit, eine Freiheit, eine Biegsamkeit inne, welche der wissenschaftliche Stil vielleicht allein seiner impedimenta wegen preisgeben muß, welche aber doch die Aussicht, einzuführen steigern können. Zum Einführen gehört auch Eingeführtseinwollen. Auf der Reise ins Fremde will man sich nicht zu sehr langweilen. Zwar kann nach dem bewährten Worte "eine Schreibe keine Rede" sein. Deswegen braucht sie doch nicht auf die Hoffnung zu verzichten, daß auch die gedruckte Seite das Gehör zu Hilfe ziehe. Endlich habe ich die Vorlesungen gelegentlich mit Stücklein aus Morgensterns Galgenliedern gespickt. Nicht etwa, weil sie für irgend etwas einen Beweis erbrächten. Nicht einmal, weil Galgenlieder in sich schon juristisch ausgerichtet wären. Sondern wegen Morgensterns Einstellung. Sein Galgenberg ist ein "Lugaus ... ins Rings. Im Rings befindet sich noch viel Stummes. Man sieht vom Galgen die Welt anders an, und man sieht andere Dinge als andere." Offensichtlich sitzt oder hängt auch der juristische Seinswissenschaftler am Galgen. Wie's sich vielleicht gehört. Karl N. Llewellyn
ERSTER TEIL
über eine Erfahrungswissenschaft des Rechtslebens Erstes Kapitel
Wesen und Wert einer Seinswissenschaft vom Rechtsstoff Kommilitonen! Die Aufgabe, die mir bevorsteht, ist gleichzeitig belustigend und erschreckend. Gleichzeitig lächerlich und grandios. Lächerlich ist es doch in gewissem Sinne, daß einer, dessen Kenntnisse des deutschen Rechts, des deutschen Rechtswesens, auf Null oder gar wohl auf ein Minus einzuschätzen sind, doch an einer der stolzesten, schaffensreichsten Rechtsfakultäten Deutschlands eine Vorlesung zu halten wagt. Was hat der Ausländer, der sich mit keinem einzigen Paragraphen des BGB duzen darf - was hat denn dieser dem angehenden deutschen Rechtsbeflissenen zu bieten? Denn unter allen Wissenszweigen steht das Recht allein in seinem Kleinbürgertum, in seiner Staatsbegrenztheit, in seinem Nichtbeachten selbst aller Teile des eigenen Volkes, die nicht im jeweiligen Staat mit einbegriffen sind (z. B. die Sudetendeutschen), in seinem schroffen und ausschließlichen Bezogensein auf ein einziges Bodengebiet. Das Recht steht stolz, verächtlich, unberührt, veraltet, einzig unter den Kulturgebilden. Fast hätte ich gesagt: es steht mittelalterlich allein in der modernen Welt. Das sag ich lieber nicht; ich will das Mittelalter nicht verleumden. Im Mittelalter war zwar das Recht ungleich zersplitterter als heute; die Rechtswissenschaft war aber im Mittelalter keineswegs zersplittert. Der Kaufmann von Venedig konnte damals noch in Antwerpen, Bristol, Regensburg in Handelsrechtssachen zu Rate gezogen werden. Zu einern deutschen Rechtsstreit konnte man sich damals noch beliebig aus Bologna, Prag, Leipzig, Paris das Gutachten der Doctores kommen lassen. Heut nenn ich Staub, und der Franzose stellt sich dumm. Ich nenne Kohler; ja, mag sein, daß man den
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Namen kennt. Ich nenne G€my; es entsteht vor Ihnen ein verschwom-
menes Bild von einem, der doch etwas - ja, es war doch wohl seitens der Freirechtler - besprochen worden ist. Ich nenne unseren Größten, Holmes. Sie fragen mich: wie schreibt sich das?
Mittelalterlich ist unser heutiges Rechtswesen also nicht. Vielmehr ist es als frühneuzeitlich anzusehen. Seiner Eigenart nach stammt es aus der Frühzeit des modernen Staates. Zwar will es größere Gruppen umfassen als nur ein Lehnsgut, eine Stadt oder ein Land. Der Riesenaufgabe der Rechts-Vereinheitlichung jenes größeren Volksteils, der sich zum Staat zusammenschließen sollte, waren die Juristen jedoch nur dann gewachsen, wenn sie das dem damaligen Westeuropa Gemeinsame, das im schönsten und durchaus nicht im üblichen technischen Sinne des Wortes Völkerrechtliche dabei preisgaben. Mir liegt wenig daran, wie der oder jener dieses Gemeinsame auffaßt. Wer politisch links steht, denkt es sich vielleicht als international. Der Paneuropäer denkt es sich vielleicht als übernational. Dem strammen Nationalisten kann es als unternational oder extranational vorkommen. Mich interessiert hier nicht die jeweilige Einstellung so sehr wie der gegebene Sachbestand. Tatsache ist die Nation, das Nationalgefühl, das nationale Kulturgut, das ausschließlich diesem Kulturgut angepaßte positive Recht. Tatsache ist aber auch das genus homo sapiens, ist auch das westeuropäische Kulturgut, ist auch, daß die Wissenschaft im allgemeinen eher auf homo sapiens und Westeuropa als auf Volksstamm und Staat fußt. Tatsache ist endlich, daß - wie die Dinge stehen - keine von beiden Tatsachengruppen ohne die andere denkbar ist, daß sie sich gegenseitig befruchten, befruchtet haben, befruchten werden. Mit dem Bereich des Gemeinsamen habe ich es in dieser Vorlesung zu tun; gänzlich innerhalb jenes Bereiches habe ich zu wirken. Und ich stelle zuerst fest, daß diejenige Einheitlichkeit, welche im Laufe der Entwicklung des Nationalstaats die juristischen Unterschiede im Inneren zur Strecke brachte, nur dadurch ermöglicht wurde, daß für juristische Unterschiede nach außen eine Schonzeit allerseits eingehalten wurde, vor deren Ablauf die Unterschiedlichkeiten überhand zu nehmen drohten. Jene Entwicklung hat eben, wie jede andere Entwicklung auch, ihren Preis gekostet. Aufgabe des Verstandes aber ist, die Unkosten einer jeden neuen Entwicklung soweit herunterzudrücken, wie das ohne Beeinträchtigung des Zieles zu machen ist. Ich darf also doch als außenseitiger Wissenschaftler - ohne mich in das hineinzudrängen, was den Außenseiter nichts angeht - darauf hinweisen, daß für den neuen Aufschwung des Nationalgefühls in diesem Lande, dem ich soviel schulde und an dessen Wohl mir soviel liegt, die Unkosten wieder wie immer nach Möglichkeit herunterzudrücken wären. Das Nationalgefühl ist auch heute eine Errungenschaft, nicht mehr ein zu Erstrebendes. Der
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im Anfang notwendige Preis jener Errungenschaft - die Abkehr vom Gemeinsamen aller Menschen - ist heute lange nicht mehr in demselben Maße notwendig. Die Zeit ist jetzt vorbei, da man sich das Nationale nur dadurch sichern konnte, daß man allem Außernationalen mit einem schroffen Nein! begegnete. Vielmehr sind die These und Antithese von damals heute nach Hegels Art durch die Synthese zu überbrücken - zumal und vor allem auf dem Gebiete der Wissenschaft, die das Zusammenwirken aller Völker benötigt. Der westeuropäische Kulturkreis hat heute wie nie zuvor jedem Einzelvolke Anregung zu neuer, noch schönerer Blüte der Nationalkultur zu bieten. "Borgen" oder "Ausleihen" kann man ruhig dem Bank- und Betriebswesen überlassen. Borgen, Ausleihen gibt es nicht auf dem Gebiete der Kultur im engeren Sinne. Aufnehmen tut das eine Volk nie den Kulturstoff des anderen; Anregung kann jedoch ein jedes Volk empfinden, um dann die Anregung mit und in der eigenen Kultur neu zu bearbeiten, um aus der neu entfachten heimischen Flamme unerdachte Neuanregungen seinerseits an andere Völker auszustrahlen. Das haben wir in jeder anderen Wissenschaft Jahrhunderte durch erfahren. Soll es beim Recht nicht auch geschehen können? Mittelalterlich, meinte ich vorhin, ist das heutige Rechtswesen also nicht; merkantilistisch ist es eher - auf den Einzelstaat ausgerichtet; unverkennbar trägt ja die Rechtstheorie, auch in jedem noch so demokratischen Lande, ja sogar in Rußland, noch heute den Stempel der merkantilistischen Monarchie. Das Recht allein, unter allen Wissenszweigen. Die Philosophie, ihrem Welteinstellungsideal getreu, zeigt stets neben dem nationalen den alten "über"nationalen Zug. Die Chemie, die Medizin, die Kunst, die Technik zeigen wohl ihre heimischen Unterschiede auf; auswanderungsfähige und -lustige Gesellen sind es doch. Bodensässig bleibt das Recht allein. Lächerlich kann es dann doch scheinen, daß einer von draußen hergelaufen kommt und den Ansässigen etwas Gescheites über das Rechtswesen sagen können will. Doch tröste ich mich. Ein wohlwollendes Feld kann selbst durch einen Ochsen Neubefruchtung finden, auch wenn der Ochse, der den Dünger liefert, aus dem Ausland hertrabt. Mein Unternehmen kann also in einem Sinne belustigend wirken doch in einem anderen Sinne wurzelt es im Grandiosen. Es ist doch schön, daß sich immer wieder der Gedanke regt, es müsse in der westeuropäischen Kultur neben den Gegensätzen nicht nur eine Gemeinschaft der Kunst, der Technik, des Handels, sondern gar irgendwelche Gemeinschaft auf dem Rechtsgebiet zu finden sein. Dereinst und immer wieder haben eine solche die Naturrechtler gesucht. Die doch internationale Freirechtsbewegung, das internationale Interesse am Schweizerischen Gesetzbuch, die fortwährende Neubelebung der Versuche, An-
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gleichungen des Handels-, des Wechsel rechts herbeizuführen, der fortdauernde Einfluß des Studiums des römischen Rechts, zuletzt der Völkerbund - immer wieder setzt die Hoffnung neu ein. Wer das verfolgt hat, wer die ungeheueren, ja die manchmal ungeheuerlichen Schwierigkeiten mit in Rechnung zieht, die sich jedem neuen Ansatz immer entgegensetzen, der muß doch mit mir meinen: der Gedanke, die Aufgabe, das Ziel sind grandios. Man möchte Teil an solcher Arbeit haben; man möchte auch im Recht von der Frühneuzeit in die spätere Neuzeit vordringen. Man möchte auch im Recht die hohen Errungenschaften des Einzelstaatswesens würdigen, weiterbauen - und dennoch jene Errungenschaften aus einer größeren Gemeinschaft neu beleben, dennoch durch das positive Recht des einen Staats hindurch zum Menschentum - darf ich sagen: zum Rechtswesen überhaupt - durchdringen. Wenn es ginge. Und geht's? Das hab ich zu erproben. Unkundig Ihres Rechts, ausgebildet nicht nur in einem anderen Lande, sondern sogar in einem vollauf verschiedenen Rechtswesen, dem des Spruchrechts - dennoch durch Ihre hohe Fakultät mit dem Auftrag beehrt, vor deutschen Hörern zu lesen - was bleibt mir übrig, als den Versuch zu machen, Ihnen etwas Allgemeinmenschliches im Recht anschaulich zu machen. Zu diesem Zwecke wähle ich den Weg über die "Rechtssoziologie". Nun, was die Soziologie sein mag, darüber sind sich keine zwei Soziologen einig. Das ist das erste. Und was auch immer die Rechtssoziologie sein mag, soviel steht fest: vom "Rechte" selbst, wie man gewöhnlich das Recht auffaßt, ist die Rechtssoziologie wesensverschieden; mit dem "Recht" in dem üblichen Sinne des Wortes, kann man kurzweg behaupten, hat die Rechtssoziologie so gut wie nichts Gemeinsames. Da haben wir also das Lustige an meiner Sache. Dadurch, daß man dem Recht getrost den Rücken kehrt, soll man zu neuer Einsicht in das Recht gelangen! Leere Worte? Ein Unsinn? Es nimmt doch jeder Wissenszweig seinen Anfang nicht als Wissenschaft, sondern als praktische Lebenskunst, als Gewerbe, als Handlungsgefüge, das dadurch zustandekommt, daß die Menschen bewußt oder unbewußt etwas zu schaffen haben und gut oder schlecht mit diesem Schaffen fertig werden. Bei der Juristerei kann man, wie bei den meisten Wissenszweigen, eigentlich nicht nur eine Kunst, nicht nur ein Gewerbe, sondern deren viele unterscheiden. Das Richten ist eine Kunst für sich, ebenso das Advokatentum, desgleichen die beratende Tätigkeit des Anwalts, die doch mit der Klientenvertretung vor Gericht im Grunde wenig Gemeinsames hat. Endlich kann man dazu zählen die Verwaltungstätigkeit des Beamten, wenn nicht im ganzen, so doch in vielen ihrer Phasen. Merkmal der praktischen Lebenskunst ist einerseits ständiger Kontakt mit dem Leben, mit den Lebensbedürfnissen,
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mit dem Wechsel in den Verhältnissen. Dank diesem Kontakt paßt sich fortwährend und fast unbemerkt das Gewerbe neuen Verhältnissen an, wird ihnen mehr oder weniger gerecht. Nicht immer ganz. Die Erfindungskraft reicht nicht immer aus. Das Bestreben aber, neuen Bedürfnissen gerecht zu werden, ist immer vorhanden, obschon eine volle Erkenntnis der neuen Bedingungen selten früh und klar zutage tritt. Denn das andere Merkmal der praktischen Lebenskunst liegt darin, daß sie es im strengsten Sinne mit dem Augenblick zu tun hat; sie ist in einem besonderen Sinne gegenwartsbezogen, für sie schließt die unmittelbare Gegenwart alles andere aus. Richtungen, Tendenzen, Entwicklungslinien merkt sie selten. Immer tastet sie heute und morgen unsicher, unbewußt der Bedeutung dieses Tastens vorwärts - mit der Zeit kommt doch etwas Brauchbares heraus. Ich möchte wiederum betonen, daß das Gewerbe - auch im Recht - die Fühlungnahme mit dem Leben stets aufrechterhält, daß es aber selten sich selbst seines eigenen Wesens, seiner eigenen Triebe, seiner eigenen Errungenschaften voll bewußt wird. Und zwar gerade deswegen, weil es so vollständig in den Gegenwartsproblemen steckt. Dazu, daß man sich seiner Aufgabe und deren Bedeutung bewußt wird, gehört doch Zeit, Zeit zum Nachsinnen, Zeit, die Ereignisse von zwei Jahren oder von einem Jahrzehnt zusammenzufassen. Und den Gewerbetreibenden - seien sie Juristen oder andere - bleibt selten Zeit zu solchem Nachsinnen übrig. Aus dem Gewerbe entsteht nun nach und nach etwas, das man wohl als eine Philosophie betrachten kann. Die Wege der Entstehung sind verschieden. Hier und da findet sich einer - oft einer, dem kein praktischer Erfolg beschieden ist -, der über sein Gewerbe und dessen Bedeutung nachzudenken sucht. Oft ist es einer, der mit dem Zustand der Dinge unzufrieden ist. Auch kommt dazu ein mächtiger Trieb, sobald irgendein Unterrichtswesen sich einstellt. Lehren kann man nicht, was man nicht mindestens zu verstehen versucht hat. Ich will nicht sagen, lehren kann man nicht, was man nicht versteht; sonst müßten wir über die halbe Lehrerschaft den Stab brechen. Ganz verstehen kann sein Fach doch keiner. Der Versuch aber muß gemacht werden. Aus solchem Nachsinnen seitens des philosophisch Veranlagten, seitens des Erfolglosen oder Unzufriedenen, seitens des Unterrichtenden, kommt eine Zusammenstellung des bis dahin Gewußten über irgendeinen Wissenszweig zustande. Eine "Wissenschaft" können Sie das nennen, wenn Sie wollen; eine Wissenschaft aber in einem veralteten Sinne, in dem Wissenschaft, scientia, nur ein gegliedertes, nur ein etwas geordnetes Zusammensetzen von allem bis dahin Erkannten darstellte; in dem auch vieles nur Geglaubte neben das Gewußte, und zwar meist ohne Unterscheidung zwischen beiden trat; in dem endlich allerlei Werteinsichten, die oft ja lediglich Ausflüsse von Vorurteilen waren, J Llewellyn
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mit hineingenommen und ohne besondere Nachprüfung mit als unbestreitbare Tatsachen dargestellt wurden. Dabei ist besonders zu betonen, daß das Aufkommen einer solchen Quasi-Wissenschaft nichts an dem Fortbestand der praktischen Lebenskunst ändert. Derartige Philosophie ersetzt das Gewerbe nicht, sie stellt sich nur daneben. Sie bleibt aber nicht dauernd allein damit. Wohl die höchste Errungenschaft der westeuropäischen Neuzeit besteht darin, daß sich dann an die Seite von praktischer Lebenskunst und Philosophie das stellt, was wir im modernen Sinne eine Wissenschaft nennen. Im Gegensatz zur Philosophie will sie mit Werturteilen nichts zu tun haben. Den Tatsachen, und den Tatsachen allein will sie verantwortlich sein. Wieder im Gegensatz zur Philosophie legt eine solche Wissenschaft eine beharrliche Geduld an den Tag, braucht nicht alles auf einmal zu erschöpfen noch zu wissen, kann ein Menschenleben oder hundert Menschenleben lang mit einem kleinen Punkte ringen, bis endlich eine befriedigende Lösung gefunden wird. Auch im Gegensatz zur praktischen Lebenskunst steht diese Geduld. Für den Praktiker handelt es sich darum, etwas zu schaffen, auf die vorliegende Frage schlecht oder recht zu antworten, bevor es zu spät wird. Sein Handeln kann katastrophal werden; sein Nichthandeln wird aber nicht weniger katastrophal. Für den Wissenschaftler hingegen handelt es sich nur darum, etwas ausfindig zu machen, das haltbar ist. Wie lange es auch dauert, bis er dahin gelangt. Wie kurz die Zeit auch sei, bis diese Haltbarkeit von einer anderen verdrängt wird. Ich übertreibe zwar. Doch bleibt der Unterschied der Ausgangspunkte wesentlich und klar. Ich will nun nicht mit einer solchen Beschreibung der naturwissenschaftlichen Anschauung etwa behaupten, von Wertpostulaten sei diese Anschauungsweise frei. Im Gegenteil. Die naturwissenschaftliche Anschauungsweise ist ebensosehr von postulierten Wertbegriffen bedingt wie etwa die Kasuistik des Mittelalters; nur sind es andere Postulate. Unerschütterlich und ohne weitere Nachfrage fühlt man sich z. B. allein den Tatsachen verantwortlich. Ebenso unerschütterlich nimmt man an, daß keines Menschen Aussagen genügen, bis er Belege und Beweise anführt; daß seinen Versuchen und Beobachtungen nicht zu trauen ist, bis andere gleich gut geschulte Forscher ähnliche Beobachtungen und Versuche mit gleichem Ergebnis und gleichem Erfolg anstellen können. Deswegen das Prinzip, daß die Forschungsmethode zugleich mit den Ergebnissen zu beschreiben ist und daß die Tatsachenunterlage stets mit den daraus gezogenen Schlüssen zu veröffentlichen ist. Ebenfalls will ich nicht etw1\ die unsinnige Behauptung aufstellen, die sogenannten Tatsachen wären für irgendeinen Wissenszweig objektiv gegeben. Wir wissen wohl, daß der Stoff des rohen Daseins, ohne daß er erst in Begriffe eingegliedert wird, überhaupt nicht zu sehen, erst recht nicht
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zu beschreiben ist. Wir wissen, daß die Begriffszusammensetzung im Beobachter sein "Sehen" bedingt. Wir wissen, daß die Art seiner Fragestellung nicht nur seine Begriffsbildung, sondern auch seine Auswahl des zu Beobachtenden aus dem rohen Dasein schon deswegen unumgänglich beeinflußt, weil sie die Richtung seiner Aufmerksamkeit bestimmt. Diese Metaphysik, diese Erkenntnistheorie der naturwissenschaftlichen Forschung kann man gerne zugeben, ohne aber im geringsten an dem Wert der naturwissenschaftlichen Einstellung zu zweifeln. Denn vor allen anderen Denkmethoden hat die naturwissenschaftliche dieses voraus, daß sie im Augenblick des Schaffens ihrer eigenen Bedingtheit bewußt ist, daß sie vor dem Schaffen und nach dem Schaffen alle menschenmöglichen Vorkehrungen trifft, um nachzuprüfen, inwieweit die unumgänglichen Bedingtheiten die Beobachtung gestört haben mögen. Ich sagte, daß die Erfindung und die Verbreitung dieser Anschauungsweise vielleicht die höchste Errungenschaft der Neuzeit ist. In jedem Wissenszweig, in dem sie zur Anwendung gekommen ist, beginnt Fortschritt, hält Fortschritt an. Doch ersetzen tut auch die Wissenschaft das Gewerbe nicht. Noch die Philosophie. Als dritte Gattung, die beide befruchtet, die von beiden befruchtet wird, gesellt sich die Wissenschaft den anderen zu. Einige Wissenszweige gibt es nun, in denen noch eine vierte Gattung hochkommt. Man kann diese wohl am besten die Dogmatik nennen. Vorbedingung zu ihrem Erscheinen ist das Vorhandensein irgendeiner anerkannt autoritativen Unterlage, zumeist ein heiliges Buch. Der Koran, der Talmud, die Bibel, die Schriften der Kirchenväter, das BGB. Das heilige Buch (oder wo es noch ungeschrieben ist, die heilige überlieferung) hat nun fast stets drei Eigenschaften: 1. sind die Sätze, die Vorschriften, die Denkdaten, in Worten ausgedrückt: feststehende, zwingende Worte sind es;
2. stehen die Worte unantastbar da, die Worte verändern sich nicht, wie sich auch die Zeiten ändern mögen: feststehende, zwingende Worte; 3. sind die Worte bindend, gebieterisch: feststehende, zwingende Worte. Sie legen sich dem Leben als Herrscher auf. Sie sind Worte des Sollens, die keinen Widerspruch dulden. Aufgabe der Dogmatik wäre es nun, indem sie die heiligen Worte als unentwegte, unantastbare, zwingende Unterlagen nimmt, die "richtige" Lösung für Fälle aus dem Leben aus diesen Worten zu entwickeln. Ob man das nun Theologie, Kasuistik oder Rechtsdogmatik nennt, die Wesensgleichheit ist gegeben. Und noch eins ist dabei zu bemerken. Die daraus entstehende Soll-Lehre stellt sich nicht nur als richtige Soll3·
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Lehre im ethischen oder religiösen oder naturrechtlichen Sinne dar, sie stellt sich fast unvermeidlich auch als die faktisch herrschende SollLehre hin. Endlich, wenn auch die Wiederholung eintönig zu werden droht, muß ich doch wieder darauf zurückkommen: auch die Entstehung einer Dogmatik ersetzt weder die praktische Lebenskunst, noch die Philosophie, noch - wenn es schon eine gibt - die Wissenschaft in einem Wissenszweig. Alle bestehen noch und werden weiter bestehen, nebeneinander. Alle bestehen hinsichtlich desselben Grundstoffs, desselben Lebensproblems, derselben Menschenhandlungen. Nicht ihr Gegenstand, sondern ihre Betrachtungsweise und Teilbetonung ist verschieden. Im Rechte nun, vielleicht mehr als in irgendeinem anderen Fach, gewinnt die Dogmatik sofort einen überaus und unverkennbar praktischen Wert, einen Wert, der selbst dem Laien sofort ins Auge fällt. Viele Richter gibt es, und viele ähnliche Fälle. Wer auch immer der Richter sei, was für ein Mensch er auch sei, um welche Zeit auch der Fall spielt, immer möchte man, daß wesensgleiche Fälle wesensgleich behandelt werden. Eine autoritative Anweisung soll es dann mindestens geben, allen Richtern in allen wesensähnlichen Fällen zugänglich, die ihnen klar macht, wie in solchem Falle das Urteil zu lauten hat. Es ist ein tief eingewurzeltes Bedürfnis im Menschen, daß nicht der Richter, sondern das Recht entscheiden soll. Wenn es zum Richten kommt, muß zuerst der Richter Recht haben. Er hat dem Recht zu unterstehen. Man sucht nach Rechtssätzen, die, wenn's von oben einschlägt, kontrollieren und die, von unten her, den Menschen-im-Amt programmieren. Rechtssätze und die Dogmatik ihrer " Anwendung " stellen sich so als ein Versuch dar, dieses menschliche Bedürfnis in die Praxis umzusetzen, den allzu-"menschlichen" Faktor auszuschalten, wenn Konflikte vor Gericht kommen. Dieses ist nicht dasselbe wie die Ausschaltung von Dummheit oder Unerfahrenheit, auch nicht dasselbe wie der Versuch, Richter von unterschiedlichem Temperament auf einen Weg zu weisen. Bei Dummheit, Unerfahrenheit oder Temperamentsunterschieden kann es sich dennoch um Richter handeln, ja es handelt sich zu allermeist um Richter, welche unparteiisch und ehrlich der Gerechtigkeit dienen wollen. Es handelt sich hier indes um etwas weiteres: um den Versuch, der Richterwillkür auf der einen Seite und der Parteilichkeit und Bestechlichkeit auf der anderen Seite zu Leibe zu rücken - also auch um den Fall, daß der Richter einmal nicht gerecht verfahren will. Und das ermöglichen (in bescheidenem Maße) das feststehende Wort und die Dogmatik, indem sie nicht nur dem Richter eine Anweisung geben, sondern überdies anderen zur Verfügung stehen, um sein Tun zu kontrollieren. Die Plebejer wollten ja das Zwölftafelrecht "öffentlich verkündet" haben.
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Endlich bietet das "feststehende" heilige Wort in Zeiten des Wechsels und der Umwälzung, der Neugestaltung der Verhältnisse, die Möglichkeit, auch den Rechtssatz zu ändern, Neuregelungen vorzunehmen. Freilich kann dies erst zu einer Zeit eintreten, in der die ursprüngliche Total-Heiligkeit des Wortes zum Teil erschüttert worden ist. An die Stelle der ewigen Heiligkeit tritt nun eine Heiligkeit pro tempore, und das Recht oder die jeweilige andere Dogmatik tritt aus dem Bereich der religiösen Sanktionierung in den Bereich irgendeiner anderen Macht1 • Dieses Ihnen schon lange Bekannte wiederhole ich nur, um nicht einen Zustand, sondern einen Vorgang klarzulegen; um anzudeuten, wie es sich ereignen muß, daß nach und nach die Rechtsdogmatik sich ins Scheinwerferlicht stellt, jenes Licht dann derart für sich allein in Anspruch nimmt, daß alles andere Rechtliche verdunkelt wird. Ohne die Dogmatik kommen wir eben nicht im Recht aus. In der Dogmatik stellt "das Wort" wohl zur rechten Zeit sich ein. Die Soll-Formel, alle Soll-Formeln kleiden sich in Worte. Das Wort steht fest, man kann es sehen. Es gilt als unantastbar, mindestens pro tempore. Dient es nun einem erkennbaren und überaus wichtigen Zweck; steht es schon wegen seiner Heiligkeit und Zugänglichkeit im Mittelpunkt des Denkens; häuft sich vor allem der Stoff, die Zahl der Rechtssätze gar überwältigend an - so kommt man leicht dazu, daß einem das ganze Rechtsgebiet in die Dogmatik aufzugehen scheint. Was soviel Zeit in Anspruch nimmt, was wegen seiner Einkleidung in Worte so schnell aufzufinden ist, was stets angeführt wird, was durch die nun groß gewordene Kunst des Wortjonglierens, was beim Hineinschmuggeln von Bedeutungsinhalten den Anschein der Vollkommenheit erweckt - gewinnt in jedem Land den Schein, das Recht auszumachen. So und nur so ist es zu verstehen, daß die Theorie überhaupt hat aufkommen können, das Recht bestehe allein aus Normen: es sei allein eine Normwissenschaft. Jeder Wissenszweig aber, der eine Dogmatik hervorbringt, und sei diese noch so wichtig, behält nichtsdestoweniger die praktische Lebenskunst, die Philosophie, die Seinswissenschaft (oder mindestens die Möglichkeit einer Seinswissenschaft) desselben Zweiges bei. Die übergroße Betonung je eines dieser Untergebiete bedeutet unvermeidlich Auswüchse, Einseitigkeit, fehlerhafte Erkenntnis und gar fehlerhaftes Treiben in dem Wissenszweig. Es kann nicht anders sein. Auch nicht im Recht. Wer das nicht glaubt, braucht sich nur umzusehen. In unserem 1 Hier will ich nicht etwa andeuten, früher bestünde nur eine religiöse Sanktionierung. Auch nicht, daß das Gesetz - selbst in der modernen Zeitnicht herkunftsmäßig sanktioniert sein kann (Gesetz ist Gesetz, und dementsprechend recht, und so zu beachten) oder von mystischer, religions artiger Sanktionierung begleitet sein kann (der Staat steht einfach als solcher irgendwie heilig da, und "sein Wille", trotz aller Schwächen der jeweils Regierenden, ist zu beachten). Und trotzdem.
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Fach wird noch immer die Dogmatik über alle Maßen betont. Gegen ihre Betonung habe ich nichts. Ohne die Dogmatik, wiederhole ich, geht es nicht. Gegen ihre übermäßige, einseitige Betonung indessen werde ich mich in dieser Vorlesung mit allen Kräften wenden. Zum Teil wird eine Kur schon angebahnt. Die Rechtsphilosophie kommt, wie das dem deutschen Wesen entspricht, hierzulande zumindest noch immer zur vollen Geltung. Ich wollte nur, daß ich dasselbe aus meinem Lande berichten könnte. Auch die praktische Lebenskunst findet heute in der deutschen Rechtsausbildung eine erfreuliche Anerkennung. Hier, soweit ich weiß, mehr als in irgendeinem anderen Lande, wird durch die Einrichtung der Referendarzeit der Hochschulunterricht in bewundernswürdigem Maße ergänzt. Soweit gut, soweit schön. Ich sehe mich aber um. Wie steht es mit der Seinswissenschaft des Rechts? Ansätze dazu finden sich einmal in der Freirechtsbewegung. Bewegung und Ansätze sind zugleich verklungen, obgleich ihr Einfluß beim Studium der Richterpsychologie, auch bei der neueren Dogmatik, nachwirkt. Ansätze zu einer Seinswissenschaft hat es wieder in der Rechtstatsachenforschungs-Bewegung gegeben. Den Einfluß dieser Bewegung auf die Literatur merke ich wohl. Den Einfluß auf den Unterricht habe ich bisher kaum gespürt. Doch möchte ich behaupten, daß in dieser auf den Kopf gestellten Welt das Zentralproblem des ganzen Rechts es doch mit dieser immer noch fast völlig vernachlässigten Seinswissenschaft zu tun hat, mit dieser "Rechtssoziologie", mit dieser Naturwissenschaft des Rechtslebens. Was wir zu erforschen haben, was wir wissen müssen, ist nicht: wie heißt der Rechtssatz? Auch nicht: wie lautet der philosophisch richtige Rechtssatz? Was wir wissen müssen ist: was bedeutet der Rechtssatz? Nicht in der Theorie, nicht im "gemeinten Sinne", auch nicht in den Wolken, dem Begriffshimmel, sondern in der menschlichen Erfahrung. Was wird aus ihm im Leben? Was bedeutet das Gesetz dem Volk? Wenn es je genug gewesen ist, so ist es sicher heute nicht genug, eine "ideale" Norm aufzustellen und alles Unzulängliche bei der "Anwendung" der menschlichen Schwäche mit Schulterzucken zuzuschreiben. Im Leben bedeutet Recht, was Recht leistet; weder weniger noch mehr. Das Leben aber liegt in der Seins-Welt, nicht in der SollensWelt. Das Recht-im-Leben liegt in der Seinswelt allein. Seinem Verständnis ist nur mit den Begriffen der Seinswelt beizukommen. Normenbegriffe, die dann in Frage kommen, kommen allein als tatsächlich mehr oder weniger bei bestimmten lebendigen Personen herrschende Normbegriffe in Frage, die nur deshalb, weil sie die Begriffe solch lebendiger Personen sind, nun auf die Seinswelt Einfluß haben. Und wieviel Einfluß, bleibt zu erforschen. In der Seinswelt - im Gegensatz zu der Welt der Dogmatik - versteht man keinen Rechtssatz, es sei denn, daß dieser Rechtssatz in
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seinen Wirkungen ausgedrückt wird. Sonst ist der Rechtssatz eine leere Formel. Mit einem solchen Seins-Ansatz allein löst man selbstverständlich keine Soll-Probleme, schafft die Notwendigkeit, Soll-Probleme zu lösen, auch nicht aus der Welt. Aber mit einer Wertlehre und mit einer Dogmatik allein löst man auch keine Soll-Probleme des eigentlichen Lebens. Zur Lösung eines Soll-Problems im Leben gehört erstens eine Grundwerteinstellung, die nur religiös oder metaphysisch zu begründen ist und die im Bereich der Philosophie oder der Religion zu suchen ist. Zweitens aber gehört dazu eine Kenntnis der Lebensfolgen der Wahl von dieser oder jener in Aussicht genommenen Maßregel als angebliches - Mittel zum gewünschten Zweck. Ohne beides zusammen, WerteinsteIlung und Wissen über Lebensfolgen, kommt man zu keiner vernünftigen Lösung. Man tastet dann nur - und im blinden Dünkeln. Es fehlt uns nicht an Grundwerteinstellungen, auch nicht an philosophischen Untersuchungen über deren Haltbarkeit. Von der anderen, aber gleich notwendigen Hälfte des Lösungsstoffes haben wir aus wissenschaftlichen Untersuchungen geradezu gar nichts. Aus wissenschaftlichen Untersuchungen sage ich, nicht etwa aus reinen ex cathedraÄußerungen juristischer Federfumser. Derlei Behauptungen liegen genug vor - und auch aus meiner Feder. Mea culpa! An Forschungen, die solche Behauptungen auf die Probe stellen, an denen fehlt es. Aus solchen Forschungen im Schlamm, im Dreck, im ungemütlich lebensnahen Gestank der Tatsachen und aus der wissenschaftlichen Bearbeitung solcher Forschungen werden die Theorien einer Seinswissenschaft des Rechtslebens dereinst bestehen. Ich biete Ihnen aber so gut wie keine solcher erprobten Theorien. Die belegten Tatsachen, die wissenschaftlichen Unterlagen für solche, fehlen noch. Vielmehr biete ich nur einen Blick auf das gelobte Land. Ich weiß nicht, ob ich es je betreten werde. Die Jahre in der Wüste sind noch lange nicht vorbei. Auch hege ich keine Hoffnung, daß die Mauern dieses Jericho mit noch so kräftigen Trompetenstößen und Demonstrationen zum Sturz zu bringen wären. Einige teilweise und tastend untersuchte Hypothesen also biete ich nur. Einige weitere Phantasiegebilde, die - wie ich hoffe - sich als Hypothesen einmal noch bewähren mögen. Vor allem aber eine Einstellung den Sachen des Rechtslebens gegenüber: einen offenherzigen, durchgreifenden, schaffensfreudigen Zynismus gegenüber jedweder Voraussetzung der herrschenden Rechtsphilosophie und Rechtsdogmatik. Viel haben diese Voraussetzungen jedenfalls manche unter ihnen - für sich. Zugegeben. Gerne. Viel Unfug haben aber auch einige unter ihnen angerichtet. Wer das nicht weiß, sog seine Juristerei nur mit "heißem Bemühn", ohne kritisches Nachdenken, in sich auf. "Durchaus studiert" hat er sie nicht.
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Dazu kommt, daß - soweit mir bekannt ist - keine einzige dieser Voraussetzungen, dieser herrschenden Denkpostulate, dem sachlichen Rechtsleben entspricht. Nicht ein einziges dieser Denkgebilde spiegelt sich eigentlich erkennbar im sachlichen Rechtsleben wider. Ich greife einige heraus. Es wird ernstlich und häufig angenommen, es wird sogar als wesensnotwendig für das Recht hingestellt, daß die Rechtsnormen ein logisches System ausmachen und in Obersatz und Untersatz zu glie-' dem seien. Auf Einsicht baut sich wohl dieses Postulat auf, jedoch nur auf Teileinsicht. Ich behaupte unumwunden: Ein solches logisch geordnetes System von faktisch herrschenden Normen ist nirgends in Geschichte oder Gegenwart zu entdecken. Es ist so gut wie undenkbar, daß es ein solches geben könnte. Gottlob. Denn die Triebe, die Entwicklungstendenzen, die Handlungsgefüge, die diesen entnommenen herrschenden Normen bleiben trotz aller wissenschaftlicher Bearbeitung widersprüchlich, gegensätzlich, unvereinbar. Nicht Harmonie, sondern Gleichgewicht stellt die Ganzheit in der Gesellschaft dar. Es wird immer noch, trotz der Ausführungen der Freirechtler, trotz der Untersuchungen der Richterpsychologie, die Behauptung aufgestellt, daß die Entscheidung eines Streitfalles auf deduktivem Wege zustande komme. Es wird immer noch vorausgesetzt und gläubig hingenommen, daß der Rechtssatz die faktische Entscheidung eines Rechtsstreits diktierte. Es wird behauptet, daß eine Rechtssicherheit bestehe und daß diese Rechtssicherheit gerade auf solche Diktatur des Rechtssatzes zurückzuführen sei. Und wiederum: auf Einsicht bauen sich solche Behauptungen auf. Und wiederum: auf einer Teileinsicht nur. Und wiederum behaupte ich unumwunden: im Rechtsleben liegt kein Wirklichkeitsbetrieb vor, der auch nur einigermaßen diesem Bilde entspräche2. Fast immer liegt etwas Wirklichkeit in einem solchen Postulat, einer solchen Voraussetzung zugrunde. Es fragt sich nur, und zwar fragt es sich neu für eine jede unter ihnen: wieviel Wirklichkeit? Und worin bestehen hier die nötigen Korrekturen? Daß der Meeresspiegel sich im allgemeinen der Rundung der Erde anpaßt, ist dem Seemann wichtig genug; weiß er aber nichts über Ebbe, Flut, Dünung und Sturm, so möchte ich lieber doch mit anderen fahren. Ich stehe diesen juristischen Postulaten also freundlich genug gegenüber: Seien Sie willkommen, meine Herren! Geehrt, eine solche Gesellschaft zu empfangen. Es gibt aber unter ihnen einige, die - sagen wir es offen - Schwindler sind. Sie wissen das - und ich auch. Es gereicht uns allen zum Wohl, die Schwindler bzw. das Stückchen Schwindel bei jedem loszuwerden. Bitte also, legitimieren wir uns. Jeder. Und nicht mit Paß, sondern mit Tüchtigkeit. Sie, Herr Postulat: was haben Sie schon geleistet - was können Sie noch leisten - fürs Rechtsleben? Z
Vgl. mein Präjudizienrecht und Rechtsprechung in Amerika, §§ 52 - 61.
Zweites Kapitel
Der Beohachtungsstoff der Rechtssoziologie: das" Trecht" In der letzten Vorlesung wurde ausgeführt, daß das Recht von heute kleinbürgerlich, merkantilistisch, staatsbegrenzt, auf den ersten Blick daher jeder Anregung von auswärts kaum zugänglich erscheint. Es gibt aber auch neben dem nationalen ein internationales Kulturgut, ein Gemeinsames, das Werte auch für das Nationale aufzuweisen hat. In jeder Wissenschaft - sogar im Recht. Mein eigener Versuch, einen Teil dieses Gemeinsamen aufzuzeigen, soll aber - falls er mißlingt nicht etwa als Beweis dafür gelten, diese Grundthese sei falsch; vielmehr würde der Fehler nur in der Art liegen, wie ich diesen Gedanken vertrete. Die Seinswissenschaft des Rechtslebens, in deren Studium ich solchen gemeinsamen Stoff suche, hat allerdings mit dem "Recht" im üblichen Sinne wenig zu tun. Jeder Wissenszweig hat seinen Ursprung in einer praktischen Lebenskunst, der sich dann im Laufe der Zeit eine Philosophie desselben Wissenszweiges hinzugesellt - eine Art von QuasiSystematisierung vorhandener Daten und Werteinstellungen, daneben auch eine Untersuchung der Rechtfertigung solcher Werteinstellungen. Dann - wenn es glückt - kommt eine Seinswissenschaft eben dieses Wissenszweiges hinzu, deren Hauptwesen darin besteht, beharrlich und unentwegt allein den Tatbefunden gegenüber, dem sachlich Gegebenen verantwortlich zu sein. Endlich, wo eine feste, unantastbare, wörtliche Unterlage gegeben ist, findet sich als viertes Teilgebiet eine Dogmatik des Wissenszweiges ein. Keine dieser Disziplinen darf vernachlässigt werden, wenn der gesarnte Wissenszweig als Ganzes gesund bleiben soll. Im Recht aber hat die Dogmatik - die ja auch offensichtlich unentbehrlich ist - trauriger-, wenn auch begreiflicherweise derart die Überhand gewonnen, ist derart emporgewuchert, daß die Seinswissenschaft neben ihr kaum existiert, ja sogar als Teil des "Rechts" gänzlich abgeleugnet wird. Die Seinswissenschaft, das heißt die "Rechtssoziologie", ist jedoch Kern jedes Ansatzes, wenn den Rechtsproblemen der modernen Welt Genüge geschehen soll. Nur in seinen Auswirkungen hat der Rechtssatz Bedeutung im Leben. Und ohne Einsicht in diese tat-
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sächlichen Auswirkungen läßt sich auch kein Soll-Problem des Rechts vernünftig lösen. Den Umriß einer fundierten Seinswissenschaft können aber weder ich noch andere bieten: die Forschungen sind bislang ausgeblieben. Es liegen nur Einzelergebnisse und einige hoffnungsvolle Hypothesen vor. Vor allem aber eine Einstellung, die einem jeden in seinem Denken den Rechtsstoff beleuchten kann: ein Skeptizismus gegen jede, und zwar tatsächlich jede herrschende Voraussetzung, die in der Rechtskunde ortsüblich sein mag; ein Skeptizismus, der unerschrocken den Dingen gegenübertritt, jedoch hoffnungsvoll und schaffensfreudig bleibt. Vielleicht läßt sich etwas vom Wesen wissenschaftlicher Entwicklung wie auch vom möglichen Nutzen einer solchen skeptischen Einstellung leichter an einer Fabel veranschaulichen als durch zuviel abstraktes Gerede. Es soll dereinst verschiedene blinde Gelehrte gegeben haben, welche Wesen und Werden des Elefanten untersuchen wollten. Der erste tastete hin und bekam das Tier beim Schwanz zu fassen. Er schrieb darauf ein Buch und begründete die Theorie vom Elefanten als Tau. Dabei stellte er vor allem fest, daß der Elefant überhaupt im Schwinden begriffen sei, da er doch gegen Ende immer schmäler würde. Der zweite indessen tastete und umklammerte ein Bein. Sein aufsehenerregendes Werk richtete sich in heftiger Polemik gegen die Taulehre. Begriffswesentlich für den Elefanten sei offensichtlich seine Eigenschaft als Baum. Eine Elefantologie, zumal eine deutsche Elefantologie, welche dem deutschen Elefantenproblem, dem deutschen Wesen, dem wissenschaftsgeschichtlich gegebenen deutschen Kulturgut gerecht werden wolle, müsse sich daher an die deutsche Eiche anlehnen. Die Elefantenproblematik sei mitten unter den Bäumen angesiedelt; nur in bezug auf den Baum gewinne sie ihren objektiven Sinn. Auch beruhten die Forschungen darüber, wieso denn der Elefant in der Luft hängen könne, auf grundfalscher Problemstellung. Der Elefant hänge nicht, er sei hingegen fest in deutscher Erde eingewurzelt. Das von den Taulern behauptete Am-Ende-schmäler-werden, wenn es überhaupt vorzufinden und keine Fälschung sei, sei höchstens eine Nebenerscheinung, eine ungesunde, unzeitgemäße Gegenströmung, die es gelte zu bekämpfen. Ohne Streben, ohne Kampf, kein Elefant! Auch wir hätten unseren Teil zum Werdegang des Elefanten beizutragen. Der dritte stand lange da und vertiefte sich in den Geruch des Elefanten. Er veröffentlichte eine philosophische Abhandlung: Die Elefantenmystik. Mit den Händen ließen sich Sein und Begriff des Elefanten gar nicht fassen. Es gebe auch Wirklichkeit, die sich nicht tasten und messen lasse. Eigentlich sei der Elefant keine statische Struktur,
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sondern ein unumkehrbarer geschichtlicher Prozeß, ein Schicksalsvorgang. Zwar verwirkliche sich der objektive Geist des Elefanten mal in tauartigen, mal in baumartigen Tendenzen, die dialektisch gegeneinander spielten. Sinn und Bedeutung für das Schicksal der Menschen seien aber nur durch den Geruch des Ganzen zu erfassen. Der vierte Gelehrte ging gar nicht zum Elefanten hin. Er setzte sich und grübelte und schrieb. Mit seinen Ausführungen werde ich Sie nicht belästigen. Schon weil sie mir schwer verständlich sind. Das Werk gipfelte aber in einer fast neukantischen Normensystematik: wie, seiner reinen Begriffsform nach, der Elefant naturelefantisch zu sein habe: die Theorie vom richtigen Elefanten. Verstehen Sie mich nur nicht falsch. Ich spotte nicht etwa über diese, meine Blinden. Ich bin auch deren einer. Was an gutmütiger Bosheit der Skizze beigegeben wurde, soll ja kein Hohn sein. Ich möchte wissen, wer es in den Gesellschaftswissenschaften besser macht, wer es besser machen könnte. Begriffsbedingt, kenntnisbedingt, geschichtsbedingt, problembedingt - und zu neun Zehnteln blind - sind wir doch alle. Eben deswegen tut aber der Skeptizismus gegen jede Elefantenlehre not. Eins, nur eins könnten wir: wir können uns bewußt werden über die Bruchstückhaftigkeit unseres Wissens. Wir können uns der Selbstkritik und der Kritik von außen öffnen. Wir können als Wissenschaftler weniger solo, mehr im Team spielen. Was dann der Skeptiker bietet, wird ebenso richtig, ebenso falsch sein, vor allem aber ebenso partiell wie die Ansichten, denen er seine Zustimmung verweigert. Nur eine etwas neue Perspektive kann er bieten. Nicht aber vom Himmel her, vielmehr von der verhältnismäßig festen Erde aus. Kein Vogelblick also, sondern ein Regenwurmblick soll es werden. Will man nun in kurzer Zeit den vollsten Gewinn aus einem fremdartigen Standpunkt ziehen, so hat es wenig Zweck, ihn nur als Beiklang in die schon stehende Harmonie des Gebietes einzufügen. Als Endziel ist das unentbehrlich. Als Einführung wäre es nur töricht. Dann würde nämlich die fremde Perspektive das ihr Eigene verlieren, käme überhaupt nicht zur Geltung. Vielmehr hat man einen Streifzug durch das Gebiet derart zu veranstalten, daß alles Gewohnte nunmehr in frischem, neuem Licht, in neuer Zusammenstellung, in den ungeahnten neuen Zusammenhängen vor die Augen tritt. Hilft doch Übertreibung beim Begreifen. Die Karikatur ist am schnellsten ihrem Sinn nach zu erfassen. Nun werden Sie sich daran erinnern, daß es sich nicht darum handelt, ob der neue Standpunkt den alten zu ersetzen, überflüssig zu machen, als verkehrt völlig auszustoßen hat. Fast durchweg, fast ohne Untersuchung, weiß der Erfahrene doch sicher und fest im voraus: das
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wird keinem neuen Standpunkt je gelingen, auf den jemals einer von uns Blinden stoßen könnte. Es handelt sich vielmehr allein darum, was der neue Standpunkt an bisher Benötigtem mit sich bringt. Was er dem Wissenszweig an in letzter Zeit übersehenem Stoff nunmehr zu liefern hat!. Vielleicht gar nichts. Dann müssen aber seine Vertreter ungewöhnlich dumm sein; denn ruhen etwa die alten Standpunkte in den Geisteswissenschaften, erst recht in den Sozialwissenschaften, etwa auf so fester Unterlage, daß jeder neue Standpunkt als im voraus verdächtig zu beanstanden wäre? Vielleicht hat vielmehr die ungewohnte Einsicht viel zu bieten. Fast sicher nicht so viel, wie ihre Vertreter lauthals verkünden. Fast sicher weit mehr, als das Trommelfeuer oder das völlige Schweigen - der Vertreter der jeweiligen Orthodoxie zugestehen möchte. Was heißt eigentlich für eine Seinswissenschaft das Rechtsleben? Welcher Teil des Gesamtstoffes stellt sich für diese neuere naturwissenschaftliche Betrachtungsweise als Zentrum, als Brennpunkt, als Kern des Rechtsstoffes dar? Jedenfalls nicht die Normen, die in Geltung stehen, die positiven Rechtssätze, auch nicht die auf diesen fußende Systematik. Wenn Sie nun solche Rechtssätze und deren dogmatische Bearbeitung durchaus als das "Recht" ansehen wollen, wenn für Sie die Rechtswissenschaft eine Normenwissenschaft ist, eine Soll-Wissenschaft, und lediglich eine solche, dann will ich mit Ihnen nicht über das Wort streiten. Ich lasse dann Ihre Begriffsbestimmung gelten. Ich weise nur darauf hin, daß das Recht in diesem Sinne nur in zweiter Linie zum Beobachtungsgegenstand einer Seinswissenschaft werden kann und auch dann nur unter einem völlig anderen Gesichtspunkt. Erst recht können nicht solche Normen als Zentralstoff der Beobachtung in Betracht kommen, die nicht positiv gelten, das heißt naturrechtsartige, als philosophisch "richtig" aufgestellte Normen. Wenn ich also am Recht vorbeigehe, wie es die Positivisten verstehen, und auch am Recht, wie es die Naturrechtier verstehen, muß ich dann zum Rechtsbegriff der historischen Schule schreiten? Geht es dann etwa um die Sitten des Volkes, zumal solche Sitten, die vom Volksgeist als richtig oder zwingend empfunden werden? Zwar rückt man hiermit wohl unserem Beobachtungsgegenstand schon beträchtlich näher. Doch füllen die Sitten des Volkes den ganzen Raum der gesellschaftlichen Ordnung aus. Wer Rechtssoziologie von der Soziologie, Rechtsleben vom Leben scheiden möchte, der muß irgendeine Differenzierung vornehmen. Sitte ist zudem ein Mischbegriff. Ein Bestandteil ist das tatsächlich vorherr1 Weswegen es auch nicht von unmittelbarem Belang ist, daß der "neue" Standpunkt bei den alten Griechen, den mittelalterlichen Scholastikern oder den Chinesen schon vor der Mingzeit in aller Schärfe bereits bekannt gewesen sein mag. Wenn er in letzter Zeit zu stark unberücksichtigt blieb, ist er für meine Zwecke "neu".
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schende Handlungsmuster; ein anderer ist die tatsächlich herrschende Wertung dieses Handlungsmusters als gut, richtig, vielleicht sogar unentbehrlich. Wenn nur das eine ohne das andere vorkommt, so kann dieses Phänomen nicht mehr als Sitte bezeichnet werden. Ob es jedoch als Recht, oder genauer: als Zentralgegenstand der Rechtssoziologie anzusprechen ist, bleibt noch zu untersuchen. Hier weiche ich auch von den Ansichten Ehrlichs und zum Teil auch von denen Max Webers über die brauchbarste Begrüfsbildung für die Zwecke der Rechtssoziologie ab. Für Ehrlich war das Zentrum das, was er "lebendes Recht" nannte. Im wesentlichen stimmt dieser Begriff mit dem Rechtsbegriff der historischen Schule überein: Jene Ordnung in der Gesellschaft, die aus tatsächlich vorherrschenden Handlungsmustern besteht, und zwar aus solchen, die als richtig und angebracht empfunden werden. Diesen gegenüber - so meinte er - sei der Rechtssatz des Staates eine Teilerscheinung, etwas zum Teil Fremdes, zum Teil Störendes, jedenfalls soweit er vom "lebenden Recht" abweiche, etwas entweder Gefährliches, Irreführendes oder Nutzloses. Max Weber hingegen, der sich mit der gesamten Soziologie befaßt, dem das Recht also nur als Sondersystem in der Gesellschaft erscheint, lenkt seine Hauptaufmerksamkeit auf den "Rechtsstab" . "Eine Ordnung soll heißen ... Recht, wenn sie äußerlich garantiert ist durch die Chance (physischen oder psychischen) Zwanges, durch ein auf Erzielung der Innehaltung oder Ahndung der Verletzung gerichtetes Handeln eines eigens darauf eingestellten Stabes von Menschen" (Wirtschaft und Gesellschaft 1,17). Mit anderen Worten ist das Recht für Max Weber eines der Ordnungssysteme der Gesellschaft: "Eine Ordnung soll heißen Recht ... ". Hier klingt noch seine Ausbildung als systematischer Jurist nach. Demgegenüber ist für Ehrlich "das Recht" die grundlegende Ordnung. Auch ich habe nichts gegen die Ansicht einzuwenden, daß, wo Menschen in bestimmter Weise handeln, eine "Ordnung" aus diesem Handeln entsteht und daß ein großer Teil des dann folgenden HandeIns auf diese Ordnung zurückzuführen ist. Gleichwohl finde ich es sprachlich viel bequemer, das Tun des eigens zur Behandlung von Ordnungsverletzungen eingesetzten Stabes zum Zentralbegriff zu machen und die aus diesem Tun fließende Ordnung erst in zweiter Linie zu betrachten. Dem Tun kann ich sofort beikommen. Die Ordnung ist so verzwickt, so umfangreich, daß es bequemer ist, sie erst später als Ganzes in Angriff zu nehmen. Ich stimme auch mit Max Weber völlig darin überein, daß er Handeln und nicht Normen in den Vordergrund rückt; während Ehrlich beides in seinen "Regeln des Handelns" zusammenwirft und sie bald als durchgreifende Regelmäßigkeiten in der Handlungsweise, bald als Normen für das Handeln, bald als beides zusammen auftreten läßt.
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Schließlich stimme ich mit Max Weber auch darin überein, daß er im Gegensatz zu Ehrlich und zur historischen Schule das Handeln von einem eigens dazu eingesetzten Stabe von Menschen aus dem Handeln der ganzen Gesellschaft aussondert und als Kern der "Rechtssoziologie" betrachtet. Dabei muß man jedoch sehen, daß er in derselben methodologischen Abhandlung (a.a.O., S. 1) "Handeln" merkwürdig und unzweckmäßig eng definiert, nämlich als "ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres oder inneres Tun, Unterlassen oder Dulden), wenn
und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden" (meine Sperrung). Zum Glück läßt er im folgenden
diese seine Einschränkung meist unbeachtet!. Für mich ist sie teils störend vieldeutig, teils zwecklos. Ich schließe mich also hier der Arbeitsweise, nicht der methodischen Ausführung des Meisters an 3 •
Obwohl Max Webers Rechtsdefinition die garantierte Ordnung umfaßt, fällt doch an ihr auf, daß in ihr die Neugestaltung der Ordnung anscheinend fehlt. Solche Neugestaltung der Ordnung behandelt er vielmehr hauptsächlich unter dem Begriff "Herrschaft". Begrifflich ist nun zwar die Neuregelung von der Aufrechterhaltung der Ordnung sorgsam zu unterscheiden. Praktisch indessen ist die Trennung auf weiten Gebieten kaum möglich; und praktisch fließen Versuche, die Ordnung aufrechtzuerhalten, derart aus Neuregelung, Neuregelung wiederum derart aus Versuchen, die Ordnung aufrechtzuerhalten, daß es für einen Rechtssoziologen äußerst unzweckmäßig erscheint, nicht einen Teil von Max Webers "Herrschaft" mit zum Gegenstand der Rechtsbetrachtung zu machen. Schließlich hat Max Weber seinen Rechtsbegriff mit großer Sorgfalt so definiert, daß er die Aufrechterhaltung der Ordnung innerhalb einer Familie von vier Menschen, innerhalb einer Schulklasse, innerhalb einer Gewerkschaft ebenso erfaßt wie die Aufrechterhaltung von seiten des modernen Staates. Auch hier möchte ich keineswegs die Wesensähnlichkeit dieser Ordnungsphänomene verleugnen; im Gegenteil. 2 Vgl. Freyer, Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft, S. 147: "Aber bereits A. Walther hat ... mit vollem Recht darauf aufmerksam gemacht ... , daß sich M. Weber mit der Sicherheit seines wissenschaftlichen Instinkts dieser Methodenlehre, zu der er sich bekannte und mit der er arbeitete, überall dort zu entziehen gewußt hat, wo sie ihn einengte." Für die Seinswissenschaft des Rechtslebens kann man sagen: überall dort, wo jene Methodenlehre die Einsicht in die Tatbefunde gefährdet hätte; was soviel heißt wie: ungefähr überall. 3 Denn die Arbeitsweise galt dem Stoffe; die Methodenlehre galt hingegen nur seinem persönlichen Bedürfnis, "die Soziologie" als einen wissenschaftstheoretisch anständigen Wissenszweig darzutun. Und mir liegt am Stoffe, nicht an wissenschaftstheoretischem Anstand. Daß brauchbarer Stoff erst theoretischen Gehrock und Zylinder anzuziehen habe, bevor man ihn grüßen darf, will mir nicht einleuchten. Die Seinswissenschaften sind doch kein Ständestaat; ich kenne auch bei ihnen kein Bodeneigentum.
Der Beobachtungsstoff der Rechtssoziologie: das "Trecht"
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Wer es aber nicht mit allen Völkern in allen Zeiten, sondern allein mit dem heutigen Rechtswesen zu tun hat, tut doch besser, seinen Begriff auf dieses zuzuschneiden und die teilweise wesensähnlichen, teilweise jedoch wesensverschiedenen Erscheinungen innerhalb der Teilgruppen zuvörderst auszuschließen, wenn auch sowohl zum Vergleich als auch zur Ergänzung fortwährend heranzuziehen. Eigentlich heißt dies, keine Veränderung in der Weberschen Definition vorzunehmen, sondern nur, die Definition auf einen konkreten Fall so anzuwenden, daß der vorläufig einzige in Frage kommende Stab von Menschen der vom Staate eingesetzte Stab wird und die in Frage kommende Gruppe von Laien das Staatsvolk bildet. Kaum hat man diese Konkretisierung vorgenommen, so wird die Schärfe der Weberschen Einsicht klarer als zuvor. Er hat nicht geschrieben: "Wenn die Innehaltung der Ordnung seitens eines Rechtsstabes erzwungen wird." Er hat geschrieben: "Wenn eine Chance besteht", daß der Rechtsstab dahingehenden Zwang ausüben wird! Und trotzdem möchte ich mir seinen Ausgangspunkt nicht ganz zu eigen machen. Viele Tätigkeiten des Rechtsstabes sind gerade darauf gerichtet, ausfindig zu machen und amtlich zu verkünden, was denn eigentlich die Ordnung ist. Nur eine juristische Fiktion stellt es dar, wenn man im Falle des wirklichen Zweifels das Ergebnis als eine Verkündung der schon bestehenden Ordnung dartut4 • Ein überaus großer Teil der Tätigkeit des Rechtsstabes ist auch darauf gerichtet, zu erforschen, was eigentlich geschehen ist und ob überhaupt eine Ordnungsübertretung vorliegt. Dieser Teil des HandeIns ist nicht weniger wichtig als die Aufrechterhaltung der Ordnung im Falle der offensichtlichen Verletzung. Wohl könnte man solche Tätigkeiten in Max Webers Definition unterbringen. Doch würde sich dadurch der Schwerpunkt deutlich verschieben. Aufrechterhaltung der Ordnung erscheint bei ihm als eigentliches Zentrum. Erforschung dessen, was geschehen ist, und Untersuchung dessen, was die Ordnung eigentlich erheischt, erscheinen dann entweder nur als Vorbedingungen oder nur als Nebenfächer. Meine Wahl hingegen unter den drei Aufgaben würde anders ausfallen. Für mich liegt das Zentrum vielmehr beim Streitfall. Und weil die meisten Streitfälle auf nicht-rechtlichem Wege zur Regelung kommen, so wird mein Kerngegenstand der Streitfall, an dem sich andere Regelungsmittel vergeblich erschöpfen. Die Erledigung dieses Streitfalles, nicht die Aufrechterhaltung der Ordnung im Falle ihrer Verletzung, erscheint dann als Zentralzweck des in Frage kommenden Handelns des eigens dazu eingesetzten Stabes von Menschen. Hinzukommt - vor allem im modernen Staat - als gleichberechtigter Beobachtungsgegenstand die Anwendung von direkten oder indirekten Druckmitteln , Doch siehe das, was unten Kap. V über Einstellung ausgeführt wird. Ist die Einstellung wirklich eindeutig, so liegt keine Fiktion vor, sondern nur ein Zum-Ausdruck-bringen wirklich bestehender Tendenzen.
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seitens dieses eigens dazu eingesetzten Stabes, um die Leute dahin zu bringen, daß sie dieses tun, jenes lassen, oder das, was sie tun, in vorgeschriebener Weise tun - sagen wir kürzer: der Versuch des Stabes, die Handlungen des Volkes oder (in den meisten Fällen) der betreffenden Volksteile zu kanalisieren. Gegen eine solche Einschränkung auf die Erledigung von Streitfällen, auch gegen eine solche auf die Lenkungsversuche der Staatsbeamten, wendet sich Ehrlich aufs heftigste. Seine Einsicht ist, wie immer, genial: ungleich wichtiger als alles Beamtenhandeln bleibt doch die Ordnung in der Gesellschaft. Kein Mensch kann aber aus Ehrlichs Ausführungen darüber klar werden, was in dieser Ordnung "Recht", was Sitte, Sittlichkeit, guter Ton und dergleichen sein soll. Wiederum wollen wir nicht um Worte streiten. Nicht Ehrlichs "Recht" - welche Grenzen dieses auch haben mag -, sondern seine "Entscheidungsnormen", auch sein "staatliches Recht", besonders aber die in solchen "Normen" nur zum Teil angedeuteten Handlungsweisen der Staatsbeamten wollen wir hier als Kern betrachten. Dabei wollen wir aber beileibe seine gesunde Einsicht nicht vergessen, daß solche Staatstätigkeiten nur in ihrem Zusammenhang, in ihrem Zusammenwirken mit dem Volkswesen überhaupt Bedeutung haben. Immer wieder komme ich in Versuchung, diese Stabs-Handlungen als "Recht" anzusprechen. Immer wieder muß ich das vermeiden, wegen der eingebürgerten Bedeutung von "Recht" als eines Normensystems. Von "Rechtshandlungen" kann ich aus demselben Grunde auch nicht sprechen. Rechtshandlungen wären doch im gleichen Wortgebrauch Handlungen, die sich auf das Normensystem bezögen. Die Handlungen aber, die ich ins Auge fassen will, erzeugen Rechtsnormen ebenso oft, wie sie auf Rechtsnormen zurückzuführen sind. Welche Erscheinung in einem gegebenen Fall vorliegt, will ich doch nicht im Ausdruck schon präjudizieren. Ich kann mir nicht helfen, ich muß ein Wort neu schöpfen. Ich muß ein Wort haben, das Sie deutlich an Recht erinnert. Ich muß ein Wort haben, das sich jedoch deutlich von Recht unterscheidet. Ich muß ein Wort haben, das an äußeres Tun, an Betragen erinnert. Endlich muß es ein bündiges Wort sein, das sich zur Not zusammensetzen läßt. Nun also: Trecht - das Tat-recht; das erstens auf Streitfälle und zweitens auf Kanalisierung von Laienhandlungen bezogene Tun und Betragen des staatlichen Rechtsstabes. Dieses "Trecht" nun liegt im Zentrum aller rechtssoziologischer Beobachtung. Handlungen, nicht gemeinter Sinn; Handlungen, nicht Rechtssätze; Handlungen, nicht philosophisch begründete Richtigkeit. Gemeinter Sinn, Rechtssätze, Normenbegriffe, Ausführungen des Gerichts, Ideale treten zwar auf. Sie werden nicht ausgeschieden. Sie treten aber nur in zweiter Linie auf. Sie sind nur so zu beobachten und nur insofern zu beobachten, als sie einen nachweisbaren Einfluß auf das Betra-
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gen des Rechtsstabes haben oder haben können. Als gute Skeptiker haben wir nichts in dieser Hinsicht vorauszusetzen. Auch in anderer Richtung greift das Trecht weiter, nämlich auf die Handlungen der Streitparteien und der Advokaten, die sie vertreten. Wie auch solche Handlungen ihrerseits auf das Trecht übergreifen. Oder aber das Trecht greift hinaus in den Bereich des beratenden Anwalts. Insoweit, wie er sich tatsächlich orientiert - sei es am Trecht, das heißt an den voraussehbaren Handlungen des Rechtsstabes, sei es am Recht, an den geltenden Normen darüber, wie der Rechtsstab zu trechten hat. Steht er nämlich dem zentralen Gegenstand einer Seinswissenschaft vom Recht sehr nahe. Nur um einen Schritt weiter entfernt steht der Klient, welcher sein Handeln dem Rate des Anwalts anpaßt. Wieder um einige Schritte entfernt stehen die Laien z. B., die diese Handlungsweise des Klienten gut finden und nachahmen. Auch die Bräuche der Gesellschaft stehen - von der anderen Seite gesehen - dem Trecht äußerst nahe, wenn z. B. Geschäftsbrauch als Muster rechtgemäßen Handeins nach Treu und Glauben tatsächlich auf eine gerichtliche Entscheidung einwirkt. Zwei Dinge werden Sie in diesem Zusammenhang schon bemerkt haben. Erstens ist die Seinswissenschaft des Rechtslebens für mich keine Geisteswissenschaft, sondern eine Gesellschaftswissenschaft. Das objektiv zu Beobachtende steht im Zentrum: Handeln, Handeln von Menschen. Gemeinter Sinn, Werteinstellungen, Normen und dergleichen kommen fast allein als beobachtungsmäßig festgestellte herrschende oder tatsächlich vorhandene Geisteszustände von vorgefundenen lebenden Menschen in Betracht, die eben deswegen, weil sie Geisteszustände von lebenden Menschen sind, einen Einfluß auf Handeln entweder haben oder haben können. Was sich, ohne daß man zu solchen nicht beobachtbaren Phänomenen greift, erklären läßt, ist äann auch ohne diese zu erklären. Viel wird es allerdings nicht sein. Immerhin ist viel gewonnen, wenn es nur etwas ist. Das zweite ist, daß es offenbar für mich nur ein Zentrum, einen Pol für jede Sozialwissenschaft gibt. Ein Punkt oder ein Gebiet, auf das sich alles andere zu richten hat, mit dem alles in bezug zu bringen ist, von dem aus Zweck und Sinn der Untersuchung sich bestimmen. Was aber mit diesem Pol in bezug zu bringen ist, hat keine Grenzen. Alles, was in der jeweiligen Untersuchung den Zentralgegenstand, seine Auswirkungen oder die Faktoren beleuchtet, die auf ihn einwirken, gehört allein deswegen in jener Untersuchung zum richtigen, besonderen Stoff jenes Wissensgebietes. Ich muß dies betonen; denn sonst kommen Sie fast sicher auf den Gedanken, ich würde etwa die Normen oder die Gesittung oder was Ihnen sonst noch als Teil des "Rechts" erscheint, weil 4 Llewellyn
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ich diesen den Kerncharakter abspreche, deswegen aus der Rechtssoziologie überhaupt ausschließen. Keineswegs. Ausschließen, wiederhole ich, will ich nichts. Als Eintrittskarte hat aber alles und jedes seinen Bezug auf das Trecht nachzuweisen - und vorzuweisen.
Drittes Kapitel
Rechtssatz und Beständigkeit beim Richten Wir sahen vorhin, daß das Hinzutreten eines zunächst fremden Ausgangspunktes für eine Sozialwissenschaft immer nützlich sein kann und zwar erst recht, wenn dieser auf neuen Sachbeobachtungen fußt. Im Mittelpunkt der Beobachtung stenen nun für eine Seinswissenschaft vorn Rechtsstoff weder die positiven Rechtssätze, noch ideelle Rechtsnormen und auch nicht die Lebenssitten, die als recht empfunden werden. Im Mittelpunkt steht vielmehr das Handeln von Menschen, und zwar in erster Linie zwist-gerichtetes Handeln, und hier wiederum nur das Handeln seitens der berufsmäßig als Spezialisten anerkannten Leute; in zweiter Linie das Handeln des Rechtsstabes insoweit, als es das Lenken oder Leiten von anderer Leute Handlungen zum Ziele hat. Erstens also Streittrecht; zweitens Leittrecht! Die Wahl dieses Betrachtungsgegenstandes setzt natürlich voraus, daß man sich mit der Beobachtung eines modernen Staates befaßt, wo bereits ein Juristenstand, ein gesondertes Juristenwesen besteht. Von diesem Zentrum aus kann man nun den Beobachtungsstoff nach jeder Richtung hin beliebig erweitern; nur müssen Forschung, Fragestellung, Sachbeobachtung, Beurteilung stets an diesem Zentrum, das heißt arn Handeln des "eigens dazu eingesetzten Stabes" orientiert bleiben, müssen also entweder Ursachen oder Wirkungen dieses Handeins in irgendeiner Weise beleuchten. Die positiven Rechtssätze zum Beispiel sind insofern von Interesse, und nur insofern, wie ein jeder von ihnen seinen nachweisbaren Einfluß auf derartiges Handeln ausübt oder nachweisbar in solchem Handeln seinen Ursprung hatte. Das Verhalten irgendeiner Gruppe des Laienpublikums ist wiederum insoweit von Interesse, und nur insoweit, als es nachweisbar mittelbar oder unmittelbar durch das Trecht (das Handeln des Stabes) beeinflußt wird oder auf dieses selbst einwirkt. Sie werden indessen bemerkt haben, daß ich in beiden Teilen meines Beobachtungszentrums das Handeln von befugten Spezialisten zum Wesensmerkmal erhoben habe, und zwar in dem einen Teil einen Streitfall, auf den sich das Handeln beziehen muß. Es wird ihnen aufgefallen sein, daß bei mir die übliche Kennzeichnung dieses Handeins als Rechtspflege völlig fehlt. Denn üblicherweise wird das Handeln des Rechtsstabes nur dann als Rechtshandeln angesehen, wenn man es
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entweder als Anwendung einer Soll-Norm betrachtet oder zumindest als Handeln, das auf eine Soll-Norm bezogen ist, oder - von einer anderen Seite her - wenn man eine Regelmäßigkeit im Handeln des Stabes festzustellen glaubt (Willkür ist kein Recht!), oder schließlich, wenn man Normbezogenheit und faktische Beständigkeit zusammenzieht und von "Regeln des Handeins" spricht. In der Tat findet sich im modernen Staat dieser von mir gewählte zentrale Beobachtungsstoff selten genug ohne Bezugnahme auf eine solche Sollnorm, gar auf einen Sollsatz vor; in der Tat sind bei ihm auch Regelmäßigkeiten höheren oder niederen Grades fast durchwegs aufzudecken; in der Tat mutet das Bild eines unregelmäßigen oder nicht normbezogenen Trechts fremd und nicht-rechthaft an. Handelt der Rechtsstab jedoch mal unregelmäßig, mal ohne Bezug auf eine Sollnorm, handelt er zuweilen mit solcher Bezugnahme, jedoch in einer Weise, die sich in facto aus den geltenden Sollnormen nicht ergibt, handelt er von Zeit zu Zeit gar willkürlich - so sind solche Vorkommnisse von höchster Wichtigkeit für eine Seinswissenschaft des Rechtslebens. Am Grenzfall erkennt man oft - nicht immer! - das Wesen des Ganzen. Auch soll die Begriffsbildung den Zweck haben, einen solchen lehrreichen Grenzfall grell zu beleuchten. Allerdings muß ich dann sofort zugeben, daß es von meiner Seite aus wieder willkürlich ist, gerade auf dem Handeln befugter Spezialisten oder auf dem Streitfall dort zu insistieren, wo ich Normenbezug oder Regelmäßigkeit nur als zumeist gegeben annehme. Denn dieses " Handeln " kann sich bis zu einem dem Spezialisten auch ohne hinreichenden Grund zugemuteten innerlichen Verhalten abschwächen, an dem ein Jurist oder ein Laie gelegentlich sein eigenes Verhalten orientiert. Und "Streitfall" kann zu einem zwar denkbaren, jedoch höchst unwahrscheinlichen künftigen Konflikt erblassen, der ohnehin vor Ablauf von drei Jahrzehnten nicht ausbrechen kann. "Befugter Spezialist" kann gar im Notfall auch der selbstlegitimierte Führer eines Aufruhrs sein, und zwar zu einer Zeit, wo noch kein Mensch weiß, ob dieser Aufruhr sich zum Aufstand, zur Revolution, zur Gründung eines neuen Staates entwickeln wird. Der "Befugte" ist ferner im Urrecht - und gelegentlich auch heute noch - der Gekränkte selbst, sofern er nach vorgesehenen Handlungsmustern (und daher insoweit als Organ der Gesamtheit) zur Selbsthilfe greift oder ein Eingreifen der Behörde in die Wege leitet. In den §§ 559 - 563 BGB klingt zum Beispiel unverkennbar Urrecht nach. Wenn auch die wissenschaftliche Systematik das ursprüngliche Selbsthilfeverfahren zu einem bestehenden materiellen Recht hat umgestalten wollen, so bildet doch dieses Pfandrecht des Vermieters - soziologisch betrachtet - immer noch in vielem eine Durchgangsstufe zwischen einem eigentlichen Pfandrecht und dem Rechte zu
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pfänden, als was es bis heute im anglo-amerikanischen Recht geblieben
ist. Auch beim befugten Spezialisten erkennt man mancherlei am Grenzfall, der das Ganze beleuchtet; auch hier müßte man die Begriffsbildung derart vornehmen, daß sich die Aufmerksamkeit auf den Grenzfall richtet. Die Willkürlichkeit meines Verfahrens gestehe ich also gerne ein - bemerke nur, daß eine gegenteilige Begriffsbildung, die nicht im gleichen Maße willkürlich wäre, menschenunmöglich ist. Nicht darum geht es, Begriffe zu konstruieren, welche dem Wesen der Dinge entsprechen. Es besteht da draußen eben kein eindeutig erkennbares Wesen, daß derartiger Begriffsbildung einen Halt bieten könnte. Wenn die Annahme einer derartigen festen Beschaffenheit der Dinge auch "logische" Vorbedingung zu jedweder Erkenntnisarbeit sein muß, so ist jene "Beschaffenheit" doch nicht als "das Wesen", sondern allein als "das gerade von mir postulierte Wesen" aufzufassen. Nein, wie Max Weber so schön erkennt: Begriffsbildung ist eine Sache der Zweckmäßigkeit allein. Zweckmäßig aber ist es gerade heute, im Rechtsstoff für einen Moment von Worten loszukommen, um Handeln zu betrachten. Nicht weil Worte ohne Belang wären, sondern weil Handeln bislang vernachlässigt wurde. Zweckmäßig ist es zuvörderst - weil zu ausschließlich von Normen die Rede gewesen ist -, etwas anderes als Normen zum Richtpol zu nehmen. Zweckmäßig ist es - weil zu verschwommen und allgemein von "Recht", von "Volk" und von "Rechtsbewußtsein" philosophiert worden ist -, einmal erkennbare Individuen zum Beobachtungsgegenstand zu machen und die Gruppe oder Kategorie der Rechtsbefugten zu diesem Zwecke auszusondern. Zweckmäßig ist es schließlich, in einer Zeit der überbetonung der Gesetzesparagraphen die Aufmerksamkeit wieder auf den Streitfall zu lenken - zumal dieser vor jedem Rechtssatz entstand, die meisten Rechtssätze erzeugte und sie alle überdauert!. Der Streitfall bleibt, auch wenn der Gesetzesparagraph verschwindet. Und wenn Sie meiner Lehre soweit gefolgt sind, erwidern Sie sofort als guter Skeptiker: wieso denn? Mit der Behauptung ist nichts erwiesen. Untersuchen wir also zunächst von diesem Standpunkt aus die Frage der Regelmäßigkeiten im Trecht, im Betragen der Rechtsmannschaft, und das Verhältnis der Rechtssätze zu solchen Regelmäßigkeiten. Dabei 1 Es kann sein (und davor sei gewarnt!), daß meine starke Betonung des Streitfalls als Zentrum nur auf Vorurteile zurückgeht, die in meiner eigenen Ausbildung im Spruchrecht wurzeln und in der in Amerika noch herrschenden Einstellung, nach welcher der Richter den Mittelpunkt alles Rechtlichen bildet. Ich glaube aber nicht, daß dem so ist. Und zwar deswegen, weil ich seit Jahren gegen diese Überbetonung der Bedeutung des Richters wirke, die überaus große Rolle von Gesetzgebung, Verwaltung und gesellschaftlichem Treiben mit immer stärkerem Nachdruck verfechte - gleichzeitig aber (ja als Teil desselben Werdeganges, der sich im Grunde gegen die übertrieben hohe Einschätzung des Rechtssatzes richtet) zu immer stärkerer Überzeugung von der zentralen Bedeutsamkeit des Streitfalls gelangt bin.
über eine Erfahrungswissenschaft des Rechtslebens haben wir nicht, wie es in der herrschenden Rechtslehre oft geschieht, einfach eine hochgradige Regelmäßigkeit im streitbezogenen Trecht anzunehmen. Noch viel weniger dürfen wir diejenige Regelmäßigkeit, die festzustellen ist, fröhlich und ohne weiteres den Rechtssätzen gutschreiben. Gibt es also überhaupt eine Regelmäßigkeit im Trecht? Ohne Zweifel: ja. Der unfehlbare Test für das Vorhandensein einer Regelmäßigkeit liegt in der Frage: kann ein Mann, der die Zustände kennt, den Ausgang eines bevorstehenden Streitfalles besser berechnen als ein Außenseiter von im übrigen gleicher Begabung? Die Antwort kann nur lauten: Ein guter Jurist kann hier besser prophezeien als der gleichbegabte Laie. Von schlechten Juristen sehe ich lieber ab; sie tragen im Augenblick auch nichts zur Sache bei. Soweit, so gut. Wollen Sie aber dem guten Juristen ein hundertprozentig genaues Prophezeien zusprechen? Wenn das berechtigt wäre: wie könnten dann zwei gute Juristen verschiedener Meinung sein? Wie könnte eine Revision je gelingen, wenn nur das untergeordnete Gericht mit tüchtigen Richtern besetzt war? Somit gibt es also unzweideutig auch eine Unregelmäßigkeit im Trecht. Ich habe von schlechten Juristen abgesehen. Ich sehe auch für den Augenblick von umstrittenen Sachverhalten ab. Ich fasse hier allein die Hochburg der vermeintlichen Rechtssicherheit ins Auge: die Behandlung von "reinen" Rechtsfragen. Für mich ist die entscheidende Frage aber nicht: wie wird die umstrittene Rechtsnorm formuliert? Auch nicht, ob klar ist, auf welchen Rechtssatz das Gericht sein Urteil stützen wird. Für mich ist vielmehr der tatsächliche Ausgang des Streites entscheidend. Siegt der Kläger oder der Beklagte? Das soll prophezeit werden. Das ist für die streitenden Parteien das W esentliche. Nun prophezeie mir einer aber das! Der kluge Anwalt wagt sich doch nur ungefähr soweit: "Wenn nichts schiefgeht und sich nichts Unerwartetes ereignet, dann glaube ich, daß Ihre Aussichten recht gut sind. Natürlich kann ich nichts garantieren. Sie wissen ja, wie es bei den Gerichten heutzutage ist" - als wenn es je anders gewesen wäre, als wenn es je in diesem Punkte anders werden könnte. Teilweise also regelmäßig, teilweise eben nicht. Viel weniger jedenfalls regelmäßig, als uns die Lehrbücher glauben machen. Die Rechtspraxis bietet hier der Seinswissenschaft den Stoff. Wie weit Regelmäßigkeit, wie weit hingegen Unregelmäßigkeit besteht, das wissen wir nicht. Das kann auch kein Mensch im allgemeinen untersuchen. Die Untersuchung hat vielmehr Rechtsgebiet für Rechtsgebiet, Untergebiet für Untergebiet, ja Rechtssatz für Rechtssatz und Sachlage für Sachlage innerhalb desselben Rechtssatzes einzeln zu erfolgen. Worauf ist nun aber diese dürftige Berechenbarkeit des Trechts zurückzuführen? Zunächst wohl auf den Gewohnheitstrieb, der allen
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Menschen innewohnt, auch den Juristen. Wenn auch die Dogmatik ihren homo juridicus nach Muster des homo oeconomicus aufstellt, der mit dem homo sapiens nicht sehr viel gemeinsam hat - in der Wirklichkeit bleiben doch auch Juristen (zum großen Teil) Menschen. Was nun ein Mensch je gemacht hat, das macht er leicht so ähnlich wieder. Erst recht, wenn es ein schweres Machen war, lehnt sich das Gemüt dagegen auf, das Ganze noch einmal von vorn zu unternehmen. Oft wiederholt man, ohne eigentlich dessen bewußt zu sein, was man tut, oder gar dessen, daß man wiederholt. So stecken sie zum Beispiel immer denselben Arm zuerst in den Mantel. Etwa aus Zweckmäßigkeitserwägungen? Etwa weil ein Rechtssatz oder eine gesellschaftliche Norm das gebietet? Meinen Sie, daß sich die Art, wie Sie einen Rechtsfall anpacken, wesentlich von der Art unterscheidet, wie Sie den Mantel anziehen? Wenn der Rechtsfall Ihnen keine Schwierigkeiten macht, erledigen Sie ihn gewohnheitsmäßig ebenso, wie Sie den Mantelfall erledigen. Sie übernehmen entweder die gewohnheitsmäßigen Kunstgriffe, die Sie dann von sich aus zur Problemlösung führen, oder wenn das zunächst ein wenig schwerfällt - Sie nehmen bewußt das Ergebnis früherer Arbeit und erzielen es kurzerhand. Sie ziehen es vor, keine Distinktionen zu machen - weil das Arbeit machen würde. Qui bene distinguit, bene decernit ist auch e contrario zu deuten: rite decernere, non distinguere. Bevor Sie zur Neuuntersuchung schreiten, muß irgend etwas mit der Übernahme der alten Problemlösung nicht stimmen, muß irgendein Gefühl des Unwohlseins hervorgerufen werden, und zwar hinreichend stark, um die Reizschwelle zu überschreiten. Sonst - fertig. Und stimmt etwas nicht, so daß das frühere Ergebnis nicht mehr einfach zu übertragen ist, dann machen Sie es wie die Ratte im Versuchskasten der Psychologen: so gut Sie sich erinnern, machen Sie dieselben Bewegungen wieder, die einst zum Ziele führten - vielleicht stößt man auch so diesmal in den Ärmel! Geht auch das nicht, so setzen Sie sich wie bei einem Vexierspiel an die Arbeit drehen und wenden den Fall, probieren dies, probieren das - bis basta! die Lösung da ist. Dann sinnen Sie nach - wie ist das eigentlich passiert? Das Ergebnis dieses Nachsinnens heißt Urteilsbegründung. Es braucht nicht viel Erfahrung mit Vexierspiel, um einzusehen, wie zutreffend die Urteilsbegründung den eigentlichen Vorgang bei der Entscheidungsfindung wiedergibt. Aus solchem Herumprobieren samt dem Gewohnheitstrieb bilden sich bei jedem Praktiker Handlungsmuster, Handlungs- und Denkgebilde aus. Teilweise macht er es nur so und weiß nicht, wie, warum, noch gar daß er es so macht. Welchen Schuh ziehen Sie morgens zuerst an? In welches Hosenbein sind Sie zuerst gestiegen? Woher rührt Ihre Einstellung über Treu und Glauben? Teilweise macht es der Praktiker
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so und weiß das auch: so wird's gemacht, bringt er dem Lehrling bei, fragt aber selbst nicht mehr wieso, noch warum, noch wozu. "So wird's gemacht!" Und die jüngere Generation hört und schaut und lernt. Lernt die gegebenen Handgriffe und Denkbegriffe einfach als Stück der Umwelt kennen. Kommen "Erklärungen" dazu, so sind sie mythenhaft. Man lernt dabei auch, was ich immer wieder betonen möchte, so mancherlei, dessen Erlernung einem nie oder kaum bewußt wird: in welchem Tonfall redet man Gerichte an - so, mit dem Zeigefinger, hebt man die Spannung - so, mit der offenen Hand und überlegenem Lächeln, kann man sie senken. Meinen Sie nicht, daß auch im Denken, im Urteilen, im Werturteilfällen der Lehrling ebensolches seinem Meister ablauscht? Meinen Sie, daß es beim angehenden Richter anders steht als beim angehenden Advokaten? Meinen Sie, der Gesamteinfluß solcher Handwerks-Gegebenheiten, in die die junge Kraft sich einfach einfügt, wäre für die Beständigkeit im Trechtswesen ein geringerer? "Das reale Handeln", schreibt Max Weber, "verläuft in der großen Masse seiner Fälle in dumpfer Halbbewußtheit oder Unbewußtheit seines ,gemeinten Sinns'. Der Handelnde ,fühlt' ihn mehr unbestimmt, als daß er ihn wußte oder ,sich klar machte', handelt in der Mehrzahl der Fälle triebhaft oder gewohnheitsmäßig ... Wirklich effektiv, das heißt voll bewußt und klar, sinnhaftes Handeln ist in der Realität stets nur ein Grenzfall" (a.a.O., S. 10)2. Somit ist ohne Rechtssatz ein mächtiger Anteil der Trechtsberechenbarkeit gewonnen. Auch ohne Norm? Das ließe sich wohl schwieriger behaupten. "So wird's gemacht", schreibt sich wie die Feststellung einer Gegebenheit. Doch ist dieser Satz von Sollen durchdrungen; er strotzt von Sollen: "So hat man's auch zu machen." Das ganze BGB ist im Beschreibungsstil verfaßt, als wenn es nur über die festgestellten Tätigkeiten der Gerichte Bericht erstatten würde. Das rührt nicht daher, daß die deutsche Sprache die Zukunft mit dem Präsens anzugeben vermag. Das ist im Urgrund des Menschseins verankert. Was ist und sich wiederholt, wird erwartet. Hier hat man die Brücke von der Einzelgewohnheit zur gesellschaftlichen Gewohnheit. Das Eintreten des Nichterwarteten, das Nichteintreten des Erwarteten, stört. Es rührt die Gefühle auf, es empört. Weshalb das so ist, ist Sache des Psychologen; den Tatbestand kann auch der Jurist feststellen. Gegen solches Stören lehnt sich der Mensch auf. Das Erwartete wird triebhaft, ohne Wollen, zum Gesollten. Das Erwartete - das heißt das dem bestehenZ Eben deshalb ist die M. Webersche Begriffsbestimmung der Soziologie nach "gemeintem Sinn" nicht zweckmäßig. Ein Idealtypus ist wohl nützlich, um die Gliederung des Beobachtungsgegenstandes zu ermöglichen. Will er aber den Kernstoff selbst erfassen, so muß der Typus eben dem Kern des Stoffes entnommen werden. Schön auch T. C. Carters Formulierung: Mehr als bekannt ist die Sitte; sie wird empfunden.
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den Handlungsgefüge Entsprechende - soll werden. Daß es wird, ist "gut", " richtig", "sittlich", "gerecht". Daß es nicht wird, ist "schlecht", "unrichtig", "unsittlich", "ungerecht". Hier, auf einem mir dunklen Wege, tritt das ethische Moment dem faktischen an die Seite. Hier zeigt sich "die normative Kraft des Tatsächlichen" (Ehrlich). Ich rede natürlich von einem Entstehungsvorgang, nicht von einer philosophischen oder sozialpolitischen Rechtfertigung. Wird eine Handlungsweise oder eine Werteinstellung in der betreffenden Gruppe als gegeben wahrgenommen, ist dementsprechend außer in Sonderfällen - damit gleichzeitig die Vorstellung verbunden, daß diese Handlungsweise, diese Werteinstellung gesollt ist. Sie wird als Norm empfunden. Deswegen auch Ehrlichs Begriffsbildung "Regel des Handeins": ein Handeln, das zumeist geschieht, das jedenfalls .geschehen solL Trotzdem ist wohl zu bemerken, daß eine solche Norm weder bewußt zu werden braucht, noch (wenn sie bewußt wird) in Worte gefaßt sein muß. Ist sie nicht in Worte gekleidet, ja oft selbst wenn sie das ist, wirkt sie weit mehr durch das Gefühl als auf dem Wege von Denkprozessen. Sie bestimmt weit mehr das, was wir Gerechtigkeitsgefühl nennen, als das, was wir Rechtsnorm nennen. Und darin wieder, in solchen traditionsmäßigen, halb verschleierten Normen, liegt neben der nackten Gewohnheit (jedoch als ihr Kind und Erzeugnis) die zweite mächtige Ursache für die Beständigkeit im Trecht. Neben der nackten Gewohnheit, unabhängig von ihr und doch als ihr Erzeugnis: denn nichts dringt tiefer in das Wesen der Gesellschaft ein als die Erkenntnis, daß ein höheres Entwicklungsstadium, welches man gar als Wesensmerkmal einer Epoche ansehen kann, fast nie das frühere Entwicklungsstadium ersetzt. Das Kind tötet seinen Vater nicht, lebt unabhängig neben ihm, erzeugt eigene Kinder, kann sich mit des Vaters Enkeln zu gemeinsamer Arbeit zusammentun. Das Höhere oder Spätere kommt auch gesellschaftlich hinzu, schichtet sich über das Ältere, schichtet sich in verzwickter Verschlungenheit in das Ältere auch hinein. Ureinrichtungen überdauern im modernen Staat, helfen ihn gestalten. Gewohnheitstrieb, dumpfbewußtes, handwerksmäßig überliefertes Gerechtigkeitsgefühl, das die Gewohnheit widerspiegelt; auch jenes gleich dumpfe Gerechtigkeitsgefühl, das ebenfalls aus Gewohnheiten, zwar nicht aus technischen, wohl aber aus menschlichen, lebensnahen herrührt und den Juristen auch zum Menschen, zum Standesmenschen, zum Hamburger oder Mecklenburger oder Bayern macht; vor allem endlich auch eine gewerbsmäßige Technik, Rechtssachen zu handhaben, welche sowohl auf dem Gewohnheitstrieb als auch auf dem Gerechtigkeitsgefühl zu wesentlichen Teilen fußt: diese bleiben beim Richtenden noch unter und neben dem hinzugetretenen Rechtssatz mächtig. Wer das nicht glaubt, möge sich einen Laienschiedsrichter
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einmal bei der Arbeit anschauen, wenn ihm dieselbe Streitsache und dieselben Gesetzesparagraphen vorgeführt werden wie dem berufsmäßigen Techniker. Was anders will man unter "fachlicher Erfahrung" verstehen? Weshalb soll nicht jeder Fuchs, der nur das BGB beherrscht, zum Amte gleich befähigt sein wie der kundigste Richter? Weshalb ist denn die ganze "Inangriffnahme" bei einem Spruchrechtier so verschieden von der des Gesetzbuchrechtiers, daß sie sich bei gemeinsamer Beratung über dasselbe Geschäft und dieselben Rechtssätze in die Haare geraten3 ? Hinzu tritt von seiten des Laienpublikums und wiederum von seiten der Stabsmitglieder - in ihrer zweifachen Eigenschaft als Menschen und als Spezialisten - das, was wir die beiden Grundnormen des Rechts nennen können. Es gibt kein Rechtsleben, in dem diese beiden nicht auftreten würden. Die erste dieser Grundnormen heißt: entscheide gerecht! Die zweite heißt: mache es beileibe, vor allen Dingen in Sachen des Rechtsstreits, wie du's in wesensgleichen Fällen früher gemacht hast! Soweit ich sehen kann, ist weder die eine noch die andere Grundnorm in Ihrem deutschen Rechtswesen ein Rechtssatz, obwohl bei uns die zweite schon als Rechtssatz gelten kann. Werden Sie aber zu leugnen wagen, daß diese beiden Grundnormen auch bei Ihnen gelten? Wichtig für unsere Betrachtung ist nun: erstens, daß eine ständige Befolgung einer dieser Normen, erst recht beider zusammen, schlechtweg unmöglich ist und nie vorkommt. Zweitens, daß sich die beiden Normen in den meisten schwierigeren Fällen widerstreiten. Die vom Publikum wie von Juristen aufgestellten Grundnormen fordern das Unerreichbare. Daß weder Publikum noch Juristen dieses einsehen, tut nichts zur Sache. Der Mensch fordert so vieles, was gar nicht möglich ist. Aus der Unmöglichkeit der Forderung ergibt sich hier aber ohne weiteres ein zweifaches Phänomen: einerseits ein Spielraum, ein Raum der zwar begrenzten, doch innerhalb der Grenzen freien Tätigkeit des Richtenden; andererseits die Aufstellung konkreterer Rech:tssätze - sei es durch die Richtenden, durch Weistum, sei es durch die Gelehrten, durch Weistumssammlungen und -bearbeitungen, sei es durch die jeweiligen Vertreter der Allgemeinheit (Priester, Volksding, König, Parlament) -, welche einen Ausgleich zwischen Gerechtigkeitsgefühl und Beim-alten-bleiben erzielen, gleichzeitig den Spielraum sowohl der Richtenden wie der Kritik an ihnen einengen wollen. Der Richtende verlangt, von der unerträglichen Verantwortungslast befreit zu werden. Das Publikum verlangt indessen Schutz vor 3 Die Erfahrung fast jedes deutschen oder amerikanischen Anwalts, der bei einer amerikanischen Emission deutscher Obligationen tätig war, genügt als Beleg - auch wenn die beiden denselben Klienten vertreten haben. "Der Kerl ist entweder ein Schafskopf oder verrücktl" Dann sieht man ihn aber an; er ist offensichtlich keines von beiden.
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Mißgriffen des Richtenden. Die zweite dieser Erscheinungen, das heißt das Zustandekommen von Rechtssätzen, fließt allerdings nicht nur aus der Unmöglichkeit, die Grundnormen zu erfüllen, und der daraus folgenden Unzufriedenheit mit dem Gang der Entscheidungen, sondern auch aus der Existenz der Grundnormen selbst. Wenn man das Gerechte oder das in der Vergangenheit Angewendete oder auch eine Angleichung zwischen beiden mit Worten festnageln kann, so hofft man, auf diese Weise über die Zukunft zu verfügen. Schließlich tritt etwas drittes in Erscheinung, welches sowohl den Grundnormen (und etwaigen bereits bestehenden Rechtssätzen) als auch der Unmöglichkeit von deren stetiger Befolgung zuzuschreiben ist: die technische Kunst, so mit dem Normenstoff umzugehen, daß jede Neuerung verborgen bleibt; so mit den vorgefundenen Präjudizien oder Gesetzesparagraphen zu hantieren, daß jede Entscheidung, und zwar auch jede Entscheidung, den Anschein bekommt, als sei sie durch diese autoritativen Belege erzwungen. Ich bitte zu bemerken, daß ich bei diesen Vorgängen keine eindeutig zweckrationalen Erwägungen der Beteiligten voraussetze. Ich rede von den sozialen Aufgaben, die zu erfüllen waren; von den tastenden Erfindungen, welche diese Aufgaben teilweise erfüllten; von der dumpf empfundenen Erleichterung, die solche Erfindungen begrüßte und bestätigte und dann zu einem bewußten Werkzeug (und zwar mit nur zum Zehntel bewußt verfolgtem Zweck) gestaltete. Sie werden sich ebenfalls erinnern, daß ich weder einen starken Einfluß der Rechtssätze auf den Richter ableugne noch das soziale Bedürfnis, diesen Einfluß zu erzielen. Zahl des Richterpersonals, Wechsel im Personal, die Anhäufung der geregelten und der zu regelnden Fragen, vor allem die unübersichtliche Fülle der Interessenkonflikte in der modernen Welt - das alles macht den Rechtssatz, das Rechtswort, das Wortrecht zu einem unentbehrlichen Werkzeug. Zwar war im Anfang nicht das Wort, sondern ein Handeln. Kommt aber das Wort, zeigt es seine wahre Macht. Soll es dann Wunder nehmen, daß jene Macht zunächst erkannt, dann als Allmacht angebetet wird? Sowohl unentbehrlich (also auch der rationalsten Überprüfung standhaltend) als auch bewußt ins Werk gesetzt, gewinnt der Rechtssatz gegenüber den nicht weniger unentbehrlichen, aber nur unbewußt oder dumpf bewußt arbeitenden Werkzeugen jenen trügerischen Glanz von Einzigartigkeit, von Selbstgenügsamkeit. Dieser Glanz wächst noch - gleich trügerisch - in dem Maße an, wie eine Neuregelung, bei der der Rechtssatz erst recht ins Auge sticht, wieder ihrerseits die Aufmerksamkeit der Juristen auf sich zu konzentrieren droht. Wohl ist ohne den Rechtssatz nicht auszukommen. Nur ist er nicht so anzusehen, als wenn sein Bestehen schon das Vorhandensein eines ihm genau entsprechenden Handelns der Trechtsleute verbürgte. Nur ist er nicht so anzusehen, als
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wenn sein Auftreten den einzigen Faktor darstellte, der Trechtsbeständigkeit verursacht. Interessant könnte sein, diesen Gedankengang mit den Max Weberschen Einteilungen der Arten des Handeins (aaO., S. 12) in Verbindung zu bringen. Das, was ich gegebenheitserzeugte Kunstgriffe nannte, entspricht besonders seinem traditionalen Handeln. Das, was ich als gegebene Werteinstellungen bezeichnete, liegt meist im Bereich seines wertrationalen Handeins, zum Teil aber im Bereich des affektuellen. Der Rechtssatz beginnt als wertrationales Erzeugnis (wobei der Wert als selbstgenügsam hingenommen, das Mittel zu seiner Erzielung aber rational ausgearbeitet wird). Der Rechtssatz nähert sich mit der allmählichen Befreiung von der Tradition immer mehr dem Weberschen zweckrationalen Handeln (wobei sich auch der Endzweck - allerdings nicht allein rational - zu verteidigen hat). Zu bemerken ist indessen, daß Rechtsetzung schon früh auch dort zweckrational sein kann, wo gewolltes Richten nach dem Rechtssatz noch im wesentlichen wertrational bleibt, indem man sich mit dem Rechtssatz als konkret gegebenem Wert einfach abfindet und nur das Verhalten bei dessen sogenannter Anwendung einigermaßen rational gestalten will. Wo nun der Inhalt des Rechtssatzes sich einigermaßen mit dem tatsächlichen Treiben der Richtenden deckt, ist es allerdings fast unmöglich, anhand konkreter Fälle eine Aufteilung der Einflußmomente vorzunehmen. Da kann man nur alle fast aprioristisch als "wichtig" bezeichnen, ohne das jeweilige Maß der Wichtigkeit auch nur annähernd einzuschätzen. Das ist besonders im europäischen Recht der Fall, wo die bei uns längst eingebürgerte Einrichtung des Sondervotums und oft gar der Sonderbegründung fehlt. Liegt eine solche Sonderbegründung vor, so hat man einen zweiten Standort für die wissenschaftliche Beobachtung. Beiden Richtern lag derselbe Tatbestand vor, vor beiden wurden dieselben Plädoyers gehalten, vor beiden wurde Bezug auf dieselben Rechtssätze genommen; dennoch sind sie verschiedener Meinung, dennoch schätzen sie den Einzelfall verschieden ein, konstruieren ihn verschieden, kommen zu verschiedenen Ergebnissen. Noch einleuchtender ist die Lage bei der Sonderbegründung eines Votums, welches trotzdem hinsichtlich des Ausgangs des Rechtsstreits mit dem der Mehrheit zusammenfällt. So findet man öfters bei den englischen Gerichten, daß drei oder gar gelegentlich fünf Richter sich trotz miteinander unverträglicher Argumentationsgänge doch am seI ben Ziel zusammenfinden. Wenn der Rechtssatz allein den Ausschlag gibt, ist ein solches Vorkommnis einfach undenkbar. Doch will ich nicht auf diesem Punkt bestehen. Sie könnten ihn weniger aus dem Wesen des Richtens im allgemeinen oder aus der Rolle des Rechtssatzes beim Richten, als aus den vermeintlichen diesbezüglichen Eigenarten des anglo-amerikanischen
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Spruchrechts erklären wollen. Man müßte schon das Geheimarchiv des Reichsgerichts der Öffentlichkeit zugänglich machen, man müßte schon zu einem stenographischen Bericht über die Vorgänge im Beratungszimmer gelangen, wollte man denselben Vorgang auch im deutschen Recht belegen. Zwar ließe sich manches schon damit erzielen, daß in Revisionsfällen, wo doch der Tatbestand als unantastbar feststehen soll, manches Beleuchtende aus einem Vergleich zwischen der Entscheidung des Oberlandesgerichts und der des Reichsgerichts herausgeholt würde - einerlei, ob die Revision bestätigt oder verworfen wird. Einem solchen Versuch aber steht die dogmatische Denkweise und das Autoritätsgefühl unangenehm - fast hätte ich gesagt: schädlich - im Wege. Ist nämlich die Reichsgerichtsentscheidung einmal verkündet, so kann ein Jurist die Entscheidung der untergeordneten Instanz fast nicht mehr sehen. Jedes Interesse für sie geht ihm ab. Sie gilt nicht mehr als Recht. Die höhere Autorität verwischt sozusagen den Spruch der ihr unterworfenen. Dabei weiß man sehr gut, daß die Richter der unteren Instanz oft ebenso tüchtig, ebenso gelehrt, also ebenso kundige Juristen sind. Was jedoch auf diesem Wege vielleicht nicht zu erkennen ist, jedenfalls ohne großen Zeitaufwand nicht zu beweisen wäre, das zeigt sich schnell und verhältnismäßig leicht, wenn man die Neuregelung durch den Rechtssatz unter die Lupe nimmt. Vom Leittrecht darf man hier auf Streittrecht schließen. Wenn die jeweils eingesetzte Obrigkeit eine Neuregelung amtlich verkündet, so heißt das an und für sich, daß eine Neuregelung verkündet worden ist. An und für sich· heißt es: neue Worte - weiter nichts. Ein Tischlein-deck-dich gibt es im Volksleben auf dem Wege der bewußten Normierung nicht. Vielmehr ist, wie Jahrreiß betont, jede solche amtliche Neuregelung ein Versuch, der entweder glücken, nur teilweise glücken oder ganz mißglücken kann 4 • Ich spreche nicht von der Weisheit oder der Angebrachtheit oder vom sozialpolitischen Wert der Neuregelung, auch nicht von der im amtlichen Sollsystem sofort erzielten Normänderung, sondern allein davon, ob die Normänderung überhaupt soziologisch zur Geltung kommt. Eine Norm gilt (soziologisch) nach Max Weber, wenn die Chance besteht, daß die Menschen auch ihr entsprechend handeln. Etwas genauer ge4 Sehr richtig führt Jahrreiß auch aus, daß ein wesentlicher Faktor in der Berechnung der Erfolgsaussicht die Fundierung der Obrigkeit im bestehenden Handlungs- und Einstellungskomplex unter den zu Lenkenden darstellt. Nicht weniger wichtig als Faktor ist die Angepaßtheit des Inhalts der Neuregelung an denselben Komplex. Wie später auszuführen ist (Kapitel V) ergeben sich aus dem Gesamtkomplex Einstellungen, die zum Teil auch die Reaktion auf vollkommen neue Reize in jeder Gruppe berechnen lassen. Die Rolle der Obrigkeitsfundierung sowie des Inhalts der Regelung zeigt sich wie immer schärfer, wenn man an die Kleingruppe denkt: "Für Dich würde ich durchs Feuer gehen!" Oder aber "Das mutest Du mir zu?!"
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faßt gilt sie insoweit, als eine solche Chance bei den betreffenden Menschen besteht. Und sofort haben wir, wenn wir solche Lebensgeltung untersuchen, den Rechtsstab vom Laienpublikum zu unterscheiden. Denn die N euregelung richtet sich ungeachtet ihrer Form wohl in erster Linie eben an die Rechtsbeamten (Ehrlich). Ihnen weist sie in erster Linie an, und zwar ausdrücklich, was sie gegebenenfalls zu tun haben. Man wird nun entdecken, wenn man seine Augen nur halbwegs von der N ormbefangenheit befreien kann, daß bei der Frage, wie weit sich das tatsächliche Verfahren der Rechtsleute einer ge.gebenen Neuregelung anpaßt, sehr viel davon abhängt, ob diese Rechtsleute für gerade diese Neuregelung "Verständnis haben". "Verständnis haben" heißt aber, nach Gewohnheit, eingeübter Technik, Gerechtigkeitsgefühl sich ohne Ruck der Neuregelung anpassen können. Widrigenfalls die Neuregelung auch im Trecht nur langsam um sich greift5 • Pflichtgefühl und Ehrlichkeit des Richters genügen nicht, um sein Auffassungsvermögen, sein Berufs-Ich im Nu umzugestalten. Pflichtgefühl, Ehrlichkeit, Glaube an die Überlegenheit und Alleingültigkeit des Rechts, Gewohnheit, "nach dem Gesetzessatz" zu fragen und immer nur so richten zu wollen, - das alles leitet, treibt, drängt. Das alles stellt eine Unterlage dar, die der Neuregelung wohl gute Hoffnung verheißt. Eben das, was einen Rechtsstab zum "Rechtsstab" macht, verheißt die Hoffnung. Nur reicht es nicht aus, um Menschen umzuzaubern. Wohl greift auch die fremdartige Neuregelung im Trechte um sich - langsam, schrittweise. Daß sie so um sich greift, beweist ihre Macht. Daß sich das Trecht nicht mit "Sesam! öffne Dich!" märchenhaft ihr entsprechend umstellt, das beweist die Anwesenheit der anderen Faktoren. Erst recht aber erweist sich die Eigenschaft einer Neuregelung als Versuch, wenn das Verhalten des Anwaltsstandes und dann das des jeweils in Frage kommenden Laienpublikums betrachtet wird. Wie weit gilt soziologisch eine Steuerverordnung ohne Steuerehrlichkeit6 ? Hier erhellen sich in eigentümlich schöner Synthese eine Einsicht Max Webers und eine andere Ehrlichs. Wenn man mit Weber die Rechtsordnung als nur eine der verschiedenen Ordnungen in der Gesellschaft auffaßt, so stellt die Neuregelung einen Versuch dar, die an5 Siehe besonders Exners vortreffliche Untersuchung: Die Strafzumessungspraxis in den deutschen Gerichten, 1931. I Auch hier muß darauf hingewiesen werden, daß selbst im Trecht, erst recht im Laienhandeln, das strikte Beachten des Rechtssatzes als solches ein Unding darstellt (Ehrlich). Es hat doch "Streiks" von Eisenbahnern gegeben, die gerade darin bestanden, daß nach dem Wortlaut der Vorschriften gehandelt - und der Betrieb mithin unmöglich gemacht wurde. Wenn nicht die Handlungsweise sich neben dem Mittel des Wortsatzes auch dessen Zweck einigermaßen anpaßt, mißglückt der Versuch.
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deren bestehenden Ordnungen mit Hilfe der Rechtsordnung insoweit umzubauen - was natürlich mehr oder weniger langsam vor sich gehen wird, was gar mißlingen kann. Wenn man dann Ehrlichs Einsicht hinzutut, daß die subjektiven Rechte der Rechtsgenossen (soweit diese staatlich geschützt sind) sich eigentlich nicht von selbst, im Leben auch nicht aus dem Bestehen des Rechtssatzes, sondern erst als Reflex, als Ergebnis der bestehenden und zu berechnenden Handlungsweise der Rechtsbeamten ergeben, so kommt der stets herrschende Unterschied deutlich ins Blickfeld zwischen dem, was ein Rechtsgenosse gesellschaftlich und tatsächlich erwartet oder dem, was er rechtssatzgemäß haben sollte, und dem, was er vor Gericht bekommen kann. Gleichzeitig erscheint ein normiertes "subjektives Recht" ohne hinreichenden Rechtsschutz als ein Gewolltes, nicht als eine Wirklichkeit. In einer Seinswissenschaft des Rechtslebens kommen "subjektive Rechte" eben in erster Linie nur als offizielle Zweckverkündungen in Frage. Untersuchungsgegenstand ist nicht das subjektive Recht, sondern die individuelle Rechtsaussicht 7 • Wie oben angedeutet, gibt sich jeder Gesetzesparagraph, jeder Rechtssatz überhaupt, ob seiner Wortform nach oder nicht implicite nicht nur als ein dogmatisch geltender, sondern auch als ein soziologisch 7 Hier sieht man auch den Gewinn an Denkklarheit, der sich durch die Ausschaltung des Begriffes "Recht" ergibt. Eine Rechtsaussicht richtet sich allein nach dem zu erwartenden Handeln des Rechtsstabes. Sie stellt allein die durch die Tätigkeit und Einstellung des Rechtsstabes erzeugte Lage des einzelnen dar. Somit und sofort verschwinden für die Seinswissenschaft jene Verschwommenheiten, die derartige Fragen umgeben wie die nach dem Verhältnis zwischen Macht und "Recht". Zum Beispiel: "Allerdings liegt die Schwierigkeit der Theorie darin, daß ja der Staat als Machtorganisation und Erzeuger des Rechts Macht zu Recht stempeln würde" (Sauermann, in Dunkmanns Lehrbuch der Soziologie, S. 349). Nun, Macht können die Staatsleute jedenfalls zu Rechtsaussichten stempeln, ohne daß es uns schwer wird, das klar zu sehen. Wobei nicht etwa angedeutet werden soll, daß der Staat darin selbst keine Machtgrenzen kennt. Ebenso gewinnt die Frage, ob "der Staat" das Recht erzeugt oder "das Recht" den Staat, neue Klarheit. Denn Rechtsaussichten erzeugt er offensichtlich, innerhalb der ihm gezogenen Grenzen. Wohingegen diese Grenzen der bestehenden Ordnung ihn nicht nur einengen, sondern zum großen Teil auch den Stoff bieten, Neuregelungen und neue Rechtsaussichten zu erzeugen, welche in bescheidenem Maße auf die Ordnung wieder umgestaltend einwirken. Dabei ist zu bemerken, daß "der" Staat im Leben keine Einheit ist, sondern ein Haufen keineswegs einheitlich zusammengeschlossener Menschen, Handlen und Idealen; und daß "das" Recht erst recht nicht aus einem erratischen Block besteht. Schließlich ist klar, daß das "subjektive Recht" schon deswegen nicht allein eine Zweckkonstruktion ist, weil der betreffende Rechtssatz ein Mittel darstellt, um den Rechtsstab in Bewegung zu bringen. Doch bleibt die Frage (bei diesem betreffenden Rechtssatz und diesem betreffenden Rechtsstäbler), ob, wann, wie und wohin diese Bewegung erfolgen wird. Was dem einzelnen Rechtsinteressenten, dessen "subjektives Recht" damit bezweckt wird, doch etwas ausmacht. Ein Urteil zu seinen Ungunsten heißt im Leben (trotz "Rechtsirrtums"), daß er in diesem Falle eben kein subjektives Recht hat.
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geltender aus - zumindest als einer, der im Trecht gilt. Wenn das aber stimmt, dann müßte es von Rechtssätzen wimmeln, die in diesem soziologischen Sinne, also als Beschreibungen der Handlungsweise des Rechtsstabes, nur zum Teil gelten. Wer sich umsieht, schaudert vor dem Wimmeln - wenn sein Wertgefühl noch mit dogmatischen Voreingenommenheiten behaftet ist. Der Seinswissenschaftler sieht hingegen nur, was zu erwarten wäre. Im bunten Leben ist "die" Ordnung notgedrungen bunt. Rechtsnormen haben sich, wie alle anderen Lebensformen, durchzusetzen. Leben ist Werden. Der Seinswissenschaftler erwartet also nicht, daß jede Rechtsnorm faktisch hundertprozentig herrscht. Er fragt sich vielmehr, welches die vollauf geltenden, welches die nur zum Teil im Leben geltenden Normen sind; und er fragt sich bei diesen wieder: inwieweit sie gelten. Er fragt sich, er untersucht nicht im allgemeinen, sondern in jedem besonderen Fall und bei jeder vorgenommenen Neuregelung -, ob bereits ein Handlungs- und Einstellungsfundament (bei den Beamten, bei dem betreffenden Volksteil) gegeben ist, um die amtlich verkündeten Worte schnell in die Tat umzusetzen. Er fragt sich schon vor der Einführung dieses neuen Paragraphen, ob ein solches gesellschaftliches Fundament (Handlungsweisen, Einstellungen und WerteinsteIlungen) gegeben ist. Sollte dies nicht der Fall sein, dann fragt er sich, wie es für diesen Fall - vor oder nach der Verkündung - aufzubauen ist. Dabei fragt er sich zunächst: wieviel Beständigkeit gibt es denn im Trecht? Das führt zu einer etwas korrigierten Antwort. Nämlich: soviel Beständigkeit, wie es Ähnlichkeit im Personal gibt - und dazu jenes Bißchen mehr, das die Rechtssätze auch bei verschieden geartetem Personal ermöglichen. Es kommt also auf die Wesensähnlichkeit des Menschenmaterials an. Die Rechtssätze und die Erziehung zu deren Einhaltung, zum Pflichtgefühl ihnen gegenüber, bewirken langsam, daß sich beim Menschenmaterial in diesem oder jenem Punkte eine neue Ähnlichkeit zeigt. Dann beginnt man, von einer ständigen Rechtsprechung eines Senats, eines Gerichts, der Gerichte zu hören. Obgleich hier kaum von dem entsprechenden Fundament bei den betreffenden Laien die Rede ist, darf doch darauf aufmerksam gemacht werden, daß obige Fragestellung hier noch eindringlicher und wichtiger ausfallen muß. Denn hier besteht weder Trechts-Tradition, Beamtendisziplin, noch (meist) unzweideutige Klarheit darüber, welches die betroffenen Menschen sind. Hier ist sogar vorauszusetzen, daß ein beträchtlicher Teil der Leute nicht will und daß man darüber hinaus nicht weiß, wo diese Leute stecken. Dann fragt sich: wer sind diese Leute und wie sind sie zu einem Handeln zu erziehen, das mit dem Zweck der Neuregelung in Einklang steht?
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Wohl beleuchtet das Problem der Neugesetzgebung die Rolle des Nicht-Rechtssatzhaften beim Trecht. Wohl rücken auch die Probleme dieser Neuregelung fortwährend in den Vordergrund des juristischen Seins. Weder die praktischen Schwierigkeiten ihrer Bewältigung noch die wissenschaftliche Erkenntnis, die sie gewährt, dürfen uns aber dazu führen, ihre quantitative Wichtigkeit zu überschätzen. Selbst in einer Zeit wie der heutigen stellen die Neuregelungen nur einen winzigen Prozentsatz der vorhandenen Normen dar, berühren auch nur einen kleinen Prozentsatz des Lebens. Und zum Glück. Ohne den festen Halt des schon Bestehenden könnte man der ungeheuren Aufgaben gelegentlicher Neugesetzgebung nicht Herr werden - wenn man diese im Trecht und auch im Laienleben zur " Geltung " bringen will. Das Neue lenkt aber alle Aufmerksamkeit auf sich. Es ist der hohle Zahn, der für den Augenblick der ganze Mensch zu sein scheint. Was schon da ist, und sei es noch so groß, noch so wichtig - das, was man kennt, womit man umzugehen weiß, mit dem man ja so gut umzugehen weiß, daß man kaum mehr das Bewußtsein hat, es gar zu kennen - das nimmt man einfach hin. Das aber, und nicht das Neue, gibt dem Trecht seinen Charakter, seinen Ton, seine Beständigkeit. Noch heute erben sich Gesetz und Rechte fort - es kann sich aber fragen, ob das wie eine ewige Krankheit ist. Zum Teil wohl. In weitaus größerem Maße aber ist dieses Forterben eine Vorbedingung dafür, daß die Gesellschaft fortbesteht. Wobei ich durchaus nicht etwa als Verehrer, sei es der Vergangenheit überhaupt, sei es irgendeines bestimmten Stückes von ihr, auftreten möchte. Mit dem schönen Wort unseres Holmes: "Man vergißt leicht, daß das Sicheinwurzeln in die Vergangenheit nicht Pflicht, nur unvermeidlich ist." Quantitativ, habe ich behauptet, sei Neuregelung nur geringfügig. Will ich damit etwa sagen, sie sei deshalb von geringer Bedeutung? Schon das Gesagte führt zu starker Verneinung. Der hohle Zahn ist nicht der ganze Mann; wenn der Zahn aber am Schmerzen ist, gibts kaum einen Mann mehr, bis man die Schmerzen stillt. Qualitativ kann die Neuregelung von ausschlaggebender Bedeutung sein und ist es auch. Sie bringt ein Heilmittel an die wunde Stelle. Sie kann - wenn das Mittel nicht hoffnungsloser Kurpfuscherei entstammt - den leidenden Gesellschaftskörper heilen. Durch die Neuregelung kann Ordnungslosigkeit wieder zu Ordnung werden. Und mit dieser Einsicht in das doppelte Wesen der Neuregelung im Verhältnis zur Staatsregelung überhaupt gewinnt man gleichzeitig die parallel laufende Einsicht in das Verhältnis des Trechts als eines Ganzen zu der allumspannenden gesellschaftlichen Ordnung. Auch hier spielt das Recht quantitativ, trotz allen Anwachsens des Beamtentums in neuerer Zeit, eine recht bescheiCi Llewellyn
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dene Rolle. Auch hier spielt es eine Rolle an der Stelle, wo sein Ausbleiben Verderben bedeuten würde8 •
8 Das Trecht hat natürlich kein Monopol, an entscheidender Stelle zu arbeiten. An entscheidender Stelle wirken auch technische Erfindung, Führerschaft im politischen, wirtschaftlichen oder religiösen Leben, endlich die Problemlösung durch Einzelne, soweit sie sich entweder häufen oder aus irgendwelchen Gründen Nachahmung finden. Gleichwohl ist das Trecht besonders wichtig, weil Zugriff zu ihm möglich ist (Leittrecht), gerade wenn die anderen Institutionen versagen. Allerdings selten mit Glück, wenn die Trechtler nicht Führerschaft und sozialtechnische Erfindung (die auch die Beschaffenheit des betreffenden Menschenmaterials mit in Rechnung zieht) aufzuweisen haben. Weisen sie diese jedoch auf, so können sie eine Lösung oft viel schneller durchdrücken, als dies mit den anderen Mitteln möglich wäre.
METHODOLOGISCHE ANHÄNGE
A. SozialwissensdIaften, GeisteswissensdIaften und Behaviorismus Wer die Gesellschaft im wesentlichen als eine Sache des Geistes auffaßt, wer an Geisteswissenschaften statt an Sozialwissenschaften denkt, kann kaum umhin, die Hälfte seiner Beobachtungswerkzeuge von vornherein in den Teich zu werfen. Wer sie allein als Behavior-Wissenschaften auffassen möchte, kann hingegen kaum der Macht der Ideen gerecht werden. "Nur im Durchschnittsmenschen findet die Gesellschaft ihr Beharrungsvermögen; nur im Großen ihren Sinn." Soweit eine verzwickte Sache in einem prägnanten Satz überhaupt zu fassen ist, ist sie es hier l • Fortschritt, Anpassung, Neugestaltung, das Schaffen von allem, was herausragt - das ist Sache des mehr oder weniger Großen oder des Kleinen in seinen großen Augenblicken. Hier betätigt sich erkennbar Geist - wenn auch manches Nützliche auf dem Wege des blinden Tastens zustandekam. Doch eines übersieht allzu leicht der "Geist"anhänger. Die größte Kulturerfindung könnte der Erfinder selber für sich allein nicht festhalten, es sei denn dank seiner tierhaften Begabung. Zweierlei haben wir also in einer Gesellschaftswissenschaft zu greifen und zu begreifen: Triebrad und Neuansatz. Nur letzterem ist auf dem Wege über den Geist oder über den Sinn beizukommen. Der Triebradfaktor muß jedoch hinzu. Ihn aber erkennt man ungleich klarer, wenn man vorab überhaupt nicht nach dem Geiste fragt. Nicht "schon bei den Tieren", sondern "bei den Tieren, und zwar noch bei den Menschen" lautet hier die fruchtbare Untersuchungsrichtung. Das Tierhafte am Menschen ist nicht auf dem Wege über den Geist zu deuten, sondern vielmehr als vorgegebenes Fundament des Geistes, als Bedingung aller geistigen Tätigkeit zu erforschen. Die Hiddenseer Viehherde ist hier ein gutes Beispiel für diese weitreichende sozialwissenschaftliche Erkenntnis. Bis vor etwa 75 Jahren 1 Die schöne Verdeutschung ist von Stefan Zweig. Ich schließe mich im übrigen der darin zum Ausdruck kommenden philosophischen Einstellung durchaus nicht an. Als hinreichenden Sinn für eine Schöpfung empfinde ich das Leben und Lieben eines Durchschnittsmenschen, auch wenn es weder Große noch Kulturfortschritt geben sollte. Ja, eine solche herrliche Erscheinung wie die Katzen würde mir vollauf genügen, wenn ich als Schöpfer über den etwaigen Sinn einer etwaigen Schöpfung nachzudenken hätte.
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lagen dort Rittergut und Pfarrgut in verschiedenen Händen, und zwar war die Rittergutswiese nur auf dem Wege durch eine breitere Strecke Salzwasser zu erreichen. So bildete sich beim Gutsvieh der für Herdenvieh ungewöhnliche Brauch, den Weg durchs Wasser einzuschlagen. Das mag wohl Intelligenz und Mühe gekostet haben; man weiß nicht mehr die Einzelheiten. Als aber beide Güter in eine Hand gerieten, blieb doch der jetzt unnötig gewordene Brauch. Möglich, daß der Hirte seinen Teil zur Erhaltung beitrug. Erworbene Rechte tragen oft zur Beibehaltung alter Bräuche bei. Der Hirte konnte sich auf diese Weise ein langes Treiben ersparen (obwohl er - da er nicht selbst durch das Wasser watete - ohnehin den längeren Weg zurücklegen mußte). Heute aber lebt der Brauch ohne Rücksicht auf Zweckmäßigkeitserwägungen. Die Leitkuh führt von sich aus ins Wasser. Der Hirte bringt die Herde auf den Weg, braucht sie nicht mehr zu treiben - ist meist nicht mehr zugegen, wenn das Vieh zum Wasser kommt. Dazu etwas Wichtiges: Das Jungvieh wird nicht mit der Herde groß. Es wächst auf einem abgelegenen Inselteil heran. Doch berichtet der Gutsherr, daß es am jeweils ersten Tag bei der Herde ohne Sträuben, ohne Treiben mit durchs Wasser läuft. Die neue Generation macht einfach nach und mit. Hier hilft bei der Erklärung weder Geist noch Sinn. Hier sieht man vielmehr, wie es auch noch bei der Menschenherde ist. Zwar schafft das Hiddenseer Vieh sich keine Hochkultur. Beim Menschen liegt also etwas Weiteres vor. Doch kann man zu dessen Einsicht nur gelangen, wenn man unbeirrbar an der Beobachtung festhält: dieses Weitere liegt in einem bestimmten Augenblick nur in verschwindend kleinem Verhältnis vor. Was dieses Weitere hinzutut - wenn es einmal gelingt - kann dann ins Ganze aufgenommen werden, kann Viehgut werden, kann wie beim Vieh weitergetragen werden. Aus der Häufung derartiger unendlich kleiner Schöpfungen kann Hochkultur entstehen. Da hat Simmel recht. Das Ineinandergreifen dieser beiden grundverschiedenen Faktoren ist wohl am leichtesten durch Entlehnung und Umarbeitung eines Begriffes aus der Wirtschaftstheorie zu erfassen: der Grenzenlehre. Umarbeitung, weil es im gesellschaftlichen Leben bei weitem nicht sicher ist, daß das Eingreifen eines neuen Moments an der Grenze das Ganze neu bestimmen wird, sondern nur, daß es das Ganze neu bestimmen kann. Umarbeitung auch, weil "die" Grenze im gesellschaftlichen Leben keineswegs so klar zu erkennen ist wie in dem theoretischen und wirklichkeitsfremden "Markt" eines Ricardo. Dennoch bleibt für mich der Denkansatz über den Begriff der Grenze von durchgreifender Bedeutung. Das bewußte Denken des einzelnen Menschen - ja das gefühlsmäßige Sichhindurcharbeiten durch eine ungewohnte Schwierigkeit - steht in einem vergleichbaren Verhältnis zum Herdenhaften im
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Rahmen seines Lebens als Ganzem. Erfindung und Streben nach Veränderung in der Gruppe verhalten sich ungefähr so zu der ungeheuren Masse der schon kristallisierten, als Selbstverständlichkeit hingenommenen Handlungsweisen. So auch die Neuregelungsversuche des Trechtsstabes - der neue Rechtssatz und auch zum guten Teil die alten - im Verhältnis zum Handeln der Trechtsleute und der Gesellschaft überhaupt. So schließlich die Neuentscheidung zum bestehenden Recht und Trecht. Das Grenzgebiet ist jeweils immer quantitativ klein. Qualitativ ist es verhängnis- oder verheißungsvoll - wenn die an der Grenze entfaltete Tätigkeit durchschlägt. Ja sogar das Fehlen ihrer Durchschlagskraft ist von erheblicher, nämlich destabilisierender Bedeutung, wenn nämlich eine Veränderung in den Verhältnissen diese Durchschlagskraft erheischt: was heißt denn sonst eine führerlose Zeit? "Sinn" kann man sehr wohl in der Häufung der Grenztätigkeit in eine bestimmte Richtung hin sehen. "Geist" kann man sehr wohl in jedem kleinsten Teilchen dieser Anhäufung erblicken. Will man diesen Sinn, diesen Geist aber verstehen, so muß man auch (und zuerst) das Triebrad sehen, welchem Sinn und Geist ihren Stand, ihr Bestehen, ja ihre Verständlichkeit verdanken.
B. Gefühlsbetonte Bemerkungen über den "wahren" BegriH des Remts In diesem Anhang möchte ich mich mit gewisser Leidenschaft und durchaus nicht in ruhiger, wissenschaftlicher Objektivität gegen bestimmte Vorurteile unter Juristen und Rechtsphilosophen wenden. Es handelt sich um die Brauchbarkeit und um die Vertretbarkeit eines Ansatzes zum Studium des Rechtslebens, welcher den Gedanken an die Richtigkeit, an das Als-Recht-Empfinden, an das Normenhafte oder an die Legitimation in irgendeinem Sinne aus dem Rechtsbegriff ausklammert. 1. Auf einen Streit um Worte möchte ich von vornherein verzichten. Wie im Vorwort schon gesagt, beanspruche ich für diese Vorlesung keine Heimstätte in einer "Rechts"wissenschaft oder in einer "Rechts"soziologie (noch - was hier belanglos ist - in einer "Soziologie" überhaupt). Wer "Recht" also allein als ein Normensystem ansieht oder allein als einen ethisch richtigen Normen- oder sonstigen Apparat oder wer sich eine "Rechts"soziologie nicht denken kann, ohne daß die in Frage kommenden Handlungen eine nicht auf Macht basierende "Gültigkeit" irgendeiner Art haben, oder - bescheidener - "beanspruchen" (so,
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wie ich ihn verstehe, der mit mir weitgehend übereinstimmende Artikel "Rechtssoziologie" von Kraft im Vierkandtschen Handwörterbuch der Soziologie) - mit solchen Denkern nehme ich keinen Streit um Worte auf. Solche können ohne meinen Widerspruch diese Vorlesungen in die Hölle des "Nichtrechtlichen" verdammen. 2. Wenn es aber Juristen oder Rechtssoziologen geben sollte, die darüber hinaus behaupten wollen, der hier behandelte Stoff hätte keine Bedeutung für ein Verständnis des Rechtslebens, so werfe ich diesen den Fehdehandschuh hin, und zwar einen gepanzerten, und dies nicht ohne Freude. Mit "Rechtsleben" (vielleicht sollte ich auf diese Zusammensetzung von "Recht" verzichten) meine ich allerdings nur: die Wechselwirkung zwischen bestimmten, effektiv als autoritativ anerkannten Personen und anderen Personen in der Gesellschaft, soweit die Handlungen (mit Einschluß des Formulierens in Worte und der Einstellungen) von diesen effektiv Handelnden als autoritative und als autoritativ zu beachtende Erscheinungen faktisch angesehen werden. Zu beachtende - nicht notwendig: zu befolgende! Eine Wechselwirkung also, zusammen mit dem, was sie bewirkt, und mit dem, durch das sie bewirkt wird. Das schließt die Rechtspflege, die Rechtsverkündung, die Rechtssetzung im herkömmlichen Sinne mit ein. Es schließt allerdings auch verschiedenes andere mit ein. Soll es deswegen für die Rechtspflege, die Rechtsverkündung, die Rechtssetzung - und für deren Bedeutung für die Rechtsgenossen - ja für das Recht (in jedwedem Sinne) belanglos sein? Ein Wissenschaftler kann lesen und liest. Lesen besteht nun weder im Aufsaugen (ein Buch ist kein Trog) noch im Bestätigtwerden (ein Buch ist auch kein Fellkratzer). Wer nur bestätigt wird, hat zwar Genuß; er hat aber für sich wissenschaftlich nichts gewonnen. Lesen ist ein kritisches Verstehen. Dazu gehört zuerst Verstehen und dann Kritik. Kritik ohne vorhergegangenes Verstehen gibt es eben nicht; "Kritik", die nicht auf Verstehen fußt, heißt Vorbeihauen. Sie kann dem Kritisierten dienen. Sie dient nicht dem Kritiker. Wer also liest, muß beim Lesen dieses entlehnen, jenes verwerfen können. Vor allem hat er weder den Mann noch sein Buch wissenschaftlich als Ganzes zu nehmen. (Schön, schön, Pareto: Traite de Sociologie Gemerale, § 41 I). Ein Buch über Sozialwissenschaft ist nie ein organisches Ganzes, wie "systematisch" der Verfasser es auch verfaßt zu haben glaubt. Erst recht nicht die gesamte Arbeit eines Mannes. Weder der große Name noch der kleine Name darf trügen, weder das gute Kapitel noch das schlechte. Jeder Gedanke taugt, was er als Gedanke gerade taugt. Für sich. Einzeln. Wir machen es uns mit dem Namen des Verfassers und mit der ganzheitlichen Betrachtung des Buches viel zu leicht. Wir haben immer wieder unsere wissenschaftliche Fibel durchzupauken.
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Am meisten droht dieses Übel in den Sozialwissenschaften. Haben wir bis heute angesichts der Zersplitterung des Denkens noch nicht gelernt, daß eine verfehlte GrundeinsteIlung kein Zeichen dafür ist, daß nicht doch wertvollster Stoff, wertvollste Anregungen von dem Mann geboten werden 2 ? Noch nicht gelernt, daß wir bei jedem Verfasser eine neue Terminologie zu erwarten haben, die wir mit des Verfassers Begriffsbestimmungen (wo er diesen treu bleibt!) zu lesen haben? Müssen wir uns ewig durch Wortzauber vom Sinn abhalten lassen - müssen wir fortgesetzt gerade unsere eigene, liebgewordene Bedeutung jedem Worte, dem Schreibenden zum Trotze, unterschieben? Wohl hegt ein jeder den Ehrgeiz, mit seiner Auf teilung des Gebietes, mit seinen Begriffsbestimmungen schließlich den einheitlichen Ton des Ganzen anzugeben. (Ich auch! Culpa maxima mea - ich auch!) Wenn man jedoch nachdenkt, muß man erkennen, daß derartiger Ehrgeiz bei dem heutigen geringen Entwicklungsstand dieser Wissenschaften ein entehrender Ehrgeiz ist: ein Wille zum Kindermord. Erfolg hieße doch, dem Kinde der Gesamtheit, dem Gemeinwohl alles Wachstum und demnächst alles Leben nehmen. Den Willen zu diesem Mord werden wir wohl nie los. Die Rechtsgeschichte bezeugt aber, daß man lernen kann, von der Tat abzustehen. Gerade das deutsche Recht würdigt auch den Rücktritt vom Versuch! Weshalb wird denn in der Wissenschaft der Streit ums Wort geführt? Weshalb wird das Sinnsymbol, das Sinnübertragungsmittel, noch heute zum Gegenstand eines primitiven Wortformalismus (man denke doch an die alte Frau, die nicht verstehen konnte, wie man die Namen der Sterne herausgekriegt habe). Ich meine doch, hier wird der Wissenschaftler Mensch, und nicht zum Glück. "Recht" ist ein schmückendes Wort, man trägt es wie einen Orden. "Wissenschaft" desgleichen: wer "Wissenschaft" treibt, der fühlt sich, der Strahlenkranz großer Ahnen umscheint sein Haupt, die Leistungen eines Riesengeschlechts heben ihn schon im voraus hoch, versprechen auch ihm ein großes Schicksal. Um meine Zugehörigkeit, vor allem um meine Zurechnung zum Recht und zu der Wissenschaft muß ich doch kämpfen. Bei den Zunftgenossen ist dies - soweit - zwar wissenschaftlich sinnlos, aber eine durchaus harmlose menschliche Freude. Bei den Neulingen, den Selfmade- oder Selfmaking-men zeigen sich aber bereits schädliche Wirkungen. Man betrachte einmal die Energieverschwendung, die man Kampf um die wissenchaftliche Daseinsberechtigung und Begriffsbegrenzung der Soziologie nennt. Soweit Betrachtungen über ein derartiges Thema Ausdruck der Ästhetik sind, 2 Was ändern z. B. in der Rechtssoziologie Ehrlichs Unschärfe und seine Fehlschlüsse an seinem Wert fürs Fach. Sie grenzen diesen nur ein. Die Genialität, die Anhäufung von Anregungen und Einsichten bleiben.
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ein Streben des einzelnen nach einer eigenen, reinlichen intellektuellen Wohnung, sind sie nett - und ist jede "Antwort" auf die Behauptung eines anderen auch sinnlos. De gustibus ... Soweit solche Betrachtungen dazu führen, neue Beziehungen zwischen den verschiedenen Ansatzpunkten, Stoffgebieten, Wissenszweigen aufzudecken, sind sie sehr nutzbringend; bedürfen auch der Antwort oder Berichtigung nUT im Sinne der Erprobung der vorgeschlagenen Möglichkeiten. Soweit endlich solche Betrachtungen dem einzelnen Wissenschaftler seine eigene Arbeitsbahn ebnen wollen, sind sie von Belang - für ihn und sein Werk - als autobiographische Dokumente, die zum Verständnis seiner Resultate verhelfen. Vielleicht auch als Kunstwerk. Vielleicht sogar als Anregung für andere. Ihr wissenschaftlicher Wert ist also vergleichbar der von Goethes Dichtung und Wahrheit. Sie geben aber wieder nichts ab, was zur Bekämpfung Anlaß wäre. Wenn sich aber die Neulinge an solche Arbeiten machen, liegt fast regelmäßig ein anderes, wissenschaftlich gesehen: ein Vitiosum mit im Spiele. Sie wollen sich die Ordensnadel erwerben: sie wollen ihrem Werke, ihrem Gebiet, sich selbst über den schon bezeugten Wert ihrer Resultate hinaus Rang und Stand verschaffen. Im schlechten Fall (der Kurpfuscher als "Doktor") ist das unlauterer Wettbewerb. Ein Artikel wird unter erschlichener Bezeichnung mit der Marke einer angesehenen Firma auf den Markt gebracht. Im guten Fall (ein neues Gebiet wird gut und kunstgerecht erschlossen) ist das ein Kampfmittel, um den versteinerten Orthodoxen die Möglichkeit zu entreißen, das Publikum durch lauter Prestige weiter zu verblenden. In beiden Fällen arten die Bestrebungen oft darin aus, den Etablierten die Ordensberechtigung abzusprechen. Als gäbe es jeweils nur eine Möglichkeit. In beiden Fällen auch ist Abwehr zu erwarten. In beiden zeigt die Erfahrung, daß die Abwehr eine unfruchtbare Bahn einschlägt. Ich kann (als anerkanntes Mitglied der Zunft) den vorgebrachten Stoff auf seinen Belang, auf seine Stichhaltigkeit, seine Neuanregung untersuchen. Das ist Wissenschaft. Ich kann mich aber auch in eine billige, unendlich nutzlose Polemik gegen die Usurpation des Standesorden begeben: das Behauptete sei nicht (nach meiner, richtigen Auffassung) "Recht" oder "Wissenschaft" oder was sonst noch. Wiederum, als gäbe es jeweils nur meine Möglichkeit. Setze ich das durch, so kann ich mir die überprüfung des Stoffes dieses Eindringlings schenken. Und solches, mit Verlaub, ist keine Wissenschaft, sondern - wenn es auch oft auf Umwegen zu wissenschaftlichem Fortschritt geführt hat - eine gewaltige Verwässerung des Wissenschaftsbetriebes mit störender Allzumenschlichkeit. Solche Ansichten über den Kampf, nicht ums Recht, sondern ums erworbene Recht an gewissen berauschenden oder betäubenden Wort-
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symbolen können einen, bei dem das Interesse am Stoff alle Ästhetik der Wissenschaftstheorie weit überwiegt, dazu veranlassen, bei seiner eigenen Arbeit von jedem Anspruch auf Ehrenbezeichnungen abzustehen. Das fällt mir beim "Recht" leicht. Es fällt mir persönlich allerdings schwerer bei der Bezeichnung "Wissenschaft". Die mag indessen auch geopfert werden. Erstens, weil dieses Wort so vieldeutig ist: die Rechtsdogmatik, die Physik, die Soziologie, sie alle wollen Wissenschaften sein; durchgreifende gemeinsame Merkmale sind schwer erkennbar. Zweitens soll auf das Wort Verzicht geleistet werden, weil die Wissenschaft für mich etwa heißt: "Die Summe aller Erkenntnisse des Stoffes und des Verhältnisses der Stoffe zueinander, über die sich alle Kundigen, auch wenn sie den verschiedensten Lebensphilosophien huldigen, doch einigen können." In einem solchen Sinne ist der Stoff dieses Buches - in seinen wissenschaftsähnlichsten Teilen - höchstens Wissenschaft in statu nascendi oder sperandi oder in gremio. Das Beste ist kaum geboren; das andere stuft sich ab bis zur bloßen Scheinschwangerschaft. Aus dieser Sicht der Dinge wird verständlich, weshalb ich den Gedanken, daß zum Beispiel das "Recht" aus "Normen" bestehe oder gar aus "richtigen" Normen oder daß irgendeine "Legitimation" wesentlich sei, nicht bekämpfen möchte. Die Behauptung aber, daß die Betrachtung des Rechtslebens (in der schon erwähnten Bedeutung) nichts mit dem herrschenden Sollen, mit dem richtigen Sollen oder mit der Legitimation zu tun hätte - eine solche Behauptung muß ich mit Bomben und Granaten bekämpfen. Denn aus einem berechtigten Sonderfach ein exklusiv Berechtigtes machen zu wollen, das hieße die Bahn zur Wissenschaft als Gesamterkenntnis verschließen. Und schon ist trotz unserer mangelhaften Kenntnisse zu erkennen, daß das "Rechtsleben" bedeutende Auswirkungen auf Sollnormen hat - auf deren Entstehung, auf deren Gestaltung, gar auf deren philosophische Gültigkeit, soweit diese für solche Wesen zutreffen soll, denen wir den Namen "Mensch" beizulegen pflegen. 3. Nun zur Frage der "Richtigkeit" und dergleichen eben des Stoffes, der hier zur Untersuchung ansteht. Es beliebt mir, als zentralen Beobachtungsstoff die Handlungen von mehr oder weniger effektiv lenkenden Personen zu wählen. Das schließt die Anführer von Räuberbanden ein, das schließt die Führer oder die Führungsgruppen eines Aufruhrs oder einer gewaltsamen Eroberung ein. Es schließt diese auch dann ein, wenn sie sich selbst als rechtswidrige Eindringlinge betrachten. Dann stellen sie zwar einen Grenzfall dar. Einen Grenzfall - für meine Betrachtung - jedoch nicht, weil sie keinen Legitimationsanspruch erheben oder weil sie nicht "rechtmäßig" handeln, sondern weil sie wahr-
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scheinlich morgen schon wieder fort sind. Besteht die Wahrscheinlichkeit, daß sie sich einnisten, so entsteht gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit, daß sie z. B. den Legitimationsanspruch demnächst nicht nur erheben, sondern auch durchsetzen. Solches beliebt mir. Aber nicht aus reiner Sturheit. Solches stellt vielmehr ein Mittel dar, um endlich einmal Sachverhalte des (ich sage nun nicht mehr "Rechts"-, sondern) "Regierungs"-Lebens zu sehen, die bei den Positivisten in der Betrachtung "des Staates", bei der historischen Schule in der Betrachtung "der Sitte" und "des volksgeistlichen Rechts", bei den Naturrechtlern und Philosophen in der Betrachtung "des Richtigen", des "Gerechten" eben unterzugehen drohen. Wenn sich die Macht einmal etabliert hat, nähert sich mein Ansatz schon stark dem der Positivisten. Man kann nämlich, wenn man will, dem Tatsächlichen jede normative Kraft ableugnen - für den jeweiligen, bestimmten Zeitpunkt. (Auch dann ist mir die Ableugnung - außer für sehr begrenzte Zwecke - äußerst verdächtig.) Wer aber eine solche normative Kraft auf die Dauer ableugnen wollte, bekennt doch eine Fehleinschätzung der kulturbedingten Grundlagen seiner eigenen Ideale. Selbst Ideale sind nicht nur; sie wachsen, sie entstehen, und zwar aus dem Tatsächlichen und aus den Anstößen, die dem Tatsächlichen entstammen (s. Kapitel V). Auch haben sie Bedeutung im Rahmen des gegebenen oder möglichen Menschenlebens; und was gibt es, das kulturbedingter (d. h. im Grunde praxisbedingter) wäre als die Gegebenheiten oder Möglichkeiten des Menschenlebens? Wenn sich hingegen die Macht (wie zumeist) allmählich den Volkssitten anpaßt und die Volkssitten dann auch zur Anerkennung der Machthaber als legitime nach und nach erzieht - und sei es allein durch ihren Dauerbestand! - dann nähert sich schon mein Ansatz dem der historischen Schule. Wenn endlich gelegentlich - die Machthaber weitsichtig, klug und gewissenhaft wirtschaften, sich das Wohlergehen der zu melkenden Kuh angelegen sein lassen, dann fällt mein Ansatz einigermaßen mit dem der NaturrechtIer zusammen. Doch selbst wenn derartige Annäherungen auch ausbleiben, so will ich doch die von mir ausgewählten Erscheinungen sehen. Ich will sehen, wie Streitfälle tatsächlich erledigt werden - und wenn die Erledigung auch jeder philosophisch begründeten Ethik widerspricht. Ich will sehen, wie die Machthaber tatsächlich die Handlungen von anderen mit Erfolg lenken oder ohne Erfolg zu lenken versuchen. Dabei will ich beobachten, inwieweit die Sitten und das Rechtsgefühl des betreffenden Volksteils die Machthaber bedingen. Ich will beobachten können, wie, wann und inwieweit das Gefühl der Legitimation oder der Richtigkeit oder des Sittengemäßen auftaucht, entsteht. Ich will beobachten, welchen Unterschied dieses Auftauchen oder Entstehen in der Gesamt-
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lage bewirkt. Ich will auch Revolution, Aufruhr, Eroberung, Besetzung, Staatsstreich, Bürgerkrieg, Halbchaos, Räuberwesen sehen und verstehen können. Ich will meinen forschenden Blick nicht dadurch begrenzen, daß ich das eine oder das andere als Nichtrecht oder Nichtrichtiges oder Nichtsinngemäßes von der Betrachtung ausschließe oder als minderwertig im voraus zu Wucherzinsen eskomptiere. Desgleichen will ich unterscheiden können, wann das von oben Verkündete dem Volkswesen oder einem gegebenen Normensystem oder Ideal entspricht und wann nicht. Ich will auch unterscheiden können, wann das gesetzte Recht oder eingebürgerte Trecht - meinetwegen samt eingebürgerten entsprechenden Volkssitten - nach meiner Ansicht tunlich, ethisch oder heilig ist und wann nicht. Wahrnehmen will ich es können in seiner vollen Wirkungskraft, auch dann, wenn ich es nicht billige. Solches will mir eben nicht gelingen, wenn ich meinen Beobachtungsstoff schon von vornherein mit Zulassungsbedingungen etwa der Legitimation, der Richtigkeit, des Volksgeistgemäßen infiziere. Wer es also nicht verdauen kann, daß "Recht" mit "Macht" verwechselt werde, kann diese Vorlesungen als eine Untersuchung über Machtverhältnisse betrachten, die allerdings öfters auch nach dem Empfinden der Beteiligten zu Recht bestehen, öfters auch den herrschenden ethischen Idealen, gelegentlich wohl auch seinen eigenen Idealen entsprechen. Und die "Beamten", die Trechtsleute, die hier vorkommen, sind als diejenigen Personen anzusehen, deren Anordnungen von den anderen Beteiligten in beträchtlichem Maße Beachtung oder gar Folge geleistet wird (die also faktisch eine Machtstellung innehaben). Wobei es allerdings zumeist auch zutreffen wird, daß die anderen das als von Rechts wegen so gehörig empfinden. Und wenn ich endlich vom "Staat" rede, so will ich damit (horribile dictu) nur jene ziemlich gut organisierte Gruppe bezeichnen, die jeweils oben aufsitzt und mehr oder weniger erfolgreich lenkt - wobei es allerdings auch heutzutage zumeist stimmen wird, daß diese Gruppe sich als legitim ausgibt und daß das eigene Volk, wie auch andere Völker, sie als legitim anerkennt, schließlich daß sie sich selbst zum Teil innerhalb gewisser Regeln (Sätze plus Praxis) hält und gemäß gewisser Regeln zur Not abdanken wird. Das alles kann, wie angedeutet, wissenschaftstheoretische, ästhetische oder rechtsphilosophische Haare zu Berge stehen lassen. Ich bleibe dennoch bei meiner Urfrage: beleuchtet dieser Ansatzpunkt einen Stoff, welcher - so beleuchtet - den Sozialwissenschaften etwas zu bieten hat? Vor allem wende ich mich - und zwar wie erkennbar sein dürfte, nicht ohne Leidenschaft - gegen den Irrsinn, daß etwas, was meinetwegen "Nichtrecht", "Nichtstaat" und dergleichen sein kann, deswegen für die "Rechtswissenschaft", die "Staatswissenschaft" und dergleichen nichts zu bedeuten vermag.
ZWEITER TEIL
Gesellschaft, Ordnung und Trecht Viertes Kapitel
Ordnung und Gesellschaft: die Handlen Die in der zweiten Vorlesung entwickelten Merkmale unseres Beobachtungsgegenstandes sind zwar - wie bei jeder Begriffsbestimmung - willkürlich gewählt; doch gewinnen wir dadurch, daß wir heterodoxerweise weder Normgemäßheit noch Regelmäßigkeit zu Begriffsmerkmalen des Trechts erheben, den Vorteil, verschiedene häufig vernachlässigte und wichtige Erscheinungen ins Blickfeld zu bekommen. Das erhellt z. B., wenn man bei der Erledigung von "reinen Rechtsfragen" den Bestand an Trechts-Berechenbarkeit und dessen Ursachen untersucht. Sofort wird klar, daß in starkem Maße auch Unberechenbarkeit vorliegt. Die nähere Untersuchung zeigt ferner, daß ein sehr großer Teil der vorhandenen Regelmäßigkeit nicht dem Rechtssatz, sondern überlieferten, ohne überlegung als gegeben hingenommenen Kunstgriffen zuzuschreiben ist; ein anderer großer Teil dumpf bewußten Normierungen, welche eher das darstellen, was man Gerechtigkeitsgefühl zu nennen geneigt ist im Gegensatz etwa zu Rechtsnormen im üblichen Sinne. Der Rechtssatz stellt einen späteren - zuerst wertrationalen, dann immer mehr zweckrationalen - Versuch dar, durch präzisere Regelung konkreter Sachlagen einerseits der Unmöglichkeit Herr zu werden, gleichzeitig gerecht und überlieferungsgemäß zu richten, andererseits die erschreckende Fülle des Streitstoffes zu bewältigen. Schon wegen seiner Unentbehrlichkeit, vor allem aber wegen seiner klaren Wortform, seiner Zugänglichkeit und seines bewußten Gebrauchs, nimmt der Rechtssatz einen trügerischen Schein von Alleingenügsamkeit an1 • Bei der Neuregelung ist das Irreführende dieses 1 Ehrlich schreibt diesen Vorgang besonders der Beherrschung der Rechtserziehung durch den auf die Ausbildung seiner eigenen Richter bedachten Staat zu; was wohl mit am Werke ist. Wie auch die neuzeitliche Beschäftigung mit dem Staate überhaupt zur bevorzugten Beschäftigung mit dessen Recht führen mußte. Hinzukommt das Erbe des "Allmacht"gedankens. Ich rede hier aber vom Rechtssatz in seinem Verhältnis zu den anderen Bestandteilen des Rechts eines Staates.
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Anscheins besonders klar zu sehen, da dort selbst beim Rechtsstab die schnelle Umsetzung des Sollwortes in die Tat eines Verständnisses für die Neuregelung bedarf, das sich aus den anderen Momenten aufbaut. Wille und Pflichtgefühl genügen nicht. Doch daß sich mit der Zeit die Neuregelung im Trecht durchsetzt, erweist ihre Macht: sie vermag die Rechtsleute zur Not oft umzugestalten. Hieraus ergibt sich auch, daß die verschiedenen Rechtssätze - soziologisch gesehen - in verschiedenem Maße "gelten", je nach dem Umfang, in dem das jeweilige Gebot ins Trecht umgesetzt worden ist. Das Problem der Rechtssetzung erscheint mithin als ein Problem der Handlungskanalisierung, das jedesmal neu mit dem jeweiligen Menschenmaterial und dessen Beschaffenheit zu rechnen hat. Blickt man auf die Neuregelung im Verhältnis zum bestehenden Trecht und auf das Stabshandeln als Ganzes im Verhältnis zur gesellschaftlichen Ordnung überhaupt, so stellt man fest, daß trotz des recht kleinen in Frage kommenden Quantums die qualitative Bedeutung kaum zu hoch einzuschätzen ist, weil die Wirksamkeit eben so oft gerade an entscheidender Stelle einsetzt. Zweck einer derartigen Voruntersuchung ist lediglich gewesen, an einem kleinen Problem die Nützlichkeit unserer Begriffsbestimmung, unserer skeptischen Betrachtungsweise zu erproben. Wer aber das ganze Gebiet erschließen möchte, für den ist eine festere und vor allem eine breitere Grundlage erforderlich. Deren Gegenstand ergibt sich allerdings bereits aus dem Gang unserer Voruntersuchung. Um die Bedeutung des Trechtswesens im Leben der Rechtsgenossen zu erkennen, werden wir uns dieses Leben der Rechtsgenossen etwas vornehmen müssen. Das Wesen dessen, was Ehrlich "die innere Ordnung der gesellschaftlichen Verbände" nennt, was der Soziologe "Gesellschaft" nennt. Denn das Trecht in seinem Verhältnis zur Gesellschaft erkennen wollen, ohne sich vorher von der Gesellschaft ein mindestens skizzenhaftes Bild zu machen, das geht nicht an. Doch ist dieser Blick auf die Gesellschaft nicht leicht. Ein wirres, ameisenhaufenhaftes Hin und Her, Drunter und Drüber, von dem man - teils überlieferungsgemäß, teils einer sicheren, kaum aber rationalen Erkenntnis folgend - annimmt, es müsse irgendwie eine Einheit in ihm stecken. Eine Verschlungenheit der Beziehungen, des Treibens der einzelnen Menschen in- und zueinander, welche dem Zugriff zu spotten scheint. Dabei in dem eigenen Hirn ein Bedürfnis nach übervereinfachung, nach smarfen Umrissen, nach festen Strukturen, damit man sicheren Halt haben zu können glaubt2 • Diese eine Ameise, jenes Stückchen eines Haufens, die wollen beileibe alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen, damit etwas an Z
Schön hierzu Morgenstern: "Die unmögliche Tatsache", Palmström, 26: "Nur ein Traum war das Erlebnis. Weil, so schließt er messerscharf, nicht sein kann, was nicht sein darf."
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Ordnung, und sei sie noch so bruchstückhaft, zu entstehen scheint. Jedoch "ist Sicherheit zumeist nur Illusion, und Ruhe ist des Menschen Schicksal nicht". Wir müssen heran. Mit logischen Mitteln allein wird herzlich wenig zu erreichen sein. Wer gleichzeitig Aufbau und Bewegung, gleichzeitig Ordnung und Zerrissenheit hervorzuzaubern hofft, müßte zur Lyrik greifen neben der Logik, müßte in einem Kontrapunkte komponieren können, der in sich fast so trügerisch verschlungen wäre wie das Gewebe der Gesellschaft selbst. Wiederum muß auch vor Worten gewarnt werden und vor juristischen Voreingenommenheiten. Beherrscht "das Recht" das Leben? Eine solche Frage kann man natürlich nach Belieben bejahen oder verneinen, je nachdem man "Recht" so definiert, daß es mit dem, was das Leben beherrscht, zusammenfällt oder nicht. Beherrschen aber Rechtssätze das Leben? Unmittelbar augenscheinlich nicht. Wozu studieren Sie das ius, wenn ius dem Laien schon derart vertraut ist, daß dieser Laie sich schon nach ihm zu richten vermag? Mittelbar liegt allerdings die Sache nicht .ganz so klar. Denkbar wäre es, daß der Rechtssatz mit der Zeit - sei es auf dem Verwaltungswege, sei es auf dem Wege über die Gerichte, sei es durch die beratende Tätigkeit der Anwaltschaft - einen allmählichen und schließlich ausschlaggebenden Einfluß auf die Handlungsweise der betreffenden Laien gewinnen würde, so daß diese, auch wenn sie von dem Rechtssatz nie gehört hätten, dennoch ziemlich seinem Zweck entsprechend handelten. Soweit ich sehen kann, liegt eine derart dunkle Vorstellung dem Gedanken zugrunde, daß schließlich die Regelung des Lebens auf den Rechtssatz zurückgeht. In der Tat können wir auch zeitweilig einen solchen Vorgang nachweisen; wohl nirgends schlagender als bei der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht oder der Einkommenssteuer in einem der westeuropäischen Länder. Die letzte Vorlesung hat sowohl den Vorgang angedeutet wie auch die Gründe, weshalb ein solcher Vorgang nur für eine Minderheit der Rechtssätze, erst recht aber nur für einen relativ geringen Teil des Lebens anzunehmen ist. Kaum beginnt man, einen konkreten Fall zu prüfen, so sticht ins Auge, daß die Wirkung des Rechtssatzes als solches weit hinter der des Tuns und Treibens der Beamten zurückstehen muß. Der Rechtssatz, auf dem die Trechtsleute nicht bestehen, setzt sich nämlich offensichtlich nicht durch. Der Rechtssatz, den die Beamten dauernd nach einer bestimmten Richtung "auslegen", setzt sich nicht so durch, wie er ursprünglich war, sondern in der Form dieser effektiven "Auslegung". Man braucht nur wieder an die Einkommenssteuer zu denken. Was das Beamtenturn (einschließlich der Gerichte) zuläßt, anordnet oder beanstandet, gibt den AusschlagS. a Vorausgesetzt natürlich, daß "der Versuch gelingt". Ich rede hier nur von der Gestalt, welche ein gelungener Versuch annimmt.
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Aber auch das Trecht als Ganzes beherrscht nur einen geringen Teil des Lebens. Wieder kann man natürlich, wenn man will, um das Wort "beherrschen" streiten. Bestehen nachgiebige Rechtsnormen, so steht es jedem frei, sich der Ansicht anzuschließen, der Staat "beherrsche", indem er einen freien Spielraum "anordne" und die Vereinbarungen der Parteien dann auch "sanktioniere". Lassen wir das Wort "beherrschen" also fallen. In einem kann allerdings wohl keine Meinungsverschiedenheit aufkommen: regeln, gestalten, formen tut der Staat das daraufhin zustande gekommene Rechtsverhältnis zwischen Rechtsgenossen nicht. Mit "darauf zustande gekommenen Rechtsverhältnis" will ich jenes in der überwältigenden Mehrzahl vorkommende Verhältnis bezeichnen, das nie zu einem Rechtsstreit Anlaß gibt - den Lieferungsvertrag, der erfüllt wird; den Arbeitsvertrag, der ohne Schwierigkeiten abläuft. Diese sind es, welche der Staat durch nachgiebige Normen nicht gestaltet. Einen ungewissen Einfluß auf ein solches Verhältnis will ich allerdings weder den Rechtsnormen noch dem Trecht absprechen. Wie stark (vor allem, wie umfangreich) dieser Einfluß jedoch sein mag, das bleibt von Fall zu Fall zu untersuchen. Ich behaupte also - sei es als die erste Einsicht, sei es als die erste Arbeitshypothese einer Seinswissenschaft vom Rechtsleben -, daß der Begriff, welchen man der Gesellschaft zugrunde legen muß, nicht etwa Rechtssatz oder staatliches Recht oder Trecht ist, sondern Ordnung. "Gesellschaft" ohne Ordnung ist schlechthin undenkbar. Ganz gleich, wie man Gesellschaft definiert. Ohne Ordnung hätte man eben keine "Gesellschaft", sondern ein Nebeneinander, ein Nacheinander, ein Aufeinander wilder, unberechenbarer, chaotischer Zusammenstöße. Wer an Gesellschaft denkt, denkt zumindest an Menschen, die in irgendeiner Weise miteinander leben, miteinander auskommen, sich aufeinander eingestellt haben, und zwar so, daß sie dank diesem Aufeinandereingestelltsein leben und etwas erreichen können. Mit anderen Worten: begriffswesentlich für Gesellschaft ist als Minimum die Vorstellung von Menschen, deren Handeln irgendwie so geordnet ist, daß die Art, Wucht, Anhäufung der Zusammenstöße die Vorstellung einer Einheit in dem Gesamthandeln nicht undenkbar macht. Eine Gesellschaft ohne Staat, eine Gesellschaft ohne Rechtssätze, eine Gesellschaft ohne einen ausgesonderten Ordnungsstab, erst recht ohne Juristenstand, diese sind nicht nur denkbar; sie sind auch gewesen. Bei manchen Naturvölkern kann man das belegen, auch bei manchen der kleineren Teilgruppen innerhalb eines modernen Volkes. "Gesellschaft", habe ich gesagt, und "Gruppe". Was ist nun unter diesen Wörtern zu verstehen? "Gruppe" ist für mich eine beliebige Mehrzahl von Menschen, deren Gesamt-Handlungsweisen sich für den vorliegenden Fall als eine organisierte Einheit denken lassen. Wird
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eine "Gruppe" groß und komplex und wird sie auch im allgemeinen Sprachgebrauch als eine größtenteils selbstgenügsame Einheit aufgefaßt, so neige ich dazu, sie "Gesellschaft" zu nennen. Läßt sich aber die Gruppe nicht leicht als Ganzheit auffassen, die für sich als solche existieren könnte, besteht ihre Einheit vielmehr darin, daß sie mehr oder weniger als geschlossener Teil einer größeren Ganzheit auftritt (Gewerkschaft, politische Partei, Verein), dann nenne ich sie nicht Gesellschaft, sondern Gruppe4 • Nun besteht aber oft zwischen einer Anzahl von Menschen ein gemeinsames Interesse, ohne jedwede entsprechende Organisation (individuelle Zuckerkonsumenten; nicht-organisierte Eisenarbeiter; nicht-organisierte Molkereiwirtschaften; die Schulkinder eines Landes). In solchem Falle möchte ich lieber von dem Worte "Gruppe" absehen. Gleichartige Reaktionen, gleichartige Interessen haben doch weit andere Wirkungen, besonders in Rechtssachen, als organisierte Verhaltensweisen. Eine solche nicht-organisierte Interessenklasse werde ich deshalb einfach "Kategorie" nennen. Die Grunderscheinung also - sei es bei einer Gruppe, sei es bei einer Gesellschaft - besteht in einigermaßen regelmäßigen, berechenbaren, gegenseitig aufeinander bezogenen Handlungen seitens der Mitglieder. Das dritte Merkmal fehlt bei der "Kategorie". Wenn aber Handlungen einigermaßen regelmäßig und berechenbar sind, das heißt sich einigermaßen wiederholen, können wir sie als "Handlungsweisen" betrachten. Handlungsweise wiederum könnte individuelle Gewohnheit sein und weiter nichts. Doch finden wir häufig Handlungsweisen, die in einem wirklichen Sinne überindividuell sind. Sie bestehen zwar nur als Abstraktionen; sie sind nur eine Denkform, welche viele konkrete individuelle Handlungen verallgemeinert. Doch überdauert gleichwohl die Handlungsähnlichkeit das Individuum. Neue Menschen erlernen die Handlungsweise, neue passen sich ihr an. Sozial gegeben ist damit ein Handlungsmuster, eine Form, in die sich die Handlungen der einzelnen einfügen. Und da es mehrere oder viele gibt, die handeln, werden wir keine Ordnung erlangen, wenn nicht die Handlungsweisen und -muster der einen auf die der anderen einigermaßen abgestimmt sind. Ich habe von einem Minimum beim Gesellschafts- oder Gruppenbegriff gesprochen. Hier - wie bei der Frage der Trechtsbeständigkeit möchte ich zunächst nur mit diesem Minimum zu arbeiten versuchen. Weder von Normen noch von Sinn soll dann im Augenblick die Rede sein. Zwar ist das Knochengerüst noch kein lebendiger Körper. Wer aber das Knochengerüst vernachlässigt, der sieht nur schwer das Wesen 4 "Familie" kann auch eine Gesellschaft sein, jedoch ist sie es heute so gut wie nie. "Großstadt" wird als eine Gesellschaft betrachtet werden können, wenn man zu einer bestimmten Zeit den gemeinschaftlichen. Gesamtlebenskreis der Einwohner unter Vernachlässigung der wirtschaftlichen Beziehungen (Wien!) betonen will.
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des lebendigen Leibes. Knochengerüst der Gruppe, der Gesellschaft sind nun diese Handlungsmuster. Ein unbeholfenes Wort. Ein doppelsinniges. "Muster" ist zugleich (1) Abstraktion des Daseienden, (2) Probestück, (3) normierendes Vorbild. Darf ich mich deshalb zum zweiten und letzten Mal an eine neue Wortschöpfung heranwagen? Ich möchte einen Ausdruck haben, der von allem Normengehalt absieht, der lediglich die sozial gegebene Verhaltensweise angeben wilL Auf englisch: "ways" (folkways, groupways) oder "practices" oder "behavior-patterns". Da hilft mir nicht "Brauch", da hilft mir erst recht nicht "Sitte"; die kommen vom normativen Beiklang unmöglich los (vgL "Mißbrauch", "Unsitte"!). So geht es auch mit Ehrlichs "Regeln des HandeIns" . Auch mit "Gewohnheit" ist mir nicht gedient. Auch hier liegt Zweideutigkeit vor. Individuelle Gewohnheit (habit) ist dem Worte nach nicht von der sozialen Gewohnheit zu scheiden (custom). Und diese, die allein in Frage käme, ist wiederum normbehaftet. "Herkommen" will sich an das kleine nicht anpassen; "Herkömmlichkeit" ist mir zu unbeholfen. Ich wähle daher die "Handle"5: ein sozial gegebenes Handlungsmuster, unter Abstrahierung jedwedes Normbeiklanges, unter Verringerung des angenommenen Sinngehalts auf das zu einer Begriffsbildung überhaupt erforderliche Mindestmaß; die Art, wie sich Menschen in Gruppen äußerlich verhalten. Ein Begriff des Knochengerüsts, der auf individueller Gewohnheit fußt, der als Bestandteil des Brauchs oder der Sitte auftritt, der dem deutenden Sinn auch den Urstoff zur Gliederung bietet. Ein Kleinbegriff, mit dem man molekularen Einförmigkeiten beikommen kann, welche sich wieder zu Gebilden, zu Einrichtungen zusammenschließen und dementsprechend den Urstoff zu solchen Begriffen wie Klasse, Stand, Markt, Bank, Schule, Bürger liefern. Trecht besteht also zu allermeist aus den Handlen des Rechtsstabes - aber auch aus dessen nicht-handlen-gemäßen Handlungen. Schon der Begriff "Handle" setzt voraus, daß sich verschiedene Menschen in gleicher Weise gebärden, daß sich irgendwie auch die Handle fortpflanzt, daß sie nicht mit den Menschen des jeweiligen Augenblicks abstirbt, sondern sich in dem Verhalten von deren Nachfolgern wieder vorfindet. Bislang setze ich hier, wie beim Richtertrecht, keine bewußte Erziehung, auch kein zielbewußtes Erlernen voraus. Geist und Zweckhaftigkeit arbeiten mit beim Lernen; doch nicht so, als sei es Lernen, sondern vorerst nur so, als sei es nur die Wesensschau der Dinge. Beobachten Sie nur, wie ein paar Kinder "die Familie" spielen. Das eine als 5 Apologia: Vorbild waren hier die mich sehr ansprechenden, in meiner Jugendzeit von den Wandervögeln geliebten "Bleibe" und "Klampfe", die allerdings beide passiven Beiklang haben. Vgl. auch Lüge, Handhabe, Glaube. Auch an aktiven Bildungen fehlt es nicht: Fliege, Kämpe, Klinge, Schneide.
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Vati, das andere als Mutti, das dritte als Kind. Solch Kindertreiben wird von den meisten Soziologen bedauerlicherweise übersehen. Die Wissenschaft hat viel von ihm zu lernen. Was da vorgeführt wird, ist dem vorhandenen Familienwesen abgelauscht, manchmal erstaunlich und erschreckend sicher: "Nein, jetzt sagst du ,Gottverdammich! und haust auf den Tisch. Dann tu ich weinen." Soll dieses die Familienethik heißen oder das Ergebnis bewußter Erziehung? "In gleicher Weise handeln" - das heißt nicht: fortwährend so handeln. Auch im Sprachschatz verbirgt sich so manches Wort, das zwar da ist, aber nur hin und wieder auftaucht. Auch kennt der eine mehr Wörter als der andere. Manche Wörter werden sogar zum sprachlichen Sondergut kleiner elitärer Gruppen oder Kategorien. Gleichwohl bleibt das Aktivieren fast jeden Wortes eine Handle. Die Weihnachtsbräuche zeigen sich nur einmal im Jahr, nur um die Weihnachtszeit. Dann und im Mai und Ende Oktober läuft das Bockbier. Der Handlenschatz braucht also nicht in jedem Augenblick voll in Erscheinung zu treten. Was für die Jahreszeiten gilt (Erntedankfest, Ostern), gilt auch für die Gelegenheit. "Grüß Gott" und "Guten Morgen" und "Auf Wiedersehen". Fahrkarte vorzeigen. Trampeln im Kolleg. Den feierlichen Anzug bei der Beerdigung. Der Polterabend. Auch wenn die Handle nur einmal im Leben jedes einzelnen in Erscheinung tritt, so kann sie doch als Handle feststehen. Man sieht sie. Man hört sie. Man hört von ihr reden. Man weiß Bescheid. Je seltener sie vorkommt, desto größer allerdings die Möglichkeit, daß mancher sie nicht kennt oder sie nicht ganz kennt. Desto größer auch der Anteil des zielbewußten Lernens und des Lehrens bei ihrer Fortpflanzung. "In gleicher Weise handeln" will aber auch nicht heißen, daß alle Leute gleiche Handlungsweisen haben. Hier versagen erst recht die bisher bekannten Wörter. "Brauch" und "Gewohnheit" unterscheiden nicht das, was alle ähnlich machen, und das, was irgendwie - wenn auch verschiedenartig, so doch gliedhaft ineinandergreift. Auf "Guten Morgen" folgt wohl "Guten Morgen". Auf "Wie geht's" folgt indessen "Danke, gut". Arbeiter und Unternehmer zeigen in derselben Sache nicht dieselben Handlen; verschiedene Arbeiter in derselben Fabrik kommen ja nur durch ihre andersgearteten Handlen zum Ziele. Handlen der Offiziere und der Mannschaft greifen ineinander: die Handlen der einen setzen die der anderen voraus. "Was mich von einem Feldherrn unterscheidet", sagt Spykman, "ist, daß dieser auf einem Berge steht und schreit - und es geschieht etwas. Stehe ich hingegen auf demselben Berg und gebe dieselben Worte von mir, so verursache ich bloße Wellen in der Luft". Handlen sind also zeit- und gelegenheitsbedingt. Es gibt auch zeit-, gelegenheits- und sachbedingte Zusammenstellungen von Handlen - Handlengefüge, Handlengebilde, organi6°
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sierte Handlenganzheiten, die nicht als Handlenhaufen, sondern als Ganzheiten zu fassen sind. Es gibt keine Kultur, in welcher solche Ganzheiten nicht vorkämen. Sie machen das Aufeinander-eingestelltsein in der Gesellschaft aus. Will man aber zur Erkenntnis solcher Ganzheiten schreiten, so ist Bescheidenheit am Platze. Denn siehe! nirgends kann man Grenzen ziehen. Ist Weihnachten ohne Kaufen denkbar? Will man deswegen das Kaufen mit zu den Weihnachtsbräuchen tun? Natürlich kann man die Ehe vom Beruf des Mannes scheiden - doch wer die Ehe kennt, weiß, wieviel hier von der Berufstätigkeit des Mannes abhängt. Ist "Schule" ohne Elternhaus als Ganzheit aufzufassen? Kein Lehrer, der seines Amtes würdig ist, könnte dies behaupten. Andererseits kann die Schule vom Elternhaus zeitlich, räumlich und gegenständlich klar geschieden werden. So auch Kirche vom Staat. Und Politik von Wirtschaft. Herstellung von Vertrieb. Klar? Und wieso klar? Klar doch hinsichtlich eines bestimmten Untersuchungszwecks oder in bezug auf eine bestimmte überlieferte Anschauungsweise. Ich erinnere mich zum Beispiel noch an die Zeit, wo Elternhaus und Schule nichts gemeinsam haben sollten. Wagner und Schmoller zum Trotz gibt es noch Wissenschaftler, die in einer mir völlig dunklen Weise glauben, sich eine "freie, vom Staate unbeeinflußte Wirtschaft" vorstellen zu können. Wir dürfen aber das Aufeinander-eingestellt-sein in der Gesellschaft nicht vergessen. Das heißt doch: Handlen tun sich irgendwie zusammen. Es heißt nicht weniger: ein Ende, eine Grenze dieses Sich-zusammentuns ist nicht zu finden'. 8 Exkurs: Der rechtlichen Unterscheidung zwischen Beziehungen zu Sachen und Beziehungen zwischen Personen könnte eine Unterscheidung zwischen Handeln der Technik, also der Sachbearbeitung, und Handeln zwischen Personen entsprechen. Großartig hier die Analyse von Veblen (Theory of Business Enterprise - schon 1904!; The Engineer and the Price System; Absentee Ownership), indem er die Technik als Einrichtungskomplex für die Gütererzeugung und die Bedürfnisbefriedigung dem Unternehmen (business oder business enterprise) als Komplex für die gewinnsteigernde Drosselung der technischen Produktionstätigkeit gegenüberstellt. Im Recht scheinen mir allerdings Hohfeld (Fundamental Legal Conceptions) sowie Corbin und Cook in ihrer Weiterführung der Hohfeldschen Gedanken (44 Harvard Law Review 1257) schlagend dargetan zu haben, daß auch die sogenannten rechtlichen Beziehungen zu einer Sache in Wirklichkeit Beziehungen zwischen Personen hinsichtlich einer Sache sind. Auf diesem Gebiet läßt sich also die gebräuchliche Unterscheidung nicht aufrechterhalten, das heißt sie führt zu Unklarheiten und Zweideutigkeiten, welche durch den Hohfeldschen Ansatz beseitigt werden. Auch auf gesellschaftlichem Gebiet ist die Unterscheidung trotz ihres großen Nutzens doch in einem anderen Sinne höchst willkürlich. Das sah Veblen: die Drosselung der technischen Leistung! Dabei vollzieht er den übergang von der Sache zu den sich auf diese Sache beziehenden Handlen, wenn er ausführt, daß vermeintliches "Sach"kapital zweck- und sinnlos, ja für die menschlichen Zwecke überhaupt nicht existent ist, wenn nicht die dazugehörige Technik (das heißt die dazugehörigen Handlen) hinzukommen.
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Wollen wir denn vor diesem Ameisenhaufen stehen und nichts erkennen? Die Achsel zucken und uns mit einem "tje nun, was kann man machen" zufrieden geben? Beileibe nicht! Schon daß in uns Kulturstoff steckt, daß wir an unserer, aus unserer Kultur gestaltet sind, besagt uns, daß für uns erkennbare Kleinordnungen in der großen aufzufinden sind. Mindestens Seiten, Phasen, Zusammenhänge, die ortsüblich unterschieden werden, können wir in ihrem Kern erkennen. In ihrem Kern, nicht an den Rändern. Was macht uns das? Was kümmern uns die Ränder? Packen wir nur einen Kern, haben wir ihn intus, so können wir getrost und froh das Ineinander an dem Rand erkennen; so tritt der Kern deutlich in Erscheinung, weil wir sein Zahnradspiel mit den anderen Kernen sehen. Das bedeutet nicht, daß wir uns unwirkliche Grenzen vortäuschen. Auch nicht einen unwirklichen "klaren, wahren" Sinn des Handlungsgefüges 7 • Der Wert des "Sinnes", den wir aufstellen, ist an seinem Ergebnis zu messen. Wird mit seiner Hilfe für uns Klarheit, so ist es gut 8 • Sonst müssen wir einen anderen "Sinn" Was soll ein Bantuneger mit einem Traktor anfangen? Für ihn ist dieser eine Belästigung, keine Kapitalanlage. Selbstverständlich kann der Gedankengang hier nicht abbrechen. Sobald die geringste Arbeitsteilung eintritt, erst recht das geringste direkte Zusammenarbeiten, verschmelzen die technischen, sachbezogenen Handlen mit den menschenbezogenen. Aale werden z. B. in den Ostseebodden von Einzelmenschen gestochen. Insofern hat der technische Handlenkomplex keine zwischenmenschlichen Beziehungen. Wer sich aber die Stechenden ansieht, bemerkt, daß einige nur mit einer Hand stechen, andere mit beiden; und er erfährt, daß das Recht zum Stechen faustweise erworben werden muß. Er bemerkt auch, daß 6 - 10 Mann aus einem Boote stechen. Hier wird die Technik offensichtlich durch zwischenmenschliche Beziehungen (politische, eigentumsrechtliche) bedingt. Sollte Maschinenstechen aaltechnisch möglich werden, so würden jene menschenbezogenen Handlenkomplexe, die wir Kaufkraft und Kapitalanlage nennen, die technischen Handlen weiter bedingen. Ob eine Aalschonzeit (eine MenschAal-Beziehung, welche heutzutage durchweg nur einen Reflex einer MenschMensch-Beziehung darstellt) gegeben ist, weiß ich nicht; bei der amerikanischen Lachsfischerei mußten jedenfalls verschiedene technische Erfindungen gerade wegen ihrer übergroßen Wirksamkeit staatlich außer Betrieb gesetzt werden. Sie gefährdeten den weiteren Fischbestand. Was Eigentum und Kreditwesen (also wieder Handlen zwischen Personen) für einen Einfluß auf die "sachbezogenen" Handlen der industriellen Wirtschaft haben, braucht nicht einmal erörtert zu werden. Man erinnere sich daran, daß die "Rentabilität", welche die Anwendung der Technik bedingt, ebensosehr von Kaufkraftverteilung und den jeweils herrschenden Handlen (Mode; Leder- und keine Holzschuhe; Schlipse, Weißbrotprestige) und Wertungsschichtungen abhängen (Einschätzung des amerikanischen Geschäftsmannes je nach der Marke seines Autos, Wohnbezirks, Bürolage und -möblierung, Schmuck und Kleidung seiner Frau; Bevorzugung von Fleisch oder Reis oder frischem Gemüse; lieber Kinobesuch als Bücherkauf). Weshalb sonst das Reklamewesen? Weniger beachtet wird indessen, daß auch die industriellen Handlen ebenso stark auf Beziehungen zwischen Personen wie auf Sachhandhabung gerichtet sind: Arbeitsteilung, Führung, Disziplin in den Fabriken (vgl. J. R. Commons, Legal Foundations of Capitalism). 7 "Sah sah die Idee des Hunds, sah den Hund, den Hund an sich." 8 " ••• daß sie aussah wie ein - Hund".
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suchen. Und jeder solcher Sinn muß dem gerecht werden, was uns an Handlen in den Tatbefunden vorliegt. Dabei ist eines zu bedenken. Die Aufmerksamkeit, das Denken, die Begriffsweite des Menschen ist variabel. Mal das Bankwesen, mal eine Bank, mal eine Bankfiliale, mal den Betrieb an einem Schalter will man sehen. Jeweils als ein "Ganzes", jeweils aber ebenfalls als "Teil" des Größeren. Einheiten, Ganzheiten müssen wir mithin beliebig wählen - willkürlich, wenn Sie wollen - je nach dem Zweck der einzelnen Betrachtung. So wie vorhin "Gruppe" und "Gesellschaft" elastisch aufzufassen waren. Und hierin liegt eine Gefahr. Es kann sein, daß das, was für eine kleinere Einheit gilt, in größeren Einheiten nicht wahrzunehmen ist. Geben die Begriffe (Gruppen, Gebilde, Einrichtung, Trecht) nicht an, wie groß denn jeweils ihr Inhalt zu messen ist, so stellt sich schnell ein schiefes Denken ein. Doch bleibt nichts übrig, als dieses gewagte Spiel zu riskieren. Werden Fehlschlüsse oder Fehlbetrachtungen aufgedeckt, so müssen wir eben neu von vorn beginnen. Wie sind denn diese ineinandergreifenden Handlen zu gliedern? Einerseits nach Personen, Zeit und Ort. Von Weihnachtsbräuchen und vom Erntedankfest habe ich schon gesprochen. Vom Münchener Fasching hätte man ebenfalls reden können oder vom Oberammergauer Passionsspiel. Wer an ein Königreich denkt, denkt auch in erster Linie an den König - und zwar als Einrichtung, wenn auch als eine Einrichtung, die mit dem Wesen und Treiben einer jeweils bestimmten Person aufs innigste zusammenhängt. Ebenso, wenn man vom altpolnischen Adel, vom preußischen Junkertum, von der Bauernwirtschaft redet. Von der Leipziger Messe. Vom Gericht. Natürlich gehen derartige Gliederungen meist nicht reinlich nach einem Prinzip vor sich, bestimmen sich nicht allein durch die Personen, durch die Zeit, durch den Ort. Die Messe setzt auch einen Zweck voraus. Das Königreich richtet sich in erster Linie nicht nach dem Geschmack eines bestimmten Königs hinsichtlich der Barttracht oder der Schlipse (wiewohl das Königreich als Einrichtung auch mit einbezieht, daß unter der Aera Friedrichs der Vollbart, unter der Aera Wilhelms der hoch gezwirbelte Schnurrbart, unter der Aera Friedrich Wilhelms die englische Mode um sich greift). Königreich als Begriff richtet sich jedoch auf die königlichen, nicht auf die persönlichen Handlungen - vor allem auf die königlichen Handlen des Königs samt den entsprechenden Handlen derer, deren Handlen ihn eben zum "König" machen9 • "Das Gericht" heißt nicht nur ein Ort, auch nicht allein das Personal, sondern zugleich und vor allem ein bestimmtes sachbezogenes Verhalten dieses Personals an diesem Ort. An Personen-, Orts- und Zeitzusammenhänge knüpfen wir also auch Sachoder Sinnzusammenhänge an. Jenes, weil es uns wörtlich so vorkommt, 9
Vgl. Spykman, S. 11.
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weil es sich eben in solcher Gliederung ereignet; dieses, weil wir es uns so vorstellen, weil wir uns gewisse zeit-, orts- und personenverschiedene Handlen "sachgemäß" als eine Einheit denken. Ein Tabakgeschäft kann man ebenso gut nach Zeit-, Orts- und Personenzusammenhang auffassen wie nach Sachzusammenhang. Das Tabakgeschäft wird man kaum anders als nach Sach- oder Sinnzusammenhang auffassen können. Meist gehen die beiden Gliederungsweisen ineinander über - schon wegen der Arbeitsteilung und des Spezialistentums. "Rechtssatz" ist ohne jeden Zweifel sach- oder sinnbestimmt. Ist er aber als soziologische Erscheinung etwa weniger personenbedingt? Selbst in der Dogmatik wird seine Ortsbedingtheit zugegeben: im allgemeinen gilt er nur für ein bestimmtes Gebiet. Wie man aber auch ans Werk geht (dieser König, das Königtum dieses Landes in jüngster Zeit, Könige westeuropäischer Länder in der Neuzeit, Könige überhaupt), man kann nie von einem bestimmten Sinnzusammenhang loskommen. Wie man auch an die Arbeit geht, die Grenzen dieses Sinnzusammenhanges bleiben willkürlich, bestimmen sich nach dem Zweck der jeweiligen Betrachtung. "Einheiten", "Ganzheiten" lassen sich also niemals vorfinden; sie werden konstruiertl°. In einem anderen Sinne jedoch keineswegs willkürlich. Welche Gliederung man auch vornimmt, überzeugend soll sie werden. Ferner soll sie gliedern, was gegeben ist. Auch soll die Gliederung ein brauchbares Endergebnis erzielen, nach irgendeiner Richtung. Sachgegenstand, Zweck und Leserkreis werden also der Willkür der Gliederung Schranken setzen. Hier wie beim Rechtssatz und beim Richter heißt jedoch Schranken setzen durchaus nicht: das Resultat bestimmen. Diejenige Vorstellung nun, welche der Gliederung zur Brauchbarkeit verhilft, ist die der Funktion (im biologischen Sinne: welcher Teil des Arbeitsganzen wird hier geleistet?), der gesellschaftlichen Aufgabe (was wird hier Nützliches verrichtet?), des Zwecks (wozu soll das in der Gesellschaft dienen?), des Sinns (was bedeutet das in der Gesellschaft?) einer Handlenmehrheit. Auch hier ist wieder vor Willkürlichkeit zu warnen. " Funktion " setzt ein bestimmtes Arbeitsganzes voraus, einen bestimmten ins Auge gefaßten Teil und ein erkennbares Verhältnis zwischen beiden. Auch hat Funktion den Beigeschmack von Wertung: das, was gesund ist für das Ganze. "Aufgabe" hat den Beigeschmack von ethischer oder gottgewollter Wertung. "Zweck" und "Sinn" werten nach metaphysisch vorausgesetzten Entwicklungsrichtungen, die "wahr" und " richtig " sind. Ein solcher "höherer" Sinn 10
"Seltsam ist und schier zum Lachen, daß es diesen Text nicht gibt, wenn es keinem Blick beliebt, ihn durch sich zu Text zu machen. ce
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kommt hier nicht in Betracht. Auch die Vorstellung von "Gesundheit" nur, wenn sie ausdrücklich erwähnt wird. Nicht also das will ich besa~ gen, was dem "wahren" Menschen entspricht; noch was der Gesellschaft Heil verheißt. Hier richtet sich das Auge auf etwas viel Bescheideneres, wenn es auch fast ebenso schwer zu ergreifen sein mag: auf den Zweck, die Aufgabe, die ein bestimmter Handlenkomplex in einer gegebenen Kultur für die dortigen Leute zu erfüllen scheint. "Der Markt" soll z. B. einerseits eine angemessene Lenkung der Produktivkräfte, andererseits eine angemessene Verteilung der Produktion bewirken. "Die Schule" soll angemessen erziehen. "Das Recht" soll angemessen lenken und Ordnungsgefahren beseitigen. Wir wollen uns hier vorläufig nicht mit dem (äußerst wichtigen) Angemessen-sein abquälen. Klar ist zumindest, daß der Markt tatsächlich Produktivkräfte und Verteilung lenkt, daß die Schule faktisch irgend wie erzieht, daß Recht und Trecht wahrnehmbar mit Lenken und Streitbeseitigung beschäftigt sind. Zwar kann man sich nicht derart leicht von Wertbegriffen unabhängig machen. Ein Wertbegriff ist bereits im Spiele, wenn man Richterhandeln als auf Streitbeseitigung gerichtet deutet. Erst recht tritt der Wertbegriff auf, wenn der Beobachter einem Handlenkomplex eine Bedeutung, einen Sinn, eine Einheitlichkeit der Aufgaben zuschreibt, welche den Begriffen der Handelnden selber nicht entspricht. Das ursprüngliche Depositenwesen diente in den Augen der Beteiligten dazu, Geldstücke an einem sicheren Ort unterzubringen. Nun meint der Wirtschaftler: "eigentlich" sei das ziemlich unrichtig. Den "eigentlichen" Sinn finde man in der Erkenntnis, daß hier eine Vorstufe zur Entwicklung des Bankguthabens als Umlaufmittel vorliege. Der Richter beseitigt den Streit, indem er ehrlich meint, nur den Gesetzesparagraphen anzuwenden, und sich selbst jede Befugnis zur Rechtsschöpfung abspricht. Nach zwanzig Jahren solcher Tätigkeit stellt sich heraus, daß aus der Streiterledigung neue Rechtsnormen, neue Rechtsbegriffe, neue Rechtsinstitute hervorgegangen sind, obwohl der in Frage kommende Gesetzestext noch unverändert fortbesteht (Sicherungsübereignung; die Aufwertungsrechtsprechung; die Nichtbeachtung eines Gesetzes als verfassungswidrig; die französische Entwicklung der Haftung für Arbeits- und Autounfälle). Wer dies so sieht, stellt nicht nur fest, er wertet auch, wenn er behauptet, der Richter habe zugleich als "Aufgabe" den kumulativen Ausbau und die Umgestaltung der Rechtssätze. Um subjektive Wertungen kommen wir also nicht herum. Wir werden aber möglichst skeptisch mit ihnen umgehen. Vor allem, wenn es sich darum handelt, inwieweit ein bestimmtes Handlengebilde dieser oder jener seiner "Aufgaben" gerecht wird, inwieweit es eine solche "Aufgabe" ordentlich erledigt. Hier werden wir versuchen, an der Erkenntnis festzuhalten, daß "die" derart aufgefaßte Aufgabe nicht ein-
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wandfrei objektiv gegeben sein kann. Eigentlich müßte es heißen: wenn wir das Gebilde an unserer Vorstellung über seine Aufgabe messen, so finden wir ... Der Totenkult zehrt z. B. Kapital auf, und zwar zu einer Zeit, wo Kapital in der Gesellschaft dringend gebraucht wird l l . Daß der Totenkult die Gesellschaft vor dem Gefürchteten wirksam schützt, vermögen wir nicht zu erkennen. Insofern sehen wir die Kapitalverwendung als Verschwendung an, die Einrichtung des Totenkults als untunlich. Sachgerechter wäre aber die Einrichtung etwa so aufzufassen: "In jener Kultur lagen sowohl die Werte wie auch die Erkenntnis anders als in unserer. Dort befriedigte man sein Gewissen, sein Prestige, sein Bedürfnis nach Zuversicht gegenüber dem Ungewissen auf Kosten des materiellen Wohlstandes, ja der aktuellen Sicherheit. Soweit eine Versicherungsprämie gegen Unheil in Frage kam, beruhten die ihr zugrunde liegenden Vorstellungen über Naturvorgänge auf falschen Beobachtungen; heute nennen wir sie Aberglauben. übrigens scheint uns klar, daß schon die starke Beschäftigung mit dem Gespenst des Jenseits sehr dazu beitrug, daß man die Vorteile der Kapitalbildung nicht nur unterschätzte, sondern kaum verstand." Oder auch: "In jener Kultur wertete man die Beständigkeit des Wortes im Rechtsleben außerordentlich hoch, auch die Teilung der Gewalten. Dadurch, daß man den Richter am Gesetzessatz gefesselt halten wollte, suchte man Sicherung gegen gesellschaftliches Unheil, erlangte auch zumindest den ideellen Wert der Zuversicht. Der Preis war allerdings hoch, indem man dem Richterstand außerordentliche Schwierigkeiten beim Ausbau, bei der Neubelebung des Rechtswesens in den Weg legte. Sowohl das Ziel, den Richter festzunageln, wie auch das Mittel, Streitausgang durch Worte zu bestimmen, beruhten - wie wir heute erkennen - auf unhaltbaren Beobachtungen; heute sind sie als Aberwissen anzusehen. Und es ist offensichtlich, daß die vorwiegende Beschäftigung mit dem Gespenste des Richterautomaten sehr dazu beitrug, daß man die Vorteile der Rechtsentwicklung am Streitfall nicht nur unterschätzte, sondern kaum verstand." Diese Relativität jedes Gebildebe.griffs, sei es nach Umfang, sei es nach "Sach"bestimmung, führt zu zwei für das Rechtsleben hochbedeutsamen Beobachtungen. Erstens sind Personen-, orts- und Zeitzusammenhänge ungleich leichter zu erfassen als Sinnzusammenhänge. Es ist demnach zu erwarten, daß die Frühbegriffe für ein Gebilde sich stark nach dem gleichzeitigen Auftreten der Handlen richten. Solche Frühbegriffe sind aber die für das Rechtsleben und Rechtsdenken typischen Grundbegriffe. Man redet immer noch von Kauf zu einer Zeit, in der der Lieferungsvertrag das typische Kaufgeschäft ist, das trechtlich 11
Material in E. Bruck:, Der Totenteil.
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interessiert 12 • Der Kaufbegriff baut aber unverkennbar auf dem Barkauf eines den beiden Parteien vor Augen stehenden körperlichen Gegenstandes auf. In dieser Form kam er in das Recht. Hatte er sich dort erst einmal festgesetzt, so kann das Leben, kann das Handlengefüge sich wandeln, wie es will. Der Jurist gibt den Urbegriff doch nicht deshalb preis, weil er nicht mehr paßt. Im Gegenteil. Alles, was anders ist, wird dann in dieses Primitive hinein zurückkonstruiert. Ich sprach neulich mit einem deutschen Rechtsgelehrten - übrigens einem gescheiten, aufgeweckten Kopf, daher hierfür besonders lehrreich - über die Kabelüberweisung ins Ausland. Ich hatte eine Arbeit darüber gelesen, die mich interessierte. Er lehnte ihre Besprechung kurzerhand ab. "Der Mann versteht die Sache nicht ... Sie ist als Kauf zu konstruieren." An der dogmatischen Korrektheit oder Nützlichkeit der Ansicht liegt mir nichts. Mir ist an der Anschauungsweise gelegen. Diese beherrscht das Recht - in jedem Land und zu jeder Zeit. Nur nicht neue Begriffe schaffen, weil die zu regelnden Handlenkomplexe neu sind. Auch nicht, wo neue Abarten von Handlenkomplexen vorliegen, neue Abarten von den Rechtsbegriffen suchen. Sondern im Zeichen des Prokrustes weiter! Und nur wider Willen, nur unversehens, nur von seinem (rechtlich kaum als anständig anzuerkennenden) Gefühl für die neuen LaienHandlengebilde geführt, ihnen hier und dort Zugeständnisse machen, welche dann erst nach zwanzig Jahren von irgendeinem brillianten Wissenschaftler plötzlich als schon gewordene neue Rechtsgebilde unter dem heftigen Widerstreit seiner Genossen - gesehen und verkündet werden. Grundlegend für das Rechtsleben ist also, wie Ehrlich betont, daß das Handlengebilde, auch wohl meist der entsprechende Laienbegriff, vor dem Rechtsbegriff da war. Nicht immer (Arbeitslosenversicherung; Neuschöpfungen des Leittrechts überhaupt); doch zumeist. Grundlegend ebenfalls, daß der Rechtsbegriff ungleich zäher die Form des ursprünglichen Handlengefüges beibehält als das Handlengefüge selbst1s • Die zweite für das Rechtsleben hochbedeutsame Beobachtung ist diese: in den seltensten Fällen kann man einem Handlenkomplex nur eine Aufgabe zuschreiben. In der modernen Technik, etwa am Fließband, kann man solches zwar finden. Aber, wie wir wissen, ergibt auch hier oft ein weiteres Nachsinnen, daß man immer noch zwei oder drei Aufgaben unzweckmäßig miteinander verbunden hat. Wenn aber die 12 Hierzu meine Cases and Materials on the Law of Sales, passim. Interessant und nicht ohne Einfluß übrigens, daß der Römer emptio-venditio, der Engländer sale, der Deutsche Kauf als Grundbegriff festlegt. Im Liegenschaftsrecht spricht der Engländer nicht von sale, sondern von vendor and purchaser. Und das Recht gestaltet sich dann demgemäß. Zum Teil zeigt diese Ausdrucksweise nur den Zustand an, zum Teil trägt sie zu ihm bei. 18 Vgl. Kap. V.
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Gebilde mehr gewachsen, geworden als planmäßig erfunden sind, wenn sie mehr an Orts-, Zeit-, Personenzusammenhängen ausgerichtet sind als an Sachzusammenhängen, dann neigen sie dazu, mit der einen Gebildemaschine mehrere unterscheidbare Aufgaben erledigen zu wollen. Wenn man das Gebilde nun für einen Augenblick als einen Bau, als eine Struktur ansieht, die sogenannte Aufgabe aber als den zu erfüllenden Zweck, so kann man den Sachverhalt folgendermaßen ausdrücken: 1. Selten ist der Bau ganz auf die Erfüllung eines einzigen Zweckes zugeschnitten. Das trifft auch dort zu, wo der Bau ausnahmsweise bewußt geschaffen wurde, um diesen Zweck zu erfüllen. Die Erfindungskraft und die Erfahrung reichen eben selten aus, um einen vollkommen zielgerichteten Bau zu schaffen. "Die" gesellschaftliche wie "die" technische Erfindung sind vielmehr Endpunkt eines Häufungsvorgangs, einer lang dauernden Versuchsreihe u .
2. Auch wenn ein Bau einigermaßen für einen einheitlichen Zweck errichtet worden ist, so besteht doch eine fortwährende Tendenz, ihn daneben für andere Zwecke zu verwenden und auf diesem Wege der Fortentwicklung neue Zwecke beizumischen. Die Lübecker Turnhalle wird zur Zeit als Gerichtssaal für den Prozeß über das Calmette-Verfahren 15 gebraucht, obwohl sie kaum zu solchem Zweck bestimmt war. Ähnliches gilt für strukturenhafte Sozialgebilde. Man liest jetzt in der Zeitung, es bestehe Gefahr, daß die Einrichtung der Notverordnung vom Beamtenturn dahingehend verwendet wird, bis jetzt liegengebliebene "Lieblingsideen" endlich durchzusetzen oder schon lange unbequem gewordenen Leuten durch Beamtenabbau beizukommen. Mir liegt nicht daran, ob diese Gefahr faktisch besteht. Mir liegt vielmehr daran, daß jene Behauptungen die Verwendungsmöglichkeit der sozialen Einrichtungen kundtun. Auch bedarf solche anderweitige Verwendung keinesfalls der "Beugung" der Einrichtung. Deckt sich eine Not auf, so hilft man sich, so gut es geht, mit solchen Einrichtungen, die man schon hat. Nicht auf die Motivation, sondern auf das Endergebnis kommt es hier an. 3. Wenn zu irgendeiner Zeit mit der einen Struktur verschiedene Zwecke verfolgt werden, liegt die hohe Wahrscheinlichkeit vor, daß die Anpassung des Baues an nur einen Zweck die Erfüllung des anderen beeinträchtigt. Schnelligkeit eines Fahrzeuges ist z. B. schwer mit Schönes Material in W. F. Ogburn, Social Change. Das Calmette-Verfahren ist eine Impfung gegen Tuberkulose. Bei dem Lübecker Prozeß handelte es sich um ein spektakuläres Strafverfahren wegen Tötung von 68 und Gesundheitsbeschädigung von 131 Säuglingen durch verunreinigten Impfstoff, vgl. Ebermayer: Der Calmetteprozeß, in DJZ 1932, Sp. 317 - 321, sowie Hachenburg / Bing ebd. Sp. 788 f. und 1127 (M. R.). 14
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der Fähigkeit in Einklang zu bringen, große Lasten zu transportieren; auch mit der Dauerhaftigkeit ist sie nicht immer in Einklang zu bringen. So geht es auch mit den sozialen Einrichtungen. Wenn eine Rechtseinrichtung maximale Sicherheit und Beständigkeit erlangt, muß sie meist die Elastizität dafür preisgeben. Wenn man dem strittigen Sachverhalt auf den Grund gehen will, so ist ein schnelles Verfahren schwer zu erzielen. Wenn man dem Vorstand die volle Möglichkeit einräumen will, die Geschäfte auch im unvorhergesehenen Notfall zielsicher zu führen, so muß im Gesellschaftsrecht die Kontrolle aufgeschoben, die Gesellschaftsdemokratie aufgehoben werden. Häufig ist es nicht zu vermeiden, daß der eine Zweck dem anderen ein Bein stellt. Man kann das nur dann verhindern, wenn nach einer einsichtigen Zweckanalyse eine sachverständige Untersuchung der Verhältnisse erfolgt und dann eine zielsichere Erfindung und Gestaltung von Mitteln und Wegen stattfindet. Diese hier behandelten, sehr gewagten Hypothesen bilden den Grundplan meiner Vorlesungen. Wir versuchen, faßbare Handlengefüge, faßbare Einrichtungskomplexe im Trecht zu finden; wir untersuchen diese, um ihre Zwecke oder Aufgabe zu erkennen und um ihre Leistungsfähigkeit bei der Aufgabenerfüllung abzuschätzen. Sollten wir mit der Leistungsfähigkeit nicht zufrieden sein, dann bleibt die Frage, wie eine zielgerechtere Umgestaltung technisch möglich wäre, wobei wir nicht vergessen dürfen, daß ein vorübergehender Aufgabenwiderspruch wahrscheinlich zur Zeit nicht zu beheben ist. Bei diesem Programm (wie schon bei der Analyse der Gesellschaft) kommt uns die Vorstellung einer Spezialisierung - sei es bezüglich der Arbeitsteilung, sei es bezüglich des menschlichen Spezialistentums - sehr zugute. Wir sahen bereits, daß die Handlen zu einem überaus großen Teil nicht Gemeingut des Volkes sind, sondern vielmehr das Gut besonderer Volksschichten oder Interessengruppen. Die Handlen der Ehe stehen dem Junggesellen nur in sehr beschränktem Maße und aus zweiter Hand offen. Die Handlen des Straßenbahnführers sind dem Fahrgast meist dunkel. Der Jurist weiß wenig von der medizinischen Diagnose. Und so weiter. Auch innerhalb eines besonderen Faches teilen sich sowohl die Handlen wie deren "Besitz". Es ist also zu erwarten, daß je nach der Gruppengliederung das, was die Menschen tun, das, was sie können, und dementsprechend das, was sie sind, verschieden sein wird. Dies zur Erkenntnis der Gesellschaft. Geht es dann aber an die Kritik, dann tritt die Erkenntnis in den Vordergrund, daß die bisherige Tendenz der planmäßigen Spezialisierung - sei es der Einrichtungen je nach Zweck, sei es der Leute je nach Fähigkeit und Zweckbeschäftigung - am weitesten zu führen scheint. Was wir wollen ist, aus dem gegenwärtigen, nicht ganz zielgerechten Spezialistentum ein
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besser organisiertes, zielgerichteteres zu schaffen, das zwar geduldig die Gegebenheiten als notwendige Grundlage, auch als Ausgangspunkt für die Kritik nimmt, das aber mit diesen Gegebenheiten und ihren Ergebnissen sich nicht abfindet. Ich darf Sie nicht zu sehr ins einzelne führen, Sie derart mit den Verästelungen des Handlengefüges der Gesellschaft beschäftigen, daß Ihnen das Gefühl dafür verloren geht, welche Riesenmasse von gegebener Beständigkeit, von fortdauerndem Geregeltsein uns umgibt und uns nacll. ihrem Bilde formt. Was Sie auch machen, bis in die intimsten Eigenarten Ihres persönlichen Tuns spiegelt sich nur dieses sozial Gegebene wider. Sie tragen Jacke und Hose. Sie putzen Ihre Schuhe. Die Haartracht bleibt in einem relativ inhaltsarmen Rahmen. Was Sie essen, was Sie kaufen, was Sie träumen, das baut sich nach dem Muster der gegebenen Handlen zusammen. Sie können sich von ihnen gar nicht losmachen. Wie ein J apaner können Sie nicht denken, nicht empfinden, erst recht nicht träumen. Sind Sie ein Bürgerlicher, so sehen Sie zumeist gar nicll.t ein, was die Arbeiter wollen, weshalb sie es wollen, noch weniger, wie Sie vernünftigerweise eigentlich mit ihnen darüber reden können. Sind Sie ein Arbeiter, so geht es Ihnen hinsichtlich der Bürgerlichen ebenso. Allerdings nicht ganz. Denn in der Gesamtkultur Westeuropas geben die Bürgerlichen immer noch den ausschlaggebenden Ton an, der deshalb jeder Schicht wenigstens teilweise verständlich werden muß. Wollen Sie aber eine umfassende Vorstellung von der prägenden Kraft der bestehenden Handlen bekommen, so müssen Sie an die Neugeborenen und an die "Erziehung" denken. Haben Sie je ein Kind in seinen ersten Jahren beobachtet - selbst ein "liebes"? Haben Sie dann nicht bemerkt, welcll.e unübersehbare Sprengstoffmasse für die Gesellschaft in jedem dieser Kinder steckt? Habgier, Jähzorn, Herrschsucht, Eigenwillen, Unbändigkeit, ja allein Nichtwissen - was sollte werden, wenn diese Kinder schon mit voller Manneskraft geboren würden? Nach 20 Jahren sind es friedliche, berechenbare Leute. Wollten Sie behaupten, daß ein mit Manneskraft geborenes Kind in irgendeinem heute verständlichen Sinne ein Mensch wäre? Das, was den Menschen zum Menschen macht, ist die Kultur. Wie kommt es nun, daß dieses brüllende, ungezähmte, ziellos hin und her fucll.telnde Geschöpf nach wenigen Jahren nicht nur Mensch ist, sondern unverkennbar, berechenbar auch Deutscher oder Franzose, Stadtkind oder Landkind, Arbeiterjunge oder Bürgerjunge, evangelisch oder katholisch? Es muß diesen Handlen eine kaum geahnte Gestaltungskraft innewohnen, daß sie die Tausenden und Abertausenden von ungeformten Fleischklumpen zielsicher, kunstgerecht, ja rettungslos wie weiches Wachs quetschen, aushöhlen, in die gegebene, nach der
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gegebenen Form ummodellieren. Mit dem Vorgang als solchen kann ich mich hier nicht aufhalten. Es bleibt nur - wenn auch im Vorbeigehen - zu erwähnen, daß das bewußt eingerichtete Schulwesen daran einen Anteil, wenn auch nur einen recht geringen, hat. Was uns nottut, ist nicht nur das Begreifen, sondern das Empfinden dieser Beständigkeit, welche nicht nur fortbesteht, sondern das Material zu ihrem eigenen Fortbestand neu und immer wieder neu hervorbringt. Was uns nottut, ist die Erkenntnis - nicht nur mit dem Geiste, sondern mit dem Gemüt - , daß sich die Ordnung in der Gesellschaft unentwegt auf eines richtet: daß sie bleibe.
Fünftes Kapitel
Spielraum und Normen: das Rechtsgefühl Um das Rechtsleben in seiner Bedeutung für die Gesellschaft zu erfassen, müssen wir unser Studium vorab dem Wesen der Gesellschaft widmen, dürfen dabei auch nicht voraussetzen, daß dieses Wesen auf Staatsrecht oder Staatstrecht zurückzuführen ist. Dabei kommt es uns bei diesem Vorstudium auf die große Hauptmasse des Handeins im Leben an, nicht auf die Kleinmasse der Streitfälle. Zur Gesellschaft gehört begriffsnotwendig die Ordnung, das heißt hinreichendes Geordnetsein, Berechenbarkeit, Aufeinandereingestelltsein der betreffenden Menschen in ihrem Handeln, so daß dieses Handeln als Einheit gedacht werden kann. Das gleiche gilt für den Begriff der Gruppe. Solches Aufeinandereingestelltsein der Handlungen setzt Wiederkehrendes, also Handlungsmuster, "Handlen" .voraus, welche die sie "tragenden" Individuen überdauern, welche also soziales Gut sind, welche auch ineinandergreifen und so größere "Einheiten" - die Gebilde schaffen. Der Handlenschatz tritt aber weder für den einzelnen noch für die Gesellschaft insgesamt als Ganzes in Erscheinung. Es gibt zeit-, orts-, gelegenheitsbedingte Handlen, die dennoch feststehen. Auch handeln nicht alle Leute gleich, vielmehr greifen - wie erwähnt - zumeist verschieden geartete Handlen zahnradweise ineinander; jede Grenzziehung für die daraus resultierenden Gebilde ist zwar willkürlich, doch ist meist der Kern unzweideutig zu erkennen. Da wir mal das Große, mal das Kleine betrachten wollen, so wird die Größe unserer jeweiligen Einheit, unseres jeweiligen Kerns, bei den Gebilden wie bei der Gruppe sich fortwährend verschieben. Auch herrscht bei Beobachtern wie bei Beteiligten keine übereinstimmung über das zu wählende Bauprinzip eines Gebildes: die Einheit kann vorwiegend aus Zeit-, Orts-, Personen- oder Sachzusammenhang bestehen oder auf einer Zusammensetzung mehrerer solcher Prinzipien beruhen. Nur muß die Gliederung dem Stoff hinreichend getreu sein, um sich für den jeweiligen Forschungszweck als brauchbar zu erweisen. Nützlich ist es auch, falls irgendein Handlengebilde aufgestellt wird, nach der Aufgabe zu fragen, welche das Gebilde zu erfüllen scheint sei es nach Ansicht der Beteiligten, sei es nach Ansicht des Beobachters.
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"Aufgabe" und "Sachzusammenhang" können oft zusammenfallen. Da aber die Frühbegriffe dafür, was die Handlenganzheiten sind, vorwiegend durch Zeit-, Orts- oder Personenzusammenhang bestimmt sind und sich dann im Recht besonders zäh trotz Wandels der Verhältnisse behaupten, finden wir im Recht dasjenige scharf ausgeprägt, was auch sonst zu erwarten ist: nämlich daß "ein" Gebilde meist mit mehreren unterscheidbaren Aufgaben ringt, wobei die Anpassung der Struktur an die Erfüllung der einen Aufgabe typischerweise die Schwierigkeiten bei der Bewältigung der anderen erhöht. Gebilde, Aufgaben, die tatsächliche Leistung und die Leistungsfähigkeit der Gebilde, die Möglichkeiten einer zielgerechten Anpassung des Gebildeapparates - das beim Recht und Trecht zu erforschen, ist Grundplan dieser Vorlesungen. Dabei kommt als weitere Arbeitshypothese die Annahme hinzu, daß eine weitere planmäßige Spezialisierung - sei es von Menschen, sei es von Einrichtungen - vielleicht (im Maße ihrer praktischen Durchführbarkeit) am ehesten zum Ziele führen kann. über der Komplexität des Handlenbaues darf man dessen Größe und allumfassenden Charakter nicht vergessen. Diese erhellen sich schlagartig, wenn man sich den Werdegang vom Neugeborenen zur kulturellen Persönlichkeit überlegt. Zugleich erkennt man die ungeheure Kraft, mit der die Ordnung auf ihr eigenes, unverändertes Weiterbestehen hindrängt. Bisher ist von kanalisierten Handlungen in der Gesellschaft die Rede gewesen. Von Handlungen, welche ob ihrer Regelmäßigkeit vorauszusehen sind. Ohne solche keine Gesellschaft. Daß Menschenhandein gleichmäßig ist, muß auch deshalb betont werden, weil wir es so gewohnt sind. Ohne die Betonung denken wir nicht daran. Mit der Betonung denken wir nur oberflächlich daran. Uns 5 Minuten ungestört hinzusetzen, den eigenen Tagesablauf von gestern oder heute Punkt für Punkt zu überlegen und die Rolle des Handlenhaften in ihm gefühlsmäßig wahrzunehmen, fällt uns gar nicht ein. Das muß auf den Dichter warten. Singt er nun "Er ersann zur Weste eines Nachts die Oste" oder "Heilig ist die Unterhose" - so gehen uns plötzlich über diese Kleider- und Sprachstücke die Augen auf. Auch dann aber nicht im Allgemeinen. Indessen geben die Handlen allein kein Bild der jeweiligen gesellschaftlichen Wirklichkeit. Wir wissen von Hause aus, daß die Menschen und ihr Benehmen auch verschieden sind. Wie gleich sie auch von der Veranlagung her sein mögen, wie .genau sie sich auch dem bestehenden Handlengefüge anpassen, so variieren sie doch augenfällig in ihrem äußeren Verhalten. Wenn sich zwei Krieger auch an ihren Schilden und Speeren nicht unterscheiden, wenn sie auch beide in "derselben" Weise fechten, wenn sie auch die gleichen Kräfte besitzen, so wird doch der
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eine geschickter sein als der andere. Klar ist mithin, daß - wie molekular man den Handlungsabschnitt auch nimmt, welchen man als "eine" Handle bezeichnen will - die individuellen Muskelbewegungen der beteiligten Menschen nicht völlig gleich sein können. Daraus ergibt sich, daß der Be.griff "Handle" (wie jeder Begriff der Sozialwissenschaften, welcher Sammelbegriff, Beschreibungsbegriff und nicht ein schon im voraus Verzicht auf Wirklichkeitstreue leistender Idealtypus sein will) kein Linien-, sondern ein Streifenbegriff werden muß. Die in Frage kommenden konkreten Handlungen gehen rechts und links auseinander, häufen sich aber - immer ähnlicher werdend - in der Mitte an. Ein eindeutiges Zentrum um die statistische Norm herum ist klar zu erkennen. Rechts und links schattet sich die Ähnlichkeit ab1 • Wie weit man den Streifen ziehen soll, was man an der Grenze gerade noch dazu zählen soll, darüber könnte man verschiedener Meinung sein. Klar bleibt nur, daß die Grenzen - wie man sie auch zieht - doch immer so liegen werden, daß sich innerhalb derselben ein unzweideutiges Mittelstück herausbildet mit zweifelhafteren, auseinandergehenden, erblassenden Schattenflügeln. Das eben Gesagte gilt für den Handlenbegriff des Beobachters. Es gilt aber nicht minder für den Handlenbegriff des Beteiligten. Das heranwachsende Kind erkennt die Handlen in erster Linie nicht auf dem Wege über eine Abstraktion, sondern an konkreten Handlungen, die sich mehr oder weniger wiederholen. Es macht "die" Handle an einem Beispiel, an dem Beispiel eines Individuums oder nacheinander an verschiedenen Beispielen nach. Das Endergebnis ist eine Gewohnheit des Kindes, welche eine neue Variante darstellt: Variationen über ein Thema der Gesellschaft sind es, die die Jugend komponiert und als neue Partitur übt. Auch bleibt innerhalb der Handle Spielraum, nicht nur für individuelle Eigenart (Unbeholfenheit, Nervosität, Geschicklichkeit, Linksersein), sondern auch für individuelle bewußte Initiative. Ein klassisches Beispiel ist wohl die vorgegebene Aufgabe des Künstlers im Mittelalter, wo oft Thema, Personenzusammenstellung, Komposition, Figurenhaltung, Figurenproportionen oder gar Faltenwurf von der Tradition vorgeschrieben werden konnten, bei der aber die eigene Gestaltungskraft des Ausführenden dennoch unverkennbar zum Ausdruck gelangte (vgl. die Waisenhausgruppe Christus und Johannes, bei der unsere Aufnahmefähigkeit nicht derart durch Häufung abgeschwächt wird wie etwa bei der stilisierten Madonna). Sehr wichtig ist die Erkenntnis dieser Streifenhaftigkeit des Sammelbegriffs, weil sie die Möglichkeit klarmacht, daß die Handle sich im 1 In bezug auf rechtliche Begriffe und die Bedeutung von Rechtssätzen verwendet Wüstendörfer das Bild vom Mond im leichten Nebel. Der Kern ist unverkennbar. Die Grenzen des Kernes sind jedoch nicht klar zu bestimmen. Auch die Grenzen nach außen sind nicht scharf.
7 Llewellyn
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Laufe der Zeit bedeutend umbauen kann, ohne daß irgendeiner der Beteiligten dessen gewahr wird. Beginnen sich die Fälle an einer neuen Stelle innerhalb des Streifens zu häufen - sei es durch reinen Zufall, sei es durch Zufall oder Initiative samt Nachahmung, sei es durch Wechsel in den Verhältnissen - , so daß die Verlegung der Mehrzahllinie nach einer Richtung hin bessere Ergebnisse erzielt und fast automatisch vor sich geht, so wird sich unvermerkt das Streifenzentrum und dementsprechend der Streifen selbst verschieben2 • Geht dieses langsam vorsich, so wird keiner wissen, daß es je anders war, es sei denn, daß in einem Mythos irgendeine der Figuren nach altem Muster gehandelt hat; dann heißt es aber nur: die Götter machen es anders als wir oder sei es, daß der im Kult notgedrungen schärfer ausgeprägte Wille zu genauer Nachahmung 3 die überlebte Handle mit neuer heiliger Bedeutung beibehält (vgl. Cilex als Opfermesser, jüdisches Festbrot ohne Sauerteig). Verschiebt sich die Handlenmitte ziemlich rasch, so wird man die Alten über den Verfall der Sitten klagen hören. Nirgends tritt solches unvermerkte Verschieben der Handle klarer zutage als beim Gebrauch der unbewußten Fiktion im Trecht. Wo Worte feststehen, neue Verhältnisse jedoch der Regelung bedürfen, da werden eben die neuen Verhältnisse den alten Worten untergeschoben. Das kann man Auslegung (richtiger Hineinlegung!) oder Anwendung (richtiger Verwendung!) nennen, das kann man Konstruieren nennen (ein sachgetreuer Ausdruck!) - oder auch Fiktion. Nicht auf das Wort soll es ankommen, sondern auf die Sache. Wenn man nur den Einzelfall ansieht, erkennt man die dort vorgenommene Änderung meist nicht, weil sie noch innerhalb des Streifens bleibt. Wer aber in der Rechtsgeschichte z. B. die "Entwicklung" der legis actiones oder im englischen Recht der forms of action oder im gemeinen Recht den Ausbau des usus modernus pandectarum4 durch die Jahrhunderte hindurch 2 Dieser Vorgang ergibt sich klar aus John Dewey: Human Nature and Conduct, ein schönes Seitenstück zu dem immer noch klassischen Werk über Tragweite und Beständigkeit der Handlen von W. G. Sumner: Folkways, 1907. 3 Zweckrational (nach meiner Auffassung; denn nur die Prämisse ist schief): sonst wird der Zauber nicht gelingen; wertrational: so und nur so ist es richtig, heilig, göttergefällig; traditional: ein Ritus wird besonders eingeprägt und von zwei Seiten in die alte Form gepreßt - gelehrt, nicht nur gelernt, und zwar unter Umständen, welche dem Lehren ungleich mehr Einfluß verleihen als heute üblich ist (darf ich mich hierbei wieder gegen die kurios anhaltende Annahme wehren, daß eine Konstatierung als solche eine Billigung oder Nichtbilligung ausspricht? Ich beklage mich z. B. nicht über den heutzutage abnehmenden Einfluß des Lehrers. Im Gegenteil.). , Der Begriff usus modemus stellt den Versuch einer gesund empfindenden, doch immer noch vollauf dogmatisch ausgerichteten Denkweise dar, Trechtsänderungen wahrzunehmen und aufzunehmen. Natürlich blieb das ausschlaggebende Prozeßrecht unbeachtet. Doch war schon viel gewonnen. Darf man jetzt auf den Begriff usus modemus des BGB oder des HGB hoffen? Die Handlen (die "ständige" Rechtsprechung) sind schon da! Siehe für
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verfolgt, erkennt, daß die meist unbewußten Verschiebungen, sobald sie sich nach einer Richtung hin häuften, das hervorbrachten, was wir aus der Entfernung neue Rechtsinstitute nennen. Hier ist - ähnlich wie in der Geologie - das Prinzip anzuwenden, daß große Änderungen in der Vergangenheit im allgemeinen (wenn auch nicht immer) auf dem Wege derselben (hier: menschlichen) Prozesse vor sich gegangen sind, die heute noch am Werke sind. In der Geologie gebraucht man dieses Prinzip allerdings, um das Gewesene zu verstehen. Im Trecht hingegen benutzen wir unsere Einsicht in die Geschichte dazu, die durch die Dogmatik verschleierten heutigen Arbeitsweisen an den Tag zu fördern. Was hat sich doch alles unvermerkt in den Begriff "Treu und Glauben" hineingeschlichen - und zwar zum allgemeinen Besten. Und dennoch wurde man dessen kaum gewahr, bis der plötzliche Ruck der Inflationszeit auch das Gewesene beleuchtete. Als man sich zum Nachsinnen hinsetzte, merkte man zwar, daß es sich hier um einen Kautschukbegriff handelte. Setzte man sich aber wieder ans Werk, so ging das Konstruieren in derselben Weise weiter, als wenn die Begriffsgrenzen seit Adam festliegen würden. Und man merkte nicht, wie der Strumpf sich reckt und dehnt, wenn der liebe Weihnachtsmann das neue Spielzeug hineinstopft. Nur ein solcher Streifenbegriff ermöglicht es auch (in Zusammenhang mit der oben erwähnten Tatsache, daß Handlen nicht stetig auftreten müssen, um da zu sein) einzusehen, wie die Handlen sich allmählich bilden, wie sie dank ihrer Tunlichkeit5 zur Herrschaft gelangen, bleiben und dann - veraltet - nach und nach absterben. Und auch hier kommt wieder eine neue Verzwicktheit in unser Gesellschaftsbild hinein. Je nach der Schnelligkeit des Wandels, je nach ihrer Durchsetzungskraft und nach den Stadien ihres Werdens schichten sich verschiedene, gleichzeitig bestehende6 Handlen übereinander, oft für dieselben Personen und denselben Sachzusammenhang, genauso wie die Momente der Trechtsbeständigkeit sich übereinander schichten. Weit mehr aber - hinsichtlich desselben Sachgegenstandes - je nach den verschiedenen Teilgruppen. Klassische Beispiele hierfür sind der Bauer in der das StGB Exner: Die Strafzumessungspraxis der deutschen Gerichte, 1931. In den Vereinigten Staaten ist man eben dabei, den usus modernus des Wechselgesetzes (Negotiable Instruments Law von 1897) als Novelle in den Kodex einzufügen. 5 Für die Interessenbefriedigung der Beteiligten nach deren Einschätzung von relativem Wert, nach deren Kenntnissen über Alternativen, nach derem Gefühl der Befriedigung oder Nichtbefriedigung. Ist Herkunftstreue an sich ein alles überragender Wert, dann ist Zweckrationalität untunlich. Auch will ich an dieser Stelle durch den ungenauen Ausdruck "Tunlichkeit" weder die Rolle des Zufalls noch die Rolle der reinen Trägheit verkleinern. Doch siehe Anhang zu Kap. IIl. G "Bestehend" wieder im Weberschen Sinn: die Handle besteht insoweit, wie die Chance besteht, daß Leute gegebenenfalls so handeln.
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Stadt oder der Neureiche. Für das Recht sind die Fälle wichtig, wo z. B. Staatshandeln und ältere Kirchenhandlen oder Bauernhandlen in bezug auf die Ehe auseinandergehen; oder Standeshandien und die neueren Staatshandlen in bezug auf den Zweikampf; oder wo die braven alten Handlen von Raubrittern, Wikingern, Seeräubern, Kaufleuten, Strandbewohnern, Straßenräubern neben denen der bürgerlichen Gesellschaft fortbestehen oder in der Hochstapelei und Unterschlagung eine moderne Wendung nehmen. Klar endlich wird - sowohl aus dem Streifenwesen der Handlen wie aus den Handlungsverschiedenheiten verschiedener Nebengruppen - , daß die Begriffe der Beteiligten, sei es über das, was eine Handle ausmacht, sei es über die Gestaltung der bei ihnen herrschenden Handlenkomplexe oder -gebilde, weder scharf umrissen sein können noch je nach Gruppen und Individuen teilweise oder ganz auseinandergehen müssen. Denn diese Begriffe bilden sich in erster Linie anhand dessen, was die Leute sehen und selbst machen. In zweiter Linie bilden sie sich allerdings anhand der ihnen bekannten Ideologie über ihre Handlen. Bei einem Naturvolk ist dieser Unterschied viel weniger ausgeprägt als bei uns. Und zwar deswegen, weil der Wandel in den Handlen meist so langsam vor sich geht, daß eine aus alten Handlen herrührende Ideologie der jeweiligen Lage doch ziemlich gerecht bleibt. Bei uns aber hinkt die herrschende Ideologie hinterher, bis das dem Blinden auffällt. "Man wirtschaftet meist", schreibt Veblen, "mit einer Ideologie, welche auf die Verhältnisse des Großvaters zugeschnitten ist"7. Welche Verwandtschaft hat z. B. unser Begriff des "Eigentums" oder des "Besitzes" (bezüglich der beschriebenen Sachlage) mit der tatsächlichen Handhabung einer FabrikS? Der Begriff baut sich auf der Vorstellung eines Kleinbauern oder kleinen Handwerksmeisters auf: Benutzung, Gewinnziehung, Ausschluß anderer, Verantwortlichkeit, Risiko, Gewinnchancen, Betriebsführung fallen zusammen. Benutzt wird die Fabrik heute von den Arbeitern, weder vom "Besitzer" noch vom "Eigentümer"; Gewinnziehung erfolgt oft mehr von Nichteigentümern (Wertpapiergläubigern) als etwa von den Aktionären; an Genuß und Risiko sind die benutzenden Arbeiter nur in zweiter Linie beteiligt, auch fällt es uns schwer, das Maß dieser Beteiligung durch den Schleier des Eigentumsgedankens zu erkennen: ausgeschlossen werden gerade die "genießenden" Aktionäre und Hypothekare, nicht aber die Arbeiter; Betriebsführung steht einer Direktion zu, die lediglich angestellt sein kann; Verantwortlichkeit zersplittert sich. Da wird die Anwendung 7 Veblen bezieht sich hier nicht nur auf die Normenkomplexe, sondern zugleich auf die Erkenntnis der jeweiligen Gesellschaftsstruktur. 8 Schön hierzu L. Frank: Institutional Analysis of Law, 24 Columbia L. Rev. 480; auch U. Moore: Rational Basis of LegalInstitutions, 23 Columbia L. Rev.
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der "Begriffe" immer kunstvoller, bis der Jurist selbst kaum nachzukommen vermag. Und dennoch wollen wir die Sachlage durch die alte Brille sehen, können es nicht vertragen, daß wir mit der Nase auf den Sachverhalt gestoßen werden - da wird "eine" juristische Person und dergleichen konstruiert, um bloß nicht zu genau das Daseiende beobachten zu müssenD. Solcher Ideologie gemäß beschreibt der Mensch sein Tun, tut aber in Wirklichkeit teilweise oder ganz etwas anderes. Die Überbrückung des Widerspruchs wird größtenteils durch Blindheit bei der Beobachtung erzielt: man sieht eben zum Teil gar nicht, was man macht. Teilweise wird die Beobachtung sogar durch Ableugnung dessen, was geschieht, erschlagen: die juristische Person ist (Glaubenssache - nicht auf die Probe zu stellen!); sie benutzt, sie besitzt, sie trägt das Risiko, sie führt den Betrieb. Endlich, wo man um die Wahrnehmung des Geschehenen nicht umhin kann, findet ein Denkprozeß der Verschönerung statt, in dem durch Kunstgriffe des Wortes das Gemachte doch noch in die Fächer der überlieferten Ideologie über das Machen untergebracht zu werden scheint. Die Anwendung auf das Trecht ist zu offensichtlich, um der Erläuterung zu bedürfen. Noch auffälliger womöglich ist allerdings dieselbe Erscheinung innerhalb eines wirtschaftlichen Betriebes - was, wie Nußbaum10 treffend angedeutet hat, bezüglich der Feststellung von Handelsbräuchen durch Sachverständige zu denken geben könntel l • e Immer wieder beleuchtet Morgenstern die Sachlage:
"Der Zaun indessen stand ganz dumm mit Latten ohne was herum." 10 In seinem Aufsatz über Gewohnheitsrecht. Nussbaum zieht auch die Möglichkeit der Aufstellung eines nach Sonderinteressen zurecht "idealisierten" Handelsbrauchs in Erwägung. Hier handelt es sich für mich allein um den Fall, wo der Berichterstatter in reinster Sachlichkeit Bericht erstatten will. Ich will auch keineswegs gegen die Einholung solcher Berichte oder gegen deren Benutzung vor Gericht auftreten. Im Gegenteil. Unter dem Fehlen einer solchen Zwecken angepaßten Einrichtung leidet das amerikanische Handelsrecht empfindlich. Doch weil eine Einrichtung besser ist als nichts und schon einen schönen Fortschritt bedeutet, braucht man nicht von ihr zu glauben, daß sie in Vollkommenheit dasteht. Gerade ihr Vorhandensein bietet die Möglichkeit einer zweckrationalen Verbesserung. 11 Einen schlagenden Beleg für das eben Ausgeführte bilden die Untersuchungen von Underhill Moore über verschiedene Phasen der amerikanischen Bankpraxis (40 Yale Law Journal). Aus der Vorgeschichte seiner Untersuchung ist besonders hervorzuheben, daß z. B. die Banksachverständigen, welche ihm die in Frage kommenden Handlen beschrieben, fast durchweg über die betreffenden Vorgänge in ihren eigenen Banken nicht Bescheid wußten. Entweder dachten sie an atypische konkrete Fälle und normierten diese oder sie gaben eine nicht bestehende ideelle Praxis als die bestehende an. Hinzu kamen die Unterschiede der Praxis sowohl in den einzelnen Banken wie in den Landesteilen. Man will eine gelernte Kraft anstellen. Weshalb heißt es aber dann sooft: Sind Sie schon in einer unserer Bankfilialen gewesen? Wenn man auch "gelernt" hat, hat man doch bei Stellungswechsel selbst innerhalb der Branche unglaublich viel Neues zu erlernen und Altes umzulernen.
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Somit finden wir innerhalb der gegebenen gesellschaftlichen Struktur, auch wo sie besonders fest zu sein scheint, einen weiten Spielraum. Dieser Spielraum wächst wie zur zweiten Potenz, wenn man das Tun nicht innerhalb einer Gruppe, sondern zwischen den Gruppen unter die Lupe nimmt. Beziehungen innerhalb der Gruppe neigen allein schon wegen der Ständigkeit der Kontakte dazu, rasch die Form von Handlen anzunehmen. Innerhalb der Gruppe sind auch die Handlungsvarianten, die Interessenkonflikte meist nicht so scharf ausgeprägt wie die zwischen Gruppen. Nehmen sie dieselbe Schärfe an, so werden sie doch wieder durch das einheitliche Gruppeninteresse, vor allem durch das Gefühl der Zusammengehörigkeit so weit aufgehoben, daß sich eine gemeinsame Arbeitsbasis herausbilden kann. Sonst hört die Gruppe auf. Hat gar die Gruppe nicht nur die Elemente einer Interessengruppe, sondern auch einen starken Einschlag von "Gemeinschaft", so steigert sich wieder die Möglichkeit, die Konflikte ihrer Mitglieder auf dem Wege über Handlen zu beseitigen. Gemeininteressen, Rücksichtnahme, Druck der Gruppenmeinung wirken dem Zwiespalt entgegen12 • Zwischen den Gruppen hingegen fehlen typischerweise der ständige Kontakt, das Einheitsgefühl, das gegenseitige Verständnis, eine zuständige öffentliche Meinung13 • Die Entwicklung von Handlen, welche die Beziehungen regeln, geht deshalb weit langsamer vor sich. Der nicht von Handlen durchsetzte Spielraum ist dementsprechend größer. Der Kontakt im freien Spielraum - sei es zwischen Mitgliedern der einen Gruppe, sei es zwischen den Gruppen - hat selten Rauferei, Fehde oder Krieg zur Folge. Es lohnt sich, für einen Augenblick die Möglichkeiten ins Auge zu fassen, die für den momentanen Ausgleich oder gar für das Zustandekommen von neuen Handlen gegeben sind. Die Betreffenden können im freien Spielraum auf ein gemeinsames Interesse stoßen. Auch wo Konflikt sich einstellt, gibt es die Erscheinung, daß sich einer einfach durchsetzt, der andere sich dreinfügt ohne Gerede, ohne eigentliche Überlegung. Man sieht es oft, wenn zwei Passanten zugleich durch dieselbe Tür gehen wollen. Man sieht es jedesmal, wenn zwei Kinder zusammenkommen. "Sklave, wagst du, Gaius Marius zu töten?!" Dabei wird der Interessenausgleich häufig durch 12 Wie andererseits Wesensgleichheit kleine Differenzen zu großen macht, ständiger Kontakt in Auf-die-Nerven-fallen ausartet und sachlich geringe Unterschiede zum Symbol des Ich-Prestige und daher zerrüttend werden können. Trotzdem stimmt der Text. Die überbrückung geht so vor sich: quantitativ erledigt sich die Innendifferenz sicher absolut und fast sicher prozentsatzmäßig leichter und schneller auf dem Wege über neue GruppenhandIen. Wo das aber fehlschlägt, wird der Bruderzwist meist ungleich schärfer im Verhältnis zu den in Frage kommenden Interessen als der Zwist zwischen Gruppen. 18 Bis hierhin dürfte klar geworden sein, weshalb Untersuchungen der Wirkungsweise "der" öffentlichen Meinung so oft in die Sackgasse geraten. Vgl. "den" Volksgeist.
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konventionelle Bräuche geregelt: der Reihe nach und von rechts an den Schalter; bitte, bitte! Man kann auch einen Zweckmäßigkeitsvergleich erzielen. Die Entwicklung erstreckt sich vom stummen Tausch - oder Stimmentausch - bis zum Tarifvertrag oder zur Kartellsatzung. überreden, Unterhandeln, Drohen, Drehen. Endlich besteht die Möglichkeit des ausgetragenen Kampfes (sei es mit geistigen, körperlichen oder wirtschaftlichen Mitteln) und der dauerhaften Regelung bzw. Neuregelung der Beziehungen aufgrund des Ausgangs der Schlacht14 • In bestimmtem Sinne ist jede oben angeführte Handlungsweise, einen solchen Zusammenstoß zu regeln, selbstverständlich auch eine (auf solche Gelegenheit bezogene) Handle. Denn Handle ist nicht nur, was regelmäßig auf einen gegebenen Reiz folgt, sondern jede der gesellschaftlich zur Verfügung stehenden alternativen Reaktionen. In dem Maße der Einförmigkeit dessen, was zur Verfügung steht, und der Sicherheit, daß dieses auch geschehen wird, erreicht allerdings die Handle ihren Höhepunkt als Ordnung, ihre Vollkommenheit als Begriff. Einstweilen jedoch sind scharf zu unterscheiden - und für das Recht ist diese Unterscheidung wieder besonders wichtig - diejenigen Handlen, welche genau bestimmen (und sei es auch nach vorgegebenen Alternativen), wie sich die Beteiligten im Endergebnis zueinander verhalten werden15, von denjenigen Handlen, die in der Verlegenheit nur eine Prozedur bieten, durch die man zu einem noch nicht bestimmten Handlungsergebnis kommen kann. Jene erübrigen Konflikte; sie schränken den freien Spielraum ein. Diese hingegen finden nur im sonst freien Spielraum ihre Anwendung, sie regeln gewissermaßen nur den Angriff auf das Ungeregelte. Und welches ist die Bedeutung dieser Differenzierung für das Recht? Sie führt geradeaus zu einer leuchtend klaren Gliederung des Rechtsstoffes; sie setzt diesen Stoff nach innen und nach außen hin in Perspektive; sie macht es schwer, je wieder zu vergessen, daß Recht im Verhältnis zu Gesellschaft nie und nimmer eine Einheit, sondern eine mehr oder weniger gegliederte Vielheit ist. Denn der Stoff, der Inhalt des feststehenden Rechts setzt sich, bevor das "Recht" sich als ein spezielles aus dem " Richtigen " herausspezialisiert, durchweg aus Begriffsbildungen von jener Art Handlen zusammen, die Endergebnisse bestimmt. Dem kommt der Rechtsbegriff der historischen Schule sehr 14 Gegenüber Ehrlichs herrlicher Teileinsicht ist nachdrücklich zu betonen, daß der Vertrag und die Satzung des Verbandes oder des sonstigen gesellschaftlichen Zusammenarbeitens (z. B. Lehnsvertrag) deswegen nur andeutungsweise den Gang der Sache, die Handlenorganisation widerspiegeln, weil solche Vorgänge, wie sie hier besprochen werden, und die diesen entstammenden Handlen und Normen jede Satzung großenteils überdecken, ihr oft völligen Abbruch tun. 15 Nicht: zu verhalten haben. Ich rede von tatkräftiger, tatsächlicher Bestimmung.
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nahe. Dort liegt sein unscharf gefaßter, aber gesund empfundener Kernpunkt. Wohingegen die Rechtsprozedur, vom Anfang bis heute, der Aufgabe zugewandt ist l6 , auf ordnungsmäßigem Wege bestehende Konflikte einer Lösung zuzuführen, einer Lösung jedoch, deren Inhalt vorläufig nicht abzusehen ist. Die Rechtsprozedur - das Streittrecht gehört also der Gattung der streitbeseitigenden Handlengefüge an, und zwar nicht nur genetisch, sondern meist auch heute noch praktisch als letzte Zuflucht. Sobald aber Streitrecht seitens Richtender17 sich ein~ stellt, bildet sich aus seinen Ergebnissen in Normfragen eine neue und zum Teil selbständige (soziologische, nicht notwendig dogmatische) Rechtsquelle. Schwierige neue Fragen, die auf dem Trechtswege erledigt werden, können nun entweder vitale Lebensregelungen darstellen oder "Spitalfragen", die selten wiederkehren und nur Berufsjuristen interessieren. Bei jenen ist zu erwarten, daß der Trechtspruch gesellschaftsschöpferisch wirken kann und zumeist wird. Daß die Trechtsentscheidung mächtig dazu beiträgt, eine Handle in dem betreffenden 18 Nicht allein. Wenn weder Tatfrage noch Rechtsfrage vorliegt, hat die Prozedur doch eine weitere wichtige Aufgabe: auf geregeltem Wege, amtlich, die Buße oder Leistung zu erzielen, und zwar innerhalb der Grenzen dessen, was zusteht, und derart, daß sich der Angeklagte im allgemeinen ohne Kampf, Krieg oder Fehde fügen wird. Ein Bauernschutzverband, welcher das Boykottieren der Zwangsversteigerung und aller, die daran teilnehmen, organisiert, setzt den heutigen staat aus letztem Grunde in Verlegenheit. Das erwartete und vorausgesetzte wohlwollende Zulassen und gelegentliche Mitarbeiten der nicht unmittelbar Beteiligten bleibt auf einmal aus. Bliebe es oft aus, dann hätten wir schon Handlen, um dem beizukommen - und keine sanften (man denke an die Zeit, als König und Staat sich erst noch durchzusetzen hatten). Sieht die Nichtbauernschaft den Schutzverband aber nicht als drohenden übelstand, sondern als interessante Neuerung oder gesunde Selbsthilfe an, dann kommt auf den Trechtsstab die Aufgabe zu, Neues zu erfinden. Denn dann bleibt die erwartete und vorausgesetzte passive Beihilfe der überhaupt nicht Beteiligten aus. IT Dasselbe kann gelten, wenn das Streittrecht und -recht nur in einer Regelung der Selbsthilfe besteht (Fehdeankündigung; treuga Dei; Unanständigkeit des Hausanbrennens [Njalssaga]; Zufluchtsstadt [Moses 5, 19; 4, 35 u. 37]); doch liegen dann die Verhältnisse viel weniger günstig. Allerdings ist kaum zu zweifeln, daß Sühnetarife nicht nur eine Regelung der Selbsthilfe darstellen, sondern auch in der bereits bestehenden Vergleichspraxis ihren Ursprung haben (vgl. den Vertragsbrauch im jetzigen Völkerrecht), diese Praxis normieren, jedoch gleichzeitig auch schwierige, noch nicht in Handlen gekleidete Fälle vorwegnormieren wollen. Die Zustände, welche Barton in "Ifugao Law" schildert (verschwommene, oft übertretene, doch von der öffentlichen Meinung oft bekräftigte Vergleichsnormen) deuten das Vorstadium an, das mindestens der früheste der germanischen Sühnetarife erst durchmachen mußte. Davor liegen wieder in einer Blutfehdewirtschaft die Ausmerzungsfehde (wohl heute noch in Afghanistan), die Erfindung des Vergleichs und das üblichwerden irgendeines Vergleichs in irgendeiner Phase der Fehde. Ich behaupte natürlich nicht, daß die Entwicklung jedes dieser Stadien durchlaufen muß, auch nicht, daß sie diese Richtung einschlagen muß (Moses 4, 35, 31 - 33); ferner nicht, daß die Reihenfolge unvermeidlich sei (Nachahmung einer bereits geschaffenen Einrichtung, vgl. auch die Duellunterdrückung in Frankreich); endlich nicht, daß "die" Zustände eines Volkes den älteren Zustand eines anderen mehr als andeuten. Das alles läßt die These unberührt.
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Interessenkonflikt zu schaffen oder unter den konkurrierenden Handlen die eine auszumerzen, die andere zu verbreiten18• In solchem Falle wachsen aus der Anwendung der Prozedur sowohl feststehende Handlen wie auch feststehendes Recht. "Bestätigende" Gesetzgebung erfüllt denselben Zweck. Reformgesetzgebung will bei Interessenkonflikt (ab und zu auch im Falle der wahrgenommenen Notlage) im voraus der Zuspitzung des Konflikts oder der Umständlichkeit des Trechtsweges vorbeugen. Wobei wohl zu bemerken ist, daß auch für die Gesetzgebung nie ein Endergebnis, sondern nur eine zweite, biegsamere, weniger dem Alten verhaftete Prozedur im voraus gegeben ist. Der Einfluß der Laienhandlen wird indessen hierdurch keineswegs ausgeschaltet. Indem diese sich nach ergangenem - und somit verhältnismäßig festgelegtem - Trechtsspruch (sei es Entscheidung, sei es Gesetz) weiter umgestalten, schieben sich Laienhandlen und Trechtshandlen auseinander. "Die Gesellschaft" ist keine Einheit! Damit bereitet sich ein neuer Gruppenkonflikt vor: Der eine Rechtsgenosse beruft sich zutreffend auf das, was im Leben geschieht, sein Gegner aber beruft sich ebenso zutreffend auf das, was im Trecht geschieht. Auch muß man bedenken, daß trotz aller ergangenen Trechtssprüche die Handlenverschiedenheiten der in Kontakt und Konflikt geratenen Laiengruppen sich immer neu entwickeln und immer noch, immer wieder den hauptsächlichsten Anstoß zu trechtlichen Neuregelungen bilden. Zwar kann der hieraus entstehende Trechtsspruch schöpferisch sein, aber nur in höchst bescheidenem Maße. Denn er wählt nur zwischen den in den betreffenden Gruppen konkurrierenden Handlen oder versucht als äußerste Schöpfertat - einen Ausgleich zwischen diesen19 • Auf die Handlen geht schließlich auch mittelbar oder unmittelbar der jeweilige Inhalt des Gerechtigkeitsgefühls zurück, das so oft gerade in schwierigen Rechtsfragen den Ausschlag gibt (und m. E. zumeist geben sollte 20). 18 Der Einfluß einer erfolgreichen Aufzeichnung (z. B. des Sachsenspiegels) bringt denselben Vorgang auf fortgeschrittener Stufe: Verbreitung bzw. Ausmerzung der konkurrierenden Trechtsentscheidungen, unvermeidlich wohl auch unter Vorwegnormierung einiger Fälle durch den Verfasser. Vgl. Ehrlichs schöne Formulierung, daß das Aufstellen der Behauptung, es bestehe eine besondere Rechtsnorm, die Tendenz in sich trägt, daß sie sich verwirklicht, daß die Wahrheit der Behauptung bewirkt wird. Diese Tendenz ist aber nur eine unter verschiedenen. Das Aufstellen kann z. B. ein Zeichen zum Kampf sein. Es kann auch unvermerkt verhallen. 18 Vgl. meine Artikel: Effect of Legal Institutions upon Economics, 15 Am. Ec. Rev. 665 (1925), bes. Anm. 32, 38; und Law Observance and Law Enforcement, Proc. Conf. Social Work 1928, 127. 20 Eine Ausnahme ist dort gegeben, wo dem Trechtsstab zugängliches technisches Wissen, das noch nicht in die Volkspraxis umgesetzt ist, vorbeugende und erzieherische Neuregelungen verursacht, z. B. Schutzimpfung, hygienische Regelung über die Schweinehaltung in der Stadt, Rechtsprechung oder Gesetzgebung, die das Risiko auf lange Sicht verteilt, anstatt sich am Verschulden oder an der Risikoverteilung auf kurze Sicht auszurichten.
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Somit finden wir, daß die bestimmenden Handlen vom Anfang bis heute dem Recht nicht nur als Unterlage, sondern als Vorlage dienen; daß lösungsuchendes Trecht die sonstigen lösungsuchenden Handlen durchaus nicht ersetzt, sondern sich nur im Notfall ihnen zugesellt; daß es dann die bestimmenden Handlen einerseits vor Erschütterung durch unvorhergesehene, weil mit dem freien Spielraum verbundene Zusammenstöße schützt, andererseits bei der Lösung auf den Handlen aufbaut, sie dann aber durch die Lösung bereichert oder gar umgestaltet; daß endlich der zu diesem Zweck herausspezialisierte Notbehelf (die Trechtsgebilde und das ihnen zumeist entstammende Recht) schon durch sein Ausgesondertsein neue Konflikte hervorruft, die demselben Notbehelf dann fortdauernde Neubeschäftigung zuführen: ein circulus, den man aber nicht vitiosus, sondern sanitatis nennen muß. Die Wechselwirkung von Handlen und Trecht, erst recht von Handlen und Recht, geht - wie genügend aus dem soeben Angeführten hervorgehen sollte - nicht ohne Eingreifen eines dritten Momentes ab, nämlich der gesellschaftlichen Normen. Bevor wir diese aber untersuchen, müssen wir uns einer merkwürdigen Erscheinung zuwenden, die auch im Gebiete des anscheinend freien Spielraums ein hohes Maß an Handlungsberechenbarkeit bewirkt. Diese Erscheinung kann man die Einstellung nennen. In erster Linie bezieht sich der Begriff "Einstellung" auf ein Individuum. Wie Gebilde, so ist auch Einstellung ein Ganzheitsbegriff. Er will das angeben, was als neue Einheit aus vielen Teileinheiten, aus deren Schichtung übereinander, aus deren Zusammenspiel zustandekommt. Unnötig ist es, an dieser Stelle uns in den philosophischen Streit zu mischen, ob wir nicht so die Sache auf den Kopf stellen; ob Teile überhaupt ohne eine vorgedachte Ganzheit möglich oder denkbar sind; ob nicht auch genetisch der Teil die Ausgliederung aus einer Ganzheit und nicht die Ganzheit eine Zusammensetzung von Teilen sei. Hier kommt es nur auf die Beobachtung an, daß ein Individuum als Totalität oder auch eine Phase des Individuums als Quasi-Totalität (wirtschaftliche Einstellung, Standeseinstellung, standesethische Einstellung, Einstellung als Ehemann) Reaktionen aufweist, die in größerem Umfang auch dort berechenbar sind, wo weder Reiz noch Reaktion zuvor dagewesen sind. Bestimmt man also den freien Spielraum rein negativ durch die Abwesenheit von bestehenden Handlen, so hat man auch innerhalb des Spielraums - wie oben gesagt - doch ein hohes Maß von Voraussagbarkeit. Rechnet man zum freien Spielraum wirklichkeitsgetreuer nur den Raum, der den Beteiligten wirklich zur Eine zweite Ausnahme kann dort gegeben sein, wo der Fall nach der Lebenserfahrung so anormal ist, daß elegantia juris, übersichtlichkeit des Rechts und Bequemlichkeit der Juristen im Verhältnis höher zu bewerten sind, und wo wegen der Anormalität die festeren Handlen keinen sicheren Halt zur Normierung bieten.
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freien Handlung offensteht, so trägt natürlich die Einstellung neben den einzelnen Handlen zur weiteren und starken Begrenzung dieses Spielraums bei21 • Die Sache wird vielleicht an einem Beispiel klar22 • Vor mehreren Jahren führte man bei der New Yorker Untergrundbahn eine Neuerung ein. Statt daß man eine Karte am Schalter löste und diese beim Eintritt abgab, sollte man beim Eintritt in einen Automaten ein 5-Cent-Stück stecken. Das sparte Personal; war aber noch nie dagewesen. Trotzdem war klar vorherzusehen, daß die Fahrgäste ohne Zögern, sobald die Automaten aufgestellt wurden, sich in die neue Handle fügen würden. Ebenso kann man bei einem Kinde, wenn sein Spielgefährte etwas Neues und im wirklichen Sinne Unerhörtes vorschlägt, Berechnungen vor sich gehen sehen wie: "Nein. Da wird Mutti bös." Oder: "Frag lieber Vati, der sagt ja23 ." Von größter Bedeutung ist diese Frage der Einstellung natürlich, wenn es sich um staatliche Neuregelung handelt24 • Bei der Besprechung der Trechtsbeständigkeit wurde schon an die normative Kraft des Tatsächlichen erinnert. Was da ist, was, weil es da ist, erwartet wird, erzeugt das Gefühl, daß es sein und werden soll. Es wurde dort auch daran erinnert, daß dieses Sollgefühl vorab weder präzise noch in Worte gefaßt zu sein braucht. Klarer - d. h. den Wirk21 Und in nichts ist die magisch-tragische bzw. die gestaltend-erhaltende Tragweite der halbautomatischen Einrichtungen für die Erziehung der Jugend so schlagend zu ersehen wie in dieser faktischen Ausschaltung von 99 0/0 des sonst freien Spielraums durch die Einstellungen. Auch Art und Richtung der Neuerungen werden auf diese Weise begrenzt - oft bestimmt (vgl. Anhang D). 22 Den Hinweis auf dieses Beispiel und die aus ihm entwachsene neue Erkenntnis verdanke ich meinem Kollegen Robert HaIe von der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Columbia-Universität. Ohne seinen Anstoß wären die hier und in Kap. VI und vrrI ausgeführten Gedankengänge unmöglich gewesen. 23 Tier, Kind, Naturvolk, Siedlungsgrenze, entstehende oder neugeschaffene Gruppe oder Einrichtung in der heutigen Gesellschaft - diese beleuchten besonders die molekularen Prozesse des Gesellschaftslebens. Allerdings ist bei der Deutung ein fast unerreichbares Maß von Vorsicht geboten. Hornell Hart z. B. (The Science of Social Relations), der im allgemeinen mit ungewöhnlichem Geschick Beobachtungen an Kindern durchführt und auswertet, läßt sich an einer Stelle durch seine ethischen Voraussetzungen in geradezu klassischer Weise irreführen. In einer Familie (offenbar seiner eigenen) sind drei Mädchen. Einem, das im Augenblick allein ist, wird ein Stück Kuchen angeboten. "Und wo sind die Stücke für die anderen?" Das soll ein natürliches Gerechtigkeitsgefühl belegen, das gleiche Zuteilung fordert. Es belegt in der Tat ein natürliches "Gerechtigkeits"gefühl. Der Inhalt dieses Gefühls ist aber in erster Linie: man will beim Gewohnten bleiben. Was Hart weiter belegt, ist, daß in der betreffenden Familie die gleiche Zuteilung unter jenen Mädchen nach beobachteter Praxis selbstverständlich war. Weiter nichts. Von einem gewohnheitsmäßig bevorzugten Kind wäre die Antwort zwar noch gerade möglich, aber überaus unwahrscheinlich. 24 Vgl. o. Anm. 21 sowie Kap. Irr Anm. 4 (der Fall, wo bei den in Frage kommenden Laien diejenige Einstellung fehlt, die man voraussetzt).
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lichkeiten durch Gewinnung von unklaren Umrissen genauer entsprechend - wird nun der Normenbegriff, wenn man das Streifenwesen der der Norm zugrunde liegenden Handle mit einbezieht. Gehen schon die Handlenbegriffe der Beteiligten teilweise auseinander, indem diese unterschiedliche konkrete Fälle als typische Beispiele ihres Denkens aufgreifen, so muß dasselbe auch für die Normen gelten. Ferner muß die Beobachtung des Wandels von Handlen und der übereinanderschichtung von Handlenserien oder -alternativen berücksichtigt werden. Daraus ergeben sich auch übereinandergeschichtete Normenserien und -alternativen. "Man hört die Alten über den Verfall der Sitten klagen." Doch mit der Abbildung (und dementsprechend der Verstärkung) von Handlen oder Handlenbegriffen ist das Wesen der Normen keineswegs erschöpft. Normen, wie genau sie auch bestehende Handlen widerzuspiegeln tendieren, spiegeln diese doch selten ohne Verzerrung wider. Teilweise muß dies so sein. Selbst der wissenschaftlich gesinnte Mensch denkt ungern in Begriffen, die dem Ineinanderfließen der realen Phänomene halbwegs gerecht werden. Der praktische Mensch erst recht nicht. Wie ungewiß und unbestimmt seine Vorstellung von dem tatsächlichen Sachverhalt auch sein mag, so glaubt er doch, etwas Festes zu fassen und sucht, sobald er sich einer Unklarheit bewußt wird, feste Grenzen zu ziehen. Je nach den konkreten Fällen, die ihm zum Vorbild dienen, bildet er also eine individuelle, nur zum Teil der bunten Wirklichkeit entsprechende Norm. Aus einer statistischen Norm, welche nur beschreibend wäre und welche er auch oft hat bilden wollen, wird eine ethische Norm, die einen Teil der Wirklichkeit umgestalten will. Diese Erscheinung findet man bereits dort, wo die Beobachtung nicht durch Emotionen getrübt ist. Bei dieser Erscheinung bleibt es jedoch nicht. Bereits die einfachsten Kulturen, die wir kennen, sind voller Interessenkonflikte. Der Zauberer steht in Wettbewerb mit dem Häuptling. Der eine Genosse ist fleißig, der andere ist faul. Die von den Ethnologen des vorigen Jahrhunderts sog. Sittenkruste reicht - wie Malinowski überzeugend gezeigt hat25 - bei weitem nicht aus, um derartige Interessengegensätze automatisch zu beseitigen. Normen haben wir aber oben nur mittelbar auf Handlen, unmittelbar schwerpunktmäßig auf Erwartungen zurückgeführt. Erwartungen sind nun teilweise auch Hoffnungen, teilweise also auf Nicht-Realität fußende Wunschgebilde. Wer eine solche Traumerwartung hat, wählt, wenn er sich der Wirklichkeit zuwendet, unter den Gegebenheiten diejenigen aus, welche seinen Wunsch zu bekräftigen scheinen und drückt den anderen gegenüber die Augen zu. Ungefähr auf diesem Wege kommen auch Soll-Normen zustande, welche dem 26
Crime and Custom in Savage Society, 1926.
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individuellen Interesse oder den individuellen Gesamtbedürfnissen schmeicheln. Diese beschreiben die Wirklichkeit nicht mehr, sondern legen im Gegenteil die Grundlage für einen Protest gegen die Wirklichkeit. Wer sich eine solche seinsverfälschende Norm schafft, kommt nämlich noch lange nicht von der Grundideologie los, daß das Seiende, das Gewesene das richtige Maß von Sollendem darstellt. Nur so kann man eigentlich das fortwährende Geschrei der Zukünftler verstehen: Zurück zum guten Alten! Auch wenn das Alte, zu dem man zurück soll, nie existierte (Rousseaus Naturmensch, das antike Ideal der Renaissance, erst recht des späteren Klassizismus). Es .geht nicht an, diese Handlungs- und Denkweise als ein überwundenes, primitives Stadium anzusehen. Sie wirkt noch mächtig in unserer jetzigen Gesellschaft fort. Zwar kennen wir eine zunehmende Loslösung vom Traditionsmäßigen sowie einen Fortschritt und Wandel von Wissenschaft und Technik, die uns in die Zukunft weisen und das Unerdachte denken lassen, die es uns in wohl nie dagewesenem Maße ermöglichen, auch Neues als Gutes oder Sollendes zu begreifen. Solche Zukunftsgerichtetheit mag wohl für unser Zeitalter charakteristisch sein; sie schaltet aber die Vergangenheitsgerichtetheit deswegen nicht aus. Wer das vergißt, wird schwer zu seiner Zukunft kommen. Hinzukommt, daß sowohl der Wandel der Zeiten wie auch das Fortbestehen der älteren Handlen- und Normenschichten neben den neueren fast immer, wenn auch nur teilweise den Ausgangspunkt und Wirklichkeitshalt jeder Normierung bieten. Vorhin sahen wir, daß das Entstehen von Trecht als einer besonderen Einrichtung eine Verzweigung sowohl der Handlen wie auch der Normen im Hinblick auf einen bestimmten Sachzusammenhang bedeuten mußte. Das Trecht, das ursprünglich vornehmlich die Aufgabe hatte, Schwierigkeiten im freien Spielraum zu beseitigen, etabliert sich später als etwas Eigenständiges, das zum Teil unabhängig von seinem Entstehungsgrund weiterarbeitet. So steht es auch mit den Normen in ihrem Verhältnis zu den Handlen. Wohl fußen jene auf diesen. Wohl sollen sie in erster Linie nur diese fassen und befestigen. Sind sie qber einmal entstanden, so lösen sie sich zum Teil los und treten in Wechselwirkung mit den Handlen. Fortwährend und unbemerkt bauen sich die Normen nach dem Muster der wechselnden Handlen wieder um; der Grundton aber bleibt: das Erwartete soll werden! Die Weiterentwicklung kann aber auch von den Normen selbst ausgehen, indem diese sich von unmittelbarer Berührung mit den Handlen loslösen, sich mit anderen Normen zusammenfinden und die Grundlage eines systematischen, nicht mehr handlen-bezogenen überbaus - gar einer Utopie bilden. Damit beginnt für die Norm eine Periode der Möglichkeit, die Handlen nicht bloß zu befestigen, sondern umzubauen. Dieser Vorgang ist uns bei der Einzelgewohnheit des Individuums bekannt: "Er nahm
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sich Napoleon zum Vorbild." Auch versuchen wir bewußt, der Jugend die "Kulturhelden" vorzuführen, um den einzelnen und damit das Ganze etwas zu verändern. Ähnlich bedeutet nun auch in der Gesellschaft der Umbau von Handlen durch Normen erstens, daß eine Normengruppe oder die Normen einer Gruppe über eine andere Gruppe von Normen mit demselben Sachgegenstand gesiegt haben, und zweitens, daß die siegende Norm nicht neben dem Leben herläuft, sondern sich in die Tat umsetzt, die Tat auch zur Tatgewohnheit, zur beständigen Handle erhärtet. Schärfer wird das Bild, wenn man anstatt von der Loslösung der Normen von den Handlen von einer Abspaltung der bewußten, besonders der in Worte gefaßten Normierungen von den dumpfen Normen redet. Wobei die dumpfen noch an den Handlen haften bleiben, um sich mit ihnen, nach deren Bilde unvermerkt zu ändern. Ganz löst sich selbst die "losgelöste" Norm von den Handlen natürlich nie. Auch nachdem die Norm Selbständigkeit und gar eine systematische, gewinnt, bleibt der weitere Einfluß des Handlensystems auf sie zehnmal, hundertmal so groß wie ihr Einfluß auf das Handlensystem. Dabei kann man auch den Normen nicht immer oder regelmäßig eine qualitativ gesteigerte Bedeutung zuerkennen wie etwa bei der Neuregelung in Beziehung zur Hauptmasse des Trechts. Meist sind gerade die unvermerkt gelungenen Änderungen der Handlen wichtiger und auch lebensfähiger als die bewußte Normierung 26 • Das wird beim Naturrecht deutlich. Diesem schieben die NaturrechtIer immer und meist unbewußt27 eine idealisierte Form des ihnen vertrauten positiven Rechtszustandes unter. Die Erfolge des Naturrechts machen jedoch die Rückwirkung teilweise losgelöster Normen auf bestehende Handlen klar. Der Druck in Richtung auf eine derartige Verselbständigung von Normen setzt nie aus. Bewußte Erziehung ist selten ohne Normbegriffe 28 Wieder zielt die Einsicht der historischen Schule ins Schwarze. Was will sonst mit der "Weisheit", "Unvermeidlichkeit" und "Kerngesundheit" des sogenannten Volksgeistes ausgesagt werden? Man steht in heller Bewunderung vor einer Einsicht, die trotz der unzureichenden Begriffe so sicher empfand. Man steht in heller Verzweiflung vor den Irrfahrten, auf die jene unzureichenden Begriffe trotz solcher Einsicht führen konnten. Instinktsicherheit ist doch die einzige Rettung des Sozialwissenschaftlers. Der eine empfindet die Tragfähigkeit seines Begriffs; der andere fuchtelt mit vermeintlich logischen Schlüssen. Die Elefanten des Livius sind das Vorbild. Sie tasteten - und wußten, daß der scheinbare Boden eben nicht mehr Boden war. Man vergleiche z. B. Ehrlichs Grundlegung mit Exner: Gesellschaftliche und staatliche Strafjustiz. Beide wirtschaften mit ungefähr denselben Begriffen. Ehrlich zieht aber freudig auch die nicht zu ziehenden Schlüsse; Exner so gut wie nie. 27 Vgl. neuerdings Stammlers Lehre des richtigen Rechts, wo er auf vorgeblich deduktiv-logischem Wege gerade das deutsche positive Recht (mit leisen Verbesserungen) aus vier neukantischen Grund"prämissen" entwikkelt. über die Trugschlüsse in solchen Fällen vgl. meinen Artikel: Legal Tradition and Social Science Method, in Essays on Research in the Social Sciences (1931), S. 89, 104 ff.
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möglich. Das Kind fragt nicht nur: wie?, sondern auch: warum? Ab und zu bekommt es auch eine Antwort. Auch Priester, Philosophen, Erzieher, ja: den gewöhnlichen Mann in seinen Mußestunden drängt es nach dem Warum und nach einer Erkenntnis des Zusammenhanges der Dinge und der Normen. Dabei müssen wir allerdings an eine merkwürdige und widerspruchsvolle Fähigkeit des Menschen denken. Jahre und Jahrhunderte hindurch kann er die offensichtlichsten Widersprüche in sich und in seiner sozialen Umgebung in getrennten Schubladen aufbewahren, ohne sie wahrzunehmen. Gleichzeitig kann er aber doch fortwährend und ehrlich nach Zusammenhängen suchen und alle Widersprüche, die er wahrnimmt, lösen wollen. Beide Momente finden sich in der Mythenbildung (sowohl der Naturvölker wie auch der heutigen Sozialwissenschaftler und damit wohl auch bei mir). Neben dem, was Sumner bei Handlen und Normen treffend den "Drang nach Konsequenz" nennt (strain for consistency in the mores), gibt es gleichzeitig auch in der Gewohnheit, in dem segensreichen Vermögen zur Selbsttäuschung, in dem mit Schotten versehenen Gehirn eine verblüffende Trägheit gegen die Herstellung von Konsequenz. Eine Art Konsequenz jedoch, zumindest eine Art Zusammenbau findet sich in den normativen Begriffen, die den Begriffen von Handlengebilden entstammen. Und zwar scheint - mindestens für den modernen Menschen28 - die Wahrnehmung eines Gebildes als Ganzheit typisch der Wahrnehmung seiner Teile voranzugehen. Womit nicht gesagt werden soll, daß das Gegenteil nicht auch "typisch" sein kann29 • Kauf oder Pacht oder Verein stehen als Begriffe da, auch für solche, die sich gar nicht darüber im klaren sind, welches eigentlich die Eigenschaften eines Kaufes oder einer Pacht oder eines Vereins sein mögen. Nach derartigen Begriffen normiert man auch und nicht nur nach Einzel-Handlen oder Einzelzügen des Gesamtgebildes. Hier kommt wieder der Begriff der Einstellung zum Vorschein, aber nicht mehr auf ein Individuum bezogen, sondern auf einen Handlenkomplex. Nicht nur eine Person, sondern auch ein Handlengebilde trägt, in seiner Ganzheit, einigermaßen berechenbare Tendenzen gegenüber Reizen in sich, 28 Das Sprachgut der Naturvölker zeigt teilweise eine für uns kaum noch faßbare Konkretheit der Begriffe auf. Kein Wort oder Begriff z. B. für Mädchen, wohl aber ein Wort und Begriff für Mädchen-mit-einem-StückRindfleisch-vor-dem-Zelt-sitzend. Kein Wort für Baum, wohl aber ein Wort für Eiche oder Linde, und vielleicht verschiedene Wörter für Eiche-mit-Laub, Eiche-ohne-Laub, junge-Eiche-mit-Laub und dergl. Deswegen sind Verallgemeinerungen über das Entstehen der gesellschaftlichen Begriffe ein Spezialgebiet, auf das sich kein Laie wagen sollte. 29 "Gruß" kann nämlich für jemanden ein Begriff sein, dem "Umgang mit Menschen" fremd entgegentönt; aus Bleistift und Feder bildet sich ein Kind erst nachträglich den Begriff Schreibzeug. Auch wenn es im Anfang nur konkrete Ganzheiten sehen sollte, bleibt das für die soziale Erkenntnis nicht ausschlaggebend.
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die bis jetzt noch nicht wirksam gewesen sind. Und solchen Tendenzen wird der Gesamtbegriff des Gebildes einigermaßen gerecht. Vir honestus hieß es bei den Römern, und wie sich ein vir honestus zu betragen hätte bei einer nicht vorhergesehenen Gelegenheit, das könnte man, wenn nicht begreifen, so doch mindestens empfinden. Im Grenzfall natürlich nicht. Auch müßten sich Meinungsverschiedenheiten zwischen Leuten ergeben, die den Begriff verschieden auffaßten, d. h. im Grunde genommen nach verschiedenen konkreten Mustern. Was einem Anhänger Caesars durchaus als honestum vorkommen könnte, würde einem Pompejaner Hochverrat erscheinen - ein Zustand, den ich heute noch hier und zu Hause wahrzunehmen scheine. Und trotzdem. Heute heißt es: Was sich für einen Offizier oder für einen ehrbaren Kaufmann oder für einen ordentlichen Bauern schickt. Für uns sind zwei Dinge besonders wichtig, nämlich einmal, daß die Normen auf diesem Wege eine unvermerkte Dehnbarkeit erhalten, und zweitens, daß die konkrete Normierung im Dehnungsfalle verschieden ausfallen muß, je nach der Ganzheit, die gedehnt wird. Das bedeutet bei Gruppenkonflikten einen Streit um die "richtige" Norm (denn grundlegend für die Tendenz der Normierung ist die bewußte Zuversicht, daß es doch nur eine richtige Norm geben könne), welcher keineswegs allein aus Interessenverschiedenheiten zu erklären ist, sondern den Menschen in seinem sittlichen Denken und Fühlen in den Kampf mit einbezieht. Die angeführten Momente (Zerridealisierung, Zeitschichtungen, Gruppenverschiedenheiten, Wunschdenken) reichen schon aus, um jedem Kind eine reichhaltige Auswahlmöglichkeit unter bereits bestehenden (doch nicht allgemein bestehenden) Normen anzubieten. Hinzu kommt die Verschiedenheit im Gesamtauftreten und den einzelnen Gewohnheiten bestimmter Personen, die das Kind sieht, oder ihm überlieferungsmäßig bekannter Personen anderer Zeiten oder anderer Orte. Aus der individuellen Bearbeitung eines solchen Stoffes von seiten leidenschaftlicher oder begabter Menschen muß ein Schatz von Idealen in die Gesamtkultur einfließen. Dank dem Soll-Moment können diese sich von der unmittelbaren Wirklichkeit lösen, ohne daß sie an Handlen nachzuweisen sind, doch als gültig erscheinen. Dank der Vorstellung, daß Soll und Sein doch eines werden müssen, lösen sie den Drang zur Tat aus. Im individuellen Leben sind sie die Sittlichkeit, das Ziel des Strebens von Menschen oder Gruppen, das Ideal derer, die Zeit und Gesellschaft umgestalten wollen. Im Rechtsleben sind sie der Zweck, den eine Neuregelung verfolgt. Daß sie wirken, daß gerade sie die qualitativ bedeutendste Wirkung erhoffen können, muß man erkennen, soll man begrüßen. Wer aber verkennt, daß ihre Wirkung durch die gegebenen herrschenden Handlen- und Normengebilde, erst recht durch die herrschenden Einstellungen Grenzen gezogen sind, der gerät in Gefahr, seine Ideale durch unzweckmäßiges Handeln in den Staub zu ziehen.
Sechstes Kapitel
Ganzheit und Molekül: die Einrichtungen 1 Handlen sind nicht nur überindividuell fest und dauerhaft, sie variieren auch. Der Handlenbegriff ist also ein Streifenbegriff mit verhältnismäßig festem Kern und abgeschatteten Rändern. Deshalb auch die Möglichkeit und das Vorkommen unvermerkter Umgestaltung der Handle, so oft die Varianten sich nach einer Richtung häufen, z. B. die unvermerkte Veränderung in der Auslegung, d. h. in dem Inhalt eines Rechtssatzes. Deshalb können sich beim selben Sachverhalt verschiedenartige Handlen nebeneinander- und übereinanderschichten, vor allem bei verschiedenen Teilgruppen. Deshalb endlich sind auch die Begriffe der Gebilde, die in einer Gesellschaft herrschen, untereinander verschieden und meist nach dem Bilde der vor zwei Generationen herrschenden Handlen aufgebaut. Schon hieraus ergibt sich das Vorhandensein nicht nur eines geregelten Raumes, sondern auch eines freien Spielraumes in der Gesellschaft. Innerhalb der Teilgruppe regelt dieser sich meist schnell; zwischen den Gruppen führt er zu Konflikten. Es gibt allerdings Handlen (Vergleich u. a.), um diese Konflikte zu beseitigen; alternative Handlen also, die nicht das resultierende Tun angeben, sondern nur die Inangriffnahme des Problems bestimmen. Das Trecht besteht zumeist aus solchen Handlen (natürlich unter Bezugnahme auf die gesellschaftlich gegebenen Handlungsmuster und Ganzheitseinstellungen); häufig führt das offizielle Ergebnis zur Entwicklung weiterer handlungsbestimmender Handlen, welche den freien Spielraum dann einengen. Wenn diese aber dem Wandel unterworfen werden, bereiten sich neue Konflikte zwischen ihnen und den näheren 1 Dieses Kapitel enthält, wie die beiden folgenden, gehörige oder ungehörige - Zuschüsse von persönlichen philosophischen Einstellungen. Wenn schon das ganze Buch wegen mangelnder Belege wissenschaftlich verdächtig ist, so sind diese drei Kapitel wissenschaftlich geradezu unanständig. Trotzdem habe ich versucht, die eigenen Einstellungen nach Möglichkeit als solche zu kennzeichnen (die Weiße "mit" kann an Geschmack: gewinnen; doch ist sie nicht mehr eine Weiße "mit ohne" und hat sich eben nicht als solche auszugeben). In diesen Kapiteln werden Anregungen aus Felix Krügers Ganzheitspsychologie und aus Hans Freyers Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft verwertet, ohne daß ich erwarten dürfte, daß die erzielten Ergebnisse deren Zustimmung finden. Die Anregungen von Robert HaIe habe ich oben schon erwähnt.
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Trechtshandlen vor; diese aus dem Trecht herrührenden Konflikte beschäftigen dann wieder das Trecht. Mit den Handlen ist das Bild nicht vollständig. Die Handlengefüge als Ganzheiten (wie auch die einzelnen Individuen als Ganzheiten) weisen eine Einstellung auf, die Ausfluß ihrer Teile und deren Schichtung, deren Gesamtorganisation ist und zum Teil die Reaktionen auf noch nicht dagewesene Reize voraussagbar macht. Endlich ergeben sich nach dem Muster der Handlen sowie der Handlengefüge und der denen entsprechenden Begriffe Erwartungen und demzufolge Normen. Auch diese sind Streifenbegriffe und variieren, auch diese können sich übereinander schichten. Doch (wie beim "Begriff") tendiert der Mensch dazu, seine Normbegriffe gradlinig zu gestalten. Bei der Norm ist dies leichter, weil das nicht Passende dann eben nicht zu sein hat. Ein Abweichen der Norm von der Handle wird auch dadurch befördert, daß die normerzeugenden Erwartungen teilweise nicht auf der Wirklichkeit, sondern auf Wünschen basieren: so entstehen vor allem Protest-Normen. Dabei kommt das Normierte aber nicht von dem Grundgedanken los, daß sich Sein mit Sollen doch zu decken habe. Einmal entstanden, vor allem: einmal in Worte gekleidet können die Normen eine teilweise unabhängige Existenz annehmen, Normensysterne erzeugen, die wohl im großen und ganzen aus den Handlen ihren Inhalt beziehen, auf diese aber umgestaltend zurückwirken können. Eigentlich kommt auf diese Weise eine Spaltung eher zwischen dumpfen und wörtlich gefaßten Normen als zwischen dem ganzen Normen- und dem ganzen Handlenbereich zustande; die dumpfen Normen bleiben stets an den Handlen haften. Normenverschiedenheit und Normen- und Begriffssysteme erzeugen eine bunte Serie von Idealgebilden - teilweise Idealtypen der Handlengebilde, teilweise halb utopische Ideale, die dann dank dem Sollensmoment sich teils von der Wirklichkeit lösen können, teils aber zum Schaffen drängen -, deren Bedingtheit durch die Handlen aber nie zu vergessen ist. Schon die Begriffe: Gruppe, Gebilde, Einstellung setzen - wie wir gesehen haben - voraus, daß sich Handlen und Handlungen zu Ganzheiten organisieren. Bei der Besprechung von Einstellung wie auch von sozial gegebenen Begriffen wurde schon angedeutet, daß solche Ganzheiten nicht nur Ausflüsse aus der Zusammensetzung von Handlen, nicht nur gedankliche Gliederungen der Handlen (oder Normen) zum Zwecke einer bequemeren Übersicht sind, sondern auch in einem wirklichen Sinne unabhängig existieren und als Sonderfaktoren auf die Handlenbildung und den Umbau der Gesellschaft einwirken. Der Mensch lebt nicht nur nach seiner Gewohnheit und seinen Leidenschaf-
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ten, sondern auch nach seiner Vorstellung vom richtigen Leben. Diese Vorlesung soll sich nun mit der Frage näher befassen, was solche Ganzheiten für eine Bedeutung haben, wenn man bei ihrer Betrachtung ihre Eigenschaft als Handlenerzeugnis zunächst zurückstellt, hingegen ihre Eigenschaft als wirkende oder schaffende Einheiten betont. Einfach läßt sich allerdings die Trennung dieser beiden Anschauungsweisen nicht durchführen. Denn die gesellschaftlichen Ganzheiten seien sie kleine oder große - erfüllen für den Beobachter und für den Beteiligten gleichzeitig und noch dazu oft in denselben Auswirkungen zwei verschiedene Aufgaben: erstens, das Daseiende zu organisieren, zu züchten, endlich verständlich zu machen; zweitens, mit dem Unvorhergesehenen fertig zu werden. Vor allem aber ist zu betonen, daß selbst ihre "statische" Phase eigentlich nur dynamisch zu erfassen ist. Als bloße Struktur, als bloßer Bauplan aufgefaßt ist ein Ganzheitsbegriff so wirklichkeitsfremd, daß mit ihm bei der Beschreibung von Gesellschaft wenig Vernünftiges anzufangen ist. Man muß ihn als einen Kanalisierungsplan auffassen, als einen Bau, durch den hindurch fortwährend Handeln im Fluß ist. Nicht als leere Struktur, sondern als Linie, Richtung, Eingrenzung, Organisation des tatsächlichen Geschehens. Die Ganzheit stellt also die gliedhafte Organisation des verhältnismäßig festen Teiles des gesellschaftlichen Tuns dar. Wenn das aber stimmt, was oben über das Streifenwesen der Handlen ausgeführt wurde, so ist dieses "Feste" erstens nur verhältnismäßig fest und zweitens schon an seinem eigenen Weiterwerden beteiligt. In dieser Vorlesung haben wir es mit Ganzheiten verschiedener Größe, verschiedener Art zu tun. Vor allem aber mit jenen Großgebilden, welche bei den Soziologen wie bei den Durchschnittsmenschen im Vordergrund des Interesses stehen: Staat, Kirche, Stand, Klasse, Partei, Nation und dergl. Ähnlich groß, aber andersgeartet sind die Gebilde, die oft als "Systeme der Kultur" angesprochen werden: Wirtschaft, Wissenschaft, Religion, Politik, Kunst. Ein Verständnis dieser Großgebilde ist nicht zu erzielen, wenn man nicht zuerst das Zwischenspiel von Menschen und Handlen untersucht. Denn erstens ist jeder Mensch in sich eine größtenteils geschaffene Ganzheit. Nicht nur Handlen, sondern Handlengebilde, herrschende Normen und herrschende Normengebilde, herrschende Begriffe über die Einteilung seiner Umwelt trägt er in seinem Hirn eingegraben und handelt dementsprechend. Fast unmöglich ist es z. B., sich ein solches Gruppen- und Handlengebilde wie den Bauernstand vorzustellen, ohne daß man sich gleichzeitig ein Nebeneinander von Menschen vorstellt, deren jeder als Einheit die dem Stande zugeschriebenen Eigenschaften aufweist. Das Individuum also als eine Ganzheit. Die Handlen und Handlengebilde als nur wirklich, indem sie das Verhalten von In8·
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dividuen summieren. Die Gruppe oder die Kategorie von Individuen als eine Ganzheit, die sowohl Individuen wie die Ähnlichkeit und das Ineinandergreifen ihrer Gewohnheiten zusammenschließt. Dazu die Gebilde von Handlungs-, Normierungs-, Empfindungs-2 oder Erkenntnisweisen als weitere und oft verschiedene Ganzheiten, indem man nun das den Einzelmenschen überdauernde Muster von Handeln oder Denken betont. Wobei klar ist, daß selbst die schärfsten Erkenntnisgebilde ihren breiten Schattenstreifen haben (gar die der Wissenschaft; was ist z. B. die Wirkung des Calmette-Verfahrens?); und erst recht solche am Menschen haftenden Großgebilde, die Personen- und Handlenkomplexe zusammen erfassen wollen: "Der typische Bauer" wird eben nirgends ohne persönliche Eigenart aufzutreiben sein noch, wie gesagt, eine "Bauernschaft" ohne "Bauern". Nach einer weiteren Richtung hin will das Verhältnis zwischen Menschen und Handlen untersucht werden, und zwar für den Fall, in dem bestimmte Menschen den tragenden Stab eines gegebenen Handlen(und Begriffs- oder Normen-)komplexes bilden. Wir kennen bekanntlich zwei verschiedene Arten von Handlenspezialisierung. Die eine Art ist die Gelegenheitsspezialisierung innerhalb des Individuums selbst wie sich "der Mensch" zu Weihnachten, im Streitfall, als Ehepartner oder auf der Jagd verhält. Die andere Gattung stellt sich nicht als einen Sonderteil "des Menschen" dar, sondern als die Sonderarbeit einer spezialisierten Menschengattung, eines die Einrichtung tragenden Stabes. Mit "Stab" will den betreffenden Leuten kein offizieller Charakter zugesprochen werden. In einem Kasten- oder Ständestaat kann die wirtschaftliche Arbeit (und die Art der Geselligkeit) traditionsgemäß, offiziell - von Gottes wegen, von Rechts wegen, von Gesellschafts wegen - zuerteilt und zuerkannt werden. Das ist aber hier nicht das Wesentliche. Hier kommt es nur auf die faktische Arbeitsteilung nach Menschen, nicht innerhalb desselben Menschen an. Ist diese gegeben, so fangen die Menschen auch sofort an, sich nach Handlen, Normen, Gesamtart zu unterscheiden. Das ist das eine. Das andere ist, daß für die Gesellschaft als Ganzes jeder Sonderstab die Eigenschaft als "Glied" erhält. Auf den Stab verlassen sich andere für die Verrichtung der I Bis jetzt ist wenig von Empfindung und Gefühl die Rede gewesen nur beiläufig hinsichtlich der Entstehung der Norm aus der Erwartung und andeutungsweise in bezug auf die Einstellung. Anregend ist Krügers Vorstellung, daß das Gefühl die momentane Gesamtreaktion der Personenganzheit sein soll. Ganz befriedigend erscheint mir eine solche Vorstellung allerdings nur, wenn man daneben innerhalb derselben Person unterschiedliche und wechselnde Teil-Ganzheiten annimmt und eine Schichtung und Organisation einzelner gefühlserzeugender Einstellungen. Für unsere Zwecke aber genügt die Erkenntnis von der teilweisen Berechenbarkeit der Ergebnisse einer Ganzheitseinstellung sowie die Erkenntnis, daß auch die Kraft dieses Gefühls, das zum Handeln hin (und oft vom Denken weg) treibt, in ähnlicher Weise zum Teil berechenbar ist.
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Stabs arbeit. Das braucht nicht offiziell oder durch das Recht bekräftigt zu sein (die Dorfmühle). Auch ohnedies soll der Stab es wissen, soll der Stab es können, soll der Stab es machen. Nicht wir anderen. Die betreffenden Handlen, technischen Urteile, Normen. Überlieferungen werden mithin zum Sondergut des Stabes. Es können andere nicht nur von deren Gebrauch, sondern gar von deren Kenntnis ausgeschlossen werden (Berufsgeheimnis). Oder alles kann offenstehen - und dennoch verbietet es in der Regel die Knappheit an Zeit oder die eigene Arbeit, daß der Außenseiter sich das Kulturgut des Stabes aneignet. Hier kommt es auf dreierlei an: erstens können wir in solchem Falle den ausgeprägtesten Typ eines am Menschen haftenden, im Menschen verkörperungsbedürftigen Gebildes vorfinden. Doch nur in vollem Maße, wenn der Stab selbst nicht in seiner eigenen Arbeitsteilung allzu spezialisiert ist. Bei der Kleinbauernschaft und bei der Eisenindustrie liegt der Fall insofern merklich verschieden. "Ständestaat" ist ein Begriff, der eine weitgehende intraständische Arbeitsteilung größtenteils ausschließt. Zweitens - was später zu behandeln ist (Kap. VIII) - treiben die Eigeninteressen des Stabes fortwährend dahin, die Monopolsituation zu Eigenzwecken und auf Kosten seiner Aufgabe als Gesellschaftsglied auszubeuten. Standesethos und Reformbestrebungen im Inneren, Sitten der sozialen Umwelt (mehr als eine Mark zahlen wir nicht für Butter, gehen dann lieber zur Margarine über!) und Druck von außen, im Notfall das Eingreifen des Staates (Bekämpfung von Wucher; Regelung der Anwaltslöhne) halten dem mehr oder weniger die Waage. Drittens und von besonderer Bedeutung ist hier: Stab sein heißt in einem eigenen Sinne, Spielraum haben. Ja, daß Außenseiter dem Stab den Spielraum lassen, sich auch nach dem Verhalten des Stabes innerhalb ihres Spielraumes richten - das macht ihn doch zum "Stab". Wer es vermutlich kann, wen wir als Nichtwissende auch nicht ordentlich kontrollieren können - dem müssen wir eben von uns aus viel Spielraum lassen. Ob er diesen ausnutzt, ob er weiß, daß der Spielraum da ist, ob seine Einstellung die ihm eingeräumte Freiheit zu einer wirklichen Handlungsfreiheit werden läßt, das sind andere Fragen; auch, wie der Stab diese Freiheit ausnutzt. Doch daß wir ihm die Möglichkeit einräumen, sollte als eine Selbstverständlichkeit ins Auge springen. Nur verlangen wir innerhalb der durch die Kultur, die Not oder den Wunsch bedingten Grenzen, daß seine Ergebnisse befriedigen, wenn wir mal mit ihm zu tun haben oder wenn wir mal an ihn denken. Daß er Spezialist ist, heißt, daß uns nur von Zeit zu Zeit eine Kontrolle überhaupt einfällt. Für den Rest der Zeit verlassen wir uns (1) auf seinen Charakter und sein Können (Samuel wird Richter); (2) auf die Hoffnung, seinen Eigennutz auf lange Sicht in Einklang mit den Gesamtinteressen zu bringen (Samuels Söhne
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hatten nicht diese lange Sicht}; (3) auf Ideale und ehtische Forderungen (meist ganz allgemeiner Art), die wir an ihn stellen und die allein nur wenig zuverlässig sind (wiederum Samuels Söhne; als Gegensatz: Nathan vor David); (4) auf den kumulativen Ablauf und Ausbau der Stabshandlen; denn mit Glück schlägt sich hier nicht nur die Stabserfahrung, sondern auch die gelegentliche Reformbestrebung oder die Krisenkritik in dauernder Form nieder (das Wachstum der trechtlichen Prozedur); (5) auf die diesen Handlen zumeist entnommene Stabszucht; wenn Ideale sich dem hinzugesellen, dann können diese erziehen; dann beginnt sich "Standesehre" zu entwickeln3 , die vom Außenseiter dem Stab oder Stande abverlangt werden kann (Magna Charta). Im Trecht steht die Sache nun etwas anders als bei vielen anderen Stäben. Der Laie traut sich nicht zu, den religiösen Kultus zu beherrschen, die Kurart zu bekritteln oder sich anstelle des Bauingenieurs zu setzen. Zwar kann er auf Medizinmann, Priester, Arzt, Techniker schimpfen. Er schimpft aber unter der Hand und läßt sie morgen doch weitermachen. Nur von Zeit zu Zeit kommt es zu Aufwallungen, wenn die Ergebnisse ausbleiben - übrigens ohne zuviel Rücksicht darauf, ob dies national gesehen stabsverschuldet war oder nicht. In Rechtssachen hält sich aber der Laie immer noch für hinreichend befähigt, die Gerechtigkeit zu beurteilen. Im Leittrecht weniger; da läßt er viel mehr machen; denn Leittrecht ist Führung, und der Führung bedarf er. Da bleibt es bei den gelegentlichen Aufwallungen. Im Streittrecht aber tendiert der Laie stark dazu, sich dreinzumischen: das Volksding, die Geschworenen, die Laienbesitzer - die hören nicht immer auf den Rechtsbeflissenen. Dies grenzt auch in einer einfachen Gesellschaft den Spielraum des Streittrechtlers bedeutend ein; gerade deshalb ist die viel zitierte Kadijustiz durchaus nicht das Willkürliche, als was sie beschrieben wird. In der komplizierten Gesellschaft gewinnt der Trechtsstab aber aus zwei Gründen seine Bewegungsfreiheit wieder. Erstens hat er soviel zu tun, daß der Laie nicht mehr mitkommt und deshalb von außen aus reinem Nichtwissen über das Geschehen nicht mehr seine Kritik zur Geltung bringen kann. Zweitens versteckt sich der Stab hinter den nunmehr notwendig gewordenen Rechtssätzen, die ihm ebensosehr Bewegungswerkzeuge wie Bewegungshemmung sind. Ob indessen eine gegebene Handlenganzheit sich eines Sonderstabes rühmen kann oder nicht, auf jeden Fall ist doch aus dem schon Ausgeführten klar, daß sie nicht allein aus der Zusammenfassung der konstituierenden Handlen (oder anderen Sozialmolekülen) besteht, sondern ebenso stark durch die Art bestimmt wird, in der diese Elemente inein3 Etwas anders die Einschätzung von M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 635 ff., 80 ff., 177 ff.; Freyer, S. 264. Mir geht es hier offensichtlich nur um den Stab, der Stand ist insoweit nur ein Grenzfall.
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andergreifen und -wirken; nicht weniger stark auch durch die Schichtung der kleineren Teil-Handlen-(Normen- usw.) Komplexe zueinander. Welcher Handlenkomplex tritt am häufigsten auf, welche Normenschicht gibt bei Innenkonflikten den Ausschlag? Ähnliche Gedankengänge findet man bei den Chemikern, wenn sie die Bauweise eines Moleküls von dessen zahlenmäßiger Atomzusammensetzung unterscheiden, oder bei den modernen Biologen mit ihrem "Feld"begriff4 • Hieraus ergibt sich ebenfalls, daß die Organisation einer gegebenen sozialen Ganzheit fest oder lose, gedrängt oder locker, verdichtet oder fast flüssig sein kann. Dieses schon, wenn nur ein Hauptgliederungsprinzip wahrzunehmen ist, wie etwa bei den reineren Interessenverbandstypen (Kunstverein; Turnverein; Einkaufsgenossenschaft). Die überaus verschiedene Gestaltung des Kartells kann als Beispiel dienen. Sind in dem Gebilde mehrere Organisationsprinzipien stark vertreten, so können sich diese entweder widerstreiten oder gegenseitig bekräftigen5 • Das wirtschaftliche Moment kann z. B. in einer Fabrikarbeiterfamilie stark gegen die Kindererzeugung und gegen den Zusammenschluß der Familie um die Kindererziehung wirken, wenn Einkommensmangel auch die Frau tagsüber in die Fabrik zwingt. In einer Bauernwirtschaft sind hingegen Kinder bekanntlich zumeist nicht nur ein soziales, sondern auch ein wirtschaftliches Plus; die Erziehung der Kinder braucht keineswegs mit der Tagesarbeit in Konflikt zu geraten, fließt sogar unmittelbar aus ihr. Einer solchen Unterscheidung der Gruppen (samt der entsprechenden Handlengebilde) sucht die Terminologie der Soziologen mit dem Gegensatz zwischen Verband und Gemeinschaft gerecht zu werden. Verband bezieht sich auf die "reine" (besonders auf die wirtschaftliche) Interessengruppierung, Gemeinschaft - als Mindesterfordernis - auf eine Gruppierung, bei der gleichzeitig mehrere Interessen verschiedener Art vertreten sind 6, wo, Soweit aber gerade die Biologen dazu neigen, von einer "immanenten" Einheitlichkeit zu sprechen, wäre ihr Begriff hier vollauf irreführend. Als immanent wird damit keine Handlungsweise, keine Neuerungs- oder Entwicklungsweise angesprochen. Wo wir Ähnlichkeiten wahrnehmen, stellen wir sie fest. Was solcher Feststellung nicht entspricht, wird nicht etwa als "krankhaft" angesehen, sondern ebenfalls festgestellt. Es gibt eben nur soviel Regelmäßigkeit, wie es eben geht. Die Wertung hat bei der Feststellung keine Rolle zu spielen, d. h. sie hat möglichst wenig zu stören, und der Beobachter hat zu versuchen, die Störung selbstkritisch auszuschalten. 5 Wie die Psychiatrie zeigt, gilt dieses auch von den Personenganzheiten. Und auch bei diesen könnte man von Organisationspotenz reden. • Vergleicht man z. B. die verschiedenen Gewerkschaften, so kann man bei uns solche finden, die fast reine Interessenverbände sind, und auch solche, die sich mitten auf dem Wege zur Gemeinschaft befinden. Schließt sich aber eine deutsche Gewerkschaft der Sozialdemokratie an, so hat man Mühe, sie in ihren Auswirkungen trotz Verschiedenheit der Verhältnisse von der Ortsgemeinschaft (Gemeinde) zu unterscheiden: Jugenderziehung, Sportverein, geselliges Leben, gemeinsame Interessen, disziplinierende Gewalt der Gruppenmeinung, gemeinsame Normen- und Wertideologie und dergleichen.
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bei oft solche Merkmale wie räumliche Begrenzung, örtliche Beständigkeit, fortwährender persönlicher Kontakt (face-to-face group) und ausgeprägte Handlenbeständigkeit hinzugefügt werden. Der Verbandsbegriff ist für uns ohne weiteres brauchbar, nur ist zu bemerken, daß eine Gruppierung, welche sich allein um ein einziges Interesse zusammenbaut, so gut wie undenkbar ist. Man denke nur an den Einfluß der Persönlichkeit des Vorstands beim "reinsten" Interessenverband. Der Leutselige oder Würdevolle, welcher durch diese Eigenschaften gewisse, durchaus nicht wirtschaftliche, emotionale Bedürfnisse der Mitglieder befriedigt, hält den Verband zusammen und trägt ihn weiter, wo der Grobian trotz des gemeinsamen wirtschaftlichen Interesses die Sache sprengen kann. Von "reinen" Interessenverbänden dürfen wir also im eigentlichen Sinne nicht reden, sondern nur von solchen, die hauptsächlich oder bewußt um ein Interesse aufgebaut sind. Noch viel sorgfältiger haben wir mit dem Begriff Gemeinschaft umzugehen. Ob es zwei oder sieben Interessen sein sollen, wieviel und welche Teile vom Gemütsleben mit einbeschlossen werden müssen, das ist offenbar eine Sache der Willkür. Doch wollen wir für unsere Zwecke keinen Idealtyp, sondern einen den heutigen Verhältnissen angepaßten Sammelbegriff. Vielleicht erreichen wir einen derart brauchbaren Begriff dadurch, daß wir die Gemeinschaft als eine Gruppe auffassen, die einen beträchtlichen Teil des ganzen Menschen erfaßt (Dorf, Ehe, oft auch Stand, Volk) - uns dabei aber bewußt bleiben, daß dieser Wortgebrauch (wie bei Gesellschaft) nur ein Mindestmaß von üblichem Beiklang dieses Wortes enthält. Ein an den Idealtypus der Gemeinschaft grenzender Fall wäre z. B. ein abgeschlossenes Gebirgsdorf, in welchem auch die Religion einheitlich wäre und in dem - wie es bekanntlich verschiedentlich geschieht - der Dialekt auch gegenüber den benachbarten Dörfern fast den Charakter einer eigenen Sprache trägt. Je nach Häufung und gegenseitiger Verstärkung der verbindenden Interessen, auch nach der Dichte der Handlen- und der höherstufigen Organisation können wir bildhaft von der Potenz einer Ganzheit sprechen und die Hypothese aufstellen: je nach dem Grade dieser Potenz ist auch die Ganzheit wehrhaft, kann sich gegen Wechsel der Zeiten, der Verhältnisse behaupten. Ob und inwieweit eine hohe Potenz von Vorteil ist, das muß den Kulturphilosophen überlassen bleiben. Im allgemeinen - nicht notwendig (die katholische Kirche) - wird an Anpassungsfähigkeit das eingebüßt, was an Festigkeit gewonnen wird. Offensichtlich ist, daß in der modernen Welt die meisten Ganzheiten, welche Personen und Handlenkomplexe zusammen erfassen, an Potenz abgenommen haben und anscheinend einstweilen weiter abnehmen werden'. Offensichtlich ist auch, daß Seitenstücke dieser Entwicklung entstanden sind, und zwar in der von Max Weber stark betonten zu-
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nehmenden Zweckrationalität der Handlungsweise, ferner in der zunehmenden Komplexität der Wirtschaft, schließlich (was andere Gemeinschaften betrifft) in der sprunghaft größer werdenden Rolle des Staates, des Trechts, des Rechts als allgemeiner Ausgleichsstelle. Wenn man unter Betonung des Verhältnisses zwischen Handlenkomplexen und Menschen zu den "Systemen der Kultur" zurückkommt, so beobachtet man, daß diese recht verschiedenartig aussehen. Am lockersten verbunden mit den Menschen ist wohl "die" Kunst, am engsten wohl "die" Wirtschaft. Dazwischen liegen Wissenschaft und Technik. Keines der Systeme kann sich vom Menschen ganz loslösen. Der Gedanke, daß Wissenschaft oder Kunst "verwirklichten, objektiven Sinn" darstellten, der sich von der jeweiligen Menschheit freigemacht hätte, scheint mir ein eitler Traum zu seinS. Was in der Wissenschaft gestern "wahr" gewesen ist, ist es heute nicht mehr und wird es morgen erst recht nicht sein. Von dem Erkenntnistheoretiker müßte man nächstens lernen, daß die Zwecke und kulturgegebenen Begriffe der jeweiligen Menschheit die Auffassung des "Wahren", auch hinsichtlich der Naturzusammenhänge, stark bedingen9 • Erst recht gilt dieses für die Kunst. Der Sinn jedes Kunstwerkes ändert sich für die nachfolgenden Geschlechter. Die weiße Übertünchung von Kirchenwänden, die im Jahre 1815 mit einem gotischen Barbarismus aufräumte, um wieder "erhabene Einfalt und stille Größe" zu schaffen, ist im Jahre 1930 eine unverzeihliche, an den gotisch bemalten Kirchenwänden vorgenommene 1
Ehe, Kirche, die meisten Stände, Dorf und dergl. Ob "der Staat" (etwa
als Gegenbeweis) an "Potenz" zunimmt (im Gegensatz zu Macht und Wir-
kungskreis), dürfte zu bezweifeln sein. Die Antwort hängt zumindest von einer sorgfältigen Untersuchung dessen ab, was man unter "Staat" versteht und an welchen Staat man gerade denkt. Auch fragt sich, wie es um "das Proletariat" oder verschiedene seiner Teile steht. Die kommunistische Partei in Rußland kann sich z. B. verdichten; dafür sind Bauerngemeinschaften dort sicher in Auflockerung begriffen. Vgl. im übrigen die Ausführungen von Tönnies : Gemeinschaft und Gesellschaft. S Hinsichtlich des Rechts und des "objektiven Sinns" der rechtlichen Wortformeln vgl. das Kapitel über die Soziologie der Dogmatik. Hier sei nur daran erinnert, daß die neuere Dogmatik Sinnmehrdeutigkeit zugibt, nicht mehr den objektiven Sinn zu ermitteln sucht, sondern vielmehr einen (und zwar den besten) brauchbaren Sinn, wobei die Tatsachenverhältnisse und die wahrscheinliche Auswirkung der Deutung in den Vordergrund treten. Damit fliegt "der objektive" Sinn der Worte aus dem Fenster. Nicht auslegen mehr, sondern hineinlegen - und zwar im Sanctum Santorum der Lehre vom objektiven Sinn. Einen objektiven Sinn gibt es allerdings in anderem Sinne: als den jeweilig faktisch akzeptierten Sinn, wo kein Zweifel besteht, also in den wenig umstrittenen Teilen des Rechts. Doch vgl. Kap. VIII. t Dies kann hier nicht näher erörtert werden, jedoch der Gedankengang ist klar: "Wahres" in der Natur erfaßt man nur durch Abstrahieren des "Belanglosen" unter Betonung des "Belangvollen". Und die jeweilige Kultur (d. h. die Zusammensetzung der jeweiligen Menschheit) sowie der Zweck der Untersuchung bedingen von Hause aus die Begriffe über Belang. Für eine entgegengesetzte Auffassung siehe Freyer: Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft, bes. Kap. I.
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Vandalisierung. Und kann ernstlich geglaubt werden, daß die jetzt anmutsvolle Zwecksachlichkeit der heutigen Baukunst sich nicht demnächst als plumpe Einfaltslosigkeit "entpuppen" wird - um übermorgen wieder "entdeckt" und verherrlicht zu werden? Hinzu kommt, daß in allen Kultursystemen mit Ausnahme der Sprache (bei der das ganze Volk verhältnismäßig undifferenziert mitwirktl°) ein mehr oder weniger spezialisierter Stab sich ausbildet und zum Träger des Systems wird. Allerdings wirkt bei den Systemen der Kultur im Gegensatz zu solchen Großgebilden wie Stand oder Staat ein Moment mit, das es ermöglicht, Menschenalter oder gar Jahrhunderte mit beträchtlichem Erfolge zu überspringen: die materialisierte Form in der bildenden Kunst, das geschriebene Symbol in Wissenschaft und Literatur. Man denke z. B. an die Wiederaufnahme, ja Wiederentdeckung der Mendelschen Versuche, an die Entzifferung der Hieroglyphen oder an die Neubelebung der Renaissancezeit durch die Antike. Man bedenke aber gleichzeitig, daß wir z. B. nicht den Sinn der Hieroglyphen so entziffern, wie sie der Ägypter auffaßte. Die Nebenschwingungen fehlen. Und dennoch mit beträchtlichem Erfolg. Standestradition hingegen, auch eine ungeschriebene, kann zwar Menschenleben und J ahrhunderte überbrücken - eine vollkommene Kluft aber in der Abfolge der betreffenden Menschen vernichtet sie. Daraus folgt, daß für die Kultursysteme eine ungleich größere Häufungsmöglichkeit gegeben ist als für diejenigen Großgebilde, die daran haften, daß jeweils ihr Ganzes oder mindestens große Gesamtstücke l1 in Einzelmenschen verkörpert werden. Keiner wird leugnen wollen, 10 Vgl. indessen Kap. IV; Freyer aaO., S. 245 f. und Tönnies, daselbst zitiert, sprechen von der Sprache im unrealistisch mystischen Tone von Savigny und Puchta über "den" Volksgeist. "Verhältnismäßig" besagt nur: weit mehr als bei den anderen Kultursystemen. Genaues Zuschauen zeigt in der Sprache einen gemeinsamen Kern und weit verzweigte Spezialzweige (Matrosen-, Bergmanns-, Weidmanns-, Mediziner-, Juristen-, Eisenbahner- und was sonst noch für Sondersprachen!). Auch ist gerade der deutsche Denker leicht zu beirren: denn in seiner Sprache ist wie im alten Griechischen die Einstellung so, daß die Vernehmungs- und Aufnahmemöglichkeiten ein Maximum erreichen. Sie baut sich in einer für Westeuropa einzigartigen Weise von sich heraus neu aus und auf. Weder das Französische noch das Englische z. B. besitzt ein Drittel dieser Fähigkeit - was dort das Wesen der Sprache als Nicht-Gemeingut verdeutlicht. Aber selbst hinsichtlich der deutschen Sprache soll man eine gute Einsicht nicht übertreiben. Meine Sekretärin z. B., die sowohl einen ausgebildeten Sprachschatz wie gutes Sprachgefühl hat, beanstandet nicht nur ästhetisch das aus dem Technischen stammende gute deutsche Wort "Flutlicht" (und korrigiert mir dasselbe aus Pflichtgefühl immer wieder weg), sondern versteht trotz der völlig deutschen Bauart des Wortes gar nicht, was es besagen will. Verbum sapienti. Auch möchte ich z. B. wissen, welcher Prozentsatz der BankangesteIlten Stefan George lesen können. 11 "Lehnsstaat" oder "Rittertum" setzt nicht Menschen voraus, deren jeder das ganze Großgebilde, wohl aber Menschen, deren jeder ein gewaltiges Teilstück in sich trägt.
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daß eine solche Ganzheit wie Stand oder Standesgesellschaft unter günstigen Umständen sich zu ungeheurer Komplexität entwickeln kann (die Kasten in Indien; der japanische Lehnstaat); auch da aber, wo diese Komplexität die uns geläufigen Begriffe des Möglichen weit übersteigt, sind ihr doch Grenzen durch die Aufnahmefähigkeit des Menschen gesetzt und durch die Knappheit der Kräfte. Will z. B. die Erziehung wesentlich mehr Zeit in Anspruch nehmen als im alten Japan, so beginnt - abgesehen vom Schlaraffenland - das zur Erhaltung der Gesellschaft erforderliche Arbeitsquantum gefährdet zu werden. Die Kultursysteme können hingegen fein verästeltes Gemeingut nicht nur ungleich größerer Menschenrnassen einer bestimmten Zeit sein, sondern ihr Ganzes braucht dank der materiellen überlieferungstechnik zu einer bestimmten Zeit überhaupt nicht in Menschen verkörpert zu werden. "Graecum, non legendum" hat die Renaissance nicht unterbunden. Dieses hat auch zu der anregenden, wenn auch bei oberflächlicher Betrachtung irreführenden Formulierung geführt, daß der sog. Zivilisationsprozeß, d. h. die Anhäufung der Technik und der Wissenschaft, "gradlinig" fortschreite (Alfred Weber). Mit "gradlinig" will natürlich nur eine ausgeprägte historische Gesamtrichtung, nicht etwa ein naturnotwendiger, erst recht nicht ein stets im einzelnen zu beobachtender Vorgang zum Ausdruck gebracht werden; man denke an die "verlorenen" Künste etwa der mittelalterlichen Glasfärbung, an die Verrohung der späten antiken Kultur, an das Verschwinden der Maya. Auch wenn das jeweils aufgebaute Großgebilde in obiger Weise verhältnismäßig abhängig von Verkörperungen ist oder nicht, so bleibt doch die Art und Weise, wie es zu einer bestimmten Zeit in Menschen eingegraben ist, von ausschlaggebender Bedeutung. In diesem Sinne ist die jeweilige Wirkungsweise eines Kultursystems ebenso historisch einmalig wie die Wirkungsweise der unmittelbar verkörperungsbedingten Großgebilde. Das führt zu dem vexierten Problem, wie aus dem " unumkehrbaren Nacheinander historischer Einmaligkeiten" (Freyer) eine wissenschaftliche Erkenntnis über das Wesen der Großgebilde überhaupt zu gewinnen ist. Haben wir uns auf den Bericht über nie wiederkehrende Einmaligkeiten zu beschränken? Tunlich ist, vorerst eine weitere Hypothese aufzustellen: je komplizierter das Großgebilde, das man sich vorstellt, desto einmaliger wird es sein12 • Je molekularer aber man seine Ganzheit faßt, desto mehr kann man hoffen, sich Wiederholendes zu finden. Was sich in einer Gesamtheit nie wiederfinden 1t Man kann wohl die weitere Hypothese aufstellen: je zahlreicher und unterschiedlicher die in einer Gesellschaft gegebenen Ganzheiten, desto individueller die Persönlichkeitsgestaltung des Einzelmenschen; wobei aber sofort die Einschränkung hinzutreten muß, daß die zahlreichen Ganzheitsvariationen dem Einzelmenschen ausreichend zugänglich sein müssen - sonst entwickelt sich eine Vielgestalt weniger von Einzelindividualitäten als von Gruppen (Kastensystem).
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wird, kann doch in seinen Einzelteilen, in deren Zwischenspiel, in deren Wirkung auf das gegebene Ganze stetig Wiederkehrendes bie., ten13 • Auch im ungünstigsten Falle haben wir hier einen erfolgversprechenden Ansatz. Indessen soll man sich auch nicht zu sehr von der Vorstellung der Einmaligkeit "der" Großgebilde irreführen lassen. Was vorhin über das Streifenwesen der Handlen, Normen und Begriffe ausgeführt wurde, gilt nicht in demselben, sondern in erhöhtem Maße für jedes vermeintliche Großgebilde. Treffend hat Ehrlich betont, daß es z. B. "die mittelalterliche Stadt" nie gegeben hat14 • Somit wird jedes "wirklichkeitstreue historisch einmalige Großgebilde" notwendig wirklichkeitsungetreu. Entweder man konstruiert einen Idealtypus, einen "reinen" Typ, an dem man die tatsächlichen Beispiele durch Maß und Richtung ihres Abstandes messen kann; oder man arbeitet mit einem Sammelbegriff, welcher allerlei wichtige Einzeleigenschaften fortabstrahiert; oder man arbeitet schließlich mit einem Minimal- oder Kernbegriff, welcher manches häufig Vorkommende, manches oft Charakteristische, stets Mitbestimmende nicht mit zu erfassen vermag. Alle diese Arten der Begriffsbildung haben aber das eine gemeinsam, daß sie die Tendenzen des Großgebildes erfassen und veranschaulichen wollen. Im Grunde suchen sie also, was hier die Einstellung des Gebildes genannt wird. Auf diese Weise können sie auch ins Schwarze treffen. Denn eine äußerst ähnliche Gesamteinstellung kann vielen, unter13 Gerade hier scheint sich mir der Gegensatz zwischen der inhaltsreichen "Einmaligkeit" des Wirklichkeitssoziologen und der "inhaltslosen" Form bei den formalen Soziologen zu überbrücken. In dem Maße seiner Kompliziertheit wird jedes Gebilde, auch jede Abstraktion einmalig. In dem Maße seiner Verallgemeinerung wird hingegen jedes Gedankengebilde wirklichkeitsungetreu (was spukt an Unglaublichkeiten hinter einem so einfachen, klaren, sachlichen Begriff wie etwa Fenster! Denken Sie nur zwei Minuten nach. Sie werden dann schon von "Inhaltsleere" reden können). Die Brücke läßt sich einerseits über die sogleich im Text zu behandelnde GesamteinsteIlung schlagen, andererseits über die Vereinfachung und Verkleinerung des in Angriff genommenen Gebildes. Die Formalsoziologen vereinfachen im allgemeinen zu oft, ohne zu verkleinern - und müssen gemäß dem Wesen der Abstraktion "inhaltsleerer" werden. Die Wirklichkeitssoziologen verallgemeinern im allgemeinen, ohne den Schritt in die wirklichkeitsungetreue Abstraktion zu merken, weil die Kompliziertheit der Gesamtabstraktion trotzdem (und nicht ohne Recht) "einmalig" erscheint. Wer aber zugleich und in demselben Maße verkleinert und verallgemeinert, bleibt der Wirklichkeit, dem "Inhalt" so nahe wie diese und rückt doch an die Allgemeingültigkeit so nahe heran wie jene. Was nicht ohne Nutzen wäre. Was übrigens auch weder die formale noch die Wirklichkeitssoziologie ausschließt, sondern beide sowohl ergänzt wie vereinigt. 14 Vgl. auch Heinrich Mitteis in: Beiträge zum Wirtschaftsrecht, S. 238, über die heutige Tendenz, geschichtliche Begriffe kleiner zu schneidern; auch seinen Hinweis auf "eine Art feudalen Naturrechts" in den Kreuzfahrerstaaten, wobei er allerdings auch von einem Verständnis "des" (nicht minder "naturrechtlich" gedachten) Feudalismus spricht.
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einander in Einzelheiten sehr verschiedenen, konkreten Exemplaren "der" Ganzheit doch gemeinsam sein. Wenn nämlich die verschieden eingestellten und gearteten Einzelteile so gegeneinander gelagert sind, daß das Gleichgewicht bei allen konkreten Ganzheiten ähnlich ausfällt oder die Haupttendenzen nach derselben Richtung streben. In einem solchen Sinne kann1s es also doch "die mittelalterliche Stadt" (oder mindestens "die Hansastadt im 14. Jahrhundert") gegeben haben. Ungefähr diesen Gedanken an die typischen Tendenzen will man auch wiedergeben, wenn man von der "Dialektik der Geschichte" redet1'. Sind die betreffenden Großgebilde einigermaßen im Gleichgewicht oder im weiteren Ausbau bereits bestehender Grundtendenzen begriffen, so nimmt allerdings der Geschichtsdialektiker seine Perioden recht lang und groß. Sind sie nicht im Gleichgewicht, so müssen die Perioden entsprechend kürzer gewählt werden. Uns hilft hier jedoch diese geschichtsphilosophische Herrlichkeit nicht weiter. Was in Jahrtausendwellen geschehen ist oder geschehen wird, müssen wir begreifen, wenn es geht. Was aber in Jahrzehnt- und Tageskräuselungen vorkommt, macht just jenes Rechtsleben aus, das wir studieren wollen. Einen dialektischen Vorgang haben wir also bei Großgebilden nicht vorauszusetzen. Wo wir ihn finden, nehmen wir ihn wahr. Nicht minder bedeutsam ist jedoch für Uns der Prozeß des Ausbaus, nicht minder bedeutsam der Prozeß des Schwankens - nach zwei Richtungen oder nach sieben. Ebenso bedeutsam die Anwesenheit nicht nur von These und Antithese, sondern von drei oder von zwanzig Thesen: die Heptalektik. Deswe.gen betonen wir auch immer wieder die Trägheitswirkung, das Streben des Großgebildes nach Fortbestand, die stetige Tendenz, bei Störung nicht nur ein Gleichgewicht, sondern ein Gleichgewicht im Sinne des Gewesenen wiederherzustellen. Deswegen nehmen wir die Großgebilde in ihrer jeweiligen Form im allgemeinen einfach hin, als 15 Ein Urteil im Einzelfall wird sich nur der sachkundige Skeptiker erlauben können, und zwar der sachkundige Skeptiker. 18 Die meisten Dialektiker fügen einen anderen, völlig verschiedenen, philosophischen Gedanken hinzu, der für unsere Zwecke unwesentlich und störend ist: nämlich den des dialektischen Fortschritts, der dialektischen Steigerung hin zur Vollkommenheit. Dialektischen Wandel kann man sich aber ebensogut als einen fortschreitenden Zerrüttungsvorgang vorstellen wie als einen fortschreitenden Aufstieg, ferner ebensogut als einen wechselhaften, fortschrittlich neutralen Verlauf. Die Verabschiedung des Aufwärtsgedankens hat für den Soziologen, zumal für den Rechtssoziologen, den großen Vorzug, daß er den Prozeß des Wechsels viel schärfer beobachten kann, sobald der Fortschrittsglaube ihn nicht mehr in Versuchung bringt, seine Perioden unübersichtlich lang zu wählen. Die Dialektik leidet ferner an einem Absolutismus, welcher dem des Monisten gleicht. Warum sind immer gerade zwei große Tendenzen herauskristallisierbar? Ist die Welt wirklich so schemenhaft? Wenn die Zweiteilung gerade paßt, dann gut. Wenn nicht, so ist wenig mit Wortkunstgriffen geholfen. Dann bleibt nur die vorhin erwähnte Möglichkeit einer Tetraoder Heptalektik.
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die gegebene Umweltbeschaffenheit; wollen sie vor allem nicht in ihrem langfristigen Wandel, sondern in ihrer täglichen Auswirkung verstehen; richten auch bezüglich des Wandels unser Augenmerk mehr auf den Molekularvorgang. Ein solcher Vorgang oder Hunderte solcher Vorgänge können für die Geschichtsdialektik kaum erkennbar, scheinbar belanglos sein. Doch wie in der Differentiallehre gerade die Beziehungen zwischen zwei unendlich eng benachbarten Punkten den Weg zum Verständnis der ganzen Kurve bereiten, so vielleicht auch hier. Soviel scheint mir offensichtlich: Der gesellschaftliche Wandel durch Katastrophen ist kaum häufiger als der geologische und zumeist auch weniger durchgreifend17• Sollte diese Ansicht auch verfehlt sein, so tut dies unserem Hauptansatz keinen Abbruch. Denn kleine Wandlungen, Molekularwirkungen - ob sie nun die Tendenz zur Beständigkeit überwinden oder nicht - bilden gleichwohl den Grundstock des Rechtslebens. Darüber darf keine Kodifikation, keine Einführung eines neuen Rechtssystems, keine Umgestaltung der Rechtspflege hinwegtäuschen. Selbst diese sind nur auf dem Wege über jene Molekularvorgänge zu verstehen, aus welchen sie insgesamt genommen bestehen. Erst recht sind ihre Wirkungen nur so zu erfassen: Satz für Satz - Sachlage für Sachlage. Wenn also auch "der Keim des Verfalls" oder die dialektische Antithese schon in jedem Großgebilde steckt18, so haben wir daran zu denken, daß der Keim nur deswegen dort steckt, weil "das Gebilde" schon groß genug erfaßt ist, um den Verfallskeim mit einzubeziehen! "Der Verfall" oder das Heranreifen eines dialektischen Gegenstücks von außen wird sich im Rechtsleben in kleinen Zusammenstößen, im allmählich sich häufenden Handlen- und Normenwandel (vorab innerhalb von Teilgruppen), wird sich dann in Zusammenstößen zwischen Gruppen bemerkbar machen. Wiederum kommt der Ansatz durch die Grenzlehre zur Geltung. Das bestehende Großgebilde stellt das 17 Umstürzende Wandlungen durch Katastrophen finden wir bei der französischen und russischen Revolution, bei der Vernichtung der Albigenser, wohl auch bei der Verbreitung des Islam. Die Verbreitung der anderen Großreligionen, die Reformation, die Renaissance, die amerikanische Revolution, der Anbruch des römischen Kaiserreichs scheinen mir eher "Entwicklungen" oder "Entwicklungsstufen" in dem Sinne zu sein, als der entscheidende Ruck als solcher eher hereinpaßte als hereinbrach. 18 Was ich als Verallgemeinerung übrigens durchaus bezweifle. Man denke nur an den unglaublich langen Fortbestand verhältnismäßig unveränderter sozialer Einrichtungen bei manchen Naturvölkern. Hier ist die Frage aufzuwerfen, ob die Geschichtsdialektik überhaupt anwendbar ist, wenn sich die äußeren Verhältnisse der Gesellschaft einigermaßen gleichbleiben, zumindest ob sie unter solchen Bedingungen mehr als eine unter verschiedenen Möglichkeiten vorstellt. Das Auftreten eines Tschaka (das doch als innerer Faktor der Zulu-Kultur gelten muß) kann allerdings einen ebenso starken Antrieb zur Neugestaltung bilden wie die Vernichtung einer Hirtenwirtschaft durch. die Tsetsefliege.
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Schwungrad dar, welches die meisten Veränderungsbestrebungen achtlos zunichte macht. Wird aber der Molekulardruck nach einer Richtung hin immer stärker, so geht sein Einfluß nach und nach auch in das Treiben des großen Rades über; das Schwungrad bleibt, es ist aber nicht mehr dasselbe Schwingen. Mittlerweile hat es das Rechtsleben dann vor allem mit den Funkenbüschein zu tun, die das Rad und jeder ihm widerstrebende Druck unvermittelt und oft drohend in die Gegend versprühen. Hieraus ergibt sich unsere Methodik: Wir können und werden versuchen, Typisches bei den Molekularvorgängen und bei derem Gegenspiel mit bestehenden Ganzheiten festzustellen. Wir hoffen gar, hier und dort über das "Typische" zu Gesetzmäßigkeiten zu gelangen. Wollen wir aber in einem konkreten Fall zu sicheren Ergebnissen kommen, so muß die Beschaffenheit des gerade vorliegenden konkreten Groß gebildes erforscht werden. Dort können Einmaligkeiten vorliegen, die mitbestimmen, die ein besonderes Ergebnis - auch in kleineren Vorgängen - bewirken können. Wir wollen indessen keine systematische Gliederung des gesamten Großgebildewesens der heutigen Gesellschaft versuchen - schon deswegen nicht, weil jede systematische (d. h. logisch geschlossene) Gliederung mannigfache Tendenzen vernachlässigen müßte19 • Wir gehen bescheiden und tastend vor. Wir treten an die Vorstellung eines bestimmten Großgebildes nur dann heran, wenn sie sich uns bei der Behandlung einer konkreten Frage in den Weg stellt. Jedoch ist hier wieder an unseren Ansatz zu erinnern. Wir greifen zurück auf die Vorstellungen von Einrichtung und Aufgabe oder Zweck. Dabei wird unter Einrichtung vornehmlich ein solcher Handlenkomplex verstanden, der sich in zumeist lebenden Menschen verkörpert (Deutsche Eisenindustrie; das Fabrikwesen; das Gericht; die Ehe). Der am einfachsten greifbare Fall ist derjenige, in dem die den Kern bildenden Menschen als Sonderstab erkennbar sind20 • Bei Einrichtungen wie Brotverbrauch 1» Mir ist es auch bis dato nicht gelungen, eine halbwegs umfassende Gliederung aufzustellen oder aufzutreiben, welche selbst einer wohlwollenden Kritik standzuhalten vermöchte. to Selbstverständlich sind, wie oben beim Königtum angedeutet wurde, die sozialen Einrichtungen des Stabs äußerst stark durch die diesbezüglichen Handlen der Nichtstäbler bedingt. Nach innen aber, das heißt bei der Vorbereitung, Arbeitsführung und Innenverwaltung, stehen die Stabshandlungen ziemlich unabhängig da. Die Nichtstäbler kommen nach zwei Richtungen hin besonders in Frage: erstens, indem sie dem Stabe eine gewisse Handlungsfreiheit einräumen; sie mischen sich nicht drein, sie stören nicht. Zweitens, indem die Nichtstäbler durch ihre Handlen, ihre Ansichten und dergl. in sehr starkem Maße die Wirkungsrichtungen des Stabes bestimmen. Dabei soll die davon unabhängige Gegeneinwirkung des Stabes (vor allem durch Erziehung der betreffenden Nichtstäbler) nicht abgeleugnet werden (Priester und Laie; Mediziner und Publikum, etwa bezüglich ansteckender Krankheiten - Impfen, Anzeigepflicht, Isolierung - oder der Chirurgie; Rechtsstab und Neuregelung).
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oder Ehe sind allerdings die Beteiligten so zahlreich und so unorganisiert, daß der Stabsgedanke - wie oben ausgeführt - schwer brauchbar ist. Hier liegt die Sache vielmehr immer noch so wie dereinst in Zeiten der Selbsthilfe beim Recht: spezialisiert ist weniger ein Sonderstab als ein greifbarer Teil des Lebens und HandeIns der meisten Menschen. Wenn man nun nach der Aufgabe einer Einrichtung sucht, so wird man wiederholt finden, daß diese nach einem ähnlichen oder gleichen Prinzip konstruiert wird wie die "Systeme der Kultur": nämlich gemäß der vermeintlichen Befriedigung irgendeines vermeintlichen Interesses. Man könnte sogar behaupten, daß die Großsysteme der Kultur eigentlich nur deswegen als solche erkannt werden, weil dort die betreffenden Interessen hoch genug und lange genug herausragten, um imposante Handlen- und Gedankenkomplexe hervorgebracht zu haben. An dieser Stelle ist es auch tunlich, eine Unterscheidung zwischen den bis hierhin synonym gebrauchten Begriffen Aufgabe und Zweck einzuführen. Fortan werden wir den Begriff Zweck nur da gebrauchen, wo wir vermeintlich die Menschen oder die Gruppe feststellen können, um deren Zweck es sich handelt - vor allem also in bezug auf einigermaßen bewußt zweckmäßiges Handeln. Allerdings werden wir in Versuchung kommen, denselben Begriff dort zu verwenden, wo eine Einrichtung (auch ohne nachgewiesenes Bewußtsein) den Interessen eines Mannes oder einer Gruppe auf Kosten von Interessen der Gesamtheit dienstbar gemacht wird21 • Aufgabe hingegen soll nur auf unsere Vorstellung von einem Gesamtinteresse 22 zielen - allerdings natürlich in einem tatsächlichen Sinne: nicht das, was die Gesellschaft brauchen oder mögen sollte, sondern das, was die jeweilige Gesellschaft will oder braucht. 21 Der Juristenstand widersetzt sich z. B. einer erforderlichen Prozeßreform. Dieses erklärt sich meist mehr aus gewohnheitsbedingter Blindheit und berufsmäßigem Mißtrauen gegen das offenbar Unabsehbare als aus bewußtem Eigennutz. Wenn aber Stabsträgheit mit Stabssonderinteresse zusammenfällt, dann kann man sich nur mit Mühe davor schützen, den Zweckgedanken über das ihm eigentlich zustehende Maß hinaus zu betonen. Wer unternimmt es auch z. B., in einem solchen Falle wie dem Lübecker Calmette-Prozeß, Ursachen und Motivationen dieses Knotens zu entwirren: überparteilichkeit, Gerissenheit, Untüchtigkeit, prozeßtechnische Komplikationen (Staatsanwaltschaft und Nebenkläger mit unterschiedlichen Interessen und verschiedenen Auffassungen über die Gestaltung des Falles und der Prozeßführung; Unübersichtlichkeit des Stoffes, sobald sich Theorien kreuzen und Beweismaterial für sich kreuzende Theorien erbracht wird; Verschwinden von Beweismaterial) und etwaige dazwischentretende Nebeninteressen (persönliche, politische und dergl.). Vgl. zum Calmette-Prozeß die Nachweise oben Kap. 4 Anm. 15. !! Im oben erwähnten Falle: schnelle, überzeugende und nicht zu kostspielige Klärung mit dementsprechenden Folgen.
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Es wird allmählich Zeit, vom Theoretisieren wieder zur praktischen Arbeit zu schreiten. Im nächsten Kapitel soll also diese Vorgehensweise auf einige Phasen der heutigen Eheproblematik angewendet werden. Wir hoffen, dort das bisher Ausgeführte zu veranschaulichen: den grundlegenden Charakter der Handlen, die teilweise Loslösung der Normen und Begriffe von den Handlen, die Wechselwirkung von veränderlichen Handlen und verhältnismäßig zähen Begriffen, die Auswirkung der jeweiligen Schichtung von Handlen und Handlenteilkomplexen und der in der Ganzheit vorfindbaren Tendenzen, die teilweise Klärung eines komplexen Problems durch skeptische, von den Handlen ausgehende Inangriffnahme und Analyse je nach den Aufgaben, die Bedeutung dieses Ansatzes für das Rechtsleben, endlich die Bedeutung des Rechtslebens für die gesellschaftliche Einrichtung. Gelingt uns dies auch nur halbwegs, so können wir Atem holen und angesichts dieser Unterlage Mut fassen zu weiterem Theoretisieren.
Siebentes Kapitel
Beispiel für eine Ganzheit: die Ehe 1 Daß die Ehe in unserer Gesellschaft, jedenfalls in unserer Ideologie, als "eine" Einrichtung gelten kann, ist kaum zu bezweifeln; gleichfalls nicht, daß sie einen personenbehafteten Sozialkomplex darstellt. Jedoch ist sie als Einrichtung keinesfalls einfach und entpuppt sich auch bei näherem Zuschauen als durchaus nicht einheitlich. Hat man erst einmal ihre Komplexität erkannt, so klärt sich, wie zumeist, das Bild. Der Gedankengang ist etwa folgender: "Mensch" ist eine Gattung der Begattung: es gibt eben zwei Geschlechter, und das hat Folgen. "Mensch" ist auch ein Wesen, das leben muß und lebt, ein Gewohnheitstier, das Dauerverhältnissen zustrebt. Auch wächst das Kind des Menschen merkwürdig langsam zur Selbständigkeit heran. So kann irgendeine Dauerregelung von Verhältnissen zwischen den Geschlechtern kaum ausbleiben. Bei uns hat sie die Grundform der Paarehe angenommen. Wir kennen auch andere Verhältnisse zwischen Mann und Frau: Viertelstundenverhältnisse, Vierteljahresverhältnisse, leidenschaftsbedingte, bemutternde, freundschaftsbedingte, gewerbsmäßige u. a. m. Wir kennen den flatterhaften Mann, wir kennen unterschiedliche Lebensführung von Junggesellen und Ehemännern .._Wir kennen "untreue" und vollauf "lose" Weiber. Doch liegt als Grundform die Dauerregelung fest, und zwar als Paar. Ein Mann und eine Frau leben also dauernd zusammen. Das ist typisch, das bleibt typisch. Das ist "normal". Auf die Genetik dieser Einrichtungsform kommt es hier nicht an. Die Großhandle tritt uns entgegen. Wir erkennen sie an. Die Art und Weise des anerkannten 1 Dieses Kapitel hat ein abgerundetes Bild des Ganzen bieten wollen. Das ist ihm nicht gelungen. Denn es ist geschrieben vom Standpunkt (a) eines Mannes, (b) eines Frauenrechtlers, (c) eines Bürgerlichen, (d) eines Zukünftlers, (e) eines Irreligiösen. Die letzten drei Schwierigkeiten hoffe ich zum Teil behoben zu haben, indem die dadurch entstandenen Lücken und Schwächen mir mindestens gut bewußt sind und ich bestrebt war, den jeweils anderen Standpunkt zu würdigen oder die Stellen, wo die Ergänzung am dringendsten not tat, zu unterstreichen. Den beiden erstgenannten Schwierigkeiten ist jedoch, wenn sie zusammentreffen, schwer beizukommen; vor allem bleibt die konservativ gesinnte Frau hier ungenügend berücksichtigt. Trotzdem glaube ich, daß die Analyse abgerundeter ist als in der herkömmlichen Literatur.
Beispiel für eine Ganzheit: die Ehe
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Zusammenlebens heißt "Ehe". Man kann auch Konkubinat von Dauer finden. Doch seltener. Die Grundform ist es nicht. Bei der Bewältigung der Lebensaufgaben ergibt sich für jedes Ehepaar ein gewaltiger Komplex von Kleinhandlen. Neue Probleme von Jahr zu Jahr, von Woche zu Woche, von Stunde zu Stunde. Ich bin munter, ich bin in Schwung. Du hältst kaum noch die Augen offen. Brechen wir auf? Gehen wir schon nach Hause? Probleme, Lösungen - also Handlungen. Handlungen, stets wiederkehrend - also Handlen. Nach sozialem Muster: Wir wurden zusammeneingeladen, also gehen wir auch zusammen (warum denn nicht einzeln?) oder wir bleiben; wir versuchen auch, uns vor Dritten darüber nicht zu zanken. Es gibt auch Lösungen, die paarweise individuell sind: Bei uns richtet es sich nach Mutti (oder nach Vati), wir schließen 20 varüerende Kompromisse. Wir - Du und ich, er und sie, und jene beiden. Nicht "die Gesellschaft". Häufen sich hingegen unsere Variationen und werden mehr, dann entsteht daraus für die Gesellschaft (oder für unsere Nebengruppe) ein neues kleines Teil von Geregeltheit. Nicht "mein Mann", sondern "der Mann" braucht dann seinen Schlaf. Bei jedem Ehepaar - jedem einzelnen - ein gewaltiger Komplex von Lösungen, die sich wiederholen, von Erwartungen, von Ehehandlen. Tag für Tag, Jahr für Jahr, im steten Werden. Das stimmt zwar auch für jedes Dauerkonkubinat, braucht uns vorläufig jedoch nicht zu beschäftigen. Konkubinat ist nur; es hat nicht zu sein. Die Ehe ist typisch und richtig; die Kleinlösungen der Einzelehen sind anerkannt, wenn sie halbwegs innerhalb "der" Ehe bleiben. Zum Teil variieren diese Kleinlösungen stark. Der Perikles freut sich ob der Herrschaft seiner Frau; der Sokrates reißt nach Möglichkeit aus. Zum Teil sind diese Kleinhandlen sehr einförmig, zum Teil erkennt man (froh oder schadenfroh) typische (d. h. hier: häufig anzutreffende) Unterarten von Teilkomplexen (soeben erwähnt: zwei Unterarten der Unterart "Pantoffelregiment"). Aus den allgemeinst herrschenden Teilkomplexen formt sich ein Sozialbegriff: "die" Ehe. Ihr individueller Begriffsinhalt variiert etwas je nach individueller Erfahrung, individuellem Temperament. Die großen, gemeinsamen Züge werden nicht nur wahrgenommen, angenommen, sie werden auch normiert. Sie werden stark normiert: hier liegen verdichtete Komplexe und stark empfundene Interessen vor. Und Teil der Normierung ist das Anerkanntsein: Ehe also, nicht Konkubinat. Schon wegen der Vielfalt des zu Beobachtenden muß sich dieser Normbegriff schnell und weit von jedem konkret Vorfindbaren lösen. Er hält sich dann zäh, trotz Wandels der Verhältnisse, als sozial vorgegebener, normierender Idealtypus der Ehe (etwa connubium honestum des vir honestus). Die Einzelfälle aber laufen auseinander. Es gibt Streit. Es gibt Streit und
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Gesellschaft, Ordnung und Trecht
Leid, denen nicht immer mit gesellschaftlichen Mitteln vollauf zu steuern ist. Das Trecht greift dann ein. Und hat das Trecht mit Ehesachen zu tun, so macht sich der Trechtler "diesen" Idealtypus (d. h. seine Sondergestaltung desselben) zu eigen, normiert und verfährt dementsprechend. Amtlich besteht fortan der so gewählte Normbegriff. Für das Trecht gibt es dann nicht nur die Ehe als Norm, sondern dazu eine Normalehe, die so ziemlich nach dem Handlenmuster einer gewesenen Zeit prokrustesiert wurde, die sich nicht um einen Wandel der Handlen kümmern will. Handlenwandel - so wird immer wieder auf die Pauke geschlagen - hat sich zu geben, hat aufzuhören! Obwohl man so über schreiende Tatsachendifferenzen hinwegsieht oder sie niederzuzwingen versucht, machen sich die neuen Verhältnisse doch unvermerkt oder gewaltsam Luft: Neue Sachlagen (wirtschaftlicher Druck, Empfängnisverhütung, Abtreibung) prallen auf das einzelne Ehepaar. Verschämt, geheim - oder auch trotzig - findet das einzelne Paar (der einzelne Partner!) eine neue, eine nicht soziale, meinetwegen eine "unsoziale" Lösung. Schon gestaltet sich bei allen oder bei einer Teilgruppe der Handlenbestand um - langsam, zögernd dann auch der Normenbec;tand; schon setzt sich ganz oder halb eine neue Teilnormierung gegen die ältere Normierung einer anderen Teilgruppe durch (Verstaatlichung der Ehe). In der Gesellschaft, später auch im Trecht. Was ich für mich in Anspruch nehme, billige ich allerdings noch lange nicht für alle. Was aber schon bei meinen Eltern war, was noch dazu doch rechts und links "Brauch" geworden ist, ... Als vorläufiges Ergebnis: ein notwendigerweise mit Widersprüchen durchsetztes Gesellschafts-, Trechts- und Rechtsgebilde, dessen alte Grundstrukur und Gesamtideologie rührend übervereinfacht ist und sich mit dem bunten Allerlei der neuen Zusätze (oder der immerwährenden alten Diskrepanzen) in glorreicher Stilunreinheit zusammenschließt. Barock, Rokoko, Biedermeier, bescheidene Stückchen der Modernität irgendwie auf gotisches Gefüge aufgepfropft; auch in der "reinen" Gotik wirken byzantinische Momente nach. Ob das Alte auch das Gute sei und - wenn nicht - welcher Teil des Neuen durchzusetzen wäre - das liegt hier nicht zur Untersuchung vor. Wir wollen nur Werdegang und Zustand etwas klären. Allerdings muß ich dabei meinen Glauben aussprechen, daß, welche die richtigen Lösungen auch sein mögen, sie sicherlich nicht mit einer übervereinfachten Problemsetzung zu erzielen sind, wahrscheinlich auch nicht mit Hilfe eines einfachen, einheitlichen Grundschemas; denn dieser Glaube bedingt schon offensichtlich die hier vorzutragende "Erkenntnis" der Tatbefunde: Laufen doch selbige darauf hinaus, daß heute kaum mehr von "einer" Ehe-Einrichtung die Rede sein kann! und daß, soweit es "eine"
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gibt, sie nicht den offensichtlichen Verhältnissen, erst recht nicht den offensichtlichen Bedürfnissen genügt. Am leichtesten läßt sich der Sachverhalt wohl packen, wenn man sich vorerst nach den sozialen Aufgaben unserer Ehe umsieht. Es liegt hier ein Frühbegriff vor, mit Orts- und Personenzusammenhang, ein komplizierter, ein vielumfassender Begriff: ein Mann, eine Frau, ein dauerndes Beisammensein, ein weitgreüend gemeinschaftliches Leben. Unvermeidlich hat der resultierende Handlenkomplex die mannigfachsten, die allerverschiedensten Aufgaben zu erfüllen. Man schrickt geradezu vor ihrer unübersehbaren Fülle zurück; man fragt sich, wie ein Komplex auch nur die Hoffnung hat, Ausgleich und Lösung zu erzielen; man fragt sich, wie gar die Beschreibung der wuchernden Mannigfaltigkeit gelingen kann. Doch müssen wir die Sache anpacken. Die Aufgaben? Zum großen Teile die Regelung des Geschlechtsverkehrs; vor allen Dingen die Verhütung von Streit um den Besitz der beteiligten Frau. Das geht bei uns nicht ohne Dauerverhältnis ab; guck Dir das Treiben in der Matrosenkneipe an. Das Dauerkonkubinat will dies nicht völlig regeln. Freizügige Partner bleiben doch im Markt! Nicht umsonst kennt die Rechtslehre des Landes, das wohl das Dauerkonkubinat am besten kennt, dazu le crime passionel. Im übrigen auch die Verhütung von andernfalls zu befürchtenden Krankheiten, wie man wohl hinzufügen darf. Das Einpartnersystem hat da seinen NutzenS. Sodann: die Sicherung der Erzeugung von Kindern (getrennte Betten tun hier großen Abbruch). Vor allem aber Kindererzeugung unter Umständen, die einigermaßen deren Versorgung verbürgen. Und - nicht zu unterschätzen - unter Umständen, welche die Versorgung der die Kinder versorgenden Mutter verbürgen und deren Versorgung auch nicht von fortdauerndem Geschlechtsreiz abhängig machen. Eine Art Altersversicherung. Die verbrauchte Mätresse oder Wirtschafterin wird man los - nicht die verbrauchte Frau. Hier ist ein Beruf, bei dem selbst der zügelloseste Kapitalismus die Entlassung der alten Angestellten nicht zulassen will. ! Es bleibt, wie angedeutet, zu fragen, inwieweit es jeweils nur einen Komplex gegeben hat. Klar ist aber, daß das Bild zur Zeit der Entstehung unseres Grundbegriffes weit weniger buntscheckig war als heute. a Hier gerät man auf der Stelle in die wildeste Phantasie, weil alle Zahlen nur ein Bild von dem bieten, was innerhalb unseres Systems geschieht. Wenn z. B. unsere lockeren Vögel einen höheren Prozentsatz von Geschlechtserkrankungen aufweisen als unsere Ehemänner, so kann das nur heißen, daß unser System der Ehe die lockeren Vögel zu den öffentlichen Mädchen drängt. Ich glaube aber, daß das System der vorehelichen Keuschheit und der nachehelichen Ausschließlichkeit gerade im Hinblick auf ansteckende Krankheiten propyhlaktisch wirken muß. Selbst wenn z. B. der unvorsichtige Ausflug eine Ansteckung ins Haus bringt, heißt das gleichzeitig: nUT ins Haus. Die Dämme halten, wenn auch Wasser durchsickert.
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Auch die Erziehung des heranwachsenden Geschlechts: zu Menschen, zu Bürgern, zu Mitgliedern der Kultur, zu Berufstätigen. Das Heranziehen des Mannes zur wirtschaftlichen Versorgung der Familie ist eindeutig: man weiß, wer die Familie ausmacht; es ist auch dauernd: er darf nicht fort. Hinzukommt (man denke an die Unentbehrlichkeit der Frau in der Bauernwirtschaft, im Kleinladen-Betrieb, im Kleinhandwerk) der Bau und die Befestigung einer wirtschaftlichen und sonstigen Einheit (Mann - Frau; Mann - Frau - Kinder; Mann - Frau - Mitgift; die Olle kann doch kochen; es beruhigt ungemein, den Arm um etwas schlagen zu können). Die Kapitalansammlung; die Entfesselung des Führergeistes; die Bewerkstelligung der gesellschaftlich erforderlichen Arbeiten. Kinderliebe und Verantwortlichkeitsgefühl zusätzlich zu Eigennutz, Eigenhunger und Gewohnheit. Konzentration von Kinderliebe und Verantwortlichkeitsgefühl innerhalb des Menschenmöglichen: nicht zwei Familien; Trieb zur Sparsamkeit und Geregeltheit, wo sonst der Geschlechtstrieb nur zur Verschwendung führt. Die Regelung der Güterverteilung, des Güterverbrauchs. Konsumersparnis, Konsumgemeinschaft, Konsumsteigerung. Auch, ja vielleicht besonders, die Verteilungsregelung bei eintretendem Todesfall. Man weiß, wer herankommt. Man kann die Aufteilung regeln. Die Fortpflanzung nicht nur des Geschlechts, sondern auch des Standes, der Kultur. Die Vergewisserung eines festeren Sitzes, auch eines Druckmittels für die Obrigkeit (Güterkonfiszierung; Gruppenverantwortlichkeit)4. Die Erfüllung wichtiger religiöser Pflichten (Ehe als Sakrament; vgl. auch die Versorgung des Ahnenkultes in Rom oder China). Die Schaffung eines persönlichen Halts gegen Schicksalsschläge. Trost kann auch ein ordentliches Matrosenmädchen bieten, doch nicht den Halt. Konkubinat, das morgen zu Ende sein kann, will da auch nicht langen. Die Befriedigung also der mannigfachsten, kaum in Worte zu fassenden Gemütsbedürfnisse (Herr im Hause sein bzw. die tröstende Schulter zum Sich-Ausweinen haben; sich ausreden können 5, geliebt zu werden, und wenn auch nicht das, so doch zumindest irgendwo hinzugehören, "ohne daß man es erst zu verdienen hätte"; die ganze unendliche, wundervolle Reihe ungreifbarer Stützen des mit einem bedrückenden Leben ringenden Ich). Das kann sich auch in der außerehe'Als modernes Gegenstück vgl. die Notverordnung vom 8. XII. 31 in Sachen Kapitalflucht. & Das anglo-amerikanische Recht trägt dem Rechnung: Äußerungen zwischen Ehepartnern sind "bevorrechtigt", gelten nicht als Verleumdung eines Dritten, können nicht vor Gericht gegen den Willen qua Zeugnispflicht ermittelt werden.
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lichen Liebe finden, man kann ja um dessentwillen aus der Ehe zur außerehelichen Liebe fliehen. Doch bleibt die Ehe und deren Folgen (die Familie) - als Grundform - das einzige, wohin man ohne weiteres gehört. Schließlich und in zunehmendem Maße die Weiterentwicklung der Persönlichkeit der Beteiligten. Volle Anerkennung als Mensch erreicht eine Frau bei den Naturvölkern nie vor der Ehe, oft nicht vor dem Gebären, vielleicht erst nach der Geburt eines Knaben. "Ja, das gibt sich schon, sobald Sie mal ein Kind haben", wird bei dem heutigen Frauenarzt zur Formell. Als Endstufe der anderen Phasen der Menschwerdung kann man meinetwegen diese letzte, die Persönlichkeitsentfaltung in der Ehe, betrachten; sie hat aber ebensogut eigenes Dasein wie die Eheganzheit selbst, die ja ebenfalls (doch lange nicht nur) als Ergebnis der Eheeinzelheiten begriffen werden kann7 • Man kann meinetwegen die Individualentwicklung auch in Widerspruch zur Ehe setzen, in ihr ein ehezerrüttendes Moment erblicken wollen, sie als den Inbegriff dessen auffassen, was nichteheliche Geschlechtsverhältnisse zur Folge hat. Sicher richtig, jedenfalls zum Teil. Wer aber diesen Teil zum Ganzen erheben möchte, versteht weder Ehe, Möglichkeiten der Ehe noch die moderne Welt; versteht auch und besonders nicht, was aus dem alten Ehemuster jetzt - wieder zum Teil- im Werden ist. Von den gesellschaftlichen Aufgaben will ich zum Recht der Ehe kommen. Doch wozu brauchen wir hier das Recht? Was tun denn Recht und Trecht hier mehr, als der gesellschaftlichen Einrichtung, so wie sie ist, den Staatsstempel aufzudrücken? Wertvoll bleibt sie doch nur, weil sie aus Gold ist, nicht, weil sie solchen Stempel trägt. Dieses zufällig gewählte Bild ist sehr genau. Es gibt Leute, beim Geld wie bei der Ehe, die echtes Gold auch ohne Prägung erkennen können. Doch sind sie so zahlreich? Entscheidend ist für die meisten doch (hier wie dort) die Prägung, auch wenn das Material nicht echt ist; das Material ist erst wertvoll, nachdem es geprägt ist. Zuviel Falschmünzen allerdings, und das Ganze kommt ins Wanken. Bis dahin jedoch I "Es kommt noch ein Zeitalter", schrieb der ansonsten in seiner Ethik grimmig konservative Sumner, "das mit Schaudern einer Kultur gedenken wird, welche unter der Strafe der Ausstoßung jede Frau zur Kinderlosigkeit verdammte, der es nicht beschieden war, in den Status der Ehe zu treten". Er hätte hinzufügen können: Unglaublich oft auch zum Zölibat verdammte. Vollkommen unbegreiflich sind philosophische Betrachtungen, die die religiösen, rechtlichen und sozialen Vorzüge unseres gegenwärtigen Ehewesens untersuchen, ohne einmal diesen riesigen Passivposten zu verbuchen. Die gegenwärtigen Errungenschaften können von der Gesellschaft aus gesehen preiswert sein. Ohne aber diesen Preis in Rechnung zu stellen, kann man solches aber, sagen wir es ruhig, kaum mit Anstand behaupten. 7 Vgl. Einstellung, Lagerung, Begriffsfixierung und die teilweise Loslösung des Begriffs und der Normen von ihrer gegebenen Basis in den Handlen.
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kann der Staatsstempel nicht nur das Monopol, sondern auch Kredit beanspruchen. Für die meisten. Schließlich hat in beiden Fällen der Staat eingegriffen, weil einzugreifen war. In beiden verändert sein Eingreifen auch das Bild. Was meine ich damit? Lassen Sie sich die oben erwähnten "sozialen" Aufgaben noch einmal durch den Kopf gehen. Geschlechtsverkehr regeln, Kinder erzeugen, ernähren, erziehen; Erwerbsgenuß, Verbrauch und Erbgut regeln; Arbeitseinheit schaffen; Gruppeneigennutz nicht nur aufbauen, sondern konzentrieren; das Gemütsleben auf eine feste Grundlage stellen. Das hat man alles - auf den ersten Blick - auch ohne jedes Recht. Das hat man alles - auf den ersten Blick - durch die Gesellschaft an sich, die sich "die Ehe" regelt. Geschlechtsverkehr regeln - wie beim Sacheigentum. Die Frauenrechtier lehnen sich allzu blind gegen die Besitzauffassung der Ehe auf. Sie hat ihre Schwächen - wie das Sacheigentum ebenfalls. Beiden Einrichtungen gemeinsam ist jedoch das Bestreben, aus individuellen Stärken (Liebe, Arbeitsfreude) Dauerstärken zu machen; aus individuellen Schwächen (Eifersucht, Eigennutz) gesellschaftliche Stärken zu entwickeln. Beiden gemeinsam ist das Los jeder Einrichtung: teilweises Mißlingen, unerwünschte Nebenfolgen, ein Abschnüren von vielen der weniger berücksichtigten Möglichkeiten. Dennoch bin ich überzeugt, daß die Ehe bis jetzt ihre Aufgaben besser gelöst hat, als unser Eigentumssystem die seinen. Es sind allerdings auch einfachere Aufgaben. Geschlechtsverkehr regeln: es gibt den einen anerkannten Weg zum Verkehr. Und wenn schon, denn schon; ganz oder gar nicht. Nur Dauerbeziehungen, und die Welt eingeteilt in die, die res sacrae sind, und die, die vielleicht noch zu erwerben wären, die aber dann auch ganz erworben werden müssen. Begrenzte Erwerbsmöglichkeiten8 : ein Mann, eine Frau. Eindeutige Kennzeichnung der res sacrae. Starker gesellschaftlicher Druck - allerdings nach Ort, Stand, Geschlecht, Gelegenheit verschieden stark -, um zur Beachtung des Tabu zu erziehen, um die Erzogenen auch weiterhin zur Einhaltung zu zwingen. Damit schaffen wir den außerehelichen Geschlechtsverkehr nicht etwa aus der Welt. Straßendirne und Gespusi, Dauerfreundin und Gelegenheitstreffs 8 Ein interessantes Schlaglicht auf unsere Gesellschaftsphilosophie wirft das Nebeneinander der Vorstellung der Einehe als Selbstverständlichkeit und der Verherrlichung des Managers von Großbetrieben. Warum sollte gerade dieser Große nicht z. B. auch auf Krischna-Weise Kinder zeugen dürfen und versorgen? Und durch den Druck einer Verantwortlichkeit für die Nachkommenschaft erst recht zur vollen Kraftentfaltung gebracht werden? Andererseits, wenn auch er nicht mehr als eine Frau erwerben darf, weshalb wird als selbstverständlich dargetan, daß er soviel Eigentum erwerben darf, daß er ihrer Hundert unterhalten könnte? Unsere Organisationsprinzipien sind eben nicht allzu konsequent. Womit nicht gesagt wird, daß sie konsequent sein sollten. Das Leben ist bunt. Wohl aber will damit gesagt werden, daß Selbstverständlichkeiten oft von Neuüberprüfungen profitieren können.
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diese sind noch da. Doch ist ihr Problem stark vereinfacht. Anstatt sämtliche Eheaufgaben auf einmal aufzuwerfen, wird dort nunmehr hauptsächlich nur das eine Problem des Geschlechtsverkehrs aufgeworfen. Hinzukommt allerdings auch das uneheliche Kind und die Abtreibung. Gelegentlich auch der "Halt" und das Gemütsleben, die Persönlichkeitsentwicklung. Vermögensangelegenheiten und Erbstreitigkeiten sind aber fast durchwegs ausgeschaltet. Streit um Weiber zum großen Teil auch. Das Tabu wird doch zumeist innegehalten. Und unser Druck zu dessen Einhaltung bewirkt zudem, daß Verletzungen zumeist geheim bleiben. Geheim bleiben heißt Streit vermeiden. Nicht Leid vermeiden oder Gewissensbisse - das ist etwas anderes. Wir holen uns allerdings ein neues Problem hinzu: die Gefahr der Geschlechtskrankheiten. Dagegen ersinnt die Technik Mittel, entstehen allmählich Handlen, besonders unter den Hauptbeteiligten. Bis hierhin ist aber alles gesellschaftlich. Wo spricht das Recht? Schon zum letzten Punkte kann es sprechen: Hygiene wird dort durchgesetzt, wo weder der einzelne noch eine unorganisierte Mehrheit effektiv eingreifen oder kontrollieren könnte: "Meldepflichtig"; Zwangsbehandlung; Trecht und Recht sind bei der Sache. Weniger im Hinblick auf die Tabueinhaltung. Das Standesamt tut nicht not, denn man braucht für diesen Zweck nicht Verehelichte und Ledige auseinanderzuhalten. Auch ist der trechtliche Druck nicht merklich größer als der Druck der Gruppengenossen. Man kann fürs Recht nur sagen: gewährt es Freizügigkeit, so kann es ab und zu einen Zweifel beseitigen; bezüglich der zweiten oder der Doppelehe eines Ausgerissenen kann es dort etwas hemmend wirken, wo der gesellschaftliche Druck versagt9 • Wohl aber haben Trecht und Recht hier - wie in Eigentumssachen - in zweifacher, indirekter Form einige Bedeutung. Was den Landesfrieden zum guten Teil dereinst herstellte und jetzt noch schützt, schützt auch den Schwachen oder einzelnen in seinem Besitz. überfall, Entführung, Totschlag des unerwünschten Partners - die kommen heute selten vor10 • Und das ist wichtig. Und der Trechtsweg steht auch zur Entscheidung einiger bestrittener Sachlagen offen. Vor allen Dingen bezüglich der Scheidung. Wann ist man nicht mehr verehelicht? Der Gesellschaft fällt gerade diese Entscheidung außerordentlich schwer. Das Gemütsleben der Beteiligten: Spielt hier das Recht eine Rolle? Wiederum scheint auf den ersten Blick die gesellschaftliche Einrichtung • Wobei im allgemeinen die Regelung von Vermögensangelegenheiten, der Schutz etwaiger Kinder und die Gemütsbedürfnisse der zweiten Frau doch mehr von Belang sind als die Regelung des Geschlechtsverkehrs an sich. Obgleich die Gemütsbedürfnisse selbiger Frau zum Teil auf der Existenz eines Tabus beruhen. 10 Dagegen bei Verführung die indirekte Förderung durch die vom Recht und Trecht geschützte Ungleichheit der Güterverteilung.
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vollauf zu genügen, um das Gerüst zu bauen. Gemütsbedürfnisse befriedigen kann die Gesellschaft als solche nicht, wiewohl sie Handlen und normierte· Erwartungen zu diesem Zwecke liefern kann. Das Rechtssystem kann noch nicht einmal das. Das Hauptproblem ist hier also, zu unterscheiden, wer Daueransprüche hat und wer nicht; wer Halt und Treue zu erwarten hat. Jede anerkannte Zeremonie - Ringtausch, Handschlag vor Zeugen, Hochzeit, ins-Haus-nehmen - würde genügen. Wie jede zwingende Geschäftsform (gesellschaftliche oder rechtliche) bewirkt allerdings auch diese ihr Maß an Ungerechtigkeit: wenn nämlich der eine Teil den anderen dazu veranlaßt, an die Substanz zu glauben, ohne daß die zwingende Form eingehalten wird. Zwar können beide Teile im allgemeinen die Willenseinigung auf eine Nacht oder auf wöchentliche Kündigung von der Dauervereinbarung unterscheiden. Sie können es, aber sie werden es nicht immer. Hoffnung und Leidenschaft sind nicht mit der Vernunft verschwistert. Und das Recht? Gelegentlich greift es gegen ein Dauerkonkubinat zwecks Verstärkung des gesamten Tabusystems ein. Viel seltener das Trecht. Vor allem aber wirkt es wieder indirekt: über die Kinder, über den Gemütsdruck, den eine Rechtlosigkeit der Kinder auf die Mutter ausübt. Das ist in der Wirkung noch lange nicht so stark wie der Druck der Gesellschaft auf demselben Wege und auf dem Wege des Boykotts der Konkubine. Und dennoch kann die Wirkung empfindlich sein. Weitaus stärker machen sich Recht und Trecht in anderen Punkten fühlbar. Trecht kann den verantwortungslosen Mann zuweilen dazu bringen, die Familie zu ernähren, auch dort, wo er seiner Gruppe entflieht. Es kann die Eltern dazu anhalten, die Kinder zur Schule zu schicken, und für Schulungsmöglichkeiten sorgen. Erwerbsgenuß (wäh.,. rend des Zusammenlebens), Konsumeinheit und Arbeitseinheit kann es hingegen schlecht bewirken und nicht so gut regeln, doch bereits sein nicht unbeträchtlicher Druck auf das Zusammenleben hin wirkt auch hier mit. In Erbsachen liefern Recht und Trecht nicht nur verhältnismäßig eindeutige Normen für ein besonders streitträchtiges Gebiet, sondern vor allem das Mittel, Tatfragen zu erledigen. War sie seine Frau? Ist dies sein Kind? Hat er ein Testament gemacht? Ist die Ehe geschieden worden? Ich behaupte nicht, daß diese Regelungen "gerecht" oder "richtig"ll wären. Ich stelle nur fest, daß sie Regelungen sind, welche bestimmte Folgen regeln12 • 11 Hochinteressant hier die Vermutung der Legitimität. Mit den Kindern gehen wir zum Schutze des Tabus und zwecks Eindeutigkeit der Regelung schlechtweg willkürlich um: das außereheliche Kind wird einfach preisgegeben. Das "innereheliche" wird unter Anwendung starker Mittel zum ehelichen gestempelt (vgl. BGB §§ 1591 ff.). Hier spielt offensichtlich das Interesse der Begüterten die ausschlaggebende Rolle. Schon beim Rechtsgeschäft
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Erst recht kommt dieses zum Vorschein beim Ehegüterrecht. Man kann sich kaum ein Gebiet denken, auf dem die Gesellschaft als solche ineffektiver wäre. Selbst innerhalb kleinerer Gruppen variieren Praxis und Norm. Die Stimmung zwischen den Partnern ist erbittert. Teils findet sie Gehör, teils er. Es wimmelt von Behauptungen, Anklagen, "Versprechungen", "Vereinbarungen", die wieder abgeleugnet werden. Hier tut Stabsregelung not. Und was die Rechte Dritter - sei es aus Rechtsgeschäften, sei es aus unerlaubten Handlungen - betrifft, so kann die Gesellschaft dies allerdings einigermaßen selbsttätig regeln, solange die Ehe intakt bleibt; kann es meist auch besser regeln als bei ähnlichen Angelegenheiten im Geschäftsleben, weil die räumliche Entfernung in einem ehelichen Haushalt meist unerheblich ist. Das gilt bei getrennter Ehe aber nicht mehr. Sind sie wirklich auseinander? Hat ihr Verhalten ihn ganz von seinen Verpflichtungen entbunden? Wie lange haften sie für Kinder, die von Hause fort sind? Wiederum ist Stabsregelung am Platze. Bei grausamen, ungezügelten, verantwortungslosen oder gewalttätigen Ehepartnern oder hinsichtlich des Schutzes der alternden Frau spielen Recht und Trecht ungefähr dieselbe Rolle in Ehesachen wie sonst auch: sie stützen organisiert den weniger verdichteten gesellschaftlichen Druck gerade dort, wo dieser vielleicht sonst abzubröckeln drohen könnte. Dasselbe gilt für die Lösung langfristiger Probleme: bei der Hygiene, der Kindererziehung - dort also, wo organisierte Führung und Verwaltung übernehmen und überwachen können, wofür sonst möglicherweise keiner besonders zuständig sein könnte - dort hilft das Trecht. Bei Zwistigkeiten in Ehe und Familie füllen Recht und Trecht indessen eine besondere Lücke aus, weil diese am allerschwierigsten zu bewältigen sind, wenn sie einmal einreißen. Das gilt schließlich vor allem für den entscheidenden großen Krach, der mit einem Stoß den Kern sämtlicher Aufgaben in Frage stellt: ist diese Ehe erledigt? Zwar kann die Gesellschaft die Ehe eindeutig begründen. Eindeutig auflösen kann sie sie jedoch nur, wenn entweder (1) das Einversucht man, Tatfragen im voraus auszuschalten: die schriftliche Urkunde, die Unterschrift, die notarielle Eintragung, das Grundbuch. Und keine Tatfrage im Leben ist so unsicher wie die der Vaterschaft; besonders wenn (wie so oft) der betreffende "Vater" schon gestorben ist. Hinzu kommen die Erwartungen anerkannter Kinder. Vor allem das Bedürfnis nach Sicherheit in Vermögenssachen, welches über die unmittelbar Beteiligten hinausgreift. Wenn es kein Erbrecht gäbe oder nur ein sehr beschränktes, würde das wesentliche Zweckmäßigkeitsmoment bei der Beurteilung der Ehelichkeit ausscheiden. Einiges bliebe: eine ethisch-religiöse Gesinnung betreffs der Sünden der Väter, ein Zweckmäßigkeitsmoment: Druck gegen die uneheliche Mutter, auch eine Furcht, daß manche Frau sich auf die Kindersuche begäbe. Mittlerweile halten wir an dem schreienden Unwesen unserer sozialen und rechtlichen Behandlung unehelicher Kinder fest - sie haben fürs Gemeinwohl geopfert zu werden. Das ist das Wesen der Gerechtigkeit. 12 Keine Regelungen des vorausgegangenen Lebens.
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verständnis beider Parteien dazu genügen soll oder (2) der Wille einer Partei vollauf genügt oder (3) die Kriterien für die Auflösungsmöglichkeit absolut, konkret und unzweideutig sind: etwa 3 Jahre Kinderlosigkeit, nachgewiesener Ehebruch oder offenkundiges Verlassen. In der westeuropäischen Kultur ist derartiges nicht anzutreffen. Das Grundproblem von Recht und Trecht der Ehe konzentriert sich mithin auf die Ehescheidung. Es lohnt sich, diese Erkenntnis in den Vordergrund zu rücken und sie voll im Auge zu behalten, wenn wir nun zu den gesellschaftlichen Aufgaben der Ehe zurückkehren und den Wandel der Art und Weise ihrer Erfüllung skizzieren. Klar ist, daß es in unserer Geschichte eine Zeit gegeben hat, wo die eine Einrichtung noch hoffen konnte, auf einen Schlag und durch dieselben Handlen, wenn nicht sämtliche Aufgaben, so doch die meisten zu bewältigen. Drei Gründe dafür kann man herausgreifen: Erstens fielen manche Aufgaben zusammen. Sie waren nicht getrennt, sondern allseitig auf einmal zu erledigen. Lebte ein Kind im Hause, so half es dem Vater oder der Mutter bei der Wirtschaft, so wuchs es gleichzeitig zum Bürger, zur Frau, zum Mann, zum Menschen überhaupt, zum sittlichen Menschen und zum Standesmitglied heran. Der Bauernsohn wurde schon im Vaterhaus Bauernkind, Bauer13 • Ein Schusterssohn spielte schon im Kindesalter, wie man schustert. Zweitens befand sich im allgemeinen die Ehe so wie das Elternhaus in engem Zusammenhang mit sämtlichen anderen Einrichtungen der Umgebung. Dorf, Stadtviertel, Innung, Kirche, der Staat, soweit man etwas von ihm hörte; die geschlossene, abwehrende Haltung aller Andersgearteten; die Ortsbeständigkeit; die das Einheitsgefühl fördernde Wirkung der überlieferung aus früherer Zeit - das alles half und hat erzogen. Ich will kein idealisiert vereinfachtes Bild malen. Wohl hat die Kirche damals den tüchtigen Bauernsohn heraus- und herangezogen; wohl flüchtete sich immer wieder der Schollengebundene in die Freie Stadt; wohl gab es fahrende Burschen, fahrende Scholaren; wohl trugen Innungen und Stände bittere Kämpfe aus; wohl sang ein Piers Plowmanu , predigte ein Wyklü gegen die Obrigkeit. Zwar ist mir bewußt, daß die Differenzierung der Einrichtungen in der Moderne den entrückten Beobachter in einer Weise beschäftigt und bestürzt, die das Wirklichkeitsbild des an einem Orte, in einem Betrieb, inmitten einer Arbeitsgruppe, einer Nachbarschaft Lebenden, eine Zeitung Lesenden, einer Konfession oder Konfessionslosigkeit Angehörenden grob verzerrt. Dennoch behaupte ich, daß man die damaligen Konflikte und Diver13
Man vergleiche die heutigen Siedlungsschwierigkeiten des Städters. wer war denn da der Edelmann?"
a "Als Adam grub und Eva spann -
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genzen von zehn Ländern und zwei Jahrhunderten zusammennehmen müßte, um etwas zu sehen, was an Zersplittertheit mit dem Hier und Heute zu vergleichen wäre. Ferner behaupte ich, daß das im Mittelalter vorherrschende Bild "der" Ehe noch ins 18. Jahrhundert und bis in unsere Zeit stark weiterwirkt. Als drittes möchte ich die damals ziemlich vorherrschende Resignation nennen. Sumner hat hier ein bedeutsames Wort geprägt, als er vom "man-land-ratio" sprach, das den Grundton des jeweiligen Ethos bestimmt16 (gemeint ist das Verhältnis zwischen Versorgungsbedürfnissen und Versorgungsmöglichkeiten angesichts (1) des jeweiligen Zustandes der Technik und (2) der .gestellten Anforderungen an das Leben). Bis zum Einbruch der Industrialisierung ist das Verhältnis kein allzu günstiges gewesen. Aus dem übelriechenden, futterkargen Eiskasten, welcher Schloß hieß, jubelt ein Walther von der Vogelweide dem Frühling wie eine Seelenerlösung entgegen; wie ist das denn wohl erst beim kleinen Mann gewesen? Der technische Fortschritt hat seitdem nicht nur die Bevölkerung vermehrt; er hat die Möglichkeiten verzehnfacht, die Ansprüche verzwanzigfacht. Ansprüche ans Leben. Ansprüche an die Ehe 1'. Was früher reichte, will heute nicht mehr reichen. Das Kind muß besser gestellt sein, muß seine Chance haben. Früher genügte es, wenn es den alten Weg ging. Vor allem aber hat das Ich neue Forderungen zu stellen. Weder Kinder noch Reibung mit dem Ehepartner noch Selbstverödung werden in der alten Weise resigniert auf sich genommen. Die Probleme der modernen Ehe, des modernen Eherechts brechen an. So eng verbunden mit dem Zug zur Resignation, daß es kaum als ein viertes aufzuzählen wäre, ist ein außereheliches Moment, das dennoch alle Ehen streng bedingt. Im Mittelalter kannte man keinen Zehnstundentag. Trotz aller Müdigkeit, die sich bis zur Erschöpfung steigerte; trotz der Bedrückung, der Hoffnungslosigkeit; trotz Unterernährung, Hunger und Kälte blieb doch das eine: die Tagesarbeit war zumeist ein Ganzes, hatte greifbaren Sinn. In der Arbeit schuf man. Oft rhythmisch: Säen, Sensen, Dreschen. Tapp-tapp und Tapp-tapp-tapp beim 15 In einer für den Menschen günstigen Konjunktur (z. B. spätes 19. Jahrhundert) Optimismus, Beschäftigung mit dem Diesseits, Fortschrittsglaube. In einer für den Menschen ungünstigen Konjunktur (verschiedene Perioden des Mittelalters, vielleicht heute) Pessismismus, Skeptizismus, Beschäftigung mit dem Jenseits. Wenn die Konjunktur überaus günstig ist: Luxus und eine Entartung in jene Richtung. Wenn sie überaus ungünstig ist: Flagellantismus, die dunklen Mysterien und eine Entartung in diese Richtung. Dies ist, grob angedeutet, Sumners Gedankengang. überraschend, weil noch während der Hochkonjunktur verlaßt. 11 Hier zeigt sich der Einfluß der Größtgebilde auf die Großgebilde: der industrielle Kapitalismus wirkt auf sämtliche anderen Gebilde seiner Zeit ein. Diese wirken allerdings auch in bescheidenerer (und sich oft gegenseitig aufhebender) Weise auf ihn ein.
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Zimmermann. Wo sind die Arbeitslieder der Maschinenzeit? Auch der Geringste schuf, auch ein Kind verstand sein Schaffen. Das heißt: ein Stück des Menschen wird erfüllt. Selbst die Erschöpfung heißt: der Mensch hat nicht die Kraft, mehr von der Ehe zu verlangen. Das Bett, das Weib und Schlaf. Ein Seitenstück zur "Resignation". Und die moderne Zeit? Kapitalismus: Möglichkeit des wirtschaftlichen Aufstiegs; wenn sich auch nur wenige durch die Schleuse schlängeln, so können doch viele dies für sich, für ihre Kinder erhoffen. Das heißt dann: mehr Erziehung! Das heißt dann: weg von der Familie! Industrialismus, zunehmende Arbeitsteilung: und wer kann jetzt mit seinem Vater arbeiten, ihm tagsüber bei der Arbeit ohne formellen Lehrgang Menschentum, Bürgertum, Stand, Sittlichkeit ablauschen, im bloßen Zusammensein mit ihm zur Selbständigkeit in dem notwendigen Handwerk (als Böttcher, Bader-Chirurg, Eisenarbeiter) heranreifen? Zum Teil verliert der tagsüber abwesende Vater seinen Einfluß, zum Teil geht die Aufgabe der Erziehung an Volksschule, Gewerbeschule, Lehrstelle, Universität über. "Die" Aufgabe? Die Erziehung verästelt sich in viele Aufgaben. Verschiedene Anstalten - außerhalb der Ehe. Höhere Anforderungen. Der "Mensch" muß lesen, schreiben, rechnen, turnen können. Jede neue Anforderung, jede neue Anstalt drängt das Kind weiter aus dem Familienkreise, stellt ihm neue Handlen, neue Normierungen, neue Ideale. Ständig durchkreuzen Außenkomplexe die des Elternhauses, der Elterntradition. Neues, Beglückendes, Widerstrebendes zersetzt das kulturelle Erbe des Kindes. Das Kind zersetzt die Elternehe. Mobilität. Großstadt. Es schwindet die geschlossene, unentrinnbare Nachbarschaft, die einst dem ehelichen Haushalt, dem Elternhaus vollauf den Rücken stärkte; an ihre Stelle treten Kino, das Großstadtdurcheinander, die Bekanntschaften von wer weiß woher, die sich wer weiß wohin verlieren. Die geschlossene Front der Einrichtungen zerbröckelt. Im Großstadtdurcheinander kann Mann, kann Frau, kann Kind dem Druck der Nachbarschaft entrinnen. Auch Staat und Kirche, Nachbarschaft, Gewerkschaft; Arbeit, Unterhaltung, hergebrachte Sittlichkeit, Vorwärtsstreben - sie alle ziehen nicht mehr an einem Strang, in eine Richtung, sie ziehen, sie zupfen und zerren auseinander. Zunehmende Rationalität. Und Fragen werden laut: warum? wozu? Fragen, Gefahr. Die gibt es kaum in einer hergebrachten Welt. Fabrik, Maschine. Kinder sind nicht mehr wirtschaftliches Plus. Bis an die 13, 14 Jahre sind das jetzt Köpfe zum Ernähren. Geschlechtstrieb reimt sich nicht mehr mit dem wirtschaftlichen Nutzen (Liebster!). Nicht mehr mit "Aussicht" auf das Kind (na, Olle, komm mal her!). Warum? Wozu? Wie kann ich's anders machen? Da kann die "Pflicht" (religiöse, nationale, traditionelle) vor der "Not", vor dem "Vergnügen" langsam
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weichen. Fromms-Akt - Patentex. Eheaufgaben (diese, jene) laufen nicht mehr dieselbe Bahn. Einzelne Paare müssen einzeln wählen. Irgendwie. Ja, wie? Fabrik, Maschine, Rationalisieren. Fließband. Immer wieder, dasselbe immer wieder - zum Erbrechen. Lärm, Lärm und nochmals Lärm. Das Hirn wird lahm. Lärm, ich halt den Lärm nicht mehr aus. Wozu? Wohin? Immer wieder dasselbe. Man ist doch nicht Maschine. Man ist Mensch. Wo sind die Arbeitslieder des Maschinenstampfens? Kauft Radios! Kauft Radios! Es lärmt, es kreischt. "Sag doch, wie hast Du's mit der Religion?" Man hört das noch. Aber wie oft? Und wie ernst? Windet sich heut der Junge noch derart in Verlegenheit wie Faust? Ein weiterer Pfeiler bröckelt. Noch eine Rückendeckung droht zu schwinden. Es gibt verschiedene Konfessionen. Und die Nachbarschaft? Auch diese Rückendeckung schwindet. Ach, anderen geht es schlecht, doch hab ich Dich. Wir ziehen eben um. Der Mensch muß lesen können, der Mensch liest, die Ehepartner lesen - und lesen was? Das goldene Girl, mein Lebensschicksal, von einer Ungenannten. Aufreizung, Beschreibung, Klage, Anklage. Warum ihr Blondhaar alle Blicke anzieht. Skandalöses, Nervenkitzel, Zweifel. Elfi, die Marke der eleganten Frau. Wieder ein Raubmord; gut rasiert, gut gelaunt; Rotbart Mond-extra; nochmals eine Scheidung. Bei mir sollts doch auch anders werden können. Wie der es machte! Chrysler: die haben's gut; mit Raten geht's vielleicht17 • Kapitalismus, Arbeitsteilung, Großstadt. Vermögensschichtung. Schichtung je nach Nahrung, Schuhen, Betten. Mich friert. Februar 32, 6 Millionen frieren. Nun gute Ruh mit sechsen im Bett. Wir müssen ihn studieren lassen können. Arbeiter, Landarbeiter, Stadtarbeiter, Werkmann, Angestellter, Chef: sie alle leben verschieden, denken verschieden. Das paßt nicht mehr zusammen. Die Ehe sieht hier, sieht dort anders aus. Der Lohn reicht kaum noch für den Haushalt. Die Frau hat eigenes Gut. Verwaltung durch die Frau, die sieht das Recht nicht vor. Die Frau hat um den neuen Hut zu betteln. Was heißt "die" Ehe? Individualismus, Vorwärtsstreben, Anforderung - Anforderung, warum, wozu? Habe ich denn meine große Chance verpaßt? Die haben's besser. Nein, ich will nicht mehr. Ich mag nicht, wie die es machen; abgeschmackt. Stenotypistinnenstelle, Ladenfräulein, Einzelmenage, kann mich selbst ernähren. Die Kinder werden groß, was mache ich dann? Nein, nein; ja, 11 Ein atypisches Gegenbeispiel findet man im Einfluß der polnischen Bauernzeitungen um die Wende des Jahrhunderts, welche sehr stark dazu beitrugen, dem bereits deutlich in Verfall begriffenen Bauerntum einen neuen Halt zu geben (W. I. Thomas / Znaniecki: The Polish Peasant in Europe and America, 2. Aufl. 1927, S. 1213 ff.).
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wenn Du's willst - bloß keine Gören. Besoffen kommt er nun wieder nach Haus. Faul ist die Schachtel - kann's Dir gar nicht sagen: Dreckstall; und Schimpfen! Die Kinder gehen doch an dem ewigen Gezänk zugrunde. Heute just vor vierzehn Jahren, Vati - weißt Du noch? Hat es denn Zanken, Leiden, Trunksucht, Begierden, Freundinnen, Enttäuschungen, Verzweiflung, Diskriminierung damals nicht gegeben? Wohp8. Aber Überlieferung, althergebrachte sittliche Pflicht, Druck aller Nachbarn, Druck des Staates, Druck des Priesters drängten doch zusammen. Die Einzellösungen hielten sich in ihrer überwältigenden Mehrzahl in kleinerem Rahmen. Man gab sich auch mit Weniger zufrieden. Die Aufgaben waren leichter, einfacher zu bewältigen. Im ganzen doch ein Ganzes. Jetzt nicht mehr. Aus Krisen: Leiden. Aus Krisen: Erkenntnis. Wo Wahl zwischen Gemütsbefriedigung und Kinderschar sich unentrinnbar einstellt (Zeit, Geld, Kraft), kommt das Vorhandensein zweier Aufgaben der Ehe zum Bewußtsein. Jedem Paar. Und jedes Paar muß wählen. Was einigermaßen zusammenläuft, nimmt man undifferenziert als Ganzes hin. Was stört, wird jedoch als Eigending empfunden, gar - mit Glück erkannt. Durch die Erkenntnis aber nicht gelöst. Die Ehepartner können sich über die Wahl erbittert streiten. Und wählen sie auch Gemütsbefriedigung, dann heißt es: wessen? Und auch wie? Entwickeln sie sich zusammen oder auseinander? Und wählen sie Kinder, so drückt die wirtschaftliche Bürde. Und kommt der bürgerlichen Frau, nachdem die Kinder (zwei, drei, vier, nicht mehr in diesen Tagen an die sechzehn I) einmal endlich auf eigenen Beinen stehen, die Frage: Und was nun? Eine voreheliche Lebensweise abgebrochen, futsch. So, Sie haben studiert? Eine früheheliche Lebensweise, während der 12, der 16 Jahre vollauf mit Ohrenwaschen, Keuchhusten, Vokabelabhören, Bauchweh und Strümpfestopfen ausgefüllt. Keine der beiden Lebensweisen bietet Anlauf für das Weiter. Die Rückenschmerzen sind hinzugekommen. Frei gewordene Zeit. Was tunt'? "Gefährliches Alter". Der Mann macht mittlerweile nicht mehr so wie einst den Hof. Der Mann kann mittlerweile so ein Mädel kennenlernen!o. 18 Die kasuistischen Schriften der Jesuiten in Ehesachen warnen vor übervereinfachung durch die Vorstellung einer einheitlichen Ehe, gar eines Eheideals. Und dennoch. 18 Gut hierzu (und merkwürdig altbacken sowie modernistisch zugleich) Groves in Groves lOgburn: American Marriage and Family Relationships, 1928, S. 46, der die Bedeutung der ungewöhnlich nervösen Intelligenz weiblicher Frauenrechtler behandelt: "Obwohl man ihre Einstellung überbetonen kann, wäre es doch ein Irrtum, ihren Einfluß zu unterschätzen. Sie werden nicht nur ihre persönliche Gereiztheit los, sie können auch gut als Sprachrohr und Leitbild einer beträchtlichen Anzahl bürgerlicher Frauen begriffen werden." Obwohl es ihm teilweise noch nicht möglich war, seine Ansichten auf einen Nenner zu bringen, ist Groves' Analyse in diesem Buch durchweg anregend. Um so mehr Ogburns Statistik.
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Was für den einen Aufgabenkonflikt gilt, gilt für alle. Wo die angebotene neue Stellung die Erziehung der Kinder, den gesellschaftlichen Verkehr der Frau beeinträchtigen müßte; wo Geldmangel die Frau zur Tagesarbeit drängt; wo Gemütsbefriedigung nur außerhalb des Heimes zu finden ist; wo bei der Eheschließung die Vermögensinteressen der Liebe vorgegangen sind - da wird man vielleicht dumpf, aber nichtsdestoweniger deutlich eine Unvereinbarkeit zwischen den Aufgaben der Ehe empfinden müssen. Immer stärkeres Auseinandersprengen. Immer weiter abnehmender Druck nach innen zu. Neue Lösungen, von Paar zu Paar, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt. Neue Handlen, neue Ehebegriffe, neue Eheideale. Neue Unzulänglichkeiten der Realität. Die Scheidungsfrage: das Problem des Trechts. Scheidung? Das setzt eine Ehe voraus. Das Straßenmädchen gibt sich nicht mit Scheidung ab. Auch das Dauerverhältnis wird kurzerhand gelöst. Zwar kann ein Mann dann leiden, oder auch ein Mädel. Das klingt als Nebenton durch alles andere. Als Grundton aber nicht. Wir reden von Ehe. Wer möchte zweifeln, daß die Ehe noch als Grundton klingt? Die Ehe, wenn sie auch nicht immer Ehe ist! Die Ehe, die nunmehr zur Scheidung drängt. Was ist denn diese Scheidung? Nicht etwa der Zerfall einer konkreten Ehe als Ganzheit. Der kann ohne Scheidung da sein, der kann ohne Scheidung dableiben. Wer kennt nicht den Fall, die vielen Fälle? Scheidung bedeutet die öffentliche, offizielle Kundgabe, (1) daß eine gegebene, konkrete Ehe als Ganzheit faktisch nicht mehr besteht; (2) daß sie vom Normstandpunkt aus nicht mehr zu bestehen hat. Scheidung bedeutet die amtliche, offene, institutsmäßige Verkündung, es sei möglich geworden, daß konkrete Ehen sich sprengen können, sich gesprengt haben, gar sich sprengen dürfen. Sie setzt voraus, daß es faktisch unerträgliche übelstände der Ehe gegeben hat. Sie setzt voraus, daß sich diese hochgetürmt haben. Sie setzt voraus, daß das Trecht eingreifen muß, um sie zu regeln. Sie ist ein Verlegenheitsbehelf, um mit der Lebenswirklichkeit, mit der die Gesellschaft nicht mehr zu Rande kommt, nun doch zu Rande zu kommen. Das steht am Anfang. In der späteren Entwicklung kann allerdings die Scheidung über die anerkennende und zulassende rechtliche Regelung hinausgehen und zur Auflösung selbst beitragen. Diese Phase ist 20 Ogburn ebd. S. 350: Ungefähr 20 % der amerikanischen Scheidungen finden nach dem 15. Ehejahr statt. Alle amerikanischen und sonstigen Zahlen über die Ehescheidung sind aber nur mit einem starken Vorbehalt zu deuten. Sie sind Gerichtsstatistiken. Gerichtsverfahren aber kosten. "Des Armen Scheidung", das Davonlaufen, wird nicht mit einberechnet. "Des Armen Ehe", das Zusammenleben, kommt auch vor, ob in demselben Maße, bleibt fraglich (schön hierzu Döblin: Berlin - Alexanderplatz). Hier müßte sich der Statistiker wie der Jurist an den nun einmal nicht ganz bürgerlich ausgerichteten Tatsachen neu orientieren. Hier liegt auch eine Schwäche von Ogburns ansonsten reicher und bewundernswert fundierter Arbeit.
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gesondert zu betrachten. Sie spielt bei der rechtspolitischen Erwägung der Scheidung eine wesentliche Rolle. Voraussetzung ist also, daß eine gegebene konkrete Ehe als Ganzheit nicht mehr besteht. Als Ganzheit, das heißt daß die Zusammenstöße und Unerträglichkeiten einen solchen Grad erreicht haben, daß die Gesamtheit der Erscheinungen sich nicht mehr als eine Ganzheit denken läßt. Darunter versteht man nicht etwa die Existenz von Zusammenstößen. Solche werden als normal vorausgesetzt. Aufgabe der Ehe als Ganzheit ist eben, diese bis zur Erträglichkeit, bis zur Lebensfähigkeit jener Kleingruppierung zu überwinden. Denn mit schöner Beobachtungs- und Instinktsicherheit erkennt der sozial gegebene Begriff der Ehe ihr Wesen als Werdendes, auch als Notwendiges21 . Nicht im Himmel, sondern auf Erden, nicht auf einen Schlag, sondern durch die Jahre hindurch, nicht als Naturnotwendigkeit, sondern nur unter gesellschaftlichem Druck wird die Ehe geformt, gezimmert, befestigt. Der Mensch wird durch die Leidenschaft zur Erfüllung seiner Aufgaben als Mensch verführt. Liebe: Kinder. So von der Natur. Das Kind ist eben plötzlich da. Ein Kater kann dann Reißaus nehmen22 . Nicht so der Mann. Nicht 6 Wochen, noch 6 Monate, noch 6 Jahre braucht das Menschenkind zu seiner Reife. So auch von den gesellschaftlichen Einrichtungen her. Man will zum Weib. Schon steht man in der Ehe. Liebe: Ehe. (Auch sonst ist das beim Wesen der Gesellschaft so: Ehrgeiz - Arbeit. Arbeit - Arbeiten; das heißt Arbeitsgewohnheit, Verantwortlichkeit, Unfähigkeit zu anderer Arbeit - auch wenn Aussichten und Ehrgeiz längst geschwunden sind)23. Aus Leidenschaft in die Ehe. Einmal hinein gekommen, ist der Mensch durch gesellschaftliche Einrichtungen bei schwindender, auch bei geschwundener Leidenschaft zur Stetigkeit anzuhalten. Gut so, und unvermeidlich so. Nicht jedem einzelnen ist zuzutrauen, von sich aus die soziale Weisheit der Jahrhunderte neu zu entwickeln. Die Muster fürs Handeln und fürs Denken sind der vorhandenen Kultur zu entnehmen. Die Muster sind, wie sie gegeben sind, von Recht und Trecht zu stützen24 • Unzuträglichkeiten sind also in der Ehe 21 Hiermit will nichts über "eine" endgültige Form ausgesagt sein. Man lese nur bei den Ethnologen nach. Im übrigen kommt hier das religiösethische Ideal zur Wirkung, als etwas, was das Leben erhöhen und bezwingen möchte. Mein Lob gilt ihm insofern, als das von ihm Erstrebte unter den gegebenen Umständen nützlich ist, und insofern, als es ein Ideal anerzieht, das das Mögliche erhöht. 22 Ich nehme dies dem Kater übel. Was eigentlich inkonsequent ist. Als ausgebildeter Katzenrechtler, der auch die Fähigkeiten der Katze kennt, ist der Kater der Konsequente. Ich nehm's ihm dennoch übel. Es gibt auch Kater, die bleiben. Bahnt sich hier eine Geschichtsdialektik an? Ist das nächste Stadium die Katermonogamie? Katzentreue scheint es schon zu geben, über eine Folge von Brunstperioden. 23 Vgl. mein Put in His Thumb, S. 87 - 89. 24 Ich rede hier nicht von meinen persönlichen Wertvorstellungen. Mir gefallen diese sozialen Muster in mancher Hinsicht nicht. Ich rede von der ge-
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vorerst naturhaft und nachher normal und müssen bezwungen oder ertragen werden. Vollkommenheit ist uns nur selten beschieden. Wer muß, wird auch schon können. Können tut not. Gewohnheit kann auch Bitteres verdaulich machen. Aus Kampf blüht Schönes. Selbst das Leiden blüht. Schließlich sind gegenüber den Reibungen auch die Vorteile der bestehenden konkreten Einrichtung zu betonen25 • Für die Aufrechterhaltung der Ehe (handlenhaft, innen- und außennormativ) spielt ja stark der Gedanke an erworbene Rechte mit. Ich bin Dein Mann. Sie ist meine Frau. "Rechte" bestehen; mit denen ist zu rechnen. Das hat auch seinen Sinn. Das läßt sich nicht damit erledigen, daß man sich gegen den "Besitz"gedanken auflehnt. Neben diesem "Anrechts"gefühl spielt aber in der Gesellschaftspolitik und im gesellschaftlichen Empfinden ein tieferes Moment stark mit, auf das erworbene Rechte wie im Eigentum so auch in der Ehe zum großen Teil zurückzuführen sind: bestehende Handlen und Gewohnheiten. In ihnen enthalten, aus ihnen entsprungen die Erkenntnis, daß Altes berechenbar ist, daß Neues allerlei unübersehbare Unsicherheiten in sich birgt. Das Alte soll so bleiben! Was wird denn, wenn wir auseinandergehen? Was wird bei mir, wenn ich deren Auseinandergehen billige? Wer ist denn sicher, wenn Ehen aufzulösen sind? In der Kirchenlehre, im Kirchenrecht finden solche Gedankengänge zunächst Ausdruck, dann Verstärkung in der Lehre von der Ehe als Sakrament. Selbst die Kirche mußte aber hier und dort Ausnahmen zulassen. Der eine Notbehelf, die innereheliche Trennung, löst im Ergebnis die Ehe faktisch auf, ohne jedoch die Möglichkeit einer Neugründung zu gewähren26 • Der andere Notbehelf, die Annullierung, rettet das "Gesicht"27 der Doktrin - auf Kosten der Ehelichkeit der Kinder. Beide kamen verhältnismäßig selten vor. Schon deshalb taten sie der grundlegenden Ideologie keinen Abbruch28 • An dieser Ideologie ist dann im folgenden mit aller Zähigkeit festgehalten worden. Denn sie machte sellschaftlichen Aufgabe von Recht und Trecht beim jeweiligen Zustand der gesellschaftlichen Einrichtungen. 25 "The going concern" von J. R. Commons (Legal Foundations of Capitalism). 28 Insoweit klug ausgedacht. Die innereheliche Trennung kann andere Ehen schwerlich gefährden. Also auch hier ein prophylaktisches Institut. Es fragt sich wieder nur, um welchen Preis. 27 Vielleicht ist "Fassade" eine treffendere Verdeutschung der schönen Prestigeprägung des Chinesen. Die persona der Römer ist ein nicht unähnlicher Begriff. 28 Wären diese Erscheinungen wirklich häufig geworden, so hätte die dogmatische Folgerichtigkeit bei der Durchführung des Sakramentgedankens nichts mehr genützt. Man stelle sich nur eine Welt vor, in der von je 7 Ehen eine "getrennt" oder annulliert wird - fünfzig oder hundert Jahre hindurch. 10·
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eine rationale Bewältigung des Scheidungsproblems so gut wie unmöglich. Fest steht, auch nachdem die Scheidung eingeführt ist, daß die Ehe unauflöslich ist. Kommt ein konkreter Fall vor, den man einfach nicht mit ansehen kann, so schafft man irgendeinen Ausweg, irgendeinen Notbehelf. Häufen sich die Fälle, so wird der Notbehelf - doch immer nur als solcher - etwas ausgebaut. Aus Trennung wird langsam Scheidung. Etwa "automatisch"? Nein! Leiden, noch mehr Leiden, unerträgliches Leiden. Leiden, das selbst die Glücklichen nicht mehr mit anzusehen vermögen. Und dann noch Kampf, "der Kampf ums Recht". Erbittert, denn diese Handlen sitzen fest geschichtet, rühren das Gemüt. Den meisten sind die krassen Fälle unbekannt29 • Die meisten wollen solche auch nicht kennenlernen. Das muß erduldet werden! Also Kampf. Ihr müßt es aber sehen! Ihr müßt einsehen, was einige Menschen einander antun! Bis in die jüngste Zeit kann man derartigen Kampf ums Scheidungsrecht verfolgen. Ergebnis - dort, hier, allerwärts - ein Komprorniß. Notbehelf. Stückbau. Blindbau. Flickbau. Ein Komprorniß auch bei den Vorkämpfern für das Neue. Denn obzwar die Einführung der Scheidung "prinzipiell" im Recht mit dem Sakramentscharakter der Ehe aufräumt, ändert sie vorderhand noch nichts an der vom Sakramentscharakter geprägten Sittlichkeit des Volkes 30• Diese dauert fort. Sie nimmt allerdings ab. Dem Schwungrad fehlt nunmehr der stetige, kleine, doch unumgänglich notwendige Anstoß; das Rad läuft langsam aus. Von außen kommen auch ständig Gegenstöße. Die Scheidung ist schon nicht mehr ganz verrufen. Auch ändert die Scheidung Gottlob nur wenig an der Idealvorstellung. "Wir beide werden stets zusammenleben, zusammen lieben können." Da mag der Zweifel nagen. Doch stößt am Schwungrad die Frische der Jugend wieder und immer wieder nach81 • 28 Als ich früher Familienrecht dozierte, mußte ich Keezer: Marriage and Divorce lesen. Das Kapitel über cruelty (etwa "schuldhafte Ehezerrüttung" oder "grobe Mißhandlung") hat mich physisch krank gemacht. Ein Mann von durchschnittlichem Gefühl, der je eine Frau geliebt hat, wird das - glaube ich - beim Nachlesen mit empfinden. Dazu hat man zu bedenken, daß ein guter Teil der von Keezer angeführten Entscheidungen aus einer Zeit stammen, wo der "Tatbestand" ein Tatbestand war, nicht bloß ein simulierter. Hingegen hat man sich klar zu machen, daß in einem solchen Kapitel die Menschheit ebensowenig beschrieben wird wie in einer psychiatrischen Abhandlung. 10 Vgl. Exner: Strafzumessungspraxis bei den deutschen Gerichten, hinsichtlich des verschiedenen Maßes bei der Anwendung der Geldstrafe oder des Jugendgesetzes. Hier liegt allerdings Richtergewohnheit und -sittlichkeit vor. Aber der Richter ist anscheinend wohl auch ein Mensch, ein Teil des Volkes. 31 Ich möchte nicht behaupten: naturgemäß. Die Ethnologie gibt zu denken. Wohl aber kann man für unabsehbare Zeit, sei es aufgrund der Natur, sei es aufgrund unserer Kultur damit rechnen. Daran ändert weder Hoffnungslosigkeit noch Zynismus.
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Die Scheidung zeigt also, daß es möglich geworden ist, ein Zerfallen der Ganzheit zu akzeptieren, ohne daß jedoch an der Grundauffassung etwas geändert wird, diese Ganzheit sei notwendig. Die Scheidung kündet die Möglichkeit an, daß Trecht eingreift, um das Unhaltbare zu regeln. Die Scheidungsgründe sind nun in anderer Hinsicht lehrreich. Sie sind Recht. Sie beleuchten die Gesellschaft, die dieses Recht zu Wege brachte oder aushält. Sie zeigen, wie die sozialen Funktionen der Ganzheit nach Wertung und sozialer Bedeutung in Gegensatz geraten können; was als begriffsnotwendig, was als nebensächlich erscheint - wie "die" Ehe in der jeweiligen Kultur überhaupt aufgefaßt wird. Wie wir gesehen haben, muß es, sobald ein Aufgabenkonflikt empfunden wird, zur Analyse kommen. Dann wird die Nichtbefriedigung einiger Interessen als die Ganzheit wesentlich, anderer als die Ganzheit nicht wesentlich beeinträchtigend eingeschätzt. Nicht nur von Dir und mir. Das wird aus den Begriffen, aus den Handlen, aus den handlen- und begriffsbedingten Normen hergeleitet. Auf die Molekularabweichung reagieren doch Du und ich und er in gleicher Weisel!. Hier spielt sofort die Regelung des Geschlechtsverkehrs eine Rolle33 • Hinzu treten standes- und erbrechtliche Werte: hohe Bewertung des eigenen Blutes im eigenen Stand und Gut; hohe Bewertung sozialer Sicherheit als Gemütsbedürfnis34 • Besitztrieb; Ausschluß anderer; physische Ausrichtung des Geschlechtstriebs, gerichtet, geformt jedoch und unendlich verstärkt durch kulturellen Einfluß des Eigentumsdenkens (Besitz und erworbenes Recht), durch kulturell bedingten Männerstolz und Männerhohn, durch die religiöse Überlieferung, durch eine fest darauf ruhende, von den ursprünglichen Zweckmäßigkeitsgründen bereits losgelöste Sittlichkeit - hier vor allem bei den Frauen. Aus derartigem Zusammentreffen gewinnen wir Einsicht in den Ehebruch der Frauen als Scheidungsgrund (schon der Ausdruck "der" Ehebruch zeigt an, was hier am höchsten bewertet wird). Hier bewußt übertrieben. Ich z. B. offensichtlich nicht. Die Vermeidung von Streitigkeiten um die eine Frau liegt als eine bewußt sozialpolitische Aufgabe· wohl zeitlich sehr weit zurück und sehr tief verborgen unter den unmittelbar zum Vorschein tretenden Vorstellungen über eheliche Treue. Diese Uraufgabe wurde also zum sittlichen Wert stilisiert, dessen Erzielung den Fortbestand der Einrichtung auf lange hin beförderte. Wenn wir auch die zugrunde liegende Funktion erkennen müssen, so dürfen wir ihr heute jedoch nicht mehr viel an zweck- oder zielbewußtem Schaffen zurechnen. 34 Wobei selbstverständlich die Handlen, Begriffe und Normen von denen, die Stand und Gut besaßen, wieder für die Allgemeinheit "selbstverständlich" gültig wurden. Ich spreche hier vorab kein Werturteil aus. Der vermögenslose Arbeiter kann, soweit ich weiß, in diesem Punkte genau so reagieren wie der Begüterte. Ich stelle nur fest, daß der Begüterte und nicht jener Arbeiter zum Muster der herrschenden Anschauungsweise geworden ist. 3!
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Würde man in unserer Kultur den höchsten Wert der Ehe im Ahnenkult sehen, dann könnte zwar der Ehebruch der Frau die gleiche Wirkung haben, doch müßte Kinderlosigkeit (Islam) oder das Ausbleiben eines Sohnes von Anfang an als Scheidungsgrund konkurrieren (Indien, China). Dynastisches Denken hat ähnliche Wirkungen hervorrufen können (Heinrich VIII. von England). Eine alternative35 Einrichtung kann allerdings die Adoption bilden (Rom). Daß bei uns dieser Scheidungsgrund durchwegs fehlt, deutet schon an, wie stark bei uns die Beziehungen zwischen den Partnern im Vordergrund stehen, wie stark trotz ihrer Bedeutung die Kinder in unserem Eheverständnis doch als Nebenerscheinung bewertet werden 36 • Ehebruch der Frauen trifft bei uns den Stolz und den Besitz des Mannes weit mehr als das Interesse an Aufrechterhaltung der Blutsreinheit37 • Als "Grundwert" ist die Blutsreinheit Schönfärberei38 • Wer gern geschichtsdialektisch denkt, kann bereits hier den "Keim des Verfalls" im älteren europäischen Ehebegriff erkennen. Baut sich die Ehe nicht um die Kinder, sondern um zwei Hauptpersonen, um das Verhältnis zwischen Mann und Frau auf, so muß diese Einrichtung zittern, ins Wanken kommen, sobald die Persönlichkeiten jeweils als solche - nicht nur als Ehepartner - in Erscheinung treten. Das kann man noch nicht sehen, solange der Mann - vielleicht durch 2 Jahrtausende hindurch - das Haus darstellen kann. Das wirkt sich erst aus, wenn Stoß um Stoß, Zug um Zug durch allmähliche, unvermerkte Wandlung hier, dort, vorgestern, heute und morgen die Frau nicht mehr bloß als Mutter, bloß als Köchin, Wirtschafterin, Liebesobjekt, nicht mehr allein als Ehefrau, sondern als Eigenpersönlichkeit dasteht. Und zwar nicht nur eine, zwei oder hundert Frauen39 nein, tausende, abertausende, hunderttausende: die moderne Frau - die neue Gattung Frau. 35 Vgl. die alternativen Handlen zur Beseitigung von Konflikten im freien Spielraum, die Talion oder das Sühnegeld oder vielleicht auch die Bestrafung durch den König als Steuerung der Auswüchse der Blutfehde; die Wahl des Rechtsschutzes bei dolus beim Vertragsschluß. 38 In Frankreich etwas weniger: die Familie konkurriert dort im Eherecht mit der Ehe. Meist, soweit ich sehen kann, wegen der dortigen Betonung der Vermögensphase der Ehe. 37 Letztere spielte allerdings aus stark machtpolitischen Gründen bei den Dynastien eine Rolle, muß somit öfters auch auf das von ihnen stark und unmittelbar beeinflußte Recht gewirkt haben. Die "unwiderlegbare" Vermutung der Ehelichkeit kann z. B. Vermögensangelegenheiten gut regeln, nicht jedoch so ohne weiteres der Revolution gegen den Bastard vorbeugen. 38 Man vergleiche etwa als grelles Beispiel für einen universalen Vorgang die häufig in den Hirnen vieler Südstaaten-Amerikaner anzutreffende doppelte Moral: heute soll die Aufrechterhaltung der Blutsreinheit den Grund dafür abgeben, Neger zu lynchen! Morgen zeugt man selbst Mulatten. 39 In "Gyges und sein Ring" behandelt Hebbel einen Einzelfall. Ein Einzelfall oder ihrer zwanzig ist Tragödienstoff. Ein Gattungstyp hingegen bedeutet entweder eine neue soziale Einrichtung oder den Beginn eines sozialen Kampfes - vielleicht die Einrichtung auf dem Wege über den Kampf.
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"Die" Ehe hat nun die alte Art und auch die neue zu verdauen. Und so auch das Eherecht. Erst recht kommt diese Selbstbedrohung des alten Ehebegriffes zum Vorschein, sobald der Ehebruch der Männer als Scheidungsgrund anerkannt wird. Solange noch als Vorbedingung die circonstances agravantes verlangt werden - Konkubinat im ehelichen Heim - , hat man vorläufig noch keine vollständige Anerkennung der Frau als Person. Hier sind sozialpolitische Momente mit entscheidend (Demütigung der Frau und damit des Standes; Entsittlichung etwa vorhandener Kinder; Wahrscheinlichkeit von Zank und öffentlichem Skandal). Gleichwohl ist die Bedingung m. E. im Grunde als Vorstufe für die Anerkennung eines "Rechts" anzusehen. Mit oder ohne derartige Bedingung setzt dieser Scheidungsgrund ein modernes Lebensgefühl voraus (das kaiserliche Rom ist hochmodern!), den Individualismus, die tastende Frage an die Überlieferung: Wozu? "Gerechtigkeit" in Form der Gleichstellung beider Partner ist in einer Zeit, die noch ganz der überlieferten Sittlichkeit verhaftet ist, ein einfach unmöglicher Gedanke. Die Anerkennung der Frau als einer Berechtigten (noch lange nicht als einer Gleichberechtigten) setzt voraus, daß die Ganzheit der Ehe gedanklich in den Mann und di€ Frau als zwei Personen zersetzt wird40 • 40 Man vergleiche den altrömischen pater familias. Er war für ein Recht, das die Beziehungen zwischen den Familien regelte ("das" Recht der Bücher und des Staates) die Familie. Die Beziehungen innerhalb der Familie wurden zunächst "rechtlich" ebensowenig beachtet wie das Recht innerhalb einzelner Staaten im Völkerrecht. Der "Individualismus" des römischen Rechts ist zu Beginn eine zweckmäßigkeitsbedingte Übervereinfachung, die die Angelegenheiten innerhalb der Familie lieber nicht anrührt. In der späteren Entwicklung, die in diesem Punkte den Römern keine Ehre macht, kann man von einer Entartung sprechen, und zwar in dem Sinne, daß bei der Lockerung der Familienzucht und der Verengung des Familienkreises die alte Anschauungsweise in einer Art und in einem Maße verabsolutiert wurde, die sozial unverantwortlich waren. Es genügt, an die Entartung der Testamentspraxis zu erinnern. Gesunde, d. h. dem dortigen Leben angepaßte Gegenbestrebungen fehlen keineswegs; der Gang der Geschichte ist hier nicht gradlinig. Wenn z. B. das eigene Militärgut des filius anerkannt wird, so bedeutet das wie beim use der englischen Equity, daß der Staat zum Schutze eines schon lang feststehenden, fest normierten Brauchs innerhalb der Familien eingriff, gegen Übergriffe eines "zu Unrecht" und formell sein Recht Ausübenden. Dadurch kann die eine oder andere stark konservative Familie gezwungen worden sein, ihren älteren Sonderbrauch abzuändern. Allerdings hätten auch staatspolitische Momente zu schöpferischem Eingriff führen können (Schutz des politisch Gleichgesinnten, der sein Gut zu eigenem use übereignet hatte; Stärkung des Wunsches, Soldat zu werden, durch Zusicherung von Erwerb). Ich sehe aber keinen Grund, solche Momente in diesen heiden Fällen als bestimmend anzusehen. Begünstigend müssen sie jedoch gewirkt haben. Auch möchte man gerne wissen, welche Rolle bei der Scheidungsberechtigung der Frau die Unzufriedenheit der Männer mit den Schutzregeln für Männer gespielt hat: die Liebe zu einer verheirateten, unglücklichen, betrogenen Frau; ein neues Unternehmertum, das mit dem kapitalistischen Aufschwung einhergeht.
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Das ist beim Scheidungsgrund des Ehebruchs der Frau, wie oben angedeutet, noch lange nicht erforderlich. Der alte Ehebegriff lebt heute noch in der satirischen Prägung fort: man and wife are one, and he is the one. Doch ist die Normierung dieses Scheidungsgrundes ein Anfang, der auf Fortsetzung wartet. Erneut, und noch stärker, wird dann in unserem Ehebegriff und demzufolge in unserem Eherecht die Nebenrolle der Kinder betont41 • Wird zusätzlich ein Eheverbot gegen den des Ehebruchs schuldigen Gatten ausgesprochen42 , so hat man einen doppelten Hinweis dafür, daß in unserem Ehebegriff die Geschlechtsregelung im Vordergrund steht. Hier und hier allein verwandelt sich nämlich die Zivilklage auf Ehescheidung in eine Strafklage auf teilweisen Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte43 • 41 Sie kann gleichwohl leicht überbetont werden. Die Scheidungsgründe entspringen der konkreten, das Gemüt bewegenden Beobachtung. Wer den konkreten Fall nicht kennt, verdammt jeweils "die" Scheidung und "jene" Scheidung. Wer "die" Scheidung billigt, denkt an konkrete Fälle. Nun betrafen im Jahre 1924 zwischen 53,9 und 64,3 % der amerikanischen Scheidungen kinderlose Ehen (in 10,4 Ofo erfolgte keine Angabe über die Kinder, d. h. entweder gab es keine oder lediglich bereits erwachsene). D. h. aber, daß in der Mehrzahl der Fälle das Scheidungsrecht bei uns die Kinder anscheinend nicht zu berücksichtigen braucht. Das hieße wieder: Scheidungsnormen können sich nicht im Hinblick auf die normale Ehe, sondern nur auf bereits gescheiterte und häufig kinderlose Ehepaare bilden (Zahlen aus Groves /Ogburn, S. 351). Vgl. übrigens die Ansichten Ehrlichs über das richtige Ehegüterrecht (Grundlegung, S. 101), wobei er allerdings nur die Lage zwischen den Ehegatten, nicht die gegenÜber Dritten berücksichtigt. 42 In den Vereinigten Staaten wurde in manchen Staaten eine geraume Zeit hindurch versucht, dem Ehepartner, der des Ehebruchs schuldig gesprochen wurde, die Neuehe überhaupt zu verbieten. Kein Versuch hat je die These von Jahrreiss über den "Versuchs"charakter von Trechtsregelungen besser beleuchtet. Der schuldiggesprochen Geschiedene ließ sich einfach in einem anderen Bundesstaat trauen. Dieser Staat stand vor einem fait accompli, womöglich schon mit Sprößlingen, und oft genug mit eigener andersgerichteter Rechtspolitik. So wurde das Verbot (durchaus einleuchtend) als Quasistrafmaßnahme angesehen und darauf der Satz über die gebietsbegrenzte Wirkung von Strafmaßnahmen angewendet: die neue Ehe sei also gültig. Das wiederum stellte den Staat der Ehescheidung vor einen fait accompli. Zumeist half er sich dann mit der Anerkennung der Rechtsauffassung der lex loci celebrationis. Ähnlich beim Verbot der neuen Ehe beider Geschiedener während einer festgesetzten Frist. Hier sollte eine Scheidung verhindert werden, die die Vermählung mit einem bereits gefundenen neuen Partner ermöglichte. Moderner und viel wirksamer ist es, eine Feststellung des Sachverhalts und der Scheidungsberechtigung vor Gericht zu verlangen, wobei das eigentliche Scheidungsurteil dann während einer festgesetzten Frist vorenthalten bleibt. Dies scheint mir den Grundgedanken des § 1567 BGB viel besser zu erfüllen als jener Paragraph selber. Denn Versöhnung durch Gerichtsurteil kann ich nicht als einen Zweck ansehen, den vernünftige Menschen eigentlich verfolgen könnten. 43 Solche Rechtssätze führe ich nicht etwa als Lebensregelungen, sondern nur als Abbilder erstens des Lebens und zweitens der herrschenden Ideologie und der Normengebilde über das Leben an.
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Mittlerweile haben wir aber durch Festlegung des Ehebruchs des Mannes als Scheidungsgrund schon die erste rechtliche Anerkennung für die Gemütsbedürfnisse der Frau errungen. Als nächstes folgt die "grobe Mißhandlung". Ein Kautschukbegriff. "Cruelty" heißt es bei uns. Man lese in einem Kommentar nach, was nach der jeweiligen bis zum Richter vorgedrungenen gesellschaftlichen Auffassung die "grobe Mißhandlung" ausmacht - oder auch nicht 44 • Gleich wird "der gebildete Stand" als Sonderfall betrachtet und damit von Gerichts wegen anerkannt, daß an die Ehe durchaus verschiedene Anforderungen zu stellen sind. Mutig schlägt die moderne Zeit breitere Breschen. Natürlich werden sie erst dort breit geschlagen, wo der Richter konkret mitempfinden kann. Auch nur in Einzelfällen, als "Anwendung", nicht als Umwandlung. Und hätten nicht auch die nicht-gebildeten Stände mittlerweile dieselben Gemütsbedürfnisse? Man sehe sich das (allerdings von anderen Rücksichten stark beeinflußte, wenn auch gleichwohl bezeichnende) Scheidungsrecht Sowjetrußlands an. Doch wirkt sich in der Gesellschaft, im Trecht, in dem noch nicht mitempfundenen Einzelfall die alte Gewohnheit, der alte Begriff schroff normierend aus. Breite Breschen, aber eben nur einzelne Breschen. "Böswilliges Verlassen" entzieht dem Ehepartner den Geschlechtsverkehr, wohl auch den wirtschaftlichen Unterhalt, wenn es der Mann ist, der verläßt. Hier ist jedoch erst auf "Wiederherstellung der häuslichen Gemeinschaft" zu klagen (BGB § 1567) und dann ein Jahr lang abzuwarten, ob nicht der schuldige Teil nach Hause komme. Auch liest man im Kommentar bezüglich der "schuldhaften Ehezerrüttung", daß "unüberwindliche Abneigung" als solche keinen Scheidungsgrund darstellt. Was man also einem Fremden nicht ein einziges Mal einräumen darf (einmaliger Ehebruch genügt!), darf doch ohne Folgen bis zu Jahresfrist auch nach rechtskräftigem Urteil dem Gatten vorenthalten werden, das darf der Frau zudem beim Zusammenleben trotz "unüberwindlicher Abneigung" abgezwungen werden. Wie reimt sich das zusammen? Doch nur, wenn man sich zur Hälfte den alten Ehebegriff zur Richtschnur nimmt: sie haben zusammenzubleiben. Stückwerk, Komprorniß. Und Trecht " Ich zitiere (aus dem Gedächtnis) die bitter-ironische Befürwortung der Auflockerung des scheidungsfeindlichen englischen Rechts durch Lord Buckmasters etwa um 1924. Er berichtete über seine Erfahrung als Richter und redete übrigens nur von der innerehelichen Trennung: "Ich habe mich bemüht, das anerkannte und eingebürgerte Recht auch seinem Sinn und Zweck nach anzuwenden. Wenn einer seine Frau mit dem Stiefel in den Bauch stieß, so konnte ich solches selbstverständlich nicht für "grobe Mißhandlung" halten. Auch wenn sie schwanger war. Hatte ich doch nicht in die heiligen Intimitäten des ehelichen Lebens einzugreifen, falls er dazu zur Zeit vielleicht betrunken war. War er aber klar erwiesen nüchtern und war sie schwanger, dann muß ich es bekennen, meine Lords, dann habe ich vielleicht die Grenzen der mir zustehenden Befugnisse überschritten und darin eine ,grobe Mißhandlung' erblickt".
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und Recht, die die gesellschaftlichen Unterschiede auszugleichen haben, gleichen sie - wie zu erwarten war - durch Inkonsequenzen aus. Hier und da bröckelt es ab. Im übrigen wirkt die alte Ganzheit. Wiederum hängt alles von den jeweiligen Teilkomplexen und ihrer Bewertung im Rahmen des Ganzen ab; oder von etwaigen Vorurteilen. Wäre bei uns Amerikanern die "Entziehung der wirtschaftlichen Unterstützung" (non-support) als allgemeiner Scheidungsgrund auch nur denkbar, wenn es den Typ der außerhalb von Haus- oder Ehewirtschaft (Laden, Farm) arbeitenden Ehefrau gegeben hätte? Oder wenn der Ahnenkult oder die Erbhofregelung zum wesentlichen Wert der Ehe gerechnet würde? Hätten unsere Gerichte den Begriff der "moralischen Grausamkeit" hochkommen lassen, wenn die Persönlichkeitsentwicklung der (bürgerlichen) Frau sich nicht bereits in den Handlen der amerikanischen Ehe als wesentliche Aufgabe durchgesetzt hätte? Würde andererseits in einer Kultur nicht nur die "Verzeihung" gelegentlich wahrgenommen (weitaus öfter als vermutet!), sondern vor allem das Irgendwie-Doch-Zusammen-Durchhalten nicht nahezu zum Höchstwert gemacht werden, könnte dann das böswillige Verlassen so gewertet werden, wie § 1567 des BGB es tut45 ? Hat z. B. je einer untersucht, welcher Prozentsatz der rechtskräftigen Urteile auf Wiederherstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft den schuldigen Ehegatten wieder ins Haus gebracht hat? Welcher Prozentsatz der ins Haus Zurückgebrachten dann wieder eine Ehe geführt haben? Wer will hier die Wirklichkeit schon wissen?! Äußerst lehrreich ist hier auch das merkwürdige Beharren des amerikanischen Rechts auf der recrimination, d. h. der als Verteidigung wirksamen und als Einwand gegen die Scheidungsklage hinreichenden Entgegensetzung eines Scheidungsgrundes gegen den Kläger. Das hat das deutsche Recht glücklich überwunden. Es bleibt aber doch lehrreich, weil (1) es das Quasi-Strafrechtliche der Scheidung zum Erlöschen bringt (vgl. Eheverbot). Strafe (Scheidung, Schuldurteil, Ausstoßung) darf der selbst Schuldige gegen den anderen nicht beanspruchen46 • Das 45 Unser "desertion" geht insofern von einer etwas anderen Voraussetzung aus, als die starke Wanderungsbewegung in den unbesiedelten Westen angesichts der früher sehr ungeregelten Verkehrsverhältnisse damals einen vernünftigen Anlaß zu einer längeren Fristsetzung gegeben hat. Dieser Anlaß ist heute verschwunden. Der Rechtszustand ist geblieben. 48 Unser Vertragsrecht kennt zwar einen ähnlichen Gedankengang, welcher wohl auch zur Beibehaltung des unverständigen Rechtssatzes im Scheidungsrecht beigetragen hat. Der Selbst-Schuldige kann dort mit keiner Klage durchdringen, und "Marriage is a contract". Ein ähnlicher Gedankengang, eine typische Parallelität der Rechtsbegriffe - jedoch keine entsprechende Parallelität der Auswirkung. Das Vertragsverhältnis ist doch schon vor Anfang des Rechtsstreits faktisch und rechtlich entzwei. Es handelt sich (bei uns) nur darum, wer Schadenersatz verlangen kann. Bei der Scheidungsklage
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könnte nur der Staa:t. Strafe also, aber nur Strafe, die unter zivilrechtlichen Voraussetzungen zu bewirken ist. Lehrreich bleibt es auch, weil (2) hierbei der eigentliche soziale Zweck der Scheidung, die Verkündung der Unhaltbarkeit einer nicht mehr bestehenden Ganzheit, vollauf vergessen wird. Und weil (3) die recrimination die Unbeholfenheit des Rechts (des Menschen) bei der Analyse der Gesamtlage zeigt: vermögensrechtliche Fragen (bei uns vor allem der Anspruch auf spätere Unterstützung), auch zum Teil die Zusprechung der Kinder regeln sich traditonsgemäß nach dem Verschulden am Scheitern der Ehe. Wie soll man denn, wenn beide Partner schuldig sind, das gegebene Schema anwenden? Man stutzt, man versagt. Man kann das Problem nicht klären. Zwar mag die Not die "Mutter der Erfindung" sein. Sie gebiert jedoch nicht allzu häufig. Und werfen tut sie schon gleich .gar nicht. Obwohl wir von der Scheidung und den Scheidungsgründen sprechen sowie von den Teilkomplexen der Ehe, tönen doch stets die Ganzheitswirkungen der Ehe hindurch. Die recrimination bedeutet, daß selbst bei einer Nicht-mehr-Ganzheit der Ganzheitsbegriff im Trechte siegt, allein weil keiner berechtigt ist, ihn umzustoßen. Die rechtlichen Scheidungsgründe sind auch nirgends als Gründe gedacht, um tatsächlich zu scheiden; erst recht nicht als Normierungen des Scheidensollens. Sie wirken auch durchaus nicht als solche. Sie bezeichnen vielmehr die objektiven Merkmale dafür, daß einmal ausnahmsweise eine nicht mehr ganz erfolgversprechende Ganzheit vorliegt. Sie stellen sich als Einschränkungen dessen dar, was die Gesellschaft den Ehepartnern in der Gestaltung ihrer Ehe auferlegt. Ausnahmsweise braucht der berechtigte Eheteil nicht mehr mitzumachen. Eigentlich sollte er doch mitmachen - immer noch; daß er sogleich zur Scheidung greift, ist keineswegs vorgesehen. Die Gesetzgebung verläßt sich hier eben auf die "Gesellschaft", d. h. auf jene Kleingruppe, zu der die Ehepartner gehören. Auf Stand, Familie, Nachbarschaft, Freundeskreis, ja auch auf die Kirche, der die Gesetzgebung die Endentscheidung fortgerissen hat. Der einmalige Ehebruch gewinnt in diesem Zusammenhang eine weit über das Körperliche und Besitzmäßige hinausragende Nebenbedeutung 47 • Er ist ein Symptom der sittlichen Zerrüttung (Keuschheitsverletzung, Treueverletzung) oder ein Symptom für das völlige ist das Verhältnis zwar faktisch doppelt zunichte - rechtlich steht es aber noch unangetastet da. Ich will mein heimisches Recht nicht sonderlich an den Pranger stellen. Uns bleibt zumindest § 1567 BGB erspart. Ich will nur die aus den Verhältnissen notwendig erwachsenden Inkonsequenzen jedes entwickelten Scheidungsrechts betonen. Ein verkündetes, also "frei geschaffenes" Scheidungsrecht kann konsequent ausfallen. Ob es dann aber nicht ebensoviele Bedürfnisse vernachlässigt? Ob es dann nicht auch ebenso rücksichtslos Überverallgemeinert? Man vergleiche wieder die Erfahrung Sowjetrußlands. Die alte Ehe ist ebensowenig tot wie sie allgemein vorherrschend ist. Nur eine Regelung tut es nicht!
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Schwinden der nunmehr plötzlich als Grundbedingung empfundenen Liebe oder Zuneigung ("unüberwindliche Abneigung"!). Wenn also der Berechtigte trotz allen Außendrucks doch zur Scheidung drängt, läßt man das zu. Sollte aber das Symptom, wie er am besten weiß, einmal nicht zutreffen, wird er es schon lassen. (Es sei denn, daß der bekannt gewordene Ehebruch ihn - durch den Druck der sonst immer auf Zusammenhalt drängenden Gruppe! - nun vielleicht gegen seinen Willen in die Scheidung treibt.) Selbst bei dem am schärfsten gefaßten Scheidungsgrund beherrscht also der Ganzheitsgedanke dennoch das Feld. "In einer Sache, die ihn so tief berührt, wie seine Ehe, muß dem deutschen Bürger doch seine Appellation selbst bis ans Reichsgericht erhalten bleiben!" Ganzheitsgedanke und - allem Handlenwandel zum Trotz - Einheitsgedanke. Immer soll es nur eine Ehe geben. Werden Ausnahmen von den Trechtlern zugelassen, dann sind es Ausnahmen zugunsten ihres eigenen Standes. Gut bürgerlich bestellte Normen für das ganze Volk - mit nur bürgerlichen Ausnahmen (die gebildeten Stände), wenn die bürgerlichen Normen mal nicht passen48 • Auch die kinderlose Ehe wird berücksichtigt - jedoch weder vom Recht, noch vom Trecht, noch vom gesellschaftlichen Begriff: von den Beteiligten49 ! Und die Ehe derer, die kein Geld fürs Scheidungsverfahren zur Verfügung haben? Nun, diese weniger 5o • Die absonderlichste übervereinheitlichung des 47 Ich betrachte dieses Denken in Symptomen für grundverfehlt, und zwar für zunehmend verfehlt. Auf seine Richtigkeit kommt es hier aber nicht an, sondern nur auf die Schilderung des im Recht zum Ausdruck kommenden Gemüts- oder Gedankenganges. 48 So hat in Frankreich die Ehe des Bauern, des Adels, des Kleinhandwerkers das Muster abgegeben, in das sich der Arbeiter so gut hineinpassen mußte, wie er konnte. Vgl. die Regelung des Ehegüterrechts in Deutschland: wie ist bis heute die Arbeiterehe berücksichtigt? Vgl. in England und Amerika den Siegeszug der Vermögensindividualität "der" Ehefrau, der allein die begüterte Frau berücksichtigte und in der Ehe des Arbeiters oder des kleinen Ladenbesitzers jede Arbeit der Frau in Haus und Geschäft als "vermeintliches Geschenk an den Mann" auffaßte, das dessen Gut vermehrte. Wobei die Arbeiterbevölkerung jetzt ungefähr 65 % beträgt (Lynd, Middletown), ohne die kleinstbürgerliche Schicht mitzurechnen. Nicht ohne Grund redet der Soziologe von der bürgerlichen Gesellschaft. Die Ideologie eines mittleren Bürgertums älteren Stiles beherrscht nicht nur sämtliche Grundbegriffe des Rechts und der meisten sozialen Ideale, sondern gibt sogar vor, Andersgeartetes würde nicht bestehen. 41 Hier fällt wieder das nichteheliche Geschlechtsverhältnis ins Auge: Die Beteiligten schalten nach Möglichkeit die "Störung" durch Kinder aus. 50 Das englische Recht bietet hier wieder das schreiendste Beispiel. Alle Achtung übrigens vor § 1579 BGB über die Unterhaltsbefreiung! Er ist nicht nur ein verständiger, sondern auch ein kühner Paragraph, der Neugründungen ermöglicht. Er trägt dem Menschenmöglichen Rechnung. Zuviel Verantwortlichkeit erlahmt, anstatt zu aktivieren. Wie allerdings die GrundeinsteIlung dort mit der von §§ 1312, 1328 zusammenzureimen ist, bleibt dem Außenbeobachter verborgen. Ich rede nicht von Nebengedanken, etwa von § 1328 Satz 2.
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Ehebegriffs liegt jedoch auf dem hier kaum berührten Gebiete des Ehegüterrechts vor. Zweierlei soll hier erwähnt werden: die verschiedene Auswirkung des Schulzwanges sowie die verschiedene Auswirkung der Empfängnisverhütung und des Abtreibungsverbotes je nach Vermögensschicht51 • Auch in anderer Richtung ist das Hinwegsehen über tatbestandliche Verschiedenheiten auf den ersten Blick geradezu bestürzend. Ich kenne weder die deutschen Verhältnisse noch die deutsche Literatur. Ich rede also hier allein von den Vereinigten Staaten. Immerhin ist zu vermuten, daß ein skeptischer Beobachter auch in Deutschland nicht allzu Unähnliches, wenn auch zahlenmäßig Verschiedenes auffinden würde. Von je sieben amerikanischen Ehen wird jetzt mindestens eine geschieden52 • Soweit Zahlenmaterial vorliegt, sieht es so aus, daß 20 - 25 Ofo der erstinstanzlichen Prozesse bei den höheren Gerichten der amerikanischen Einzelstaaten Scheidungsprozesse sind53 • Die Erledigung dieses Geschäftsanfalls wäre undenkbar, wenn der Normaltyp die streitige Scheidung wäre. Wohl will zuweilen der Mann zur Neuen, will die Alte loswerden; sie klammert sich wie eine Ertrinkende an das Prestige, an den Unterhalt. Wohl möchte zuweilen jeder den anderen erschießen, kann es aber nicht mit ansehen, daß der andere Teil die Kinder "zugrunde richtet": also Streit nicht um die Scheidung, sondern um die Jungen. Wohl hat sie ihn satt, will aber, daß er zahlt. Da gibt's auch Rechtsstreit. Diese Fälle kommen vor. Typisch, d. h. hier: gang und gäbe, ist etwas anderes. Er ist weg, oder sie ist weg, und zwar schon lange. Der zurückbleibende Teil bestätigt den Sachverhalt rechtlich im Scheidungsverfahren ohne Vertretung der Gegenseite. Ja, wenn sie's will, verschaff ich ihr "die Gründe". Was wird benötigt? Schön also; auseinander. Wer soll klagen? Mit einem Worte: die in den Klageschriften angeführten "Gründe" sind zumeist belanglos. In einer Wirklichkeitswissenschaft sind sie Fiktion. Und sind sie da, so sind sie verziehen und die Verzeihung wird schön verschwiegen. Für den vorliegenden Zweck geschaffen. Glatt verfälscht. "Das Gesetz ist ja verrückt!" Sie sind zwar da, aber dem anderen Partner bis jetzt noch nicht be61 In den Vereinigten Staaten ist die Lage nicht so stark nach Vermögensschichten differenziert, das Problem ist aber bedeutend größer, weil die Auskunftserteilung - im Normalfall auch die ärztliche - unter Strafe steht. Wenn übrigens jemand glauben sollte, daß derartiges nicht zum Eherecht gehört, will ich nicht mit ihm streiten. Im Eherechtsleben nimmt das Problem aber hinter Liebe und Gewohnheit ungefähr die dritte Stelle ein. Ähnlicher Meinung scheint auch (nach dem vor kurzem erschienenen Rundbrief und dessen Ausführungsbestimmungen zu urteilen) die in solchen Werturteilen recht einflußreiche katholische Kirche zu sein. 62 Groves I Ogburn aaO., S. 345 f. In Deutschland zwischen 1925 - 1929 etwa
1: 16.
63 Vgl. Leon C. Marshalli Geoffrey May: The Divorce Court. Vol. I: Maryland (1932), Vol. 11: Ohio (1933).
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kannt. Neues wird geschaffen oder vorgetäuscht. Oder man wählt sich einen Bundesstaat, wo das Gesetz es einem leichter macht (z. B. Nevada). Für die meisten, die die Kosten erschwingen können, steht die Scheidung faktisch frei. Trotz des Gesetzes. Die Armen gehen einfach in solchem Falle auseinander. Das Gesetz aber beachtet sorgfältig die Norm, den Rechtssatz, den alten Ehebegriff und nicht das Tun. Mit ernster Miene wird das Spiel gespielt. Das Gesetz will mehr. Es will nicht, daß die Gründe in gegenseitigem Einverständnis zustandekommen. Das hieße Kollusion gegen das Gesetz. Das soll zu keiner Scheidung führen. Und faktisch heißt das was? Daß die Kollusion verschwiegen wird. Quod non est in actis, non est in mundo 54 • Und wozu das alles? Wenn man im gegenseitigen Einverständnis auseinander kann, weshalb das nicht im Gesetz anerkennen? Wozu die Fiktionen, das Getue, das Kasperletheater? Vorerst wohl wegen der sechs nicht geschiedenen Ehepaare und deren Ruhe. Althergebrachte Sittlichkeit schauert noch zurück vor der Serie von Gatten - der reihenweisen Polygamie. Es gehört Ernst zum Leben. Es ist - auch wenn weder Kinder noch Vermögensfragen eine Rolle spielen - ungehörig, unsittlich, gefährlich, daß Leute von sich aus ohne weiteres die Ehe lösen können. Solche Formulierungen55 bergen trotz ihrer kuriosen Unschärfe einen tiefen Sinn. Vom Geschlechtlichen her wie von der Kindererziehung ist die Ehe im Grunde genauso sehr eine prophylaktische, eine vorbeugende, wie eine kreative Einrichtung. Sie will ebensosehr das Untunliche verhindern wie das Tunliche regeln und fördern. Sie will ebensosehr einer Unstetigkeit im Lebenswandel steuern wie eine Stetigkeit bewirken. Sie will ebenso sehr den Weg vorschreiben, den man nicht zu gehen hat, wie den Weg, der zum Heile 5' Hierzu L. Ernest Morris, ein erfahrener Praktiker, in 32 Columbia Law Review 151, 153: Was praktisch geschieht ist Folgendes. Ein Mann und eine Frau wollen sich in New York scheiden lassen (dort gelten nur Ehebruch und Verrücktheit als Gründe). Sie sind zivilisiert und befreundet. Sie gehen zum Anwalt. Früherer Ehebruch wird zugegeben. Der Anwalt fragt die Frau, ob sie das Beweismaterial zur Hand hat. Was sie aufbringen kann, erfüllt die Formerfordernisse des Gerichtes nicht. Der Mann sagt zu seiner Frau: "Wenn das Beweismaterial, das du schon hast, also nicht genügt, sprich doch bei Gladys nächsten Dienstag vor. Wir sind dann beide im Pyjama dort." Der Anwalt erinnert, was Richter Gaynor einmal bezüglich einer nicht unähnlichen Sachlage geäußert hat: "Man hat zu vermuten, daß sie nicht bloß vorhatten, ein Paternoster zu singen." Der Anwalt aber, vor dem die Besprechung stattfindet, muß seinen Klienten raten, daß ein derartiges Vorgehen eine Collusion bedeuten würde. Doch haben die Klienten meistens genügend Grütze, um einzusehen, daß, wenn sie am folgenden Mittwoch zu einem anderen Anwalt gehen und diesem die Ereignisse des Dienstags vorführen, er den Rechtsfall dann aufgreifen kann. Mich überrascht an diesem Bericht nur eines: daß das typisch-hypothetische Ehepaar sich gerade in New York hat scheiden lassen wollen. 55 "Die gesellschaftlichen Einrichtungen erweisen sich doch zumeist als unendlich weiser als das Raisonnement ihrer Verteidiger."
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führt. Schlimm genug, daß trotz dieser Einrichtung der Matrose, der Gelegenheitsarbeiter, der Börsenmakler zu einem oder seinem Mädchen geht. Doch kann man das ertragen, weil es den Grundbestand nicht verneint, sondern - wenn man so will - ergänzt. Die eingegangene Ehe jedoch auseinandergehen lassen - das rührt am Grundbestand. Würde man also - als folgerichtige Fortsetzung der unverkennbaren Tendenz zur Verherrlichung der Ehe als Persönlichkeitsverhältnis - eine freie Entscheidung wenn auch nur bei kinderlosen Ehen zulassen, so wäre man mit drei Möglichkeiten konfrontiert, die dieser Propyhlaxis widerstrebten. Einmal könnte der (nun wieder als typisch vorausgesetzte) Zank an sich lebensfähige Eheunternehmungen auflösen, bevor die Kriegsstimmung sich gegeben hätte 56 • Weiter könnte der Wunsch nach Bewegungsfreiheit eine zeitlang (oder ganz?) zur beabsichtigten Kinderlosigkeit führen 57 • Drittens würde bereits die bloße Möglichkeit einverständlicher Eheauflösung die Augen in die Ferne schweifen lassen, was andere Ehen gefährdet. Wieder erscheint das Leben, die Ehe, das Dauerverhältnis als ein Werdendes; nicht gegeben, sondern erst zu schaffen. Wieder der soziale Druck, der den Menschen von der Unstetigkeit seiner Leidenschaft in die Stetigkeit des Lebens zwingen will, ja die Notwendigkeit, ihn derart zu zwingen. Wer sollte ihn anders zwingen, denn die Einrichtungen. Diese Einrichtungen hat das Gesetz nicht zu schwächen, sondern zu stützen. Das mit der Einrichtung verfolgte Ideal hat das Gesetz anzuerkennen, hat auch das Trägheitsmoment eher für als gegen die Beständigkeit einzusetzen. Der Staat als Lenker, als Ausgleichsinstanz muß sein Scherflein zum Kampf gegen die Zersplittertheit des Daseins beitragen. Soweit die gesellschaftliche Propylaxis, sei es als Aufgabe, sei es als Zweck. Soweit das Negative. Doch nun zum Positiven. Gibt es etwa auch unter den Geschiedenen - Paare, die nicht klar erkennen würden, 58 Vgl. die Möglichkeit, als Bedingung eine Willenserklärung vorzuschreiben, die dreimal, in Zeitabständen von je drei bis sechs Monaten und (um zufälligen Streiten vorzubeugen) an festgesetzten Terminen zu erfolgen hat. Vgl. auch die rechtliche Einstellung zur Sozietät. 57 Dies läßt sich z. T. und mit sehr geringen Zahlen aus dem Leben belegen. Die Frage bleibt: Ob nicht zum Glück. In den mir bekannten Fällen möchte ich (allerdings ersichtlich nicht aus einer traditionsgemäßen Ethik heraus) das bejahen. Von ca. 40 mir gegenwärtig bekannten Fällen, wo die Ehe schon ins vierte Jahr geht, kenne ich zwei, wo es bis jetzt bei der Kinderlosigkeit geblieben ist. Zunächst beleuchtet dies, soweit ich beurteilen kann, die Gesinnung. Doch habe ich als ehrlicher Wissenschaftler die Aussage eines erfahrenen Frauenarztes mit anzuführen: "Ich kenne Pessar-Kinder, ich kenne Patentex-Kinder, ich kenne Kinder, die bei Anwendung eines jeden Verhütungsmittels entstanden sind. Das Mittel kann erfolglos sein; die Möglichkeit der Schwangerschaft ist stets gegeben. Weit öfter aber als das Mittel versagt der Mensch." Soweit das zutrifft, haben sich diese Ehen als Einrichtung selbst saniert.
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die gute Ehe ginge über alles? Gibt es - auch unter den Glücklichen Paare, die nicht wüßten: the course of true love never did run smooth; selbst treue Liebe kommt zuweilen auf den Holzweg; auch Schaffen ist Leiden. Paare, die nicht den Wert des sozialen Drucks empfänden, die sich nicht dessen freuten, daß sie eine feste Einrichtung in den Schwierigkeiten des Lebens zusammenbindet? Die Großeinrichtung: "Die" beständige Ehe, die Kleineinrichtung: ihre eigene Ehe. Mir ist - und die Jungen68 reden mit mir herzlich frei - bisher kein solches Paar begegnet. Das Ideal schwindet nicht, auch nicht die Einsicht, daß eine neue Ehe stets und immer wieder neu zu errichten ist. Das Ideal der Stetigkeit, des Drucks, als Positives, als Unterstützung beim Schaffen das vergeht nicht. Nicht etwa nur als Schutz gegen äußeren Angriff, nicht nur als Beschränkung, die die Außenwelt brutal verlangt. Ein Mann und eine Frau - und diese zusammen. Sie wissen wohl, sie fühlen deutlich, diese Jungen, daß der Mensch nichts Schöneres als eine gute Ehe zu erhoffen hat. Gerade deswegen steigern sie ihre Anforderungen ins Grenzenlose. Gerade deswegen wollen sie sich mit dem lahmen Alltag, mit dem ersten Zufall nicht zufriedengeben. Diese Ehe soll auseinander, weil die Ehe mehr zu bieten hat! Und das soll für die Gesellschaft schädlich sein? Daß Ideale nicht eitel Träume bleiben, sondern Wirklichkeit werden, daß Tausende und Hunderttausende sich nicht in den überlieferten Alltag fügen, sondern sich mit Herz und Hand dafür einsetzen, daß der überlieferte Alltag mehr zu dem gemacht wird, was im Alltag und für den Durchschnittsmenschen doch trotz allem möglich ist. Hier liegt Romantik vor und irreales Denken, Verlangen nach dem Menschenunmöglichen. "Die Jungen wollen den Mond vom Himmel herunterlangen." Sicher wollen sie das. Ich kann jedoch den darin enthaltenen Vorwurf nicht verstehen. Wer unermüdlich strebt und sich bemüht, dem gönn ich sein Verlangen nach dem Mond. Ja, diese Kinder arbeiten an ihren Ehen, unter Mühen und Strapazen, ohne rechtes Wissen, jedoch mit Ziel, mit Kraft und mit glühendem Herzen. Sie arbeiten innerhalb der Ehe, wie wir Älteren die Ehe kennen, und auch außerhalb. "Konkubinat" bekommt in diesen Tagen eine neue Bedeutung. Nicht mehr wie einst die Ausbeutung eines "niederen" Standes. Nicht mehr verantwortungsloses Sichvergnügen. Auch nicht die voreheliche bäuerliche Werbung, die doch "bindend" wirkte. Jetzt kommen Gleichberechtigte zueinander und wollen ausfindig machen, ob das gehen wird. Das hat es früher schon gegeben. Ibsen redet z. B. schon in Nora von den "wilden Ehen". Doch hat es das auch in den bürgerlichen Kreisen gegeben? Nicht nur in der Boheme, als Ausnahmeerscheinung, sondern als Selbstverständliches, etwa in Studen68 Meist bürgerliche, wie klar sein dürfte, und meist Stadtkinder meist aber auch die "dekadenten" Modernen!
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tenkreisen; als etwas Anerkanntes von den Menschen gleichen Standes, gleichen Alters? Hier wird mit glühendem Herzen, mit hohem sittlichem Bewußtsein dessen gehandelt, was zu verantworten, was zu schaffen ist. Das Leben zerrt und treibt sie auseinander, diese Kinder. Und dennoch bleiben sie zusammen. Die alten Stützen, rechts und links, zerbröckeln. Sie finden in sich neue. Die alten Muster wollen nicht länger taugen. So schafft sich jedes Paar, Tag um Tag, Mal um Mal mühselig errungene neue Lösungen, neue Muster. Die häufen sich. Wohin, kann keiner sehen. Doch werden neue Ehemuster geboren. Auch wenn es keine Ärzte gibt und keine Hebammen. Die einzelnen sind es allein, die gebären. Mit Schmerzen, mit Gefahr: die neue Welt. Wie ist es möglich, diesen Vorgang zu betrachten, die Einzelheiten dieser einzelnen Leben zu erkennen und dann zu schreiben: "Die Jungen verwildern!"? Ich spreche diesen Jungen keine Weisheit zu. Leben ist Werden. Werden ist Fehlgreifen. Fehlgreifen ist Leiden. Was tut das zur Sache? Die überlieferten Muster langen nicht! Wie ist es mög.,. lich, diesen Vorgang zu betrachten und dann zu schreiben: "Die Ehe zerbröckelt; schon wird von 7 Ehen je eine geschieden. Die Sittlichkeit ist hin?" Richtig ist es doch umgekehrt. Es muß doch heißen: Die moderne Zeit zerstört das alte Ehebild; und dennoch halten von 7 Paaren 659 zusammen. Die Sittlichkeit zeigt heute eine Wirkung, die ans Unermeßliche grenzt. Bleibt das eine Paar, das kein Glück hat. Wie ja die Scheidung bezeugt. Bleibt ferner die Frage, ob es nicht eigentlich bei einem oder bei zwei Paaren von den nicht geschiedenen 6 ebenso ist. In der alten Zeit, als die Ehe noch "die Ehe" war, war jedenfalls manche ungeschiedene Ehe innerlich ein bodenloses Nichts. Das kann sich mit dem gelockerten Scheidungsrecht und -brauch geändert haben. Zum Teil wird es sich auch zu Gunsten der heute ungeschiedenen Ehe geändert haben. Doch nur zum Teil. Mancher hat also kein Glück. Von 7 Ehen - oder 6 oder 5 - eine geschieden. Bleibt aber ebenfalls die Frage, ob das Gewahrwerden einer durchgreifenden Enttäuschung vor der Ankunft von Kindern nicht gerade durch das Auseinandergehen größere gesellschaftliche Stetigkeit bewirkt60 • Erst recht ein hoffnungsvolleres Leben für den 59 Oder auch meinetwegen aus vieren drei, aus dreien zwei. Man beachte, daß, wenn jede Person zweimal heiraten müßte, um den passenden Ehepartner zu finden, man doch eine äußerst starke Ehebeständigkeit in der zweiten Ehe hätte - obgleich das Verhältnis der Scheidungen zu den Ehen fast 1 : 2 lauten könnte. 80 Der Gesetzgeber, auch der Wissenschaftler im Eherecht täte gut, den Frauenarzt zum Thema Ehebruch, zum Thema Geschlechtsleben in der Ehe, ja zum Thema Zustand der Ehe überhaupt zu fragen. Nicht, um dessen soziale oder rechtspolitische Anschauung zur Ehe festzustellen. Die kann man meist billiger vom Großpapa beziehen. Der Frauenarzt zieht zumeist sozial
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einzelnen. Und die zweite Frage, was die soziale und rechtliche Regel, die das Auseinandergehen verhindern sollen, an menschlichem Leid bewirkt. Ob es nicht etwa genügte, das Auseinandergehen nur schwer zu machen, anstatt es an bestimmte äußerlich erkennbare Bedingungen zu knüpfen. Ob dieselben Bedingungen für Ehen ohne Kinder, für Ehen mit heranwachsenden Kindern oder für Ehen mit erwachsenen Kindern gelten sollten. Ob nicht die alternde Frau besonderen Schutzes bedürfte. Ob nicht konfessionelle Unterschiede auch staatlich zu berücksichtigen wären, ferner Klassenunterschiede. Was wissen wir von der Vielfalt jenes Ehelebens, das wir mit einfachen, allgemeinen Sätzen "regeln" wollen? Wer "die" Ehe noch immer als Einheit begreifen will, kann sich solchen Fragen nicht einmal nähern! Wird aber nicht jede Möglichkeit der Auflockerung, jedes Leichtermachen des Auseinanderlaufens den noch bestehenden gesellschaftlichen Druck der Einrichtung so vermindern, daß das Zusammenleben überhaupt gefährdet wird? Die Einrichtung "Scheidung" kann als Kundgabe eines gewordenen Zwiespalts beginnen; sie wird aber, einmal hervorgetreten, zu einem unabhängigen Faktor, welcher Zwiespalt bedingt, Zwiespalt zuwegebringt. Das kann kein Mensch mit offenen Augen leugnen. Das Maß dieser Auswirkung und welche der Ehen hätten tunlich zusammengehalten werden müssen - das wissen wir nicht61 , und dafür haben wir auch keine Wertmaßstäbe. Zweierlei und rechtspolitisch aus seiner eigenen Erfahrung ebensowenig Schlüsse wie der in der Technik befangene Ingenieur (d. h. Frauenarzt und Ingenieur sind in puncto Sozialpolitik Menschen). Aber auf diesem Wege können Konkretes, Einzelfälle, Einzelschwierigkeiten, dazu etwas über deren zahlenmäßige Häufigkeit und typische Erscheinungsformen der Rechtspolitik zugänglich gemacht werden, Sachen also, die nur der Frauenarzt und der Beichtvater zu erfahren bekommen. 81 Ein kühner und einsichtiger Diktator, der etwas wissenschaftliches Interesse und Skeptizismus hätte, könnte uns hierüber Aufklärung verschaffen. In Deutschland stehen z. B. heute den Partnern verschiedene Ehegüterrechte wahlweise zur Verfügung. Die für einen Wissenschaftler selbstverständliche, sofortige Erhebung darüber, welches gewählt wird und von wem, ist bei einem theoretisch-dogmatisch gesinnten Juristenturn ebenso selbstverständlich nicht eingetreten. Oberjustizrat Dr. H. Lachmund, Schwerin i. M., teilt mir mit, daß er als Referendar im Amtsgerichtsbezirk Marburg einmal untersuchte, wie weit die aufgrund der früheren hessischen Errungenschaftsgemeinschaft "zu erwartende" Wahl der Gütergemeinschaft tatsächlich erfolgt sei. Bis 1906 fand er etwa 10 Fälle, nachher gar keine. Die Bauern hätten das, was sie haben wollten, einfacher und besser durch die sofortige übereignung einer ideellen Hälfte des Bauerngutes an den Ehepartner erzielt. Der verzwickte Ausbau im BGB war dort auf dem Papier geblieben. Bei der unantastbaren Ehe fällt uns dagegen der Gedanke an eine Wahl unter verschiedenen Rechtskomplexen natürlich überhaupt nicht ein. "Die" Ehe hat eben eins zu bleiben. Trotzdem: setzen wir den Fall. Der Gedanke dann an eine Nachuntersuchung der Auswirkungen davon, daß Alternativen zur Verfügung ständen, der wäre, obzwar juristisch etwas verwahrlost, dennoch vielleicht gesellschaftsfähig. Nehmen wir nun an (eines Wissenschaft-
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scheint mir klar: erstens bleibt auch bei den verhältnismäßig leichten Scheidungsbedingungen in den Vereinigten Staaten die Ehe eine Grundeinrichtung mit immer frischer Lebenskraft und zweitens erweist sich die zweite Ehe der Geschiedenen nach informeller Beobachtung als weitaus haltbarer, weitaus besser als die erste. Starker sozialer Druck scheint entbehrlich, wenn die Ehe sinnerfüllt ist. Denn hier ist besonders zu beachten, daß die Grundauffassung des Ein-für-allemal-und-nicht-daran-rütteln voraussetzt, es würden zulängliche Handlen für die Zeit vor der Ehe bestehen. Es wird ohne weiteres angenommen, daß die gesellschaftlichen Einrichtungen eine ehefähige Jugend hervorbringen. Das gebe ich, wie erkennbar werden dürfte, mit Freude zu. Derartige Jugend kenne ich. Doch nimmt diese Grundauffassung nicht weniger an, daß die gesellschaftlichen Einrichtungen es im großen und ganzen schaffen, Paare zusammenzubringen, die auch zusammenpassen. Denn wenn auch nur ein Teil des oben Ausgeführten zutrifft, dann hat das Zusammenpassen heute eine Bedeutung, eine Unentbehrlichkeit, die etwa im Mittelalter recht selten gegeben war. Eine geschlossene Welt, eine klar geformte Bahn, ein autoritativer Ratgeber für Zweifelsfall und Streit - das hält auch das Unpassende zusammen. Wenn jedoch der Druck von außen nachläßt, wenn es überall in 20 Richtungen nach außen zieht, wenn Zweifel und Konflikte ohne amtlichen Ratgeber gelöst werden müssen, wenn sich die Bahn verwischt, das eigentliche Wohin und gar das Was-nun-morgen den traditionell vorgeschriebenen Zug verliert - da muß Zusammenhalt von innen kommen, da kommt man immer weniger mit dem Gewohnten, mit der heilenden Wirkung der Gewohnheit aus, da spielt das Zusammenpassen eine immer größere Rolle. Neu schöpfen kann nur, wer zusammenpaßt. Völlig paßt wohl nie ein Ehepaar zusammen - das wäre sonst ein ödes Leben. Auch bleibt der cantus firmus: auch das Zusammenpassen muß zu Beginn und immer wieder neu hervorlers Traum), es stünde ein Recht auf Scheidung nach geringfügig erschwerter, nach freier, nach beiderseitiger oder nach einer in den ersten sechs Jahren auszuübenden Wahl (mit oder ohne Unterschied je nach der Geburt von Kindern oder Schwangerschaft) drei Jahre lang neben dem heutigen Recht je nach einer bei Eheantritt auszusprechenden Wahl zur Verfügung. Setzen wir den Fall, daß man über Zahl und Prozentsatz der die Neuregelung Wählenden Buch führt und bei Scheidungsverfahren auch darüber, ob es sich um Paare handelt, welche in diesen Jahren vermählt wurden, und ob diese sich für die Scheidung nach Wahl ausgesprochen hätten; daß man später eine endgültige Statistik aufstellte. Geben wir im voraus zu, daß das Ergebnis besonders ungünstig bezüglich einer Stetigkeit der Ehe unter dieser Neuregelung aussehen würde, da gerade die unstetigsten und leichtfertigsten Paare die Neuregelung wählen würden und da besonders im ersten Jahre viele solche sich "vermählen" würden, die sich jetzt nicht vermählen. (Wäre das zu bedauern?) Nach zehn Jahren würde man schon etwas mehr über die Wirkung eines gelockerten Ehescheidungsrechts wissen. Ich vermute, daß man über die relative Ehebeständigkeit bei einem solchen staunen würde.
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gebracht werden. Doch muß geeignetes Material gesucht werden jedes Paar für sich. Das Zusammenfinden des geeigneten Materials setzt man, so wiederhole ich, bei dieser Auffassung des Einfürallemal voraus, ferner daß das, was soziale Einrichtungen hierbei leisten können, schon geleistet wird. Dagegen aber möchte ich mich mit Händen und Füßen wehren. Wir haben das Problem kaum berührt. Wir sehen mit an, wie die moderne Welt die Ehen auseinanderdrängt. Wir trauern der guten alten Zeit nach: das liebe, alte Heim! Wir versuchen es mit den Mitteln des Strafrechts82 : ihr sollt nicht auseinandergehen! Kein Wunder, daß wir immer noch trauern! Ben Lindsays Analyse ist unklar. Die Empfehlungen in seinen Büchern sind oft sehr oberflächlich. Sein Instinkt ist sicher. Er hat den Angriffspunkt erraten. Das Auskundschaften, die Wahl, die Werbung, die Probezeit, die Eheschulung - die vorehelichen Handlen. Dort liegt der große Mangel. Auch die Ausbildung zur Ehe wurde früher recht selbstverständlich und einigermaßen befriedigend im Elternhaus geleistet. Jetzt sucht man den Mädchen in der Schule etwas vom Kochen, Nähen, Einkaufen beizubringen. Das ist gut. Und von der Kinderpflege. Vom Umgang mit dem Mann? Und wo findet die Eheschulung für den Jungen statt? Lindsay meint, Eheschulung und Auskundschaften könnten zusammenfallen. Man lernt im Schaffen, meinte Pestalozzi. Die Betriebswirtschaft sinnt nach Mitteln, um den richtigen Mann an die richtige Stelle zu bringen, erkennt, daß dies nicht automatisch und reibungslos geschieht, verändert auch je nach Bedarf die Stellung des Mannes oder die Besetzung eines Postens. Interessant. Anregend? Für das Eherecht? Vielleicht. Das Recht kann keine Handlen für das Auskundschaften schaffen. Wo es die Ehe am besten in den Griff bekommt, das ist bei der Scheidung. Hier könnte das Recht allerdings die Unzulänglichkeit der bestehenden Muster für das Kennenlernen anerkennen, anstatt die Augen absichtlich zuzukneifen. Hier könnte das Recht merklich dazu beitragen, die Regelung einer Eheprobe, Probeehe, Vorehe zu erleichtern. Das wird es natürlich in absehbarer Zeit nicht tun, muß es aber über kurz oder lang in Angriff nehmen. Soweit ich sehe, macht sich unterdes die Jugend, ohne erst Hilfe abzuwarten, an die Sache. Jedes Paar für sich, unorganisiert, molekular. Vor der standesamtlichen Ehe, auch noch danach. Soweit ich sehe, bedeutet auch die Zunahme der Scheidung das Sichzunutzemachen einer der zur Verfügung stehenden, reichlich unbeholfenen Einrichtungen6S ,
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Diese Einstellung des "Einfürallemal" ähnelt sehr der jetzt als untunlich erkannten älteren Einstellung zur Strafe: allein Verbot und Strafe. Beide gehen davon aus, daß die gegebenen Vorbeugungs- und Erziehungshandlen nicht wirksam sind. N Mehr als die Hälfte der amerikanischen Scheidungen von 1924 erfolgten nach einer Ehedauer von weniger als sieben Jahren (vgl. Groves IOgburn
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den Umbau einer altersschwachen Maschine für einen neuen Zweck, das Ringen des Individuums mit dem Einzelproblem innerhalb der gegebenen sozialen Ganzheiten. Die Jugend tastet vorwärts. Sie weiß noch nicht wohin. Sie greift zu diesem, zu jenem, sie greift fehl. Doch einzeln sind sie und alle sind sie unterwegs! Sie müssen erst noch in ihre Einrichtungen hineinwachsen, sich ihre Einrichtungen schaffen. Und warum? Weil wir ihnen keine hinreichend passenden überliefert haben. Wer hat zu klagen - wir etwa oder sie? Bis hierhin hoffe ich dargetan zu haben, daß unser Begriff der Ehe, der sich in Handlen gründet, den heutigen Handlen nicht mehr gerecht wird und dennoch - in der Ideologie, besonders aber auch in dem stilisierten Trecht und Recht - wacker die alte Form beibehalten will und nicht ohne Erfolg Handlen und Sachlagen nach seinem ehrwürdigen Ganzheitsgebilde zu gestalten sucht: Nach Ausmaß, Zeit, Ort und Art bleibt doch der außereheliche Geschlechtsverkehr unter dem Druck des Ehegebildes innerhalb "ertragbarer" Schranken. Daß aber die Handlen weiter und weiter auseinandergehen und sich zuweilen - bei den Ehebegriffen der verschiedenen Gesellschaftsgruppen, ja sogar der Trechtler - vermerkt oder unvermerkt dem alten Begriff Konzessionen abgerungen haben. Daß der Versuch, den alten Begriff aufrechtzuerhalten, gleichzeitig aber für den Notfall ein Sicherheitsventil zu bieten, zu belustigenden (oder tragischen) Inkonsequenzen in der Beurteilung typischer konkreter Sachlagen geführt hat. Daß bei der Beurteilung, ob ein Sicherheitsventil notwendig ist, die Interessengegensätze innerhalb des Eheganzen im allgemeinen die entscheidende Rolle spielen und daß sich daraus unsere Auffassung über die Ehe als Ganzes ergibt. Daß die Vorstellung von der Persönlichkeitsentfaltung - vor allem der Frau - als eine Hauptaufgabe der Ehe und die zunehmende Wahlmöglichkeit bezüglich der Kinderzahl, die soziale Zersplitterung überhaupt, das Problem der Ehescheidung trotz aller Zähigkeit des Begriffes in neue Bahnen drängt. Daß gerade hier - und zwar weit mehr als sonst - die Zähigkeit des Begriffs eine eigene soziale Aufgabe zu erfüllen hat; daß aber die Frage bleibt, ob sie den folgerichtiaaO., S. 350). Das hat weder ein Gesetzgeber angeordnet noch "die" Gesellschaft. Und wollen diese Leute ihre Verantwortlichkeiten nicht erfüllen? Mehr als die Hälfte der Scheidungen betreffen kinderlose (oder kinderreiche) Ehen. Das ordnet gleichfalls kein Gesetz und keine Einrichtung an. Das heißt: zunehmendes individuelles Verantwortlichkeitsgefühl. Es wäre um unser (der Alten) Strafrecht gut bestellt, wenn wir nur wüßten, daß binnen sieben Jahren nach dem ersten Fehlgriff mehr als die Hälfte der auf falsche Bahn Geratenen schon vor der realen Möglichkeit eines neuen Weges stünden. Wir könnten unser Strafrecht lobpreisen, wenn weniger als die Hälfte der Verurteilten keine solchen sozialen Verantwortlichkeiten hätten, die sie vom Gericht hätten bewahren müssen.
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gen Weg einschlägt - ob, kurz gesagt, unter den modernen Verhältnissen die Beständigkeit jeder schon geschlossenen Ehe qua Ehe oder nicht vielmehr das Zusammenfinden, die Vorehe, die Eheschließung, den zweckmäßigen Ausgangspunkt bildet. Denn trotz aller modernen Lebensverhältnisse bleibt die Liebe, bleiben Kinder, bleibt der sichere Halt. Bleibt das felsenfeste, berauschende Wissen, daß Mann-Frau, oder Mann-Frau-Kind etwas Schöneres, Größeres, Heiligeres ist als Mann und Frau allein. Vorausgesetzt, daß Mann und Frau halbwegs zusammenpassen. Daran kann keine Maschinenzeit, daran kann kein Scheidungsrecht rütteln. Die gute Ehe bleibt, wenngleich "die" Ehe in die Brüche gehen sollte. Wozu verzweifeln? Gibt's denn keine Jugend?
Achtes Kapitel
Ganzheit und Gestaltung Die Betrachtung der Ehe hat uns etwas über das Wesen und die Wirkung eines Ganzheitsmusters nahegebracht - vornehmlich über die Wirkung des Begriffs, der sich einmal irgendwie um ein gegebenes Handlengebilde formte, sich von ihm teilweise loslöste und dann, normativ weitergestaltend, ein halbeigenes Dasein führte. Mit einem Begriff jedoch ist die Gesellschaft, ist die jeweilige Kultur nicht abgetan. Allen Inkonsequenzen, allen Verschiedenheiten zwischen den Gruppen, allen Schattierungen in der Begriffsbildung zum Trotze teilt sich die jeweils erfaßte Welt begriffsmäßig auf. Der Mensch muß nicht nur zu den Einzelteilen jedes Begriffes, sondern ebensosehr, ebenso rettungslos zu den verschiedenen Begriffen Stellung nehmen. Die akzeptierte Gliederung der als akzeptiert herrschenden Ganzheit bestimmt ihn in derselben Weise wie die einzelne akzeptierte Ganzheit ihn bestimmt. Nicht zur Gänze. Ist er ein Führergeist oder ein Häretiker, dann wohl nur zu achtundneunzig Prozent. "Akzeptiert", d. h. erkannt, bewußt, begriffsgeprägt und normiert. Von akzeptierten Ganzheiten will ich jetzt reden. Doch wäre es falsch, weil man gerade von dem Akzeptieren redet, die Rolle von Ganzheitsgefügen zu übersehen, die nur da sind, ohne begriffen, ohne als solche erfaßt, ohne über die dumpfeste Normierung hinausgebracht zu werden. Wir haben Handlen (und implicite Handlengefüge) in dieser Rolle kennengelernt. Wir haben die dumpfbewußte Normierung jeder bestehenden Handle (und implicite jedes Handlengefüges) festgestellt. "Eben, wo Begriffe fehlen" beginnt das tatsächliche Handlengefüge den Menschen zu formen. Das, was hiernach über die Auswirkung der "Begriffe" steht, ist dementsprechend aufzufassen. "Begriff", das Gedankenbild der erfaßten (oder vermeintlich erfaßten) Ganzheit steht im folgenden zu 2/3 allein als Symbol für die bestehende Handlenganzheit, die begriffen wurde, die auch von sich aus stärker wirkt, als ihr begriffliches Abbild wirken kann. Nur wo beide auseinanderlaufen, wo die Handlen z. B. der Juristen sich von denen der Laien abgetrennt haben und sich nun unter gegenseitiger Verstärkung innerhalb der Kleingruppe der Juristen an künstlichen Begriffen orientieren, gewinnt der Begriff als solcher eine einschlägige eigene Bedeutung. Auch da nur
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in dem Maße, wie Juristenhandlen und -denken gegen die Außenwelt imprägniert sind. Eine gewisse eigene Bedeutung leugne ich damit den Begriffen auch dort nicht ab, wo sie sich einigermaßen mit dem bestehenden Gefüge decken; die Betonung liegt vielmehr auf einschlägig. Diese Spannung unter den bestehenden und akzeptierten Ganzheiten und Begriffen ist für den Gang von Recht und Trecht bestimmend. Denn Neues wird nicht frei geschaffen. Neues entsteht aus dem Ummodellieren des Bestehenden1 • Vor allem: Neues, das aus der eigenen Kultur entsteht. "Das Bestehende" ist aber im ideologischen Bereich in erster Linie der Begriffsbestand. Dieser bereichert sich langsam, sehr langsam, aus neuen oder heranwachsenden Handlen, auch aus Rückgriffen auf eine ältere überlieferung (Renaissance, Rezeption des englischen Rechts in den Vereinigten Staaten). Im allgemeinen aber beharrt der Begriffsbestand jeweils zäh und fest, so wie er ist. Mit ihm in seiner Zähigkeit ist zu rechnen. Er bietet ja die einzigen bewußten Werkzeuge, mit denen man arbeiten kann. Er schaltet sogar die Wahrnehmung von etwas anderem größtenteils aus. Denn die Welt ist für die Kultur und den Kulturmenschen nicht, was da ist; sie ist das, was wir uns als daseiend vorstellen. So hat W. G. Sumner von der "imaginären Umwelt" der Geister gesprochen, auf deren Anwesenheit und Beschaffenheit der primitive Mensch dann auch (von seinen Prämissen aus) höchst rational reagierte. Diesen Gedanken hat W. Lippmann (Public Opinion) einsichtig auf Nachrichten über Tagesereignisse und soziale Verhältnisse übertragen, die dem einzelnen durch den ihm zugänglichen Teil der öffentlichen Meinung und des Zeitungswesens übermittelt werden. (Eine Zeitung liest er!) Nicht auf die Ereignisse selbst wird er also reagieren, sondern auf das, was - soviel er sieht - geschehen sein soll. Wir wenden nun denselben Gedankengang, auf die ideologisch gegebene "Beschaffenheit" der kulturellen Umwelt an, und zwar unter besonderer Berücksichtigung des Rechts. 1 Vgl. mein Effect of LegalInstitutions upon Economics, 15 Am. Economic Review 665, Anm. 17, 32. Dies zeigt sich in dem prägnantesten Gegenfall, der Übernahme (Nachahmung, Diffusion) eines rein körperlichen Kulturgegenstandes (artifact) aus einer fremden Kultur. Es gibt sogar Fälle (die Flinte; vielleicht die Ausbreitung der Mais-Bohnen-Wirtschaft in Nordamerika, vielleicht auch die Ausbreitung der Tabakkultur und des Kaffees), wo das Geborgte so schnell und schön in das Gegebene paßt, daß die dazugehörigen Handlen geradezu als Ganzheit mit übernommen wurden. Im allgemeinen fällt selbst hier das Gegenteil auf. Die Decke, die der Weiße zum Schlafen gebraucht, verwendet der Indianer als Kleidungsstück. Das Alphabet entsteht gerade deshalb, weil die Zeichen neuen Zwecken angepaßt werden müssen - der sakrale Charakter schwindet. Das Gegenstück ist die Mitübernahme von nicht-wesentlichen (nur symbolischen und das Gefühl ansprechenden) Zügen der Kultur. Ein Gegenstück, weil es ohne Verständnis für die eigentliche Bedeutung des Geborgten verläuft. Die Japaner und Inder beginnen, westeuropäische Tracht anzulegen. Westeuropäer können sich dabei gut erinnern, daß der eminent fortschrittliche Friedrich 11. aus gleicher Grundlosigkeit arabische Tracht anlegte.
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Vorhin war die Rede davon, daß ein solch eingebürgerter, übervereinfachter Begriff wie "der Besitz" oder "das Eigentum" uns inmitten der Probleme des Rechts der Aktiengesellschaft, des Arbeitsrechts oder der Betriebswirtschaftslehre die Erkenntnis des faktischen Wesens einer Fabrik und ihrer tatsächlichen Benutzung und Beherrschung fast unmöglich macht. Dem möchte ich hier ein zweifaches hinzufügen: Als erstes ein Beispiel dafür, wie die Neuschöpfung durch die vorhandenen Begriffe sei es ermöglicht, sei es verhindert wird - wobei das Gemeinsame ist: wie der Versuch einer Neuschöpfung an diesen haften bleibt. Als zweites zwei hypothetische, meinetwegen phantastische Fälle, die die Art der Problemsicht durch bestehende Begriffe in ein grelles Licht rückt. Dem deutschen Recht ist der Begriff culpa geläufig, ebenso der Begriff Willensakt. Das anglo-amerikanische Recht kennt alle beide nicht. Dafür kennt dieses Recht die Begriffe contract (Vertrag); assumpsit (eine Klage, welche fast durchweg auf einem bestehenden, nicht erfüllten Vertrage zu fußen hat); und consideration (Gegenleistung - und zwar die, ohne welche ein formloser Vertrag keine Rechtsgültigkeit beanspruchen darf). Keiner von diesen Begriffen ist statisch. Doch erweitern sie sich, wie das bei Rechtsbegriffen zu erwarten ist, nur langsam. Mittlerweile haben sie bei zwei wichtigen Fragen eine vernünftige Lösung unterbunden. Die erste betrifft das Angebot mit bestimmter Zeitdauer, das vor Ablauf der Frist und auch vor erfolgter Annahme widerrufen wird. Der Antragsgegner will jetzt innerhalb der Frist angenommen haben. Ohne den Begriff Willensakt und mit dem Begriff assumpsit kommt man sofort auf das Problem: keine Klage ohne Vertrag., also: Vertrag oder nicht? Daraufhin erfordert der Begriff consideration eine negative Antwort. Mithin keine Klage. Ein zweites Problem ergibt sich, wenn die eine "Vertrags"-Partei aus Versehen oder wegen Verstümmelung der telegrafischen Mitteilung ein Angebot "macht", das zwar vernünftigerweise so sein könnte, jedoch nicht so gemeint war. Der Antragsgegner "akzeptiert", bevor der Irrtum sich herausgestellt hat. Wiederum steht das anglo-amerikanische Recht (in Ermangelung schöpferischer Phantasie) vor dem Problem: Vertrag oder keiner? Den Begriff culpa kennt es nicht, der es der deutschen Rechtswissenschaft ermöglicht hat, culpa in contrahendo herauszubilden. Den Begriff "negativen Schaden" kennt der englische Jurist zwar - doch nicht verallgemeinert, sondern nur für den Bereich des Deliktsrechts. Wäre nun die Frage etwa 1925 - also nach dem schönen, modernen Ausbau dieses Rechtszweiges - zum ersten Mal aufgeworfen worden, so wäre (obschon unwahrscheinlich) eine Anwendung des Begriffs "negligence" denkbar gewesen, um allein den negativen Schaden ersetzen zu lassen. Das Problem stellte sich aber bereits
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in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Mithin: Vertrag oder keiner? Alles oder nichts2 ! Vielleicht kommt die Abhängigkeit der Problemdefinition von der Spannung zwischen den vorhandenen Begriffen an einem hypothetischen Beispiel noch klarer zum Ausdruck. Nehmen wir an (was übrigens sowohl in Rom wie in England z. T. der Fall war), daß sich das Bankwesen entwickelt habe, bevor ein allgemeines Vertragsrecht aus der früher begrenzten Anzahl einzelner Vertragstypen entstanden wäre. Nehmen wir ferner an, daß sich die Gerichte früh und fortdauernd mit dem Bankwesen beschäftigt haben, anstatt daß die Bankleute, wie in England, durch die lex mercatoria ihre Angelegenheiten selbst erledigten. Dann käme nach dem Muster der faktisch herrschenden Handlen und Normen ein spezieller Geschäftstyp auch in das Recht hinein, das Kontokorrent. Man hätte in diesem Fall vorläufig keinen Vertrag im allgemeinen. Das Kontokorrent stünde nur neben depositum, emptio, venditio und dergl. als rechtlich anerkanntes und geregeltes Sonderverhältnis. Ich entwickle nun kurz eine nicht allzu lebensfremde, hypothetische Dogmatik dieses Geschäftes. Es ist ganz streng ein zweiseitiges Schuldverhältnis. Keine dritte Partei ist an dem vertraglichen Nexus beteiligt, noch kann sie beteiligt werden. Ein Scheck ist deswegen allein auf das Kontokorrentgeschäft zu beziehen, verleiht dem Inhaber also unmöglich Rechte, sondern höchstens die Möglichkeit, als Vertreter des Ausstellers die Bank durch Zahlungsempfang zu entlasten. Demzufolge ist auch eine Zession eines Schecks unmöglich. Allerdings wird zwecks Aufrechnung zwischen den Banken das InkassoDepositum eines Schecks wenn auch zögernd und ungern als zulässig und teilweise rechtswirksam anerkannt, wobei aber dann sämtliche Rechte aus dem Depositum das Personalkontokorrentverhältnis des Deponenten mit seiner Bank betreffen und durch etwaige Kautelarklauseln mitgeregelt werden; doch ohne ein "Eigentum" am Scheck etwa als Forderungstitel oder eine Zession desselben zu bewirken3 • Eine Überweisung von Geld durch eine Bank ist aber in unserer fiktiven Dogmatik ein ganz andersgearteter Geschäftstyp. Sie ist ihrer Natur nach ein Geschäft, an dem nicht zwei, sondern mehrere Parteien beteiligt sind. Typisch (und dahingehend wird auch der Typ normiert) I Wie vorhin angedeutet, habe ich nicht die Neigung, über mein heimisches Recht besonders zu schimpfen. Es gibt genügend Beispiele für eine ungemein gesunde Rechtsentwicklung mit Hilfe der Präjudizientechnik. Und ein so weit gefaßter Begriff wie "Willensakt" trägt in sich neben seinen Vorzügen m. E. auch Gefahren, welche die Vorzüge aufheben können. Darum handelt es sich jedoch nicht an dieser Stelle. S Ich habe hier nur versucht, eine etwas primitive, steife Denkart an die Wahrnehmung der gegebenen Notwendigkeit anzupassen. Unbewußt oder zufällig ist aber ein Bild dabei herausgekommen, das dem früheren französischen Scheckrecht merkwürdig ähnelt.
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bringt der Bankkunde Geld zur Bank zwecks überweisung. Bei übergabe dieses Geldes an die Bank wird die Zustimmung des Begünstigten vorausgesetzt, entsteht auch in ihm ein unmittelbarer Anspruch, welchen Bank und Deponent dementsprechend fortan ohne seine Zustimmung nicht aufzuheben vermögen. Dieser Anspruch kann dadurch zediert werden, daß die förmliche Benachrichtigung, die von der Bank an ihn geschickt wird, indossiert und übergeben wird. Die Ansicht, daß ein dingliches Recht an dem spezifisch deponierten Gelde bestehe, ist allerdings in unserer fiktiven Dogmatik bestritten. Werfen wir nun die Frage der Kabelüberweisung auf, die vorhin erwähnt wurde, und setzen den Fall, daß sie jetzt im Auftrage eines Kontokorrentkunden und nicht gegen Barzahlung, sondern zu Lasten seines Kontos vorgenommen werden soll. Hier kann nun nicht die Frage aufgeworfen werden, ob diese überweisung als Kauf oder als Lieferungsvertrag oder als Vertrag im allgemeinen oder als Auftragsgeschäft zu konstruieren ist. Es bleibt nur eine Wahl. Der Jurist muß sich damit beschäftigen, ob hier ein Kontokorrentgeschäft vorliegt, weil das Geschäft zu Lasten des Kontos geschieht, oder ob eine überweisung von Geld vorliegt, weil eben eine überweisung vorgenommen werden soll. Davon wird abhängen, ob der Begünstigte vor Empfang zessionsberechtigt ist; das ist auch die Vorfrage für die Untersuchung, ob bei Nichtvollzug des Geschäftes der "Auftraggeber" etwa ein Aussonderungsrecht bezüglich des "deponierten" Geldes hat, ob bei Nichtausführung des Geschäftes die Bank oder der Deponent das Kursrisiko trägt, ob die Kontokorrentklauseln den Begünstigten binden und dergl. Wichtig ist hier nur die Einsicht, wie der vorgegebene Begriffsbestand die Behandlung einer völlig neuen Frage in eine bestimmte Problemdefinition hineinzwingt. Nur aus den gegebenen Begriffen heraus kann man an eine solche Frage herantreten. Ein unbeholfener Richter wird sogar entscheiden können: überweisung ist dem Kontokorrent wesensfremd, Bareinzahlung ist für die überweisung begriffswesentlich - deshalb kann unser Geschäft überhaupt nicht rechtsgültig sein. Dergleichen hat es gegeben4 • Vielleicht ist mein Fall zu lebensfremd, um zu überzeugen. Ich wähle also einen zweiten, noch lebensfremderen: ich setze jetzt sämtliche Institute des deutschen Rechts voraus mit einer Ausnahme. Diese Ausnahme entleihen wir der Kultur der Eskimos. Es herrscht (nehmen wir nunmehr an) hier wie dort der Brauch, ein Satz von Recht und Sittlichkeit dahingehend, daß derjenige, welcher hungert und nichts hat, Nahrungsmittel von jedem beanspruchen kann, der solche besitzt und im Augenblick nicht hungert. Der Fall ist nun dieser: Ich hungere und , Vgl. Klaus: Sale, Agency, and Price Maintenance, 28 Columbia Law Review 312, 441.
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habe nichts. Du hungerst nicht und hast etwas. Ich verlange von Dir Brot. Du verweigerst mir das Brot, es sei denn, daß ich Dir 30 Pfennig zahle. Im wirklich herrschenden Rechtszustand ist das ein "Angebot zum Kauf" und ein rein privatrechtliches Geschäft. Wenn ich trotzdem das Brot an mich nehme, ohne zu zahlen, dann handelt es sich um eine Verletzung des öffentlichen Rechts und der öffentlichen Sittlichkeit; es ist die Rede von "Mundraub". In unserem angenommenen Falle jedoch wäre Deine Weigerung und Dein Angebot die Verletzung des öffentlichen Rechts und der öffentlichen Sittlichkeit; von Kauf könnte überhaupt nicht die Rede sein. Wenn ich das Brot dann an mich nehmen würde, wäre das die Ausübung des jedem Mitglied der Öffentlichkeit als Privatmann zustehenden Rechts auf den Verbrauch von Nahrungsmitteln. Nicht nur die Art, wie der Fall konstruiert wird, sondern auch die Einzelheiten des Sachverhaltes, die ins Auge springen, sind grundverschieden. Im heutigen Recht ist hier eigentlich nichts von Belang, bevor ich das Brot nehme. Bis dahin ist alles selbstverständlich. Beim hypothetischen Rechtszustand ist das rechtlich allein Interessante, daß Du es mir verweigert hast. Darauf spitzt sich alles zu. Das kann strafrechtlich wichtig sein. Das An-mich-nehmen ist anerkannte Notwehr gegen unmittelbar drohende Rechtsverletzung. Im übrigen werden die weiteren juristischen Ausführungen merkwürdig ähnlich ausfallen. "Eine Verletzung der öffentlichen Sittlichkeit und des positiven Rechts; eine Gefährdung des Landfriedens und des Gemeinwohls; vielleicht ein Härtefall (hier: gegen den Hungernden; dort: gegen den Brotbesitzer), doch sei das Recht von der Moral verschieden und müsse es auch sein; allerdings könne man vielleicht mildernde Umstände erblicken, aber der Versuch des Verteidigers, eine juristisch unerhörte Konstruktion zu vertreten (hier: Diebstahl allein aus Not sei kein Diebstahl; dort: der beschränkte Begriff "Kauf" sei auf benötigte Lebensmittel auszudehnen) sei gemeingefährlich und zu verwerfen". Nur mit den gegebenen Begriffen, wiederhole ich, kann man denken, urteilen, überhaupt einen Sachverhalt sehen und erfassen. Der Begriff gestaltet die Tatsachen. Diese drückt man in x oder u, in Mundraub oder Nahrungsmittelverweigerung aus - und gliedert sie, deutet sie, sieht sie dementsprechend. Selbstverständlich soll hier die Gegentendenz nicht verleugnet werden, welcher wir zumeist die Fortentwicklung des Rechts durch Richterrecht verdanken, nämlich das erdnahe Gefühl des Richters für die Herausbildung neuer Handlen und für die Bedürfnisse der Sachlage. Fehlt dieses Gefühl oder ist es zeitweilig eingeschläfert, so herrscht der oben geschilderte Zustand uneingeschränkt wie in Jherings Begriffshimmel. Kommt das Gefühl nur leise und schüchtern zum Tragen, so kann es überschrien werden durch die von den Begriffen heraufbeschworene Problemdefinition. Tritt es aber (wie Gottlob oft und
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wiederholt)' stark in Erscheinung, so übt es, mindestens für den vorlie~ genden Fall, auf die Problemdefinition einen fast unwiderstehlichen Druck aus und führt allmählich zu Neuerungen in den Begriffen selbst. Ob diese auf Schleichwegen erzielt sind (die krasseren Fiktionen, die Neuinterpretation des Tatbestandes, so daß dieser nicht mehr ist, was er war) oder offen (das Distingieren, den offenen, bewußten Umbau oder die Neuschöpfung eines Instituts), liegt hier nicht zur Untersuchung vor; auch nicht die späteren Wirkungen dieser sehr verschiedenen Vorgehensweisen. Hier interessiert nur, daß trotz der unentrinnbaren Tendenz, neue Probleme durch die Brille alter Begriffe zu begreifen, das werdende Leben, die werdenden oder neu gewordenen Handlen und Gruppennormen immer wieder ins Richterempfinden hineinbrechen, daß also der Begriffsbestand im günstigsten Falle die Neuerkenntnis begrenzt, lenkt, größtenteils gestaltet, aber doch nicht voll bestimmt. Wäre dieses nicht der Fall, so könnte der Mensch überhaupt nichts Neues hinzulernen. Bestände hingegen nicht die Begriffsbrille, so könnte der Mensch überhaupt keine Kenntnisse sammeln. Nichts ist im Leben oder im Rechtsleben schwieriger als die Problemdefinition. Wer das im großen sehen will, kann über die deutsche Osthilfe nachsinnen oder über die neueren amerikanischen Versuche, die Landwirtschaft zu unterstützen. Wer es im kleinen sehen will, braucht nur an jene Angelegenheit von vorgestern zurückzudenken, in der ihm die eigentliche Lage zu spät aufdämmerte und er entsprechend ganz vorbeigehauen hat. Selbst wenn das Vorhandensein eines Problems von Bewanderten scharf erkannt wird, geht doch die Erkenntnis seiner Gestalt durchweg innerhalb der gegebenen Begriffe und entsprechend der Spannung zwischen diesen Begriffen vor siche - d. h. rational gesehen ist eine zweckmäßige Klärung des Problems nur dann leicht oder schnell zu erwarten, wenn der gegebene Begriffsbestand dem Problem schon im vorhinein einigermaßen gewachsen ist. Jener schwer greifbare, dynamische Zustand, den ich mit "Spannung" zwischen Gebilden habe andeuten wollen, bestimmt natürlich zum größten Teil auch die ungefähren Grenzen von Teilkomplexen, welche der Beteiligte oder der Beobachter jeweils als eine Einheit mit Teilen oder als eine Einheit in Konstellation mit verschiedenen anderen Einheiten auffaßt. Zu betonen ist wieder, daß je nach Maßstabsgröße der Betrachtung die gewählte Einheit ein verschiedenes Maß von UngleichG Als Studien, die zeigen, daß trotz unpassender, begrüfsbedingter Problemdefinition das richtige Gefühl vorhanden ist, vgl. Corbin: Contract for the Benefit of Third Persons, 4:6 L. D. Review (1930), 12; Note, 31 Columbia Law Review (1931) 117; Havighurst: Services in the Horne, 42 Yale Law Journal (1932) 386. I Immer natürlich unter Vorbehalt des 1000. Falles, wo Geniales durchbricht.
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heiten und Unzuträglichkeiten in ihren Teilen zu bewältigen haben wird (Gesellschaft - politische Partei - Stamm - Dorf). Man kommt dabei auch um das philosophisch angehauchte Problem nicht herum, ob der Teil das Ganze voraussetzt, ob also die Teile sich aus dem Ganzen herausgliedern oder ob das Ganze sich umgekehrt aus den Teilen entwickelt und zusammenschließt. Dabei sind aber logischer und soziologischer Vorgang, wie immer, scharf zu unterscheiden. Logisch kann man gern zugeben, daß ein Teil ohne das zugehörige Ganze nicht denkbar ist7. Das will aber lange nicht sagen, daß ein Etwas, das als Teil gedacht wird, nicht tatsächlich bestehen kann, ohne daß das gedachte Ganze bis dahin im Leben wahrzunehmen wäre. Mithin kann trotz aller Logik der soziologische Vorgang eine Zeitfolge darstellen, in der aus vorläufig "unabhängigen" Teilen sich nachher ein Ganzes zusammenbaut oder entwickelt. In unserem Beispiel der Ehe scheint das Umgekehrte zu gelten. Soweit wir sehen können, spezialisieren sich die verschiedenen Aufgaben der mittelalterlichen Ehe allmählich in der Neuzeit aus der gegebenen Ganzheit heraus, und neue, den Teilaufgaben angepaßte Institute (z. B. Schule) treten als Anzeichen und Werkzeuge der Lockerung in Erscheinung. Das Ganze geht dort historisch den Teilen voran. Hinsichtlich des modernen Staates (ich rede nicht von einem Hegeischen Staatsbegriff, sondern von den historischen Gebilden, die jeweils diesen Namen getragen haben) scheint mir der Verlauf vielmehr der eines Aus- und Aufbaues zu sein. "Teile" sind oft unabhängig vorhanden und werden erst später zusammengefügt. In Westeuropa beginnt der Vorgang mit einer Führungsposition im Krieg, von der aus eine Vorherrschaft auch im Frieden erobert wird, um mit der Entwicklung des Landfriedens, der Grenzerweiterung, der Verwaltungskonzentration und des modernen Verkehrs- und Industrielebens fortwährend neue Wirkungskreise zu entdecken und sich einzuverleiben. Beispiele sind hier überflüssig. Erwähnen kann man im Vorbeigehen die Regelung der Ehe, des Unterrichtswesens, der Arbeitsbedingungen, der Hygiene. Ich folgere daraus, daß im sozialen und im Rechts., leben in dieser Hinsicht ein einheitlicher Entwicklungsweg nicht beschritten wird. Vertrag, erst recht Rechtsgeschäft, beginnt z. B. nicht als ein Ganzes, aus dem sich Teile (mutuum, locatio-conductio usw.) herausspezialisierten, sondern es finden sich die Teile einer nach dem anderen ein, um erst viel später der Systematik die Schöpfung des umfassenden Begriffs zu ermöglichen. Demgegenüber scheint mir klar, daß mehrere 7 Die Logiker lieben es, diesen Gedanken etwas anders auszudrücken, nämlich: daß der Teil das Ganze voraussetzt und demnach das Ganze gewissermaßen einen logischen Vorrang haben muß. Hierfür geht mir das Verständnis ab. Mir scheint vielmehr, daß die beiden Begriffe: Ganzes und Teil sich in diesem Zusammenhang gegenseitig voraussetzen. Darauf kommt es aber hier nicht an.
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Rechtsinstitute (wenn auch manche von ihnen ein Vorstadium der konkreten Entwicklung und des Zusammenschlusses durchliefen)8 eine solche Ausgliederung von Teilgebieten vorzunehmen haben. Ich denke z. B. an die Vertretung und an ihre vielförmigen Unterarten (Auftrag, Vollmacht, Kommissionsgeschäft; Nachlaßverwalter, Aufsichtsrat, Treuhänder und dergl.). Daß nun eine Entwicklung die eine oder die andere von diesen Bahnen einschlagen kann, will jedoch nicht heißen, daß sie die eine oder die andere einschlagen muß. Ein Institut oder ein Begriff kann einfach absterben. Er kann sich auch - und dieses ist im Recht und besonders im Trecht eine häufige Erscheinung - eine geraume Zeit hindurch einfach entfalten. In der Rechtsgeschichte ist wie bei der Geschichtsdialektik eine Neuentwicklung oder ein Wechsel oft nur dann wahrzunehmen, wenn man die Zeitspanne so groß wählt, daß sie für das Recht eines Jahrzehnts oder gar Jahrhunderts nichts zu bedeuten hat. Hinzu kommt noch eine Erscheinung, die besonders an die Entwicklung eines Embryo erinnert. Im Recht und Trecht kann man wie beim Fötus Schwerpunkte der Entwicklung wahrnehmen, auf die sich anscheinend der größte Teil der zur Verfügung stehenden Kräfte konzentriert. Der Rest steht währenddessen nicht still. Im Vergleich zu den Entwicklungsschwerpunkten jedoch vegetiert er. Vor allem entwickelt sich im Recht der Rest nur langsam nach den vorgegebenen Richtlinien. Wenn im Rechtsleben bei einer solchen "Entwicklungsknospe" das Treiben nachläßt, ist dort das Recht im allgemeinen entweder dem gesellschaftlichen Leben bereits angepaßt oder diesem gar zeitweilig vorauso• Dann setzt auf einmal die Entwicklung irgendwo anders ein. Ich will damit natürlich dem Recht nicht etwa einen organischen Charakter zuschreiben. Der Vorgang erklärt sich leichter. In den "freien" Spielraum der Gesellschaft wird je nach der Sachlage hier oder dort eingegriffen. Wo Vorstöße gemacht werden, da entstehen auch Konflikte. Wo 8 Im anglo-amerikanischen Recht scheint mir klar zu sein, daß steward, servant und factor dem Agency-Begriff vorausgingen. Wie auch agency dereinst nur einen Teil eines noch zu systematisierenden Großinstituts der representation darstellen wird. Mittlerweile setzt ein Herausspezialisieren aus der agency ein. Ähnlich beim contract. • Beispiele sind der Kreditbrief in Amerika zwischen 1920 und 1931 (H. Finke1stein: Legal Aspects of Commercial Letters of Credit), der Cif-Vertrag in England zwischen 1912 und 1930 (Kennedy: C. I. F. Contracts, 2nd ed.). Beispiele für eine noch treibende Knospe: Gewährleistung und Fahrlässigkeitserweiterung bei Konsumentenschäden in den Vereinigten Staaten (Llewellyn: Cases and Materials on Sales, S. 340 - 391); das Recht des Aufsichtsrats in Deutschland und in den Vereinigten Staaten (vgl. die Schriften von A. Berle, besonders Corporate Powers as Powers in Trust, 44 Harvard Law Review 1049). Ich wäre geneigt, das deutsche Recht des Tarifvertrags in der ersten Gattung unterzubringen. Das Steuerrecht hingegen ist wohl überall noch in heißer Entwicklung. Man vergleiche demgegenüber das Ehegüterrecht (bis zum neuen deutschen Gesetzentwurf) und das Scheidungsrecht (außer in England) während der letzten 30 Jahre.
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Konflikte entstehen, kommt es zu neuartigen Rechtsstreiten. Wo neuartige Rechtsstreite sich häufen, entwickeln sich Recht und Trecht. Was aber einmal einigermaßen erträglich geregelt worden ist, bietet eine Grundlage zur Weiterarbeit und beschäftigt die Gerichte bzw. den Gesetzgeber nicht mehr in demselben Maße. Zum Glück: denn wenn man die unglaubliche Beschränktheit der menschlichen Erfindungskraft in Erwägung zieht, dazu die besonders ausgeprägte Traditionsgebundenheit der Trechtler, so kann man es sich gar nicht vorstellen, daß eine einigermaßen zweckmäßige Neuregelung zustandekäme, wenn nicht schon der Gang der Sache das verfügbare Erfindungspotential brennglasartig bald hier, bald dort konzentrieren würde. Dazu ein Zweites: nur wo der Gang der Sache schnell und heftig mit den alten Begriffen kollidiert, ist die Mö.glichkeit gegeben, daß nicht nur bei dem einen oder anderen Juristen, sondern bei einem großen Teil des Juristenstandes das Gefühl für neue Bedürfnisse durchbricht und die Molekularanpassungen zusammenlaufen, sich verstärken, gemeinsam ein neues Flußbett graben10 • Dieses Bersten der alten Begriffe im Rechtsleben oder im anderwei-. tigen sozialen Leben drängt erneut die Frage in den Vordergrund: wie verhält sich die werdende Ganzheit zum werdenden Molekül? Dieselbe Frage ergibt sich aus dem Problem Ganzheit und Teil. Bisher hatten wir das Handlengefüge und das ihm entstammende Normen- und Begriffsgefüge als etwas vorausgesetzt, das als bereits daseiend wahrgenommen werden mußte. Wir fragten nur nach der Auswirkung solcher gegebenen Ganzheiten. Neben der Auswirkung steht aber das Entstehen. Neben dem Gefüge und den Spannungen zwischen den Gefügen steht die einzelne Handle - so wie neben dieser die Gewohnheit des einzelnen oder die einzelne Handlung steht. Wir müssen nunmehr auch das In- und Durcheinander zu begreifen suchen. 10 Ich rede nicht allein von der von Ehrlich und M. Weber zutreffend unterstrichenen Kautelarjurisprudenz, und zwar aus zwei Gründen. Erstens bewirkt gerade die Kautelarjurisprudenz mehr als irgendein anderer Zweig der Jurisprudenz auch in den ruhigsten Zeiten einen Ausbau und Neubau. Man muß dem Klienten dienen. Die bestehenden Rechtseinrichtungen haben also den Zweck, dem Klienten dienstbar gemacht zu werden. Dies geschieht. Diese und jene Klausel, diese und jene Neuerung werden erdacht. Und häufen sich. Denn gerade die Kautelarjurisprudenz bewirkt in ihren Formularen fast automatisch eine Häufung. Anderswo verlaufen Variationen fast unvermerkt und oft ohne Kumulation. Hier nicht. Konzentriert sich die Aufmerksamkeit des Standes auf irgendein Gebiet, so wird die Zahl der Variationen vermehrt und der individuelle Hamstervorgang infolge des Interesses an der Verbreitung entsprechender Kenntnisse in einen gemeinsamen überführt. Der zweite Grund, nicht bei der Kautelarjurisprudenz zu bleiben, ist, daß gerade sie (weil sie sich für den Historiker in Dokumenten niederschlägt) auf Kosten anderer Vorgänge überbetont worden ist. Ich möchte also hier ganz besonders die Häufung von Rechtsstreiten, die Konzentration von wissenschaftlicher Aufmerksamkeit (Haftung ohne Schuld, Arbeitsrecht, Steuerrecht) und von Verwaltungsmaßregeln betonen.
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Vorausschicken möchte ich eine methodologische KlarsteIlung. Ich rede von Handlen, ich rede von Molekülen. Ich rede also von kleinen Handlungsabschnitten, die so klein .gewählt werden können, daß sie in der Geschichte als vertretbar auftreten können, daß wir jedenfalls innerhalb weiterer Grenzen die Handlungen und Handlungsweisen verschiedener Menschen als vertretbar ansehen dürfen. Was oben über den Streifencharakter eines derartigen Begriffs zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Orte gesagt wurde, gilt natürlich in gesteigertem Maße für eine Begriffsbildung, die sich örtlich oder zeitlich verallgemeinern möchte. "Rechts abbiegen, links überholen" kann man als eine Handle oder als zwei Handlen ansehen. "Auf bestimmter Seite überholen" droht aber bereits inhaltsleer zu werden - für einige Zwecke jedenfalls, für andere nicht (juristisch käme es mehr auf die verkehrte Seite an als auf die linke oder rechte - und das in jedem Lande). Aus der Relativität und Zweckbedingtheit des Handlenbegriffs folgt dann selbstverständlich, daß ich eine allgemeingültige Formenlehre im Sinne der Formalsoziologen (z. B. L. v. Wiese) keineswegs erstrebe. Ich will die jeweiligen Handlungs- oder Handlenmoleküle nicht untersuchen, weil sie Allgemeingültigkeit haben sollen, sondern nur weil und soweit sie den betreffenden Zustand und Vorgang verdeutlichen. Sollte sich dabei eine brauchbare Verallgemeinerung ergeben, die gleichzeitig ein Stück der englischen Rechtsgeschichte, der sowjetrussischen und der ägyptischen aus der Ptolomäerzeit erfaßt oder (bescheidener) in allen diesen gewisse Sachfolgen zeitigt, die für eine gegebene Problemstellung Ähnlichkeit haben, so wäre allerdings eine solche Wahrnehmung freudig zu begrüßen. Und einiges (z. B. das Verhältnis zwischen Handlen und dumpfen Normen) ist hier vorgetragen worden, das mir fast eine wirkliche Allgemeingültigkeit zu haben scheint. Auf eine solche kommt es aber nicht in erster Linie an. Es genügt mir, wenn ich die jetzige Lage hier und dort klären kann. Dazu sollen die hier aufgestellten Begriffe dienen. Weiteres ist dann nur Nebenerzeugnis, nicht Wesensart der Begriffe. über die Handle insbesondere ist noch ein Zweites zu sagen: sie soll klein sein, winzig, molekülhaft. Hutlüften beim Gruß, Siezen, Lesenkönnen. Der Vertragsschluß ist schon offensichtlich ein Gefüge. Sobald Ungleichartiges zusammentrifft (sobald z. B. ein geduztes Kind mit Siezen antwortet) ist schon ein kleines oder größeres Gefüge von Handlen gegeben. Noch wesentlicher ist wohl ein anderes. Mir schwebt keinesfalls vor, man könnte allein aus diesen Handlen als Elementen die Großgesellschaft konstruieren. Auch den Biologen ist es bis jetzt nicht gelungen, aus Zellen Menschen aufzubauen. Wie aber der Biologe und der Medi12 Llewellyn
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ziner den Menschen als Ganzes, das gesamte Organ im Verhältnis zum Menschen und auch die Einzelteile im Verhältnis zum Organ oder zum ganzen Menschen studiert, ähnlich möchte ich die Gesamtgesellschaft, die kleineren gesellschaftlichen Ganzheiten und die zellenähnlichen Handlen studieren sowie deren Beziehungen zueinander und deren mögliche Sondergesetzlichkeiten untersuchen. Man darf über den Handlen nicht die Ganzheiten vergessen, ebensowenig wie die Ganzheiten über den Handlen. Man muß beides wahrnehmen, als Stoff, der ebensoweit ich sehe - vorläufig wahrnehmbar ist; genauer: als eine brauchbare Art, den gegebenen Rohstoff zu handhaben. Eine solche "Wahrnehmung" muß selbstverständlich schon bestehenden Verhältnissen oder Beziehungen Rechnung tragen. Denn klar ist, daß jedes Großgefüge wie jedes Kleingefüge gesellschaftlichen Verhaltens zum großen Teil aus Handlen zusammengesetzt ist; daß diese einzelnen Handlen auch gesonderter Betrachtung fähig sind; daß sie sich sogar oft erheblich verändern können, ohne daß das jeweilige Gefüge merklich verändert wird. Teilweise sind also die zusammengefügten Handlen nicht oder wenig gliedhaft in ihr Gefüge (oder in ihre jeweiligen Gefüge: in wieviel Gefügen spielt z. B. "Kaufen" eine Rolle!) eingeordnet. Teilweise sind aber bestimmte Handlen für die Ganzheit wesentlich (so das gemeinsame Wohnen für die Ehe). Je nach der betreffenden Ganzheit lassen sich also die unmittelbar oder mittelbar in Frage kommenden Handlen oder Teilgefüge als mehr oder weniger für die Ganzheit wesentlich und von der Ganzheit geprägt ansehen. Somit ist "Handle" ebensowenig eine vollauf vertretbare Einheit wie es das Atom in der Chemie ist. Die Schichtung der Handlen kann ebenso wichtig sein wie ihre Art. Dieses versuchen wir hier nicht zu erklären. Wir stellen es nur fest. Kaum hat man dieses ausgesprochen, so ergibt sich für das vielförmige Spannungsverhältnis zwischen Handle und Ganzheit eine entsprechende Erkenntnis: einige Handlen werden in ihrem Wirken und Wandel äußerst stark, andere äußerst schwach von der Gestalt einer gegebenen Ganzheit bedingt oder (schon viel schwerer zu fassen) beeinflußt und umgekehrt. Ein bestimmter Wandel in den Handlen wird in einem Falle die betreffende Ganzheit umstülpen, wird im anderen Falle sich fast unbemerkt an ihr vorbeientwickeln. In jeder Kultur gibt es auch "Kulturinseln", wie es auch herrschende Tendenzen eines Zeitalters gibt. An den Fransen gefestigter Gebilde gibt es Handlenspielraum, so wie es Handlungsspielraum für den Einzelmenschen gibt. Und trotzdem bleiben Gestaltung, Einstellung, Spannung, Atmosphäre und wirken trotzdem auf Handlenstetigkeit und Handlenwandel ein. Erscheint diese Darstellung unklar, verwischt, widerspruchsvoll, so kann ich nichts dafür. Bis heute ist unser Bild der Gesellschaft, es sei denn wir arbeiten mit wahrheitsungetreuen Schemen, eben wider-
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spruchsvoll, verworren, ohne scharfen Umriß. Trotz der Unschärfe scheint mir der hier vorgetragene Ansatz das Sehen und das Handhaben zu fördern. Und ich scheue dabei auch nicht vor der Erkenntnis zurück, daß man dem Stoff nicht mit einer einfachen Zweiheit gerecht wird. Mit Teil und Ganzheit, mit Glied und Totalität ist das Problem nicht erledigt. Denn jeder Teil ist selbst wieder ein Ganzes und zumeist Teil von 20 verschiedenen Ganzheiten. Wiederum steht man vor einem ewigen Rätsel: weder ein absolutes Sehen noch ein absolutes Sehschema steht uns zu Gebote. "Die Sicherheit ist zumeist nur illusion, und Ruhe ist des Menschen Schicksal nicht." Also heran an die Moleküle! Heran an die "eigengesetzlichen" kleinen Ganzheiten, die sich aus Handlenmolekülen, Normenteilchen, Begriffen bilden oder die solche Normenteilchen, Handlenmoleküle, Begriffe gestalten und prädestinieren - oder die beides zugleich tun. Heran an die Spannungen zwischen kleinen Ganzheiten, jene Spannungen, welche - soweit sie stetig sind - den Gedanken an große Ganzheiten überhaupt erst ermöglichen. Kurz: an die kleinen oder großen Handlen- (und Normen)konstellationen! Und sofort haben wir bei einer gegebenen Ganzheit oder einer Ganzheitskonstellation eine Gleichgewichtsspannung von einer Wechselspannung zu unterscheiden. Dabei haben wir jene zu erwarten, diese als ungewöhnlich zu betrachten. Die Sache liegt wieder wie beim bewußten Wechsel im Recht. Wessen man als Problem und Lösung gewahr wird, das überwuchert in der Aufmerksamkeit alles andere. Qualitativ ist es auch im Augenblick das Bedeutende. Quantitativ bleibt es trotzdem von fast minimaler Größe. Wo die Lage als Gleichgewicht zu betrachten ist, müssen wir wieder eine eigentliche Statik von einer leisen, sich innerhalb statischer Grenzen bewegenden Dynamik unterscheiden; d. h. die Entfaltung, bei der aus einer gegebenen Grundlage (mindestens aus einer gegebenen Einstellung)l1 die Konsequenzen gezogen werden, steht im Gegensatz zum Abschnüren. Letzteres baut nicht aus, schiebt vielmehr dem Ausbau 11 Ich möchte beileibe nicht den Anschein erwecken, als würde ich selbst in diesem Vorgange eine logisch haltbare Deduktion erblicken. Meine Beobachtung läuft vielmehr darauf hinaus, daß mit der wirklichen Deduktion aus autoritativen Rechtssätzen oder Belegen das, gerade das, und ausdrücklich nur das herauszuholen ist, was schon da war. Von einem Neues erzielenden Ausbau auf diesem Weg kann nicht die Rede sein. Um "auszubauen", muß man, bevor man die Folgerung zieht, den neuen Schluß schon im voraus in die alten Belege hineinverlegen. Dies mag juristisch praktisch sein. Deduktion aus dem Gegebenen ist es nicht. Nützlich ist allerdings eine fiktive Deduktion, denn auf diesem Wege kommen die gegebene Einstellung und Begriffsspannung zur Geltung und schaffen unvermerkt. Der Preis solchen unvermerkten Schaffens ist dann auch bekanntlich sehr hoch: indem man meist nur unbewußt schafft, versucht man oft bewußt, sein eigenes Schaffen abzudrosseln.
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einen Riegel vor. Beides kommt allerdings meist in demselben Zeitalter und auf demselben Rechtsgebiet zum Vorschein (im englischen Recht besonders zwischen 1800 und 1840, und zwar speziell in der Equity und im Recht der Liegenschaften; im amerikanischen Verfassungsrecht etwa zwischen 1895 und 1910 bezüglich des due process of law; im deutschen Zivilrecht etwa zwischen 1901 und 1910 im Gegensatz zu 1915 bis 1930). Wenn ein solches Gleichgewicht bei einem Institut oder einer Institutskonstellation längere Zeit anhält, ist man oft zu dem Schluß geneigt, daß das Institut mit den ihm obliegenden Aufgaben in Einklang steht. Oft wird das auch stimmen. Oft aber nicht. Denn zwei andere Möglichkeiten sind zu berücksichtigen, nämlich (1) daß das Institut nicht sonderlich in Anspruch genommen wird (verschiedene der deutschen Ehegüterstände; jene Unmasse der juristisch gehamsterten "Spital"normen, die nur selten faktisch in Frage kommen) oder (2) daß die Energie des Volkes, d. h. des betreffenden Volksteiles, sich anderweitig rentabler zu schaffen macht. Nie darf man betreffs des Rechtslebens vergessen, daß das jeweils für Trechtszwecke zur Verfügung stehende Quantum an Menschenenergie seine Grenzen hat. Damit will ich nicht behaupten, daß ein feststehendes Quantum in Frage käme. Man braucht nur an den Spitzenaufwand zu denken, welcher zu Zeiten übergroßer Unruhen auf einmal in Erscheinung treten kann (Verhängung und Aufhebung des Belagerungszustandes). Auf die Dauer geht das aber nicht. Sonst stockt das übrige Leben. Es bleibt also dabei, daß ein begrenztes und meist nicht allzu hoch gesetztes Energiequantum zur Verfügung steht. Es bleibt dabei, daß man viel rechtliche Unbill lange erdulden kann und wird, wenn anderes Recht noch drückender und unbilliger erscheint1 2 oder wenn man sonst zu tun hat, oder wenn man am eigenen Leibe nicht spürt, wie Wohltat Plage wurde. Bei solchen Zuständen ist das Gleichgewicht - wielange es auch anhält - trügerisch. Auch kann ein Gleichgewicht selbst unter derartigen Umständen nicht kurzerhand als labil bezeichnet werden - mindestens soweit kurze Zeitspannen in Frage kommen. Denn für das jeweils bestehende Recht und Trecht auf irgendeinem Rechtsgebiet setzt sich die ganze Macht der Trägheit ein - der Tradition, der erworbenen Rechte, des Nichtbescheidwissens, des Nichtgestörtwerdenwollens. Man denke nur an das Schicksal der Bestrebungen, etwa das Wechselrecht international zu vereinheitlichen. Reform kann zwar von innen kommen, d. h. aus der ästhetisch orientierten oder Kleinreform erstrebenden Tätigkeit I! Nur auf diese Weise kann ich z. B. den geradezu unglaublichen Zustand des Mobilienkaufrechts unseres größten Handelsstaates, New York, von etwa 1800 bis 1910 erklären. Sind die Zeiten gut, so lohnt es sich mehr, daß der einzelne seine Kräfte dem eigenen Geschäft zuwendet, obwohl ein trauriger Rechtszustand sich in den laufenden Kosten desselben niederschlägt. Denn schließlich trifft ungefähr dieselbe Last auch die Konkurrenz.
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der Rechtswissenschaftler. über die Jahrzehnte wird auch auf diesem Wege nach und nach unglaublich viel gewonnen. Hier wirkt sich der Molekularvorgang oft fast ohne den Trieb des Eigennutzes aus, sammelt sich an und schöpft. Aber größere Wandlungen, die sich in kürzerer Zeit vollziehen, werden doch im allgemeinen auf Anstoß und Druck von außen warten l3 oder auf den Kampf im Inneren. Ein Trägheitsmoment, das gleichzeitig ein bedeutendes Moment des Wandels ist, muß nun zur Sprache kommen. Es betrifft das Verhältnis nicht zwischen Kulturganzheit und Kulturmolekül, sondern zwischen Einrichtung und Stab. Wir haben schon gesehen, daß der Mensch seine eigenen Kleinprobleme im Rahmen der gesellschaftlichen Ganzheiten zu lösen hat. Für ihn sind die Handlen-, Gruppen-, Begriffs- und Normenganzheiten (1) die Bedingungen, die sein Leben bestimmen; (2) die Beschaffenheit der Umwelt, die sein Denken bestimmt; (3) aber auch, und hier liegt im Augenblick das Wichtigste, die Werkzeuge, die er in der Verfolgung seiner persönlichen Ziele heranziehen kann fast die einzigen Werkzeuge, die zur Verfügung stehen. Nirgends erscheint das menschliche Gehirn gespaltener als in seiner Einstellung gegenüber den geheiligten Einrichtungen der Kultur. Auf der einen Seite sind diese unantastbar und richtig, von einer Art selbstverständlicher Heiligkeit. Auf der anderen Seite sind sie in jeder möglichen Weise zu des einzelnen eigenen Zwecken zu beugen. Man ist sich nicht im geringsten der Zweideutigkeit dieser Einstellung bewußt. Ein herrliches Beispiel kann man der Ethnologie entnehmen: bei den Sarawak auf den ostindischen Inseln werden Rechtsstreite (anscheinend nach Vereinbarung der Beteiligten) durch ein öffentliches Wettauchen im Wege des Gottesurteils entschieden. Eine Art Joch wird auf dem Meeresgrund befestigt, unter das die Beteiligten den Kopf legen. Ein Freund hält jedem die Beine, um festzustellen, ob und wann er besinnungslos wird. Wer zuerst hochkommt oder besinnungslos wird, verliert - hat unrecht. Das Interessante kommt aber, wenn beide zugleich besinnungslos werden. Dann werden sie aus dem Wasser herausgeholt. Wer zuerst das Bewußtsein wiedererlangt, ist dann der Sieger. Um ihrem Manne zu solchem Sieg zu verhelfen, wird er von seinen Freunden fast zu Tode geröstet14 • Das Wichtige ist nun, daß diese völlig zweckbewußten Eingriffe ersichtlich nichts an der Überzeugung von der Richtigkeit ändern. Die Einrichtungen bestehen eben. Innerhalb ihrer verfolgt man seine eigenen Zwecke. Wer aber in Versuchung 13 Eine teilweise Ausnahme bietet die Ausarbeitung oder Umarbeitung eines Codex, besonders wenn diese vom Juristenstand angeregt wird. Und wenn der Stand auch nicht die Anregung gegeben hat, so trägt er doch während der Ausarbeitung mächtig zur Neugestaltung bei. 14 Sumner / Keller: Science of Society, Bd. 1, S. 681.
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käme, über derartig "inkonsequente" Primitivität von oben herab zu lächeln, der braucht nur an das moderne Geschworenengericht (oder das Gericht überhaupt) zu denken, das doch im allgemeinen als nützliche, teilweise geradezu heilige Einrichtung gilt, dessen Urteil man jedenfalls (wenn auch in politisch angehauchten Fällen mit Stöhnen oder vorübergehendem Gebrüll) als streiterledigend betrachtet, und von dem man trotzdem sehr gut weiß, daß es Sache des Anwalts ist, mit allen zur Verfügung stehenden, eben noch erlaubten Mitteln auf die Entscheidung zugunsten des Klienten zweckbewußt (gar sachentsteIlend?) einzuwirken. Dies gilt für jeden Menschen im Hinblick auf die ihn umgebenden Einrichtungen überhaupt, gilt im besonderen Maße und in besonderer Weise aber für den spezialisierten Stab, welcher hauptsächlich einen bestimmten Einrichtungskomplex "trägt" oder ihm dient. Der Stabsmensch ist selten allein von sozialem Verantwortungsgefühl beseelt. "Der König ist der erste Diener seines Volkes"; "der Pfarrer ist der Hirte seiner Schafe". Oft, und zum Segen, empfindet er dieses auch. Doch ist das Amt des Stabsmenschen (Polizist, Ladenangestellter, Schaffner, Anwalt) ihm nicht nur eine Dienstgelegenheit und Dienstverpflichtung, es ist ihm auch die Möglichkeit einer Karriere, eine Machtstellung, eine Stütze für ihn als Amtsmann. Wenn die Einrichtung so beschaffen ist, daß Eigennutz des Stäblers und Erfüllung der gesellschaftlichen Aufgabe sich Punkt für Punkt decken (die Utopie der laissez-faire Wirtschaftstheoretiker), oder wenn das Personal zu einer fast unmenschlichen Selbstlosigkeit erzogen worden ist (etwa die religiösen Orden während der Zeit ihrer Gründung), dann merkt man eine Zeitlang nichts von diesem Zwiespalt. Selten hält sich dieser Zustand lange15 • Denn es scheint dem Wesen des Menschen zu entsprechen, daß das erwartete Gute aus seiner Stellung ihm allmählich selbstverständlich und als "sein Recht" erscheint. Daß aber der von ihm erwartete Dienst, sofern dieser den eigenen Neigungen nicht entspricht, nach und nach lästig wird16• Es droht also fortwährend die Neigung aufzukommen, das Angenehme zu beanspruchen, jedoch die lästige Gegenleistung zu verweigern17 • Daß diese Verweigerung der Gegenleistung 15 Vgl. das fortwährende Unabhängigkeitsstreben der obersten Vasallen im Lehnstaat oder die Einführung des Zölibats für den Klerus der katholischen Kirche als äußere institutionelle Maßnahme, um den Zwiespalt zu mindern. 18 Somit zeigt sich ein starker dynamischer Faktor selbst in einer Gesellschaft, die auf Erwartungen basiert. Daß die "Erziehung" so oft und lange diese Dynamik unterdrücken kann, legt weiteres Zeugnis für ihre Macht ab. 17 Das Gegenmittel des Idealismus wirkt zeitweilig mit eindrücklicher Macht, ist aber als Schwungrad im Alltag selten erfolgreich verwendet worden. Weit hoffnungsvoller ist die Schaffung einer Standes- oder Berufssittlichkeit. Diese ist verhältnismäßig belanglos, wenn sie vornehmlich aus Ideal-
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ein "Gesetz" wäre, kann ich nicht behaupten. Man betrachte nur den Fall eines Gegenseitigkeitsverhältnisses zwischen A und B. Wenn A sein Recht gegenüber B von seiner eigenen bisherigen Gegenverpflichtung befreit (wenn also der Vasall sein Lehen behält, die Treupflicht aber abschüttelt), so läuft das doch darauf hinaus, daß B seine Verpflichtung ohne den bisher diesbezüglichen Anspruch hat1 8 (der König ist sein Land los - und erhält nichts mehr als Gegenleistung). Es gibt also kein "Gesetz" der Pflichtverweigerung. Wohl aber darf man die Hypothese aufstellen, daß eine Tendenz, sich der lästigen Gegenpflicht zu entledigen, derart stark auftritt, daß man, sobald die Machtverhältnisse es erlauben, ihren Sieg zu befürchten, ja zu erwarten hat. Das zweite Moment, das mitspielt, ist der schon erwähnte Spielraum, welcher notwendigerweise den Stabsleuten als Technikern, als denen, "die es wissen", eingeräumt werden muß. Demzufolge ist bei jedem Stab ein Drang nach fortwährender Erweiterung seines Machtbereichs, nach Ausdehnung seines Wirkungsraumes zu erwarten, bzw. ein immer neu ansetzender Drang, die Einrichtungen zu persönlichem oder zu Gruppenvorteil zu beugen. Gegentendenzen, Sanierungsversuche von außen her, Konkurrenz anderer Einrichtungen, anderer Stäbe - solches bereitet dem Recht viele seiner heikelsten Probleme. Doppelt heikel, weil äußerlich die Beugung zu eigenen Zwekken des Stabes und die Neuanpassung an gesellschaftliche Aufgaben kaum auseinanderzuhalten sind. Beide gehen äußerlich dieselbe Bahn. Sehr oft wird auch die neue gesellschaftliche Aufgabe nur dumpf empfunden, der benötigte Anpassungsvorgang kann dem Beteiligten als an gebilden und Normen besteht. Effektiv wird sie erst durch den Ausbau und die übermittlung von Handlenkomplexen, so daß Normen und Ideale eine vertrauenswürdige physiologische Unterlage bekommen. Solche Handlenkomplexe brauchen aber eine Entwicklungszeit. Deswegen ist der im Text besprochene Vorgang vor allem ein Vorgang der Neubildung von Gruppenverhältnissen (besonders an der Wachstumsgrenze der heutigen Geschäftswelt). Ferner eine Erscheinung der "veralteten", "entarteten" Einrichtung, wo das Erziehungswesen hinter den Aufgaben zurückbleibt. Hier kann weiterhin bemerkt werden, daß gerade die Unumgänglichkeit der Handlenunterlage das größte Hindernis für die Entwicklung einer Ethik bedeutet, welche dem Ansturm neuer Verhältnisse gewachsen ist. Handlen sind eben konkret. Der moderne Erzieher muß sich der Frage stellen: welche beizubringenden konkreten Handlenkomplexe bergen eine leicht auszudehnende, leicht auf neue Verhältnisse anzupassende, eindeutige Normeneinstellung? Ich persönlich halte Fairness im Sport für eine der wichtigsten Grundlagen der Zukunft: konkret zu erkennen, eindeutig, unendlich ausdehnbar. 18 Ein bedrückendes Beispiel: unter der schottischen Sippenorganisation hatte der Sippenhäuptling zwar allen Grund und Boden der Sippe "inne", jedoch unter der gewohnheitsrechtlichen Pflicht, sämtlichen Sippenmitgliedern nach Bedarf die Nutznießung und Vieh zukommen zu lassen. Mit dem Einbruch des Rechts des Flachlandes verwandelte sich der Häuptling nach theoretisch-römischem Muster in einen unbeschränkten - und vertrieb vielfach seine Sippengenossen einfach vom Boden. Seine Pflicht, ihr Recht schwanden (Jeudwine: Foundations of Society and the Land, 1918, Kap. 36).
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die Pflichtwidrigkeit grenzend vorkommen. Er kann sein Beim-Altenbleiben-müssen sehr ernst nehmen. Sehr oft erfolgt hingegen unbewußt eine Selbsttäuschung über den persönlichen Nutzen bei einer als vollauf pflichtgemäß angesehenen Neuerung. Erst recht wird dies der Fall sein, wenn die selbstsüchtige Neuerung selbst auch gegenüber dem Neuerer erschlichen wird. Endlich kommt hinzu, daß die Einrichtung, wie sie jeweils besteht, trotz aller Unzulänglichkeiten doch in jedem, der ihrer Eigenart lange Jahre gefront hat, das Gefühl wohlerworbener Rechte von sich und seinen Stabsbrüdern hervorruft: So ist es gewesen, ich habe darauf gebaut, es ist mein Recht, daß die mir daraus entstandenen Vorteile erhalten bleiben. Und mit diesem Moment mischt sich untrennbar der Stolz des Technikers über die geschickte Handhabung auch der schwerfälligsten gesellschaftlichen Maschinerie19 • Als Ergebnis: selbst bei einer Einrichtung, welche sonst gegenüber der Gesamtgesellschaft im Gleichgewicht ist, besteht eine Entwicklungs- oder Beugetendenz unter dem Druck der Teilgruppe, welche die Einrichtung verwaltet. Nehmen wir nur den Fall der Beugung. Hier ist nichts stärker zu betonen, als daß etwas, was im Molekularvorgang eine normwidrige, nicht zu rechtfertigende Selbstanmaßung darstellt, doch im Verlauf der Geschichte ein soziales Wohl hervorbringen kann. Nicht: hervorbringen muß. Aber, ich betone wieder, hervorbringen kann. Man denke z. B. an die Erweiterung der Macht der Königsgerichte und der königlichen Verwaltung in England vom ersten Wilhelm bis etwa zum dritten Georg. Hier spielten wiederholt die Eigeninteressen des Königs mit, seine Willkür, zeitweqig eine grobe Ungerechtigkeit (die Freibriefüberprüfung unter Edward I. - Quo warranto), die Anwendung jedes Mittels, um die königliche Kasse aufzufüllen!o. Sondergerichtsbarkeiten, welche zu Recht bestanden und bei deren Unterdrückung das Haar der ordentlichen Zeitgenossen zu Berge gestanden haben muß, wurden nach und nach zugunsten der Königsgerichte und der könig18 Zum ersten Punkt: Offiziersstelle als Eigentum in England: Gerichtsnebenämter daselbst als Eigentum; geschlossene Zahl der Notare in Paris; der Innungsmeister in der mittelalterlichen deutschen Stadt. In einigen dieser Fälle kam es fast zur freien Veräußerlichkeit des Amtes durch den Inhaber; in einigen (Innungsmeisterschaft) mußte die Sache immer noch indirekt durch gegenseitige Unterstützung der Mitglieder der sich selbst ergänzenden Körperschaft gemacht werden - vgl. die Klagen der Gesellen darüber, daß nur der Meistersohn oder Schwiegersohn Meister werden konnte. Zum zweiten Punkt vgl. vor allem die Schwierigkeit der Prozeßreform in England, besonders im Jahre 1875, und in den amerikanischen Staaten, besonders New York, unter der ersten Reform-Zivilprozeßordnung. Diese Beispiele sind nicht atypisch, wenn auch grell. Heutige Seitenstücke bleiben aber auch nicht aus. 20 Zum letzten Punkt: Bolland: The General Eyre.
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lichen Gerichtsbarkeit aus dem Wege geräumt21 . Mittlerweile breitete sich ein eigentlicher Landfrieden aus, bereitete sich ein Landesrecht vor. Mittlerweile wurde auch aus der persönlichen Gerichtsbarkeit des Königs eine Gerichtsbarkeit des Königtums, des Staates, eine Gerichtsbarkeit, an der der König als Individuum, ja als König zunächst nur mittelbar (durch Absetzung und Ernennung von Richtern), endlich überhaupt nicht mehr rütteln konnte. Im Ergebnis waren also selbst die selbstsüchtigen der Könige die Diener der Zukunft. Obwohl man massenhaft in der Geschichte übergriffe vorfindet, die keinen solchen Segen gebaren, sehe ich hier doch guten Grund zum Optimismus, wenn man etwaige Mißstände unserer eigenen Zeit betrachtet22 . Solche allgemeinen Erscheinungen des Lebens bleiben selbstverständlich auch im modernen Rechtsleben nicht aus. Nur in einem Falle bedarf dies hier der Ausführung. Denn der Ausbautendenz bei Rechtseinrichtungen sind wir schon z. B. hinsichtlich des Kaufs und der Kabelüberweisung begegnet oder beim BGB im ersten Jahrzehnt seines Daseins. Die Verhärtungstendenz kommt nicht nur dann zum Ausdruck, wenn sie eine mögliche (vielleicht aber vom Beobachter falsch erfaßte!) Wachstumsknospe übersieht, sondern besonders deutlich, wenn sie eine schon stark treibende Knospe glatt abschneidet. Lord Mansfield hat z. B. bekanntlich als Präsident des King's Bench Gerichtes von 1758 - 1788 eine gewaltige Entwicklung und Erneuerung besonders des englischen Handelsrechts bewerkstelligt. In Pillans v. van Mierop23 versuchte er eine ähnliche Fortentwicklung des bereits fest geronnenen Rechts der Gegenleistung (consideration), die die Vorbedingungen für die Gültigkeit eines Versprechens ist. Es lag eine Art Akkreditivgeschäft vor, d. h. ein Versprechen, Wechsel zu honorieren. Allerdings waren die Wechsel vom Kläger schon gekauft worden, bevor das seitens des Verkäufers des Wechsels in Aussicht gestellte Versprechen vom Bezogenen geleistet wurde. Dieses Versprechen aber wurde später schriftlich abgegeben. Es handelte sich darum, ob trotz inzwischen erfolgten Konkurses des Wechselausstellers das Versprechen des Bezogenen klagbar sei. Mansfield empfand m. E. richtig, daß der Klage stattzugeben sei. Die nach bestehendem Recht erforderliche Gegenleistung war allerdings nicht Ähnlich liegt doch das Problem Götz bei Goethe. Napoleons Herrschaft im Rheinland war jedenfalls auch nicht angenehm. Daß aber aus der Vereinheitlichung des Gebietes und des Rechts und aus der VerwaItungsreform des Eroberers und Usurpators gleichwohl auf lange Dauer Gutes herauskam, ist schwer zu bezweifeln. 23 King's Bench, 1765, 3 Burr. 1663. Diese Entscheidung wird fast durchweg in der Literatur falsch gedeutet. Siehe mein What Price Contract? 40 Yale Law Journal 704, 743. Die Literatur ist eben von der Doktrin und vom späteren Gang der Dinge infiziert - ohne das Recht des Akkreditivgeschäftes im letzten Jahrzehnt mit zu berücksichtigen. 21
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aufzutreiben. Mansfield betonte aber, daß hier ein Handelsgeschäft vorlag und daß die Gegenleistung lediglich den Zweck hätte, glaubwürdig zu bezeugen, daß wirklich ein Versprechen abgegeben worden sei, was hier doch ohnehin nicht zu bezweifeln war. Mehr noch: alle Urteilsbegründungen24 betonten, daß das in Frage kommende Versprechen sich gerade auf die Akzeptation von Wechseln bezogen habe. Mansfield stand hier ungefähr vor derselben Fragestellung, die sich zwischen 1920 und 1930 beim Akkreditivgeschäft erhob und regelmäßig zu Entscheidungen zugunsten der Gültigkeit des Versprechens führte. 1920 bis 1930 war auch eine ähnliche Periode des Wachstums in unserem Handelsrecht wie zur Zeit Mansfields. Dieser jedoch war seiner Zeit vorausgeeilt. Schon vor seinem Tode war man bestrebt, das "gute" Alte von seinen Neuerungen zu reinigen. In Rann v. Hughes 25 lag das Versprechen einer Nachlaßverwalterin vor, aus eigenen Mitteln eine Schuld des Verstorbenen zu bestreiten. Von Wechseln war keine Rede, nicht einmal von Handelsrecht. Nun nahm der Verlauf der Sache den typisch juristischen Gang - im schlimmsten Sinne typisch "juristisch". Anstatt Mansfields Äußerungen dahin zu deuten, daß sie sich selbst in Grenzfällen nur auf Handelsgeschäfte bezögen und im dort vorliegenden Falle nur auf eine schriftliche Verpflichtung eines Kaufmanns, Wechsel zu honorieren, deutete man sie dahin, daß sie versucht hätten, das ganze Recht der Gegenleistung im Falle geschriebener Versprechungen auf einen Schlag abzuschaffen. Im hier vorliegenden Falle der Nachlaßverwalterin wollte man solches (wohl m. E. mit hinreichendem Recht) nicht zulassen. Es war ja nicht einmal bewiesen, daß das Versprechen schriftlich abgegeben war. Kaufmännisch war es auf keinen Fall, auch handelte es sich hier um eine Frau. Doch gab man sich nicht damit zufrieden, sondern stellte allgemein und für jedes Versprechen den Satz auf: die schriftliche Form ersetzt nie die Gegenleistung. Das "gute" Alte war somit "glücklich" wiederhergestellt. Man mußte dann 150 Jahre warten, bis sich das Zentrum des Wachstums noch einmal an diese Stelle verlagerte. Als das aber geschah, trat die Tendenz zum Wandel ins volle Licht. Während des Krieges war der New Yorker Geldmarkt plötzlich in ungeahntem Maße für die Finanzierung des Überseeverkehrs in Anspruch genommen worden26 • Der Mangel an Kreditauskünften erzwang geradezu die Verwendung des Akkreditivgeschäftes. Das Recht der Gegenleistung war inzwischen etwas reichhaltiger geworden, ohne daß jedoch an seinen Grundfesten 24 Bei den englischen Kollegialgerichten ist es immer noch üblich, daß jedes Mitglied einzeln sein Votum begründet. In den Vereinigten Staaten hingegen findet eine Sonderbegründung hauptsächlich bei abweichendem Votum statt, nur selten, wenn der betreffende Richter das Resultat billigt. 26 House of Lords, 1778, 7 Term R. 350, notes. 28 Hierzu schön Ward: Bank Credits and Acceptances, Kap.!.
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gerüttelt worden wäre. Mit dem Preizusammenbruch von 1920 hatten einige Banken - sei es aus finanzieller Not, sei es weil 6 Jahre nicht langten, um auf dem neuen Geschäftsgebiet eine feste Sittlichkeit zu begründen - den eigenen Kreditbrief nicht honoriert und den Schutz des Gegenleistungsrechts beansprucht. Einstimmig entschieden die Gerichte, daß dieser Schutz ihnen nicht zustehe. Die Begründungstheorien galoppierten dabei wild in alle Richtungen. Einstimmig war nur das Ergebnis - und das Bestreben, irgendwo, irgendwie eine Theorie aufzutreiben, die in diesem Fall das Ergebnis zu stützen vermochte. Nach 12 Jahren kann man ruhig sagen, daß es auf die Theorie in diesem Punkte gar nicht mehr ankommt. Das Akkreditivgeschäft (irrevocable letter of credit) verpflichtet. Und sollte ein Fall vorkommen, in dem keine der vorhandenen Theorien dieses Resultat erzielt, so kann man fest und sicher davon ausgehen, daß eben eine neue Theorie erfunden wird 27 • Damit kehren wir zu unserem Ausgangspunkt zurück, daß das Rechtsleben wohl "lebensfremd" sein kann, keinesfalls aber andersgeartetes Leben darstellt. Ausbau, Verhärtung und Wandel finden wir auch hier. Wegen des Einflusses ganz fremder Anstöße von außen auf eine Rechtseinrichtung, die vordem ziemlich im Gleichgewicht war, kann man an unsere Besprechung der Ehe erinnern. Und hinsichtlich der Tendenz, bestimmte Einrichtungen zu beugen, und der Rechtsprobleme, die daraus entstehen, braucht man schließlich nur an die heutigen Probleme des Aufsichtsrats zu denken. Im Rechtsleben also, wie im Leben überhaupt, führen die Ganzheiten, kleine und große, führt auch die Spannung zwischen diesen zu bedeutsamen Folgen. Im Rechtsleben wie im Leben sonst, machen sich statische wie dynamische Wirkungen dieser Spannungen bemerkbar in einem Zwischenspiel zwischen Molekularzweck und Molkulartreiben des einzelnen oder der Gruppe einerseits und den Tendenzen zur Stetigkeit, zur Einengung faktischer Möglichkeiten durch die Gebilde. Im Rechtsleben wie im Leben sonst sind für die jeweilige Einrichtung die Ein- und Auswirkungen des Sonderstabes von dul'Chgreifender Bedeutung, und zwar auch dann, wenn diese in bezug auf die sonstige Gesellschaft einigermaßen im Gleichgewicht sein mag.
27 Für den früheren geschichtlichen Vorgang vgl. McCurdy: Commercial Letters of Credit, 35 Harvard Law Review 539, 715; für die spätere Entwicklung H. Finkelstein: Legal Aspects of Commercial Letters of Credit, 1929.
METHODOLOGISCHE ANHÄNGE
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Naturumwelt, Veranlagung und Kulturlehre
Abgesehen vom "Geiste" kann man von drei grundverschiedenen Gesichtspunkten aus ans Studium einer Kultur - oder der Kultur herantreten. Der Eine betont die Wichtigkeit der biologischen Veranlagung des Menschen. Der Zweite geht von dem grundlegenden Einfluß der Naturumwelt aus - z. B. von Wasser- und Bodenverhältnissen. Der Dritte unterstreicht (wie ich) vor allem die gegebene Kultur. Alle drei Einflußmomente sind so weittragend und so verzwickt in ihren Auswirkungen, daß es selten einem Denker gelingt, mehr als eines unter ihnen zu behandeln. Was kostet also die Wahl des dritten Moments, der Kultur, an irreführender Einseitigkeit? Läßt sich die Wahl rechtfertigen für einen, der nicht etwa wissenschaftstheoretisch "ein" Gebiet abstecken möchte, sondern ein menschlich brauchbares Ergebnis erzielen? So viel ist offensichtlich: wer sich die Kultur zum Gegenstand nimmt, will damit den Einfluß der Naturumwelt keineswegs verkleinern, erst recht nicht ableugnen. Selbst der Kulturfanatiker erkennt diesen Einfluß als selbstverständlich an; weiß, daß eine Veränderung der Regenmenge eine Hochkultur vernichten kann; versteht, daß die Lage der Verkehrswege öfters eine Verkehrtstechnik geradezu hervorrufen, eine Wirtschaft bedingen, einen Krieg heraufbeschwören, eine Kultur zur Blüte bringen kann. Er unterschätzt auch nicht den Einfluß einer gegebenen Umgebung aus Pflaster, Backstein, Benzingestank, dunkler Räumlichkeit. Wer aber sein Hauptinteresse auf die Vorgänge des jeweiligen Augenblicks richtet - was für den Juristen eben unumgänglich ist - kann im allgemeinen voraussetzen, daß die Kultur einer gegebenen Zeit zumeist der gegebenen Naturumwelt Rechnung getragen hat. Die jeweilige Naturumwelt ist durch die Kultur als Vermittlerin zwischen der Natur und den Menschen verarbeitet worden und die Kultur drückt ihre Hauptbedeutung für den jeweiligen Menschen schon in dieser Verarbeitung aus. Nicht die Naturumwelt, wie sie daliegt, sondern die Naturumwelt, wie sie jeweils verwertet, "bezwungen", verstanden wird - das ist für die Reaktion des Menschen die Umwelt. Nicht also, weil er die Einwirkung dieser Umwelt unterschätzt, sondern weil er glaubt, abgesehen von Sonderfällen sei ihre Einwirkung schon
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in der bestehenden Kultur mit einbeschlossen, fühlt der Kulturbeflissene sich berechtigt, von einer gesonderten Betrachtung vorläufig absehen zu dürfen. Wo eine neue, in der Kultur noch nicht hinreichend berücksichtigte Naturerscheinung auftritt (vielleicht im Zusammenhang mit einer neuen Technik, z. B. das Petroleum), da hat er diese selbstredend unmittelbar mit in Erwägung zu ziehen. Bezüglich der Veranlagung liegt die Sache zum Teil ähnlich im Ergebnis, wenn auch anders in der Begründung. Daß die Kultur für alle Mitglieder einer Gesellschaft trotz gewaltiger Gleichheiten doch nicht die gleiche ist, gehört zu den Grundeinsichten der modernen Kulturlehre. Daß die Verschiedenartigkeit zum Teil auf verschiedenartige Veranlagung zurückzuführen ist, d. h. auf von Hause aus verschiedene Reaktionen auf grund ähnliche Reize - desgleichen. Endlich, daß selbst mit einer Vervollkommnung der reinen Kulturlehre die Probleme des Gesellschaftslebens noch lange nicht erledigt wären - das gibt sogar der Kulturfanatiker zu. Man denke nur an die Probleme der Veranlagung beim Verbrecher. Demgegenüber verteidigt der Kulturwissenschaftler sein Sonderinteresse, seine ausschließliche Beschäftigung mit der Kultur etwa wie folgt: Erstens ist die Kultur leichter zu verändern (wie schwer ihr Umbau auch werden mag) als die Veranlagung des Menschen. Soweit also von Lenkungsergebnissen innerhalb absehbarer Zeit die Rede ist, bietet die Kulturlehre einen besonders wertvollen Halt. Zweitens kann kein Zweifel bestehen, daß vieles, was vorn Laien als Sache der Veranlagung angesprochen wird, doch im wesentlichen kulturbedingt, wofern nicht kulturbestimmt ist und bleiben wird. Die Tragweite der Kultur für das Leben des einzelnen ist auch so groß, daß wir sie immer noch nicht zu fassen vermögen. Hier wäre allein schon eine hinreichende Rechtfertigung für ein ausschließliches Studium auf diesem Gebiet. Hinzukommt, daß die Kultur den Menschen in so früher Kindheit erfaßt, daß die Erforschung der Veranlagung als solcher nur anhand eines eingehenden Kulturstudiums möglich erscheint. Die erfolgreiche Ausschaltung eines derart verzwickten Faktorenkomplexes, den man nicht versteht, ist kaum menschenmöglich. Allerdings ist zu verlangen, daß die ausschließliche Beschäftigung mit der Kultur nicht zum Kulturrnonismus führe. Man hat die mögliche Erklärung auf dem Wege über die Veranlagung fortwährend vor Augen zu halten - als eine Alternative. Man hat nicht das Ganze durch die Kultur erklären zu wollen, sondern nur soviel, wie sich eben durch sie aufklären läßt. Hier gilt es mithin, als Kulturbeflissener, nicht als Kulturfanatiker zu arbeiten. Drittens machen sich trotz aller Verschiedenheit der Veranlagung die auffallendsten Ähnlichkeiten unter den Menschen einer gegebenen
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Kultur bemerkbar, welche des eingehendsten Studiums bedürfen. Und zwar reichen die Ähnlichkeiten - in jeder Gruppe, ja in jedem Volksoweit, daß man zum Teil sogar hoffen kann, auch ein guter Prozentsatz der Verschiedenheiten der Veranlagung sei schon in der gegebenen Kultur verarbeitet, mit einbezogen worden. Wir haben doch unsere Handlen, um mit Jähzorn und dem Jähzornigen, mit dem Phlegmatischen, mit dem psychiatrischen Subjekt, mit dem Führergenie zurechtzukommen. (Wer mit Worten spielen wollte, könnte behaupten, auch die Forschungen der Veranlagungswissenschaft und die Praxis der Medizin seien "nur" Teilstücke der Kultur.) Allerdings ist die Behauptung, die Kultur habe bereits Differenzen der Veranlagung verarbeitet, nur sehr vorsichtig aufzustellen, und zwar deshalb, weil diese Verarbeitung auf blindem Zufall, auf Normierung atypischer Fälle oder (und vor allem!) auf den widerspruchsvollen Einsichten und den traditionsgebundenen Blindheiten des gesunden Menschenverstandes beruht. Sie ist also keine Verarbeitung der wissenschaftlichen Befunde einer begründeten Veranlagungslehre. Insoweit füllt sie beim reinen Kulturwissenschaftler also nur ein kleines Teilchen seiner Lücke im Verständnis des Gesellschaftsganzen aus. Es wäre also unverzeihlich, wollte man die Rolle der Veranlagungen und der Veranlagungsverschiedenheiten übersehen. Noch unverzeihlicher wäre es aber womöglich, die oben erwähnten Ergebnisähnlichkeiten zu übersehen. Doch muß anerkannt werden, daß man hier nicht (wie vielleicht bei der Naturumwelt) ein hinreichendes Bild des Ge~ sellschaftsganzen durch das reine Studium der Kultur erhoffen darf. Der eine Weg verläuft dann über Massenphänomene, im Vertrauen auf die ausgleichende Wirkung der großen Zahlen bzw. der langen Zeitspannen. Wir sahen nun vorhin, daß wir für das Rechtsleben zwar die lange Zeitspanne benutzen können und müssen, daß wir aber keineswegs bei diesem Gesichtspunkt stehen bleiben dürfen. Ähnliches gilt für die großen Zahlen. Wie die lange Zeitspanne Entwicklungstendenzen in Perspektive setzt, so setzen die großen Zahlen bestehende Verhältnisse in Perspektive. Wir haben kein annähernd so gutes anderes Mittel, um den Einzelfall in seiner Massenbedeutung zu erfassen. Wir können auch durch dieses Mittel öfters schon innerhalb kürzerer Zeitspannen bestimmte Tendenzen noch während ihrer Entwicklung unwiderleglich beleuchten. Jedoch verlangt das Studium besonders der Rechtskultur die Ergänzung der Massenerscheinung durch den Molekularvorgang. Und über Molekularvorgänge gibt es zumeist nur in Wirtschafts dingen Zahlen, welche etwas auszusagen haben (Börsenund Zahlungsmittelumsatz u. dergl.) - Zahlen, im schönen amerikanischen Fachwort, welche sich von einem Kundigen "melken" lassen.
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Und trotzdem kann man vom Studium des Molekularvorgangs auch bezüglich der Veranlagung eine allenfalls vorläufig hinreichende Ergänzung des reinen Kulturwissens erhoffen - auch wenn man sich nicht zugleich mit der Veranlagungswissenschaft befassen kann. Denn der Molekularvorgang lenkt die Aufmerksamkeit auf Differenzen. Er reißt dem Beobachter die Augen auf. Zwar sieht er nicht die jeweilige Rolle der Veranlagung, doch muß er das Ergebnis ihrer Mitwirkung verspüren - wenn er sich nur von der Vorstellung eines Kulturmonis~ mus freihalten kann. Somit will mir erscheinen, daß dasselbe Ergänzungsmittel, welches innerhalb des kulturwissenschaftlichen Zweiges selbst Heilung von der Einseitigkeit der großzügigen Dialektik und der einseitigen Statistik verspricht, welches auch den Gegensatz zwischen dem inhaltsleeren Formellen und dem einmaligen Wirklichen mit Glück überbrücken kann, welches schließlich gesellschaftliche Statik ohne Widerspruch mit gesellschaftlicher Dynamik zu verschmelzen scheint, auch die sonst drohende Einseitigkeit der Kulturlehre gegenüber dem Veranlagungsfaktor auf ein noch erträgliches Minimum herabzudrücken vermag.
D. Gesellsmaft und Staat: Einheit oder Vielheit Eng verbunden mit der in Anhang A zu Kap. III besprochenen Grundeinstellung, welche die Kultur nach Sinn, Geist, Seele und Zweck auffassen will, ist die Vorstellung von der Gesellschaft (oder des Staates) als einer Einheit; wie auch die Vorstellung vom Staat als demjenigen Verband, der die ganze Einheit erfaßt, oder als Form der gesamten Einheit, so daß alle Teilverbände, -gebilde, -einheiten, ihr Wesen und ihren Sinn nur in ihrem Verhältnis zum Staate finden können. Eng verbunden mit dem ebenfalls in Anhang A besprochenen BehaviorAnsatz ist ferner die Vorstellung von der Gesellschaft als einem pluralistischen Aufeinander von kämpfenden, duldenden und dergl. Vielheiten und vom Staat als Mittel zur Begründung und Befestigung der Macht der Mächtigen oder (und besser) als allgemeine Ausgleichsstelle. Wobei der Staat keineswegs als ein umfassendes Etwas angesehen wird, sondern als einer unter den konkurrierenden, kämpfenden, duldenden Verbänden, und zwar als derjenige, der sich hauptsächlich durch einen Anspruch, das Ganze zu sein oder zu vertreten, und durch einen einigermaßen durchgesetzten Anspruch auf zwei Monopole auszeichnet: a) das Monopol des Geldwegnehmens, ohne daß auch nur der Vorwand einer konkreten Gegenleistung bestände, und b) das Monopol der Anwendung von körperlicher Gewalt.
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Mir scheint nun jene Auffassung, soweit es um die Ergebnisse einer empirischen Betrachtung geht, etwas Nichtbestehendes, etwas (soweit ich wahrnehmen kann) weder Gewesenes noch Werdendes in kühnem Ideenschwung einfach als faktisch gegeben anzunehmen. (Weil es sein sollte? Weil es gewünscht wird?) Mir scheint hingegen die Vorstellung von einer bloßen Vielheit, die um Machtstellungen ringt, sowohl jene andere Macht, die der Ideen, wie ebenfalls die gegebenen nicht-ideenhaften Tatsachen zu verkennen. 1. Denn daß in der Gesellschaft eine Einheit irgendwelcher Art existiert, scheint mir das Fortbestehen gesellschaftlichen Lebens schlechthin zu beweisen. Zwar erkennen meine blinden Augen weder Zweck noch werdenden Sinn noch sich verwirklichende Vollkommenheit, noch eine Berufung der Gesellschaft oder irgendeiner Sondergesellschaft. Ich kann mir ohne Schwierigkeit vorstellen, daß irgendeine oder jede oder die ganze Gesellschaft übermorgen auseinanderläuft oder an Seuche, Krieg oder Bruderzwist zugrunde geht. Bislang ist sie aber nicht auseinander. Und man kann doch nicht ableugnen, daß eine solche Gesellschaft, die nicht auseinander ist, solange sie für unsere Sinne besteht, auch eine Art Einheitlichkeit darstellen muß. Mir scheint allerdings diese Einheitlichkeit (zumindest heutzutage) vielmehr ein Gleichgewicht als eine Harmonie zu sein. Hier und drüben suche ich vergebens nach dem Volksgeist und finde nur die Stimmen vieler seinwollender Volksgeister - die mir zudem in keinem Dur-Dreiklang entgegentönen. Die Zahl derjenigen, die für das Ganze denken, für das Ganze empfinden oder für das Ganze arbeiten!, scheint mir auch verschwindend klein zu sein - wenn ich auch in diesem Punkt deren qualitative Bedeutung anerkenne. Selbst die Zahl derer, die für ihre Auffassung des Ganzen arbeiten (und dabei andere Teile des Ganzen samt anderer Auffassungen niederzuringen suchen) will mir selten überwältigend groß erscheinen - wiewohl auch deren qualitative Wichtigkeit zu würdigen ist.
Trotzdem bleibt - wie es auch zustande gekommen sein mag - ein Aufeinanderbezogensein auch der ungleichsten, erbittertsten gesellschaftlichen Gegner. Wenn sie auch nicht miteinander verkehren - es sei denn mit Schlagringen oder Bajonetten -, wenn sie einander auch wirtschaftlich boykottieren, so bleiben sie durch ihre mittelbaren Beziehungen auf dem Wege über andere doch als Ganzes aufeinander eingestellt: ein Organisiertes. So lange das noch stimmt, kann man von einer Gesellschaft reden. Ein Minimum an Handlen ist gegeben. Ein Minimum an Handlen formt den Menschen. Aus Neugeborenen werden 1 Weshalb ist ein Lincoln groß und selten? Doch, weil er gerade dieses durch schwere Jahre hindurch vermochte: "Auf daß die Regierung übers Volk, vom Volk und für das Volk nicht von der Erde schwinde."
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Menschen, d. h. Teile eines Ganzen. Die so Geschaffenen brauchen sich keineswegs der Existenz der Gesellschaft bewußt zu werden, brauchen sich nicht einmal als Teile zu empfinden. Man lehnt sich auf, man schlägt sich los, man leugnet, man verneint Volk und Staat. Jedoch man "schlägt sich los", nur weil man eine Ganzheit empfindet, von der man sich loszuschlagen hat; man lehnt sich auf und bleibt doch in der Art, in den Waffen, im Ausgang und im Neubau von derselben Ganzheit bedingt, die man bekämpft. So, wenn man gegen den Stachel stößt. Nicht weniger, wenn man weder Stachel noch Gegenstöße kennt. Es gibt nicht nur einen Zeitgeist, sondern auch ein Zeitalter, nicht nur Zeit, sondern auch Ort; die sprechen im Menschen, die sprechen in jeder Menschenvielheit. Italiener war einmal der, der sich allein als Genueser fühlte. Westeuropäer ist heute der, der sich allein als Tscheche 2 oder als Franzose fühlt. Das Minimum an Handlen ist also da und schöpft - schöpft auch Normen, die sich mit ihm zusammentun, schöpft auch Gefüge und Begriffe, deren Positionen und Spannungen gegeneinander ein Ganzheitsgebilde abgeben. Die Interessen treiben auseinander. Das Handlenminimum an Ganzheit bleibt. Mit solchem Handlenminimum hat es auch nicht sein Bewenden. Mächtig schwingt und schafft ein Schatz an Ganzheitsideen und -idealen mit. Kein Mensch wird z. B. die Auswirkungen des Nationalismus die Verfolgung deutscher, kroatischer oder anderer Minderheiten, das Wettrüsten, den Zollkrieg, das Neuerblühen der katalonischen Sprache, die Beseelung der Jugend, die Befestigung und den Ausbau der überlieferten Nationalkultur - kein Mensch wird solches rein materialistisch, rein triebmäßig, rein interessenbedingt zu erklären vermögen. Der Kampf um den Markt, den heimischen wie den auswärtigen, der Druck: der Rüstungsfabrikanten auf Lieferungsverträge hin, das Gelüst nach dem guten Bauernhof des Fremden - dieses und ähnliches spielt seine Rolle; wie unser Kalifornier den bitteren Haß gegen die Gelben vornehmlich in seiner eigenen Unfähigkeit, mit ihnen zu konkurrieren, begründet weiß. Mit Derartigem ist die Sache jedoch noch lange nicht erledigt, auch nicht mit der fahnenschwenkenden Demagogie, die nie und nirgends ausbleibt. Denn unverkennbar stehen hier die reinsten und schönsten ideellen Momente mit im Spiele. Was noch wichtiger ist: die ideellen Momente sind es vor allem (neben der bloßen Tradition, 2 Meine Sekretärin beanstandet die Bezeichnung von Tschechen als Westeuropäer. Ich meine mit "Westeuropa" den westeuropäischen Kulturkreis. Und mir scheint offensichtlich, daß trotz aller Unterschiede Sowjetrußland und Japan z. B. so stark in diesen Kulturkreis hineingezogen worden sind, daß eine soziologische Betrachtung sie nur als Unterarten, nicht als andere Arten ansehen kann: z. B. bezüglich Industrialismus, Kreditwesen, Nationalismus, Militärhandlen, Technik.
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dem bloßen Handlenbestand), welche gerade die Einheitlichkeit am sichersten befördern und befestigen. Denn alle anderen (etwa die interessenbedingten) Momente laufen jeden Augenblick Gefahr, je nach Lage der Dinge von der Einheitstendenz in die Einheitszerstörung umzuschlagen: interessenhaftes, eigennütziges, zweckrationales Schaffen macht sich das zunutze, was jeweils eben als nutzbringend zu erkennen ist. Endlich gibt es auch eine ganzheitsgerichtete Sittlichkeit. Vorhin habe ich mit Handlen vornehmlich die wirtschaftlichen andeuten wollen und mit Idealen vornehmlich die romantisch angehauchten, die zwar ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, der Größe, der Heiligkeit auslösen können, die sich aber auch leicht in Taten umsetzen und damit die Zusammengehörigkeit gefährden - was deswegen leicht ist, weil starkes Fühlen selten sachliches Denken fördert und weil diesen stets verschwommenen Großgefühlen im Frieden selten ein gewordenes, durch die Tradition zur Zweckmäßigkeit ausgebautes, konkretes Handlungsmuster für den jeweiligen Fall beigegeben ist. (Man kontrastiere damit - vom nationalistischen Standpunkt aus - das klar gegebene Handlungsmuster des Sich-freiwillig-zum-Krieg-meldens, des Sicheinsetzens auf dem Schlachtfeld oder die vom Faschismus und vom Kommunismus gezüchtete Disziplin). Hier aber will ich von einem Mittelding zwischen wirtschaftlichen Handlen und Großgefühl reden - von dem Zustand nämlich, wo das Zusammengehörigsein sich in fühlbare, zweckorientierte ethische Pflichten niedergeschlagen hat, welche auch deutlich mit konkreten Handlungsweisen in Verbindung stehen: so vor allem Treue im Amte seitens des Beamten, so auch die Kaufmannsehre, die Berufsverantwortlichkeit des Mediziners, der Juristen, des Klerus, die Bodenständigkeit des Bauern, der Stolz auf gute Arbeit. Wo also nicht allein Eigennutz oder blinde Tradition, sondern dazu eine den Aufgaben gegenüber der Ganzheit entsprechende Sittlichkeit (Norm plus3 konkretes Handlungsmuster) entwickelt wurde, dort hat man die denkbar festeste Stütze für die Einheitlichkeit des Gesamtbildes. Es würde jede vernünftige Betrachtung des Halbchaos, das wir Gesellschaft zu nennen pflegen, glatt unterbinden, wollte man aus ethischer Pflicht, aus vermeintlichem Endergebnis einer Geschichtsdialektik oder aus der logischen Vollkommenheit irgendeines Begriffes heraus eine absolute Einheitlichkeit als gegeben oder als im Werden begriffen behaupten. Denn neben den Handlen, welche aufeinander bezogen sind und die Leute organisieren, gibt es Handlen, welche so wild auseinanderlaufen, daß die ganze sonstige Gesamtheit aufs Spiel ge3 Deshalb befriedigt mich auch nicht M. Webers einseitige Überbetonung der Standesehre. Wie wichtig sie auch ist, so wichtig wie die gewordene Handlenbasis ist sie dennoch nicht.
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setzt werden muß, um dem Zerfließen oder Zerschießen vorzubeugen. Neben, ja mitten unter den Idealen, welche zusammendrängen, herr.. schen andere Ideale, die sprengen. Neben der gefestigten, den Bedürfnissen der Gesamtlage gerecht werdenden Sittlichkeit findet man erstens eine Gegensittlichkeit (und zwar oft handlenverbunden wie bei den Verbrechergruppen) und zweitens einen verhängnisvollen und gefährlich breiten Raum der Sittenlosigkeit. Gruppen liegen in Fehde und kämpfen um die politische Staatsrnacht. Haben sie diese erobert, so setzen ihre eigenen Interessen mit Hilfe der traditionsbegründeten Autorität (Polizei, Militär, Beamtenturn) gegenüber ihren Gegnern durch. Dies ist ein Teil vom Bilde. Nicht das Ganze. Doch aber, wie mir scheinen will, der größere Teil. Weder Ideale, noch Sittlichkeit, noch Handlengefüge hielten die Gesellschaft zusammen, wenn nicht die Zersplittertheit selbst bislang so zersplittert wäre, daß die einen Richtungen im heptalektischen Vieleck der Kräfte die anderen hinreichend aufheben, so daß die Ganzheitstendenzen immer noch den Ausschlag geben können. Wenngleich dieser Doppelansatz mir fortwährend verlorengeht und untertaucht, so liegt er doch dem Buch als Ganzem zugrunde, soll also hier zur ausdrücklichen Erläuterung gelangen. 2. Nimmt man das soeben Ausgeführte und den Glauben zusammen, daß der gegenwärtig fruchtbarste Ansatz zur seinswissenschaftlichen Betrachtung des Rechtsstoffes in der Untersuchung des Trechts liegt, so ergibt sich die Einstellung zum Worte Staat von selbst. Ich führe sie nur deshalb aus, weil das Wort "Staat" (wie "Recht") vieldeutig und heiß umstritten ist. Beim Staat wie bei der Gesellschaft muß der Versuch dahingehen, zu sehen, was zu sehen ist, und das tatsächlich Vorhandene nach Möglichkeit brauchbar zu erfassen und zu gliedern. Auch beim Staat wird man deswegen keine ideelle Einheit oder Einheitlichkeit voraussetzen oder eine übereinstimmung von Staat und Volk oder eine Umfassung des Volkes durch den Staat. Vielmehr wird man vorläufig ein ähnliches Ineinander von Einheit und Vielheit erwarten wie bei der Gesellschaft. Der Anspruch eines Staates, als Verkörperung oder Eingliederung des Ganzen zu gelten, wird auch eben nur als Anspruch erscheinen. Ein juristisches System, welches vom Staat als von demjenigen ausgeht, was jedem einzelnen und jedem Verband seine Befugnisse, Rechte und Schaffensraum zuweist, wird dann auch nur als ein juristisches System erscheinen (d. h. als ein kleiner Teil der in einer Gesellschaft herrschenden Ideologie, neben dem Aberglauben über Hexen oder den herrschenden Vorstellungen über den richtigen Lehrstoff der Volksschule) und keineswegs als eine zuverlässige Beschreibung tatsächlichen 1S·
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menschlichen Verhaltens. Ein solches System kann nützlich oder unentbehrlich sein, für juristische Zwecke. Es kann juristisch nötig sein, so zu tun, als ob das System die Wirklichkeit beschreiben würde. Das tut für den vorliegenden Beobachtungszweck rein gar nichts zur Sache. Auch der unter den Volksgenossen verbreitete Glaube, daß der Staat eine Verkörperung des Ganzen sei oder daß der Staat als ideelles Wesen real-existierende Eigenschaften hat, die man an der jeweiligen Beamtenschaft nicht erkennen kann, oder die Anknüpfung an eine bestimmte Person, Dynastie oder Staatsform oder die eingebürgerte Gewohnheit, sich (innerhalb gewisser Grenzen) weitgehend von den Staatsleuten lenken zu lassen. Das alles ist vom hiesigen Standpunkt aus ein Stoff, der zur Beobachtung da ist: ein Glaubensmuster, eine Gemütsartung, ein Handlengebilde, die alle mehr oder weniger stark vertreten, mehr oder weniger weit verbreitet sind. Das eigentliche Problem des Beobachters beginnt damit, daß er versucht, trotz solcher Ideologien und dergl. zu sehen, was da ist. Klar ist z. B., wie schon verschiedentlich erwähnt, daß ein Stab an sich und erst recht ein Herrschaftsstab an sich undenkbar ist. Nur die Beziehungen zu Nichtstäblern können ihn zum Stabe machen, d. h. es muß im "Volk" eine weit verbreitete, tief eingewurzelte, von entsprechenden Normen und Begriffen gestaltete, stabsgerichtete Handlenmasse vorhanden sein, bevor man den "Stab" als fest bestehenden Stab erkennen kann. Und damit stoßen wir auf das Problem, das dem Staatstheoretiker so viel Schwierigkeiten macht: auf das Verhältnis zwischen "Staat" und "Volk". Der Einfachheit halber besprechen wir dieses Problem vorerst so, als wären sowohl Staat wie Volk jeweils einigermaßen reale Einheiten. Einen Teil der Lösung haben wir soeben erwähnt: "Staat" muß zum großen Teil "das" Volk mit einbeschließen. Ein guter Teil des Volkes muß, Mann für Mann, zum Teil aus Handlen geformt sein, die den Stab zum Stabe machen. Das ist, wie gesagt, ein Existenzminimum. Gleichzeitig muß das Volk zum Teil den Stab miteinbeschließen. Stabshandlungen müssen sich hinreichend mit Handlen von beträchtlichen Volksteilen verzahnen, so daß der Stab sich mit den ihm zur Verfügung stehenden Kräften einigermaßen durchsetzen kann. Damit behauptet man keine Identität. Dasselbe gilt z. B. für den Stab der Mediziner, den kein Mensch mit dem Volk identifizieren wird. Man spricht auch keine Volksherrschaft vom Stab übers Volk aus; im Gegenteil. Man spricht auch hiermit dem ganzen Handlen-, Normen- und Begriffskomplex, den wir Staat nennen, nicht die Fähigkeit zu, den übrigen Teil des Lebens der beteiligten Menschen zu gliedern oder zu bestimmen. Wiederum vielmehr das Gegenteil. Der Anteil des einzelnen am Staat ist nur ein Teil vom einzelnen. Wie groß und wie stark er ist, das wird nach Zeit, Ort, Gelegenheit und Person variieren. Immer wird es Grenzen geben.
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Solche Grenzen, wo sie auch liegen, bedeuten die Grenzen der Gliederungs- und Eingliederungsfähigkeit des Staates. Häufen sich diese Grenzen bei vielen einzelnen, so wird das fühlbar. Und nun zur Identität. Offensichtlich ist der Staats stab nicht das Volk. Offensichtlich kann der Stab fliegen, ohne daß das Volk fliegt. Offensichtlich kann das Volk sich plötzlich vermehren oder vermindern (Territorialverschiebungen), ohne daß dieses den Stab oder seine Organisationsform merklich beeinflußt. Offensichtlich ist die dauernde Identität "des" Volkes als eines Volkes in solchen Fällen ebenso zweifelhaft oder besser: ebenso halbwahr wie die Einheit "der" Gesellschaft. Offensichtlich ist endlich die Kontinuität "des" Staates über Umstürze und Umorganisationen hinweg eine äußerst bequeme juristische Konstruktion, welche den Tatsachen z. T. sehr schön, z. T. gar nicht entspricht. Wiederum kann diese Konstruktion für juristische und viele praktische Zwecke nützlich und gar notwendig sein. Danach wird hier nicht gefragt. Wenn die Nützlichkeit nicht für alle Zwecke gilt, genügt uns hier die Konstruktion nicht als eine Beschreibung. "Der Staat" (wie "das Recht") kann für die erfahrungswissenschaftliche Betrachtung nur dadurch als "die" Verkörperung (beim Recht: "die" Regelung) des Ganzen gerettet werden, indem man Staat glattweg gleich Gesellschaft setzt; d. h. indem man jeden anderen Verband als Bestandteil des Staates betrachtet und jede andere Gemeinschaft sowie alle Handlen und Gebilde des Selbstregierens, des Sichregierenlassens, der den Staatsstab beeinflussenden wirtschaftlichen religiösen usw. Verhältnisse und was da sonst an Gesellschaftlichem sein mag. Bei einer solchen Begriffsbestimmung stimmt dann allerdings der Staat mit der Weltgesellschaft überein und dann hat man zwei Wörter gewonnen, die denselben Gehalt haben, was eine Klärung der Sachlage wenig fördert. Meist wollen die Staatstheoretiker dergleichen auch nicht. Sie sprechen z. B. von staatsfeindlichen Personen oder Gruppen innerhalb des vom Staate beherrschten oder zusammengefaßten Gesellschaftsteils. Damit erkennen sie schon eine nicht-einheitliche "Einheit" als in den Tatsachen gegeben an. Um den Staat daraufhin als Verkörperung der Ganzheit zu retten, muß man gewisse Tendenzen innerhalb der Ganzheit herausschälen, die herrschend, richtig, sinnhaft oder irgendwie sonst gerade tauglich, gültig sind. Deren Verkörperung muß man dann dem Staate zuschreiben. Offensichtlich schreibt man damit gleichzeitig dem Stab oder dem Stab plus dem Volksanteil am Staate eine ideelle Gestaltung zu, die im Leben nie vorhanden ist. Und offensichtlich kann hier der ErfahrungswissenschaftIer schon nicht mehr mitgehen. Er kann Tendenzen wahrnehmen, die sich anscheinend innerhalb des
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Staates durchsetzen. Er kann auch erkennen, daß der Staat oder die Staatstendenzen mit gewissen Großtendenzen im Volke übereinstimmen. Das besagt ihm aber nicht, daß Staat oder Volk, erst recht nicht, daß beides zusammen eins sind. Und wo er merkt, daß von Nichtstäblern oft gegen den Willen der Stäbler auf den Stab kräftig eingewirkt wird, zögert er, den Stäblern das volle Vermögen zuzusprechen, den Wirkungskreis von Nichtstäblern zu bestimmen. Wer also einer Erfahrungswissenschaft zuneigt, muß für seine Zwecke auf Kosten eines Idealgebildes die Menschenbedingtheit, Uneinigkeit, Beschränktheit von Staat und Volk und des Verhältnisses jener beiden zueinander in den Vordergrund stellen und Idealgebilde, soweit sie sich auswirken, als Teile der gleichzeitig beobachtbaren Einheitstendenzen auffassen. Vor allem kann es ihm unzweckmäßig erscheinen, beim Staatsbegriff wie beim Rechtsbegriff den Gehalt so zu erweitern, daß die Umrisse gerade dort, wo heute der verheißungsvollste Untersuchungsstoff liegt, verwischt werden. Das Ineinander und Gegeneinander und Füreinander im Handeln der Stabsleute und im Handeln der vielgestaltigen anderen läßt sich nur dann sehen, untersuchen, näher bestimmen, wenn man den Stab und die anderen vorläufig auseinanderhält. Dies alles auf der Grundlage bisheriger Ergebnisse - überzeugt, teilweise überzeugt oder gar nicht überzeugt. Und damit soll, wie verschiedentlich betont wurde, die Tunlichkeit oder Richtigkeit anderer Begriffsbildungen für andere Zwecke - auch für andere Zwecke der Rechtssoziologie - durchaus nicht verneint werden.